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German Pages 242 [244] Year 2024
Stefan Vennmann, Anne-Maika Krüger, Felix Kronau (Hg.) Warum Antisemitismus?
Warum Antisemitismus? Zur Politik der Judenfeindschaft im Spannungsfeld von Kollektiv und Subjekt
Herausgegeben von Stefan Vennmann, Anne-Maika Krüger und Felix Kronau
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Diese Publikation wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 443532822
Erste Auflage 2024 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2024 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-350-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt
Roger Griffin Warum Antisemitismus? Ein ›dünnes‹ Vorwort . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefan Vennmann, Anne-Maika Krüger & Felix Kronau Warum Antisemitismus? Subjekttheoretische Perspektiven auf ein kollektives Phänomen . . . . . . . . . . . .
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I. Die politische Funktion des Antisemitismus Friedrich Pollock Politischer Antisemitismus (1944) . . . . . . . . . . .
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Philipp Lenhard ›Politischer Antisemitismus‹. Ein unbekannter Vortrag von Friedrich Pollock . . . . . .
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II. Kritische Theorie als Voraussetzung einer Theorie antisemitischer Subjektivierung Paul Erxleben Pathische Projektion und der Antisemitismus der Corona-Protest-Bewegung . . . . . . . . . . . .
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Marvin Ester Adornos antipsychologische Psychologie des Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . .
90
Niklas Lämmel Antisemitismus zwischen absoluter Distanzierung und ambivalenter Objektnähe. Der Begriff der Mimesis in der Dialektik der Aufklärung . . .
103
III. Zur Bildung antisemitischer Kollektive Sandra Markewitz Die falsche Kohäsion. Zu einem Phänomen antisemitischer Praxis . . . . . . .
123
Detlef David Bauszus Das ›göttliche Volk‹ gegen das ›Volk Gottes‹? Fragmente zur Politischen Religion des Antisemitismus . . . .
141
Felix Schilk Antisemitismus als Krisennarrativ. Beitrag zu einer Methodologie des strukturellen Antisemitismus . . . . . . . . . . .
157
IV. Die Politik des Antisemitismus zeitgenössisch betrachtet Johanna Bach & Valerie Schneider Gefühlte Wahrheit und wahre Gefühle. Zur Rolle von ›Ticket-Gefühlen‹ in der (emotionalen) Selbstbeglaubigung der Querdenken-Bewegung . . . . . . . . . . . . .
175
Daniel Burghardt Omnipotente Opfer. Über Selbstviktimisierung und Antisemitismus in der Querdenken-Bewegung . . . . . . . . . . . .
192
Franziska Haug »No Pride in Israeli Apartheid«? Zur Funktion des Antisemitismus in queerfeministischen Diskursen . . . . . . . . . . .
208
David W. G. F. Jäger Anthroposophie, Querdenken, Antisemitismus . . . . . .
221
Herausgeber:innen und Autor:innen . . . . . . . . . .
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Roger Griffin
Warum Antisemitismus? Ein ›dünnes‹ Vorwort 1. Die Pluralität eines ›Warum‹ Vermutlich ist es bedeutsam, dass diese Essaysammlung einen lakonischen Titel ohne Verb erhalten hat, der eher den Charakter eines frustrierten Ausrufs, der Verzweiflung und des Schmerzes besitzt als den einer sachlichen Forschungsfrage. Seit dem Holocaust hallt ein stiller Schrei durch die nüchterne Sprache jener Texte, die sich an einer rein forensischen Untersuchung des Antisemitismus versuchen. Dabei liegt es in der Natur des Gegenstandes, dass akademische Fachdiskurse Gefühle von Empörung, Angst und Ohnmacht sowohl enthalten als auch verbergen, die jeder ›echte‹ Mensch empfinden muss, der sich mit solch einem vorsätzlichen ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ konfrontiert. Es handelt sich hier um ein einzigartiges, unaussprechliches Unrecht, das aus Millionen individueller Verfolgungen, Folterungen und Morde besteht. Die Frage ›Warum Antisemitismus?‹ besitzt eine enge Verwandtschaft mit jener quälenden Frage, die auch der Titel eines bekannten Buches von Arno Mayer (2012) enthält: Why Did the Heavens Not Darken? Wie um Himmels Willen konnte solch eine unsägliche Grausamkeit inmitten der modernen europäischen Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts geplant und kaltblütig ausgeführt werden? Archimedes sagte: »Gib mir einen Hebel und einen Platz zum Stehen, dann kann ich die Welt bewegen«. Doch wie konnte ein einziger ›Ismus‹ das teuflische ideologische Pendant zum archimedischen Hebel bilden? Einmal eingesetzt in einen Ort, an dem genügend Leute daran glaubten, und in einen Staat, der ausreichend totalitär war, sodass der Ismus zum Gesetz wurde, zerstörte dieser Hebel den größten Teil eines lebendigen menschlichen Universums, statt die geologische Welt zu bewegen: das Geflecht an Millionen von Individuen, Familien und Gemeinschaften, ihr Alltag, ihre Heimstätten, Synagogen, Praktiken und Traditionen, welche die europäische Kultur der jüdischen Diaspora bildeten. Im Text jedes der folgenden Beiträge verbirgt sich ein impliziter Subtext. Jeder ist ein Essay, ein ›Versuch‹ im Sinne von Montaignes (1595) ursprünglichem Gebrauch des Wortes, oder, um mit T. S. Eliot zu sprechen, »eine Razzia auf das Unartikulierte«. Wie ist es möglich, dass etwas so psychologisch Giftiges, moralisch Verdorbenes und katastrophal Destruktives 7
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entstehen konnte, wie das, was Robert Wistrich (1991) in seiner Geschichte des Antisemitismus als the longest hatred bezeichnet hat? Um sich von dem Abgrund des aktiven Vulkans ›menschengemachten‹ Leidens abzuwenden und auf das relativ sichere Terrain der humanistischen Wissenschaft zurückzukehren, kann sich der fragende Verstand einer Reihe von heuristischen Strategien bedienen. Natürlich kann man die epische Geschichte des Antisemitismus zum Zwecke öffentlicher Bildung ungeschönt und linear erzählen, um so eine Zeitleiste oder Genealogie des Bösen zu erstellen (vgl. United States Holocaust Memorial Museum o. J.). Doch will man die ursprüngliche Frage zu einem akademischen Forschungsprojekt ausbauen, sind weitaus gezieltere, spezialisierte – und sogar kryptische – Arten der Untersuchung und Kausalanalyse möglich. So kann sie eine herausfordernde, komplexe historiografische Form annehmen, etwa: »Welche sozioökonomischen oder kulturell-ideologischen Umstände haben in der Vergangenheit die Bedingungen für Antisemitismus geschaffen?« (Cahnmann 1957: 21-29) Sie kann als eine sich entwickelnde semantische Geschichte behandelt werden, die nachvollzieht, wie Vorurteile und Hass gegen Juden:Jüdinnen im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausdrucksformen angenommen haben (vgl. Consonni 2022).1 Man kann es phänomenologisch angehen und sich auf Selbstzeugnisse stützen, um antisemitische Denkweisen zu untersuchen (vgl. SchwarzFriesel/Reinharz 2017). Man könnte ebenso eine politische, theologische, anthropologische, soziologische, psychologische, marxistische, freudianische oder sogar freudo-marxistische Perspektive einnehmen (vgl. Chaouat 2022). ›Antisemitismus‹ ist ein pluraler Begriff: Er kann sich verschiedentlich manifestieren und durch unterschiedliche Diskurse rationalisiert werden: christlich, islamisch, wirtschaftlich, politisch, kulturell, anthropologisch, rassistisch, eugenisch, soziokulturell, szientistisch und offen psychotisch. Unterdessen sind ›Jüdischsein‹, ›Judentum‹ und ›Juden‹ selbst unbeständige Konzepte, die sich im Laufe der Zeit auf viele verschiedene Weisen präsentierten, um sich unterschiedliche nationale, kulturelle, sektiererische und diasporische Kontexte anzueignen. In der vorliegenden Sammlung wird die Vielfalt möglicher theoretischer Entgegnungen auf die zeitlose Frage ›Warum Antisemitismus?‹ durch versuchte und vorläufige Antworten ausgelotet. Im Sinne einer Reflexion darüber, wie die Frage ›Warum Antisemitismus?‹ im Lichte der aktuellen Forschung wissenschaftlich beantwortet werden kann, bietet dieses Buch weniger eine einzige Perspektive als vielmehr ein unregelmäßiges Prisma, durch das der Betrachter verschiedene Facetten der 1
Consonnis Artikel fordert eine Unterscheidung zwischen Judenfeindlichkeit, Antijudaismus, Antisemitismus und Antizionismus, zu dem wir obendrein noch Anti-Israelismus hinzufügen könnten.
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Irrationalität beleuchtet sieht, die dem untersuchten Phänomen zugrunde liegt.
2. Ein Angebot zweier komplementärer Perspektiven Angesichts dieser Serie an Detailansichten möchte ich auf zwei potenzielle Quellen für ein tieferes, allgemeines Verständnis des Gesamtthemas Antisemitismus hinweisen. Die erste ist das Auftreten allgemeiner historischer Muster in der Ethologie, die dazu beitragen können, den sporadischen Ausbruch von mörderischem Hass gegen religiöse, ethnische, kulturelle, ideologische, sprachliche, andersgeschlechtliche oder andersbefähigte Gruppen in der Geschichte der Menschheit zu erklären. Antisemitismus wäre hierfür nur eines von vielen Beispielen. Der zweite Teil ist eine allgemeine Reflexion über den Status des Antisemitismus als Ideologie, deren unterschiedliche ›Dünne‹ und ›Dicke‹ sich radikal auf die angemessene Antwort auf jenes ›Warum?‹ auswirkt, welches im Mittelpunkt dieses Buches steht. Aber lassen Sie mich zunächst erklären ›where I am coming from‹, wie man so schön im Englisch der Vereinigten Staaten sagt. Ich begegne dem Gegenstand des Antisemitismus aus einer speziellen multidisziplinären Perspektive. Meine akademische Karriere habe ich mit dem Studium der französischen und deutschen Literatur begonnen, um dann Ideengeschichte zu lehren, bevor ich zum Historiker und zum Professor für Neuere Geschichte ernannt wurde. (Ein Titel, der immer noch ein Gefühl des ›Impostersyndroms‹ auslöst). Meine Doktorarbeit, die ich als Späteinsteiger in den Humanwissenschaften schrieb und in der ich eine neue Definition des Faschismus entwarf, bildete den Auftakt zu drei Jahrzehnten der Forschung über die sozialpsychologischen und kulturgeschichtlichen Triebkräfte zunächst des Faschismus und dann weiterer Formen des Extremismus und Terrorismus. Meine zahlreichen Versuche, in diesem weitläufigen Forschungsgebiet bei bestimmten Fallstudien voranzukommen, gehen von den beiden Prämissen aus, die ich etwas nonchalant als ›methodologische Empathie‹ und ›existenzielle Anthropologie‹ bezeichnet habe. Es handelt sich um einen Ansatz, der auf der Relevanz der Identifizierung und der Identifikation mit der Weltanschauung und der Motivation der Träger extremistischer, soziopathischer Leidenschaften besteht, ganz gleich, wie moralisch verwerflich sie sind. Der heuristische Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie die Werte und Ideologien, die Hass artikulieren und zulassen, dass zerstörerische Phantasien ausgelebt werden, zutiefst menschliche psychologische Bedürfnisse und Sehnsüchte befriedigen; etwa nach Sinn, Zweck, Identität, Handlungsfähigkeit oder nach dem Gefühl, den Tod symbolisch überwinden zu können. 9
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Ausgehend von dieser Fragestellung konnte ich bestimmte Wechselwirkungen soziokultureller Faktoren und politisch-historischer Kräfte identifizieren, die den reibungslosen, zielgerichteten Fluss des sozialen, gemeinschaftlichen und persönlichen Lebens stören. Diese destabilisieren Gefühle von Normalität, Identität und Zukunft, indem sie in einer relevanten Minderheit von Unzufriedenen oder Entfremdeten eine Vorstellung von gewaltsamen alternativen Realitäten und totalisierenden ›Lösungen‹ schüren, etwa die Beseitigung der menschlichen Träger von vermeintlicher Unordnung und sozialer Verschmutzung. Dieses Zusammentreffen von objektiven soziokulturellen Turbulenzen und subjektivem psychologischen Leid einer kritischen Masse von Betroffenen ruft die ›Epidemien‹ von Verschwörungstheorien, Verfolgungshass und apokalyptischen Endzeit- und Neuanfangsphantasien hervor (vgl. Rhodes 1980; vgl. Barkun 2013). Die aus solchen Epidemien eliminatorischen Hasses folgende Unmenschlichkeit hat während der Epochen der kolonialen Expansion und des imperialen Kulturkampfes enorme Ausmaße angenommen. In der Vergangenheit mögen Perioden der Krise zu einer fanatischeren und gewalttätigeren Gestalt der jeweils geltenden glaubensbasierten Kultur und ihrer Eliten geführt haben. Doch in der Moderne, die durch Säkularisierung, Individualismus sowie den Zerfall religiöser Gewissheiten und Gemeinschaften gekennzeichnet ist, können solche Episoden soziokultureller Verwerfung als Katalysator für die Entstehung neuer, säkularer revolutionärer Ideologien wirken. Besagte Ideologien postulieren die Zerstörung vermeintlich überholter oder dekadenter sozialer und institutioneller Lebensformen als Bedingung von Regeneration und säkularer Erlösung – eine ›Erlösung‹, die sich oft in einer charismatischen Führer- und Erlöserfigur manifestiert. Die revolutionären Prozesse, die das Dritte Reich und die kommunistischen Staaten Russlands und Chinas hervorbrachten, sind hierfür herausragende Beispiele. Solche lassen sich aber auch in einem kleineren Maßstab finden; etwa bei der Gründung Ustascha-Kroatiens, von Pol Pots Kambodscha oder Nordkorea. In diesen extremen Fällen hat eine Vision der säkularen, von Dekadenz gereinigten neuen Ordnung dazu geführt, dass der Mord an menschlichen Erscheinungsformen jener ›alten‹ Ära, die durch eine neue Ordnung transzendiert werden soll, zumindest in den Köpfen der Führung, der paramilitärischen Vorhut oder des neuen Staates moralisch geboten erschien. Im Endeffekt begehen fanatische Erneuerungsbewegungen oder die totalitären Regime, die auf Revolutionen folgen, ungestraft Gräueltaten, um eine totalisierende Palingenese einzuleiten; einen umfassenden Erneuerungsprozess in allen Bereichen der Massengesellschaft (vgl. Kallis 2008; vgl. Pellicani 2003). Zwischen 1913 und 1939 erlebten viele Menschen – auch in demokratischen Staaten – ein Crescendo regionaler Ereignisse mit tiefen 10
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soziopolitischen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Das erzeugte eine psychologisch unerträgliche existenzielle Bedrohung ihres subjektiven Gefühls von kultureller Identität, Sicherheit, Sinn und Zugehörigkeit. Die daraus resultierenden Wellen kollektiver Angst und Anomie wurden zum affektiven Antrieb extremistischer Ideologien. Diese artikulierten und verstärkten wiederum den fanatischen Glauben der selbsternannten Eliten ebendieser anti-systemischen Bewegungen und totalitären Regime an ihre Mission oder ihr Schicksal. Es ging darum, durch eine anhaltende revolutionäre Kampagne der Avantgarde und eine konzertierte populistische Kraft unter der Führung eines inspirierenden Führers eine erneuerte gemeinschaftliche Identität und Zugehörigkeit für diejenigen zu schaffen, die als das ›wahre‹ Volk betrachtet wurden, seien nun die Arbeiter, die Kernethnie oder die ›wahre‹ Nation gemeint. Im Falle ultranationalistischer, rassistischer Bewegungen konnte dies nur um den Preis systematischer Dämonisierung und des ›Otherings‹ stigmatisierter Randgruppen geschehen, die als Träger der Degeneration und als Hindernisse für die gesellschaftliche Erneuerung angesehen wurden. Das waren vor allem, aber nicht ausschließlich, ›die Juden‹. In den Händen der Nazis wurde der Antisemitismus so zum Element des massenmobilisierenden palingenetischen Mythos der national-rassischen Erneuerung wider die Dekadenz. Diese Erwartung einer neuen historischen Ära, gar eines neuen Zeitalters wurde durch ein totalisierendes Programm des Social Engineering geweckt, das auf Massenorganisationen, Umerziehung, Propaganda und Terror basierte. Es wurde durch eine Scheinwissenschaft gestützt, die vorgetäuschte Faktizität, Kausaldiagnosen und moralische Rechtfertigungen lieferte. Die Konsequenz der Einbindung des Antisemitismus in die deutsche Gestalt eines ultranationalistischen Erneuerungsmythos, der heute weithin als allgemeines Definitionsmerkmal des Faschismus gilt, war die als moralischer Imperativ ausgerufene Massenvernichtung (vgl. Kallis 2008).
3. Manichäismus und politischer Messianismus Wenn man sich der Frage ›Warum Antisemitismus?‹ aus dieser heuristischen Perspektive nähert, setzt man sich mit der Rolle auseinander, die zwei eng verbundene psychologische Mechanismen bei der ›Fremdbestimmung‹ und Entmenschlichung der europäischen Juden:Jüdinnen über die Jahrhunderte hinweg gespielt haben. Beide waren an der ideologischen Legitimation wiederkehrender Verfolgungswellen beteiligt, die in dem unerbittlichen Versuch des Dritten Reiches gipfelten, ›die Juden‹ vollständig zu vernichten. Bei diesen Mechanismen handelt es sich zum 11
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einen um ›Manichäisierung‹ beziehungsweise die Tendenz zu einem säkularen Fundamentalismus in der Politik, der Aspekte einer fanatischen Religion annimmt (vgl. Stroizer et al. 2010). Zum anderen geht es um das Aufkommen moderner säkularer Varianten des religiösen ›Milleniarismus‹ der frühen Moderne Europas (vgl. Cohn 1957), etwas, das Jacob Talmon (1968) als ›politischen Messianismus‹ bezeichnet. Die Manichäisierung beinhaltet die Aufteilung der Welt in ›gut und böse‹, ›menschlich und dämonisch‹, ›wir‹ und ›die anderen‹ – allerdings in einer sich säkularisierenden Welt, in der ein Glaube an das metaphysische Böse bereits geschwunden ist. Daraus ergibt sich eine Einteilung, die Mitgefühl und Empathie nur denjenigen vorbehält, die als ›voll menschlich‹ gelten, um sie den ›weniger menschlichen‹ (in der Sprache der Nazis diejenigen, die als gemeinschaftsunfähig, asozial, lebensunwert oder als ›Untermenschen‹ gelten) zu entziehen. Der zweite psychologische Mechanismus, auch bekannt als »Millenarismus«, »Millennialismus« (Landes 2011) oder »säkulare Apokalyptik« (Pellicani 2003), meint das Aufkommen palingenetischer Phantasien einer neuen Ordnung und der Mission, die vermeintliche Dekadenz durch eine Säuberung der Gesellschaft von den menschlichen und institutionellen Verkörperungen des Degenerierten und Korrupten zu beseitigen. Ein allgemeines Klima der Krise sowie Visionen einer messianischen Politik schüren paranoide Vorurteile gegenüber Randgruppen, die zunehmend radikalisiert, instrumentalisiert und politisiert werden. Das kann zunehmenden Hass, Ausgrenzung und Gewalt beschwören, im Extremfall in Genoziden münden. Dieses Muster lässt sich immer wieder beobachten, etwa bei den Völkermorden in Armenien, Ruanda, Stalins Säuberungen, Saddam Husseins Krieg gegen die Marsch-Araber und Iraner, dem Krieg der Ustascha-Kroaten gegen Serben, Rom:nija und Juden:Jüdinnen sowie Pol Pots mörderischem Feldzug gegen das ›Neue Volk‹ zur Herbeiführung des ›Jahres Null‹. Ein solches ethnisch-kulturelles ›Othering‹ fand auch beim langsamen, kumulativen Völkermord an den lateinamerikanischen und nordamerikanischen Völkern durch die europäischen Kolonialmächte statt, der bis zum Jahr 1600 60 Millionen Menschen das Leben kostete (vgl. Milman 2019). In Anbetracht der Literatur, die inzwischen in verschiedenen Sprachen über einzelne Episoden von Vorurteilen, ethnischem und religiösem Hass, Verfolgung und Massenmord, Kulturmord und Völkermord existiert, von vergleichenden Studien über kollektive Akte populistischer oder staatlicher Unmenschlichkeit und der Erforschung der oben angesprochenen Prozesse liegt es nah, den Antisemitismus nicht als unvergleichliche Erscheinung zu betrachten. Idiographische Studien sollten durch nomothetische Arbeiten ergänzt werden, die sich mit der Frage befassen, wie sich der Antisemitismus in allgemeine Muster des Ethnozentrismus, der Allophobie und der Dämonisierung und Entmenschlichung 12
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gesellschaftlicher oder kultureller Gruppen einfügt, die unter extremen Umständen zu systematischen Gewaltkampagnen führen können. Eine solche Mischung aus spezialisierten und allgemeinen Studien könnte viel dazu beitragen, die Ausbrüche antisemitischen Hasses in Zeiten nationaler Krisen in Ländern zu verstehen, die in der Geschichte des gewalttätigen Antisemitismus eine Schlüsselrolle spielen, wie Spanien, Frankreich, Polen, Russland und Deutschland.
4. Der Polymorphismus der Ideologie Ein zweiter Zugang, der das Verständnis für das ›Warum‹ des Antisemitismus vertiefen könnte, würde sich auf den Mechanismus fokussieren, durch den vor-ideologische Formen von Hass und Angst gegenüber Juden:Jüdinnen als das existenziell bedrohliche ›Andere‹ in eine Ideologie von variierender Substanzialität verwandelt werden. Dazu möchte ich auf das von Michael Freeden (1996) vorgeschlagene Modell der ›ideologischen Morphologie‹2 zurückgreifen, indem ich es auf den Antisemitismus anwende. Freedens Reflexionen auf das Wesen von ›Populismus‹ und ›Nationalismus‹ bieten ein intellektuell elegantes Schema, um soziopolitische Leidenschaften, Gedanken und ›Ismen‹ als dynamische, sich entwickelnde Einheiten zu verstehen. Er unterscheidet erstens in vor-ideologische, schlecht artikulierte, emotionale Reaktionen auf Aspekte des status quo auf der einen Seite. Diese kann man begrüßen oder auch ablehnen, ohne eine Strategie für gesellschaftliches Handeln vorweisen zu können. Auf der anderen Seite differenziert er in vollständig ideologisierte Gefühle, die an diesem Punkt zu den ›Ismen‹ der Politikwissenschaft werden, nicht aber der Soziologie. So können beispielsweise gefühlsförmige kulturelle oder rassistische Ressentiments als in einem latenten Stadium der Ideologisierung befindlich betrachtet werden, wenn diese weder rationalisiert noch zum Aktionsplan einer Politik oder zur Grundlage einer Bewegung ausgearbeitet wurden. Freeden beschreibt sie als ›ausgemergelt‹. Gewalttätige Angriffe gegen Symbole eines verhassten ›Systems‹ oder gegen Personen, denen ihr Menschsein abgesprochen wird, sind möglicherweise nicht ideologisch motiviert, sondern eher ein spontanes Ventil für unartikulierte und unausgesprochene Ressentiments und Gefühle von Frustration und Wut. Slavoj Žižek (2007: 67) verwendet den Begriff »phatische« (expressive) Gewalt zur Beschreibung eines bedeutenden Beispiels für solche Angriffe: die Zerstörung von Eigentum und das Anzünden von Autos 2
Die in den Text eingewebten Begriffe von Michael Freeden wurden von Felix Kronau und Anne-Maika Krüger übersetzt.
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im Jahr 2005 durch unzufriedene französische Bürger:innen algerischer Herkunft aus den Pariser Banlieues. Im Laufe der Geschichte wurden wohl die meisten antisemitischen Vorfälle von Menschen begangen, die ›den Juden‹ in ihrer Mitte auf einer proto-ideologischen Ebene der allophoben Stereotypisierung feindlich gegenüberstanden. Sie leitete Misstrauen, das grüblerische Gefühl der Angst, des Grolls und der Wut. So waren auch außergewöhnliche Fälle von Diskriminierung oder Hassverbrechen gegen Juden:Jüdinnen, die spontan von Einzelpersonen ausgeübt wurden, wohl eher ›phatischer‹ Natur, als vollständig politisch motiviert. In Zeiten kultureller Spannungen und sozialen Zusammenbruchs oder unter autokratischen Regimen, die ihre Nation religiös, kulturell oder national homogenisieren wollten, wurde der Antisemitismus jedoch mit ideologischer Substanz und mobilisierender Kraft ausgestattet. Das war erfolgreich, weil er in Wirtsideologien wie Christentum, Islam, Nationalismus, Kommunismus und Faschismus eingegliedert und in diesem Prozess theologisch, soziokulturell oder wissenschaftlich rationalisiert wurde. Als Teil eines Bewegungsprogramms oder einer staatlichen Politik konnte er so politisch instrumentalisiert werden. Sobald wir uns in der Sphäre der ideologisierten Affekte und Überzeugungen befinden, kommt Freedens zweite heuristische und taxonomische Strategie zum Tragen. Sie hilft zu verstehen, wie politische ›Ismen‹ funktionieren und sich zu anderen soziopolitischen Phänomenen verhalten. Freedens großer Verdienst für die Humanwissenschaften besteht darin, ein ausgeklügeltes Modell der dynamischen, sich organisch entwickelnden und vielgestaltigen Natur der Ideologisierung zu liefern. Dieses begreift er als ›ideologische Morphologie‹ und beschreibt damit, wie Ideologien mutieren und sich weiterentwickeln (vgl. Freeden 1996: 13–46). Sein Ansatz führt zu Einsichten in das Wesen und die Dynamik von Ideologien. Er unterscheidet sich von jenen, die Ideologien als statische, verdinglichte, homogene Gebilde betrachten, für die – sobald man von ihrem jeweils konkreten historisch-kulturellen Kontext abstrahiert hat – eine überzeitliche, allgemeine Definition aufgestellt werden kann. Freeden macht jede Ideologie anhand zweier Achsen beschreibbar: i) Die ›Stärke‹-Achse zeigt die Ausgeprägtheit des politisch-kulturellen Wertesystems und des utopischen Projekts zur Schaffung einer idealen oder besseren Gesellschaft auf. ii) Die ›Nähe‹-Achse misst von ›entfernt‹ bis ›nahe‹ die Größe der Kluft zum ›unauslöschlichen Kern‹ einer Wirtsideologie – außer sie bildet selbst diesen Kern und dient als solcher einem eigenständigen ideologischen Cluster. Mit anderen Worten kann ein analytischer ›Griff‹ die dynamische Natur, die inhärente Flüchtigkeit und Vielschichtigkeit einer bestimmten Ideologie greifbar machen: erstens, indem ihre Stärke als kohärente politische Vision bewertet wird; zweitens, indem ihre Position in Bezug auf die anderen Komponenten einer Wirtsideologie bewertet wird – sofern 14
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sie ausreichend kohärent und affektiv stark ist, um sich wie eine Ideologie zu verhalten. Vollwertige Ideologien wie der Anarchismus oder der Feminismus entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Cluster oder Verbindungen von quasi ideologischen Elementarteilchen (manchmal auch als ›Ideologeme‹ bezeichnet). In gesellschaftspolitischen Ideologien wird dieser Kern oder das Kernideologem durch den wesentlichen, übergeordneten, utopischen Wert gebildet, der in der idealen Gesellschaft verwirklicht werden soll (z.B. gemeinschaftlicher Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz, individuelle Freiheit, persönliche Freiheit in einer staatenlosen Gemeinschaft, nationale Größe, imperiale Macht, ultranationale oder rassische Wiedergeburt). Der Marxismus der Oktoberrevolution oder der Stalinismus, der Islamismus der Taliban in Afghanistan oder von ISIS, das politische Christentum der Kreuzzüge oder des katholischen Spaniens – sie alle verfügen über einen zentralen ideologischen Kern. Dieser ist umhüllt von kontingenteren, sich ändernden kulturellen und institutionellen Prinzipien, die in bestimmten historischen Epochen den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantierten, populistische Bewegungen inspirierten und in einigen Fällen neue politisch-kulturelle Systeme und autoritäre Staaten begründeten. Kernideologien stehen per definitionem nie allein und sind nie statisch. Sie sind temporär und bedingt mit anderen, nicht definitorischen Komponenten verbunden, die zusammenhängend, angrenzend oder nur peripher auftreten können. Es ist die Bewegung in, aus oder zwischen benachbarten und peripheren Positionen in Bezug auf ihren Kern, die Ideologien ihre entwicklungsfähige, adaptive, dynamische und transformierbare Qualität verleiht. Der ›Blut und Boden‹-Kult beispielsweise war für den Nationalsozialismus weniger marginal als sein Pendant für den italienischen Faschismus. Aber in beiden Fällen grenzte er peripher an die Kernideologie, war ein Projekt der nationalen Wiedergeburt und koexistierte mit den widersprechenden Kulten der modernen Architektur und Technologie. Der Okkultismus berührte Himmlers Nationalsozialismus, nicht aber den von Albert Speer, und er war auch zentral für den Faschismus von Julius Evola, nicht aber für den von Giuseppe Bottai und der meisten Fraktionen des Regimes. Der biologische Rassismus war für die Mehrheit der italienischen Faschist:innen eine Randerscheinung ihres Vertrauens in Mussolini, während er für alle Anhänger:innen des Hitlerkults in unterschiedlichem Maße mit dem Kern des nationalsozialistischen Glaubens übereinstimmte. Die Hierarchisierung der Macht, der Paramilitarismus und der Gewaltkult waren dem Zwischenkriegsfaschismus ›benachbart‹, wurden aber in den meisten Fällen im Nachkriegsfaschismus zur Peripherie. Die Islamophobie ist für einige Neofaschist:innen zu einer neuen angrenzenden Ideologie geworden ist, wobei ›der Muslim‹ in einigen Fällen ›die Juden‹ als Erzfeind in den Schatten 15
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stellt. Holocaustleugnung ist sowohl im Neonazismus als auch im iranischen Staatsislamismus eher peripher, steht aber im Mittelpunkt der ›negationistischen‹ Strömung des Neofaschismus.3 Was die andere ideologische Variable betrifft, nämlich die Substanz oder den Gehalt, so bezieht sich das sozialwissenschaftlich entwickelte freedensche Vokabular auf die Begriffe ›Dicke‹ und ›Dünne‹. Wenn sie keinen unauslöschlichen Kern bilden, variieren Ideologeme in ihrer ›Dünnheit‹ je nach der Stärke des ideologischen Clusters, dessen Teil sie sind, und je nach ihrer Nähe zum Kern. Sie sind nur dann in der Lage, ausreichend autonom und ›dick‹ zu werden, um politisch als ideologischer Kern zu dienen, wenn sie die Grundlage für einen Entwurf einer radikal reformierten oder transformierten Gesellschaft oder Nation bieten, der andere Ideologeme subsumiert. Der Korporatismus beispielsweise konnte nie ›dick‹ genug werden, um als Kern einer eigenständigen politischen Ideologie die Grundlage eines ganzen Regimes oder einer neuen Gesellschaft zu bilden. Er war aber fester Bestandteil einiger Faschismen der Zwischenkriegszeit (etwa bis 1945) und brachte eine Schule an voll ideologisierter, faschistischer, korporatistischer Wirtschaftstheorie hervor. Diese wurde von überzeugten Faschisten (z. B. Sergio Panunzio in Italien und Alexander Thomson in Großbritannien) gefördert und bildete für sie ein tragendes Element der nahenden Revolution, während sie für die meisten anderen Faschist:innen peripher blieb. Das Paradoxe daran ist, dass ein soziopolitisches Gefühl zu wenig ideologischen Inhalt und ideelle Spezifität haben kann, um als echtes Ideologem zu gelten, und dennoch in einer bestimmten historischen Periode als Gefühl oder Vorurteil einen solchen Grad an kultureller Aktualität erreicht, dass es scheinbar ›Dicke‹ erhält. Von da an mag es so behandelt werden wie eine vollwertige Wirtsideologie. Im Falle des Antisemitismus geschah dies erst, als er mit dem faschistischen Kampf des Nationalsozialismus um die Wiedergeburt Deutschlands verbunden wurde. Seine zerstörerische Kraft wuchs mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, zunächst als Ideologie einer Bewegung, dann eines totalitären Staates und schließlich einer imperialen Macht. Schließlich beherrschte er das kulturelle und genozidale politische Programm des Regimes bis zu einem Punkt, an dem er von einigen als die treibende Kraft des Nationalsozialismus selbst, als sein A und O, betrachtet wurde. Auf dieser Grundlage kritisiert Freeden Politikwissenschaftler:innen für deren irrtümliche Einstufung des Populismus als ›dünne‹ (vgl. Mudde 3
Dies ist ein komplexes und sensibles Thema. In Deutschland löste Wolfgang Benz’ (2011: iii) Behauptung, ›der Muslim‹ habe ›den Juden‹ als Hassfigur der Rechten abgelöst, in der redaktionellen Einleitung des Handbuch des Antisemitismus sowie in seinem Buch Die Feinde aus dem Morgenland (2012) erhebliche Kontroversen aus.
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o. J.) und sogar als ›dicke‹ Ideologie (vgl. Schroeder 2020). Er weist darauf hin, dass manche Ideologeme so unterentwickelt und ›ausgemergelt‹ (Freeden 2017: 4) bleiben, dass sie als Ausdruck subjektiver sozialer Gefühle und unausgegorener politischer Überzeugungen durch die Gesellschaft wabern und als ›Phantom-Ideologie‹ über politischen Prozessen schweben und zu einem »Gespenst werden, das man über drängende und komplizierte gesellschaftspolitische Fragen drapieren kann, um sie zu verwischen und zu verschleiern« (ebd.: 10). Ein solches Phänomen, das den Anschein einer Ideologie hat, aber zu substanzlos ist, um einen ideologischen Fingerabdruck zu hinterlassen, bleibt kraftlos und kann nicht als dünne, angrenzende Ideologie wirken, geschweige denn als vollwertige, dicke, zentrale Ideologie. Gefälschte Ideologien, die wie ein FakeiPhone zwar die Form eines vollwertigen ›Ismus‹ haben, aber nicht den Gehalt, werden immer daran scheitern, sich zu einer umfassend artikulierten idée-force zu entwickeln. Sie sind nicht in der Lage, die mobilisierende Kraft oder mythische Macht (im Sorel’schen Sinne) zu entfesseln, um spezifische Formen des Wandels herbeizuführen und die Form der vermeintlichen Erneuerung und Regeneration vorzugeben. Freeden sieht den Populismus als ein Beispiel für diese gespenstische Kraft, aber da er mit ›dicken‹ Ideologien wie dem fremdenfeindlichen Konservatismus, dem Rassismus und der illiberalen Demokratie in Verbindung gebracht wird, ist es für Politikwissenschaftler:innen und Historiker:innen verlockend, diese phantasmatische Energie so zu behandeln, als wäre sie ein echter ›Ismus‹. Sie möchten sie wie eine Ideologie aus Fleisch und Blut behandeln, die mit einer beträchtlichen kinetischen, revolutionären oder zerstörerischen Substanz ausgestattet ist, so dass sie drastische plastische Operationen am politischen Körper vornehmen kann. Auch wenn der Populismus zerstörerische Auswirkungen auf die Gesellschaften aller Kontinente hat, argumentiert Freeden, fehle es ihm bei näherer Betrachtung doch an »Vollständigkeit« und »nuancierter Spezifität« (ebd.: 10), um entweder dick oder dünn zu sein. Seine forensischen, konzeptionell vorsichtigen, aber prägnanten taxonomischen Bemühungen legen nahe, Populismus stattdessen als unscharfe Beschreibung eines Politikertyps oder einer politischen Spezies zu betrachten. Dank seiner »Vagheit und Unbestimmtheit« (ebd.: 10), oder was man auch nach Henry Kissinger als seine »konstruktive Mehrdeutigkeit« (vgl. Berridge/James 2003: 51): bezeichnen könnte, übe Populismus eine antisystemische Anziehungskraft auf die Bevölkerung aus, ohne selbst ein genuin ideologisches Phänomen zu sein.
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5. Die Implikationen der Frage ›Warum Antisemitismus?‹ Ich vermute, dass Freedens ausgeklügeltes biaxiales Raster zur Analyse und Bewertung von Ideologien, angewandt auf den Fall des Antisemitismus, neue Aspekte und Erkenntnisse zutage fördert. Der Antisemitismus hat wahrscheinlich einen Großteil seiner Geschichte sowohl in der westlichen als auch in der islamischen Welt als ›Phantom-Ideologie‹ existiert, als ein weit verbreitetes, allgegenwärtiges, aber waberndes Epiphänomen. Er war zumeist eine sich wandelnde Ansammlung selten vollständig artikulierter, religiös und kulturell geprägter rassistischer Vorurteile, eine variierende Menge halbformulierter Ressentiments, dämonisierender Mythen und Verschwörungstheorien mit einer falschen Faktizität und Substantialität als Quelle von Diskriminierung und ›Othering‹. Als solcher war der Antisemitismus nie in der Lage, als autonome Kraft auf die äußere Realität einzuwirken. Die Besonderheit des Antisemitismus besteht jedoch darin, dass er – anders als der Populismus – die Fähigkeit und Neigung hat, sich durch Umgebungsbedingungen und historische Konjunktionen zu einem Ideologem zu ›verdicken‹. Es gab Situationen, in denen sich Gesellschaften oder ihre politischen, sozialen und wirtschaftlichen Eliten durch das Eindringen ›fremder‹ Kulturen, neuer Ideen oder die Pest existenziell bedroht fühlten oder durch kostspielige zwischenstaatliche Rivalitäten und Kriege unter wirtschaftlichen Druck gerieten. Oder eine Nation wurde im Gefolge einer militärischen Niederlage von revanchistischen oder irredentistischen Leidenschaften erfasst, die Verschwörungstheorien über innere Feinde und Gespenster kultureller Dekadenz und des Niedergangs hervorriefen. In solchen ›Ausnahmezuständen‹ konnte und kann sich der Antisemitismus schnell verfestigen, zu einer Kernideologie werden und sich zu einer Haupttriebkraft der Verteufelung, der Hexenjagd, der Verfolgung und des Vernichtungswillens verdicken – ein mobilisierender Mythos von dämonischer Intensität. Doch wie ungeheuerlich die in seinem Namen begangenen Verbrechen auch sein mögen, wie ›dick‹ er auch durch Stimmungen religiöser oder nationaler Krisen oder durch ultranationalistisches, rassistisches Fieber wird: Der Grundzustand des Antisemitismus war immer der einer skelettartigen, ›phantomhaften‹ Ideologie. Um sich zu ›verdicken‹ und kulturelle Reichweite zu erlangen, war er immer darauf angewiesen, die Schranken der soziokulturellen Hemmung gegenüber der Unmenschlichkeit zu durchbrechen. Nur auf diese Weise war er in der Lage, die Energie und Reproduktionskraft einer Wirtsideologie zu nutzen, sei es einer politisierten und korrupten Form des Christentums, einer pervertierten Variante des Islam, eines ausgrenzenden und verfolgenden Nationalismus 18
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oder eines rassischen Totalitarismus. Antisemitismus kann niemals eine dicke, autonome, eigenständige Kernideologie sein und funktioniert oft nicht einmal als eine richtige Ideologie. Die zentrale Rolle des Antisemitismus im Nationalsozialismus erklärt sich unter anderem durch seine Neigung, sich in Zeiten gesellschaftlichen Zusammenbruchs zu verdicken und – aufgenommen und verstärkt durch eine Kernideologie – parasitäre Macht und stellvertretende Stärke zu erlangen. Der eigentliche Kern des Nationalsozialismus als Permutation des Faschismus blieb der des ›palingenetischen Ultranationalismus‹, aber das Dritte Reich integrierte den Antisemitismus vollständig in seine eigentümliche Verbindung von Ideologemen in einer Weise, die ihn als einen wesentlichen Teil des palingenetischen Kerns und zeitweise sogar als dessen treibende Kraft erscheinen ließ. Dies geschah, indem der mythisierte, dämonisierte ›Jude‹ zum ›Gegentypus‹ des nationalsozialistischen Ideals des neuen arischen Menschen gemacht wurde, bis zu dem Punkt, an dem die Voraussetzung für eine nationale Wiedergeburt und die versprochene ›rassische Revolution‹ des ›Tausendjährigen Reiches‹ die Ausrottung aller Juden und des Judentums selbst wurde. Durch diese Aneignungsprozesse wurde das Judentum nach 1933 zum Synonym für alle ideologischen Feinde des Nationalsozialismus: Humanismus, Liberalismus, Kapitalismus, Kommunismus, kosmopolitisches Chaos, dekadenter Modernismus, ästhetische Dekadenz und die Entartung und Wurzellosigkeit der modernen Zivilisation. Im Dritten Reich fand der Antisemitismus den perfekten Wirt, indem er die Sehnsüchte ›normaler‹ Deutscher, die verzweifelt nach einem Weg suchten, der zerfallenden Realität von Weimar zu entkommen, in einen weitgehend normalisierten, genehmigten und tödlichen Judenhass verwandelte. Ob als aktive Handlanger antisemitischer Phantasien oder einfach nur gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Juden:Jüdinnen: Millionen von Deutschen machten sich mitschuldig am Massenmord, um die Schimäre einer wiedergeborenen nationalen Gemeinschaft zu verwirklichen. Diese Analyse hat sich unwissentlich auf das gefährliche Terrain begeben, auf dem biologische Metaphern wie ›Virus‹ verwendet werden. Das wird klar, wenn von ›dünnen‹, benachbarten Ideologien gesprochen wird, die als autonome Agenten des kulturellen Wandels nicht lebensfähig sind und einen dominanten ›Wirt‹ benötigen, um als sozio-politische Kräfte mächtig zu werden. Obwohl ›viral‹ in der memischen Sprache der sozialen Medien so populär geworden ist, dass es viel von seiner semantischen Präzision eingebüßt hat, machen die wissenschaftlichen Merkmale das Virus besonders relevant für Michael Freedens Konzeptualisierung der ideologischen Morphologie (obwohl Professor Freeden natürlich ebenso wie ich darauf bestehen würde, dass wir Metaphern verwenden, um komplexe ideologische und morphologische Prozesse zu 19
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beleuchten und nicht um szientistische Perversionen eugenischer rassistischer Phantasien zu verstärken). Ohne ein Mitochondrium – die ›Batterie‹ einer lebenden Zelle – hängt das Überleben, die Reproduktionsfähigkeit und die Ausbreitung eines Virus von seiner Eignung ab, gesunde Zellen zu kolonisieren und an seine Aufgabe anzupassen. Es hat kein eigenständiges Leben. Diese aufschlussreiche Metapher dafür, wie ›dünne‹ Ideologien funktionieren, ist in der akademischen Literatur und im liberalen Diskurs zu Recht tabu. Die berüchtigte Biologisierung von Rassismus und negativer Eugenik über pseudowissenschaftliche, ›szientistische‹ Disziplinen wie Rassenhygiene, Rassenkunde und Rassenwissenschaft; das Wörtlichnehmen von Metaphern wie Zucht, Krankheit, Gift, Parasiten und Keime im Nationalsozialismus; und deren Verwendung als Drohkulisse förderten gezielt eine nationale Psychose. In der daraus resultierenden Atmosphäre allgegenwärtiger Angst vor Unreinheit und Ansteckung verwischten die Grenzen zwischen dem Physischen, dem Kulturellen, dem Wörtlichen und dem Metaphorischen im Gesundheitsdiskurs. Dies ließ den mythischen Idealtypus des ›Ariers‹, der ursprünglich ein Hirngespinst der philologischen Phantasie war, zum verkörperten Symbol der reinen, gesunden Menschheit werden. ›Der Jude‹ wurde infolgedessen zum Gegenbild des idealen Deutschen gemacht. In dem Maße, in dem die genetischen und bildlichen Konnotationen von ›Blut‹ immer mehr verschmolzen, wurden ganze Menschengruppen als physische Verkörperungen des ›Untermenschen‹ dämonisiert, was ihre soziale Ausgrenzung und schließlich ihre Vernichtung ermöglichte. In der Verwendung des industriell hergestellten Pestizids Zyklon-B zur Vergasung der dämonisierten Feinde des nationalsozialistischen Programms der Wiederarisierung des Westens wurden das Technologische und das Psychotische in der routinierten Logistik des bürokratisierten Massenmords zusammengeführt. Die Nazis verwandelten so Metaphern in Massenvernichtungswaffen (vgl. Musolff 2007). Die furchtbare Last der Geschichte des Antisemitismus selbst verbietet es mir, dieses Vorwort mit einem Ausbruch journalistischer Rhetorik zu beenden und ihn mit einem sozialen Virus oder einem Pilz wie dem Ophiocordyceps unilateralis aus dem Amazonas-Regenwald zu vergleichen.4 Dieser besonders raffinierte und tödliche eukaryotische 4
Es ist bezeichnend, dass Primo Levi selbst nicht widerstehen konnte, die biologischen Metaphern des ›Wundbrandes‹ und des ›Samens‹ zu verwenden, um die zukünftige Bedrohung durch den Antisemitismus nach dem Krieg zu beschreiben. Primo Levis Die Atempause enthält den Abschnitt: »Der Anblick des zerstörten Wiens und der erniedrigten Deutschen hatte uns keinerlei Freude bereitet; statt dessen empfanden wir Schmerz – nicht Mitleid, sondern einen umfassenderen Schmerz, der sich mit unserem eigenen Elend und dem drohend lastenden Gefühl eines unheilbaren und endgültigen Übels
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Organismus zombifiziert seine Opfer – Baumameisen – auf eine Art und Weise, die rhetorisch an die Millionen von ›gewöhnlichen‹ Deutschen erinnert5, die zu gehirngewaschenen, zombifizierten Komplizen von Verfolgung und Völkermord gemacht wurden. Eine solche anschauliche Analogie ist jedoch nicht nur unzulässig, weil sie die Menschen, die zu Erfüllungsgehilfen des Nationalsozialismus wurden, auf schleichende Weise entmenschlicht und ›anders‹ macht und sie ihrer Willenskraft und moralischen Handlungsfähigkeit beraubt, sondern auch, weil sie irreführend ist. Die nüchterne Schlussfolgerung oder ›Quintessenz‹ dieses Vorworts ist weniger melodramatisch. Sie legt nahe, dass es tiefgreifende historiographische, anthropologische, soziologische und neuropsychologische Grenzen dafür gibt, inwieweit die Frage ›Warum Antisemitismus?‹ mit einem gewissen Grad an Bestimmtheit beantwortet werden kann. Ich schlage vor, den Antisemitismus aus heuristischen Gründen in erster Linie als ein spontanes, unartikuliertes, weitgehend unterschwelliges und instinktives Vorurteil zu behandeln, als eine von vielen Erscheinungsformen der universell-menschlichen Menschenfeindlichkeit. Besondere historisch-kulturelle Umstände haben ihn jedoch in einen peripheren oder sogar angrenzenden Bestandteil verschiedener Kern- oder Wirtsideologien verwandelt, obwohl er nie autonom als ›unauslöschlicher Kern‹ anderer ideologischer Cluster funktioniert hat.
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verband, das, überall gegenwärtig, sich wie ein Wundbrand in die Eingeweide Europas und der Welt gefressen hatte, Same künftigen Unheils.« (Levi 1991: 346f.) Es sei darauf hingewiesen, dass Alberto Moravia bereits 1943, also noch bevor Italien direkt in die Endlösung involviert wurde, in seiner Einleitung zu Giacomo Debenedettis Buch, 16 Ottobre 1943, über den Überfall der Nazis auf das Ghetto in Rom die Nazis mit einer morbo (›Seuche‹ oder ›Epidemie‹) verglich. Die Phrase ›gewöhnliche Deutsche‹ ist eine Anspielung auf die umstrittene These von Daniel Goldhagen (1996). Er behauptet eine zumeist passive, aber in einer beunruhigenden Anzahl auch aktive Massenbeteiligung ›gewöhnlicher Deutscher‹ am Funktionieren des Dritten Reichs. Auf diese Weise machten sie sich an unzähligen legalisierten, routinisierten und normalisierten Gräueltaten gegen die Menschheit mitschuldig. Goldhagen wird vorgeworfen, dass er den Ausdruck ›die Deutschen‹ so wenig nuanciert hat, dass er zu einem groben Stereotyp wurde, zu einer rassistischen Verallgemeinerung, die sowohl die historische Aussagekraft als auch den analytischen Wert untergräbt. Dennoch sehe ich überwältigende historische Beweise dafür, dass der Antisemitismus nicht nur vor Hitlers ›Machtergreifung‹ eine starke Strömung in der Weimarer Gesellschaft war, sondern dass Millionen deutscher Bürger:innen früher oder später die offizielle Dämonisierung ›der Juden‹ als ›minderwertige Rasse‹ mittrugen, deren ›Entfernung‹ eine der Hauptvoraussetzungen für die völlige Wiedergeburt Deutschlands unter Adolf Hitler war (vgl. Klemperer 1947).
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Das hat den Antisemitismus nicht daran gehindert, phänomenologisch gesehen im Dritten Reich mit einer stürmischen, völkermörderischen Virulenz zu wüten, als hätte er ein dämonisches, übernatürliches Eigenleben, unabhängig von jedem sterblichen politischen Projekt oder menschlichen Handeln. Es ist daher verständlich, dass der Holocaust für Arno Mayer, der mit seiner jüdischen Familie täglich der Gefahr ausgesetzt war, vom kollaborierenden Vichy-Regime in die Lager deportiert zu werden, zumindest metaphorisch eine kosmische, elementare Antwort verlangte: Die ›Verfinsterung des Himmels‹, wie sie nach christlichem Glauben im Moment des Todes des Messias stattfand. Übersetzt von Anne-Maika Krüger und Felix Kronau
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Warum Antisemitismus? Subjekttheoretische Perspektiven auf ein kollektives Phänomen Der Titel dieses Bandes hat einige unserer Kolleg:innen irritiert. Fragen wir damit nicht nach Gründen für etwas grundsätzlich Unbegründetes? Spielt das ›Warum‹ des Antisemitismus nicht weniger eine Rolle, als die Frage, wie wir ihm begegnen müssen? Antisemitismus wurde oft als eine Versuchung beschrieben, die Hoheit über das eigene Handeln, die Notwendigkeit zur Selbstreflexion oder die Verantwortung für eigene Emotionen abzugeben. Wann immer wir Antisemitismus beobachten, treffen wir auf Gestalten, denen solche subjektiven Fähigkeiten scheinbar verlustig gegangen sind: Sie führen soziale Phänomene auf das Handeln einzelner Personen zurück. Sie begegnen ambivalenten oder schlicht unerforschten Problemkomplexen mit eindeutigen und essentialistischen Glaubenssätzen. In dieser Hinsicht erscheint das Subjekt des Antisemitismus zunächst als ein Beschädigtes. Zeitgleich zur Planung dieses Sammelbandes kam es zu Ereignissen, die diesen Eindruck bestätigen: Die Covid-19-Pandemie, der Angriffskrieg auf die Ukraine oder die globalen Erfolge autoritärer Populismen mobilisieren politische Akteur:innen, die sich im Kampf gegen die ›korrupte und dekadente Elite‹ wähnen. Mit ritterlichem Gestus und Sendungsbewusstsein streiten sie seitdem bei Demonstrationen, auf SocialMedia-Kanälen oder in Alltagssituationen für das, was sie für das Gute halten. Dabei folgen diese Menschen oft antisemitischen Erzählungen und sind bereit, ihr Denken und Handeln aktiv nach einem Verschwörungsglauben auszurichten (vgl. Howind 2011: 116). Diese (bewusste) Weigerung gegen das Wirkliche wird zum authentischen Ausdruck ihrer persönlichen und politischen Selbst-Bestimmung, der Antisemitismus zum ›Empowerment‹ gegen die Widrigkeiten dieser Wirklichkeit.1 Samuel Salzborn (2021: 45) hat diese Weigerung wider die Wirklichkeit als einen Prozess ›doppelter De-Subjektivierung‹ beschrieben. Auf die Erfahrung von Frustration und Scheitern, des Zusammenbrechens 1
Für den historischen Nationalsozialismus hat Peter Trawny (2022: 42) mittels einer philosophischen Interpretation von Adolf Hitlers Mein Kampf pointiert, dass es sich schon beim nationalsozialistischen Antisemitismus »einzig und allein um Empowerment« handelte.
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eigener Pläne und Gewissheiten reagieren Antisemit:innen mit Angst vor sich selbst und wenden sich von der Wirklichkeit ab: Sie verlieren ihren Welt- und Selbstbezug und können so vermeiden, ihre Position in widersprüchlichen Verhältnissen zu reflektieren (vgl. Salzborn 2012: 201). Diese Beobachtungen überzeugen zwar hinreichend, allerdings geht mit der Weigerung wider die Wirklichkeit nicht zugleich ein Ende individueller und kollektiver, politischer Handlungsfähigkeit einher – das Subjekt ist nicht tot. Durch Antisemitismus scheint vielmehr ein neues Subjekt zu entstehen, dessen politisches Handeln nicht nur eine eigene Struktur hat, sondern auch einer spezifischen kollektiven Rationalität folgt, die unweigerlich in Irrationalität umschlägt (vgl. Adorno 1967: 23). Wir sehen dies gegenwärtig an unzähligen Menschen, die unfähig oder unwillig sind, Wahres von Unwahrem zu unterscheiden und sich in ein nachvollziehbares Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen. Aus den Debatten um ein sogenanntes post-faktisches Zeitalter etwa spricht eine deutliche Irritation über die Begegnung mit solchen Gestalten: Sie sind gewillt, notorisch lügende Repräsentanten zu wählen, die wiederum versprechen, die ›große Lüge‹ zu entlarven (vgl. Löwenthal 1948: 126–145). Man beansprucht, selbst und kritisch zu denken, reproduziert aber ungebrochen äußerlich aufgenommene Narrative (vgl. Adorno 1951a: 427). Einige bedienen sich in provokativen Gesten anlass- und kontextlos Symboliken, die auf das Judentum oder den Nationalsozialismus verweisen. Was medial oft auf Zynismus oder staatsbürgerliche Unzufriedenheit reduziert wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als fester Glaube an die Wahrheit der eigenen Überzeugung auf einem Fundament starker emotionaler Bindung (vgl. Berg 2023). In ihrer Weigerung gegen die Wirklichkeit sind Antisemit:innen also nicht gleichgültig gegenüber ›der Wahrheit‹. Sie binden sich an eine essentialistische Grundüberzeugung: Jemand kontrolliert die Geschicke der Welt. Der Blick in den ›Fringe‹ sozialer Medien zeigt zudem: Antisemit:innen suchen geradezu das rauschhafte Erleben von Gefühlen und moralischer Empörung, wenn sie sich gegenseitig ›Gruselgeschichten‹ über diesen Jemand erzählen (vgl. Fielitz/Marcks 2020: 84) – über entführte und ermordete Kindern, über tief unter Regierungsgebäuden verborgene Blutkeltereien und über alle Verkommenheit der Strippenzieher hinter dem Weltgeschehen. Im Zuge dieses Verlusts von Selbst- und Weltreflexion gewinnen sie zugleich etwas: Probleme und Widersprüche lösen sich zwar nicht auf, auf Demonstrationen oder in Telegram-Gruppen findet man aber Gemeinschaft, gegenseitige Bestätigung und ›Liebe‹ (vgl. Müller 2022: 99). Dort lässt sich auch eine heldenhafte, manichäische Erzählung des eigenen Lebens teilen: ›Wir gegen das Böse‹. Doch »eine Heldengeschichte funktioniert nur, wenn ihr Protagonist auch Heldentaten vollbringt« (Buchzik 2022: 123). Das Heldennarrativ im Kampf 25
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gegen einen als mächtig imaginierten ›Juden‹ wirkt so als Katalysator politischen Handelns, weshalb Antisemitismus auch als politisches Phänomen betrachtet werden muss, als Kampf gegen konkretisiertes Übel. Das treibt zur Frage nach dem politischen Subjekt.
1. Antisemitismustheorien und Subjekt – ein Überblick Theorien zum Antisemitismus haben sich mittlerweile stark ausdifferenziert (vgl. Salzborn 2010; vgl. Salzborn 2022; vgl. Krah 2017: 85– 335). Auf den ersten Blick herrscht geradezu ein Überangebot an Interpretationen und Ansätzen, seien sie politiktheoretischer (vgl. Arendt 1955: 17–272), existenzialphilosophischer (vgl. Sartre 1946; vgl. Lévinas 1992), wissenssoziologischer (vgl. Holz 2001; vgl. Volkov 2000) oder sogar poststrukturalistischer und postmoderner Natur (vgl. Agamben 2002: 127–198; vgl. Bauman 1992: 45–131; vgl. Lacoue-Labarthe/ Nancy 1997; vgl. Lyotard 1988). In den meisten dieser Ansätze spielen Strukturphänomene eine dem Subjekt klar vorgelagerte Rolle. Daraus ergibt sich ein Problem, das Horkheimer bereits 1946 auf den Punkt gebracht hatte: »Obwohl das Problem des Antisemitismus als ein soziales Phänomen äußerst wichtig ist, haben Soziologen und Philosophen noch nicht viel zu seiner Lösung beigetragen. Bezeichnenderweise gibt es im Bereich der Soziologie und der Sozialphilosophie keine Untersuchung, die mit der erhellenden Diskussion in Freuds Moses oder mit den psychoanalytischen Aufsätzen zum Antisemitismus, wie demjenigen von Otto Fenichel, vergleichbar wäre.« (Horkheimer 1946: 21f., Herv. i. O.).2
Damit gesteht Horkheimer indirekt zu, dass auch die im Institut für Sozialforschung entwickelten Analysen des ›autoritären Staats‹ oder ›Staatskapitalismus‹ (vgl. Horkheimer 1939; vgl. Horkheimer 1942; vgl. Pollock 1941a) nicht hinreichen, die Radikalisierung und Eskalation durch Antisemitismus in den Gesellschaften des postliberalen Kapitalismus zu verstehen. Jenen Analysen wurde daher überzeugend ein eindimensionales und staatszentriertes Verständnis des Politischen attestiert (vgl. 2
Der psychoanalytische Ansatz in der Antisemitismustheorie geht auf Sigmund Freud (1939) zurück. Horkheimer und Adorno (1947: 197–238), Simmel (1946) sowie Fenichel (1946) haben unter der Prämisse, man müsse von der individuellen »Psychoanalyse von Antisemiten« (Fenichel 1946: 32) zu einer Psychoanalyse des Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen übergehen, entscheidend zu ihrer kultur- und zivilisationstheoretischen Weiterentwicklung beigetragen und sie mit Bezug auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) konkretisiert (vgl. Adorno 1951a; vgl. Rosenfeld 1990; vgl. Wirth 2022: 27–86).
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Postone 2003: 150–169).3 Gerade bei Pollock wird dieses Primat staatlicher Politik über die Ökonomie deutlich. Ihm zufolge werden autonome Sphären des Marktes und andere ökonomische ›Gesetzmäßigkeiten‹ im postliberalen, monopolistisch organisierten Kapitalismus durch politischen Terror und psychische Manipulation der Gesellschaft ersetzt und die »ihrer [marktförmigen] Autonomie beraubten Individuen oder Gruppen [...] dem Ganzen [des Staates] untergeordnet« (ebd.: 155). »Pollock scheint Massenbewußtsein unter dem Primat des Politischen nur unter dem Aspekt äußerer Manipulation und einer vagen Vorstellung möglicherweise revolutionärer Auswirkungen eines Anstiegs des Lebensstandards zu betrachten. Es scheint, als habe er in der Auseinandersetzung mit der vom Staat determinierten Gesellschaft keinen Begriff von gesellschaftlichem Bewußtsein als einem immanenten Aspekt dieser [Subjektivierungs-]Form (einen Begriff, den er bei seiner Betrachtung der vom Markt determinierten Gesellschaft möglicherweise hat). Man kann vermuten, daß Pollock keine hinreichend ausgearbeitete Vorstellung vom Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Subjektivität und Objektivität hat.« (ebd.: 157)
Dieses unreflektierte Verhältnis von gesellschaftlicher Subjektivität und Objektivität lässt den Antisemitismus ausschließlich in seiner ideologischen Funktion erscheinen. Dabei wird das politische Handeln, das ihn gewaltsam in Realität übersetzt, in seiner theoretischen Bedeutung unterschätzt. Eine Theorie, die dieses Verhältnis einseitig zur gesellschaftlichen Objektivität hin auflöst und die politische Dimension moderner Subjektivierung übersieht, würde in letzter Instanz eine »spezielle Theorie des Antisemitismus schlicht überflüssig« (Ziege 2009: 121) machen.4 Das erzeugt ein Problem bei der Analyse des Antisemitismus innerhalb der Kritischen Theorie: Pollocks Staatskapitalismusthese liefert sowohl die ökonomietheoretische Basis der Dialektik der Aufklärung (vgl. ebd.: 107; vgl. Worrel 2008: 83) als auch der Studien zum autoritären Charakter. Das zeigt sich etwa in der Gegenüberstellung von ›autoritärem‹ und ›liberalem Charakter‹ (vgl. Adorno 1950: 505, vgl. Quindeau 3
4
Auch in der historischen Forschung zum nationalsozialistischen Antisemitismus wurde dieser primär als staatliches und administratives Handeln verstanden (vgl. Hilberg 1962: 56–66; Enderwitz 1998; vgl. Herbert 1998). Auch wenn es in der ›Staatskapitalismus-Kontroverse‹ innerhalb des Instituts für Sozialforschung (vgl. Wiggershaus 1986: 314–326) nicht systematisch um eine Reflexion auf den Antisemitismus ging, müsste er – als Kernideologie des Nationalsozialismus – in letzter Instanz aber mit der Theorie der ›Neuen Ordnung‹ des Nationalsozialismus als deutschem Ausdruck des Staatskapitalismus (vgl. Pollock 1941b) in Gänze erklärbar sein (vgl. Ziege 2009: 103–119).
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2023a; vgl. Benjamin 2017) als subjektiver Entsprechung des autoritären Monopolkapitalismus auf der einen und des liberalen Konkurrenzkapitalismus auf der anderen Seite. Da diese beiden Texte bis heute wichtige Instrumente der Antisemitismusforschung sind, scheint es, als sei deren »theoretische Entwicklung« in Auseinandersetzung mit (politscher) Subjektivität jenseits der Psychoanalyse »fast vollständig zum Erliegen« (Bergmann/Erb 1990: 11) gekommen.5 Infolge dessen wird Antisemitismus oftmals auf eine Pathologisierung des Politischen reduziert (vgl. Jay 2021). Selbst wenn in Weiterentwicklung der Kritischen Theorie die moderne Gesellschaft in ihrer Grundstruktur (und damit in ihrer Totalität) als »antisemitische Gesellschaft« (Claussen 2005: 53; vgl. Postone 1979) bestimmt wird, stehen konkrete Handlungs- und Ermächtigungsmöglichkeiten antisemitischer Subjekte dort nicht im Fokus. Diese Beschäftigung mit der »Form und Dynamik des Kapitalismus als einer Totalität« (Postone 2003: 143) setzt vielmehr ein bestimmtes Subjektverständnis voraus und fragt weniger nach den konkreten, aus dieser Totalität entwachsenden Subjektivierungsformen.6 Vorwürfe, die Kritische Theorie entwerfe von Anfang an eine ›ontologische Ideologietheorie‹, die den Antisemitismus im Wesen der kapitalistischen Gesellschaft verortet und ihn so einer radikalen Entsubjektivierung unterziehe (vgl. Holz 1995: 160ff.), greifen allerdings zu kurz.7 Denn besagte Ansätze 5
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Die Theorie ist einer kleinteiligen, empirischen Forschung zu antisemitischen Teilphänomenen gewichen. Holz merkt an, dass die Antisemitismusforschung selbst zu ihrer Theorielosigkeit beigetragen habe, da sie sich heute mehr durch vereinfachte, standardisierte Meinungsforschung als durch theoretische Reflexion und »methodisch komplexe[…] Forschungen« (Holz 2001: 21) auszeichne. Als nach wie vor wesentlich bestimmt Holz das Gruppenexperiment (vgl. Pollock 1955) des Instituts für Sozialforschung und Adornos Schuld und Abwehr (1956). Dabei hebt er die innovative Verknüpfung von Theorie mit qualitativen und quantitativen Methoden hervor. Holz wirft Postone und Claussen vor, das von historisch gewachsenen Sinnstrukturen, Weltanschauungen und Semantiken (vgl. Holz 2001: 26–49) geprägte ›antisemitische Bewusstsein‹ abseits einer spezifisch modernen und politischen »Subjektentwicklung« (Holz 1995: 162) zu denken. Erstaunlicherweise plädiert Holz dafür, das Marx’sche Subjektverständnis einer politischen Konkretion und Weiterentwicklung zu unterziehen (vgl. ebd.: 163f.). Diesen Anspruch erfüllt er in seinem Hauptwerk Nationaler Antisemitismus selbst aber nicht. Anstelle seiner Kritik an der vermeintlichen ›Entsubjektivierung‹ ein eigenes Subjektverständnis folgen zu lassen, geht es ihm letztlich doch eher um die in antisemitischen Texten transportierten, kommunikativen Momente, die selbst einer subjekttheoretischen Konkretisierung bedürfen. Claussen (2005: 145f., 245) kritisiert seinerseits Postone für die unzureichende Integration psychoanalytischer Erkenntnisse und eine mangelnde Reflexion auf das Subjekt in der kapitalistischen Gesellschaft. Nichtsdestotrotz
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verstehen den Kapitalismus nicht ontologisch, sondern maßgeblich historisch: das heißt als etwas Gewordenes, eine durch menschliches Handeln hervorgebrachte und reproduzierte Struktur. In Adornos Spätwerk lassen sich solche Konturen erkennen, die für die Theorie eines politischen Subjekts des Antisemitismus zentral sind.8 Der Vorrang des gesellschaftlichen Objekts wird betont, doch das handelnde Subjekt nicht außer Acht gelassen. Anstoß zu seiner »Wendung aufs Subjekt« (Adorno 1966: 676) waren Gruppendiskussionen, in denen die deutsche Tätergeneration empirisch beforscht wurde (vgl. Adorno 1956). Daraus entwickelte Adorno unter anderem jene bis heute populären Aufsätze und Radiobeiträge, die in der Rückschau gelegentlich auf einen verzweifelten Versuch gesellschaftspolitischen Engagements reduziert werden. Doch Adorno hat seine Theorie hier nicht nur didaktisch reduziert, sondern diese auf das Subjekt hin weiterentwickelt (vgl. Schweppenhäuser 2016: 165–178). Diese Entwicklungsperspektive wird oft von der Behauptung durchkreuzt, die Kritische Theorie habe nach 1945 die Verbindung ihrer theoretischen Gesellschaftsanalyse zur praktischen Politik gekappt (vgl. Kailitz 2007: 81). Auf das Prinzip ›Pessimismus in der Theorie, Optimismus in der Praxis‹ zurückgezogen (vgl. Horkheimer 1971: 232), sei der Negativismus ihrer Theorie total geworden und habe selbst jegliche normative Grundlage von Kritik unterwandert (vgl. Habermas 1983: 418f; vgl. Benhabib 1986: 169). In Texten wie Schuld und Abwehr zeigt sich allerdings eine vertiefte Reflexion auf das »verantwortliche Bewusstsein« (Adorno 1956: 149) der nationalsozialistischen Täter:innen, die einen besonderen Fokus auf das Subjekt und dessen Handlungsvermögen richtet: »[Die] Abschaffung des Gewissens konnte schließlich doch nur im engsten Kreise der ›practitioners of violence‹ einigermaßen gelingen, während der überwältigende Teil der deutschen Bevölkerung von den wie sehr auch verblaßten moralischen Vorstellungen der bürgerlich-liberalen Welt herkam und immer noch ein gutes Stück von ihnen in sich trägt« (ebd.).
Der Nationalsozialismus war nicht nur unfähig, bürgerliche Subjektivität – Rudimente verinnerlichter Moral- und Rechtskodizes – und damit den gesamten gesellschaftlichen »Unterbau« (Adorno 1970: 487) völlig umzuwälzen. Er blieb vielmehr auf diese angewiesen.9 So sehr die
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sind sich beide in ihren ökonomietheoretischen Annahmen durchaus einig (vgl. Grigat 2007: 290). Michael Städtler (2022: 8) weist darauf hin, dass erstaunlicherweise im Adorno-Handbuch (vgl. Klein et al. 2019) kein Beitrag »zum Subjektbegriff Adornos« zu finden ist, obwohl gerade in der Negativen Dialektik der Begriff des Subjekts im Verhältnis zum gesellschaftlichen Objekt zentral ist. Ilka Quindeau (2023a) weist in ihrer Reinterpretation von Schuld und Abwehr dennoch darauf hin, dass die nationalsozialistischen Über-Ich-Strukturen
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Kritische Theorie die Ursachen für Antisemitismus und Shoah in der Tiefenstruktur der ›antisemitischen Gesellschaft‹ sucht, verknappt sie diesen Zusammenhang nicht auf eine Tragödie, die sich über die Köpfe der Subjekte hinweg vollzog. Dass sich nationalsozialistische Funktionseliten, Überzeugungstäter:innen und Mitläufer:innen nach ihrer Niederlage nicht länger auf das ›Schicksal des deutschen Volkes‹, sondern auf ihre persönlichen Pflichten zurückzogen, um so ihr Wirken bei der Vernichtung der europäischen Juden:Jüdinnen moralisch zu rechtfertigen (vgl. Arendt 1963: 231ff.; vgl. Postone 2000), unterstreicht diesen Umstand. Die vielzitierte Rede vom ›Massenbetrug‹ oder ›Verblendungszusammenhang‹ (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 65, 145) hindert Adorno nicht, auf Bereitschaft und Eifer von Gestalten wie Adolf Eichmann zu beharren, sich selbst und andere in eine amorphe Masse zu verwandeln (vgl. Adorno 1966: 683). Sie betrieben die konkrete ›Auslöschung‹ der Anderen mit derselben Gewissenhaftigkeit und Bereitschaft zur Entsagung, die man von braven Bürger:innen erwarten konnte: Verantwortungsübernahme heute, um dieselbe Verantwortung morgen abzugeben. Vor diesem Hintergrund verstehen wir Adornos Selbstkritik, er habe den autoritären Charakter zu wenig als »politisch-ökonomisches Phänomen« betrachtet und die ihm zugrunde liegende Subjekttheorie in »primär psychologischer Art« (Adorno 1969: 722) begründet. Eine ähnliche Kritik am Konzept des autoritären Charakters hat auch Ilka Quindeau (2023b) in ihren Adorno-Vorlesungen formuliert. Ihre erste Sitzung war mit dem Titel ›Wozu Antisemitismus?‹ überschrieben.10 In psychoanalytischer Interpretation zielte sie auf die Frage nach der politischen Funktion des Antisemitismus ab, die hier mit ›Warum Antisemitismus?‹ in einen politisch-subjekttheoretischen Kontext gestellt wird. Diese Frage nach einem politischen Subjekt des Antisemitismus ist daher bei Weitem nicht neu (vgl. Bauer 2001: 15), theoretisch aber auch nicht hinreichend beantwortet worden.
2. Vom bürgerlichen zum antisemitischen Subjekt Betrachten wir das Subjekt des Antisemitismus anhand von zeitgenössischen Erscheinungen, wie beispielsweise der Figur des ›Querdenkers‹, sehen wir nicht nur eine von den Zwängen der Aufrichtigkeit gelöste maßgeblich das Denken und Handeln der Deutschen geprägt haben, ohne diese aber in Gänze zu determinieren. 10 Eine ähnliche Tendenz findet sich auch in Adornos Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie. Dort betont er, dass der Antisemitismus »nicht einfach durch Zwangsanwendung den Subjekten gegenüber[trete], sondern auch durch die Subjekte hindurch« (Adorno 1968: 253) wirke.
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Gestalt, die sich frei karnevalesken Exzessen hingibt. Vielmehr sehen wir auch jemanden, der sich von der Mission getrieben erlebt, vermeintlich ›unbequeme Wahrheiten‹ auszusprechen. Dass man sich durch ›praktischen Antisemitismus‹ der Verantwortung entzieht (vgl. Sartre 1946: 57), ist also nur die halbe Wahrheit (vgl. Rensmann 1998: 207). Man will Verantwortung übernehmen. Das Subjekt des Antisemitismus ist ein bürgerliches. Es lebt unter den Anforderungen einer bürgerlichen Gesellschaft. Wie jedes bürgerliche Subjekt muss es in der Lage sein i) epistemisch, ii) ethisch und iii) ökonomisch für sich Verantwortung zu übernehmen. So muss es die Fähigkeit besitzen, i) Wahres von Falschem zu unterscheiden, ii) das eigene Handeln nach dieser Erkenntnis auszurichten, um es gegenüber anderen zu rechtfertigen, und iii) im Austausch mit anderen das eigene ökonomische Auskommen zu erwirtschaften. Das bürgerliche Subjekt ist ›frei‹ – allerdings nicht frei von Zwängen und Notwendigkeiten, sondern frei in der Art, sich zu diesen Anforderungen zu verhalten (vgl. Marx 1844: 368): Das heißt, es kann diese Ansprüche bewältigen oder daran scheitern. Aufgrund dieser Verantwortung erlebt es seine Umwelt als einen ›äußerlichen Rahmen‹ (vgl. ebd. 366). Um das eigene Leben zu meistern, ist es sowohl auf diesen Rahmen als auch auf Gesellschaft angewiesen. Das bürgerliche Subjekt ist sozial. Weil es auf Gesellschaft angewiesen ist, erfährt das bürgerliche Subjekt seine Umwelt als Voraussetzung und als Grenze seiner ›Freiheit‹ (ebd.) sowie als permanente Herausforderung bei der Übernahme seiner (Teil-)Verantwortung. Insofern lebt es in einem äußerst spannungsgeladenen Verhältnis. Es ist gezwungen, die äußerlichen Zwänge aufzunehmen und deren Anforderungen als Verantwortung für sich wie sein eigenstes Interesse zu behandeln (vgl. Marx 1867: 765; vgl. Nietzsche 1887: 280). »In diesem Sinne ist die Verantwortlichkeit des Für-sich drückend, weil es das ist, wodurch geschieht, daß es eine Welt gibt« (Sartre 1943: 950, Herv. i. O.). Indem das Subjekt dem Ruf seiner Verantwortung nachkommt, wiederholt es in seinem Handeln jene Bedingungen, durch die es selbst hervorgebracht wurde. Das Subjekt reproduziert sich und seine Umwelt. Aber diese Umwelt begegnet dem bürgerlichen Subjekt weder in epistemischer, ethischer oder ökonomischer Hinsicht widerspruchslos (vgl. Reckwitz 2017: 126f.). Was das konkret bedeutet, ließ sich zu Beginn der Covid-19-Pandemie beobachten: Gerade kleineren Unternehmer:innen und Freischaffenden war es kaum möglich, ihr Geschäft unter den Anforderungen der Quarantäne zu führen.11 Diese ökonomische Verantwortung stand nun 11 Die vielzitierte Studie von Nachtwey, Schäfer und Frei (2020: 36, 51), legt nahe, dass (zumindest zu Beginn der Proteste) die Querdenken-Bewegung stark von diesem Milieu der Selbstständigen und Freischaffenden getragen wurde. Doch auch Akademiker:innen waren überproportional repräsentiert.
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im expliziten Konflikt zu der ethischen, sich aus sozialen Interaktionen zurückzuziehen. Einige sahen in diesen Anforderungen eine prinzipiell unzulässige Einschränkung ihrer bürgerlichen Eigenverantwortung und die Verhältnismäßigkeit der Eindämmungsmaßnahmen wurde diskutiert (vgl. Rixen 2022). Doch einige erkannten bereits Tatsachen, wo Wahrheit (noch) nicht festgestellt werden konnte. Anstelle materieller Konflikte zwischen ihrer ökonomischen und ethischen Verantwortung sahen sie die Macht und Interessen anderer am Werk (vgl. Löwenthal 1948: 39ff.). »Sapere aude!« (Kant 1783: 53) wurde von der Formel eigenverantwortlicher Erkenntnis der Wirklichkeit, zur Formel eigenverantwortlicher Erkenntnis wider die Wirklichkeit12: Nicht nur erkannten die ›Querdenker‹ in den Anderen nur noch ein Hemmnis der eigenen Freiheit (und nicht auch deren Voraussetzung). Sie unterstellten diesen Anderen auch, keine Eigenverantwortung übernehmen zu wollen, nicht selbst zu denken und die Risiken des eigenen Lebens nicht tragen zu wollen. Entgegen der ›Impfgläubigen‹ verstanden sie sich als besonders freie und selbstbestimmte Bürger:innen. Dass andere Menschen unter der Ausübung dieser fragwürdigen Eigenverantwortung würden leiden müssen, war wenig relevant. Da man bereit war, seine Verantwortung zu tragen, konnte man sich im Zweifel auch »für das Unmenschliche entscheiden« (Sartre 1943: 951, Herv. i. O.). So entstand aus einer Gruppe, die sich zunächst nur darauf einigen konnte, die Verantwortung für sich und das eigene Denken beschnitten sehen zu wollen, ein politisches Kollektiv. Das fand in Form einer ideologischen ›Schiefheilung‹ der Verantwortung statt. Wo das individuelle Subjekt sich ohnmächtig erlebt – i) die gegenwärtigen Umstände wahrhaft zu erkennen, ii) daraus ethisches Handeln zu generieren und iii) sich darin ökonomisch zu reproduzieren – erzeugt es einen (illusorischen) Sinn: Die Ohnmacht wird kollektiviert. In Verantwortung umgewandelt wird sie zum Befreiungsgrund einer Bewegung. Gewissheit wird zur Travestie des Mangels an Wahrheit und Handlungsfähigkeit: Man ist nicht unwissend – man wird belogen. Man ist nicht egoistisch – die anderen entziehen sich ihrer Verantwortung. Man ist nicht machtlos – man ist mit Mächten konfrontiert, die ihre Interessen durchsetzen. Mit dieser Grundhaltung kann man auf Jahrhunderte alte antisemitische Erzählungen, Symbole und Überzeugungen zurückgreifen: Seien es Verschwörungsmythen, die Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses oder die Abwertung des Fremden, Kranken und Schwachen als parasitäre Last 12 Schon 1784 wurde ›Sapere aude!‹ eingeschränkt: Kant (1783: 55f.) unterschied zwischen der Verantwortung einer Person, vernunftbasierte Erkenntnisse einem Publikum zugänglich zu machen, und der Verpflichtung gegenüber der Befehlskette im preußischen Staat, in dem Beamte und Würdenträger verantwortlich seien, ihre Verantwortung nach oben abzugeben.
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für das Kollektiv. So lässt sich – zumindest temporär – ein handlungsfähiges Subjekt anrufen: Ein ›Wir‹, ein ›Volk‹, eine ›Bewegung‹. Unsere These lautet: Das Kollektiv strömt nicht auf die Straße, weil es ursächlich vom Hass auf ›die Juden‹ getrieben wird: Der Antisemitismus ist vielmehr Mittel – nicht Ursache – politischer Selbstermächtigung. Dieses Mittel ist nicht beliebig austauschbar, da es nicht darum geht, einen Sündenbock zu finden, sondern einen Gegner ausfindig zu machen, den man bekämpfen und vernichten kann (vgl. Neumann 1954: 270). Nur wenn man sich ›den Juden‹ als mächtig imaginiert, kann man sich als dessen Antagonist verstehen, der das Böse bekämpft. Sowohl in klassischen Verschwörungserzählungen wie den ›Protokollen der Weisen von Zion‹ oder der des ›Dolchstoßes‹ als auch in modernen wie der des ›Großen Austauschs‹ lässt sich ein Schuldiger ausfindig machen, der diese ›Katastrophen‹ orchestriert: Dieses Subjekt ist ›der Jude‹. Der Antisemitismus erlaubt, dem eigenen Handeln eine dermaßen zugespitzte manichäische Form zu verleihen, dass man – mitten in einer modernen, bürgerlichen Gesellschaft, die kaum noch widerspruchsfreie und eindeutige Handlungsimperative kennt – gegen ›das Böse‹ kämpfen kann. Aus einer Vielzahl von heterogenen Anforderungen, denen sich individuell kaum begegnen lässt, wird so eine machbare Verantwortung für das Ganze.
3. Antisemitische Verantwortung(?) Doch glauben Antisemit:innen wirklich, Verantwortung zu übernehmen? Ihr massenhaftes Auf-die-Straße-Strömen ist ausgehend von Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) vielfach untersucht worden (vgl. Adorno 1946; vgl. Brunner et al. 2022). In der massenpsychologischen Logik steht der Gehorsam gegenüber der kollektiven Instanz, etwa dem faschistischen Agitator, im Zentrum. So wird unterstellt, es fände im antisemitischen Kollektiv eine Delegation von Verantwortung statt. Adorno (1951a: 422, Herv. i. O.) entwickelt diese Delegation nicht über die einfache Formel: »Verantwortung nach oben, Autorität nach unten« hinaus. Dennoch: Das antisemitische Subjekt möchte in letzter Instanz Verantwortung an die ›nationale Gemeinschaft‹ abgeben, den Zwang zur individuellen Verantwortung, der der bürgerlichen Gesellschaft konstitutiv eingelagert ist, im homogenen Kollektiv perspektivisch auslöschen. Doch da das moderne, bürgerliche Subjekt als handlungs- und verantwortungsfähiges und das antisemitische Subjekt als ein modernes, bürgerliches konzipiert wurde, kann davon ausgegangen werden, dass im antisemitischen Subjekt eine bestimmte Form von Verantwortung eingelagert ist. In philosophischen Theorien wird dabei dem Begriff der kollektiven Verantwortung ein großer Stellenwert zugeschrieben (vgl. May/Hoffman 33
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1992) und dieser vor allem im Kontext politischen Handelns als Aufgabenverantwortung zielgerichteter Kollektive verstanden (vgl. Isaacs 2011: 32–38). Was auch prospektive Verantwortung genannt wird (vgl. Heidbrink 2022: 221–237), Verantwortung also, die auf ein bestimmtes Ziel gerichtet und oftmals als Zukunftsverantwortung für einen ökologischen, universalmoralischen oder emanzipatorischen Zweck konzipiert ist (vgl. Jonas 1982; vgl. Young 2011), lässt sich auch anders begreifen. Unter der gesellschaftstheoretischen und psychoanalytischen Betrachtung regressiver Kollektivierung der Subjekte kann Verantwortung nicht nur im Hinblick auf universelle Emanzipation begriffen werden – sondern als Verantwortung zu einem Zweck, der die ›Reinigung‹ der partikularen Gemeinschaft vom ›Bösen‹ verspricht. Der eigene heroische Widerstand gegen die empfundene Bedrohung der Gemeinschaft ist eine Form, Verantwortung zu übernehmen. Wie gelangen wir von einer bürgerlichen Verantwortung für sich selbst zu einer durch das Kollektiv ideologisch schiefgeheilten Verantwortung? Einen Ansatzpunkt bietet das faschismustheoretische Konzept der Palingenese. Diesen mit ›Wieder-Geburt‹ zu übersetzenden Begriff hatte Roger Griffin (2007: 253) als das generische Element aller Faschismen bestimmt, deren politisches Ziel die Herstellung einer homogenen, antiegalitären und antidemokratischen »organic national community« ist. Palingenese ist daher nicht nur ein deskriptiver Begriff, sondern meint immer auch eine »extraordinary normative power of ideology, which is manifested historically in its ability to serve as a rationale of behavior, the basis of social cohesion, the legitimation of a particular political regime and the inspiration of revolutionary action« (Griffin 1991: 17f.).
Palingenese lässt sich, subjekttheoretisch gedacht, als der Sinnhorizont politischen Handelns verstehen, das auf »›positive‹ ideological goals for the overthrow of existing society and the creation of a new order« (ebd.: 18) gerichtet ist. Im Anschluss an die dargestellte Funktion der Verantwortung für die moderne Subjektivität lässt sich diese Ausrichtung der Subjekte auf einen partikularen, national-regressiven oder völkischen Handlungsgrund bestimmen. Auch wenn die Integration ins politische Kollektiv den Subjekten nur suggestiv Macht verleiht (vgl. Adorno 1951a: 432), muss die gewaltsame Realität des subjektiven Handelns reflektiert werden. Subjekte greifen – und nur so lässt sich Politik in einem modernen Sinne verstehen – gestalterisch in die Welt ein. Antisemitismus stellt im Denken der Antisemit:innen – so sehr sie ihre reale Teilmächtigkeit verleugnen und sich gegenseitig ihre Ohnmacht gegenüber den sie erdrückenden Verhältnissen bezeugen – exakt eine solche Eröffnung neuer Handlungsmöglichkeiten dar: Er ist schon immer 34
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auch eine Befreiungsideologie (vgl. Adorno 1950: 479–483), das Mittel des Aufbegehrens gegen die Ordnung (vgl. Massing 1952: 91). Im Antisemitismus können sich die Subjekte realiter als unmittelbar Handelnde begreifen, indem sie ihn als strukturgebende Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft in politische Inhalte übersetzen: Vom Parteiprogramm bis hin zur Weitererzählung der ›zionistischen Weltverschwörung‹ wird Antisemitismus zur Essenz ihres Handelns, das auf einen palingenetischen Zweck gerichtet ist – die Homogenisierung des Eigenen, etwa die gereinigte Volksgemeinschaft. Mit Roger Griffin (2007: 348, Herv. i. O.) kann von einem solchen durch Antisemitismus kanalisierten Verantwortungshandeln als einer subjektivierenden Trias von »ideology, policies and praxis« gesprochen werden. Eine Reflexion dieser Trias hat sich auch in der historischen Forschung herauskristallisiert. Faschismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen wird zunehmend als kollektive Selbstermächtigungspraxis »von Unten« (Paxton 2006: 225) verstanden (vgl. Wildt 2007).13 Alf Lüdtke (1991: 21) hat im Antisemitismus eine kollektive Subjektivierungsform erkannt, die er mit Herrschaft als soziale Praxis auf den Begriff gebracht hat. Die Subjekte können sich als politisch Handelnde verstehen, indem sie an ihrer eigenen Beherrschung partizipieren und diese stetig reproduzieren. Diese Reproduktion von Herrschaft in gewaltvollen gesellschaftlichen Verhältnissen drückt sich – entsprechend der These von der pathischen Projektion (vgl. Horkheimer/ Adorno 1947: 217) – selbst im subjektiven Einsatz von Gewalt zu kollektiven Zwecken mit palingenetischen Vorstellungen aus. Die Ausrichtung der Subjekte auf solche kollektiven Ziele, die mit antisemitischen Mitteln erreicht werden sollen, entlässt die Subjekte aber nicht aus der Verantwortung (vgl. Adorno 1950: 459; vgl. Fromm 1936: 147; vgl. Heidbrink 2022: 40). Sie ermöglicht in spezifischer Weise, vermittelt durch die gesellschaftliche und psychische Tendenz zur Projektion innerer Konflikte nach außen (vgl. Claussen 2005: 61; vgl. Grunberger 1988: 9, 15, 114; vgl. Kernberg 2000: 39), eine normative Transformation von Verantwortung; weg von der bürgerlichen Vorstellung der Verantwortung für sich, hin zur Verantwortung für das als eigen imaginierte Kollektiv, das Befreiung von den Verwerfungen und Zwängen der modernen Gesellschaft verspricht. 13 Eine solche These der Selbstermächtigung in regressiven, politischen Bewegungen wurde erst kürzlich in Bezug auf sogenannte Reichsbürger aufgestellt. Analog zu Ansätzen einer Theorie des Antisemitismus als politischer Subjektivierung wird die ›Reichsbürger-Ideologie‹ als ein »komplexes Wechselspiel von Macht und Ohnmacht« begriffen. »Reichsbürger wandeln individuelle Ohnmachtsgefühle gegenüber der [abstrakten] Macht des Rechts in eine Ermächtigungsfantasie um, in der nun sie selbst die eigentliche, wahre Rechtsordnung verkörpern« (Schönberger/Schönberger 2023: 14).
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In dieser Annahme von Verantwortung für das Kollektiv werden die Subjekte zu Handelnden, die sich über antisemitische Praxis zu befreien glauben. Das macht Antisemitismus attraktiv – attraktiv genug, das »Gerücht über die Juden« (Adorno 1951b: 125) weiter zu verbreiten, dieser Tage viral potenziert via Social Media (vgl. Becker 2020: 49; vgl. Fielitz/Marcks 2020: 12f.). Ein solcher, palingenetischer Antisemitismus als Modus der Verantwortungsübernahme für die ›wiederherzustellende‹, homogene Gemeinschaft, die ›kollektive Selbstermächtigung‹, suggeriert im Kollektiv also einen »subjektiven Zugriff auf das Ganze – ein Versprechen von Souveränität, das mit der liberalen Ideologie [gerade dort] harmoniert« (Claussen 2005: XXII), wo er sie abschaffen will (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 199). Die antisemitische Massenbewegung bedarf einer ideologischen Struktur und deren Agitation. Sie setzt sich nicht selbst ins Werk. Der Antisemitismus passiert nicht. Er braucht Handlungen, die ihn in Politik übersetzen. Die so Handelnden können nur mithilfe der Kategorien bürgerlicher Subjektivität verstanden werden. Denn sie werden unter den Bedingungen einer bürgerlichen Gesellschaft subjektiviert, in der sie antisemitisch handeln. Das lässt sich also weder pathologisieren noch der Kritik entziehen. Durch einen solchen Zugang zum politischen Subjekt des Antisemitismus kann sich der Einzelne nicht unter dem schützenden Mantel des Kollektivs verstecken und sich im Glauben abgegebener Verantwortung wähnen. Politisches Subjekt und politisches Kollektiv – beziehungsweise die politische Selbstermächtigung des Subjekts im Kollektiv durch das Kollektiv – bilden eine fragmentierte ideologische Einheit, die weder das eine noch das andere analytisch ausblendet. In diesem Sinne ist politischer Antisemitismus – um zum Aufbau des Bandes überzuleiten – nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Bedrohung. Er ist auch in spezifische Verantwortungs- und Entscheidungskomplexe eingebunden, in denen antisemitisches Handeln von Subjekten in politischen Kollektiven der Zurechnung, der normativen Bewertung und der politischen Kritik zugänglich ist.
Zum Aufbau des Bandes Der Band ist in vier Teile gegliedert und beleuchtet die Frage nach dem ›Warum‹ des Antisemitismus aus unterschiedlichen Perspektiven. Der erste Teil, der mit Die politische Funktion des Antisemitismus überschrieben ist, enthält die deutsche Übersetzung des bisher nur in englischer Sprache zugänglichen Vortrags Politischer Antisemitismus von Friedrich Pollock aus dem Jahr 1944. Pollock unternimmt hier den Versuch, den nationalsozialistischen Antisemitismus als politische Kollektivhandlung 36
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zu analysieren, dessen globale Gefahr – insbesondere für die US-amerikanische Gesellschaft – zu illustrieren und Gegenstrategien anzudeuten. In seinem bisher ebenfalls nicht im Deutschen zugänglichen und für diesen Band überarbeiteten Kommentar ordnet Philipp Lenhard Pollocks Vortrag in den historischen und theoretischen Kontext ein. Im zweiten Teil, Kritische Theorie als Voraussetzung einer Theorie antisemitischer Subjektivierung, werden grundlegende Konzepte zum Verständnis des Antisemitismus rekonstruiert und in einen Bezug zum Subjekt gestellt. Anhand der ›pathischen Projektion‹ zeigt Paul Erxleben, wie sich die Corona-Protestbewegung (trotz ihrer Heterogenität) über Antisemitismus politisch konstituieren konnte. Individuelle Ohnmacht und Kränkungen, umgedeutet zu einem vermeintlichen Wissensvorsprung und in verschiedenste projektive Bedrohungsszenarien übersetzt, haben zu einem ›sekundären Autoritarismus‹ geführt: zu einem stabilen Empfinden des eigenen Selbst, das in krisenhaften Zeiten durch die Unterwerfung unter ein Kollektiv erkauft werde könne. Marvin Ester erläutert nicht nur die Stellung einer solchen ›narzisstischen Regression‹ in Adornos Analyse des Antisemitismus. Er vollzieht auch eine kritische Operation innerhalb der Methode Adornos nach: Dessen psychoanalytischer Begriff des ›Narzissmus‹ entwickle die sozialen und politischen Erscheinungen des Antisemitismus nicht unmittelbar aus der individuellen Psyche, sondern problematisiere gerade eine solche Reduktion: Es handelt sich also um eine ›antipsychologistische Psychologie‹. Niklas Lämmel zeigt schließlich anhand der ›Mimesis‹ einen zentralen Prozess, durch den sich Antisemitismus praktisch vollzieht. Er verortet diesen Begriff im ambivalenten Verhältnis von Selbst- und Naturbeherrschung, das den Kern der Subjekttheorie im Sinne einer Dialektik der Aufklärung bildet. Der dritte Teil, Zur Bildung antisemitischer Kollektive, fragt nach den Bedingungen antisemitischer Kollektivkonstitution. Sandra Markewitz bestimmt diese in ihrem philosophischen Beitrag als »falsche Kohäsion«. Antisemitische Praxis wirkt konstituierend für die Bildung einer Gruppe von fragilen, nicht-subjektivierten Existenzen. Markewitz erläutert, dass diese Gruppe zunächst kritisch leer bleibe. »Erst der Zusammenschluss der Verächter versorgt sie mit dem Eindruck scheinbar verlässlicher Subjektivität«. Detlef David Bauszus interpretiert ausgehend von Eric Voegelin den Antisemitismus als Politische Religion. Mit der Modernisierung habe sich die Heiligkeit der universalen Kirche in die des partikularen ›Volkes‹ säkularisiert. Der geteilte Glaube an den als ›Juden‹ gedachten Antagonisten binde die Gemeinschaft des Volkes zusammen. Inwiefern das Konzept des Narrativs zwischen Subjekten und kulturellen Strukturen vermitteln kann, führt Felix Schilk aus. Aus soziologischer Perspektive zerlegt er antisemitische Weltdeutungen in narrative Strukturen und argumentiert, dass der moderne Antisemitismus vor allem als Krisennarrativ verstanden werden kann. 37
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Im vierten und letzten Teil, Die Politik des Antisemitismus, zeitgenössisch betrachtet werden aktuelle Erscheinungsformen in unterschiedlichen politischen Kontexten reflektiert. Johanna Bach und Valerie Schneider widmen sich den Phänomenen der Theatralik und der Diversität in den Gefühlsausdrücken der ›Querdenker‹. Mit Peter Goldies Konzept der ›ungrounded emotions‹ beschreiben sie antisemitische Gefühle als ›Ticket-Gefühle‹ und zeigen, wie diese zu einer zweifelhaften Stabilisierung des Ichs führen. Daniel Burghardt beantwortet die Frage nach dem ›Warum‹ des Antisemitismus mit Löwenthals ›gesellschaftlicher Malaise‹. Gekränkten Subjekten wird mittels Antisemitismus die Möglichkeit geboten, der Todesdrohung durch eine Pandemie nicht nur irgendeinen Sinn abzuringen. Sie ermächtigen sich sogar: Durch die leichter zu bekämpfenden Repräsentanten des unverstandenen Virus – ›die Maske‹ und ›die Impfung‹ – haben ›Querdenker‹ das Gefühl, als »verfolgte Unschuld« (Löwenthal 1990: 135) von ihrem Widerstandrecht Gebrauch zu machen. Franziska Haug entwickelt die These, dass die Fokussierung auf das Partikulare in queeren Ansätzen dazu führe, dass objektive, allgemeine Bezugspunkte verschwinden. Die queere Theorie und Bewegung reagiere auf den realen Zerfall allgemeiner Identitäten mit der Suche nach einem neuen Allgemeinen – und findet dafür israelbezogenen Antisemitismus. Zu guter Letzt klärt David Jäger ideologiekritisch über die Bedeutung der Anthroposophie für die ›Querdenken‹-Bewegung auf. Diese Bedeutung wird in drei Punkten illustriert: Dem Zivilisationshass, dem völkischen Antisemitismus und dem Denken in Verschwörungen. Im Besonderen dieses Verschwörungsdenken, das als exklusiv erfahrene Wissen über die ›wahre‹ Beschaffenheit der Welt, schaffe für die Subjekte eine Art ›heilende Hybris‹. Alle diese Texte reflektieren in unterschiedlicher Form Fragestellungen, die hier unter dem ›Warum‹ des Antisemitismus zusammengefasst wurden. Einigen geht es um konkrete und abstrakte Fragen nach den gesellschaftlichen Bedingungen des antisemitischen Subjekts in kapitalistischen Verhältnissen, anderen eher um die Reflexion auf palingenetische Momente in antisemitischen Kollektiven. Gemeinsam ist allen, dass sie Elemente reflektieren, die sich für eine komplexe Theorie des politischen Subjekts des Antisemitismus als hilfreich erweisen werden.
Danksagung Wir schauen auf eine gelungene Tagung im Mai 2022 an der Universität Duisburg-Essen zurück, die für die meisten von uns wohl die erste Präsenzveranstaltung seit der Pandemie war, die nicht nur die Herausgeber:innen dieses Bandes bisweilen intellektuell vereinsamen ließ. 38
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In diesem Sinne bedanken wir uns herzlich bei allen Beteiligten dieser Tagung. Neben den Autor:innen dieses Bandes gilt unser Dank Marcus Döller, Stephan Grigat und Sebastian Voigt für ihre spannenden Beiträge und Natalie Kajzer und Günther Jikeli für ihre versierten Panelmoderationen. Im Besonderen möchten wir unserem Keynotespeaker Roger Griffin danken, der unsere sprachlich wie theoretisch sehr deutsche Tagung mit seinem Beitrag ebenso bereicherte wie herausforderte. Für Poster- und Homepage-Layout gilt unser Dank Patrick Siebenbürgen. Philipp Lenhard danken wir nicht nur für die Bereitschaft, seinen bereits 2016 in New German Critique erschienenen Beitrag zu überarbeiten und ins Deutsche zu übertragen, sondern auch für die Unterstützung bei der Suche nach den für Friedrich Pollocks Nachlass zuständigen Personen. In diesem Kontext danken wir für die vielen Hinweise Matthias Jehn und Oliver Keppel vom Archivzentrum der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Lara Kelingos von New German Critique sowie Kerin Ogg vom Permission Department der Duke Univeristy Press. Großer Dank gilt für die professionelle Zusammenarbeit dem Velbrück Wissenschaft Verlag, hier namentlich Marietta Thien und Thomas Gude. Für die vielfältige finanzielle Unterstützung bedanken wir uns bei der Hans-Böckler-Stiftung, der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, der Stiftung Zeitlehren und dem Dok-Forum Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Weitere Druckkostenzuschüsse wurden von dem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt Kritik anti-essenzialistischer Soziologie zur Verfügung gestellt. Namentlich bedanken wir uns herzlich bei Jenny Brichzin. Dieser Sammelband bewahrt einen Zeitkern. Er entstand unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie und damit unter dem starken Eindruck der geäußerten Antisemitismen innerhalb der sogenannten Querdenken-Bewegung. Mittlerweile haben uns die weltweiten Geschehnisse eingeholt. Während wir diesem Buch den letzten Schliff geben und unsere Thesen zur politischen Subjektivierung und kollektiven Ermächtigung durch Antisemitismus schärfen, wird Israel mit Terror überzogen. Gleichzeitig wachsen weltweit unterschiedliche – selbst verfeindete – politische Gruppen in Solidaritätsverweigerung mit Israel zusammen. Manche entscheiden sich sogar zu offener Gewalt gegenüber Juden:Jüdinnen. Dem liegt ein palingenetisches Begehren zugrunde: Eine Welt ohne Israel beziehungsweise ohne ›die Juden‹ wird zur Erlösung stilisiert, im Antisemitismus Einheit und kollektive Selbstermächtigung generiert. Jene, die unterstellen, die Täter:innen hätten keine Wahl, legitimieren die Gewalt und verkennen gleichzeitig ihre Qualität. Sie verwechseln politische Befreiung mit genozidalem Exzess. Dafür sind sie verantwortlich. 39
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I. Die politische Funktion des Antisemitismus
Friedrich Pollock
Politischer Antisemitismus (1944) I. Fragen in Ihrem Kopf Ich bin dankbar für die Gelegenheit, das Problem des Antisemitismus mit Ihnen zu diskutieren, und zwar nicht als isoliertes Phänomen, sondern als Ausdruck von Spannungen in unserer heutigen Gesellschaft. Ich erhebe nicht den Anspruch, eine umfassende Theorie zu liefern oder eine Lösung für das Problem vorzuschlagen, und ich bin sicher, dass Sie das auch nicht von mir erwarten. Manchmal sind wir ungeduldig, weil wir uns so viele Gedanken über dieses Problem gemacht haben, während die Summe unserer hilfreichen Schlussfolgerungen relativ gering bleibt. Und dennoch glauben wir, einige Fortschritte gemacht zu haben – so dass wir heute genug wissen, um einige kluge Fragen zu stellen, die letztendlich zu einem besseren Verständnis führen sollten. Einige der Fragen, die sich Ihnen zweifellos stellen, sind: Ist der heutige Antisemitismus von der gleichen Sorte wie derjenige vergangener Jahrhunderte, oder ist er etwas Neues? Ist er nur eines der vielen ›Minderheitenprobleme‹, die in diesem Land präsent sind, und muss ihm daher wie jedem anderen ›Minderheitenproblem‹ begegnet werden? Haben wir es mit dem vertrauten Ärgernis zu tun, das – sicherlich unangenehm und unvereinbar mit demokratischen Werten – in der Geschichte schon immer Hoch- und Tiefphasen hatte, mit dem sich auseinandergesetzt werden muss, über das man sich aber nicht wirklich aufregen sollte? Wie weit verbreitet ist Antisemitismus in diesem Land? Hat er tatsächlich zugenommen oder sind die vielen Symptome, die als Beweis für seine Zunahme angesehen werden, nichts anderes als Anzeichen eines größeren jüdischen Bewusstseins, das die antisemitische Politik der Nazis spiegelt? Oder haben wir es mit einem sich rasch ausbreitenden, tödlichen Übel zu tun, das die Existenz unserer demokratischen Institutionen bedroht? Und wenn ja, was können wir dagegen tun?
II. Wie dem Problem begegnen? Wie werden wir diese Fragen beantworten? Professor George A. Lundberg1 beklagte in seiner Ansprache auf der Jahrestagung der American 1
George A. Lundberg (1895–1966) war ein US-Amerikanischer Soziologe und 1943 der 33. Präsident der American Sociological Society.
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FRIEDRICH POLLOCK
Sociological Society im vergangenen Dezember, dass »legalistische und moralistische Beschwörungen« und »Reden über unveräußerliche Rechte« die Aufmerksamkeit vom realitätsgetreuen Verständnis ablenken. Er insistiert, dass »eine primitive, moralistische, theologische und legalistische Einstellung einen wissenschaftlich wirksamen Ansatz« [Lundberg 1944: 3]2 zur Lösung des Problems des Antisemitismus behindert. Angesichts der Gräueltaten, die in den letzten Jahren unter der Flagge des nationalsozialistischen Antisemitismus in Europa begangen wurden, fällt es uns außerordentlich schwer, unser Problem kühl und nüchtern wissenschaftlich anzugehen. Wir stimmen jedoch mit Professor Lundberg überein, dass die wissenschaftliche Herangehensweise die einzige ist, die uns helfen kann, die volle Bedeutung des Antisemitismus in unserer heutigen Zivilisation zu verstehen. Wir, das Institut für Sozialforschung, haben mit einer systematischen Untersuchung des modernen Antisemitismus begonnen, allerdings nicht wie Gelehrte in ihrem Elfenbeinturm, sondern eher wie Mitglieder einer Aufsichtsbehörde des öffentlichen Gesundheitswesens, die über eine ansteckende Krankheit wachen. In Europa haben wir beobachtet, dass viele Menschen dieser Krankheit erlagen, die in früheren Zeiten nicht dafür anfällig gewesen wären – zumindest nicht in dieser verderblichen Form. Nun beobachten wir hier die Ausbreitung eines ähnlichen Virus und wollen überprüfen, ob es sich um dieselbe tödliche Art handelt, die Europa infiziert hat, und wenn ja, bis zu welchem Grad die Kräfte des Widerstands und die Kräfte der Ansteckung mit denen in Europa vergleichbar sind. Ich möchte Ihnen von einigen Beobachtungen und Schlussfolgerungen berichten, die wir während unserer Untersuchungen gemacht haben – zugegebenermaßen in viel zu kleinem Maßstab.
III. Was ist politischer Antisemitismus? Bevor ich auf spezifische Ergebnisse eingehen kann, müssen wir uns über die Bedeutung einiger von mir verwendeter Begriffe Klarheit verschaffen, über das, was wir in unserem wissenschaftlichen Jargon den ›Bezugsrahmen‹ nennen. Das Wort Antisemitismus hat zwei Bedeutungen. Es beschreibt eine Einstellung gegenüber den Juden. Dasselbe Wort wird auch verwendet, um gegen die Juden gerichtete, feindliche Handlungen zu beschreiben, die nicht notwendigerweise durch eine antisemitische Einstellung motiviert sind, sondern möglicherweise von ganz anderen Zielen diktiert werden. Lassen Sie mich das erklären: 2
Die Quelle wurde nachträglich hinzugefügt.
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POLITISCHER ANTISEMITISMUS (1944)
1.
Antisemitismus als eine Einstellung beschreibt antagonistische Gefühle entweder gegen alles Jüdische oder, vielleicht, nur gegen die ›schlechten‹ Juden. Eine solche Einstellung ist, wie Sie alle wissen, in der Geschichte der letzten zweitausend Jahre immer wieder aufgetaucht und wurde durch die unterschiedlichsten Motive angetrieben. Ich glaube, dass eine Stolperfalle auf dem Weg zum Verständnis des modernen Antisemitismus die Tatsache ist, dass in ein und demselben Wort so unterschiedliche Phänomene enthalten sind, wie z. B. die aus der Rivalität zwischen zwei religiösen Institutionen (der katholischen Kirche und der Synagoge) resultierenden Antagonismen und der Hass auf einen Konkurrenten, der von rein wirtschaftlichen Motiven herrührt. Je nach Motiv oder Motiven, die die antijüdische Einstellung hervorrufen, sprechen wir von religiösem Antisemitismus, wirtschaftlichem Antisemitismus, kulturellem Antisemitismus (also die Country-Club-Variante), Antisemitismus als Ausdruck von Spannungen gegenüber einer fremden Minderheit usw.
Ich schlage vor, dass wir hier eine Diskussion darüber unterlassen, welches dieser Motive, wenn überhaupt eines, das Leitmotiv heutiger antisemitischer Einstellungen ist. 2.
Es gibt eine zweite Bedeutung des Wortes Antisemitismus, nämlich Antisemitismus als politische Handlung. Diese politische Handlung könnte direkt auf jene Missstände abzielen, die die antisemitische Einstellung begründen. Ich denke dabei an die Politik der katholischen Kirche im Mittelalter, die Juden vom Rest der Bevölkerung abzusondern, um die Gläubigen vor Zweifeln an ihrer eigenen Religion zu schützen. Ein weiteres Beispiel für Antisemitismus als direkte Politik, ist die Forderung nach Boykott oder nach einem numerus clausus gegen jüdische Konkurrenten.
Es existiert jedoch noch eine andere Art von Antisemitismus als Politik, die für die jüngsten Entwicklungen in höchstem Maße charakteristisch ist. Die Manipulatoren einer solchen Politik nutzen bestehende antisemitische Einstellungen für ihre eigenen politischen Zwecke. Die hervorstechendsten Beispiele vor dem Aufstieg der Nazibewegung waren die Dreyfus-Affäre in Frankreich und die Pogrome in Russland. Von nun an werde ich diese Art von Antisemitismus, im politischen Sinne, als politischen Antisemitismus bezeichnen.
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IV. Der Gebrauch des politischen Antisemitismus durch die Nazis Die Nazis haben den politischen Antisemitismus als Waffe der politischen Kriegsführung entwickelt. Wie in der tatsächlichen Kriegsführung hat die Waffe technische Verbesserungen und neue Anwendungen durchlaufen, als sich Situationen veränderten und sich neue Möglichkeiten ergaben. Im Zuge der Entwicklung der antisemitischen Waffe können wir grob sieben charakteristische Funktionen unterscheiden. Diese sind, in chronologischer Reihenfolge: 1. Aufpeitschen der Gefolgschaft und Erzeugung vereinheitlichender Ideologie Diese Periode endete im Juni 1934 mit der Zerschlagung der SA als Massenorganisation. Die Säuberung markiert den Anfang vom Ende der einzigen Form des deutschen Antisemitismus, der in wahrem Glauben wurzelte. 2. Antisemitismus als Mittel zur Diskreditierung von Arbeiterführern und als Rechtfertigung von Terror gegen die Arbeiterbewegung und andere Gegner Noch während der auf den Reichstagsbrand folgenden Wahlen im März 1933 hatten Anti-Nazi-Parteien, hauptsächlich aus der Arbeiterbewegung bestehend, mehr Stimmen abgegeben als die Nazis, deren faktischem Monopol auf alle Propagandamittel zum Trotz. Jeder Gewerkschafter, Sozialist, Kommunist oder Arbeiter, der es wagte, sich dem neuen Regime zu widersetzen, wurde als jüdisch oder in jüdischem Sold stehend gebrandmarkt, was sich als bequeme Tarnung erwies, um das eigentliche Ziel des Nazi-Terrors zu verbergen. 3. Antisemitismus als Instrument, die Weltmeinung zu beschwichtigen Die prekäre Sicherheit, die die Juden im Laufe des Jahres 1934 und bis 1938 genossen, wurde durch das Ziel diktiert, während der Periode der Aufrüstung respektabel zu erscheinen, und endete, als das Nazi-Regime sich stark genug fühlte, die Westmächte herauszufordern.
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4. Antisemitismus als Waffe zur Zerstörung der Demokratie im In- und Ausland Selbst in den Jahren des Appeasements setzten die Nazis systematisch antisemitische Propaganda als Speerspitze ein, um demokratische Überzeugungen und bürgerliche Gesinnungen im In- und Ausland zu zerstören. Diese Technik wurde in der Rede des SS-Generals Best, Reichsbevollmächtigter und Quasi-Diktator im besetzten Dänemark, auf den Punkt gebracht. Die Rede wurde am 27. Juli 1942 in einer nationalsozialistischen Zeitung veröffentlicht: »Die Judenfrage ist das Dynamit, mit dem wir die Bunker sprengen, in denen die letzten liberalistischen Heckenschützen sich eingenistet haben. Die Völker, welche ihre Juden preisgeben, geben damit ihre verjudete, von falschen Freiheitsidealen bestimmte Lebensform preis. Sie können nun erst in den Kampf um eine neue Welt eingegliedert werden.«3
5. Terror gegen die Juden als ein Mittel zur Terrorisierung der Mittelschicht Die Zurschaustellung des grenzenlosen Terrors des Regimes gegen die Juden im November 1932 wurde entwickelt, um die bürgerlichen Gruppen auf Linie zu bringen. Besser als alle verbalen Drohungen würden sie durch diese Inszenierung kriegsähnlicher Zerstörung lernen, dass die Nazi-Regierung bei der Verfolgung ihrer Ziele in keinerlei Hinsicht durch einen allgemein anerkannten Kodex privater oder öffentlicher Moral aufgehalten werden würde. Mit ihren terroristischen Maßnahmen gegen die jüdische Minderheit demonstrierten die Nazis ihre völlige Missachtung der Verfassungsgarantien für Leben und Freiheit sowie für alle Eigentumsrechte. 3
Pollock meint mit ›nationalsozialistische Zeitung‹ wahrscheinlich die 1933 in der Schweiz gegründete Weltwoche. Auf der Suche nach dem deutschen Originalzitat sind einige Unklarheiten aufgefallen. Tatsächlich wurde in Die Weltwoche nicht ›die Rede veröffentlicht‹, sondern lediglich das von Pollock angeführte Zitat in einer etwas längeren Version wiedergegeben. Zudem ist der 27. Juli 1942 nicht das Datum der Veröffentlichung, sondern das Datum an dem Best diese Rede »vor einer Konferenz höherer SS-Führer« (K.S. 1942: 3) gehalten haben soll. Abseits dieses Zitats – das neben der Weltwoche auch in einer anderen Zeitung auftaucht (vgl. EDP 1942: 319) – findet sich keine Dokumentation einer solchen Rede. Wie uns Prof. Dr. Ulrich Herbert als Experte für die Biographie Werner Bests auf Nachfrage erklärte, ist sogar zu bezweifeln, ob das Zitat überhaupt von Best stammt. Zum einen sei es Herbert in seiner intensiven Beschäftigung mit Best nie untergekommen, zum anderen entspräche es nicht dem immer bemüht nüchternen Stil Bests.
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6. Antisemitischer Terrorismus als ein Mittel zur Einschüchterung der Weltöffentlichkeit Eine Geste arroganter Macht, die an den Westen gerichtet ist. 7. Massenmord an Juden als Mittel zur Diskreditierung der konservativen Gruppen in Deutschland Der Höhepunkt der Welle der Judenvernichtung in Osteuropa fiel mit dem Beginn der russischen Offensive im Herbst 1942 zusammen. Der Albtraum des Zweifrontenkriegs begann das Militär heimzusuchen. Exakt zur selben Zeit scheint die Ermordung hunderttausender Juden als Antwort der Nazipartei auf einen tatsächlichen oder erwarteten Versuch gemäßigter deutscher Gruppen, in Wirtschaft und Militär gleichermaßen, über ihren Kopf hinweg mit den Westmächten über Frieden zu verhandeln, entworfen worden zu sein. [mit Bleistift hinzugefügt: 8. ... Massenmord als ein Mittel der Integration macht jeden Deutschen zu einem Zwangsmitglied eines Gangsterbundes.] Dieser grobe Überblick zeigt, wie die Waffe des politischen Antisemitismus an immer größer werdende Aufgaben angepasst wurde. Er ist schrecklicher, rücksichtsloser und zynischer geworden, da er sich von einer Einstellung, die auf persönlichen Überzeugungen beruhte, zu einer Institution der nationalsozialistischen Staatskunst wandelte, die – je nach Erfordernis – kalt manipuliert wurde. Dieser Wandel ist eng mit dem Niedergang der SA (Sturmabteilung) und dem Aufstieg der SS (Gestapo und Elitetruppen) verbunden und symbolisiert diesen. In den meisten Fällen beruhte der Antisemitismus der SA auf persönlichen Kränkungen und diente als Flagge und Sammelbecken für die aufkommende Bewegung der déclassés. Er war eine Sache der Überzeugung und des Glaubens. Der Antisemitismus der SS ist streng unpersönlich. Er ist synthetisch und künstlich. Er ist ein kalkuliertes Instrument des Terrors.
V. Politischer Antisemitismus in Zeiten von Wandel und Desintegration Eine Lehre, die wir aus dem Erfolg der Nazis bei der Entwicklung des politischen Antisemitismus zur wirksamsten Waffe ihrer Machtpolitik 54
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ziehen können, ist die Bedeutung der Faktoren, die die manipulierten Gruppen für die antisemitische Propaganda empfänglich machten. 1. Bei der Untersuchung einer solchen Anfälligkeit, stellen wir fest, dass unter den heutzutage für viele Länder charakteristischen Bedingungen des Wandel und der Desintegration der Gesellschaft die Motive religiöser, wirtschaftlicher oder allgemein-kultureller Ordnung ausreichen mögen, um bestimmte antisemitische Einstellungen in der Vergangenheit zu erklären, aber sie geben uns keine befriedigende Erklärung für die Bereitschaft großer Gruppen, völlig widersprüchliche antisemitische Propaganda für bare Münze zu nehmen. Das Hauptaugenmerk der Anfälligkeit für die Propaganda des politischen Antisemitismus ist die Bereitschaft, offene oder verschleierte Aufrufe zur Gewalt zu akzeptieren. Dies führt uns zum Kern des Problems: Dem Bewusstsein großer gesellschaftlicher Gruppen in Zeiten von tatsächlicher oder drohender Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Depression. Unter solchen Bedingungen greift die Angst vor der Zukunft um sich; die Menschen fürchten, aus Geschäftszweigen verdrängt zu werden, ihren Arbeitsplatz zu verlieren – aufgrund von Kräften, die sie zwar nicht verstehen können, aber auch nicht länger als natürliche Gesetze akzeptieren. Das Ergebnis ist ein Bewusstsein der Frustration und aufgestauter Aggression sowie ein Drang nach vergeltender Zerstörung. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die grundlegende Natur des Antisemitismus unter den Bedingungen gesellschaftlicher Desintegration Hass ist – Hass gegen die Art von Zivilisation, die nichts als Enttäuschungen zu bieten scheint – und dieser Hass wird mittels des politischen Antisemitismus auf die Juden fokussiert. [mit Bleistift hinzugefügt: rebellischer, aggressiver Antrieb] 2. Gegenkräfte Dieser Hass könnte nicht so leicht zum Zweck des politischen Antisemitismus genutzt werden, wenn die Kräfte gegen Aggressionsausbrüche nicht viel von ihrer zivilisatorischen Kraft verloren hätten. Wir können eine solche Schwächung in den bloßen Lippenbekenntnissen der religiösen Forderung, einander als Brüder zu respektieren, beobachten; in der schwindenden erzieherischen Kontrolle der familiären Autorität über die natürlichen Triebe; im schwindenden Glauben an die Macht rationalen Verhaltens; im Schwinden des Respekts vor Wissenschaft und Intellekt. Immer häufiger ist zu beobachten, dass die traditionelle Achtung 55
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der Menschenrechte und der Glaube an eine demokratische Lebensweise inmitten der Spannungen der modernen Zivilisation an Einfluss verlieren. Unter den Bedingungen des sich nähernden Totalitarismus wird die letzte Gegenkraft – der durch das Gesetz garantierte Schutz jedes Einzelnen – so weit herabgesetzt, dass die Juden der gesetzlosen Gewalt ausgesetzt sind. 3. Die Manipulatoren Es ist der Demagoge, der, durch Intuition oder Identifikation, von den unterdrückten, nach einem Ventil suchenden Trieben des Hasses und der Aggression sowie der Schwächung der psychologischen und sozialen Kräfte, die diesen Trieben im Wege stehen, zuerst eine klare Vorstellung hat. Er weiß, wie er diese Situation für seine Zwecke nutzen kann. Im Angriff auf alle etablierten demokratischen Traditionen, insoweit sie die Juden einbeziehen, vollzieht er eine ›Aufweichung‹ dieser Prinzipien und schlägt eine Bresche für die Zerstörung dieser Traditionen in alle Sphären des Lebens. 4. So paradox es auch klingen mag, wir können zu Recht feststellen, dass das eigentliche Ziel des Angriffs des politischen Antisemitismus nicht die Juden, sondern andere, hintergründige politische Ziele sind. Antisemitische Propaganda wird sowohl als Motor als auch als Vernebelung eingesetzt. Ihre Methode ist notwendigerweise hinterhältig. Auf diese Weise wird der Angriff auf die Demokratie unter dem Deckmantel demokratischer Parolen geführt, wie es derlei ›Experten‹4 wie Huey Long5 bestätigen. Diese gänzlich irreligiöse Bewegung wird sich in Lumpen der Religion kleiden. Überschwängliche Beteuerungen größter persönlichen Anteilnahme an jedem Schmerz und jedem Wehwehchen des kleinen Mannes im Publikum des Agitators verschleiern seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Individuum. Und Sie können davon ausgehen, dass die racketeers, die als erste den Antisemitismus als Mittel für ihre Zwecke einsetzen, auch als erste das racketeering anprangern werden. 4 5
Die ›...‹ wurden nachträglich hinzugefügt, um auf Pollocks polemische Verwendung des Wortes hinzuweisen. Huebert Pierce ›Huey‹ Long Jr. (1893–1935) war ein US-amerikanischer Politiker der Demokraten. Er war Gouverneur von Louisiana und Vertreter des Bundesstaates im US-Senat. Er galt als Populist, sein Führungsstil als autoritär und aggressiv. Außerdem wurde ihm Ämterpatronage und Erpressung vorgeworfen.
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VI. Was hat das alles mit den USA zu tun? Das Bild, das ich skizziert habe, soll nicht andeuten, dass politischer Antisemitismus heute eine wesentliche Kraft im amerikanischen Leben ist oder mit Sicherheit zu einer solchen werden wird. Wenn Sie mich jedoch fragen, wie ernst die Bedrohung ist, wie weit und tief der Antisemitismus in diesem Land verbreitet ist, so kenne ich die Antwort nicht. Und ich möchte hinzufügen, dass sie höchstwahrscheinlich niemand kennt. Weit mehr Forschung wird nötig sein, bevor ein wissenschaftliches Gutachten über das derzeitige Ausmaß und das zerstörerische Potenzial des antisemitischen Virus in der amerikanischen Umwelt erstellt werden kann. 1. Einige beunruhigende Symptome Ich möchte Ihnen drei Beispiele geben, die verdeutlichen, dass dieses Land, gelinde gesagt, nicht immun gegen politischen Antisemitismus ist, sollte sich eine Nachkriegssituation von großer Unsicherheit und starken gesellschaftlichen Spannungen entwickeln. In unseren Studien haben wir die Techniken eines äußerst erfolgreichen Demagogen analysiert (der jetzt wegen Aufruhr angeklagt ist). Wir haben festgestellt, dass dieser Mann bei seinen überfüllten Versammlungen in New York vor etwa vier Jahren praktisch dieselben Appelle an sein Publikum gerichtet hat, wie die Nazi-Redner in der Zeit vor der Machtergreifung. Es gibt einige Anpassungen an den amerikanischen Fall, zum Beispiel, das Ersetzen des Begriffs Volksgenossen durch christliche Amerikaner und das Vermeiden direkter Angriffe auf die demokratische Regierungsform; aber was den Hauptteil der verwendeten Techniken und die ausgenutzten Bedingungen betrifft, sind die Ähnlichkeiten frappierend. Die Wirksamkeit dieser Art von Propaganda scheint darauf hinzuweisen, dass die Heterogenität des ethnischen und nationalen Aufbaus Amerikas keinen wirksamen Schutz gegen den Einsatz von Antisemitismus als politischer Waffe bildet. Mein zweites Beispiel kommt aus einem recht unerwarteten Bereich. Erst kürzlich kam es in New York zu einem aufsehenerregenden Mordprozess. Der Fall des Angeklagten war aussichtslos. Er hatte seine Frau ermordet, und die Staatsanwaltschaft verfügte über reichlich Beweismaterial. Was hat der Verteidiger des Angeklagten – ein angesehenes Mitglied der Anwaltskammer – getan, um seinen Mandanten vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren? Zusätzlich zu den wohlbekannten technischen Tricks versuchte er, die Geschworenen zu beeindrucken, indem er böswillig andeutete, dass eine geheimnisvolle Verschwörung finsterer jüdischer Gestalten versuchte, »diesen unschuldigen Mann, Lonergan, 57
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zu kreuzigen« (New York Times, 3. März 1944). Er betonte wiederholt die Tatsache, dass der ursprüngliche Familienname der ermordeten Frau nicht Burton, sondern Bernheimer lautete, und sagte, er wisse nicht, »ob die Macht des Bernheimer – ich meine Burton – 7-Millionen-Dollar-Vermögens die N. Y. Times beeinflusst hat – selbstverständlich glaube ich nicht, dass sie das hat« (P. M., 29. Februar 1944)6. Ein paar Tage später sagte der Verteidiger, dass der Staatsanwalt »dem Druck von Bernheimer-Burtons 7 Millionen nachgibt«. Ein weiteres Zitat: »Was steckt dahinter? Die New York Times hat versucht, den elektrischen Stuhl vor die Geschworenenbank zu stellen und Sulzberger7 den Schalter bei diesem Angeklagten umlegen zu lassen. Wenn ich sie zusammennehme, wenn ich die Sulzberger als Gruppe zusammennehme, und auch S. W. Strauss8 hinzunehme, dann ist das der Grund, warum der Bezirksstaatsanwalt aufgibt.« (New York Times, 3. März 1944)9
Mit anderen Worten: Sie haben sich Mühe gegeben, eine jüdische Verschwörung anzudeuten, in der das jüdische Opfer die Schuldige und der nichtjüdische Mörder der vermeintlich Unschuldige war. Dies ist nicht das einzige Beispiel, das ich Ihnen für heutige Demagogen geben könnte, die sich großer Beliebtheit erfreuen und erfolgreich mit der emotionalen Empfindlichkeit des amerikanischen Durchschnittsbürgers spielen, um, wie im Falle der New Yorker Geschworenen, trotz überzeugender Beweise für das Gegenteil, falsche Eindrücke zu vermitteln. Mein drittes Beispiel bezieht sich auf einige Befragungen, die wir unter amerikanischen Arbeitern in der Rüstungsindustrie durchgeführt haben. Diese Befragungen fanden in einem viel zu kleinen Maßstab statt, um aussagekräftig zu sein, aber sie bestätigten aus verschiedenen Quellen zusammengetragene Berichte, laut denen der Antisemitismus unter amerikanischen Arbeitern stärker zu sein scheint, als wir bisher angenommen haben. Das ist eine ernste Angelegenheit, da davon 6 7
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PM war eine liberale Tageszeitung, die zwischen 1940 und 1948 in New York City erschien. Arthur Hayes Sulzberger (1891–1968) war ein US-Amerikanischer Verleger aus einer angesehenen jüdischen Familie, der durch die Heirat mit Iphigene B. Ochs, der Tochter des Herausgebers der New York Times Adolf S. Ochs, 1919 ebenfalls ins Zeitungswesen einstieg und von 1935 bis 1957 in Nachfolge seines Schwiegervaters die New York Times herausgab. Mit S. W. (Sidney Weinberg) Strauss ist aller Wahrscheinlichkeit nach Sidney James Weinberg (1891–1969), ein Investmentbanker jüdischer Herkunft und langjähriger Berater von Präsident Franklin D. Roosevelt, gemeint. Er war mehrere Jahre Chef von Goldman Sachs (1934–1940). Die New York Times gab ihm den Spitznahmen ›Mr. Wall Street‹. Es liegt nahe, dass hier ein falscher Name verwendet wurde. Das Zitat entstammt einem Leserbrief, was den etwas merkwürdigen Duktus erklärt.
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ausgegangen wurde, dass die Arbeiterbewegung der natürliche Verbündete im Kampf gegen diese Krankheit ist, ganz besonders in Zeiten der Überbeschäftigung. 2. Begrenzte Vergleichbarkeit mit der deutschen Erfahrung Um bei der eingangs verwendeten Analogie zu bleiben: Wenn ich als Mitglied einer ›Aufsichtsbehörde des öffentlichen Gesundheitswesens‹ aus nächster Nähe die Ausbreitung einer Krankheit beobachte, die in anderen Ländern Millionen von Menschen vernichtet hat, gebe ich zu, dass mich die Beobachtung der gleichen Symptome auch hierzulande beunruhigt. Diese Beunruhigung sollte jedoch nicht als Blindheit gegenüber den sehr großen Unterschieden zwischen den europäischen – und insbesondere deutschen – Verhältnissen vor der Machtergreifung der Nazis und der Situation in diesem Land vor und nach Pearl Harbor ausgelegt werden. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Kräfte, die sich dem politischen Antisemitismus widersetzen, hier viel stärker waren als in Deutschland. Das hat viele Gründe, ist aber vor allem auf die Stärke der demokratischen Tradition und die wesentlich bessere wirtschaftliche Lage dieses Landes zurückzuführen. 3. Was ist zu tun? Diese unvergleichlich bessere Situation sollte uns jedoch nicht nachlässig werden lassen. Viele von uns blicken mit großer Beunruhigung auf die Jahre nach dem Krieg, die das amerikanische Volk mit Problemen konfrontieren werden, die es in Friedenszeiten noch nie zuvor erlebt hat. Was können wir also tun, um mit der Gefahr des politischen Antisemitismus fertig zu werden? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir zwischen kurzfristigen Maßnahmen, die auf unmittelbares Handeln abzielen, und langfristigen Maßnahmen, die versuchen, das Übel an der Wurzel zu heilen, unterscheiden. Ich würde die meisten Bemühungen, die von Nichtjuden und Juden im täglichen Kampf gegen Antisemitismus unternommen werden, als kurzfristige Maßnahmen einstufen, die notwendig und oft hilfreich, aber ohne dauerhafte Wirkung sind. Die einzig wahre Heilung dieser Krankheit wäre die Herstellung von sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen sich jeder Einzelne frei von der Bedrohung durch menschengemachte Katastrophen fühlt. Nur eine Gesellschaft, die die sozialen Ursachen von Frustration und Angst beseitigt und jedem, der seinen Beitrag leistet, die Chance auf ein menschenwürdiges Leben öffnet, wird [vor] politischem 59
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Antisemitismus sicher sein. Vollbeschäftigung ist die notwendige Voraussetzung dafür. Es wird jedoch noch einige Zeit dauern, bis wir eine solche Gesellschaftsstruktur erreicht haben, und bis dahin besteht die große Gefahr, dass der politische Antisemitismus dazu benutzt wird, die notwendigen Anpassungen zu verhindern. Die erste Handlung gegen eine solche Bedrohung wäre, diejenigen, die an die Demokratie glauben, davon zu überzeugen, dass der politische Antisemitismus die mächtigste Waffe ist, die jemals zur Zerstörung der demokratischen Lebensweise entwickelt wurde. Ein solches Wissen könnte es ermöglichen, eine Allianz all derer zu bilden, die diese Lebensweise verteidigen wollen, eine Allianz, die stark genug ist, Hitlers Erbe zu zerschlagen. Übersetzt von Stefan Vennmann
Literatur EPD. [Autor:innenkürzel] (1942): »Die politische Tragweite der Judenfrage«, Kirchenblatt für die reformierte Schweiz (1942/89), 08.10.1942, 319. K.S. [Autor:innenkürzel] (1942): »Juden, Elsässer und Franzosen«, Die Weltwoche (1942/46), 18.09.1942. Lundberg, George A. (1944): »Sociologists and the Peace«, American Sociological Review, (1944/9), DOI: 10.2307/2086017, 1–13.
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›Politischer Antisemitismus‹ Ein unbekannter Vortrag von Friedrich Pollock1 Fast achtzig Jahre nach dem Holocaust debattieren Historiker:innen noch immer heftig über das Wesen und die Logik des modernen Antisemitismus. Dabei geht es nicht nur um die Frage eines ›Neuen Antisemitismus‹, sondern auch um das Verständnis des Holocausts (vgl. Taguieff 2004; vgl. Chesler 2003; vgl. Rosenfeld 2015; vgl. Lipstadt 2018; vgl. Heilbronn et al. 2019). Insbesondere in den gegenwärtigen Debatten über das Verhältnis zwischen dem Holocaust und den Verbrechen des Kolonialismus ist die Frage nach der Spezifik der Shoah wieder verstärkt in den Blick geraten (vgl. Neiman/Wildt 2022; vgl. Friedländer et al. 2022). Dabei sind die Grundpositionen durchaus bekannt: Während die einen argumentieren, dass der nationalsozialistische Antisemitismus mehr oder weniger die Fortsetzung eines sehr alten Judenhasses war, betonen andere seine neue Qualität als ›eschatologisches‹ oder ›eliminatorisches‹ Phänomen (vgl. Wistrich 2010; vgl. Friedländer 2007; vgl. Goldhagen 1996). All diese Positionen betreffen die Einordnung des Holocaust in die Geschichte des Antisemitismus – eine Aufgabe, die immer noch nicht abgeschlossen ist (vgl. jüngst Longerich 2021). Im sogenannten ›Historikerstreit 2.0‹ ist darüber hinaus eine besondere Emphase zu verzeichnen, mit der vor allem postkoloniale Historiker:innen den Antisemitismus als bloße Spielart des Rassismus abtun. Dem stehen aber zugleich Ansätze wie die David Nirenbergs (2012) gegenüber, der in seiner umfassenden Studie Anti-Judaism. The Western Tradition die Spezifik der Judenfeindschaft herausarbeitet und sie als wesentliches Merkmal der ›westlichen Zivilisation‹ schlechthin darstellt, einer Epoche, die aus seiner Sicht vom alten Ägypten bis zur Neuzeit reicht und auch die islamische Kultur einschließt (vgl. auch Schäfer 2022). Die Frage nach Kontinuität, Bruch oder Transformation ist also nach wie vor aktuell. Wer sich mit der Geschichte des Antisemitismus beschäftigt, ist daher gut beraten, sich weiterhin mit klassischen theoretischen Ansätzen wie dem Kapitel Elemente des Antisemitismus in Max Horkheimers und Theodor Adornos Meisterwerk Dialektik der Aufklärung zu beschäftigen. Dieser Text kann immer noch als eine der wichtigsten 1
Der vorliegende Kommentar ist die geringfügig überarbeitete deutsche Übersetzung eines Textes, der 2016 in der Zeitschrift New German Critique auf Englisch erschienen ist (vgl. Lenhard 2016a). Autor und Herausgeber:innen danken NGC für die Erlaubnis zum Abdruck.
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theoretischen Analysen des modernen Judenhasses gelten (vgl. König 2019). Obwohl das Buch Max Horkheimers langjährigem Freund Friedrich Pollock, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Sozialforschung, gewidmet ist, hat die Antisemitismusforschung seinen Beitrag zu diesem Teil des Buches sehr lange nicht berücksichtigt (vgl. Rensmann 1998; vgl. Rabinbach 2000: 166–198 sowie direkt zu Pollock vgl. Ziege 2009: 104–111 und Worrell 2008: 46, 323). Während Moishe Postone (2003), Thomas Heerich (2007) und andere deutlich gemacht haben, dass die Übernahme von Max Webers Begriff der ›verwalteten Welt‹ durch die Frankfurter Schule (vgl. Greisman/Ritzer 1981) auch durch Pollocks frühe Arbeiten über die Sowjetunion und seine Theorie des ›Staatskapitalismus‹ beeinflusst wurde (vgl. Breuer 2016: 189–220), schien die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in seinem Werk bisher weitgehend eine Leerstelle zu sein. Oberflächlich betrachtet scheint es so, als habe der ›Ökonom‹ des Instituts zum Antisemitismus gar nicht gearbeitet. Eine genauere Betrachtung seines Nachlasses zeigt, dass diese Annahme falsch ist (vgl. zu Pollocks Biographie insgesamt Lenhard 2019). Unter den zahlreichen Dokumenten, die sich in seinem Nachlass im Frankfurter Archivzentrum befinden, ist ein interessanter Text mit dem Titel Politischer Antisemitismus (vgl. Pollock 1944). Es handelt sich dabei um das Typoskript eines öffentlichen Vortrags, den Friedrich Pollock am 29. April 1944 in Washington, D.C. bei der Luncheon Session der Jahresversammlung der Women’s International League For Peace and Freedom (WILPF) hielt. Die WILPF, die Pollock als Redner eingeladen hatte, war und ist eine internationale und nichtstaatliche Frauenorganisation für den Frieden, die sich zum Ziel gesetzt hat, »Frauen unterschiedlicher politischer Anschauungen und philosophischer und religiöser Hintergründe zusammenzubringen, die entschlossen sind, die Ursachen des Krieges zu untersuchen und bekannt zu machen und für einen dauerhaften Frieden zu arbeiten« (Bussey/Tims 1980: 122, Übers. P.L.). Unter der Leitung von Emily Greene Balch, der Friedensnobelpreisträgerin von 1946, änderte die WILPF nach dem Angriff auf Pearl Harbor im Jahr 1941 ihre pazifistische Agenda und unterstützte die Kriegsanstrengungen der USA. Der Schwerpunkt der Organisation lag jedoch weiterhin auf der Verhinderung künftiger Kriege und Massaker. Daher war die Frage nach dem politischen Charakter des Nationalsozialismus für die Mitglieder der Liga von großem Interesse. In seinem Vortrag entwickelt Pollock einen neuen Begriff des ›politischen Antisemitismus‹, den er nicht nur vom vormodernen christlichen Antijudaismus, sondern auch vom rassistischen Diskurs des 19. Jahrhunderts unterscheidet: »[D]ie Motive religiöser, wirtschaftlicher oder allgemein-kultureller Ordnung [mögen] ausreichen [...], um bestimmte antisemitische 62
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Einstellungen in der Vergangenheit zu erklären, aber sie geben uns keine befriedigende Erklärung für die Bereitschaft großer Gruppen, völlig widersprüchliche antisemitische Propaganda für bare Münze zu nehmen.« (55)
Um Pollocks Ansatz zu verstehen, ist es wichtig, sich die Grundzüge seiner polit-ökonomischen Theorie des ›Staatskapitalismus‹ zu vergegenwärtigen. Nach Pollock hätten ›Übergangsprozesse‹ den Privatkapitalismus in einen Staatskapitalismus verwandelt, wobei es die »größte Annäherung an die totalitäre Form des letzteren […] im nationalsozialistischen Deutschland gegeben« (Pollock 1941a: 81) habe. Unter diesen Umständen könne der Antisemitismus nicht mehr derselbe sein wie in der liberalen Ära des 19. Jahrhunderts. Da die neue Epoche durch die Unterordnung der Prinzipien des freien Handels unter den Willen des Staates gekennzeichnet sei, werde der wirtschaftliche Wettbewerb der Individuen auf dem Markt durch Rivalitäten um Macht ersetzt; individuelle Fähigkeiten würden durch die bloße Macht der Kontrolle ersetzt. Dies verändere nicht nur die Form der Gesellschaft, sondern auch die des Staates: Statt eines bürgerlichen Staates mit checks and balances »ist der Staat das Machtinstrument einer neuen herrschenden Gruppe, die aus dem Zusammenschluss der mächtigsten Besitzstandswahrer, des Spitzenpersonals in Industrie und Wirtschaft, der höheren Schichten der Staatsbürokratie (einschließlich des Militärs) und der führenden Köpfe der Bürokratie der siegreichen Partei entstanden ist. Jeder, der nicht zu dieser Gruppe gehört, ist ein bloßes Objekt der Herrschaft« (ebd.: 82f.).
Eine der zentralen Ideen in der theoretischen Entwicklung der Kritischen Theorie in den 1940er Jahren ist der Begriff des ›Rackets‹ (vgl. Horkheimer 1942), der aus dem Bereich des organisierten Verbrechens stammt.2 In Pollocks Theorie des Staatskapitalismus bilden die Führer des nationalsozialistischen Regimes ein solches Racket, obwohl nicht klar ist, welche Rolle genau die kapitalistischen Industrieführer aus der Zeit vor 1933 im neuen Staat spielen.3 2
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In einer kurzen Notiz, wahrscheinlich aus dem Jahr 1940, skizzierte auch Pollock eine Theorie der Rackets: In der Ära des liberalen Kapitalismus sei das Racket ein »molecule of the ruling class«, aber »under monop[oly] cap[italism] the racket [spread] in all fields« (Pollock o. J.: 15; vgl. Fuchshuber 2019). Alfred Sohn-Rethel, ein Mitarbeiter des Instituts, der von Emil Lederer in Politischer Ökonomie promoviert wurde, hat in seinem 1972 erschienenen, aber überwiegend in den 1930er Jahren geschriebenen Buch Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus herausgearbeitet, dass nur die defizitären Sektoren der deutschen Industrie, die sich um die ›Harzburger Front‹ gruppierten und hauptsächlich auf den Binnenmarkt und nicht auf den Export ausgerichtet waren, an einem Sieg des Nationalsozialismus interessiert waren.
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In gewisser Weise unterscheidet sich Pollocks Ansatz nicht so sehr von dem Franz Neumanns in seinem Buch Behemoth, obwohl letzterer die Existenz eines Staatskapitalismus energisch bestritt und in einem marxistischen Denkrahmen blieb (vgl. Neumann 1944: 271–278, vgl. dazu Lenhard 2016b). Sowohl Pollock als auch Neumann versuchten, die neue politische Situation mit dem theoretischen Instrumentarium der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie zu analysieren, aber Pollock war derjenige, der zu verstehen begann, dass Ideologie nicht mehr nur ein Phänomen des ›Überbaus‹ ist, sondern konstitutiv für die Gestaltung der gesellschaftlichen Dynamik, während Neumann die Relevanz des Antisemitismus vor allem in seinen Geheimberichten für den OSS, den US-Auslandsgeheimdienst während des Zweiten Weltkriegs, herunterspielte (vgl. Laudani 2013: 60ff.). In dem Vortrag Politischer Antisemitismus, der fast drei Jahre nach dem Erscheinen des programmatischen Aufsatzes über den Staatskapitalismus und auf dem Höhepunkt des Holocausts gehalten wurde, beschäftigt sich Pollock erstmals mit dem Status und dem Gewicht antisemitischer Ideologie in der »neuen Ordnung« (Pollock 1941b: 121).4 Auf den ersten Blick überraschend ist, dass das Thema seines Vortrags die Gefahr des Antisemitismus in den Vereinigten Staaten ist. Das hat zum einen mit der Angst des Instituts für Sozialforschung vor einem Sieg des Nationalsozialismus im Westen zu tun, zum anderen ist es ganz offensichtlich, dass sich sein Vortrag tatsächlich in hohem Maße mit den Ereignissen in Europa beschäftigt und diese als Muster für die Analyse der Vorgänge in Amerika nimmt. Gleich zu Beginn bekennt Pollock: »Angesichts der Gräueltaten, die in den letzten Jahren unter der Flagge des nationalsozialistischen Antisemitismus in Europa begangen wurden, fällt es uns außerordentlich schwer, unser Problem kühl und nüchtern wissenschaftlich anzugehen.« (50) Pollock gibt jedoch einen sehr sachlichen Überblick über das Wesen des Antisemitismus: Er definiert ihn (1) als eine Einstellung und (2) als eine gegen Juden gerichtete Handlung. Dann problematisiert er den Begriff Antisemitismus, weil er so viele verschiedene Formen des Hasses umfasst, dass die Besonderheit des Phänomens fast verschwindet. Aus dieser Problematik resultiert sein Vorschlag, sich nur auf die zeitgenössische Form des Antisemitismus zu konzentrieren, die er als ›politischen Antisemitismus‹ bezeichnet. Pollock zufolge bilden die Dreyfus-Affäre und die Pogrome in Russland in den 1880er Jahren eine Vorgeschichte zur nationalsozialistischen Politik gegenüber den Juden. In all diesen Fällen nutzten »Manipulatoren« »bestehende 4
Bereits 1941 hatte Pollock den Nationalsozialismus als ›neue Ordnung‹ charakterisiert, die sich vom liberalen Kapitalismus auch im ökonomischen Sinne unterscheide.
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antisemitische Einstellungen für ihre eigenen politischen Zwecke« (51). Die Einführung manipulativer politischer Figuren, die den Antisemitismus als Herrschaftstechnik verwenden, ist auf die Rackettheorie zurückzuführen und scheint Ideologie als eine Form der Täuschung herunterzuspielen. Aber Pollock verfolgt eine andere Idee: Wenn die totalitäre Gesellschaft das freie und autonome Individuum des liberalen Zeitalters auslöscht und es in ein »Zwangsmitglied eines Gangsterbundes« (54) verwandelt, dann ändert auch die Ideologie ihre Form: Das bedeutet, dass der Antisemitismus »von einer Einstellung, die auf persönlichen Überzeugungen beruhte, zu einer Institution der nationalsozialistischen Staatskunst« (54) wurde.5 Die antisemitische Ideologie erscheint somit historisch zunächst als liberales Phänomen, als Ausdruck eines ›falschen Bewusstseins‹ kapitalistischer Verhältnisse, während die Judenvernichtung im nationalsozialistischen Deutschland zu einer politischen Institution, zu einem Pfeiler des Staatsgefüges wurde. Selbst der Judenhass der SA beruhte aus Pollocks Sicht noch »auf persönlichen Kränkungen« und stellte »eine Sache der Überzeugung und des Glaubens« dar. Im Gegensatz dazu gilt der Antisemitismus der SS als »streng unpersönlich«, »synthetisch und künstlich« (54). Seine Position stimmte an diesem Punkt tendenziell mit Hannah Arendts späterer Behauptung überein, SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der für die Organisation des Holocausts hauptverantwortlich war, sei ein bürokratischer Schreibtischmörder ohne tiefsitzenden Judenhass gewesen (vgl. Arendt 1963; vgl. Arendt 1955).6 Auch Arendts These, die Nazis hätten den Antisemitismus als politische Waffe eingesetzt, findet Widerhall bei Pollock, während er von ihrer Behauptung, der moderne Antisemitismus sei anfänglich eine (irrationale) Reaktion auf das Verhalten der Juden gewesen, Abstand nimmt.7 In Pollocks Konzept ist ›der Jude‹ von Anfang an ein bloßes Symbol, ein abstraktes Feindbild, das als politisches Instrument eingesetzt werden kann – was aber die Ermordung realer und ganz konkreter jüdischer Individuen impliziert. Aber auch er unterstellt den Nationalsozialisten letztlich ein 5
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Bereits am 7. Mai 1943 verwendet Paul Massing (1943: 7) in einem Vortrag, den er bei einer Projektbesprechung mit dem American Jewish Committee gehalten hat, den Begriff ›covenant of the gangsters‹ in Anführungszeichen. Leider gibt er keine Quelle für dieses Zitat an. Spätestens seit Bettina Stangneths Eichmann vor Jerusalem (2014) wissen wir, dass Arendts Charakterisierung von Eichmann definitiv falsch war. Eichmann war tatsächlich ein fanatischer Antisemit, der sogar nach 1945 noch stolz auf seine Taten war. Die ›Reaktionsthese‹ hatte Arendt bereits 1942 in einem Aufsatz vertreten, der Pollock bekannt war. In dem Aufsatz bezieht sich Arendt (1942: 204ff.) zur Untermauerung ihrer These unkritisch auf den nationalsozialistischen ›Judenexperten‹ Christian August Hoberg.
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instrumentelles Verhältnis zum Antisemitismus. Der sich vollziehende Massenmord, den Pollock offen anspricht, ist für ihn in erster Linie ein Mittel zur Bildung einer vermeintlich homogenen Volksgemeinschaft.8 In dieser Hinsicht sei der Antisemitismus eine »Waffe der politischen Kriegsführung« (52, Herv. i. O.) gegen diejenigen, die das herrschende Regime herausfordern. ›Die Juden‹ erscheinen als eine Gruppe von Menschen, die die Schwäche der Feinde des Regimes symbolisiert. Pollock differenziert die Mittel der politischen Kriegsführung der Nazis in acht Kategorien: 1) Der Kampf gegen ›die Juden‹ vereinte in der Entstehungsphase der NS-Bewegung verschiedene rechte Gruppen und gab ihnen einen gemeinsamen Feind. Diese Phase endete mit der Auflösung der SA im Jahr 1934, was gleichzeitig das Datum ist, an dem Hitlers Führung innerhalb der Partei endgültig unangefochten wurde. 2) Der Antisemitismus wurde als Instrument zur Zerschlagung der sozialistischen Arbeiterbewegung eingesetzt. Da mehrere Führer der Sozialdemokratischen Partei (SPD) und der Kommunistischen Partei (KPD) jüdischer Abstammung waren, denunzierten die Nazis die gesamte Bewegung als jüdische Verschwörung, die das Wohl der Nation untergräbt. Pollock übernimmt an dieser Stelle die traditionelle marxistische Interpretation des Faschismus als fehlgeleitete Form des Klassenkampfes. Mit der Feststellung, dass die Arbeiterbewegung das »eigentliche Ziel des Nazi-Terrors« (52) war, stimmt er mit Kommunisten wie August Thalheimer und Heinrich Brandler überein, die vor dem Hintergrund der Bonapartismus-Theorie von Karl Marx argumentiert hatten, dass der Faschismus im Grunde ein Bündnis zwischen der Bourgeoisie und den ausgegrenzten Schichten des Proletariats war, um die Arbeiterbewegung zu neutralisieren (vgl. Adler 1979). Pollock geht nicht auf die wichtige Frage ein, warum sich Arbeiter:innen durch den Vorwurf, jüdisch zu sein, tatsächlich eingeschüchtert fühlten. Das Aufwerfen dieser Frage hätte die Einsicht des Instituts für Sozialforschung in Erinnerung rufen können, dass der Antisemitismus innerhalb der Arbeiterbewegung schon lange vor 1933 existierte.9 3) Wie die Nazis mit dem Antisemitismus umgingen, zeigt laut Pollock, dass sie ihn als Waffe einsetzten: Von 1934 bis 1938, als sich das Regime auf den Krieg vorbereitete, genossen die deutschen Juden eine »prekäre Sicherheit«, weil das Regime erfolgreich »die Weltmeinung« 8
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Es ist bemerkenswert, dass Pollock mit dieser Beobachtung aktuelle Diskussionen über die ›Volksgemeinschaft‹ als dynamische Gewaltbeziehung vorwegnimmt (vgl. Wildt 2011; vgl. Bajohr/Wildt 2009). Bereits vor 1933 hatte das Institut unter der Federführung Erich Fromms und Hilde Weiss’ eine empirische Studie zum politischen Bewusstsein der Arbeiter:innen in Deutschland durchgeführt (vgl. Fromm 1980).
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(52, Herv. i. O.) beschwichtigte. Dies bezieht sich insbesondere auf die Zeit während der Olympischen Spiele 1936. 4) Wenn ›die Juden‹ verfolgt und ausgerottet werden können, ohne dass dies politische Konsequenzen für die Täter hat, ist die Demokratie selbst verloren. Nationen, die sich nicht um ihre jüdischen Bürger:innen kümmern, kümmern sich auch nicht um ihre nicht-jüdischen Bürger:innen. Sie ignorieren einfach die Bedrohung der Demokratie und akzeptieren die Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit. Infolgedessen sind Juden »der gesetzlosen Gewalt ausgesetzt« (56). 5) Ein ganz ähnliches Argument gilt für die Bedrohung der Mittelschicht: Da das Leben der Juden nicht mehr sicher ist, erkennen ›arische‹ Bürger, dass auch ihre eigene Existenzberechtigung aufgehoben ist. Der Antisemitismus sei also auch dazu da, »die bürgerlichen Gruppen auf Linie zu bringen« (53). 6) Während der Antisemitismus vor dem Krieg zur Beschwichtigung der Weltöffentlichkeit eingesetzt werden konnte (siehe 3), kann er auch zur Verängstigung der Welt eingesetzt werden. Der Terror gegen Juden richtet sich demnach auch gegen den Westen, der sich vor den ›deutschen Barbaren‹ fürchten soll und deshalb vom Kriegseintritt absehen könnte. 7) Konservative Gruppen, z.B. unter bestimmten Offizieren der Wehrmacht, die angesichts des Kriegsverlaufs einen Friedensvertrag mit den Alliierten anstrebten, wurden in den Augen des Westens diskreditiert, wenn sie sich am Holocaust beteiligten. So hatte der Antisemitismus wiederum eine einigende Funktion, die jeden Versuch untergrub, mit dem Westen zu verhandeln und die Naziherrschaft zu beenden. In dieser Perspektive schien die Massenvernichtung das deutsche Volk in eine ›Schicksalsgemeinschaft‹ zu verwandeln. Der Holocaust wurde zu einem ›kollektiven Verbrechen‹, auch wenn nicht jeder Deutsche direkt an den Morden beteiligt war. 8) Der letzte Punkt wurde nur mit einem Bleistift hinzugefügt und es ist nicht klar, ob Pollock ihn in seine Rede aufgenommen hat. Er stellt gewissermaßen die Zusammenfassung von allem dar, was zuvor gesagt wurde: »Massenmord als ein Mittel der Integration macht jeden Deutschen zu einem Zwangsmitglied eines Gangsterbundes« (54). Auf den ersten Blick ist es überraschend, dass Pollock den Begriff ›Gangster‹ verwendet, da dies seiner Theorie eines staatlich kontrollierten Kapitalismus zu widersprechen scheint. Doch wie bereits erwähnt, wird der Staat laut Pollock von mehreren ›Rackets‹ dominiert, kriminellen Banden, die sich der Machtinstrumente des (ehemaligen) Staates bemächtigen, um ihre Interessen durchzusetzen. Diese acht Kategorien der politischen Instrumentalisierung bilden den Kern des ›politischen Antisemitismus‹. Hinter dieser kalkulierenden, zweckrationalen Manipulationsebene verbirgt sich jedoch ein 67
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»rebellischer, aggressiver Antrieb« (55) im »Bewusstsein großer gesellschaftlicher Gruppen« (55). Sie fürchten die Zukunft unter den Bedingungen von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg und sind begierig, ihre Frustration und Angst an einem gemeinsamen Feind auszulassen. Mit dieser aufgestauten Aggression geht eine Bereitschaft zur Gewalt einher. Diese psychische Disposition sollte von den Nazis ausgenutzt werden. Erst nach diesen eher theoretischen Überlegungen, die zwei Drittel des gesamten Textes einnehmen, geht Pollock auf das Problem des heutigen Antisemitismus in den Vereinigten Staaten ein. Er betont, dass die Vergleichbarkeit mit Nazi-Deutschland zwar begrenzt und das Ausmaß der Bedrohung für die amerikanische Gesellschaft ungewiss ist, es aber dennoch »[e]inige beunruhigende Symptome« (57, Herv. i. O.) gibt. Er führt drei Beispiele für antisemitische Vorfälle aus jüngster Zeit an, die zeigen, dass Amerika keineswegs »immun« (57) gegen diese Bedrohung ist: Erstens geht er auf amerikanische christliche Demagogen ein, die sich ganz ähnlicher Muster und Techniken bedienen wie ihre deutschen Pendants.10 Zweitens geht er auf einen juristischen Fall ein, einen kürzlich stattgefundenen Mordprozess in New York, bei dem der Anwalt des Angeklagten antisemitische Gerüchte über die Familie des Opfers und den Bezirksstaatsanwalt in Umlauf brachte. Drittens verweist Pollock auf empirische Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass »der Antisemitismus unter amerikanischen Arbeitern stärker zu sein scheint, als wir bisher angenommen haben« (58).11 Pollock schließt seinen Vortrag mit Überlegungen zu den politischen Konsequenzen ab. Er unterscheidet zwischen kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Antisemitismus. Während erstere »notwendig und oft hilfreich, aber ohne dauerhafte Wirkung« (59) sind, gehen letztere an die Wurzeln des »Übel[s]« (59). An dieser Stelle kommen sozialistische Zukunftsentwürfe ins Spiel: Pollock stellt sich eine Gesellschaft vor, in der »jeder Einzelne sich frei von der Bedrohung durch menschengemachte Katastrophen fühlt«, in der »Frustration und Angst« (59) beseitigt sind und die Menschen ein menschenwürdiges Leben teilen. Ironischerweise spielt das Konzept des Staatskapitalismus eine entscheidende Rolle bei dieser langfristigen »Heilung« (59): In seinen programmatischen Artikeln hatte Pollock zwischen einer bolschewistischen, einer faschistischen und einer demokratischen Form des Staatskapitalismus unterschieden, wobei letzterer mit Roosevelts 10 Eine ausführliche Analyse dieses Phänomens haben nach dem Zweiten Weltkrieg Leo Löwenthal und Norbert Guterman (1948) mit Prophets of Deceit vorgelegt. 11 Pollock bezieht sich hier auf das von ihm geleitete, groß angelegte Forschungsprojekt Antisemitism among American Labor (vgl. Ziege 2009: 187).
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New-Deal-Politik identifiziert wurde. Nachdem Pollocks Sympathien mit der Oktoberrevolution sich Anfang der 30er Jahre sukzessive aufgelöst und spätestens mit den Moskauer Prozessen in einen resoluten Anti-Stalinismus verkehrt hatten, hielt er im Jahr 1944 nicht mehr den Kommunismus, sondern eine Neuauflage von Roosevelts Politik der Schaffung neuer Arbeitsplätze für notwendig, um antisemitische Ressentiments zu bekämpfen. Zumindest vorläufig zog er den demokratischen Staatskapitalismus einer revolutionären Diktatur des Proletariats vor. Neben substanziellen wirtschaftlichen Erwägungen lag ein ähnlicher Gedanke der Entscheidung der Truman-Administration für den Marshall-Plan im Jahr 1948 zugrunde, dem Transfer von 17 Milliarden USDollar an die europäische Wirtschaft. Umerziehung und Entnazifizierung in Europa sollten von einer wirtschaftlichen Wiederbelebung begleitet werden (oder, genauer gesagt, darauf folgen), die die Grundlage für eine friedlichere und demokratischere Zukunft bildet. In dieser Hinsicht kann das Institut für Sozialforschung mit seinen Direktoren Max Horkheimer und Friedrich Pollock auch als ein Ausdruck der politischen Nachkriegsordnung angesehen werden. Bereits am 11. Januar 1943 trafen sich mehrere Mitglieder des Instituts zu einer Debatte über den deutschen und europäischen Wiederaufbau und die Mittel, um den Aufstieg eines neuen Faschismus in der Zukunft zu verhindern. Nach der Erörterung von sechs möglichen Ordnungsformen – von einer ›autonomen Revolution‹ über den katholischen Faschismus bis hin zur konstitutionellen Monarchie – stimmten sie für einen ›aufgeklärten amerikanischen Besatzungsund Wohlfahrtskollektivismus‹ als die beste und realistischste Lösung (vgl. Tentative Worksheet 1943). In dieser Vision war der (von den Alliierten gelenkte) Staat, wenn auch durch eine föderalistische Struktur geschwächt, der zentrale Organisator der sozialen Ordnung – der Staatskapitalismus schien unüberwindbar zu sein. Weder die Revolution noch die Abschaffung des Staates waren in dieser historischen Situation zu favorisieren, sondern eine stabile und demokratische Form des Staatskapitalismus. Das war die pessimistische und bittere Schlussfolgerung, die ein desillusionierter Ex-Marxist wie Pollock aus der historischen Erfahrung des Holocausts ziehen musste.
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II. Kritische Theorie als Voraussetzung einer Theorie antisemitischer Subjektivierung
Paul Erxleben
Pathische Projektion und der Antisemitismus der Corona-Protest-Bewegung Der Beitrag beleuchtet anhand der Corona-Protest-Bewegung die zentrale Rolle der Projektion im Antisemitismus. Hierzu geht er der Frage nach, wie sich Subjekte durch Projektionen stabilisieren und Gruppen Kohärenz simulieren. Weiterhin untersucht er, was die heterogenen Proteste gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen angesichts der globalen Pandemie seit 2020 zusammenhält. Dafür werden die unterschiedlichen Milieus als autoritär skizziert und die verbindende Wirkung des Antisemitismus nachgezeichnet. Sie markieren die Tendenz zu einem neuen Autoritarismus, in dem die Bedeutung einzelner Führerfiguren hinter die von sekundären Autoritäten zurücktritt, wie sie auch Chat-Gruppen oder Bewegungen als Ganze darstellen können. Die Dispositionen der autoritären Persönlichkeit für antisemitische Einstellungen und Handlungen offenbart, was sich Individuen im Kapitalismus antun müssen, um sich als Subjekte zu konstituieren. Vom antisemitischen Subjekt ist also etwas über die Beschädigung Aller zu lernen.
1. Projektion im Antisemitismus »Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion«, so Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (1947: 211). Ein tieferes Verständnis dieser Feststellung macht einen Rückgriff auf Sigmund Freud nötig. In seinem Werk charakterisiert er die Projektion wiederholt als normalen psychischen Vorgang, wie es Jacques Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis zusammentragen. Demnach bezeichnet Freud damit eine »Operation, durch die das Subjekt Qualitäten, […] die es verkennt oder in sich ablehnt aus sich ausschließt und in den Anderen, Person oder Sache, lokalisiert« (Laplanche/Pontalis 1976: 400). Dabei geht es in der Regel um Gefühle oder Wünsche, die Unlust bis hin zur Abscheu hervorrufen. Zu ihrer »Abwehr« müssen diese anderen »Personen oder Sachen […] unterstellt« (ebd.: 403) werden. Zwar handelt es sich um einen ›normalen Mechanismus‹, doch untersuchte bereits Freud dessen »Mißbrauch« (ebd.: 402). Dies ist etwa bei der Paranoia der Fall, die eine missglückte Abwehr darstellt, in der das Abgewehrte wahnhaft wiederkehrt und den 75
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Projizierenden in entstellter Form verfolgt. Die Auseinandersetzung zwischen dem projizierenden Subjekt und dem Anderen, das zum Objekt der Projektion wird, bricht ab, bevor das Subjekt die eigenen Anteile erkennen und die eigene Projektionsleistung einordnen kann. Es ist genau dies Wahnhafte, das die Wirkungsweise der Projektion im Antisemitismus kennzeichnet. Der Wahn schneidet sich ab gegen Widersprüche, Einwände und dasjenige am Objekt, was dem projizierenden Subjekt Widerstand leistet. Differenzen im Objekt wehrt es ab, weil es die eigenen nicht erträgt. Zwanghaft hält das Subjekt am Bild ungebrochener Identität fest. Der normale Vorgang der Projektion wird verfälscht, es kommt zur falschen Projektion. Diese Pathologie eines normalen psychischen Mechanismus bildet eine entscheidende Disposition im antisemitischen Individuum. »Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin.« (Adorno/Horkheimer 1947: 214) Wo eine Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt einsetzen müsste, bricht das antisemitische Individuum ab, verbleibt in seiner Vorstellungswelt. Konkret hält es an seiner Meinung fest, auch dann, wenn die Außenwelt dieser widerspricht. Hingegen wäre eine gelungene Beziehung mimetisch: das Subjekt würde im Versuch der Angleichung an das Objekt gleichzeitig eine Vorstellung davon und ein stabiles Ich ausbilden. Antisemit:innen gelingt weder das eine noch das andere, wie im Folgenden kurz erläutert wird. Die tieferen Ursachen für die pathische Projektion liegen in gesellschaftlicher Heteronomie. »Das zwanghaft projizierende Selbst kann nichts projizieren als das eigene Unglück, von dessen ihm selbst einwohnendem Grund es doch in seiner Reflexionslosigkeit abgeschnitten ist.« (ebd.: 217) Den für die Zivilisierung notwendigen Triebverzicht, den internalisierten Zwang zur Anpassung an gesellschaftliche Zwänge (vgl. Freud 1930: 63), kann sich das antisemitische Individuum nicht bewusst machen. Ebenso wenig die ambivalenten Dynamiken von Naturbeherrschung und apersonaler Herrschaft im Kapitalismus, dessen universelles Tauschprinzip alles und jede:n abstrakt gleichsetzt (vgl. Adorno/Horkheimer 1947: 197f.; vgl. Salzborn 2020a: 20). Diese mehrdimensionalen Heteronomieerfahrungen kränken das Individuum. In ihnen drückt sich eine objektive Entfremdung von gesellschaftlichen Zusammenhängen aus, die sich jedes Individuum nur schwer bewusst machen kann. Ihnen gegenüber erlebt es sich als ohnmächtig. Statt das eigene Leiden mithilfe der Durchdringung der objektiven Verhältnisse zur Sprache zu bringen und damit einer Veränderung zugänglich zu machen, suchen viele nach einer Triebabfuhr für ihre Unlust. Dafür greift das antisemitische Individuum auf vorgefundene, erlernte und verinnerlichte »stereotype Schemata« (Adorno/Horkheimer 1947: 217) zurück. Seine Äußerungen sind gesellschaftlich kodiert, aber nicht reflektiert. Die aus Codes zusammengesetzten geistigen Schemata werden nicht hinterfragt, da sie einer 76
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Haltung zum simplen Wiederholen entsprechen, die Horkheimer und Adorno »Ticketmentalität«1 (ebd.: 233) nennen. Weil das entsprechende Individuum zu einer wirklichen Erfahrung der Objektwelt nicht in der Lage ist, reproduziert es das »reaktionäre Ticket, das den Antisemitismus enthält« (ebd.: 232). Wie Horkheimer und Adorno festhalten, geht es nicht »ursprünglich gegen die Juden«, sondern die » Triebrichtung« wird » erst durch das Ticket [auf] das adäquate Objekt der Verfolgung« (ebd.) ausgerichtet. Also führt das unzureichend reflektierte Leiden an der gesellschaftlichen Heteronomie zu einer Disposition für die pathische Projektion im Individuum, das sein Projektionsobjekt kodiert erlernt. Ziel und Inhalt der Projektion entsprechen gesellschaftlichen Codes, gerade dort wo sie wilde Idiosynkrasien ausbilden. Bereits Adorno und Horkheimer machen darauf aufmerksam, dass die Objekte der Projektion willkürlich gewählt, doch keinesfalls zufällig sind. Das antisemitische Bild von ›Juden‹ hat mit den realen nichts zu tun, ist eben Ausdruck des Antisemiten und seiner biographischen und gesellschaftlichen Prägung. Doch trifft es immer wieder Juden:Jüdinnen, weil diese erstens als Objekte der Verfolgung über kulturelle Tradierung permanent markiert wurden und werden. Und zweitens, weil die psychische Reaktion auf die abstrakt gleichmachende moderne Gesellschaft (vgl. Adorno 1968: 58f.) die Triebenergie auf die Abweichung lenkt (vgl. Adorno/Horkheimer 1947: 204ff.). »Die seelische Energie, die der politische Antisemitismus einspannt, ist solche rationalisierte Idiosynkrasie.« (ebd.: 208) Weil das antisemitische Individuum sich an das gesellschaftlich Allgemeine angleichen, sich mit dessen Macht identifizieren will, wertet es Minderheiten ab, die ihren jeweiligen Partikularismus anscheinend nicht aufgeben. Zugleich erscheinen aufgrund des antimodernen Ressentiments dem Antisemiten ›Juden‹ als Verkörperung von Abstraktion, Urbanität und weiteren Merkmalen der Moderne (vgl. Salzborn 2020b: 111). In ihnen wittert er Glück ohne Anpassung. Sie erinnern ihn beständig an die eigenen Anstrengungen zur Unterwerfung unter die Autorität. Und da der Antisemit keine Erfahrung zu machen imstande ist, bilden den wahnhaften Inhalt seiner Projektion willkürlich die Fantasien, welche er sich 1
Wichtig am Begriff des Tickets, wie in der gesamten Antisemitismustheorie Adornos und der an ihn anschließenden, ist die gesellschaftliche Dimension: »Ticket thinking is possible only because the actual existence of those who indulge in it is largely determined by ›tickets‹: standardized, opaque, and overpowering social processes which leave to the ›individual‹ but little freedom for action and true individuation.« (Adorno 1950: 459) Auch Samuel Salzborn (2020b: 109) verweist auf den sozialpsychologischen Zusammenhang von gesellschaftlichem Tauschprinzip und individueller »›Ticket-Mentalität‹«. Sie »äußert sich in einer verdinglichten Form der Weltwahrnehmung, die auf Austauschbarkeit, Beliebigkeit […] orientiert und von […] Empathielosigkeit gegenüber anderen gekennzeichnet ist.« (ebd.)
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nicht bewusst machen und selbst eingestehen kann: Gefühle und Wünsche, die auf gesellschaftlichen Anpassungsdruck reagieren, aber abgewehrt werden müssen, weil sie Aggressionen oder Überschreitungssehnsüchte ausdrücken. Daher nehmen die Projektionen oft manichäische Formen an, sie teilen die Welt in gutwillig und bösartig. Ohne Erfahrung müssen die antisemitischen Vorstellungen idiosynkratisch sein, jedoch standardisiert nach den Tickets, durch die sie erlernt werden. Das Persönlichkeitsmuster, das der pathischen Projektion entspricht, ist der autoritäre Charakter. Er wiederholt und verfestigt das Muster der Projektion uneingestandener Wünsche und Gefühle, weil es ihm Vorteile bietet. Anhand der unreflektierten Meinung zeigt Adorno die psychischen Funktionen der autoritären Verhaltens- und Redeweisen auf. »Bloße Meinung neigt zu jenem Nicht-aufhören-Können, das pathische Projektion heißen darf.« (Adorno 1961: 154) Die Unfähigkeit zu erfahrungsgesättigten Vorstellungen von Objekten korrespondiert mit einem unablässigen Insistieren auf der eigenen Meinung, die ein stabiles Ich signalisieren soll. Denn anders als für Widersprüche offene Positionierungen können in sich geschlossene Meinungen erstens »scheinhaft die Orientierung erleichtern«, zweitens kurzzeitig das Gefühl der Entfremdung »beschwichtigen« und drittens »narzisstische Befriedigung« (ebd.: 155) liefern. Der zwanghafte Zug des autoritären Charakters überspielt dessen Instabilität. Mithilfe einer fixen Meinung, in der sich eine pathische Projektion ausdrückt, fixiert sich das Individuum. Es findet scheinbare Sicherheit in Pseudo-Stabilität. Hierein spielt auch ein Missverständnis über das souveräne, vollständige Individuum, das mit sich selbst identisch sei. Autoritäre Charaktere verkennen, dass es sich dabei um eine leere Abstraktion handelt und in der Realität gelungene Identitätsbildungen vielschichtige und konflikthafte Identifikationsprozesse mit gesellschaftlichen und anderen Instanzen, wie den Eltern, voraussetzt. Sie können daher die angestrebte Identität, die Ideologie bleibt, nicht ausbilden. Wie Adorno festhält, gelingt den autoritären Charakteren die Identifikation nur »on a superficial level« (Adorno 1950: 372). Weil sie nicht zu einer Persönlichkeit finden, die die Ambivalenzen der Wechselbeziehungen mit der äußeren Objektwelt auszuhalten im Stande ist, kennzeichnet er ihre Persönlichkeitszüge als »pseudo« (ebd.). Diese Pseudo-Individualisierung führt zu der beschriebenen zwanghaften Dynamik: »They are forced to overdo it continuously in order to convince themselves and the others that they belong« (ebd.). Letztlich versucht sich das autoritäre Individuum mit der pathischen Projektion zu stabilisieren. Für eine kurze Zusammenfassung sei auf ein Konvolut an Kennzeichen verwiesen, die Samuel Salzborn an Projektionen im Antisemitismus herausgearbeitet hat. Demnach sind sie erstens »pathisch«, da sie aufgrund »ausbleibende[r] Realitätsprüfung« (Salzborn 2020b: 109) keine Reflexion zulassen. Daher kennzeichnet sie zweitens eine gewisse 78
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idiosynkratische »Willkür« (ebd.), gerade was die Objektwahl angeht, das Andere, auf das projiziert wird. Drittens operieren sie zwanghaft, was sich als das »Wahnhafte« (ebd.: 110) der Projektionen äußert, wobei die Fantasie von uneingestandenen, verdrängten Wünschen und Gefühlen bestimmt ist. Und schließlich zeigen die Projektionen viertens einen Manichäismus, der klar zwischen Gut und Böse trennt (vgl. ebd.: 109, 115). Auch hinsichtlich der Subjektivierung im Antisemitismus äußert sich Salzborn erhellend. »[E]ine einheitliche antisemitische Persönlichkeit« kann es nicht geben, sondern nur ein »Ensemble an prädisponierenden Variablen« lässt sich finden, das »abhängig von der individuellen Biographie und den gesellschaftlichen Kontexten« (ebd.: 113; Herv. i. O.) ist. Der Antisemitismus, so die Ursache, »desubjektiviert« das Individuum in zweifacher Hinsicht: »es verliert die intellektuelle Hoheit über seine Selbstreflexion und gibt die Möglichkeit des emotionalen Verstehens und Mitfühlens auf.« (ebd.: 118) Hinzuzufügen ist dem nur, dass das Scheitern des Antisemiten an der Subjektwerdung auf gesellschaftliche Ursachen verweist, die letztlich alle Menschen beschädigen. Was er mit Pseudo-Individualität zu kompensieren versucht, zu der pathische Projektionen führen, sind Entfremdungserfahrungen. Dieses Leiden wird aber falsch bearbeitet, und dessen Ursachen damit verstetigt.
2. Funktionsweisen des Antisemitismus in den Corona-Protesten Mit der Ausbreitung des Corona-Virus seit Februar 2020 in Deutschland begann eine tiefgreifende gesellschaftliche Krise, in deren Verlauf sich eine heterogene Protest-Bewegung gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen herausbildete. Die Corona-Protest-Bewegung, so die These, besteht aus verschiedenen autoritären Milieus, die von antisemitischen Verschwörungstheorien zusammengehalten wird, in denen pathische Projektionen elementar sind. Im folgenden zweiten Teil des Beitrags wird nach einem Blick auf die Entwicklung der Proteste ideologiekritisch auf deren Inhalte geblickt und abschließend deren Antisemitismus näher betrachtet. Grundlage ist einerseits die maßgebliche Forschungsliteratur und andererseits Untersuchungen im Kontext von Beratungsangeboten (vgl. Caballero et al. 2023; vgl. Diedrich/Erxleben 2023). Ihren Ausgangspunkt nahmen die Corona-Protest-Bewegung am 26. März 2020 in Berlin, wo eher linke Menschen aus dem Kunst- und Kulturbetrieb demonstrierten. Unter dem Motto ›Nicht ohne uns‹ wendeten sie sich gegen verordnete Schließungen und weitere Maßnahmen, die als Lockdown bezeichnet wurden. Anfänglich gab es in der 79
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Bewegung einen rationalen Kern der Kritik. Einerseits war den massiven staatlichen Eingriffen widersprüchliche Positionierung von Politiker:innen vorangegangen, nun aber argumentierte die Bundesregierung mit Alternativlosigkeit und Notstand. Andererseits waren gesellschaftliche Bereiche seit Beginn unterschiedlich betroffen: Schulen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen mussten schließen, während die Industrie, der Verkehr und Teile des Handels offen blieben.2 Jedoch waren bereits bei den ersten Protesten Verschwörungsideolog:innen und rechte Kader dabei, die bald die ›Hygiene-Demos‹ inhaltlich bestimmten. Am 29. August 2020 versuchten in Berlin Protestierende eines maßgeblich von Querdenken organisierten Marsches, das Reichstagsgebäude zu stürmen. Parallel ließen Abgeordnete der AfD Teilnehmende dieser Demonstration ins Parlament, die dort Minister:innen bedrängten. Nun erst gewahrten Viele die reaktionäre Ausrichtung der Bewegung. Sie als ›Querdenker‹ zu bezeichnen erscheint verharmlosend. Corona-Protest-Bewegung ist angemessener, weil sie aufs Engste mit der Corona-Pandemie verbunden ist. Ihr Auf- und Ableben folgt im Wesentlichen den vier Wellen des deutschen Infektionsgeschehens und den darauf reagierenden staatlichen Schutzmaßnahmen. Im Februar 2022, als bundesweit bis in kleine Ortschaften oft unangemeldete ›Montagsspaziergänge‹ stattfanden, schätzte die Forschungsgruppe CeMAS, dass etwa 5% der Bevölkerung teilgenommen hatten (vgl. Lamberty et al. 2022). Gemessen an den Zahlen, handelt es sich bei der Corona-Protest-Bewegung um eine der größten antisemitischen Mobilisierungen der letzten Jahrzehnte in Deutschland.3 Bevor zur Klärung des antisemitischen Charakters auf die Inhalte geblickt wird, noch einige Bemerkungen zu Vorgeschichte und tragenden Milieus. In der Literatur werden immer wieder die ›Montagsmahnwachen für den Frieden‹ nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 als Vorläufer genannt (vgl. Teune 2021; vgl. Metzger/Balmer 2021). Bereits dort waren rechte mit linken Akteur:innen in einem Mischprotest auf die Straße gegangen. Ebenfalls 2014 nahm die Pegida-Bewegung 2
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Fabian Virchow und Alexander Häusler (2020: 5) machten aus, dass die anfänglichen Proteste von unterschiedlichen Berufsgruppen getragen wurden, die keine Verschwörungstheorien verbreiteten. Ebenso waren spätere Proteste unter dem Motto ›Alarmstufe Rot‹ berufsspezifisch und grenzten sich klar von autoritären Akteur:innen und Positionen ab. Ferner gab es auch Kritik von linker, feministischer und liberaler Seite, die jeweils spezifisch Klassen- und Geschlechterungleichheiten durch das Pandemiemanagement verschärft sahen oder unzureichende rechtliche Grundlagen bemängelten. Dafür mussten sie aber nicht auf antisemitische Topoi zurückgreifen oder offen mit Neonazis kooperieren. Allerdings blieben diese marginal. Auch außerhalb Deutschlands hat es vergleichbare Proteste gegeben, die jedoch länderspezifische Züge aufwiesen. Eine vergleichende wissenschaftliche Studie steht bisher aus.
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rasant Fahrt auf und vermochte jenseits der etablierten extremen Rechten ›besorgte Bürger‹ zu mobilisieren. Die rassistische Mobilisierung und die Gewöhnung an Querfronten4 gehören zu den Ressourcen der Corona-Protest-Bewegung, die teilweise auf Netzwerke und ideologische Muster zurückgreifen konnte. Kennzeichnend war die zivilgesellschaftliche Mobilisierungsform einer »Graswurzel-Vernetzung« (Bringt/Klare 2021: 64). Trotz Anbiederung vermochten Parteien wie die AfD nicht, die Proteste zu vereinnahmen. Viele Märsche organisierten sich mithilfe von Chatgruppen spontan und lokal. Die konstitutive Rolle sozialer Medien ist gleichfalls kennzeichnend für die Corona-Protest-Bewegung (vgl. Lamberty et al. 2022). Sie erlaubte »neue Formen von milieuübergreifender Radikalisierung« (Virchow/Häusler 2020: 36). Bilder von Personen aus dem alternativen und esoterischen Milieu gemeinsam mit Personen, die Reichsflaggen schwenkten, von Familien und Neonazis irritierte die breite Öffentlichkeit. Auf den Protesten fanden verschiedene Milieus zusammen. Nach Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschungsliteratur (vgl. Häusler/ Virchow 2020; vgl. Speit 2021; vgl. Amlinger/Nachtwey 2022) und den Beratungseinrichtungen lassen sich vereinfacht vier tragende Milieus unterscheiden, die wiederum in Submilieus differenziert werden können. Erstens: Organisierte extreme Rechte von der AfD über Reichsbürger:innen bis zu den Freien Sachsen; zweitens: Querfrontelemente aus dem angesprochenen Kultur- und Kunstmilieu, aber auch marginale linke Organisationen wie die Freien Linken. Ferner trat drittens das Milieu der Verschwörungsgläubigen in Erscheinung: es umfasst Bewegungsunternehmer:innen wie Michael Ballweg ebenso wie Klimawandelleugner:innen und Anhänger:innen des QAnon-Kults. Am schwierigsten ist viertens das Milieu der autoritären Rebellen klar zu umreißen: Es enthält den rechten Flügel der Esoterik-Szene und Anthroposophie, Teile der »Bio-Boheme« (Speit 2021: 16), aber auch hedonistisch Orientierte lassen sich ihm zuordnen. Offenkundig bestehen zwischen den Milieus Schnittmengen. Wichtiger als ihre innere Kohärenz und verbindende Zielvorstellung ist ihre autoritäre Orientierung und antisemitische Brückenideologie, die anschließend im Fokus steht. Zum Verständnis der Proteste ist es ferner unerlässlich, die lokalen Besonderheiten der jeweiligen Proteste zu betonen. Oft überwog an einem Ort ein Milieu oder bestimmte Ressourcen und andere Faktoren führten zu einer je eigenen Ausprägung. Während etwa in Baden-Württemberg das ehemals den Grünen verbundene Alternativmilieu die Proteste prägte, war es in Ostdeutschland ein eher Pegida nahestehendes Milieu, so verschiedene 4
Wichtig ist zu unterstreichen, dass keine organisierte Querfront vorliegt. Die überwiegende Mehrzahl linker Organisationen hat gegen die CoronaProteste mobilisiert (vgl. Metzger/Balmer 2021).
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Studien (vgl. Frei/Nachtwey 2021: 4–5; vgl. Hummel/Zschocke 2021: 219). Übergreifende wissenschaftliche Vergleiche zu regionalen und internationalen Spezifika stehen bislang aus. Auf je eigene Weise zeigen die Milieus ähnliche autoritäre Muster. Sowohl ihre Inhalte als auch ihre gelebte politische Praxis verdeutlichen die latente Ablehnung etablierter demokratischer Vermittlungsinstanzen und einen Fetisch der Unmittelbarkeit. Für eine moderne arbeitsteilige Gesellschaft sind verschiedene Vermittlungsinstanzen, darunter Parlamente, Wissenschaft und Medien, notwendig. Sie ermöglichen Organisation, Beteiligung und Regulierung – erzeugen ambivalent sowohl Herrschaft als auch Emanzipation. Auf den Protesten wurden Medienvertreter:innen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen hingegen oft pauschal der Lüge bezichtigt, sie seien Handlanger finsterer Mächte und betrieben Angstmache, um Kontrolle auszuüben. Generell bestreiten 53,8% der Menschen mit hoher Bereitschaft zur Teilnahme an den Protesten die Gefahren des Corona-Virus (vgl. Lamberty et al. 2022). Zur Begründung ihrer Kritik beziehen esoterische Impfgegner:innen sich auf Intuition, Reichsbürger:innen auf vermeintlich fehlende Souveränität, Verschwörungsideolog:innen sehen Bill Gates als Strippenzieher und manche Linke die Pharmalobby. Jedoch stellt die Forschungsgruppe der Universität Basel fest: »Wichtiger als die Darstellung der Kritik ist die Selbstdarstellung als Kritiker:in.« (Nachtwey et al. 2020: 60) Viele Protestierende fordern zwar Basisdemokratie ein – eine Partei mit anthroposophischem Einschlag heißt auch Die Basis (vgl. Becker 2022) – doch geht es dabei meist nur um die Umsetzung eines imaginierten einheitlichen Volkswillens, der die Infektionsschutzmaßnahmen ablehne. Den Schutz vulnerabler Gruppen sehen Viele nicht als relevante Maßgabe an, sie erklären vielmehr sich selbst oder Kinder zu Opfern von dunklen Mächten im Hintergrund. Ideologisch ist auch die mangelnde Auseinandersetzung mit Ursachen der Pandemie und ihrer Verbreitung. Von kapitalistischen, d. h. ausbeuterischen, die Grenzen zwischen Natur und Mensch aufhebenden Naturverhältnissen bis zu globalen Lieferketten und Tourismus war kaum die Rede, dafür von Freiheitseinschränkungen, Zensur und Diktatur. Eine besondere Rolle spielte und spielt die Ablehnung der Impfung. Wiederholt wurde in Chatgruppen und auf der Straße behauptet, es sei infolge der Impfung zu Millionen Toten gekommen, vor allem unter Kindern. Daher befürworteten weite Teile der Bewegung offensiven Widerstand. Entsprechende Handlungen reichen von der Verweigerung der Mund-Nase-Maske bis zu Brandanschlägen auf Impfzentren. Am 19. September 2021 erschoss in Idar-Oberstein ein gescheiterter IT-Unternehmer einen jungen Mann, weil er in seinem Nebenjob bei einer Tankstelle auf die Maskenpflicht bestand – der Täter gab an, die Maßnahmen nicht ertragen zu können und an deren Urheber nicht heranzukommen (vgl. Caballero et al. 2023). 82
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Obwohl viele Befragte der viel beachteten Studie der Basler Forschungsgruppe um Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (2022: 227) angaben, antiautoritär orientiert zu sein, entpuppen sie sich als autoritäre Charaktere. Sie mögen nicht (alle) dem geläufigen Bild entsprechen, wonach Autoritäre Seitenscheitel, Zöpfe oder Glatze tragen, aber diese Erwartung sagt mehr über den Wunsch nach Externalisierung autoritärer Einstellungen aus, als über die entsprechenden Dynamiken in der Gesellschaft. Nach Amlinger und Nachtwey stellen die Teilnehmenden der Corona-Proteste den neuen Typus des libertären Autoritären dar. In Hinblick auf autoritäre Aggression, Projektivität und Zynismus ähnele er dem alten. Unterschiedlich sei einerseits das geringere Maß an autoritärer Unterwerfung und andererseits eine abnehmende Orientierung an Konventionen (ebd.: 256). Fehlende Führerfiguren und auf individuelle Selbstverwirklichung ausgerichtete Werte stünden dem entgegen. Dem stehen komplementäre Analysen auf empirischer Basis gegenüber, die andere Schlüsse zulassen. Die Leipziger Forschungsgruppe um Oliver Decker (2015) hob hervor, dass im Anschluss an Freud und Adorno auch von einem sekundären Autoritarismus gesprochen werden könne, der sich auf Abstrakta wie die Wirtschaftskraft oder Gruppen als Ganze bezieht. Es liegt nahe, die Gemeinschaft der Corona-Protestierenden als eine solche Gruppe in Betracht zu ziehen, die die Funktion einer Autorität übernehmen, der sich die Gruppenmitglieder unterwerfen (vgl. Decker et al. 2022: 13). Dafür sprechen der wiederholt vorgebrachte Verweis auf diese als Quellen für ein besonderes Wissen über das Pandemiegeschehen und ihr zugeschriebene emotionale Attribute wie Liebe. Auch wird die Gruppe beständig gegen Kritik immunisiert. Verweise auf Neonazis und Gewalt wären Desinformationen. Statt die eigene Bewegung als Teil gesellschaftlicher Aushandlungen über den Umgang mit der Corona-Pandemie zu begreifen, die in demokratischen Verfahren Einfluss auf Entscheidungen nimmt, wird sie von vielen Protestierenden überhöht. Ferner spielt der Terminus ›Normalität‹ eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Protestierenden. In der Forderung nach Rückkehr zu einem vorpandemischen Zustand drückt sich nicht nur der verständliche Wunsch nach einem Ende von Einschränkungen aus. Zugleich bringen sie die Akzeptanz des Leidens zum Ausdruck, welches unter den Bedingungen der anhaltenden Corona-Pandemie unvermeidlich wäre. Über diesen zynischen Darwinismus hinaus lässt sich Normalität auch als ideologische Sehnsucht nach einem Zustand weiterhin ungehinderten Konsums, gesellschaftlicher Harmonie und unhinterfragter Identität deuten. Dies kann als Konventionalismus verstanden werden.5 5
Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass Konventionalismus und Autoritarismus in der Pandemie selbstverständlich nicht nur bei Corona-Protestierenden und ihren Sympathisant:innen zu finden ist, sondern auch bei den
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Ob letzterer aber einzig individualistisch – im Sinne eines libertären Autoritarismus – zu begreifen ist, darf mit Blick auf den AfD-Slogan »Deutschland, aber normal« bezweifelt werden. Näher liegt eine politische Kommunikationsstrategie, die einen antimodernen Mythos identischer Gemeinschaft konstruiert. Ideologisch ähnelt die Rhetorik der Normalität den autoritären Agitationen ›take back control‹ und ›make America great again‹. Die autoritäre Disposition vieler Teilnehmer:innen kommt jedoch besonders in einer zentralen Hinsicht zum Tragen: dem Antisemitismus. Verschwörungstheorien6 bilden sowohl den Kitt für die Corona-Proteste als auch eine bedeutende Form, in der sich ihr Antisemitismus ausdrückt. »Verschwörungserzählungen [sind] eine Brückenideologie, welche verschiedene antidemokratische Milieus miteinander verbindet.« (Decker et al. 2022: 13) Ob es ›die Pharmalobby‹, ›Gates‹ oder ›die Rothschilds‹ sind, in ungezählten Äußerungen in Chatgruppen und auf Demonstrationen wird die Pandemie als Verschwörung einer kleinen, mächtigen und böswilligen Gruppe verstanden. Seit Beginn der Proteste waren »Verschwörungserzählungen, deren antisemitischer Gehalt vielfach evident ist« (Virchow/Häusler 2020: 3), zu beobachten. Die bundesweit in elf Bundesländern aktiven Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) dokumentierte zwischen März 2020 und Februar 2022 über 400 Fälle von Antisemitismus auf Demonstrationen der Corona-Proteste (vgl. RIAS 2022). Auch der Studie der Basler Forschungsgruppe konnte bei bis zu 30% der Protestierenden7 eine »relative Neigung zum Antisemitismus« herausgearbeitet werden, die sie mit der »hohe[n] Neigung zum verschwörungstheoretischen Denken« in Verbindung bringen, da »Verschwörungstheorien häufig antisemitische Züge
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Befürworter:innen der Maßnahmen (vgl. Decker et al. 2022: 13). Doch bilden diese nicht den Gegenstand dieses Beitrags. Über den Begriff der Verschwörungstheorien herrscht Uneinigkeit. Einige sehen darin eine unzulässige Gleichsetzung mit wissenschaftlichen Theorien und bevorzugen daher andere Komposita: Verschwörungsmythen, -ideologien, -erzählungen etc. (vgl. Decker et al. 2022: 22-25). Für den Begriff spricht, dass er weithin verständlich ist, in der internationalen Debatte Verwendung findet und nicht zuletzt der Umstand, dass Wissenschaften ebenfalls ideologische Funktionen erfüllen können. Wörtlich heißt es in der Studie: »Was auffällig ist: Fast 30 % der Studienteilnehmer:innen sind bei diesem Item [das auf Antisemitismus verweist, P. E.] auf ›keine Angabe‹ ausgewichen, so viele wie nur bei einem anderen Item der Studie, welches auf eine Verschwörungstheorie Bezug nahm« (Nachtwey et al. 2020: 52f.) Plausiblerweise mutmaßen die Autor:innen: »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele Personen mit latenten antisemitischen Vorurteilen durch Nichtbeantwortung der Frage gewissermaßen ›ausgewichen‹ sind.« (ebd.: 53)
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aufweisen.« (Nachtwey et al. 2020: 53). Stärker noch müsste davon ausgegangen werden, dass immer, wenn die Idee einer vermeintlichen ›Plandemie‹ aufgeworfen wird, moderner Antisemitismus virulent ist und nicht erst, sobald explizit Juden:Jüdinnen die Schuld gegeben wird (vgl. Uhlig 2022: 98). Angesichts der sozialen Erwünschtheit ist ein bekanntes Phänomen die Umwegkommunikation über Codes wie ›Ostküste‹, ›new world order‹ oder ›great reset‹. Die zugrundeliegenden Muster der Argumentation, ihre Struktur sind entscheidend für die Einordnung als antisemitisch. Denn die »Verschwörungsmentalität sowie der Glaube an COVID-19-bezogene Verschwörungserzählungen [...] sind strukturell antisemitisch und Antisemitismus selbst kommt nicht ohne Verschwörungserzählungen aus.« (Decker et al. 2021: 4) Neben Verschwörungsmythen waren bei den Corona-Protesten weitere Formen des modernen Antisemitismus wiederholt zu beobachten. So zeigte sich früh sekundärer Antisemitismus, bei dem die Shoah relativiert wird, um Gefühle der Schuld abzuwehren. Vergleiche der Situation der Ungeimpften mit denen von verfolgten Juden und Jüd:innen im Nationalsozialismus waren häufig und blieben innerhalb der Community meist unwidersprochen. Israel-bezogener Antisemitismus war hingegen weniger präsent auf den Protesten. In den antisemitischen Einstellungen und Handlungen ließen sich eine Reihe von Techniken finden, die zwar nicht zwangsläufig Antisemitismus transportieren, in der Praxis aber oft damit einhergehen: Personalisierung, Täter-Opfer-Umkehr und Projektion. Personalisierung kam bei den Corona-Protesten etwa dort zum Einsatz, wo dem IT-Unternehmer Bill Gates oder dem Virologen Christian Drosten eine Macht zugeschrieben wurde, die sie nicht haben. Sie seien verantwortlich für das Pandemiegeschehen oder lenkten den Staat. Abstrakte gesellschaftliche Konfliktlagen werden so personifiziert. Bei der Täter-Opfer-Umkehr erscheinen die Angegriffenen, zum Beispiel Journalist:innen, als Täter:innen. Als ›Lügenpresse‹ seien sie selbst schuld an dem Zorn, der sich an ihnen entlädt. Solche Selbstviktimisierung ermöglicht eine entschuldigende Legitimierung der Aggression und manichäische Zurichtung der Welt. Projektive Vorgänge waren von elementarer Bedeutung. Häufig konnte das Handeln und Denken der Protestiereden mit uneingestandenen eigenen Anteilen direkt in Verbindung gebracht werden. Die Wünsche nach dem harten Durchgreifen kehren als Vorwurf der Diktatur wieder. Die eigene Unsicherheit projizieren die Teilnehmenden auf die Presse, der sie vorwerfen, zu lügen. Um innere Ängste abzuwehren, unterstellen sie der Regierung eine Politik, die Ängste schüren will. Wer von diesen Vorwürfen überzeugt war, musste ignorieren, dass die eigene Bewegung Gesetze übertrat, Gewalt anwendete, Gewaltenteilung infragestellte, Falschnachrichten verbreitete und nicht nur bei vulnerablen Gruppen Angst verbreitete. Der Vollzug dieser sozial geächteten Handlungen und die 85
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Kohärenz der Bewegung erforderte eine Abwehr, welche pathische Projektionen leisten konnten. Abschließend zeigen sich Zusammenhänge von Projektion und Autoritarismus, besonders an der Aggressionsneigung im Antisemitismus. Die Motive für Verschwörungsmentalität gleichen denen für projektive Ticketmentalität. Gesellschaftliche Ohnmacht und gekränkter Narzissmus führen zur Suche nach Stabilisierung. Neben den »existenzielle[n] Motive[n]«, die auf Kontrolle abzielen, wirken aber auch »soziale Motive«, die eine »positive[…] Wahrnehmung des eigenen Selbst oder der Gruppe« erreichen wollen, und nicht zuletzt auf Erklärungen gerichtete »epistemische Motive« (Lamberty/Nocun 2021: 120). Durch den Verschwörungsglauben vermag sich die betreffende Person mittels des vermeintlichen Wissensvorsprungs deutlich aufzuwerten (vgl. Amlinger/Nachtwey 2021: 17). In der autoritären Corona-Protest-Bewegung kommen diese sozialpsychologischen Funktionen der antisemitischen Projektionen zum Tragen. Das projizierende Individuum erfährt von der Gruppe der Verschwörungsgläubigen Anerkennung, wodurch zugleich die Binnenkohäsion der heterogenen autoritären Milieus gestärkt wird. Dank des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gruppe und der kollektiven Bindung entsteht eine scheinhafte Stabilisierung des Selbst im kollektiven Wahn. Dabei erfüllt die affektiv und epistemisch aufgewertete Gemeinschaft die Funktion einer Autorität. So ermöglicht die Verschwörungsmentalität eine autoritäre Unterwerfung, welche als Lust empfunden werden kann. Doch hat die pathische Projektion innerhalb der autoritären Dynamik einen Preis. Ihr Manichäismus produziert sich zuspitzende Bedrohungsszenarien, die einen immer aggressiveren Widerstandsimperativ evozieren. Wenn sich die durch Verschwörungstheorie mit Sinn aufgeladene Außenwelt nicht verhält wie vorhergesagt (und keine Millionen Geimpfte sterben), wenn die Pseudo-Individualität bröckelt (und Maskenverweigerung die ökonomische Existenz gefährdet), wenn schließlich das gute Kollektiv zusammenbricht (und Demonstrationen ausbleiben, Chats verstummen), – dann können Einzelne die Zeit für gewaltsame Maßnahmen gekommen sehen. Diese Zusammenhänge deuten sich in Idar-Oberstein bereits an, aber auch bei der Gruppe Vereinte Patrioten, die im April 2022 ebenfalls in Rheinland-Pfalz aufflogen, als sie Material zum Bau von Bomben von einem verdeckten Ermittler kauften. Sie und ein mutmaßlich größeres Netzwerk planten Anschläge auf Infrastruktur, die Entführung des Gesundheitsministers und rechneten damit, dass dadurch ein Großteil der Bevölkerung sie bei ihren Umsturzplänen unterstützen würde. Hier zeigt sich die Gewaltdynamik der pathischen Projektion: die antisemitische Verschwörungsmentalität erzeugt die Verschwörung der Antisemit:innen. In der Sehnsucht nach einer authentischen Autorität greifen sie die etablierten Autoritäten an und damit das anscheinend verhasste demokratische System. 86
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Adornos antipsychologische Psychologie des Antisemitismus Wer sich mit Theodor W. Adornos Antisemitismusanalyse beschäftigt, kann leicht den Eindruck einer gewissen Widersprüchlichkeit des kritischen Theoretikers zu Fragen der Psychologie gewinnen: Einerseits finden sich einige von Adornos feinsinnigsten Beschreibungen gerade dort, wo sich sein Denken um die subjektive Tiefendimension antisemitischer Ressentiments in den regressiven und autoritätsergebenen Zügen spätmoderner Individuen dreht. Auf der anderen Seite jedoch warnt Adorno seine Leser:innen eindringlich vor einem ›psychologistischen‹ Reduktionismus, der darin besteht, die Formation und Herrschaftspotenziale antisemitischer Kräfte allein auf psychologische Bedingungen zurückzuführen. Im Folgenden werde ich von ebendieser Spannung in Adornos Schriften ausgehen und einen Vorschlag formulieren, wie sich das prima facie psychologische Konzept des Narzissmus bzw. der narzisstischen Regression in den Dienst einer strukturellen Analyse und Kritik antisemitischer Dispositionen, Denkmuster und Formen des Politischen im Geiste Adornos stellen lässt – ohne dabei in den von Adorno kritisierten Psychologismus zu verfallen. Zunächst verdeutliche ich dazu die besagte Spannung zwischen psychologischer Analyse und antipsychologistischem Vorbehalt und ihre Bedeutung für die von Adorno anvisierte psychologisch-antipsychologistische Analyse der subjektiven Ursachen und Triebkräfte des Antisemitismus. Im zweiten Schritt umreiße ich mit Rückgriff auf Jessica Benjamins Anerkennungstheorie eine Konzeption des Narzissmus, anhand welcher sich einige der zentralen Gedanken von Adornos Antisemitismusanalyse deutlicher bestimmen lassen. Im dritten und letzten Schritt komme ich vor dem Hintergrund dieser Narzissmuskonzeption zurück auf die Rolle des anti-psychologistischen Vorbehalts für Adornos Beschreibung der sozialstrukturellen Entstehungs- und Erfolgsbedingungen antisemitischer Denkmuster, Einstellungen und Agitationsformen.
1. Eine antipsychologische Psychologie des Antisemitismus Der Bereich des Psychologischen – und das ganz besonders aus der Perspektive der Psychoanalyse – war für die Antisemitismusanalysen 90
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Adornos sowie auch der Großzahl seiner Kolleg:innen im erweiterten Forschungskontext der Frankfurter Schule fraglos von zentraler Bedeutung.1 Man denke nur an die Studien zum autoritären Charakter, eine der bekanntesten Schriften der kritischen Theorie und bis heute einflussreich für die empirische Sozialforschung. Im Fokus stand hier das potentiell faschistische Individuum, d. h. »ein Individuum, dessen Struktur es besonders empfänglich für antidemokratische Propaganda macht« (Adorno 1950: 1). Nicht nur war die Wahl des Gegenstandes – die funktionale Verknüpfung zwischen subjektiver Bedürfnisdisposition und ideologischem Überzeugungssystemen – hier psychologisch. Auch die das Forschungsprogramm antreibende Hoffnung, dass durch die Einsicht in die autoritäre »psychische Dynamik, die nach dem antisemitischen Ventil verlangt« (ebd.: 110), die faschistischen Triebkräfte in der Gesellschaft »schließlich besser zu bekämpfen« (ebd.: 1) seien, gesteht der Psychologie einen bedeutsamen Stellenwert im Feld der Politik zu. Auch in Adornos Auseinandersetzung mit Materialien (proto-)faschistischer Propaganda – etwa die Analyse der Radioansprachen des Agitators Martin Luther Thomas (vgl. Adorno 1943) – wird dem Aspekt der Psychologie große Aufmerksamkeit geschenkt. Dies habe, so Adorno, weniger mit dem Interesse des Forschenden zu tun als vielmehr mit der Beschaffenheit des untersuchten Materials: »Das untersuchte Material selbst legt eine psychologische Deutung nahe. Es ist eher psychologisch als sachlich strukturiert. Es zielt eher darauf ab, Menschen gefangen zu nehmen, indem es auf ihren unbewußten Mechanismen spielt, als daß es Ideen und Argumente präsentiert.« (Adorno 1946: 148)
Mit anderen Worten: Wenn die kritische Analyse antisemitischer Propaganda um Fragen der Psychologie kreist, so liegt das daran, dass die Psychologie selbst das entscheidende Moment ist, welches die Propaganda strukturiert. Entscheidend für das Verständnis des Erfolgs regressiver faschistischer Ansprache ist es daher, die sozialpsychologischen Mechanismen zu verstehen, derer sich die ›Führer‹ durch ihre ›Psychotechniken‹ bedienen und die Bedingungen der Massen, die diese Ansprache ermöglichen. So gesehen scheint es selbstverständlich, dass die Analyse faschistischer und antisemitischer gesellschaftlicher Kräfte aus Adornos Sicht einer tiefgehenden Erforschung der individual- und sozialpsychologischen Dynamiken und Bindungskräfte bedarf. Umso überraschender wirkt auf den ersten Blick Adornos vehemente Warnung vor einem Psychologismus, d. h. einem methodischen Reduktionismus, demzufolge die Formation und Herrschaftspotenziale faschistischer Kräfte allein auf den Bereich des Psychologischen zurückgeführt 1
Vgl. hierzu etwa Simmel (1993); für einen Ideengeschichtlichen Überblick siehe auch Jay (1981), bes. Kapitel III.
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werden könnten. Ihren Höhepunkt findet diese ›Psychologismus‹-Kritik, die sich von der frühen Kierkegaard-Schrift an wie ein Leitfaden durch das Denken Adornos zieht, in der Behauptung, dass »jeder Versuch, [...] [die Wurzeln des Faschismus] und seine historische Rolle psychologisch zu erklären, noch auf der Ebene solcher Ideologien [...] verbleibt, die vom Faschismus selbst verbreitet werden.« (Adorno 1951: 505)
Anders ausgedrückt: Die psychologistische Sozialtheorie ist kein bloßer Lapsus oder unverdächtiger Teil interdisziplinärer Arbeitsteilung, sondern beruht auf höchst problematischen Prämissen über das Wesen und Wirken des Sozialen. Dann aber stellt sich die Frage, wie sich diese vermeintlich widersprüchlichen Aussagen zur Bedeutung des Psychologischen für die Antisemitismusanalyse verstehen lassen. Wie ließe sich die elementare Analyse der psychologischen Triebkräfte hinter der sozialen Gewalt antisemitischer Überzeugungen beibehalten, ohne einem methodischen Reduktionismus des Psychologismus zu verfallen? Ein Hinweis findet sich in einem von Adorno zusammen mit Max Horkheimer verfassten Kommentar zu den berühmten Studien zum autoritären Charakter. Um den Eindruck zu vermeiden, die Autor:innen der primär psychologisch formulierten Studien verträten die Ansicht, mit der Analyse der potenziell faschismusanfälligen Persönlichkeitsstruktur sei bereits die Lösung für die Frage nach dem Faschismuspotenzial einer jeweiligen Gesellschaft beantwortet, heißt es hier: »Die Strukturwandlungen der Gesellschaft als eines Ganzen verwirklichen sich nicht bloß in einer eigenen Dynamik, die verhältnismäßig unabhängig von den Einzelnen ist, sondern auch durch die Einzelnen selber hindurch.« (Adorno/Horkheimer 1952: 361f.)
Die subjektiven Dispositionen, die Individuen und Gruppen anfällig für antisemitische Agitation machen, sind in ihrer psychologischen Gestalt immer auch gesellschaftlich bedingt. Während sie als psychische Kräfte fraglos eine Eigenmächtigkeit haben, sind sie doch auch nicht freistehend, sondern befinden sich zugleich in einem dynamischen Verhältnis zu einem sozio-historischen Entwicklungszusammenhang: Zwischen subjektiver Psyche und sozialer Welt besteht ein sich wechselseitig bedingendes, dialektisches Verhältnis. Vor diesem Hintergrund lässt sich Adornos Antisemitismusanalyse bereits genauer fassen und der vermeintliche Widerspruch einer antipsychologistischen Psychologie des Antisemitismus in erster Annäherung auflösen: Die Herausforderung, vor die eine kritische Theorie des Antisemitismus gestellt ist, besteht darin, eine Psychologie des Antisemitismus zu formulieren, ohne jedoch die Bestimmung sozialer Entwicklungen reduktionistisch auf psychologische Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. So gesehen gilt für die zum Antisemitismus 92
ADORNOS PSYCHOLOGIE DES ANTISEMITISMUS
disponierte Charakterstruktur dasselbe, was Adorno in der Negativen Dialektik über das Über-Ich als Verinnerlichung gesellschaftlicher Anforderungsstrukturen im Speziellen sagt: Eine kritische Theorie des Antisemitismus muss den Bereich des Psychologischen einbeziehen, darf jedoch nicht auf der Ebene psychologischer Dispositionen verbleiben, sondern muss durch die Erläuterung der Psychologie von verinnerlichten Zwängen und der subjektiven Beschädigung hindurch Antisemitismus als »in der Gesamtstruktur unserer Gesellschaft […] begründet« (Adorno 1948: 43) herausstellen. Kurz: Kritik der antisemitischen Psyche muss »Kritik der Gesellschaft werden« (Adorno 1966: 267). Um allerdings in diesem Sinne eine gesellschaftliche Einbettung der antisemitischen psychologischen Disposition umrissen werden kann, will ich skizzieren, inwieweit sich Adornos Analyse anhand des Begriffs des Narzissmus bzw. der narzisstischen Regression tiefergehend verstehen lässt.
2. Antisemitismus und narzisstische Regression Für Adorno (1955: 73) war der Narzissmusbegriff eine der »großartigsten Entdeckungen« Freuds. Mit Blick auf die individuelle Erscheinungsform folgt seine Lesart weitgehend der klassischen Formulierung vom Narzissmus als »libidinöse Besetzung des eignen Ichs anstelle der Liebe zu anderen Menschen« (Adorno 1954: 437) und damit der Konzeption, die Freud 1914 systematisch einführte: »Man liebt […] a) was man selbst ist (sich selbst), b) was man selbst war, c) was man selbst sein möchte, d) die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war« (Freud 1914: 156). Um die Rolle des Narzissmusbegriffs in der Antisemitismusanalyse Adornos zu verstehen, ist eine intersubjektive Perspektive hilfreich, wie sie sich etwa in der Anerkennungstheorie Jessica Benjamins findet. Im Anschluss an Hegel geht Benjamin davon aus, dass Autonomie als anerkanntes Subjekt immer nur zum Preis der gleichzeitigen Abhängigkeit vom anerkennenden Subjekt erlangt werden kann: »In dem Augenblick, da wir unsere Unabhängigkeit erreichen, sind wir davon abhängig, sie uns gegenseitig zu bestätigen. In dem Augenblick, da wir begreifen, was es heißt ›Ich selbst‹ zu sagen, müssen wir die Grenzen dieses Selbst erkennen. In dem Augenblick, da wir verstehen, daß getrenntes Bewußtsein den gleichen Zustand teilen kann, müssen wir erkennen, daß beide auch verschiedener Meinung – also uneins – sein können.« (Benjamin 1990: 35f.)
Beziehungsweisen der Anerkennung sind also notwendig ambivalent. Denn während sie der Weg zur Erfüllung relationaler Bedürfnisse sind, setzen sie doch zugleich auch voraus, dass sich die Anerkennenden in 93
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einen Zustand wechselseitiger Abhängigkeit begeben und sich somit verwundbar machen.2 Auch wenn es in Adornos Schriften keinen ausgebildeten Begriff von Anerkennung geben mag, teilt er doch mit Benjamin eine basale Hegelianische Theorie der (Inter-)Subjektivität: »[W]ir machen uns nicht dadurch zu Menschen, daß wir uns selbst als je einzelne verwirklichen, sondern dadurch, daß wir aus uns herausgehen und daß wir in diesem Aus-uns-Herausgehen zu andern Menschen in Beziehung treten und in gewissem Sinn an sie uns aufgeben.« (Adorno 1957: 164f.)
Eine Beschreibung von dem Zustand, in dem dieses In-Beziehung-Treten gelingt, und somit das verwirklicht wird, was in der anerkennungstheoretischen Terminologie üblicherweise mit der Norm der Reziprozität gefasst wird, findet sich wiederum im Aufsatz Zu Subjekt und Objekt. Hier beschreibt Adorno (1969: 743) den »verwirklichten Frieden« von Subjekt und Objekt als den »Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander«. Narzissmus lässt sich vor diesem Hintergrund beschreiben als die Abwehr bzw. Verleugnung der Tatsache, dass ›gelingende‹ Intersubjektivität nicht ohne ein Balancehalten zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe zu denken ist und damit der Ambivalenz, die für eine jede Anerkennungsbeziehung konstitutiv ist. Die narzisstische Regression ist ein Rückfall in »Allmachtsphantasien perfekten Einsseins oder absoluter Selbständigkeit« (Benjamin 1990: 136). Diese beiden vermeintlichen Auswege, »die reine Symbiose wie die reine Selbständigkeit, stellen einen Verlust der Balance dar. Beide sind defensive Verleugnungen von Abhängigkeit und Unterschied« (ebd.: 154). Wiederum drückt Adorno einen analogen Gedanken aus, wenn er in seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit bemerkt, dass »in einer sehr seltsamen Weise gerade die äußerste Erhebung des Ichs mit dem Abgrund des Ichs sich zusammenfindet« (Adorno 1964/65: 299). Anders formuliert: Von der gelingenden (Inter-)Subjektivität sind die Auslöschung und Überhöhung des Ichs gleichermaßen weit entfernt. Weniger aphoristisch findet sich dieser Gedanke über zwei oppositionäre Gestalten narzisstischer Regression in der Schrift Angstlust und Regression des Psychoanalytikers Michael Balint. Balint unterscheidet hier zwei Schemata narzisstischer Regression: Als Oknophilie bezeichnet Balint die Auflösung wechselseitiger Anerkennung in Form einer 2
Axel Honneth (1994: 64f.) beschreibt die Verschlungenheit von Freiheit und Abhängigkeit in seiner Anerkennungstheorie mit Blick auf eine anspruchsvolle Hegelianische Konzeption sozialer Freiheit ganz ähnlich: »[W]enn ich meinen Interaktionspartner nicht als eine bestimmte Art von Person anerkenne, dann kann ich mich in seinen Reaktionen auch nicht als dieselbe Art von Person anerkannt sehen, weil ihm von mir ja gerade jene Eigenschaften und Fähigkeiten abgesprochen werden, in denen ich mich durch ihn bestätigt fühlen will.«
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Verschmelzungsillusion. Die oknophile Objektbeziehung ist der Versuch, die krisenhafte Erfahrung der Unabhängigkeit des Anderen durch das Phantasma eines Zustands perfekten Einsseins zu überwinden. (vgl. Balint 1994: 25) Wenn das oknophile Subjekt sich nur gehalten fühlt, ist es im Gegenzug bereit, große Teile seine Eigenständigkeit – auf die es ohnehin kein großes Vertrauen hat – aufzugeben. Auf der Ebene der Affekte liegen dem oknophilen Subjekt vor allem Argwohn und Misstrauen nahe, da Undurchschautes und Veränderung immer mit dem Verlust des haltenden Objekts verbunden sein könnten (vgl. ebd.: 73). Die zweite Gestalt narzisstischer Regression ist der Philobatismus. Es ist die Wunschvorstellung einer Flucht in einen Zustand absoluter Selbständigkeit – auf dem Weg der Verleugnung der eigenen Abhängigkeit. Im Gegensatz zur Oknophilie, bei dem die Objektbeziehung sich durch die Verleugnung der eigenen Eigenständigkeit auszeichnet, imaginiert das philobatische Subjekt in losgelöster Autarkie ein Leben in »freundlichen Weiten« (ebd.: 30), die jedoch »mehr oder weniger dicht mit gefährlichen und unvorhersehbaren Objekten durchsetzt sind. Man lebt in den freundlichen Weiten und vermeidet sorgfältig allzu kühne Kontakte mit möglicherweise tückischen Objekten.« (ebd.)
Beide Weisen der narzisstischen Regression – Oknophilie und Philobatismus – haben vom Standpunkt der Anerkennungstheorie betrachtet den pathologischen Zug, dass sie (zum Scheitern verurteilte) Versuche darstellen, Freiheit zu erlangen, ohne den Preis wechselseitiger Anerkennung und der damit verbundenen Ambivalenzerfahrung zu zahlen. Wie also lässt sich diese Narzissmuskonzeption auf Adornos Antisemitismusanalyse anwenden? Wie auch in anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes beschrieben, folgt der Antisemitismus auf der Ebene der Ideologien, Mythen und Denkbilder einem stereotypen und unterkomplexen Welt- und Geschichtsbild, das Franz Neumann treffend mit dem Begriff der »falschen Konkretheit« (Neumann 1954: 434f.) beschrieben hat. Konkret bzw. konkretistisch ist dieses Geschichtsbild, insofern es alles Geschehen am Handeln und Entscheiden einzelner Individuen festmacht, den Geschichtsprozess »personifiziert« (ebd.: 435). Falsch ist die Konkretheit, weil sie – obgleich sie in Einzelelementen immer wieder auch ein »Körnchen Wahrheit enthält« (ebd.) – historischer Realität nicht gerecht wird. Und gefährlich ist das Geschichtsbild der »falschen Konkretheit« zuletzt, weil es negative Affekte von Hass, Ressentiment und Angst »auf bestimmte Personen konzentriert, die als teuflische Verschwörer denunziert werden« (ebd.).3 Eines der Items der Studien zum 3
Der Paradefall eines solchen »besonders gefährliche[n] Geschichtsbild[s]« (ebd.: 435) ist für Neumann den Verschwörungsmythos der Protokolle der Weisen von Zion (vgl. ebd.: 442f.).
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autoritären Charakter, in dem diese Tendenz besonders zum Ausdruck kommt und dem die Befragten mit hohen Werten auf der Antisemitismus-Skala gehäuft zustimmten, lautet entsprechend: »Viel stärker als die meisten Menschen erkennen, wird unser Leben durch Verschwörungen bestimmt, welche die Politiker insgeheim aushecken.« (Adorno 1950: 43)
Die psychischen Funktionen, die ein solcher »große[r] erklärende[r] Mythos« (Sartre 1944: 187) fürs Subjekt übernehmen kann, sind vielfältig. Im Sinne einer narzisstischen Regression kann es etwa als ein oknophiles Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung gelesen werden, wenn sozialen Krisentendenzen durch die Phantasie einer die Gesellschaft von innen heraus zersetzenden Verschwörung ein Gesicht gegeben wird, um sie zugleich einzugrenzen und von sich selbst wegzuweisen. Wiederum in den Studien zum autoritären Charakter wurde auf diesen Aspekt verwiesen, wenn es heißt, das personalisierende Denken des Antisemitismus sei immer auch »Mittel, in einer kalten, entfremdeten und weithin unverständlichen Welt sich mühelos zu ›orientieren‹« (Adorno 1950: 109). Das ›Othering‹, das dieses Selbst- und Weltverhältnis auszeichnet, d. h. die Fremdzuschreibung unliebsamer Aspekte (der eigenen Gruppe bzw. Identität), erfüllt dabei üblicherweise die Funktion, der Identität der Eigengruppe ein positives Bild zu verleihen, indem negative Aspekte abgespalten werden (vgl. Kernberg 1998: 39). In den Elementen des Antisemitismus heben Adorno und Horkheimer (1947: 216) den Konstruktionscharakter des antisemitischen Ressentiments hervor, wenn sie schreiben, wie der »faschistische Antisemitismus [...] sein Objekt gewissermaßen erst erfinden« musste, indem er Juden:Jüdinnen »als das absolut Böse« (ebd.: 177) brandmarkte und die Idee der ›jüdischen Weltverschwörung‹ zu einem flexiblen Container-Konzept machte, zum »negative[n] Prinzip als solches« (ebd.). Der sich in der antisemitischen Gedankenwelt ausdrückende Regressionswunsch nach der endgültigen Befreiung von dieser Negativität durch eine Rückkehr zur harmonischen Einheit einer ›eigenen‹ Nation bzw. ›Volksgemeinschaft‹ lässt sich lesen als ein oknophiler Verschmelzungswunsch, sprich: das Begehren, zurückzukehren in eine Phase präödipaler Undifferenziertheit. Bemerkenswerterweise betonte auch Freud bereits in seiner für Adorno maßgeblichen Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse, dass sich die regressive Masse in erster Linie durch einen Zustand erzwungener und/oder imaginierter Gleichförmigkeit ihrer Mitglieder und die (künstliche) Einebnung gruppeninterner Heterogenität durch die Eindämmung von Reflexivität, Dissens und Kritik, auszeichnet (vgl. Freud 1921: 136f.). Daher konzentriert sich die Agitation – wie schon Leo Löwenthal (1949: 202) in Falsche Propheten hervorhebt – von vornherein auf »jene, die stets nach magischen Stützen zur Festigung ihrer 96
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Persönlichkeit Ausschau halten«. Anders ausgedrückt: Die faschistische Agitation richtet sich systematisch an zu narzisstischer Regression prädisponierte Subjekte mit dem oknophilen Wunsch nach der ›Rückkehr‹ in eine Zeit der Verschmelzung bei gleichzeitiger philobatischer Herrschsucht über die so von der ›reinen‹ (Gruppen-)Identität Ausgeschlossenen. Vor diesem Hintergrund erhellt sich aus Adornos Sicht auch die Fixierung der Propaganda auf bizarre Grausamkeiten (das Blutopfer, der vergiftete Brunnen etc.), die Vergleiche der Mitglieder der »Fremdgruppe« mit »niedrigen Tieren und Ungeziefer« (Adorno 1951: 501), sowie apokalyptische Motive (vgl. Adorno 1950: 427), die das Außen der Eigengruppe als das absolut Böse zeichnen, Überlegenheitsgefühle fördern, Verlustängste anfachen und so wiederum den Verschmelzungswunsch und die Bindung an das heilsversprechende Objekt stärken – sei es die antisemitische Ideologie selbst, die antisemitische Bewegung oder – in der klassischen Massenanalyse – der antisemitische ›Führer‹ (vgl. ebd.: 417). Wenn sich somit das Konzept der narzisstischen Regression als ein hilfreiches Mittel für die Rekonstruktion der Antisemitismusanalyse Adornos zeigt, drängt sich doch auch noch einmal mehr die Frage auf, inwiefern es sich bei diesen Erklärungen nun gerade nicht um reduktionistische-psychologistische Erklärung handelt. Was hieße es, mit Adorno den narzisstisch-regressiven Charakter des Antisemitismus als »in der Gesamtstruktur unserer Gesellschaft […] begründet« (Adorno 1948: 43) zu beschreiben, womit die Kritik der antisemitischen Psyche zur »Kritik der Gesellschaft« (Adorno 1966: 267) wird?
3. Narzisstische Regression und Gesellschaft Neben der von Freud inspirierten Kritik bürgerlicher Subjektivität beruht Adornos Antisemitismusanalyse auf der marxistischen Annahme, dass das Faschismuspotenzial der bürgerlich-liberalen Demokratien auf strukturellen Widersprüchen beruht, die sich im Zuge spätkapitalistischer Sozialisation in verinnerlichte Widersprüche übersetzen. Im Kern lautet dieser Gedanke wie folgt: Eine Gesellschaft, die sich selbst als eine Gemeinschaft von Freien, Gleichen und Mündigen versteht, zugleich jedoch die Erreichung dieser Versprechen systematisch verunmöglicht, produziert (und reproduziert) einen »Zustand permanenter Regression der Subjekte« (Adorno 1963: 127).4 Zusammengenommen 4
Ein verwandter Gedanke über das Maß an Kränkung und dessen psychologischen Folgen, die sich aus der Sozialstruktur moderner liberaler Demokratien ergeben, findet sich bereits bei Max Scheler. Hier prognostizierte Scheler (1912: 8f.), »daß sich um so größere Mengen dieses seelischen Dynamites
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mit der obigen Beschreibung narzisstischer Regression lässt sich Adornos antipsychologistische Theorie der Psychologie des Antisemitismus im Grundriss dann wie folgt fassen: Antisemitisches Denken und antisemitische Agitation treiben Individuen in narzisstisch-regressive Konfliktverarbeitungsweisen, indem sie Angst- und Verlusterfahrungen reaktivieren. Deprivations- und Frustrationserfahrungen – mögen diese auf gesellschaftliche Krisenkonjunkturen durch wirtschaftliche Rezessionen und Strukturwandel zurückführbar sein oder auch auf idiosynkratisch-lebensgeschichtlichen Erlebnissen beruhen – können durch antisemitische Erzählungen einen diskursiven Rahmen (die Idee der ›jüdischen Weltverschwörung‹) und eine spezifische ›Gegenerfahrung‹ (die Illusion der Verschmelzung in der Pseudo-Solidarität der antisemitischen Gemeinschaft) erhalten. Die Eskalationstendenz des antisemitischen Denkens und der antisemitischen Politik liegt darin begründet, dass Stück für Stück alle (vermeintlichen) Krisen- und Bedrohungserfahrungen in einen Modus des affektiv hoch-dynamischen narzisstisch-regressiven Konflikterlebens kanalisiert werden. Was antisemitisches Denken und Fühlen sowie die antisemitische ›Gemeinschaft‹ dabei auf spezifische Weise falsch bzw. als fehlgeleitete Lösungsversuche immanent dysfunktional macht, ist die Kultivierung und Zementierung von Erfahrungs- und Reflexivitätsblockaden.5 Weil durch »Schiefheilungen« (Freud 1921: 159) sozialer Widersprüche nicht nur jegliche effektive Bekämpfung objektiver Missstände verhindert wird, sondern die strukturelle Regression zudem Enthemmung und Gewaltbereitschaft fördert, ist Antisemitismus sowohl Ausdruck als auch Ferment grenzenloser Konfliktverschärfung. Unter den historischen Umständen einer entfremdeten Sozialordnung, in der normative Ansprüche und deren Erfüllung systematisch auseinanderklaffen, weil die strukturellen Bedingungen »den Einzelnen solche Versagungen auferlegen, ihren individuellen Narzißmus so konstant enttäuschen, sie real so sehr
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bilden werden, je größer die Differenz ist zwischen der politisch-verfassungsmäßigen oder der ›Sitte‹ entsprechenden Rechtsstellung und öffentlichen Geltung der Gruppen und ihren faktischen Machtverhältnissen. Nicht auf einen dieser Faktoren allein, sondern auf die Differenz beider kommt es an. […] Die äußerste Ladung von Ressentiment muß demnach eine solche Gesellschaft besitzen, in der, wie in der unsrigen, ungefähr gleiche politische und sonstige Rechte resp. öffentlich anerkannte, formale soziale Gleichberechtigung mit sehr großen Differenzen der faktischen Macht, des faktischen Besitzes und der faktischen Bildung Hand in Hand gehen: In der jeder das ›Recht‹ hat, sich mit jedem zu vergleichen, und sich doch ›faktisch nicht vergleichen kann‹.« Zur Idee einer immanenten Kritik an Erfahrungs- bzw. Reflexionsblockaden als dysfunktionale Krisenbewältigungsversuche von Lebensformen vgl. Jaeggi 2014: 340f.
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zur Ohnmacht verdammen« (Adorno 1963: 126), ist es aus Adornos Sicht selbst wiederum ein objektiv-strukturelles und nicht allein subjektiv-psychologisches Moment, wenn die Gesellschaftsmitglieder dazu tendieren, Entladung, Entlastung und Ersatz für ihre Entbehrungen zu suchen. Und dies geschieht üblicherweise in der Form der Identifikation »mit der Macht und Herrlichkeit des Kollektivs« (ebd.: 118) und dem damit verbundenen »infantil narzißtischen Vorurteil«, »man selber sei gut und was anders ist, minderwertig und schlecht.« (ebd.) Was das Motiv des Narzissmus bzw. der narzisstischen Regression in den Schriften Adornos für seine Antisemitismusanalyse aus sozialphilosophischer Perspektive interessant macht, ist die Verschränkung der explanatorischen und der normativen Ebene: In explanatorischer Hinsicht ist der Narzissmus (in der Gestalt der Kränkung) ein Brückenkonzept für den dynamischen Zusammenhang von Subjekt- und Sozialstruktur. Denn die Bestimmung der narzisstischen Kränkungspotenziale der entfremdeten und entfremdenden spätkapitalistischen Sozialstruktur bietet Adorno die Möglichkeit, den Zusammenhang von objektiven Vergesellschaftungsbedingungen und subjektiven Konstitutionen zu thematisieren. Damit verbunden hat die Antisemitismus-Analyse anhand des Narzissmusbegriffs eine normative Dimension. Den narzisstisch-regressiven Charakter antisemitischer Denkmuster, Einstellungen und Politikformen herauszustellen, ist nicht nur Analyse, sondern zugleich auch Kritik – und dabei nicht einfach nur im Sinne einer politischen Präferenz, sondern als Ausweis einer immanenten Dysfunktionalität noch für die politischen Subjekte, Gruppen und Sozialstrukturen, in deren Politik sie zum Ausdruck kommen. Der Rückgriff auf den Begriff der narzisstischen Regression erlaubt es, den regressiven Charakter antisemitischer Anschauungs- und Agitationsformen als doppelte »Verständigungsblockade« (Jaeggi 2014: 350) zu beschreiben: Denn zum einen steckt im Antisemitismus eine Reflexivitätsblockade der Subjekte gegenüber ihrer inneren Welt, zum anderen ist das antisemitische Weltbild schlicht weg falsch im Sinne der »falschen Konkretheit« – sprich: eine Verkennung der äußeren Realität. Denn mit Blick auf die äußere Welt setzt das von oknophilen Verlustängsten getriebene Verschwörungsdenken allen ›Deutungsversuchen‹ sozialer Missstände immer schon vornherein den engen Rahmen personalisierender Erklärungen voraus. Eine nuancierte Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit struktureller Dynamiken und Herrschaftsverhältnisse ist so ausgeschlossen und die Rolle des Sündenbocks findet stets »eher einen Popanz als wirkliche Gegner« (Adorno 1946: 152). Die Fixierung der narzisstisch-regressiven Individuen auf manichäische Differenzkonstruktionen und die zwanghafte Betonung der »Verschiedenheit vom Draußenstehenden« (Adorno 1951: 500) führt auch intra- und intersubjektiv unweigerlich zu einer Unfähigkeit, tatsächliche Bedürfnisse, Differenzen und Interessenkonflikte angemessen wahrzunehmen. 99
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Denn das antisemitische Ressentiment hat eine »relative Unabhängigkeit vom Objekt« (Adorno 1950: 109), insofern es – abgesehen von der historisch kontingenten Verfügbarkeit eines diskursiven Rahmens an stereotypen Denkformen und Schauermythen über die ›Opfergruppe‹ – in erster Linie »von den psychischen Bedürfnissen und Trieben des Subjekts abhängt« (ebd.: 110). So erklärt sich nicht zuletzt, dass antisemitische Ressentiments ihrem Gehalt nach höchst widersprüchlich gefüllt werden können und sich anschlussfähig gezeigt haben an die Kritik des Sozialismus wie des Liberalismus, des Kapitalismus wie der Aufklärung, der Urbanität, Mobilität und der Intellektualität. Entsprechend vage ist daher auch die eigentliche politische Programmatik des Antisemitismus, die in den Worten Adornos und Horkheimers auf nichts hinausläuft als die Idee, dass von der »Ausrottung« aller Juden:Jüdinnen »das Glück der Welt abhängen« (Adorno/Horkheimer 1947: 177) soll. Verknüpft mit dieser Verkennung der äußeren Realität ist es für das antisemitische bewusstlose Bewusstsein zudem unmöglich – und dies war dem von der marxistischen Idee der Ideologiekritik geprägten Adorno wichtig – seine eigene herrschaftsstützende Rolle zu erfassen. Ähnlich wie Sartre, wenn er den Antisemitismus »eine bourgeoise und mystische Darstellung des Klassenkampfes« (Sartre 1944: 187) nennt, enthält Adornos Antisemitismusanalyse die ideologiekritische These, dass der Antisemitismus qua Ablenkung von den ›wirklichen‹ Widersprüchen immer auch die bestehenden Herrschaftsverhältnisse stützt – und damit jene Leiderfahrungen an Entfremdung und Ausbeutung verlängert, denen er zumindest zum Teil auch entspringt. Als Versuch einer narzisstisch-regressiven Ausflucht vor Ambivalenz und Ambiguität ist Antisemitismus zudem immer auch eine nach innen gerichtete Reflexionssperre des antisemitischen Subjekts gegenüber der »fremden Welt in sich« (Mitscherlich 1951: 419), also gegenüber der unbewusst gewordenen lebensgeschichtlichen Gewordenheit und sozialen Bedingtheit. Wenn die antisemitische Agitation als »organisierte Gedankenflucht« (Adorno 1946: 153) zu bezeichnen ist, dann deshalb, weil sie die konzertierte Verdrängung der Einsicht in die psychologische Funktion antisemitischer Ressentiments und Denkweisen ist – denn mit der Einsicht wäre die Funktion gewissermaßen entzaubert. Gerade weil die oknophile Verschmelzungsfantasie eine so fragile Illusion ist und nur durch eine Herabstufung des epistemischen und reflexiven Vermögens der Menschen anzunehmen ist, wird »jederlei Kritik [...] als narzißtische Einbuße übelgenommen und ruf Wut hervor« (Adorno 1951: 500). Denn das ›Funktionieren‹ der Illusion, man sei das Opfer dämonischer Bünde, der Abspaltung aller unerwünschten Aspekte des »eigenen« sowie die »künstliche Regression« (ebd.: 505) und der kollektive Narzissmus der von Verschmelzungsfantasien ergriffenen Masse beruhen alle darauf, von der Selbstreflexion unangetastet zu bleiben. 100
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Adornos psychologisch-antipsychologistisches Konzept einer gesellschaftlich induzierten narzisstischen Regression erlaubt es ihm somit zu beschreiben, dass die unheilvolle Macht der Psychologie des Antisemitismus darauf beruht, dass es Kraft sozialbedingter ›künstlicher Regressionen‹ gelingt, defizitäre Krisenbewältigungsstrategien mit realen Erfahrungen der Deprivation zu verknüpfen und diese in der Abwärtsspirale eines Kults einer ›Politik der Angst‹ zu fixieren. Der kritische Maßstab, der sich über das anerkennungstheoretische Konzept des Narzissmus bzw. der narzisstischen Regression erschließt, gründet in der Annahme, dass gelingende Differenzierung nur durch die intersubjektive Verwirklichung der Norm der Wechselseitigkeit und einer Akzeptanz der unausweichlichen Ambiguität gelingender Anerkennungsbeziehungen zu erreichen ist. Wie Adornos antipsychologistische Psychologie des Antisemitismus zeigt, ist das antisemitische Ressentiment die einer entfremdeten Gesellschaft entspringende Antithese dieser Norm.
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Antisemitismus zwischen absoluter Distanzierung und ambivalenter Objektnähe Der Begriff der Mimesis in der Dialektik der Aufklärung 2016 gewann der ungarische Film Son of Saul einen Oscar für den besten fremdsprachigen Beitrag. Der Film handelt von Saul, der als Angehöriger des Sonderkommandos in Auschwitz versucht, ein Kind zu begraben, das er für seinen ermordeten Sohn hält. In einer Szene schleicht sich Saul auf der Suche nach der Leiche heimlich in einen Obduktionsraum und wird von einer Gruppe SS-Männer entdeckt. Auf die spöttisch-bedrohliche Frage, was der Anlass seines Besuches sei, antwortet Saul »putzen« und unterstreicht das Gesagte mit einer minimalen Geste: Er hebt seine Hände auf Brusthöhe und deutet mit einem unsichtbaren Schrubber eine kreisförmige Bewegung an. Die kurze menschliche Regung des Häftlings wird sofort von einem der SS-Männer aufgegriffen. Er wiederholt die Geste, übertreibt sie und geht innerhalb von Sekunden zu der Imitation vermeintlich ›jüdischen‹ Verhaltens über. Er ruft »Oi, oi, oi!«, wirft die Hände in die Luft und tanzt um den verängstigten Saul herum, während sich seine Kameraden amüsieren. Obwohl Saul der Situation ohne zusätzliche Bestrafung entkommt, ist die Szene von einer unerträglichen Brutalität. Am Ort absoluter Entmenschlichung wird Saul noch einmal gedemütigt. Während in unmittelbarer Nähe die Leichen der ermordeten Jüdinnen und Juden verbrannt werden, spielt sich im Obduktionsraum eine Szene ab, die jede:r Kinobesucher:in vom Schulhof kennt: Eine Person wird durch Imitation verhöhnt. Spöttisches Anschmiegen an das Opfer und direkte Gewalt sind kaum voneinander zu trennen: Der SS-Mann schubst Saul brutal, bevor er ihn final dazu auffordert, gemeinsam einen vermeintlich ›jüdischen‹ Hochzeitstanz aufzuführen. Die Geschichte von Saul ist fiktiv. Trotzdem kann die beschriebene Szene als Illustration für einen zentralen Gedanken der Elemente des Antisemitismus1 in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung dienen: Antisemitismus ermöglicht nachahmendes Verhalten. »Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn 1
Im Folgenden nur als Elemente bezeichnet.
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immerzu«, heißt es an der entsprechenden Stelle. »Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt« (Horkheimer/ Adorno 1947: 208). Horkheimer und Adorno beschreiben dieses Moment des Antisemitismus mit dem Begriff der Mimesis, der auf das altgriechische Wort für ›Nachahmung‹ zurückgeht. Der »mimetischen Verlockung« (ebd.) liegt das ambivalente Verhältnis des:der antisemitischen Täter:in zu seinem jüdischen Opfer zugrunde. Sauls minimale Geste erregt den Zorn des Peinigers, erinnert sie doch an das, was die Zivilisation in einem langen Prozess unterdrückt hat: unmittelbares, unkontrolliertes Verhalten. Die Reaktion des SS-Mannes ist jedoch nicht nur wütend, sondern auch lustvoll. Er genießt die höhnische Nachahmung des ›jüdischen‹ Stereotyps. Bereits in dieser kurzen Beschreibung deutet sich an, dass Horkheimers und Adornos Mimesis-Begriff auf den bemerkenswerten Doppelcharakter des Antisemitismus verweist: Er bindet den Einzelnen ans Kollektiv und ermöglicht doch Momente vermeintlich individuellen Verhaltens. Diese Konstellation soll im vorliegenden Beitrag in den Blick genommen werden. Im Anschluss an Horkheimer und Adorno wird dabei folgende These vertreten: Im Moment der antisemitischen Handlung konstituiert sich eine spezifische Form der Subjektivität, die zwei konträre Momente vereint. Das mimetische Subjekt ist Teil eines machtvollen Kollektivs, erlebt jedoch zugleich Momente des kontrollierten Ausbruchs, die außerhalb der temporär begrenzten Ausnahme nicht gestattet sind. Der Mimesis-Begriff verharrt allerdings nicht auf einer deskriptiven Ebene, vielmehr verleiht er Horkheimers und Adornos antisemitismustheoretischen Überlegungen ihre philosophische Tiefe. Ausgehend von dem Begriff lässt sich Antisemitismus als Ausdruck eines grundlegend verkehrten Subjekt-Objekt-Verhältnisses beschreiben: Der Selbsterhalt zwingt den Einzelnen zur Distanzierung von der äußeren Umwelt, bringt aber gleichzeitig eine entfremdete Sehnsucht nach Objektnähe hervor.2 Der Beitrag nimmt zunächst die Geschichte des Mimesis-Begriffs in den Blick. Dabei zeigt sich, dass Horkheimer und Adorno den Terminus vorrangig aus einer biologisch-anthropologischen Tradition übernehmen, ihn aber philosophisch deuten. Im darauffolgenden Abschnitt – der die Verwendung des Begriffs in der Dialektik der Aufklärung zum Gegenstand hat – zeigt sich, dass der Terminus eine zentrale Rolle für 2
Mit dem Begriff der Mimesis beschreiben Horkheimer und Adorno die geistigen und zivilisatorischen Konstitutionsbedingungen des Antisemitismus. Mit der vorliegenden Rekonstruktion ihrer Argumentation soll keinesfalls die Relevanz ihrer eigenen ökonomischen, psychoanalytischen und religionssoziologischen Erklärungsansätze in Abrede gestellt werden. Es wird lediglich eine andere Ebene in den Blick genommen. Antisemitismus wird dabei als mögliches aber keinesfalls unumgängliches Resultat von Zivilisation verstanden.
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ihre geschichtsphilosophischen Überlegungen spielt. Die entsprechenden Ausführungen – etwa zu vermeintlichen Ur-Instinkten oder mimetischen Beschwörungen in der ›magischen Phase‹ – muten auf den ersten Blick skurril an, enthalten aber zentrale Überlegungen zur Genese des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Anschließend kann gezeigt werden, dass Horkheimer und Adorno in den Elementen an die vorangegangenen Ausführungen anknüpfen und damit den spezifischen Charakter des Antisemitismus – zwischen Distanzierung und Objektnähe, Projektion und Mimesis, Anpassung und Ausbruch – beschreiben. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Ausblick, der vor dem Hintergrund der ›Querdenken‹-Bewegung nach der Aktualität des Mimesis-Begriffs für die Antisemitismusforschung fragt.
1. Biologie oder Philosophie? Horkheimers und Adornos Interpretation des Mimesis-Begriffs Es entspricht dem fragmentarisch-essayistischen Charakter der Dialektik der Aufklärung, dass Horkheimer und Adorno zunächst nicht auf den ideengeschichtlichen Hintergrund des Mimesis-Begriffs eingehen. Einzig in den Aufzeichnungen und Entwürfen im Anhang des Werks findet sich ein expliziter Hinweis, aus welcher Tradition die Autoren den Terminus übernehmen. In dem kurzen Text Aus einer Theorie des Verbrechers verweisen sie auf die Studie Le Mythe et l’Homme des französischen Soziologen und Anthropologen Roger Caillois (1938). Dessen Verständnis von ›le mimétisme‹ fassen die Autoren folgendermaßen zusammen: Der Begriff steht für »die dem Lebendigen tief einwohnende Tendenz, deren Überwindung das Kennzeichen aller Entwicklung ist: sich an die Umgebung zu verlieren anstatt sich tätig in ihr zu durchzusetzen, den Hang sich gehen zu lassen, zurückzusinken in Natur« (Horkheimer/Adorno 1947: 259f.).
Horkheimers und Adornos Verhältnis zu dem französischen Denker war ambivalent (vgl. König 2016: 277–281). Caillois bezog sich nicht auf die lange philosophische Geschichte der Mimesis (vgl. Gebauer/Wulf 1992) – die bereits bei Platon und Aristoteles beginnt (vgl. ebd.: 44–89) – sondern stützte seine Argumentation auf die biologische Bedeutung des Begriffs: Insekten und Kleintiere passen sich an die äußere Umgebung an, um sich so vor ihren Feinden zu schützen. Caillois ging davon aus, dass Rudimente dieser Verhaltensweise im Menschen fortleben. Sie drücken sich im unterschwelligen Drang aus, sich an die »Umgebung zu verlieren« (König 2016: 281). Caillois vertrat eine Position, die dem Fortschrittsoptimismus 105
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der Aufklärung entgegenstand: Anstatt davon auszugehen, dass sich die Menschheit im Verlauf der Geschichte von der eigenen Naturhaftigkeit emanzipiert, betonte er, dass der Einzelne an biologische Dispositionen gebunden bleibt. Adorno faszinierte der »echt materialistische[…] Aspekt« (Adorno 1938: 230) dieses Denkens. Zugleich schreckte ihn die Überbetonung von biologischer Sphäre und Körperlichkeit ab. Dadurch erschienen alle Versuche des Menschen, »dem blinden Naturzusammenhang sich zu entwinden, als zufällig, isoliert und lebensfremd« (ebd.: 229). In der Dialektik der Aufklärung wird eine Position vertreten, die weder einer fortschrittsoptimistischen Hypostasierung transzendentaler Subjektivität noch Caillois Position entsprach. Anstatt den KörperGeist-Dualismus einseitig aufzulösen, nahmen sie das Spannungsverhältnis von »Fortschritt« und »Naturverfallenheit« (Horkheimer/Adorno 1947: 14) in den Blick. Im Gegensatz zum Tier, das auf ewig in seiner Kreatürlichkeit gefangen bleibt, ist der Mensch in der Lage, aus dem Naturzusammenhang herauszutreten (vgl. ebd.: 284). Er bildet kognitive Fähigkeiten aus – von der ersten Begriffsbildung bis zum wissenschaftlichen System –, die das unmittelbare mimetische Verhalten ersetzen. Diese Entwicklung verläuft jedoch keineswegs so harmonisch, wie die Texte der abendländischen Philosophie zumeist suggerieren: »Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften […]. Von der Verstümmelung betroffen ist vor allem das Verhältnis zum Körper« (ebd.: 265).
Allerdings wäre es verkehrt, mimetisches Verhalten lediglich auf einer Seite der Körper-Geist-Dialektik zu verorten.3 Mimesis steht nicht nur für naturhaftes Verhalten, das im Verlauf der Geschichte überwunden wird. Stattdessen wird der Begriff von Horkheimer und Adorno dialektisch interpretiert. Mimesis ist die Urform selbsterhaltenden Verhaltens, gerät jedoch im Verlauf der Geschichte in Konflikt mit späteren Formen der Naturbeherrschung. Die entsprechenden Schilderungen reflektieren 3
In der Rezeptionsgeschichte ist der schillernde und vielschichte MimesisBegriff oft einseitig interpretiert worden. Habermas (1981: 512, Anm. 111) behauptet beispielsweise, dass mimetisches Verhalten in der Dialektik der Aufklärung die »Rolle des Statthalters für eine ursprüngliche Vernunft« einnimmt, die im Verlauf der Geschichte von der »instrumentellen Vernunft« ersetzt worden ist. Auch König tendiert dazu, mimetisches Verhalten einseitig auf Seiten der Natur zu verorten (vgl. König 2016: 283f.). Horkheimer und Adorno betonen jedoch, dass mimetisches Verhalten bereits als selbsterhaltende Praxis verstanden werden muss. Der Begriff entzieht sich damit einer eindeutigen Bewertung: Er »schließt weder Herrschaft noch Versöhnung aus, ist weder allein unmittelbare Teilhabe an der Natur noch allein Entfremdung im Zeichen des Schreckens« (Früchtl 1986: 281, Anm. 9).
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nicht nur die philosophische Frage nach der Genese von Subjekt und Objekt, sondern verweisen bereits auf die darauffolgende Reflexion des Antisemitismus. In den Elementen wird Antisemitismus als »Mimesis der Mimesis« (ebd.: 209) beschrieben: In verzerrter Form kehren unterschiedliche Verhaltensweisen wieder, die im Prozess der Zivilisation überwunden worden waren.
2. Von der Objektnähe zur absoluten Distanzierung. Mimesis und Zivilisation In den vorangegangenen Ausführungen hat sich bereits angedeutet, dass die Dialektik der Aufklärung die Umrisse einer mimetischen Geschichtsphilosophie enthält. Die Spezifik jeder Zivilisationsstufe definiert sich durch die Gestalt, die nachahmendes Verhalten angenommen hat: »Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase, die organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der historischen, die rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt« (ebd.: 205).
Unter der ›Urform‹ mimetischen Verhaltens verstehen Horkheimer und Adorno einen archaischen Reflex: Im Moment der Gefahr gleicht sich das Lebewesen der toten Umgebung an (vgl. ebd.: 204f.). Sie betonen jedoch, dass sich bereits im Moment absoluter Objektnähe eine erste Form der Distanzierung vollzieht: Der Einzelne »erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe« (ebd.: 86).4 In den frühen »Erstarrungsreaktionen« (ebd.: 205) sind spätere Formen von Rationalität und Naturbeherrschung angelegt. Dieser besondere Charakter der Mimesis – Objektnähe bei gleichzeitiger Distanzierung – zeigt sich auch auf der nächsten Stufe menschlicher Entwicklung, die Horkheimer und Adorno als ›magische Phase‹ bezeichnen. Mimesis ist hier kein unkontrolliertes Verhalten mehr, sondern bereits im doppelten Sinne eingehegt: Aus der unwillkürlichen Erstarrungsreaktion sind unterschiedliche Beschwörungshandlungen geworden, die in ein System gesellschaftlicher Herrschaft eingebettet sind (vgl. ebd.: 37f.). Vor diesem Hintergrund verweisen Horkheimer und Adorno explizit auf das Verwandtschaftsverhältnis von magischer Praxis und moderner Wissenschaft: Beide sind auf »Zwecke« (ebd.: 27) aus, auch das Subjekt mimetischer Beschwörung zielt darauf ab, die äußere Umgebung zu kontrollieren. In Abgrenzung zu späteren Formen der Naturbeherrschung zeigt sich allerdings auch ein entgegengesetztes Moment. 4
Der Begriff der Mimikry wird in der Dialektik der Aufklärung teilweise verwendet, um die ›Urform‹ mimetischen Verhaltens zu beschreiben.
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Während in den modernen Erkenntnisprozessen – im Einklang mit der Durchsetzung des Wertprinzips – die Dinge »[o]hne Rücksicht auf die Unterschiede« (ebd.: 24) gleichgemacht werden, folgt die magische Praxis einem anderen Muster: Der Charakter der mimetischen Handlung wird durch die Beschaffenheit des zu beschwörenden Gegenstands bestimmt. Sie basiert noch nicht auf »fortschreitender Distanz« (ebd.: 27, Herv. N. L.) zu den Dingen, sondern ist auf »leibliche Nähe« (ebd.: 53, Herv. N. L.) angewiesen: Naturphänomene wie ›Wind‹ und ›Regen‹ oder das Verhalten von Tieren werden mit dem eigenen Körper nachgeahmt, sodass ein unmittelbares Verhältnis zum Objekt entsteht (ebd.: 25). Aber auch die ›magische Phase‹ wird im Verlauf der Geschichte überwunden. Der Übergang zu moderneren Formen der Naturbeherrschung ist mit einer Tabuisierung mimetischen Verhaltens verbunden: Dort, wo »nicht mehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrscht werden« (ebd.: 35) soll, müssen alle Regungen unterdrückt werden, die die kontrollierte und zielgerichtete Aneignung der äußeren Umgebung durch das Subjekt gefährden könnten. An die Stelle der Objektnähe ist endgültig das Prinzip der Distanzierung getreten. Der Impuls, sich der äußeren Umgebung gleich zu machen, ist nicht nur störendes Überbleibsel einer überwundenen Epoche, sondern stellt eine »absolute Gefahr« (ebd.: 48) für die Stabilität des Subjekts dar. In einem unveröffentlichten Entwurf Horkheimers und Adornos zum Abschnitt Begriff der Aufklärung heißt es dementsprechend: »Das Nachahmen ist der eigentliche Gegenbegriff zu dem mit der Arbeit verbundenen Begriff des autonomen Selbst: Nachahmen heißt nicht sich selbst sondern ein anderer sein wollen, gleichsam die Grenze des Ich nicht respektieren« (Horkheimer/Adorno 1942/1943: 5).
Horkheimer und Adorno beschrieben die Herausbildung des anti-mimetischen Tabus als gewaltvollen Prozess. Mit Karl Marx ließe sich sagen, dass nicht nur die Herausbildung proletarischer Subjektivität Resultat eines gewaltvollen Prozesses war, sondern die Entstehung von Subjektivität überhaupt untrennbar mit Zwang verbunden gewesen ist. Was der englischen Landbevölkerung im 17. Jahrhundert widerfahren ist und im Kapital unter der Überschrift Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation beschrieben wird, muss sich in ähnlicher Form auch auf den frühen Stufen der Zivilisation abgespielt haben: Die Menschen wurden in ihre neue Rolle »hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert« (Marx 1867: 765). Jede Spur mimetischen Verhaltens, jede unkontrollierte Reaktion auf die äußere Umgebung, ist im Verlauf der Geschichte »mit den furchtbarsten Strafen […] aus dem Bewußtsein der Menschen ausgebrannt worden« (Horkheimer/Adorno 1947: 48). An die Stelle der äußeren Natur, auf die der Mensch reflexhaft reagiert, tritt schließlich die Gesellschaft als Ordnungsprinzip. Die historische 108
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Überwindung mimetischen Verhaltens führt damit zu einer neuen Form der Mimikry: Abermals vor »die Wahl zwischen Überleben und Untergang« (ebd.: 47) gestellt, ist der Einzelne gezwungen eine »Anpassung ans Tote im Dienste der Selbsterhaltung« (ebd.: 206) zu vollziehen. Der Körper schmiegt sich nicht mehr der unbelebten äußeren Umgebung an, sondern formt sich »nach der technischen Apparatur« (ebd.: 47), die ebenso unbarmherzig wie einst die Natur das Verhalten des Einzelnen vorgibt. Anpassung wird zum Grundprinzip der Gesellschaft. In impliziter Anlehnung an Freuds (1913: 449) Diktum von der »Wiederkehr des Verdrängten« stellen Horkheimer und Adorno jedoch fest, dass sich auch das Verbot mimetischen Verhaltens nie vollständig durchsetzen konnte. Dort, wo dem Einzelnen absolute Distanzierung abverlangt wird, lebt die ambivalente Sehnsucht nach Objektnähe fort: »Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war« (Horkheimer/Adorno 1947: 51).
Es wird also eine widersprüchliche Konstellation beschrieben: Der zivilisatorische Fortschritt ist an die Überwindung des mimetischen Impulses geknüpft, bringt aber zwangsläufig die Sehnsucht nach eben diesem hervor. Dieser Gedanke bildet den Ausgangspunkt für die folgende Betrachtung des Antisemitismus.
3. Anpassung und Ausbruch. Mimesis in den Elementen des Antisemitismus Die frühen faschismustheoretischen Überlegungen des Instituts für Sozialforschung basierten auf einer Kontinuitätsthese. Horkheimer und seine Kolleg:innen gingen davon aus, dass ein unmittelbares Verwandtschaftsverhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und faschistischem Staat bestand: Das Grundprinzip liberaler Marktwirtschaft – »die Herrschaft einer Minderheit aufgrund des faktischen Besitzes der materiellen Produktionswerkzeuge« (Horkheimer 1939: 314) – wird im Faschismus keinesfalls aufgehoben, sondern erhält lediglich eine neue Organisationsform.5 In der Dialektik der Aufklärung knüpften Horkheimer und Adorno an dieser Überlegung an, radikalisierten sie jedoch. Der Antisemitismus 5
Horkheimer knüpfte an frühere Überlegungen Friedrich Pollocks (1932, 1933) zur Veränderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft und Ausführungen Herbert Marcuses (1933) zum Verhältnis von liberaler und faschistischer Ideologie an (vgl. Dubiel 1978: 34–37).
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wurde nicht nur als Ausdruck der »Ordnung, die 1789 […] ihren Weg antrat« (ebd.: 324) verstanden, sondern als Endpunkt einer »urgeschichtlich-geschichtlichen Verstrickung« (Horkheimer/Adorno 1947: 179). Dieses Kontinuitätsmoment beschreiben Horkheimer und Adorno insbesondere anhand des Begriffs der Projektion, der im Mittelpunkt der sechsten These der Elemente steht. Projektives Verhalten ist eng mit dem Prozess der Distanzierung verbunden: Der Selbsterhalt vollzieht sich nicht mehr durch Angleichung an die äußere Umgebung, sondern durch die bewusste Identifizierung von Objekten. Erkenntnis ist jedoch auf die »Vermittlung« (ebd.: 214) zweier unterschiedlicher Momente angewiesen: Die Sinneseindrücke, die das Ich empfängt, verwandeln sich nicht unmittelbar in ein Bild der Außenwelt, sondern benötigen einen subjektiven Zuschuss (vgl. ebd.). Damit ergibt sich eine prekäre Konstellation, die permanent von zwei Extremen bedroht ist: Wird die beschriebene »Verschränkung« (ebd.) zur Seite des Objekts aufgelöst, regrediert der Erkenntnisprozess zu einem bewusstlosen Positivismus, in dem das projektive Moment gänzlich verschwindet und das Gegebene lediglich von einem passiven Ich registriert wird (vgl. ebd.). In der sechsten These der Elemente nehmen die Autoren jedoch die gegenläufige Tendenz in den Blick: Wenn das Subjekt den Kontakt zur tatsächlichen Außenwelt verliert, wird ›Projektion‹ zur alleinigen Triebkraft der vermeintlichen Erkenntnis. Das Ich entwirft die Welt in »idealistisch[er]« Manier aus »dem grundlosen Ursprung« (ebd.: 214) seiner selbst. An die Stelle der bewusst vollzogenen Erkenntnis tritt die »pathische Projektion«: Der Einzelne ist nicht mehr in der Lage, »zwischen dem eigenen und fremden Anteil am projizierten Material« (ebd.: 212) zu unterscheiden. Horkheimer und Adorno betonen, dass sich mit der schrankenlosen Projektion, die zum »Wesen des Antisemitismus« (ebd.: 213) gehört, lediglich eine Tendenz entfaltet, die bereits im vermeintlich »gesunden Erkenntnisvorgang« (ebd.: 218) angelegt ist. In jeder intellektuellen Aktivität, die »absichtsvoll aufs Draußen« und damit auch immer auf das »Verfolgen, Feststellen« und »Ergreifen« gerichtet ist, liegt die Gefahr, dass »vom subjektiven Vorgang abgesehen und das System als die Sache selbst gesehen« (ebd.) wird. Die Erscheinungen der Außenwelt sollen sich ohne Rest der geistigen Ordnung fügen. Für Horkheimer und Adorno besteht also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der bürgerlichen »Gestalt des Geistes« (ebd.: 194), dessen Wurzeln sich bis in die Geschichte der frühen Zivilisation zurückverfolgen lassen, und der Ideologie des Antisemitismus. Die allgemeine Tendenz, dass sich das denkende Subjekt immer weiter vom Objekt entfernt, erhält im Antisemitismus ihren letzten und brutalsten Ausdruck. Das, was der äußeren Natur seit der Entfaltung der organisierten Selbsterhaltung geschieht, trifft schließlich die jüdischen Opfer: Sie werden als »absolutes Objekt« (ebd.: 192) eines totalen Denksystems bestimmt. Im 110
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Antisemitismus ist das Moment der Selbstreflexion endgültig suspendiert, seine Anhänger projizieren sowohl ihr eigenes Wesen als auch unterdrückte Regungen und Wünsche hemmungslos auf den imaginierten Feind. Der Antisemitismus ist damit weder Affekt noch Vorurteil, sondern kann als ein kognitives System verstanden werden, in dem sich der negative Kern bürgerlichen Denkens, »der Wahn der Autarkie des Geistes« (Adorno 1964: 628), unbegrenzt entfaltet. Der Antisemitismus integriert aber zugleich ein gegenläufiges Moment. Er knüpft an die allgemeine zivilisatorische Tendenz an, ermöglicht aber zugleich Verhaltensweisen, die dem modernen Subjekt außerhalb der Massenbewegung nicht gestattet sind. Das Prinzip der Distanzierung wird durch eine verzerrte Form der Objektnähe ergänzt. Dieses Charakteristikum des Antisemitismus nehmen Horkheimer und Adorno in der fünften These der Elemente in den Blick, indem sie auf den Begriff der Mimesis zurückgreifen. Die These beginnt mit einem Zitat aus dem dritten Teil von Richard Wagners Nibelungen-Zyklus. Siegfried richtet sich an den Zwerg Mime, der als »Judenkarikatur[…]« (Adorno 1952: 21) verstanden werden muss: »Ich kann Dich ja nicht leiden – Vergiß das nicht so leicht« (Horkheimer/Adorno 1947: 204). Das idiosynkratische Moment, das die Autoren bereits in dieser lakonischen Ablehnung entdecken, tritt noch deutlicher in den Worten hervor, die Siegfried kurz davor an den »achselzuckende[n], geschwätzige[n]« (Adorno 1952: 21) Mime richtet: »[S]eh ich dich steh’n, gangeln und geh’n, knicken und nicken, mit den Augen zwicken: beim Genick’ möchte’ ich den Nicker packen, den Garaus geben dem garst’gen Zwicker!« (Wagner 1856–1871: 29)
Die Tirade des deutschen Helden – die selbst eine vermeintlich ›jüdische‹ Ausdrucksweise nachahmt (vgl. Adorno 1952.: 21f.)6 – spricht nicht nur den antisemitischen Wunsch nach Vernichtung aus, sondern auch, worauf die judenfeindliche »Idiosynkrasie« (Horkheimer/Adorno 1947: 204) angeblich reagiert: Antisemit:innen7 beharren darauf, dass 6
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Karin Stögner weist darauf hin, dass der hebräischen und jiddischen Sprache nicht nur Unverständlichkeit, sondern auch die Nähe zu »magischen und hexischen Beschwörungen« (Stögner 2014: 39) vorgeworfen wurde. Wagners Beschreibung der »jüdischen Sprechweise« als »zischender, schrillender, summsender und murksender Lautausdruck« (Wagner 1888: 71) in seinem antisemitischen Aufsatz Das Judenthum in der Musik liegt ein ähnliches Ressentiment zu Grunde: Auch in ihrer Art zu sprechen, verhalten sich Juden:Jüdinnen angeblich mimetisch (vgl. Adorno 1952: 22). Horkheimer und Adorno verwenden die männliche Schreibweise und gehen in der Dialektik der Aufklärung nur an wenigen Stellen explizit auf Geschlechterverhältnisse ein. Im vorliegenden Beitrag wird jedoch davon ausgegangen, dass die Ausführungen grundsätzlich für Antisemit:innen
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ihre Abneigung angesichts des vermeintlichen Verhaltens der Juden wie eine Naturgewalt über sie komme. Horkheimer und Adorno betonen jedoch, dass die Reaktion keineswegs so natürlich ist, wie behauptet. Vielmehr zeigt sich an dieser Stelle die enge Verwobenheit von projektiver Zuschreibung und idiosynkratischer Ablehnung. Antisemit:innen schreiben Juden gewisse Eigenschaften zu, um anschließend angewidert auf diese zu reagieren (vgl. ebd.: 210). Der tatsächliche Ursprung idiosynkratischer Momente liegt aber in dem gestörten Verhältnis von Zivilisation und Natur: »Idiosynkrasie […] heftet sich an das Besondere«, an Natur, die sich nicht »in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft« (ebd.: 204) einfügen lässt. Der Antisemitismus stellt den idiosynkratischen Reflex künstlich her: Im Moment der vermeintlich natürlichen antisemitischen Reaktion regrediert der Einzelne auf eine vorzivilisatorische Stufe. Angesichts des imaginierten Schreckens scheint die Herrschaft des Selbst suspendiert (vgl. ebd. 204f.). Die Spezifik des Antisemitismus besteht also darin, dass er einerseits den Juden vorwirft, sich mimetisch zu verhalten, aber gleichzeitig seinen Anhänger:innen ermöglicht, selbst verzerrten Formen der Mimesis nachzugehen (vgl. ebd.: 209). Die vermeintlichen Gebärden des jüdischen Gegenübers – Mimik und Gestik, die dem modernen Gebot der Impulskontrolle nicht folgen –, werden genussvoll nachgeahmt. Horkheimer und Adorno betonen in der fünften These erneut, dass die Sehnsucht nach mimetischen Verhalten nie ganz getilgt werden konnte. Die »Versagung« ist jedoch »so total« (ebd.: 206) geworden, dass der Einzelne nicht mehr in der Lage ist, die Verdrängung bewusst zu empfinden. Die »eigenen tabuierten mimetischen Züge« (ebd.) können lediglich am Anderen – oder vielmehr: am Bild des Anderen – wahrgenommen werden. Sie greifen auch an dieser Stelle auf eine Überlegung Freuds zurück: Das Unheimliche, so stellt dieser in seinem gleichnamigen Aufsatz fest, wird als fremd und abstoßend empfunden, verweist aber zugleich auf die eigenen verdrängten Regungen (vgl. ebd., vgl. Freud 1919: 254, 259). Horkheimer und Adorno verbinden diesen psychoanalytischen Ansatz mit ihren Überlegungen zur Genese der Mimesis: Die unterschiedlichen antisemitischen Imaginationen verweisen auf verdrängte Formen nachahmenden Verhaltens. Dementsprechend ist das Verhältnis des:der Einzelnen zum vorgestellten ›jüdischen‹ Gegenüber ambivalent: Ihr vermeintliches Verhalten erscheint als abstoßend und verlockend zugleich. Der Antisemitismus verfolgt nicht nur die vermeintlichen mimetischen Regungen der Juden, sondern gibt zugleich die verdrängten Impulse für die eigene Anhängerschaft frei (s.u.). Die »offenkundige Verletzung des verschiedenen Geschlechts gelten. Zur Frage, welche Rolle ›männliche‹ und ›weibliche‹ Sozialisation für die Ausformung antisemitischer Projektionen spielen vgl. Radonić 2020.
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Realitätsprinzips« (Horkheimer/Adorno 1947: 208) darf allerdings nur unter einer Bedingung stattfinden: Die ausgelebten Regungen dürfen nicht den vorgegebenen Rahmen sprengen. Während der unwillkürliche mimetische Reflex in einen tatsächlichen Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen tritt, handelt es sich bei der antisemitischen Mimesis um eine »rationalisierte Idiosynkrasie« (ebd.). Die antisemitische Handlung gibt lediglich vor, unmittelbares Verhalten zu sein. Sie bleibt an Herrschaft gebunden: »Man darf dem verpönten Trieb frönen, wenn außer Zweifel steht, daß es seiner Ausrottung gilt« (ebd. 209). Im Moment der antisemitischen Aktivität – die vom Betrachten judenfeindlicher Karikaturen, über die Teilnahme an Massenveranstaltungen bis hin zur Ausübung physischer Gewalt reichen kann – wird temporär eine spezifische Form der Subjektivität hervorgebracht. Einerseits basiert das antisemitische Selbst auf der Grundstruktur spätbürgerlicher Subjektivität. Es folgt dem Prinzip der Anpassung, indem es sich Kollektiv und geteilter Ideologie unterordnet. Zugleich werden jedoch begrenzte Momente des Ausbruchs ermöglicht: Durch die Wiederholung vermeintlich ›jüdischen‹ Verhaltens – die phantasiert oder tatsächlich vollzogen werden kann – werden mimetische Handlungen ermöglicht, die außerhalb des vorgegebenen Rahmens tabuisiert sind. In der fünften These der Elemente werden eine Reihe unterschiedlicher mimetisch-antisemitischer Verhaltensweisen beschrieben. Dabei lässt sich zeigen, dass der Text eine versteckte Chronologie enthält: Im Antisemitismus wiederholt sich die historische Genese der Mimesis in umgekehrter Reihenfolge; er ist eine verdreht-sinistre Nachahmung des Zivilisationsprozesses. Die hämische Imitation der angeblichen ›jüdischen‹ Geste radikalisiert sich zum faschistischen Ritual und endet schließlich in der vermeintlich bewusstlosen Gewalt. Horkheimer und Adorno stellen fest, dass bereits das Bild des ›jüdischen Händlers‹ auf eine vorangegangene Epoche verweist: Angesichts der Verhältnisse im »Spätkapitalismus« (ebd.: 223), in dem die Beziehungen zwischen den Menschen vollends verdinglicht sind, erscheinen die vermeintlich ›jüdischen‹ Gebärden, »die argumentierende Handbewegung« (ebd.: 208), »Beschwichtigen« und »Zureden« (ebd.: 206), als Relikte der liberalen-kapitalistischen Epoche, die genüsslich spottend wiederholt werden. Die individuelle Nachahmung verweist jedoch bereits auf das kollektive Moment des Antisemitismus, die spöttische Mimesis ist auf Publikum und das »organisierte Gelächter« (ebd.: 209) angewiesen. Auch die verschiedenen Bestandteile der faschistischen Propagandaveranstaltung, die »ausgeklügelten Symbole, […] die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommelschlag, das monotone Wiederholen von Worten und Gesten«, zielen darauf ab, »mimetisches Verhalten zu ermöglichen« (ebd.). Horkheimer und Adorno beschreiben die antisemitische Zeremonie als die verzerrte Wiederholung eines 113
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magischen Rituals. Die Rollen von Anhänger:in und Agitator:in sind dabei klar bestimmt: Während die Masse nur strikt vorgegebene Handlungen vollziehen darf, steht der:die Anführer:in im Mittelpunkt der eigentlichen Beschwörung. All das, was dem Publikum verwehrt ist, darf auf der Bühne ausgelebt werden: »Hitler kann gestikulieren wie ein Clown, Mussolini falsche Töne wagen wie ein Provinztenor, Goebbels geläufig reden wie der jüdische Agent, den er zu ermorden empfiehlt« (ebd.: 209f.). Der Agitator repräsentiert die absolute Macht, kann aber gerade deswegen die Machtlosigkeit der überwundenen Reaktionsformen imitieren. In diesem Sinne hat »der Führer […] zugleich mehr und weniger Ich als die andern [sic]« (Horkheimer/Adorno 1943: 592). Im Moment der Massenkundgebung zeigt sich der Doppelcharakter des Antisemitismus zwischen Anpassung und Ausbruch besonders deutlich: In der Angleichung an die amorphe Masse wird der:die Zuschauer:in zum Teil der starren Macht und kann doch seine eigenen verdrängten Impulse im scheinbar entfesselten Tun des:der Agitator:in wiederentdecken. Während der Antisemitismus auf verschiedenen Ebenen Momente manipulierter Mimesis herstellt, belassen es seine Anhänger:innen nicht bei der Fantasie, sondern drängen zur Tat. Der Schrei des:der Agitator:in verbindet die Propagandaveranstaltung mit dem Pogrom. An dieser Stelle knüpfen Horkheimer und Adorno erneut an den ersten Teil der Dialektik der Aufklärung an und zeigen auf, dass eine weitere Stufe mimetischen Verhaltens in verzerrter Form wiederkehrt: »Die heulende Stimme faschistischer Hetzredner und Lagervögte« (Horkheimer/Adorno 1947: 207) ahmt den mimetischen Angstschrei nach, der einst angesichts der Übermacht der Natur ausgestoßen wurde.8 Auch hier handelt es sich keinesfalls um eine unmittelbare Form der Mimesis, in der die Naturhaftigkeit des Einzelnen Ausdruck findet. Stattdessen »enteignen« die antisemitischen Täter:innen »noch den Klagelaut der Natur« und machen ihn so zu einem »Element« (ebd.) von Herrschaft. Während der antisemitische Furor Mimesis zynisch nachahmt, wird sie auf Seiten der Opfer in ihrer ursprünglichen Form hervorgerufen. Die Täter:innen machen die Verfolgten zu dem, was sie in der Imagination schon waren: Kreaturen, die sich dem mimetischen Impuls hingeben. In ihren verzweifelten »Grimassen« spiegelt sich die Übermacht des Feindes, während ihr »Wehlaut« – wie in der Urgeschichte – tatsächlich die »Gewalt beim Namen« 8
In der bereits zitierten schematischen Chronologie mimetischen Verhaltens (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 205), an der sich die Darstellung im vorherigen Abschnitt orientiert, wird der mimetische Schrei nicht erwähnt. Allerdings beschreiben Horkheimer und Adorno im Abschnitt Begriff der Aufklärung den »Ruf des Schreckens« (ebd.: 31), mit dem die erfahrene Übermacht der Natur ausgedrückt, aber zugleich deren gewalttätiger Charakter nachgeahmt wird (vgl. ebd.: 31f., vgl. auch Liedke 1997: 85–111).
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(ebd.) ruft. Noch auf dem Höhepunkt der antisemitischen Gewalt wird damit der Verfolgungsdrang gesteigert. Die Täter:innen lassen sich »absichtlich in die Verzweiflung von Verfolgten versetzen« (ebd.), die gezwungen sind, auf die ungezügelten Impulse ihrer Opfer zu reagieren. In ihrem aussichtslosen Kampf scheinen die Gequälten »dem Ernst des Daseins« zu entfliehen, in dem nicht Mimesis, sondern »nur die Leistung« (ebd.) zählt und ziehen damit umso mehr die Wut ihrer Peiniger:innen auf sich (vgl. ebd.: 132). Auch auf dieser letzten Stufe wird deutlich, dass der Antisemitismus auf eine verzerrte und mörderische Weise die Distanz zu den Objekten seines Hasses aufhebt. Während die eigentliche mimetische Handlung eine tatsächliche Nähe zwischen dem Selbst und seiner Umgebung herstellt, können sich Antisemit:innen die Hinwendung zum Anderen nur als patriarchal und gewalttätig vorstellen. Sie ähneln damit einem »Sodomit[en]« (ebd.: 218), der seine verdrängten Regungen einzig in der Verfolgung des Tieres ausleben kann: »[A]uch der Haß führt zur Vereinigung mit dem Objekt, in der Zerstörung. Er ist das Negativ der Versöhnung« (ebd.: 225). Noch in der entfremdeten Nähe, die der Antisemitismus herstellt, setzt sich ihr Gegenteil – die kalte Distanziertheit – durch. Im Antisemitismus findet der Konflikt zwischen naturbeherrschendem Subjekt und beherrschter Natur einen Ausdruck. Während die bürgerliche Gesellschaft die Ambivalenz verdrängt, verbinden sich die beiden Pole im Antisemitismus zu einer verhängnisvollen Symbiose.
4. Ausblick. ›Der Antagonismus zwischen Philosophie und Antisemitismus‹ Im Vorwort zur Neuauflage der Dialektik der Aufklärung, der die Autoren erst nach langem Zögern zugestimmt hatten (vgl. Schmid Noerr 1987: 449–452), fragen Horkheimer und Adorno nach der Aktualität der eigenen Überlegungen. Ihre Formulierung, dass »Wahrheit« ein »Zeitkern« zukommt (Horkheimer/Adorno 1947: 9), scheint zunächst auf eine banale Einsicht abzuzielen: Eine Kritische Theorie der Gesellschaft ist darauf angewiesen, auf Veränderungen der historischen Situation zu reagieren. Der Begriff des Zeitkerns scheint jedoch in einem gewissen Widerspruch zur Dialektik der Aufklärung zu stehen. Das Werk enthält ja gerade eine überhistorische Zivilisationstheorie: Das Heraustreten der Menschheit aus dem Naturzusammenhang schlägt in eine neue Form von Herrschaft um. Von dieser grundlegenden Einsicht distanzieren sich Horkheimer und Adorno im neuen Vorwort nicht. Der Begriff des Zeitkerns bezieht sich offenbar auf eine andere Ebene: Herrschaft – über die äußere Natur, das eigene Selbst und Andere (vgl. Schiller 115
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2006: 206) – nimmt im Verlauf der Geschichte unterschiedliche Formen an. Neben der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ändert sich der Charakter der Subjektivität, der technische Fortschritt hat Einfluss auf den Arbeitsalltag und die Sphäre der kulturellen Produktion. Eine Aktualisierung des Mimesis-Begriffs für die aktuelle Antisemitismusforschung müsste diese unterschiedlichen Ebenen in den Blick nehmen. Ausgehend davon ließe sich beschreiben, welche Gestalt die Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse angenommen hat und welche Formen der Sehnsucht nach mimetischen Ausbrüchen damit korrespondieren. Auf Grundlage einer solchen Aktualisierung ließe sich etwa diskutieren, ob bestimmte Charakteristika der Querdenken-Proteste mithilfe des Mimesis-Begriffs beschrieben werden könnten. Einerseits bietet die Bewegung dem Einzelnen ein neues Kollektiv zur Anpassung, nachdem die Mehrheitsgesellschaft ihn vermeintlich ausgeschlossen hat. Andererseits ermöglicht es die Sicherheit der Gruppe, gegen althergebrachte Verhaltensregeln zu verstoßen. Im Protest gegen die ›Corona-Diktatur‹ ist es erlaubt und angebracht, sich zu verkleiden, singend und tanzend durch die Straßen zu ziehen und teilweise jegliche Kontrolle zu verlieren. In dieser Hinsicht könnte im unmittelbaren Sinne von mimetischen Ausbrüchen gesprochen werden, die in den Dienst einer reaktionären Bewegung treten. Vor diesem Hintergrund ließe sich weiter diskutieren, inwiefern sich die Rollen von Teilnehmer:innen und Agitator:innen verändert haben. Während in den Beschreibungen Horkheimers und Adornos das Publikum zunächst nur indirekt an den mimetischen Ausbrüchen des Anführers teilhaben darf, ermöglichen die Querdenken-Proteste impulsive Ausbrüche auf breiter Ebene. Die Bedeutung des klassischen Anführers scheint geringer geworden zu sein. Auch auf ideologischer Ebene könnte es sich als fruchtbar erweisen, den Begriff der Mimesis auf die Querdenken-Bewegung zu beziehen. Hier zeigt sich ebenfalls ein bemerkenswertes Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität: Querdenker:innen beanspruchen, die Werte und Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft zu verteidigen, greifen diese aber zugleich an. Bereits im Namen Querdenken zeigt sich das ambivalente Verhältnis der Bewegung zu den etablierten Denkformen der Gesellschaft. Es wird beansprucht, quer – also besser und anders als die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft – zu denken. Konkret drückt sich das in einer scheinbar widersprüchlichen Verbindung von Hyper-Wissenschaftlichkeit und AntiWissenschaftlichkeit aus. Querdenker:innen sind »geistig prätentiös und barbarisch anti-intellektuell« (Adorno 1959: 118) zugleich.9 Sie beziehen 9
Adorno charakterisiert mit diesen Worten das Phänomen der ›Halbbildung‹. Eine ausführliche Beschäftigung mit dem Begriff findet sich in seiner Theorie der Halbbildung (vgl. Adorno 1959). Der Terminus wird allerdings auch schon in den Elementen verwendet: »Halbbildung« zeichnet sich dadurch
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sich auf die Expertise von vermeintlich anerkannten Wissenschaftler:innenn und betonen die Notwendigkeit eigener Recherchen. Die Wissenschaftsgläubigkeit der positivistischen Moderne wird so auf bizarre Weise nachgeahmt. Gleichzeitig integrieren sie esoterische Glaubenssätze, die durchaus an magisches Denken erinnern. Die Überbetonung von Prinzipien wie »Natürlichkeit, Körperlichkeit« und »Authentizität« (Frei/Nachtwey 2021: 37) stellt eine vermeintliche Nähe zum Gegenstand her. Bereits diese kurzen Überlegungen zeigen, dass die Antisemitismusforschung auf die Ansätze der Kritischen Theorie angewiesen bleibt. Sie hält nicht nur Instrumente zur Analyse verschiedener Ausdrucksformen des Antisemitismus bereit, sondern nimmt dessen Kritik zum Ausgangspunkt für die Selbstreflexion philosophischen Denkens. Im letzten Absatz der sechsten These der Elemente, die ursprünglich den Abschluss der Dialektik der Aufklärung bildete10, betonen Horkheimer und Adorno, dass erst durch die »Überwindung der Krankheit des Geistes« die »antisemitische Gesellschaft […] zur menschlichen« (Horkheimer/Adorno 1947: 225) werden könnte. Horkheimer formuliert in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft einen ähnlichen Gedanken, greift dabei aber auf den Mimesis-Begriff zurück: Angesichts der Tatsache, dass eine verstümmelte Form nachahmenden Verhaltens zum Bestandteil faschistischer Herrschaft geworden ist, wird es zur Aufgabe der philosophischen Sprache, »die Zwangslage der Natur« (Horkheimer 1947: 179) zu reflektieren. Der »mimetische Impuls« würde sich dann nicht länger in »zerstörerisches Handeln« übersetzen, sondern könnte in den »Dienst von Versöhnung« treten. »Darin besteht der fundamentale und wesentliche Antagonismus zwischen Philosophie und Faschismus« (ebd., vgl. auch König 2016: 300f.). Indem sie sich dem verhängnisvollen Wechselspiel von radikaler Distanzierung und überwältigender Nähe entzieht, bewahrt Kritische Theorie die Hoffnung auf eine Welt ohne Antisemitismus. Sie widersteht der falschen Trennung als auch der entfremdeten Vereinigung von Rationalität und Mimesis.
Literatur Adorno, Theodor W. (1966): »Negative Dialektik«, in: Gesammelte Schriften Bd. 6, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, 7–400. aus, dass sie »im Gegensatz zur bloßen Unbildung das beschränkte Wissen als Wahrheit hypostasiert« (Horkheimer/Adorno 1947: 221). 10 Die letzte These der Elemente zum ›Ticketdenken‹ war nicht Teil der Ursprungsfassung der Dialektik der Aufklärung, sondern wurde erst 1947 hinzugefügt (vgl. König 2016: 175).
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III. Zur Bildung antisemitischer Kollektive
Sandra Markewitz
Die falsche Kohäsion Zu einem Phänomen antisemitischer Praxis Mit Hermann Lübbe schauen wir auf die Historie in »fortdauerndem Vergangenheitsinteresse« (Lübbe 1995: 7). Dieses Interesse betrifft die Geschichte des Faschismus und in ihr die Praxis des Antisemitismus. Der Faschismus war, so Manfred Clemenz, »kein Betriebsunfall«, »seine Vorgeschichte reicht zurück ins fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert« (Clemenz 1972: 58). Das autoritäre Erbe aus mehreren faschistischen Regimen hatte lange formende, die Sozialität verschiedener Länder bis heute prägende Kraft – und ist in den Praxisformen erkennbar, die sich aus diesem Erbe, es umgestaltend, verschlüsselnd, wiederaufführend, gebildet haben. In der Sozialität kommt Praxisformen eine stützende Funktion zu: Sie vermitteln praxeologisch eingreifend die Sicherheit, dass die Wege der Gesellschaft gangbar und zugänglich sind. Zum anderen sind in die Stützung kohäsiv wirkende Elemente (Konventionen, Gepflogenheiten, ererbte Verhaltens- und Handlungsstandards) eingelassen. Wenn antisemitische Praxis beschrieben wird, ist daher zu zeigen, wie sie selbst kohäsiv wirkt. Dabei wird eine falsche, die Teilhabenden der antisemitischen Gruppe in die Irre ihrer scheinbaren Sicherheit führende Kohäsion gestiftet, die – aus ältester Erinnerung an möglichen Zusammenhalt kommend und durch geschichtliche Verläufe unterschiedlichster Art oftmals pervertiert – den Eindruck gibt, dass die Mitglieder der Gruppe hier einen Halt hätten und zweckhaft zu einem Ziel organisiert seien.
1. Unbewusste Einprägungen, Ausnahme und Emanzipation als Gesamtphänomen C. G. Jung schreibt im Jahr 1936 über das kollektive Unbewusste: »Es gibt so viele Archetypen, als es typische Situationen im Leben gibt. Endlose Wiederholung hat diese Erfahrungen in die psychische Konstitution eingeprägt, nicht in Form von Bildern, die von einem Inhalt erfüllt wären, sondern zunächst beinahe nur als Formen ohne Inhalt, welche bloß die Möglichkeit eines bestimmten Typus der Auffassung und des Handelns darstellen. Wenn sich im Leben etwas ereignet, was einem 123
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Archetypus entspricht, wird dieser aktiviert, und es tritt eine Zwanghaftigkeit auf, die, wie eine Instinktreaktion sich wider Vernunft und Willen durchsetzt oder einen Konflikt hervorruft, der bis zum Pathologischen, d.h. bis zur Neurose anwächst.« (Jung 2005: 51)
Wir finden hier die Sicht auf kollektive Strukturen, in der diese Kollektivität als Potentialität (bezogen auf eine mögliche Entwicklung) mit einer Typik (dem Gleichbleibenden) korreliert, die letztlich als pathologisch lesbar ist. Sehen wir von Jungs eigenen potentiell antidemokratischen Tendenzen hier ab (vgl. Wolin 2004: 63–88), ist dies in jener falschen Kohäsion der Fall, die als überwältigender Eindruck einer Gruppe als Sozialform in antisemitischer Rede- und Handlungspraxis sichtbar wird. Kollektivbildungen gehörten immer zur Pathologie des Sozialen, (vgl. Vico 2000) waren, in gewisser Weise, deren Testfall, da die Bildungen von Gruppenformen zeigen, was jenseits der Perspektive individueller Entwicklung möglich ist. Was geschieht in der Bildung des Kollektivs, das rekursiv auf die Individuen verweist, die in einer scheinbaren Summierung zu einem Korpus der Mehrzahl sich hier addieren? Kann in dieser Addition auch eine Subtraktion liegen, ist die Erscheinung der Masse praktisch von bedingtem Wert (vgl. Le Bon 1951: XXVIII)? Gruppenbildungen waren immer behaftet mit ihrer Unwahrscheinlichkeit. Gruppen sind durch die Aufladung mit sozialen Valeurs und Wertüberzeugungen ambivalent und anfällig und überhaupt bedroht, durch viele Umstände zerstört zu werden. Insbesondere Emanzipationsprozesse, die ohne den Gedanken sozialer Gruppenbildung nicht auskommen, waren zweideutig, die lineare Auffassung von Bedeutungsbildung herausfordernd. Ein Beispiel gibt Wilhelm von Humboldt, dem ein großer Teil der Fürsprache für die Juden auf dem Wiener Kongress zu verdanken war. Er schrieb an seine Frau Caroline von Humboldt in der mit größerer Offenheit konnotierten Privatkommunikation, er liebe eigentlich auch nur ›den Juden‹ en masse und gehe ihm en detail sehr aus dem Wege (vgl. Arendt 1955: 44). Arendt zitiert diesen Satz im Totalitarismus-Buch, um die hier schockierend, aber erwartbar ausgedrückte Ambivalenz der jüdischen Emanzipation weiter auszuführen. Dass die Fürsprecher der jüdischen Emanzipation sich immer wieder mit den Detailphänomenen nicht abgeben wollen und zugleich mit den Details – en Ausnahmen von Juden:Jüdinnen – argumentieren, lässt jene Gewalt epistemisch, symbolisch und körperlich-konkret persistieren, die jenseits der zugestandenen Ausnahme das Gewöhnliche, die Menge oder Masse als mögliches Gesamt der Emanzipierten, das aus tatsächlichen Individuen besteht, nicht gelten lässt. Der Begriff ›Hofjudentum‹ weiß mehr als er bezeichnet. Beim Hören des Wortes fällt zunächst sein Exklusionswert, gerade nicht sein Integrationswert auf. Wie jede Ausnahme über die aufkommende 124
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Gleichberechtigung einer Mehrzahl beruhigt, sagt: Nur in euren besten Verkörperungen dürft ihr an unserem sinnhaften Spiel teilnehmen, ist auch im Fall der Judenfeindschaft die Ausnahme der Feind tatsächlicher mehrheitlicher Integration. Was nur in der Form der Ausnahme zugelassen wird, hat zu tragen, dass sein Gewöhnliches weiterhin abgelehnt wird. Die ›Nation in der Nation‹ (das jüdische Kollektiv in einer Nation als Staatengebilde), so Arendt über ›die Juden‹ und ihre Stellung im politischen Kollektivum, sicherte ihnen nur jenen zweideutigen Aufschwung, der von denen, die ihn gewähren, jederzeit zurückgenommen werden kann, wenn die Umstände dies erfordern: »Diese Entwicklung sicherte den Juden trotz aller formalen Gleichberechtigung wiederum ein Sonderschicksal, weil sie verhinderte, daß die Juden sich in das neu entstehende Klassensystem der Nationalstaaten eingliederten. Zwar hatte die nationale Gleichheit, auf der die neue Staatsform beruhte, sich so weit durchgesetzt, daß im großen ganzen die ehemals herrschenden Gruppen politisch entmachtet und die ehemals unterdrückten Klassen politisch befreit, dafür aber auch des wirtschaftlichen Schutzes der alten Ordnung verlustig gegangen waren; aber die Gleichheit wurde in ihren konkreten Auswirkungen sofort rückgängig gemacht durch das Entstehen der Klassengesellschaft.« (ebd.: 49f.)
Man blieb in der Klasse, der man durch Geburt angehörte. Das Versprechen der nationalen Gleichheit wurde dadurch unterhöhlt, der eigene Platz war nicht so disponibel wie es schien – emanzipatorisches Begehren ist immer auch solches der Disponibilität, der Verschiebbarkeit von Standards, der Änderung eingeschliffener Reiz-Reaktionsschemata im Sozialen. Die Nation in der Nation ist nicht die Nation. Dies ist kein truism, sondern Quelle des Unrechts im gesellschaftlichen Zusammenhang. Die Kohäsion der judenfeindlichen Gruppe ist trügerisch, weil die Gruppenidentität der ›den Juden‹ feindlich Gesonnenen darauf basiert, über die tatsächlichen Bedingungen der Subjektbildung am feindlichen Ort zu schweigen. Nicht Subjekte verbünden sich, um auszuschließen, sondern der Ausschluss konstituiert erst die Subjekte, die auf einer basalen Stufe die Existenz als Subjekte nur prätendieren, bis der Ausschluss greift. Damit beruht der Zusammenhalt der ausschließenden Gruppe auf einem logischen Fehler. Die hasserfüllten Subjekte, die sich über Exklusionsmechanismen ins Kollektive auflösen – zugleich sich subjektivieren, wo kein Subjekt war – und so scheinbar an einer Sinnerfahrung als Herrschaftserfahrung qua Ablehnung partizipieren, sind noch gar keine, bevor der Ausschluss stattfindet. Dies bedeutet, dass Ordnungsvorstellungen wie der Sozialitäten konstituierende Gegensatz von Individuum und Kollektiv einer erneuten Betrachtung unterzogen werden müssen. Nicht immer sind Gruppenbildungen in dem Sinne intakt, dass die sie konstituierenden Subjekte intakt wären. Die verachtenden Subjekte sind 125
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sich ihrer selbst unsicher. Sie sind keine wirklichen Individuen und können daher kein festes Kollektiv bilden. Ihr Hass ist ein nur vorläufiges Bindemittel, eine vorübergehende, fragile Norm, kaum dies. Es sind jene Akteur:innen, die in den Studien zum autoritären Charakter als solche beschrieben werden, die ihre »verborgenen Tendenzen« (Adorno 1951: 5) nicht kennen, d. h. in deren Selbstwahrnehmung die feindselige Ablehnung anderer und deren totalitärer Zuschnitt ein vorreflexives Ignoramus bleiben. Die Ablehnung, der Hass auf ›die Juden‹ bedeuten daher nur scheinbar eine gemeinsame Kenntnis der Verächter, der geteilte Grund der falschen, da nur scheinbaren Kohäsion ist vielmehr epistemische, soziale und kulturelle Blindheit, die politisch wirksam wird.
2. Gruppe, Umwelt und Kontextualisierung George Caspar Homans bringt bereits in The Human Group (1950) auf den Punkt, »daß die Gruppe eine Grenze ist und jenseits dieser Gruppe ihre Umwelt beginnt.« (Homans 1969: 104) Die Gruppe als Grenzphänomen ist etwas anderes als eine Gruppe, die Freiheit oder Zusammenhalt in eine Umwelt hinein initiiert. In der frühen Definition, die mehr besagt als eine System-Umwelt-Differenz, ist der Gewaltcharakter der Gruppenbildung ausgesprochen. Ist die Gruppe nach Homans dann einfach ein Äußeres abweisender Organismus, d. h. könnte die Organizität im Aufbau als ein unabweisbar Natürliches genommen werden, wie auch die Natur in ihrem zyklischen, ewigen, unvermeidlichen Rhythmus Entwicklungen zulässt und untersagt? Dies würde die Gruppe vor Tendenzen schützen, die der beruhigenden Kreisförmigkeit des Zyklischen entgegenständen. Aber die Gruppe ist menschengemacht. Ihre Grenzen sind, anders als in zyklischer Tönung, nicht in ewiger Wiederholung begriffen. Homans schreibt, hier läge die Gefahr eines Missverständnisses vor: »Jedesmal wenn wir die Wörter organisiertes Ganzes oder – mehr noch – Organismus im Zusammenhang mit Gruppen und Gesellschaften verwenden, setzen wir uns der Gefahr eines Missverständnisses aus. Man wird sofort denken, wir meinen, die Gruppe sei ein Organismus, ähnlich dem uns vertrautesten Organismus, dem menschlichen Körper.« (ebd.: 105, Herv. i. O.)
Anders als der menschliche Körper, der seiner Umgebung gegenüber bereits aus seiner Konstitution heraus einen stabilen Zustand aufrechterhalten kann, ist die Gruppe nie völlig passiv, nie nur gutes Funktionieren bei unterschiedlichen Umweltbedingungen. Die Gruppe ist weniger darauf angelegt, größere Veränderungen zu überstehen, wie der menschliche Körper es kann, auch wenn in Krisenzeiten Menschen zusammenstehen. Das macht die Gruppe anfälliger für jene Elemente ihrer Bildung, 126
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die sich über sich selbst betrügen und in der Entstehung des kollektiven Artefakts aufwerten, wo das ruhige Ablaufen organischer Wirksamkeit gerade nicht greift. Die antisemitische Gruppe ist in diesem Sinne nicht wirksam, doch sie borgt sich den Eindruck der Wirksamkeit und des Zusammenhalts (als könne sie nach dem Zusammenschluss gegebene Werte angreifen), indem über die Subjektkonstitution innerhalb der Gruppe geschwiegen wird, bzw. das falsche Implikat gewollt wird, hier würden abendländische starke Subjekte sich zu einem nachvollziehbaren, auch: zu billigenden Zweck zusammenfinden. Dass dies nicht so ist, dass wir von falscher Kohäsion im Blick auf die antisemitische Gruppe sprechen können, wird deutlich, wenn wir zurückgehen zu dem Punkt des kollektiven Unbewussten, wo Kollektivität zunächst fast als Form ohne Inhalt erscheint. Wo Kollektivität nicht in Bildern gedacht wird, sondern in Formen ohne Bild, die etwas erst erwarten im Raum des Politischen bedeutet dies, sich hinter der Typik des Formalen verbergen zu können, was an die ›verborgenen Tendenzen‹ des autoritären Charakters denken lässt. Auch wenn hierin keine Zwangsläufigkeit besteht, nicht jede Gruppenbildung antisemitisch ist, gibt es die Voraussetzung eines formalen Beginns im Sinne Jungs. So muss etwas, das sich verwirklichen will, das ontologisch einen Ort einnehmen will, zunächst inhaltlich nicht in Erscheinung treten. In Erscheinung tritt stattdessen der Zusammenhalt der Form. Der Inhaltsaufschub – da der formale Zusammenschluss erst den Eindruck von Subjektivität ermöglicht – fördert den falschen Eindruck, es hätten sich in einer Gruppe bereits bestehende, sich-wissende Subjektivitäten versammelt. Volatil und unbeständig muss die antisemitische Kollektivform sich stets durch wechselnde Inhaltsschübe bestätigen. Dieses Ungefähr der Konstitution, das oft nicht gesehen wird, da nicht jede Konstitutionsbewegung von Bildern des Sozialen auf ihre archetypischen Aspekte bezogen ist, kann zu scheinbarer Ordnung führen. Wir erleben hier eine ironische Form des Bilderverbots, denn die kollektiv verachtende Gruppe sucht den Feind ja gerade durch herabsetzende Bilder, Karikaturen etc. zu entmachten und wurzelt im Bildlosen. Die initiale Bildlosigkeit der ablehnenden Gruppe hat auch damit zu tun, dass die Einzelnen, die die ablehnende Gruppe scheinbar durch Summierung herstellen, als Individuen vor ihrer Beteiligung am hassenden Kollektivsubjekt gar nicht verfügbar waren. Dies verweist wieder auf die epistemische Blindheit der falschen Kohäsion, die darauf beruht, den Eindruck der nur prätendierten Subjektbildung zuzulassen und scheinbar darzustellen. Das hassende Ich ist so fragil, wie an seinem Anfang uneingestanden und ungewusst nur etwas Formales stand, das die Kollektivität, an der es partizipiert, ins Werk setzte. Haben Kollektivbildungen wie das kollektive Unbewusste bei Jung den Zweck, Kultur und menschliche Erfahrung sichtbar zu machen und in der Typisierung zu bewahren – da die 127
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Archetypen, mit Wittgenstein gesprochen, zu unserer in der Sprache niedergelegten Naturgeschichte gehören (Wittgenstein 1984: 251) – stellt die ablehnende antisemitische Gruppe deren gefährliche Travestie dar. Denn in dieser Gruppe entfaltet sich der Anschein der Subjekte, die sich ihre Scheinhaftigkeit nicht eingestehen. So überträgt die antisemitische Gruppe ihre Exklusionswünsche in eine nicht angemessene Form des Zusammenhalts, verkleidet sie in etwas scheinbar Dauerndes, Deutliches, Durchsetzungsfähiges. Doch hinter der Travestie, der unziemlichen Verkleidung, steht eine andere Form, die der tatsächlichen, emphatischen Solidarität eines Kollektivs. Mit Francis Bacon sind die Worte des Hasses gegen ›die Juden‹ aber bloße Idole, Trugbilder des Marktes (idola fori). Sie haben mit realen jüdischen Menschen nichts zu tun. Auf dem Markt herrscht eben nicht nur der gut sokratische, friedliche verbale Austausch aller (immer schon eine durchsichtige Fiktion nur scheinbarer Kollektivität), sondern wird Exklusionsrede in der Produktion sozialer Rangfolge hergestellt. Zudem blieb das Wort, wie George Steiner (1969) betonte, angesichts des Barbarischen bestehen, was das symbolische Medium als Agenten der Vernichtung erkennbar werden ließ, nicht als Mittel freiheitlicher, emanzipatorischer Entwicklung. Gruppen haben also die doppelte Funktion, möglicherweise solidarisch sein zu können oder, im Fall der antisemitischen Gruppierung, in unreflektierter falscher Kohäsion begriffen, Festigkeit und scheinbare Subjektivierung nur zu behaupten. Beide Aspekte gehören zur immer schon gegebenen Teilhabe der Kollektivbildungen an der Pathologie des Sozialen. Die ablehnende Gruppe bezieht ihre Überzeugungskraft aus der scheinbar implizierten Stärke der Subjekte, aus denen die antisemitische Gruppe bestehe. Wer ausgeschlossen wird, konstituiert die, die ausschließen, deren Identität zuvor schwach und undeutlich war. Das Distinktwerden des Gruppenkörpers, der mit Homans nicht organisch, d. h. nicht funktional dauerhaft zu denken ist, führt zu der illusio distinkter Subjekte, die etwas vermögen. Es gibt in Gesellschaften eine tiefsitzende Abneigung oder Furcht vor Gruppen, die diese falsche Subjektbildung ahnt: »The role of the group in politics represents a major present concern. The freedom of the mob to express their hostility under the cover of lost identity, the right of a property owner to decide who his neighbors will be, the use of laws and government to change behavior, even when they cannot affect feelings – all these represent examples of why the day-to-day experiences of the average man have left him with a mistrust of groups. Few people have experienced truly democratic groups.« (Lifton 1972: 8)
Die Erfahrung der Gruppe – hier noch in der fragwürdigen affirmativen Diktion des average man – war oft eine der Ausgrenzung, Unterdrückung 128
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und Ohnmacht. Sie regulierte, was der Einzelne in Freiheit zu tun meinte, also ohne Lenkung durch die größere Einheit. Dass aber die Gruppe, die lenkt und begrenzt, in sich auf kontingente Inhaltsschübe angewiesen ist, um den anfänglich formalen Charakter der Kollektivbildung zu überwinden und Subjektbildung nur prätendiert, lässt Gruppen auch aus diesem Grund verdächtig erscheinen. Die antisemitische Rede – wir sprachen von den Trugbildern des Marktes, mit denen die antisemitische Gruppe kommuniziert – ist eine Praxisform, die sich über die Konstitution der eigenen Gruppe betrügt. Die falsche Kohäsion ist die Konstante jener Gruppen, die in der Hassrede die Bedeutungsbildung des sprachlichen Mediums selbst konterkarieren. Nicht, weil hier starke Subjekte gebraucht würden, die es in der falsch kohäsiven Gruppe nicht gäbe, sondern weil die falsche Kohäsion sich als falsche Kontextbildung um nur scheinbare Individualitäten auffassen lässt, die eine Kontextualisierung missbrauchen. Das Wort hat, mit Frege (1961: 62), nur im Satzzusammenhang Bedeutung, es ist nicht isoliert. Die antisemitische Gruppe aber prätendiert mit der falschen Kohäsion einen Anspruch, in Kontexten situiert zu werden, die den Absichten der Hassrede entsprechen, d. h. solche sind, die die Gemeinschaftlichkeit der Zeichen und der Konstitution von Bedeutung verneinen. Kontextualisiert wird in antisemitischen Gruppen etwas, das das bedeutungsstiftende Kontextprinzip im Sinne tragender Solidarität derer, die Sprache verwenden, aufkündigt. Der menschliche Kontext kann das unmenschliche Ziel aufnehmen, wird aber dadurch seines integrierenden Sinnes beraubt. Dies ist der ethische Punkt der Kontextbildung. Die Furcht vor Gruppen ist auch die Furcht, dass eine falsche, die Werte der Humanität negierende Kontextualisierung gelingen möge – und damit eine inhumane Bedeutungsbildung.
3. Die Grammatik der Verachtung. Naturalisierung des fetischisierten Objekts Die Sprache des Hasses ist eine eigene mit eigenen Entstehungsbedingungen, die trojanisch scheinbar teilhabend am sensus communis unauffällig Absichten camouflieren wie in einem Krieg. Die Grammatik der Verachtung gibt, anders als es Wittgenstein in einer Bemerkung von 1930 über die Grammatik sagte, der Sprache gerade nicht den nötigen Freiheitsgrad.1 Durch Kombination und Rekombination, durch die Kategorie der Möglichkeit der Zeichen ist Grammatik die, die eine Entwicklung geben kann. Im Gegensatz hierzu führte eine Oberflächengrammatik als 1
Vgl. Ludwig Wittgenstein, MS 107, 282, 3.2.1930.
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Selbstbeschreibung der Verächter in die Irre, die eine scheinbar starke Subjektgruppe mit kontextualisierender Kompetenz darstellten, d.h. der Fähigkeit, in menschliche Kontexte mitmenschlich einzugehen. Die tiefengrammatische Verwendung der Worte der verachtenden Gruppe2, d. h. jene, die das tatsächliche Vorkommen in den Lebenspraxen und ihrer Sprache betrifft, nicht nur eine oberflächlich korrekte Verwendung der Worte nach syntaktischen Standards, stellt sich jedoch anders dar: Wir betreten den Bereich des Politisch-Imaginären. Es bezeichnet »das Feld des Diskurses, auf dem sich Identitätsvorstellungen und Subjektivierungsweisen konstituieren. Fetischisierte Objekte werden dort hervorgebracht und naturalisiert.« (Spitta 2013: 33f.) Wir können die falsche Kohäsion der antisemitischen Gruppe – kommend von der Inhaltlosigkeit des formalen Beginns – als Naturalisierung eines fetischisierten Objekts verstehen. Das Objekt ist dabei die Gruppe selbst. In der Kollektivbildung ist, wo etwas Fetischisiertes naturalisiert wird, die Naturalisierung Komplizin des Unrechts, das inhaltlich von der in missbrauchte Kontexte hinein naturalisierten Gruppe verächtlich behauptet wird. Wo wir uns im politisch Imaginären befinden, tragen die Kontexte des Naturalisierungsversuchs nur so lange, wie die Gruppe ihre falsche Kohäsion verbergen kann, nicht zuletzt vor sich selbst. Diese Affektdimension der verachtenden Ablehnung ist vor dem Hintergrund der Überlegungen zur antisemitischen Kollektivbildung ein Schlüssel des scheinbaren Zusammenhalts. So ist in der Kollektivbildung eine Spannung, die mit jener vergleichbar ist, die der Wasserläufer braucht, um nicht unterzugehen. Zusätzlich wird die Spannung der Gruppenbildung gespeist aus Tatsachenferne, ihrer affektuell aufgeladenen projektiven und projizierenden Verfasstheit, die letztlich wie ein zu jeder Travestie bereites Phantasma anmutet. Dieses ist in verletzender Weise auf Zukunft und Zukunftsförmiges bezogen, in einem fehlgeleiteten Anspruch auf ein Futurum, das eine künftige Geltung der antisemitischen Gruppe einschließen soll – jenseits der von dieser missbrauchten gemeinschaftlichen Kontextbedingungen der üblichen Bedeutungsbildung. Antisemitische Praxis erweist sich somit als ethisch zweifelhafte unreflektierte Absage an die gemeinschaftlichen Grundlagen der Verwendung des sprachlichen Mediums. Die Ambivalenz, die die Emanzipation der Juden begleitete, wird hier im Umgang mit der Sprache selbst erkennbar: Jene Sprache, in der die Grammatik einen Freiheitsgrad bedeutet, also emanzipatorischen Absichten zuneigt, ist zugleich, zweideutig, jene, die mit Wittgenstein (1984: 299), tiefe Beunruhigungen für die bereithält, die von der ablehnenden Gruppe ausgeschlossen und zum Sonderschicksal getrieben werden. Auch die falsche Kohäsion wird von unbewussten 2
Zur Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefengrammatik vgl. Wittgenstein 1984: 478f.
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Erwartungen auf eine hier fehlgehende inhaltliche Füllung geprägt, ohne die Individualität und Unterschiedlichkeit von Juden:Jüdinnen zu sehen, die im kollektiv-aggressiven Vorurteil verdeckt wird. Indem die antisemitische Gruppe über die Konstitution ihrer Subjektstellen schweigt, erhält sich ihr Hass, indem sie verbirgt, was sie ausmacht. In der Vorkriegszeit verlagerte sich der Machtbegriff und politische Faktoren wurden zugunsten industrieller und wirtschaftlicher Kräfte schwächer (vgl. Arendt 1955: 131). Damit erhält Chestertons von Arendt zitiertes Wort, das sie auf diese goldene Spanne relativer Sicherheit der Juden:Jüdinnen in der Vorkriegszeit bezog, ein neues, paradoxes, auf unreflektierte Kollektivbildungen im Politischen beziehbares Gesicht: »›Everything is prolonging its existence by denying that it exists‹« (ebd.). In Unkenntnis über die tatsächlichen Bedingungen des leeren Subjektivierungsprozesses bleibt das präsentische Bewusstsein der antisemitischen Gruppe schwach. Es ist auch die Schwäche, in die symbolische Ordnung nur unter falschen Vorzeichen eingehen zu können – geleitet durch das vorreflexive Ignoramus der Konstitutionsbedingungen. Mit Arendts Zitat trägt aber gerade die unbewusst verneinende Haltung gegenüber der eigenen Konstitution und dem Ergebnis der falschen Kohäsion zum Bestehen – dem Aspekt des prolonging – der Gruppe bei. Die leere Subjektivität bestätigt sich, indem, die Sprache der Verachtung anderer verwendend, die Gruppe mit Spitta selbst zum fetischisierten Objekt wird, jenem Objekt, das gewohnheitsmäßig aus denen, die von der Gruppe verachtet werden, zu negierende Objekte macht. Paradoxerweise trifft sich die Objektifizierung der Verachteten mit der unbewussten Fetischisierung der Gruppe als Objekt, das die falsche Subjektivierung leerer Subjektivitäten unter der Bedingung des Ignoramus ermöglicht.
4. Geschichtliche Bedingungen: Gestaltwandel als Herausforderung Die Entwicklung der antisemitischen Gruppe als objektifizierendes Objekt scheinbarer Subjektivitäten geht weit zurück – mit den theoretischen Überlegungen Wilhelm Kornhausers (2008) ist sie bezogen auf den Auflösungsprozess der pluralistischen Gesellschaft hin zur Massengesellschaft. (vgl. Clemenz 1972: 26) Der Verlust der sozialen Bindungen habe zur Abnahme jenes Gefühls der Teilnahme und Kontrolle geführt, das Individuen der pluralistischen Gesellschaft im Unterschied zur Massengesellschaft charakterisiere. (ebd.) Es erscheint zunächst problematisch, ein Gefühl der Kontrolle als Errungenschaft der pluralistischen Gesellschaft zu sehen – Pluralität ist idealiter eine Einübung in Diversität (jenseits des Schlagworts) und das Nebeneinanderbestehen 131
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von Lebensformen, während Kontrolle, wo sie die notwendige Zivilisierung der Affekte übersteigt, im Sinne von Disziplinierung – Marcuses surplus repression – auf der Seite massenkultureller Gleichschaltung der Bedürfnisse liegt. Mit Foucault ist der gelehrige Körper par excellence die »Idealfigur des Soldaten« (Foucault 1977: 173). Jener Militarismus, der historisch die ›gepanzerten Körper‹ (vgl. Theweleit 2000: 311ff.) zu Zwecken einsetzt, die der Überlebensfähigkeit dieser Körper widersprechen, basiert auch auf der Kontrolle der vitalen Funktionen, die in der Entwicklung von Subjektivität als unvollendetem Projekt prozesshaft integriert werden müssen. Falsch kohäsive Gruppen profitieren davon, dass im philosophischen Überlieferungszusammenhang die Subjektivitätskategorie sich von der Sicherheit des Cogito wegentwickelte und letztlich, mit Wittgenstein, in einen grammatischen Konstitutionsmodus mündete. Die Entwicklung zur Massengesellschaft schwächte hier zusätzlich die Behauptung individueller Selbstverfügung. Der historische Gestaltwandel geht in diesem Sinne von dem cartesianischen Ego autem sum substantia zu Konstitutionsbedingungen des Gegebenseins, etwa in Bezug auf die Konversionsfähigkeit der Zeichen (vgl. Markewitz 2015). Geschichte als Norm, die sich dieser Zeichen und ihrer Wandelbarkeit bedient, ist auf mehrere Wege getroffen, ihr zu begegnen: Die erwähnte Panzerung (Selbst-Panzerung, um imaginierten Identitätsverlust abzuwehren), eine Anpassungsbereitschaft die darauf basiert, totalitäre Tendenzen gesellschaftlicher Strukturen im Innern wiederzufinden, schließlich ein Verständnis für die proteische Natur der Geschichte, die im Gegensatz zu naturhafter Zyklizität Eingriffsmöglichkeiten kennt. Unsere Gesellschaft ist nach den Entwicklungen der Massenkultur, die vor allem auf Lenkung und – im Jargon – Gleichschaltung der Masse verwies, als Kombination von Singularitäten sprichwörtlich geworden. Abgesehen von zeitdiagnostischer Aktualisierung ist der Befund der falschen Kohäsion in einer Gruppenbildung leerer Subjektivitäten in leerlaufender Subjektivierung ein Verweis darauf, dass Subjektivierung lange eine Verkehrsform des Wissensdiskurses war, die diesen mitbegründet hat: Wer nicht von sich als von einem Subjekt denken konnte, konnte den historischen Gestaltwandel der Sozialformen im weiten Sinne seit der Aufklärung nicht mittragen. Es geht dabei nicht darum, Subjektivität näher zu bestimmen als etwas, das essentiell für das Welterleben sei und verteidigt werden müsse, als bezeichne die falsche Kohäsion leerer Subjektivität einen zu rügenden Abfall vom alten Subjektideal, das die Kultur des Westens lange getragen hat. Auch sprachliche Begriffe sind nicht strikt voneinander getrennt, sondern besitzen eine Kapazität zur Gewöhnung an Krisen- und Untergangsszenarien. Gewöhnung kann zum einen Sicherheit schaffen, zum anderen die Mahnung verhallen lassen und als Nebengeräusch abtun, deren Signalcharakter nicht mehr auffordernd ist. Die 132
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leere Subjektivierung falscher Subjektstellen geht statt von nachweisbaren Singularitäten von einer Vereinzelung aus, die Gruppenbildung in dem Maße nur noch prätendieren kann, in dem ihr Exklusionszweck die ethische Seite der gemeinschaftlichen Bewandtnis von Bedeutungsbildung verneint. Der historische Gestaltwandel der Sozialität vermochte die ausschließenden Subjekte nicht ebenso zu wandeln; sie sind Residua vorgeblicher Stärke, die in der Eigenschaft, abzulehnen, ihre uneingestandenen ›verborgenen Tendenzen‹ bis heute aktualisieren. Nationalsozialistische Ideologie wurde mit Mason (2022: 31ff.) vor allem als Ermächtigung derjenigen betrachtet, die bisher als nicht integriert und unterlegen von sich denken mussten. Dieser Topos der Entstehung antisemitischer Überzeugungen, dass die, die nichts waren, nun etwas sein können, trifft auch auf die Gruppenbildung im Sinne falscher Kohäsion zu. Der Pluralismus hatte idealiter versprochen, Ausdrucksformen bereitzustellen, die noch heute als Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit wichtige Konstituenten dessen sind, was wir als freiheitliches Dasein begreifen. Er wurde durch Massenaspekte nicht abgelöst, sondern erhielt sich nach der Zeit der Barbarei in anderer Form, in die der Zivilisationsbruch eingegangen war. Danach sind die Gruppenbildungen falscher Kohäsion jene, die mit einem Gestaltwandel nicht Schritt halten konnten, die nicht bemerkt hatten, dass der Begriff des Zusammenhalts selbst (was man darunter verstanden hatte und nun noch verstehen konnte) ein anderer geworden war.
5. Gestaltwandel als Subjektwandel oder: die uneingestandene Schwäche Die affektive Seite des historischen Gestaltwandels wirkte in Bezug auf die behauptete, erfahrbar gewordene Subjektstärke dämpfend, eine Vormachtstellung des Ich war sowohl auf Täter- wie Opferseite nicht mehr möglich. Schuld- und Gewohnheitsaspekte kombinierten sich zu einer großen Entwöhnung von Affektformen, die den bisherigen Wissensdiskurs als einen kultureller Symbolisierungen getragen hatten. Die gepanzerten Körper hatten sich im Kriegszweck von ihrer Empfindungsfähigkeit entfernt. Diese war der (potentielle) Moment, an dem die Schlacht verlorengehen würde. Übertragen auf die Zeit nach den historischen Kampfhandlungen kämpfen die leeren Subjektstellen, die geglaubt hatten, ein Ungenügen durch Ausschließung anderer nicht nur kompensieren zu können, sondern vergessen zu machen, indem der Gestaltwandel der Geschichte so missverstanden wurde, als könne man ihn intentional handhaben, um früheren wenig geltenden Lebensformen Autorität zuzuschreiben. Indem der übliche historische Gestaltwandel jedoch instrumentalisiert wurde, 133
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missverstand man die initial gegebene Wandelbarkeit der Dinge gründlich. Das Prinzip des Proteischen wurde als Einladung verstanden, einem ohnehin bestehenden Wandel im Sinne eines wiederholt behaupteten Krisenbewusstseins eine unwahrscheinliche Hochschätzung des eigenen Standpunkts als falsche, erborgte stabilitas abzupressen. Diese erborgte stabilitas konnte nicht tragen. Sie war historisch immer unwahrscheinlich, hatte aber in Herrschaftslesarten3 Geschichte scheinbar begleitet und stabile Phasen denen geschenkt, die von den Nachteilen der jeweiligen Zeitläufe nicht betroffen waren. Historische Betroffenheit ist dabei keine schwammige Kategorie der guten Menschen, sondern eine sachliche, gar nicht zu umgehende Bezogenheit der jeweiligen historischen Realität. Wir stehen der Geschichte nicht gegenüber in einem konfrontativen Kräftemessen, sondern sie hatte unsere Kräfte entwickelt, indem wir ihre Krisen in unabgewendeter Bezogenheit (das Weltbezügliche der Weltablehnung) als unsere Prüfsteine betrachten konnten. Roger Griffin (2007: 79) beschreibt wie – in Bezug auf das eben Gesagte – Wahrheit zum Leben gebraucht wird als das, was von anderen nicht gegeben werden kann. Eine Konstituente, die man anwesend geglaubt hatte, die aber abwesend ist, da die Annahme ihrer Gegenwart dazu diente, falsche Kollektivitätsideale ins Werk zu setzen. Wer Wahrheit sucht – nicht als Pathos der Existenz, sondern notwendige Lebensbedingung – findet oft, dass schon die Suche auf einer irrigen Einschätzung beruhte: Man würde finden, was andere schon besäßen. Wenn im 20. Jahrhundert die antisemitische Gruppe in falscher Kohäsion sich über ihre Subjektschwäche betrügt, indem sie ausschließt, im Ausschließen sich versucht zu finden als Gegenmacht der Entwicklungen der offenen Gesellschaft, wird eine allgemeine Schwäche jeder Wahrheitsvorstellung deutlich. Sie verdichtet, was zumindest in einer Lebensspanne als nicht auflöslich gedacht wird. Die Konstitutionsform der ausschließenden Gruppe ist nicht auf der Höhe dieser Vorstellung; sie hadert mit dem Konzept des Offenen, Entwicklungsfähigen und sucht diesem eine Konstante des Ausschlusses entgegenzusetzen. Subjektschwäche ist dabei keine moralische Kategorie (das bejahte Bild nicht eine Phalanx der starken Subjekte, die genuine Konstitution von Gruppen und anderen sozialen Artefakten aus der Dominanz ihrer Leistungsfähigkeit generieren). Genauer ist die falsche Kohäsion als Ergebnis eines uneingestandenen Subjektwandels nicht nur die Schwäche von Subjekten selbst, sondern 3
Damit sind Lesarten der Geschichte als Siegergeschichte gemeint, die das mentalitätsgeschichtliche Klein-Klein der scheinbar Unwichtigen nicht achtet und zu Zwecken der Stabilität von Herrschaft übersieht, dass zu jeder Zeit ein nicht integrierbarer Rest – ›Unterschicht‹, ›classes populaires‹ – die Gesellschaft trägt.
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die Schwäche ihrer Konstitutionsbedingungen. Damit ist gemeint, dass nicht deutlich werden darf, dass auch die anderen die Wahrheit nicht haben. Es geht nicht um Kritik an der alteuropäischen Wahrheitskategorie in ihren unterschiedlichen Varianten. Nicht um Kohärenz- oder Korrespondenzvorstellung der Wahrheit, sondern um das Implikat eines Wettlaufs konkurrierender Sinnsysteme, in dem die Möglichkeit der Selbststärkung durch Integration in das Angebot von Terror aufgesucht wird. Die Gruppe in falscher Kohäsion lässt rückblickend sehen, dass die scheinbare Subjektstärke konstellativ, bedingungsrelativ in einem uneingestandenen Sinne und ein Vehikel war, neue Vorstellungen von Öffentlichkeit und Partizipation ins Werk zu setzen. Die stabilen Phasen der Historie weisen sich als Phasen des Terrors aus, wenn das Versäumnis, ihre Bedingungen so zu reflektieren, dass eine Wiederholung unmöglich ist, mit dem zusammentrifft, was Jung als Wiederholung beschreibt. Die antisemitische Gruppe ruft archetypische Valeurs kriterienlos auf.
6. Agitation als Annahme institutioneller Illusion und Leugnung Leo Löwenthal beschreibt in Falsche Propheten die Tätigkeit des Agitators als Auflösung jener Reaktionen, die sich der Agitation entgegenstellen könnten: »Im Gegensatz zu allen anderen Programmen gesellschaftlichen Wandels ist der explizite Gehalt von Agitationsmaterial letztlich willkürlich und zufällig – ähnlich dem manifesten Inhalt von Träumen. Die Primärfunktion all dessen, was der Agitator äußert, ist die Auflösung von Bestätigungs- oder Frustrationsreaktionen, so daß seine Zuhörer sich willig seiner Führung überlassen.« (Löwenthal 2021: 27)
Wer sich der Führung überlässt, dessen Abwehrmechanismen sind ausgeschaltet, die Plausibilisierungsstrategie des agitatorischen Aggressors mindert die vitalen Schutzreaktionen zum Einverständnis mit den Äußerungen, die anderen das Lebensrecht absprechen wie die Chance zur Verteidigung. Muten diese Aspekte psychologisch im engeren Sinne an – ein Ich überlässt sich dem Halt dessen, der verführt, um zu herrschen – gibt es bei Löwenthal auch die weitere Perspektive, die die Konstitution des politischen Körpers in seiner Schutzfunktion angesichts des Unbehagens jener betrifft, die sich in einer Sozialität auf einen untergeordneten Status verwiesen sehen: »Ein wichtiger Grundzug des Unbehagens ist das zunehmende Gefühl, daß alle Ideale und Werte und der Schutz durch Institutionen Illusionen seien. Der Agitator arbeitet geschickt an dieser Desillusionierung 135
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durch wechselweises Verdammen und Preisen der geltenden Ideologien. Er spricht als ein Verfechter von Demokratie und Christentum und beteuert, daß er ›nur die Gesetze verteidigt‹.« (ebd.: 58.)
Sieht man die antisemitische Gruppe als Agitator, ist sie zugleich als Summe jener aufzufassen, deren Abwehrreaktionen nichtig geworden sind. Im ausschließenden Zweck konstituieren auch daher schwache Subjekte in falscher Kohäsion, weil ihre Schwächung im Eindruck der scheinbaren Verzichtbarkeit institutioneller Gehalte gründen kann. Wie dem Agitator mit Löwenthal daran gelegen ist, den Schutz der Institutionen als zweifelhaft hinzustellen und die Verteidigung der Gesetze zur leeren Geste gerät, ist der, der der falschen Kohäsion verfällt, jener, der den Versprechen des Agitators geglaubt hat, um daraus eine zwiespältige, in ihrer Ambivalenz der Natur des Unbehagens in der modernen Kultur entsprechende Lebensform zu machen. Der Agitator verdammt und preist; dieser doppelte Charakter seiner Wirkung findet sich in den schwachen Subjekten der antisemitischen Gruppe, die ablehnen und darin sich begründen als solche, die ablehnen können. In diese Ablehnung ist die Annahme, Institutionen seien Illusion, eingegangen. Der Staat sorgt nicht für die, die ihn ablehnen, so die Intuition der Verächter, da er nicht für die gesorgt hatte, die ihm angehören wollten. Das macht die Ablehnung der ausschließenden Gruppe nicht verständlich. In der Leugnung der institutionellen Rahmung des historisch Geschehenden, das sich zu einem Zeitpunkt in einer Kultur ereignet, wird vielmehr jene »Scharade vom Untergang« (ebd.: 64) wieder aufgeführt, die in der Gewöhnung an Krisenszenarien als ›basso ostinato‹ (vgl. Dorowin 1991: 1) der liberalen Gründerzeit gegenwärtig war. Der sich als Revolutionär gebende Agitator (vgl. Löwenthal 2021: 65), der mit den Zuschreibungen von Geltung nach Belieben zu spielen scheint, um ein Publikum auf seine Seite zu ziehen, ist in der Inszenierung des perfiden Wechselspiels schwach – in dem Sinne, dass die Basis dieses Wechselspiels Leugnung ist, nicht Wissen oder eine temporär verfestigte Überzeugung. Die spielerische, dabei gefährdende Aufladung der Zuschreibungen von Geltung im persuasiven Bestreben, hat den Schönheitsfehler, dass sie zu nichts führt, was ursächlich der redliche oder diskursiv einholbare Grund eines Engagements gewesen war. Der Agitator wie die agitatorische ausschließende Gruppe zerstören die ethischen Möglichkeiten des Diskurses, die an das gemeinschaftliche, temporär verdichtete Fundament der geteilten Sprache rückgebunden waren. Die ethischen Vokabeln tragen nicht, die Worte sind schal, die Motivik der Agitation ist den Agitatoren nicht Movens, sondern es ist ein dunkler Grund des Ungewussten, als erstes werden »die Ideale der Universalität« (ebd.: 63) verworfen. Verworfen werden müssen sie, denn die destruierende Absicht des Agitators hält keiner Universalisierung stand. Wir dürfen die Abwehr der Universalisierung als Teil 136
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der Leugnung verstehen, die sich auf die Institutionen bezog: Der Eindruck, von ihnen nicht geschützt zu sein, verneinte jene kollektiven und kollektivierenden Strukturen, die in gelingenden Gruppenbildungen stützend wirken können und Elemente des Vertrauens beinhalten, die die falsch kohäsive Gruppe nicht kennt und durch wiederum gruppenbezogene Verachtung auszugleichen sucht. Von Agnes Hellers (1999) Überleben des Terrors bis zu der Aktualität genozidalen Denkens (vgl. Mason 2022: 405) im Internet oder den Folgen der schon bei Arendt genannten Verschwörungen über scheinbare jüdische Monopolstellungen (vgl. Arendt 1955: 81) reicht der Bogen der Verachtung. Seine Voraussetzungen bewusst zu machen, bedeutet, der Leugnung zu begegnen. Nur in wenigen Fällen kann die Leugnung der Verhältnisse dem Überleben dienen. Leugnet man aber die Strukturen, die Affektlagen wie politische Überzeugungen in ausreichender Konstanz ermöglichen, entwirklicht sich die Struktur des Sozialen: Die falsche Kohäsion antisemitischer Gruppen kann so lange Praxisform des Ausschlusses bleiben wie die Bedingungen der Praxis des Ausschlusses nicht die Subjekte (als Versprechen oder Trugbild – beides waren sie im Verlauf der Geistesgeschichte) einschließen und und reflektierend einordnen.
7. Gruppen im Historisierungsprozess und Bedeutungsbildung Die Statusform der Subjekte, die in der falsch kohäsiven Gruppe entwirklicht sind, verweist allgemeiner auf die Form der Genese der Subjekte selbst: als grammatisch, sprachbezogen, referierend darauf, wie Ausdrücke in einer Sprache verwendet werden (vgl. Markewitz 2019). Zu erinnern ist auch Wittgensteins Satz, dass »Existenzaussagen über Klassen sehr verschiedene Grammatiken« (Wittgenstein 1989: 371) haben. Die Grammatik der Existenz der ausschließenden Gruppe ist – wenn es auch nicht um eine ganze Klasse von Fällen geht, da nicht alle Gruppen überblickt werden können – darin begründet, dass ein Ignoramus am Beginn der Konstitutionsphase des Existenzeindrucks steht. Die Gruppe im Historisierungsprozess steht damit zum einen unter dem Aspekt der Selbsthistorisierung, der ihr nur um den Preis der Verzerrung der Geschichte gelingt, da sie ihre Entstehungsbedingungen in ihrer Schwäche (Subjektlosigkeit) nicht erkennt. Zum anderen ist die Grammatik der Genese der Gruppe unbekannt, da sie an Strukturen autoritärer Natur anschließen will, die vom Ausschluss des Anderen getragen sind, was dem gemeinschaftlichen, darin ethischen Aspekt der sprachlichen Bedeutungsbildung nicht entspricht.
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»Es scheint eigentlich selbstverständlich, daß die außergewöhnlichen Bedingungen, welche die Gesellschaft für die Ausnahmejuden der Bildung geschaffen hatte, sehr bald keine Rebellen mehr, dafür aber eine Tradition der Anpassung an eben diese Bedingungen erzeugen sollte. Man gewöhnte sich daran, daß man einerseits sich hüten mußte, als gewöhnlicher Jude zu erscheinen, und andererseits doch wußte, daß es für einen Juden leichter war, gerade in die höhere Gesellschaft Eintritt zu erhalten, als für einen Nichtjuden gleicher bürgerlicher Umstände. Wollten die Juden aus der gesellschaftlichen Pariastellung heraus, so mußten sie in der Tat ›zu gleicher Zeit Juden sein und Juden nicht sein wollen‹.« (Arendt 1955: 165)
Die scheinbare Stärke der besonderen Bedingungen bedeutet Anpassungsdruck und das Verwiesensein auf eine grundsätzliche Ambivalenz: Etwas sein und es nicht wollen können ist die paradoxe Existenzbedingung derer, deren Existenzrecht in der Ausnahme angefochten bleibt. Wie durch diese Ambivalenz das Rebellentum schwindet, um das Überleben zu sichern, wird der antisemitischen Gruppe nicht der Selbsteindruck schwach (ihre fehlende Kapazität zur Selbsthistorisierung deutet darauf, dass die Kohäsion falsch ist). Es ist jedoch ein Unterschied, dass die Pariastellung der Juden durch eine aufgezwungene Ambivalenz charakterisiert ist, während jene unreflektierte Konstitution der antisemitischen Gruppe in einem Ungefähr bleibt, das sich der Inhumanität ihres ausschließenden Zweckes verdankt. Etwas zu sein und es gleichzeitig nicht sein zu wollen ist auch die auf Dauer gestellte Affektlage der Krise. Das krisenhafte Subjektbewusstsein der Ausgeschlossenen ist in einen dauernden Pendelzustand versetzt, der Sicherheit, auch jene der kollektiven Strukturen (Institutionen) in ein zweifelhaftes Licht rückt. Anders als bei der Leugnung institutioneller Macht durch die antisemitischen Akteure nehmen die kollektiven Strukturen mit Arendt Juden:Jüdinnen nur um den Preis auf, ihre Identität krisenhaft zu halten. Der Wille, der auf diese Anordnung trifft, kann voluntativ nicht im vollen Sinne in die Weltläufe eingreifen, ist gebremst im Anpassungsdruck. Diese Verlangsamung, fast Lähmung, die nur noch adaptive Präferenzen gestattet, trägt dazu bei, die anderen als andere zu entwerfen. Der versagte Ausdruck des voluntativ unmittelbar Gewollten führt zu jener brüchigen Selbstkonstitution, die in der Mitleidlosigkeit des Agitators aufgegriffen wird (vgl. Löwenthal 2021: 117ff.). Schwäche provoziert hier scheinbare Stärke, die diese Schwäche hervorrief. Die antisemitische Gruppe lässt im Historisierungsprozess Bedingungen der Konstitution von Gruppen neu diskutieren: Ist Selbsthistorisierung im Zustand der Schwächung unmöglich? Trägt die Leugnung kollektiver Strukturen zum Anschluss an den Terror bei? Ist der Ausschluss verbunden mit jenem archetypischen Aspekt, der zunächst fast bildlos war und unbewusst bleib? Diese und andere Fragen sind weiter zu bedenken. 138
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Die ausschließende Gruppe präsentiert in ihrem falsch kohäsiven Zusammenhang, dass sie die Bedingungen des Mediums nicht achtet. Daher verliert sich jene Subjektförmigkeit, die den Vernunftdiskurs getragen hatte und heute mit grammatischen Vorzeichen gedacht wird, in jener Scheinhaftigkeit, die nicht erkenntnisträchtig ist. Das symbolische Medium um seine ethische Voraussetzung zu betrügen, bedeutet, Historisierung selbst auszusetzen, da eine Gegenwärtigkeit unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gedacht wird, die die gemeinschaftliche Konstitution des Mediums wie institutioneller Strukturen leugnen.
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Detlef David Bauszus
Das ›göttliche Volk‹ gegen das ›Volk Gottes‹? Fragmente zur Politischen Religion des Antisemitismus Widerstand und Kampf gegen Antisemitismus bedürfen einer klaren und eindeutigen Definition des Gegenstands der Kritik. Im Feld der politischen Auseinandersetzung mit Antisemit:innen ist es daher eine hinreichende Notwendigkeit, die gesellschaftlichen, sozialpsychologischen und ideologischen Interpretationen der Phänomenologie des Antisemitismus wissenschaftlich als einen interdisziplinären Diskurs zu begreifen. Dieser inkludiert möglichst alle sozialen Komponenten und markiert die reziproke Interdependenz-Isomorphie zwischen gesellschaftlichen Rationalitäten und individuellen Verhaltensschemata. Ich möchte mit diesem Beitrag den Versuch wagen, einen (weiteren) ›marker‹ zu setzen, und mit dem von Eric Voegelin (1938) entwickelten Begriff der innerweltlichen »Politischen Religionen« hantieren1 und somit vorschlagen, das Phänomen des Antisemitismus als Politische Religion im Sinne Voegelins zu verstehen. Dies unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von vorherigen religions-politischen Versuchen: Bisher galt die Ideologie der Täter:innenüberzeugungen als Erscheinungsform der Politischen Religion und deren antisemitische Konsequenzen als Folge derselben, beispielhaft dargelegt in der exzellenten Studie Die politische Religion des Nationalsozialismus von Claus Bärsch (2002). Mein Interpretationsansatz nimmt den ›Antisemitismus als Politische Religion‹ in den Fokus der Analysis; die Politische Religion ist somit nicht der Auslöser für Antisemitismus, sondern ›Antisemitismus ist Politische Religion‹ in Realpräsenz. Subjekt und Objekt dieser Politischen Religion residieren in einer bestimmten Auskunft über den Begriff des ›Volkes‹, welche durch die moderne nationalstaatliche Konstrukt-Logik evoziert wird. Im Fokus meines Ansatzes steht die Grundannahme, dass sich in der Herstellung politischer Kollektive nicht nur die üblich angenommenen Prozesse der Exklusion und Inklusion materialisieren, sondern dass 1
Es handelt sich hierbei mitnichten um eine ausgearbeitete ›Theorie des Antisemitismus‹, sondern um epistemologische Fragmente einer religions-politischen Hinweisgebung. Kurzum, ich habe noch viel zu lernen.
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DETLEF DAVID BAUSZUS
zugleich mit der realen Einswerdung des politischen Souveräns in der Figur des Volkes sich der Glaube an die Heiligkeit dieser Konstrukt-Imagination offenbart. Das hat die politisch fatale Folge, dass somit gleichzeitig das Anti-Prinzip des Heiligen, also die Satanisierung des Unreinen, des Verderblichen, des Bedrohlichen und Zerstörerischen in die Kommunikation der symbolischen Nation-Werdung einbricht. Die schiere Existenz des vermeintlich säkularen und dennoch sakralen ›göttlichen Volkes‹, welches nicht trotz, sondern durch den Prozess der Pseudo-Säkularisierung erneut sakral aufgeladen wird, verlangt zur phantasierten Wirkmächtigkeit seiner Attribute den geeigneten Gegenspieler. Der Glaube an das dämonisierte Gegenkollektiv wird zum notwendigen Element der Konstruktion des eigenen Volkes. Nur diese manichäische Absonderung stellt jenen Impuls zur Verfügung, die ›Geburtswehen‹ des imaginierten ›Volks-Körpers‹ erträglich zu gestalten und in den permanenten Kampf zur Konservierung von Kohärenz und Einheit als Ordnungselementen einzutreten. Die Differenz des Analyseansatzes hat weitreichende epistemologische Konsequenzen. Diese Untersuchung fragt, inwieweit die von transzendentalen Konnotationen vermeintlich gereinigten ›politischen Kollektivkörper‹ der Moderne die hergestellte Leerstelle der Legitimation und Identität mit erneuerter quasi-göttlicher Autorität ausstatten wollen und welche Konsequenzen dies für die Phänomenologie des Antisemitismus erzeugt. Dieser Prozess der Re-Sakralisierung, von Eric Voegelin mit dem Begriff der ›Politischen Religion‹ markiert, hat immense politische und soziale Folgen. Das Schisma von Immanenz und Transzendenz, von Thomas Hobbes in der noch versöhnlichen Symbolik des sterblichen Gottes, des Leviathan ikonographisch fixiert, lädt die Quelle der neuen politischen Souveränität, also ›das Volk‹, religiös auf: Das transzendentale corpus mysticum säkularisiert sich in die Heiligkeit des Volkes. Diese Apotheose des politischen Kollektivs verschärft sich, nachdem bürgerliche Revolutionen das ›göttliche Band‹ zum vormaligen ›Göttlichen Herrscher‹ vollends zertrennen. Die vorherige, nun abgerissene immanent-transzendentale Bindung (König/Herrscher-Gott) transformiert sich zu einem ausschließlich säkularen Souverän, dem ›we the people‹, mit dem Annex einer ›privaten‹ Religiosität (vgl. Hobbes 1651: 285ff.). Der Verlust des transzendentalen Konnexes reißt Fraktuierungen auf und offenbart Leerstellen. Funktionalität, Kohärenz und Symboliken des Kollektivs können nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Individuelle Sinnsuche und kollektive politische Regression manifestieren sich in Pathologien, der Rekurs in eine erneute religions-politische Sakralisierung des Kollektivs, jetzt in der Figur des ›göttlichen Volkes‹, scheint unvermeidlich. Diese Entwicklung hat für die Elemente und Attribute einer antisemitischen Phänomenologie weitreichende Folgen. Die Symboliken des 142
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vergöttlichten Volkes, und damit anteilig die jedes Glieds der Gemeinschaft des Volkes, operieren von nun an im Modus der sakralen Exklusion: Symboliken und Prinzipien einer dualistischen manichäischen Modalität, einer ›Politischen Religion des Antisemitismus‹ bilden sich aus und diffundieren wirkmächtig in soziale Räume und Entitäten der neugegründeten Nation. Die Parameter hierbei finden sich in christlichmanichäischer Symbolik (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 208): göttlich versus teuflisch, gut versus böse, rein versus unrein, national (spezifisch, konkret) versus global (abstrakt, allgemein). Diese Elemente einer ›Politischen Religion des Antisemitismus‹ imaginieren jüdische Menschen im politischen Kollektiv als ›verschworene Gemeinschaft‹ des ›Gegen-Kollektivs im eigenen Körper‹, Juden:Jüdinnen erscheinen mächtig und ohnmächtig, zugleich gefährlich und devot, die politische Figur des »Staates im Staat, eine unzugängliche, zur Zusammenarbeit unbrauchbare Partei, der es gelingen kann, das andere, sog. Normale zu überwinden und in ihren Dienst zu stellen« (Freud 1939: 525). Dieses ›Volk Gottes‹ beschädigt die sakrale Qualität des ›göttlichen Volkes‹. Sie ist Zumutung, Paradoxon wie auch aktuelle politische Gefahr; im Duktus des ›politischen Körpers‹: Cancer Parasitentum. Die Konsequenzen sind drastisch und katastrophal: Das ›Gegenvolk‹, welches sich als metaphorisches ›Volk Gottes‹ begreift, wird zum Anathema des ›Vergöttlichen Volkes‹ (ebd.: 514, 538, vgl. Hegener 2019: 79–86). Diese religions-politische Aporie kann nur mit einem drastischen Mittel aufgelöst werden, der ›Exterminierung des Bösen‹ in der politischen Modalität der ›Entfernung‹ des ›Volk Gottes‹ aus dem politischen Körper des ›göttlichen Volkes‹. Das Heil der innerweltlichen Erlösung liegt in der gewaltvollen Herstellung der Katharsis (vgl. Griffin 1995: 269). Meine Untersuchung gliedert sich in folgende Schritte: Ich beginne, erstens, mit der Hinführung zu Eric Voegelins allgemeiner These einer innerweltlichen Politischen Religion. Im Anschluss folgt, zweitens, die Interpretation des Symbolon ›Hierarchie‹ als einheitstiftendes Ideologem der Gott-König-Untertan-Relation in antikem und christlichem Verständnis der Differenz von Machtpositionen zwischen Transzendenz und Immanenz. Drittens folgt der Wendepunkt zur Etablierung hermetischer und rein innerweltlicher Herrschaftsbeziehungen in der Immanenz, das Symbolon des Leviathan in der gleichnamigen Schrift des Thomas Hobbes, welches den Bruch in der Konnektivität von weltlicher und überweltlicher Herstellung der Ordnung der Dinge einleitet. Viertens die vollzogene Dekapitation des transzendentalen Elementes der Herrschaft und Gründung von politischen Kollektiven unter dem Symbolon ›Gleichheit‹ in der Imagination der Konstruktion eines ›Volkes‹ im Modus der Säkularität. Schlussendlich, fünftens, markiert die notwendige Mit-Konstruktion eines internen ›Gegen-Volkes‹ die Etablierung von Einheit, Kohärenz und Handlungsfähigkeit eines politischen 143
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›Volks-Körpers‹; das Gegenkollektiv wird als ›das Judentum‹, das ›Volk Gottes‹, identifiziert. Diese erforderliche ›geglaubte Imagination‹ nimmt (in der westlich-christlichen Gesellschaft) die Form einer innerweltlichen religiösen Ideologie an, deren Glaubensinhalt die Politische Religion des Antisemitismus ist.
1. Zur Genese der politischen Religionen Eric Voegelins Interpretation des religionspolitischen Individuums beginnt mit der anthropologischen Setzung einer ›Kreatürlichkeit‹ des menschlichen Seins und damit mit einer nicht ausschließlich in der Immanenz verordneten Seins-Interpretation. Der Mensch, so Voegelin, erlebt sich eingebettet in diesseitigen und jenseitigen Ordnungsvorstellen von ›Religion und Politik‹. »Der Mensch erlebt seine Existenz als kreatürlich und darum fragwürdig. Irgendwo in der Tiefe, am Nabel der Seele, dort wo sie am Kosmos hangt, zerrt es. […] Sie nennen es ein Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, um das Erlebnis der Bindung an ein überpersönliches, übermächtiges Etwas zu zeichnen.« (Voegelin 1938: 15)
Das Zusammenleben von ›kreatürlichen‹ und ›fragwürdigen‹ Menschen generiert damit in genealogischer Betrachtung die Konstruktion von politischen Kollektiven in einem zwiespältigen Modus. Über den Ursprung der politischen Herrschaft befragt, ergibt sich das Modell einer immanent-transzendentalen Herrschaftsordnung, welche letztendlich die Annahme eines Urgrundes der Herrschaft in einem allwissenden und omnipotenten Prinzip suggeriert: alle epistemologischen Wege zur Ergründung der Modalitäten der Herrschaft führen zu Gott und somit in die transzendentale Hemisphäre. Somit wird die politische und religiöse Figur eines ›Gott-Königs‹ in der Immanenz vermittelbar, welcher in direkter Kommunikation zum ›wahren und absoluten Herrscher in der Transzendenz‹ steht und durch das politische Symbol der Hierarchie repräsentiert wird. Nur der Gott-König kann die politische Ordnung stabilisieren, das Leben an sich gewährleisten und Kohäsion des immanenten Kollektivs verbürgen. Die Garantie der Erlösung im sakralem Nach-Leben jedes Einzelnen, wie auch der Gesamtheit der Kollektivmitglieder, ist primäre religiöse wie politische Pflicht des Statthalters Gottes auf Erden. Jegliche Störung der Statik der Herrschaft gefährdet Legitimität, Einheit, Reinheit, Kohärenz und prolongierte Existenz ›des Staates‹. Gott, weltlicher Herrscher und Untertanen sind unter dem Symbol der Hierarchie vereint; es gilt die ›zweite Ankunft‹ Christi abzuwarten. Sinn und Zweck der weltlichen Herrschaft erschöpft sich in der heilsgeschichtlichen Funktionalität der Regierung 144
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der profanen Dinge bis zur Apokalypse der Welt und dem Anbruch des ›Tausendjährigen Reiches‹. Der weltlich-christliche Herrscher, als Sachverwalter und göttlich Gesalbter, hütet die immanenten Besitztümer des eigentlichen ›himmlischen Eigners‹ und muss auf diese Weise durch gerechte und strenge Statthalterschaft der Dinge bis zur freudig erwarteten ›zweiten Ankunft des Herrn‹ ausharren. In der himmlischen Transzendenz, so Augustinus, erwartet jeden Gläubigen das ›corpus mysticum‹ der Christenheit und Erlösung und Vereinigung mit »allen Christen in Vergangenheit, Jetztzeit und Zukunft« (Augustinus 426: passim). Diese Einheit des »Christen Volckes«, symbolisiert in der Figur der »ecclesia«, lässt die Imagination der ungebrochenen Konnotation von gesalbter Herrscher/christlicher Untertan in der gesamten Zeit des Mittelalters der westlichen Welt aufrechterhalten. Einzig die »verstockten Juden«, welche die »frohe Botschaft« der Erlösung der Menschheit und die Akzeptanz des Juden Jeshua in der Figur des Messias partout nicht annehmen woll(t)en und das Phantasma eines ›Sohn Gottes auf Erden‹ bis auf den heutigen Tag für eine blasphemische Tölpelei halten; einzig jenen »verdorbenen Widersacher des Herrn« sei ohne heilige Taufe und Annahme der christlichen Religion »nicht zu hülfen« (Luther, zit. n. Müller 1993: 147), so noch Martin Luther.
2. Das Symbol Leviathan Mit dem Beginn des modernen, politischen Denkens und mithin mit den Konstruktionen politischer Herrschaft unter der Fragestellung der gesellschaftlichen Legitimität und deren Vermittlung und Wirkmächtigkeit durch imaginierte Symboliken, treten die Prinzipien der Inklusion und Exklusion von politischen Kollektiven in den Vordergrund. Die entstehenden Wahrnehmungen und Beschreibungen der sich historisch abbildenden Begriffe von Nation, Staat und Volk manifestieren sich gleichsam in einer religions-politischen ›twilight zone‹ zwischen dem Profanen und dem Religiösen. Die Transmission des Souveränitätsgedankens auf ein abstraktes noch zu konstituierendes Kollektiv macht es notwendig, die konkreten Einzelwesen zu bestimmen und zu identifizieren, die an der kollektiven Souveränität partizipieren dürfen und sollen. Die Demokratisierung der politischen Prozesse kann sich nur vor dem Hintergrund der legalen und legitimen Konstitution eines demos vollziehen, welcher die Grenzen des eigenen Seins selbst definiert. Der Übergang zur Epoche der Volksstaaten, wie er in der Mitte des 18. und im 19. Jahrhundert vollzogen wird, macht eine imaginäre Antizipation der 145
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gesellschaftlichen Kohäsion qua Volks-Einheit notwendig, welche das erst zu generierende souveräne Kollektiv immer schon als imaginär vorausgesetzt unterstellt. Die Vorstellung, dass politische Kollektive ihrem Ursprung nach definiert sind, ist aus diesem Grunde eng mit dem Prinzip der ›Volkssouveränität‹ verbunden. Falls das Volk, als wahrhaftiger Ursprung von legitimer Herrschaft imaginiert, muss dieser Ursprung entweder als gegeben (oder angelegt) gedacht oder die Genealogie des Ursprungs muss in den Mythos manipuliert werden. Falls das Volk das nicht-hinterfragbare legitimationstheoretische Fundament der gesellschaftlichen Ordnung sein soll, muss es in ein Konkretes, als etwas Bestimmtes, transformieren. Eine partikulare Rechtsgemeinschaft bedarf eines bestimmten Geltungsbereichs, der zunächst immer eine Antizipation ihrer Partikularität impliziert. In Anbetracht dieses Konstituierungsproblems kann es nicht verwundern, wenn Elemente des Spezifischen als Definitionsmerkmale des Geltungsbereichs wie Sprache, Abstammung, Kultur, Geschichte, und Religion immer wieder als kollektive Substanz, mithin als ein essenzielles Wesen halluziniert werden. Der Verdacht der willkürlichen Beliebigkeit verflüchtigt sich im Glauben an die unwillkürliche Substanz des Kollektivs; denn der immer erst zu konstituierenden politischen Kohäsion geht eine Vermutung der Zugehörigkeit und Wirkmächtigkeit voraus. Für die dialektische Inklusion und Exklusion der Individuen ist nun entscheidend, ob die jeweils antizipatorische Fixierung des Geltungsbereichs als dynamischer Prozess mit Differenzvarianten oder als statische Substanz vorgestellt wird. Hierbei ist die Kongruenz der vertragstheoretisch festgeschriebenen Zugehörigkeit mit dem jeweils dominierenden öffentlichen Bewusstsein vom modus operandi der Assoziation des Kollektivs entscheidend. Dies gilt insbesondere für demokratische Gesellschaften, in denen die vielen an der Gestaltung des Kollektivierungsprozesses direkt oder indirekt partizipieren und somit den Charakter des Begriffs ›des Volkes‹ definieren. Die theoretische Grundlage einer solchen neuen Legitimitäts-Struktur des politischen Kollektivs beschreibt Thomas Hobbes der in seiner gleichnamigen vertragstheoretischen Schrift das Symbolon des Leviathan evoziert. In den Worten Voegelins: »Wir sagten schon, daß die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung der innerweltlichen Gemeinschaftsreligion das Selbstverständnis einer Gemeinschaft als in sich zentrierter Einheit sei. Das Leviathansymbol des Hobbes tut einen entscheidenden Schritt in dieser Richtung.« (Voegelin 1938: 30)
In der offenen Struktur der christlichen Ekklesia des Mittelalters bildete sich eine Hierarchie ab, die vom transzendentalen Gott bis zu den verschiedensten administrativen Positionen und gesellschaftlichen Stellungen 146
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wirkte und ebenfalls innerhalb der immanenten Machtebenen von Staat, Klerus, Untertanen und mittelalterlicher Gesellschaft wirksam war. »Der Herrscher ist nicht souverän in einem absoluten Sinn, sondern nur gegenüber den Untertanen; er selbst ist an Gott und seine Gebote ebenso gebunden wie der Untertan an die des Herrschers. Vom Herrscher strahlt das Befehlsrecht weiter aus über die Pyramide der Staatsorgane bis hinunter zu den Untertanen. « (Voegelin 1938: 30f.)
Diese offene Kommunikationsstruktur zwischen dem Sakralem und dem Profanen wird im Leviathan durch den Prozess der säkularisierten Absonderung des Kontraktualismus gestört und limitiert die Qualität der offenen Struktur nachhaltig. Das Leviathansymbol repräsentiert insoweit eine semi-geschlossene Struktur der staatlichen Gemeinschaft, des Commonwealth, als das transzendentale Band von der göttlichen Transzendenz via Hierarchie lediglich bis zum Leviathan selbst reicht, also die direkte Konnotation beim gesalbten Herrscher stoppt oder abbricht. Der Leviathan selbst, von Hobbes der »sterbliche Gott« (Hobbes 1651: 134) genannt, stellt in der Figur des weltlich-christlichen Herrschers über seine Untertanen den metaphorischen Endpunkt der göttlichen Kommunikation her. Das politische Kollektiv der Bürger:innen, das Volk, zur Fabrikation des Leviathans in der Figur der Einzelwesen im Naturzustand noch benötigt, verliert seine sakrale und direkte ungehinderte Bindung an die Transzendenz. Die vormals offene Struktur der christlichen Ekklesia zwischen Christen und dem corpus mysticum reduziert sich nun zum Rinnsal der Rest-Transzendenz in die immanente Existenz ›des Volkes‹: Die Kontinuität der vormals ungehindert dispensierenden und direkten göttlichen Gnade ist zum Dosierungsmetrum des Herrschers gewandelt, dessen Quantität und Qualität ausschließlich vom Leviathan gewährt, aber auch verweigert werden kann. In den Worten Voegelins: »Der Souverän des christlichen Commonwealth habe die gleiche Stellung wie Abraham zu seiner Familie; nur zu ihm spricht Gott, er allein kennt seinen Willen, und er allein ist berechtigt, Wort und Willen Gottes zu interpretieren. « (Voegelin 1938: 47)
Ein weiteres Element der religions-politischen Auskunft der ›Selbstinterpretation‹ der innerweltlichen ›partikulären Ekklesia‹ zeichnet sich ab, nämlich die Tendenz eine Konstruktion des ›Gegen-Volkes‹ mitzudenken, in der abstrakten Konstruktion der (vormaligen) ›offenen Ekklesia‹ zu suchen und dieses ›abstrakte Prinzip an sich‹ unter den Verdacht des Widersachers zu stellen. »Die neue Ekklesia steht im Kampf mit der alten christlichen und hat sich als gottgewollte gegen Ansprüche durchzusetzen, die nur als Teufelswerk verstanden werden können. Dem Symbol des Leviathan muß Hobbes daher das Symbol des Teufelsreiches entgegensetzen.« (ebd.: 47f.) 147
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Der von Hobbes vorgezeichneten Beschränkung der transzendentalen Aura auf den politischen Herrscher in der Figur des göttlich ermächtigten Souveräns, stellt sich das Element der in die Immanenz zurückgeworfenen profanen Mitglieder der partikulären Ekklesia entgegen. Gerät die Figur des Herrschers von Gottes Gnade in die Krise oder bildet sich die göttliche Gerechtigkeit nicht in gesellschaftlicher Realität ab und führt in politische Aporien, wird die Glaubwürdigkeit und das Handeln einer vormals legitimen Herrscherperson obsolet. Folglich lassen die kontraktualistischen Optionen nur einen gangbaren Weg zu: Die Dekapitation des Leviathan und die hermetische Trennung von Immanenz und Transzendenz, den Eintritt in das Zeitalter des vermeintlich säkularen Volkes. Lassen wir erneut Voegelin zu Wort kommen: »Und grundsätzlich kann das Symbol einer durch das Pneuma Christi konstituierten Gemeinschaft sich zu innerweltlichen Körpern umbilden, wenn die einmal Wirklichkeit gewordene geistige Einheit sich wieder mit naturalen Gehalten auffüllt. « (ebd.: 33f.)
Die Wandlung des vormaligen Symbolon der Hierarchie in ein neues modernes Prinzip, unter dem Konstruktion wie Persistenz des politischen Kollektivs definiert werden, zeichnet sich ab. Die Maxime der modernen Selbstermächtigungs-Maschine wird das Emblem der Gleichheit aller Einzelwesen tragen; von nun an gilt: vor Gott und vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich an Rechten und bürgerlicher Verantwortung; der Souverän, als Körpermetapher vorgestellt, bildet sich in der Figur ›des Volkes‹ ab. Das religionspolitische Desiderat des Vakuums der Transzendenz in den nun vollends profanen Herrschaftsstrukturen, und auch das Bewusstsein der Bürger:innen über diesen Zustand, legt Sinnkrisen und die Strategien zu deren ›Bewältigung‹ offen: das transzendentale Vakuum des immanenten Volkskörpers bedarf einer legitimatorischen Injektion. Dieser Prozess, die Apotheose des Volkes, wird dergestalt zur logischen Folge wie auch zur Notwendigkeit. Die ›Heiligkeit‹ des Volkes, des Souveräns, zieht in den politischen Prozess der Moderne ein. Die Selbstvergottung des politischen Kollektivs und deren Mitglieder nimmt ihren Lauf. Das menschliche kreatürliche Verlangen nach sinnvoller und sinngenerierender Lebensführung sucht und findet ein Substitut: ein neues, immanentes religions-politisches Reservoir der quasi-göttlichen Sinngebung dringt mit Macht ins Diesseits. Die gottgleiche Selbstaufladung des politischen Kollektivs und der innerweltlichen Schemen des Volkes, vollzieht sich im Modus der Re-Sakralisierung. Eine völkische Apotheose zeichnet sich ab, die Chiffre der Genese einer innerweltlichen Politischen Religion. Das ›göttliche Volk‹ betritt die politische Bühne der Moderne.
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3. ›Göttliches Volk‹ versus ›Volk Gottes‹ Die bürgerlichen Revolutionen begründen und manifestieren sich im Prozess der souveränen säkularen Eigen-Konstruktion. Göttliche Eingriffe und transzendentale Verordnungen der Bürger werden im Modus des Privaten verhandelt. Die vollständige Trennung der Legitimitätsversprechen der Herrschaft, vormals in göttlicher Verordnung, jetzt in Eigenregie des ›souveränen Volkes‹, verweist nicht nur auf die Sinngebung des Politischen in die Immanenz. Jegliche Herrschaft von Menschen über Menschen wird begründungsbedürftig, das Vakuum der transzendentalen Verortung der Bürger wird prekär. Diese Transformation ist nicht nur in den Entwürfen für eine erst noch herzustellende, zukünftige Ordnung entscheidend – also für die Entwürfe und die Erzeugung politischer Ordnung, sondern auch für die Reproduktion der erneuerten Ordnung. Völker werden nicht bloß erfunden, sie müssen auch – sofern sie als Basis politischen Denkens und Handelns fungieren sollen – im Bewusstsein der jeweiligen individuellen Ordnungsträger und den ihr Zugehörigen als Verbundenes, also dem Volk innewohnendes, repräsentiert sein. Das heißt: Das Zusammengehörigkeits-Bewusstsein bzw. das ›Wir-Gefühl‹ kann nur durch die Verankerung im individuell Psychischem entstehen. Die Repräsentation der Zusammengehörigkeit im einzelnen Bewusstsein kann immer nur konkrete Menschen abbilden und muss, um verbindlich sein zu können, auf ein kollektives Band verweisen und dies auch ›glaubhaft‹ plausibilisieren können. Die Predigten für Nation oder Volk und die ständigen Verweise der nationalen Bekenntnisse belegen die Bedeutung dieses Prozesses für die Existenz der kollektiven Kohärenz. Der fragwürdige Charakter des kollektiven Bindestoffes zeigt sich somit auch in der Differenz zwischen dem jeweils produzierten, instituierten Band und den hiervon abweichenden Denkmöglichkeiten, die eine andere Zusammensetzung der Gesellschaft als möglich oder wünschenswert erscheinen lassen. Zur Artikulation und Herstellung einer denkbaren Zusammensetzung der Gesellschaft bedarf es der Zeichen des Zusammenhangs, der Symboliken der Identität und Assoziationen verschiedener Individuen in eine kollektive Ordnung. Die Vermittlung geschieht mittels symbolischer Ordnungen und dem Glauben an die Affirmation oder Negation dieser Ordnungskategorien. Die hierin enthaltenen und verknüpften Symbole repräsentieren nicht einfach nur einen bereits gegebenen Sachverhalt, sondern durch Symbole werden Bedeutungen und Wirklichkeiten harmonisiert und reproduziert, die ohne Symbolisierung für uns nicht existieren. Als Konstruktionselemente des Volkes müssen die Symbole eine zweifache imaginäre Setzung repräsentieren. Erstens wird mit Symbolen die Existenz der kollektiven Einheit gesetzt. Das Symbol ist in dieser Perspektive Zeichen 149
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eines klandestinen Einheitsbandes, welches ohne Symbole weder existieren noch realisiert werden kann. Zweitens werden mit Symbolen Prädikate und Bedeutungen demonstriert, die das Kollektiv als mit (eigenen) Eigenschaften und Merkmalen ausgestattet erscheinen lassen. Nationale Kultur, Sprache, Kunstwerke, Institutionen, Literatur, lebende Repräsentanten etc. stehen nicht nur für Kohäsion und Existenz von Gesellschaft, sondern auch für wahrnehmbare und abgrenzbare Attribute, auf die mit Symbolen verwiesen wird (vgl. ebd.: 196ff.). Somit sind Symbole prädikative Identifikationsobjekte, die etwas über die ›Identität‹ der dem Kollektiv Zugehörigen enthüllen sollen. Die Symbole stehen also nicht nur für die Existenz des symbolisierten Kollektivs, sondern auch für dessen charakteristische Merkmale, durch die das Kollektiv und dessen Individuen von anderen wahrnehmbar und unterscheidbar werden sollen. Die tumbe Vergegenständlichung dieser Symbolisierungen in der Figur epistemologisch tölpelhaft herbeigeschusterten Volkscharaktereigenschaften gibt hierzu hinreichend Auskunft. Entscheidend für das hier in Rede stehende Phänomen einer innerweltlichen Politischen Religion ist der Umstand, dass das generierte Ordnungs-Bewusstsein nicht als politisch hergestellte, symbolische Ordnung bewusst ist, sondern zur Hypostase wird. Die den konkreten politischen Subjekten vorfindliche Faktizität der symbolischen Ordnung kann den Anschein evozieren, als verweise dieselbige auf eine Genealogie jenseits des immanent Politischen. Die hergestellte Ordnung scheint dann auf sich selbst als eigenerzeugendes Subjekt zu verweisen, welches die bindende Substanz und ihr Wesen bereits in sich trägt oder auf ein die Ordnung bewirkendes Prinzip, das dem Politischen transzendent ist. Ersteres könnte man auch als einen Säkularisierungsmythos bezeichnen, der sich durch rationales Ausforschen bedroht, in einen Re-Sakralisierungsprozess flüchtet und sich gegen kritisches Befragen immunisiert. Der Säkularisierungsmythos bezieht sich nicht auf den Prozess der Selbstherstellung dieses Phantasmas, sondern auf die dem Prozess unterstellte, kollektive Substanz, die als Movens des Prozesses gedacht wird. Die dieser Dynamik vorangestellte Kollektiv-Substanz kann nicht auf das Kollektiv selbst zurückgeführt werden. Auf ihre Wirkmächtigkeit hin analysiert, scheint sie auf ein fragwürdiges Externes oder Jenseits des immanenten Kollektivs hinzudeuten. Der Mythos der kollektiven Substanz des Volkes und dessen Ursprung, laden sich auf diese Weise mit der Qualität einer Heiligkeit auf; das vormals Säkularisierte wird resakralisiert. Die in diesen symbolischen Ordnungen enthaltenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsparadigmen können sodann in ihren Hypostasierungen als Natur, ursprüngliche Substanz oder Heiliges verklärt werden. Die Vorstellungen der Völker als göttliche Synthesen, Natur oder sakrale Realitäten finden ihren Ausdruck in den als kollektive Substanzen imaginierte Kohäsions-Mittel. Abstammung, Sprache, Kultur, Geschichte 150
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und Territorium werden hier zu pseudo-plausiblen Merkmalen eines verbindenden, exklusiven Wesens, welches der Politik zugrunde liegen und zur Realität gebracht werden soll. Die Imagination der Wirkmächtigkeit dieser Konstrukte, zur Herstellung von Kohärenz und Einheit des Kollektivkörpers, kreiert notwendig ein zusätzliches Element. Die Schöpfung des re-sakralisierten Volkes fordert den Preis der Integration von Exklusionspraktiken, um die Partikularität des eigenen Kollektivs zu begründen. Die exklusive Praxis zur Persistenz der Reinheit des Kollektivs ist als dynamischer Prozess stets in die Modalitäten der Gründung einbezogen. Somit sind Exklusion und Inklusion komplementäre Attribute der Konstruktion des ›göttlichen Volkes‹. Die perfekte Ordnung der Dinge, so die Imagination, steht in der ständigen Gefahr der Pathologie; die Zumutung der Realität und deren Kritiken verunsichert die Akteur:innen. Imaginierte abstrakte und konkrete Mitglieder eines möglichen Gegen-Volkes bedrohen Einheit und Existenz der bestmöglichen Welt. Die re-sakrale Aufladung des Volkes generiert die Opponenten in der Figur des Diabolischen. Das völlig Fremde, das Prinzip des Chaos, tritt erneut in die Welt und wird in der Figur des altbekannten religiösen ›Opponenten‹ wiedererkannt. Die »Synagoge des Satans« (Offenbarung des Johannes 2,9), so die Erkenntnis aus langen Jahren der antijudaistischen Prägung, bedroht die selbsterlösten gesellschaftlichen Entitäten in der Modalität der Volks-Gemeinschaft. Das vermeintliche ›göttliche Volk‹ halluziniert sich im Endkampf gegen das ›altbiblische Volk Gottes‹ aufgeladen mit den Attributen des ›Bösen‹. In apokalyptischen Bildern wird der gemeinsame Kampf der ›Volks-Gemeinschaft‹ gegen den Feind beschworen (vgl. Bärsch 2002: 333f.). Der Glaube an die wahrhaftige Existenz des Widersachers in der Figur ›des Juden‹ stellt jenes Band der Gemeinschaft her, welches Kohärenz und ewige Bindung an die Gemeinschaft des Volkes verspricht. Die innerweltliche Politische Religion des Antisemitismus ist geboren.
4. Die innerweltliche Politische Religion des Antisemitismus Die markierten Feinde des innerweltlichen religiös aufgeladenen Kollektivs des Volkes evozieren die individuelle und gemeinschaftliche Existenzbedrohung. Das ›göttliche Volk‹ tritt an, die Radix Malorum zu identifizieren und die Bedrohung der manichäischen Feinde zu exterminieren. Als Beispiel für diese Interpretation im deutschen Kulturraum steht Paul Lagardes Schrift Juden und Indogermanen:
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»Es gehört ein Herz von der Härte der Krokodilshaut dazu, um mit den armen ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden oder die zu feige sind, dies Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.« (Lagardes 1887: 20).
Der evangelischen Hofprediger und Mitbegründer der Christlichsozialen Partei, Adolf Stöcker, erklärte das »jüdische Wesen« als »Gifttropfen« im »Herzen« (Stoecker 1885: 217ff) des deutschen Volkes. Die Anschuldigungen, dass Jüdinnen und Juden ein Körper im Körper, ein Staat im Staate seien, werden stereotypisch wiederholt und aktualisiert. Bei Julius Langbehn heißt es: »Wie sich in einem gesunden Körper von einem Punkt aus Fäulnis, so kann sich auch in einem kranken Körper von einem Punkt aus Gesundheit verbreiten; es kommt nur darauf an, ob die regenerative und rekreative Kraft dazu noch vorhanden ist; und diese fehlt dem deutschen Volkskörper nicht« (Langbehn 1890: 72). Wie die Fäulnis bringende Krankheit heißt, versäumt auch Langbehn nicht zu nennen: »[Die Juden] sind ein Gift im deutschen Volkskörper, sie sympathisieren mit der Fäulnis, [...] der moderne Jude hat keine Religion, keinen Charakter, keine Heimat, keine Kinder; er ist ein Stück Menschheit, das sauer geworden ist [...] [D]em Streben der heutigen Juden nach geistiger wie materieller Herrschaft läßt sich ein einfaches Wort entgegenhalten: Deutschland für die Deutschen. Ein Jude kann so wenig zu einem Deutschen werden, wie eine Pflaume zu einem Apfel werden kann...« (ebd.: 73)
Ähnliche antisemitische Äußerungen finden sich in Theodor Fritschs (1933) Handbuch zur Judenfrage. Jüdinnen und Juden, soviel zeichnet sich ab, erhalten die Attribute von Gift, Geschwür, Krankheit, Parasiten und Bazillen. Die Markierung von Jüdinnen und Juden als todbringende Einheit in der Einheit des politischen Über-Lebens hat die Form und Gestalt des Katechismus einer rituell vorgetragenen innerweltlichen Politischen Religion angenommen. Diese Beispiele, in denen Jüdinnen und Juden mit hypostasierten Metaphern des Todes identifiziert werden, mögen hier zur Illustration genügen. Auf der politiktheoretischen Ebene lassen sich folgende Prozesse beobachten, in denen aus der transzendierenden Vitalisierung die Feinde des nationalen Volkes bekämpft werden müsse: Das ›göttliche Volk‹ tritt in den Überlebens-Kampf gegen das ›Volk Gottes‹ ein. Der Kampf gegen die existenzielle Bedrohung des Kollektivs wird durch einen Zyklus der Viktimisierung eingeleitet, an dessen Ende die exterminierende 152
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Gewalt als erlösendes Zeugnis von Handlungsfähigkeit und Überlebenswillen erscheint. Der erste Schritt ist die Gründung einer politischen Ordnung, die, durch innerweltlichen Glauben inspiriert, einen Modus Operandi hervorbringt. Dieser Codex soll einerseits die gesellschaftliche Rationalität und Identität, andererseits Ideologie und Praxisanweisungen fixieren; dessen Attribute sind gemeinsame Teilhabe an einer Existenzordnung und Zukunftserwartung. Aus dem bei sich selbst und anderen erfahrbaren Widerstreben gegen die zugemuteten Beschränkungen dieser Ordnung ergeben sich Aberrationen und Misskalkulationen. Diese Pathologien evozieren die Antizipation des persönlichen Scheiterns und die Auflösung der Existenzordnung; auf dieser psychologischen Ebene erleben die Volks-Genossen den Prozess der Realitätskonfrontation als Schock, Angst stellt sich ein. Die kollektive Unfähigkeit, die perfekte gesellschaftliche Ordnung herzustellen, lässt das psychologische Derivativ der Schuld entstehen. Die Akteur:innen fürchten sich insbesondere da der Ordnung heilsbringende und todüberwindende Dimensionen zugeschrieben werden. In einem Zirkel aus Furcht, Schuld und (Auto)Aggression bildet sich die eigene Sündhaftigkeit, die Furcht vor der Auflösung der gesamten sozialen Ordnung ab. Als Remedur, ja als Katharsis, entwickelt sich das Bedürfnis nach erlösender Reinigung von Schuld, welches sich in Reinheits- und Säuberungsphantasmen entlädt. Diese Purifikation verharrt jedoch in der Modalität der Illusion, welche von der fortbestehenden ontologischen ›Sündhaftigkeit‹ der Individuen in der geheiligten Ordnung konterkariert wird (vgl. Hegener 2019: 81–85). Das Phantasma der makellosen Reinheit zielt letztlich auf eine absolute Perfektion, auf eine Gottähnlichkeit des Menschen ab, die vom Makel des Bösen und der Auflösung der Ordnung befreien soll. Verantwortung und Schuld verfallen so der Projektion auf die bestmöglichen Opfer. Die Gefährdung der religiösen Dimensionen dieser Ordnung gefährdet somit rückwirkend die Transzendierung der sterblichen Individuen. Die Furcht vor Existenz ohne Erlösung transformiert sich in ein Muster der religionspolitischen Gewalt: Die innerweltliche Politische Religion hat ›ihr Ziel‹ gefunden, der Widersacher ist markiert. Jüdinnen und Juden, seit Jahrhunderten als das Fremde, das Unreine, das Andere und Gefährliche identifiziert, werden zum Bezugspunkt der Politischen Religion. Die Konfiguration der innerweltlichen Politischen Religion des Antisemitismus hat Subjekt, Objekt und Inhalt gefunden. Jüdinnen und Juden werden zu Projektionsobjekten für das eigene Scheitern, das qua Stigmatisierung, Verfolgung und Vernichtung abgewendet werden soll. Modifiziert wird die Viktimisierung in der Regel durch eine Synchronisierung der Quasi-Empörung. Das heißt: die antisemitischen Akteur:innen sprechen nicht von den diffusen Ängsten, die sie in der Figur der Viktimisierten bekämpfen wollen, sondern von 153
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konkreten Übeln. Die Quasi-Empörung wird plausibilisiert, etwa auf das verderbliche Stadtleben, auf ökonomische und soziale Probleme. Diese synchronisierte Quasi-Empörung richtet sich mit voller Wucht gegen jene prä-identifizierten Opfer, deren Täterschaft schon immer feststand. Die bisherige strukturelle Gewalt des Antisemitismus in der Gesellschaft changiert zum manifesten und direkten Gewaltversprechen gegen Jüdinnen und Juden. Die antisemitischen Akteur:innen des ›göttlichen Volkes‹ bedürfen nicht mehr externen Auftrags, um den gewaltvollen Pogrom gegen das ›Volk Gottes‹ zu betreiben. »Es ist niemand zum Hinrichten delegiert, die ganze Gemeinde tötet.« benennt es Elias Canetti (1980: 25). Die gemeinschaftliche Praxis, das kollektive Verbrechen, generiert ›das eiserne Band‹ des Zusammenschlusses, welches die völkische Ordnung als Apotheose des Volkes verwirklicht. Per blutiger Akklamation tritt das ›göttliche Volk‹ in die Welt; das vormalige ›Volk Gottes‹ darf nicht bestehen und muss, so der Glaubenssatz der innerweltlichen Politischen Religion des Antisemitismus, in geschichtlicher Notwendigkeit vergehen. Der moderne Antisemitismus ist weder eine schlichte Fortsetzung der christlich-antijüdischen Traditionen, noch gründet er in nur säkular-politischen oder sozialen Konflikten; jegliche Annahmen eines korrespondenztheoretischen Rahmens zur Genese antisemitischer Praktiken gehören in die Kategorie der phantasmagorischen Tölpelei. Die Radikalisierung der Judenfeindschaft im modernen Antisemitismus gründet in einem politischen Glauben, in einer innerweltlichen Politischen Religion des Antisemitismus, der sowohl ein epistemologisches Desiderat und eine wirkmächtige Camouflage politischer Konstituierungsprozesse und deren komplementärer Feindbildungsprozessen eigen ist. Es sind die bisher wenig erforschten religiösen Dimensionen des Kontraktualismus des Politischen – der Souveränitätskonstruktion mit Gründung des Volkes – die sowohl die Perzeption der eigenen Volkszugehörigkeit als auch die Prozesse der Exklusion der fremden Anderen formieren. Es sind jene religions-politischen Elemente der Volks-Konstruktion im Anschluss an antisemitisch-christliche Traditionen und Narrative, welche die Feindschaft und die Phantasmen zur Exterminierung von Jüdinnen und Juden eskalierten lassen. Die christliche Enterbungstheologie, die ›die Juden‹ als verstockt, sich der angebrochenen Heilsgeschichte entgegenstellend betrachtete, wird in der nationalisierten partikulären Ekklesia des Volkes zu einem Glauben an das, der zukünftigen Heilsgeschichte des Volkes widerstrebende, ›jüdische Wesen‹. Die Vorstellung von politischer Kollektivität als sakrales Über-Leben, das zwar göttlich angelegt, aber durch sich selbst verwirklicht werden soll, befördert das Begehren, dass das Volk auch zum Richter über die letzten Dinge befugt ist. Nur das ›göttliche Volk‹ vermag das ›Volk Gottes‹ aus dem Volkskörper auszustoßen. Die Tirade gegen Jüdinnen und Juden als Gottesmörder, die Jesus Christus als inkarniertes Subjekt der christlichen Heilsgeschichte ermordet haben sollen, verschärft sich in 154
DAS ›GÖTTLICHE VOLK‹ GEGEN DAS ›VOLK GOTTES‹?
jenen Metaphern, Symboliken und Praktiken die pseudo-plausibel zum heilsgeschichtlichen Kreuzzug gegen ›den Juden‹ appellieren. Die Transmission sakraler oder göttlicher Prädikate auf das politische Kollektiv vergöttert nicht nur das menschliche Artefakt des Volkes als werdende profane Heilsgemeinschaft, sondern lässt das religions-politisch aufgeladene Kollektiv zum exekutiven »Prothesen-Gott« changieren, dessen Handlungsbefehl zum Kampf gegen die imaginierten Widersacher und Feinde qua innerweltlicher religiöser Glaubensanweisung vermittelt wird. Die sakralen Vitalisierungen von Volk und Nation als profane Transzendenz befördern das Phantasma, dass die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden, mithin die Exterminierung des ›Volk Gottes‹, eine Notwendigkeit der innerweltlichen Heilsgeschichte ist und in der innerweltlichen Politischen Religion des Antisemitismus einen veritablen Ausdruck gefunden hat. In diesem Sinne verstanden, ist die innerweltliche Politische Religion des Antisemitismus ein weiteres Fragment in der Analysis von Aufklärung über die Kontinuität des Antisemitismus in der Gesellschaft und dessen mörderischer Praxis.
Literatur Augustinus (426 (2007)): Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe, München: DTV. Bärsch, Claus Ekkehard (2002): Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München: Fink. Canetti, Elias (1980): Masse und Macht, Frankfurt am Main: Fischer. Castoriadis, Cornelius (1990): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Freud, Sigmund (1939): »Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen«, in: Studienausgabe Bd. 9, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Stacy, Frankfurt am Main: Fischer 1974, 455–581. Fritsch, Theodor (1933): Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes, Leipzig: Hammer. Griffin, Roger (1995): Fascism, Oxford/New York: Oxford University Press. Hegener, Wolfgang (2019): Schuld-Abwehr. Psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Studien zum Antisemitismus, Gießen: Psychosozial. Hobbes, Thomas (1651 (1966)): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno (1947): »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente«, in: Gesammelte Schriften Bd. 5, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main: Fischer 2014, 11–238. 155
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Antisemitismus als Krisennarrativ Beitrag zu einer Methodologie des strukturellen Antisemitismus Im September 2020 veröffentlichten Hans-Georg Maaßen, der umstrittene ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und Johannes Eisleben den Artikel The Rise and Fall of Postnationalism auf dem Blog der US-amerikanischen Zeitschrift Telos. Ein halbes Jahr später erschien eine deutsche Übersetzung des Beitrags im neurechten Monatsmagazin Cato (vgl. Maaßen/Eisleben 2021). In dem Artikel skizzieren die Autoren verschiedene Prozesse, die »unsere Gesellschaften und Staaten zersetzen« und zu »gesellschaftlichen Abspaltungen und Fragmentierungen« führen würden. Weil sich die »sozialistischen und die globalistischen Kräfte« verbündet hätten, drohe ein »neuer Totalitarismus« beziehungsweise eine »neue Weltordnung«. Unmittelbar nach der Veröffentlichung entbrannte eine Debatte um die Deutung des Artikels und die politischen Ansichten des CDU-Mitglieds Maaßen. »Das sind für mich klassische antisemitische Stereotype, die benutzt werden bei Herrn Maaßen«, sagte etwa der Präsident des Thüringischen Verfassungsschutzes Stephan Kramer (zit. n. Duwe/ Pohl 2021). Anja Thiele (2021) bezeichnete den Text in einer Analyse als Beispiel einer »subtilen ›latenten‹ Artikulationen von Antisemitismus«. Maaßen selbst wies die Antisemitismusvorwürfe ebenso zurück wie der damalige CDU-Vorsitzende Armin Laschet. Die Diskussion über den mutmaßlichen Antisemitismus bei Maaßen ist typisch für den öffentlichen Umgang mit Antisemitismusvorwürfen in Deutschland. Während Antisemitismusforscher:innen in der Regel auf den antisemitischen Gehalt einzelner Äußerungen und Argumentationen hinweisen und den Antisemitismus auf der Ebene sprachlicher Motive und Semantiken lokalisieren, verwehren sich die Urheber:innen der kritisierten Äußerungen dagegen, antisemitische Subjekte zu sein. In den medialen Debatten wird der antisemitische Gehalt von Texten dann häufig an einigen wenigen skandalisierbaren Äußerungen festgemacht. Dieser eingespielte Ablauf verweist auf eine Herausforderung der Antisemitismusforschung, der ich mit diesem Beitrag begegnen will. Weil der moderne Antisemitismus schwer zu definieren ist und als Syndrom sowohl subjektive Dispositionen als auch kulturelle und symbolische Repräsentationen umfasst, geraten in öffentlichen Auseinandersetzungen 157
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häufig verschiedene Dimensionen und Perspektiven durcheinander. Die Logik der Massenmedien erschwert es, die komplexe Struktur des antisemitischen Weltdeutungssystems kritisch-analytisch zu vermitteln, und begünstigt stattdessen einen auf Empörung zielenden Zugriff, der sich an isolierten Topoi oder geschichtsrevisionistischen Inhalten abarbeitet. In meinem Beitrag möchte ich an diese Debatten anschließen, indem ich das bisher nur rudimentär ausgearbeitete Konzept eines ›strukturellen Antisemitismus‹ diskutiere und argumentiere, dass es sich dabei um die narrative Dimension des Antisemitismus handelt. Diese narrative Dimension bildet einen epistemischen und argumentativen – und insofern strukturellen – Rahmen, in den binäre Codes, Sinnzusammenhänge, Deutungsmuster und Semantiken eingefügt werden. Struktureller Antisemitismus liegt dann vor, wenn Texte anschlussfähig für antisemitische Projektionsleistungen sind, weil ihre narrativen Strukturen ohne großen kognitiven Aufwand durch antisemitische Codes ersetzt werden können. Im folgenden Kapitel werde ich zunächst Perspektiven der Antisemitismusforschung vorstellen, in denen antisemitische Subjekte oder antisemitische Wissensstrukturen ins Zentrum der theoretischen Überlegungen gerückt werden. Ich argumentiere, dass der Antisemitismus in seiner Funktion als Weltanschauung nur dann verstanden werden kann, wenn die Vermittlung beider Dimensionen berücksichtigt wird. Danach zeige ich, inwiefern die Konzepte der Narration und des Narrativs eine derartige konzeptionelle Vermittlung leisten können. Anschließend rekonstruiere ich typische narrative Strukturen, die den antisemitischen Weltdeutungssystemen zugrunde liegen. Im abschließenden Kapitel zeige ich die Relevanz des Konzepts eines strukturellen Antisemitismus, indem ich noch einmal den Beitrag von Maaßen und Eisleben diskutiere.
1. Perspektiven und Debatten der Antisemitismusforschung Antisemitismus ist ein vielschichtiges Phänomen, dem mit interdisziplinären Ansätzen und verschiedenen Typologien begegnet wird (vgl. Beyer 2015). In einer diachronen Perspektive kann ein Funktions- und Formenwandel des Antisemitismus konstatiert und zwischen christlichem Antijudaismus und dem neuzeitlichen Antisemitismus unterschieden werden. Weil der Antisemitismus als Deutungsmuster für soziale Krisen sowohl psychische als auch gesellschaftliche Funktionen erfüllt, lassen sich in einer synchronen Analyse außerdem verschiedene Dimensionen in den Blick nehmen. Laut Jean-Paul Sartre (1994: 14) ist der Antisemitismus »zugleich eine Leidenschaft und eine Weltanschauung«. Klaus Holz (2001: 23) unterscheidet analytisch zwischen einer »Psychologie antisemitischer 158
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Subjekte« und einer »Soziologie antisemitischer Kommunikation«. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über diese Konzeptualisierungsversuche und einige aktuelle Debatten der Antisemitismusforschung. 1.1 Subjekte und Semantik Bei der Analyse des Antisemitismus kann grob zwischen Ansätzen unterschieden werden, die das Subjekt oder die Kultur in den Blick nehmen. Zu ersteren gehören psychologische oder sozialpsychologische Modelle von Sozialisationsprozessen und innerpsychischen Dynamiken (vgl. Fenichel 1946; vgl. Grunberger 1962) sowie empirische Untersuchungen des Antisemitismus als Teil einer Persönlichkeitsstruktur (vgl. FrenkelBrunswik/Sanfort 1993). Der Antisemitismus wird dabei als Projektionsleistung ohnmächtiger und gekränkter Subjekte verstanden, die ein Begehren, das ihnen von der Gesellschaft oder anderen Autoritäten versagt wird, auf ›die Juden‹ übertragen. Diese antisemitische Projektion ist unabhängig von realen Erfahrungen mit Juden:Jüdinnen, sie aktualisiert jedoch gesellschaftlich konventionalisierte Deutungsmuster, die das antisemitische Subjekt aus einem kulturellen Wissensrepertoire schöpft. Antisemitismus kann deshalb auch als »Wissensformation« (Weyand 2016a) oder als »allgemeiner kultureller Sinnzusammenhang« (Holz/Haury 2021: 20) verstanden werden. Klaus Holz (2001: 23) hat ihn als »soziale, kommunikativ konstruierte Semantik« bestimmt und von individuellen Vorurteilen abgegrenzt. Mit Semantik meint Holz eine »Dimension der kulturellen Ordnung der Gesellschaft«, die als »in sich strukturiertes Syndrom von Sinngehalten« (ebd.: 28) vorliegt. Zentral für Holz’ Argumentation ist, dass die antisemitische Semantik in ganz unterschiedlichen Kontexten aufgegriffen wird und dabei kaum variiert. Der Antisemitismus reproduziere immer wieder »ein spezifisches Muster« (ebd.: 31), das Holz als ›nationalen Antisemitismus‹ bezeichnet. Die wesentliche Funktion dieser antisemitischen Semantik bestehe in der Erzeugung einer nationalen Wir-Gruppe, von der ›die Juden‹ als Gegenbild abgegrenzt werden. In einem aktuellen Text stellen Holz und Thomas Haury (2021: 26) heraus, dass antisemitische Texte »Zuschreibungen zum Selbst- und Judenbild als Gegensatzpaare [ordnen]« und im Kern auf den »Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft« (ebd.: 22) zurückgehen. Analog sieht auch Jan Weyand (2016b: 74) den Kern der antisemitischen Semantik im »Thema Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftszerstörung«. Claudia Globisch (2013: 313) hat diesen Ansatz in einer vergleichenden Analyse linker und rechter politischer Spektren erweitert und den Antisemitismus als »spezifische Inklusions- und Exklusionssemantik« konzeptualisiert. 159
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Der Semantikbegriff, wie er von Holz, Weyand und Globisch verwendet wird, geht vom neuzeitlichen Antisemitismus aus, der in der Zeit der europäischen Nationalstaatsbildung entstanden ist, und hebt dessen Funktion als Weltanschauung hervor. Holz verweist auf die sozialphänomenologische Wissenssoziologie und Shulamit Volkovs (2000) Konzept des ›kulturellen Codes‹. Als Weltanschauung sei der Antisemitismus ein »Prozeß der symbolischen Formulierung« und der »Interpretation der Wirklichkeit« (Volkov, zit. n. Holz 2001: 32f.). Diese wissenssoziologischen Überlegungen möchte ich erweitern und argumentieren, dass der moderne Antisemitismus vor allem als Krisennarrativ verstanden werden kann. Bevor ich das weiter ausführe, möchte ich noch in zwei Debatten der Antisemitismusforschung einführen, die durch diese erzähltheoretische Erweiterung besser verstanden werden können. 1.2 Antisemitische Umwegkommunikation Der historische Wandel seiner Inhalte und Formen ist eine Herausforderung für die begrifflich-konzeptuelle Fixierung des Antisemitismus. Holz versucht dieses Problem zu lösen, indem er den Antisemitismus auf einen relativ invarianten semantischen Kern zurückführt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die psychische Disposition des antisemitischen Subjekts als sein wesentliches Kriterium zu bestimmen. So unterscheiden Bergmann und Erb (1986) zwischen einer Bewusstseins- und einer Kommunikationslatenz des Antisemitismus und konstatieren für die Zeit nach 1945 einen Wandel seiner Äußerungsformen, da klassische antisemitische Äußerungen seitdem stärker kommunikativ sanktioniert werden. Sie gehen davon aus, dass der aktuelle Antisemitismus auch über eine Umwegkommunikation artikuliert wird, indem beispielsweise antijüdische Feindbilder durch funktionale Äquivalente ersetzt werden. So bietet das Elitenfeindbild des Rechtspopulismus eine Gelegenheitsstruktur, um antisemitische Deutungsmuster umzucodieren (vgl. Roepert 2022). Auch der israelbezogene Antisemitismus lässt sich als eine derartige Umwegkommunikation verstehen (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013). In der Antisemitismusforschung ist das Phänomen der Umwegkommunikation ein anhaltender Streitpunkt. Diese Auseinandersetzung hat sich zuletzt auch in zwei konkurrierenden Definitionsversuchen des Antisemitismus niedergeschlagen – der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) (2016), die auch Antisemitismus ohne antijüdisches Feindbild als antisemitisch benennt, und der sogenannten Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) (2021), die den Antisemitismus als »discrimination, prejudice, hostility or violence against Jews as Jews« versteht. 160
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In einem Kommentar zu dieser Debatte hat Peter Ullrich (2022), der selbst die JDA unterzeichnet hat, auf »zwei Familien von Antisemitismusbegriffen« hingewiesen, die er als substantiell oder abstrakt-formal bezeichnet und noch einmal von manifestem und latentem Antisemitismus abgrenzt. Laut Ullrich gehen substantielle Begriffe – hier knüpft er an das Verständnis von Holz an, der ebenfalls die JDA unterzeichnet hat – von einem semantischen Kern des Antisemitismus aus, die »Negativrelationen zu Jüdinnen und Juden beziehungsweise dem Judentum« bezeichnen. Abstrakt-formale Begriffe hätten dagegen ein »generalisiertes, erweitertes oder metaphorisiertes Antisemitismusverständnis ohne jüdisches Feindbild«. Das Verständnis von manifestem und latentem Antisemitismus bleibt bei Ullrich jedoch ungeklärt, da er nicht gesondert zwischen subjektiven Dispositionen und Wissensstrukturen als Trägern des Antisemitismus unterscheidet. 1.3 Struktureller Antisemitismus Ein Beispiel für die von Ullrich genannten »abstrakt-formalen« Begriffe ist die Debatte um einen strukturellen Antisemitismus. Ursprünglich geht der Begriff auf eine Untersuchung von Thomas Haury zum Antisemitismus in der Linken zurück, in der er semantische Ähnlichkeiten einer spezifischen Deutung von Kapitalismus und Imperialismus mit antisemitischen Mustern konstatiert. Diese Weltbilder seien laut Haury (2002: 159) nicht »inhaltlich«, jedoch »strukturell antisemitisch«. Theoretische Vorläufer dieses Gedankens finden sich bei Moishe Postone (1979), der die Assoziation ›der Juden‹ mit der abstrakten Seite des Kapitalverhältnisses als wesentliches Element des Antisemitismus bestimmt hat. Für Thomas Schmidinger (2004) ist struktureller Antisemitismus deshalb eine »verkürzte Kapitalismuskritik«. Haury hat das von ihm geprägte Konzept in einem jüngst gemeinsam mit Holz verfassten Text jedoch als zum Teil »irreführend« bezeichnet, da Muster wie »Personalisierung, Ontologisierung, Ethnisierung, Dichotomie etc. in zahlreichen Weltbildern bedeutsam [sind]« (Holz/ Haury 2021: 121, Fn. 34). Zuletzt hat Leo Roepert (2022: 299, Herv. i. O.) dafür plädiert, analytisch zwischen strukturellem und manifestem Antisemitismus zu unterscheiden und ersteren nicht als »eine eigene Form von Antisemitismus« zu verstehen, sondern als »Proto-Antisemitismus«, der das Potential für offenen Antisemitismus in sich trage. Manifester oder offener Antisemitismus liegt laut Roepert dann vor, wenn eine explizite jüdische Feindmarkierung stattfindet. Er hält es allerdings für wahrscheinlich, dass »die krisenhaften Strukturen der modernen Gesellschaft und der von ihr hervorgebrachten Subjektivität immer wieder einen bestimmten Deutungs- und Verarbeitungsbedarf erzeugen, der 161
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dann entweder durch offene oder eben strukturell antisemitische Deutungsmuster bedient werden kann« (ebd.). Ich möchte nun zeigen, dass es analytisch zweckmäßiger ist, den strukturellen Antisemitismus in den rahmenden Narrativen zu verorten, in die Deutungsmuster und Semantiken implementiert werden.
2. Antisemitismus als Krisennarrativ In der Auseinandersetzung mit Antisemitismus wird häufig von antisemitischen Codes, Metaphern, Semantiken und zum Teil auch von Narrativen gesprochen, ohne dass diese Konzepte eingeführt oder voneinander abgegrenzt werden. Ich werde zunächst klären, was unter einem Narrativ zu verstehen ist und den analytischen Mehrwert dieses Konzepts für die Antisemitismusforschung diskutieren. Anschließend rekonstruiere ich die Struktur grundlegender antisemitischer Narrative. 2.1 Erzähltheoretische Konzepte In der Erzähltheorie werden die Begriffe Narration und Narrativ manchmal parallel und wenig trennscharf verwendet. Als Narration bezeichne ich im Folgenden die thematisch gebundene Verknüpfung von Äußerungen entlang einer zeitlichen Ereignisfolge in einem konkreten Text und als Narrativ die intertextuelle Verknüpfung von typisierten Aussagen zu einem komplexen kulturellen Deutungsmuster. Barbara Czarniawska (2004: 6–12) bezeichnet die Narration als »mode of communication« und das Narrativ als »mode of knowing«. Bei beiden handelt es sich um »eine symbolische Konstruktionsform mit einer zeitlichen, durch Anfang und Ende begrenzten Abfolge mit Handlungscharakter« (Müller-Funk 2006: 290). Narrationen sind kontextspezifische Realisierungen von Narrativen, die die wörtliche Oberflächenstruktur eines Textes mit grundlegenden epistemischen Vorstellungen und Wertestrukturen verbinden. Willy Viehöver (2006: 183) zufolge dienen Narrationen der »Kommunikation und der Konstitution von Sinn«, der wiederum »konstitutiv für die Produktion komplexer kultureller Deutungsmuster« ist. Zugleich versehen Narrationen die Menschen mit »Weltsichten, Motiven, Handlungsorientierungen und kulturellen Werten, indem sie Ereignisse, Objekte, Akteure, Handlungen durch narrative Strukturen konfigurieren oder verknüpfen« (ebd.). Folgt man der US-amerikanischen Soziologin Magaret Somers (1994), dann konstituieren sich sowohl Erfahrungen als auch soziale Identitäten erst durch den Prozess der narrativen Tradierung. 162
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Wolfgang Müller-Funk (2008: 13) hat diese Perspektive erweitert und plädiert für eine narrative Theorie der Kultur. Demzufolge seien nicht nur die identitätsstiftenden Erfahrungsaufschüttungen handelnder Subjekte narrativ verfasst, sondern auch »unerfahrbare, ›transzendentale‹ Größen wie Gesellschaft und Nation«. Im Gegensatz zu den kontextbezogenen Narrationen sind die Narrative also auf einer epistemischen Tiefenebene verortet. Laut Albrecht Koschorke (2012: 72) sind sie »ein zu größerer Komplexität fähiges und damit ein Organisationsverfahren höherer Ordnung«, das auch »Verhältnisse einzubeziehen vermag, die sich gegen einfaches Erzähltwerden sträuben«. Erzähltheoretisch lässt sich die antisemitische Weltanschauung als ein Narrativ konzeptualisieren, das sich in Form von thematisch unterschiedlichen Narrationen artikulieren kann und durch diese Erzählungen an neue soziale Erfahrungshorizonte angepasst und erweitert wird. Dabei kommt es zur Iteration von tradierten und zur Adaption von neuen Wissensstrukturen. Mit dieser analytischen Unterscheidung lässt sich das Spannungsfeld zwischen einer »Theorie der individuellen, sozialisatorisch-intersubjektiv vermittelten Wissensaneignung« und einer »Theorie der gesellschaftlichen Wissensproduktion« (Keller 2001: 137) überbrücken. Die wissenssoziologischen Überlegungen zu einer Semantik des Antisemitismus können außerdem integriert werden, da Semantiken einen Bestandteil von Narrativen bilden. Durch die erzähltheoretische Erweiterung gerät zugleich ein Problem in den Blick, dass das aus der Systemtheorie und Begriffsgeschichte übernommene Semantikkonzept kaum bearbeiten kann. Weil Holz (2001: 87) »die ›Oberfläche‹, also die Kommunikationen« des Antisemitismus betrachtet, kann er lediglich die strukturbildende Funktion des Phänomens rekonstruieren. Derartige System- und Identitätsbildungsprozesse lassen sich durch ordnende und klassifizierende Semantiken gut darstellen. Der Antisemitismus als Weltanschauung ist aber mehr als eine solche gemeinschaftsbildende Semantik. Zwar erwähnt Holz ebenfalls den Zusammenhang von Antisemitismus und Krisen und argumentiert, dass der Antisemitismus eine spezifische Interpretation von Krisen sei. Diese interpretative Leistung erfolgt aus Sicht der Subjekte jedoch durch sinnstiftende Narrationen, aus denen erst in der Beobachtung zweiter Ordnung Semantiken und deren jeweilige Funktion analytisch rekonstruiert werden können. Meine Kritik an seinem Semantikbegriff setzt dort an, wo er diese Kriseninterpretation ganz unvermittelt als Krisensemantik bezeichnet (vgl. ebd.: 56). Das theoretische Design der Systemtheorie, aus der Holz den Semantikbegriff entlehnt, versperrt sich gegen interpretative Konzepte wie das der Weltanschauung, da sie die Individuen als soziale Träger nicht berücksichtigt und Latenz lediglich als Funktion von Systemen denken kann. Globisch (2013) hat diese Leerstelle in ihrer Studie zwar mit einer handlungstheoretischen 163
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Erweiterung adressiert, rekonstruiert letztendlich aber ebenfalls Klassifikationsschemata. In der alltäglichen Kommunikation reproduzieren Individuum derartige Semantiken jedoch nicht unvermittelt. Stattdessen fügen sie verschiedene epistemische Bausteine im Rahmen von Bewertungs- und Interpretationsprozessen zu Narrationen zusammen. Aus der Narration eines gesellschaftlichen Verfalls- und Erosionsprozesses kann beispielsweise die Semantik einer moralisch höherwertigen Gemeinschaft, die gegen die zersetzte Gesellschaft abgegrenzt wird, rekonstruiert werden. Erst derartige Narrationen ermöglichen den Übergang von epistemischen Ordnungs- und Klassifikationssystemen zu kommunizierbaren Weltanschauungen. Laut Luc Boltanski (2015: 379, Herv. i. O.) werden »Erklärungen, die zusammen genommen einem Ereignis Sinn verleihen sollen […], immer in einem narrativen Rahmen entwickelt«. Analog argumentiert Julian Timm (2023), dass das, was wir erzählen, häufig ein Derivat von bekannten Erzählungen ist. Ohne ein implizites Wissen dieser Erzählungen wäre es weder möglich, »stereotype Versatzstücke als Bestätigung und Treibstoff für die eigenen Vorurteile ein[zu]binden« (ebd.: 26), noch Geschichten zusammenzufügen und zu entschlüsseln. Eine derartige, im individuellen und kollektiven Wissensbestand wirkmächtige Erzählung, die »je nach Zeit und Kontext an seine Umgebung angepasst werden kann« (ebd.: 22), ist das Narrativ der jüdischen Weltverschwörung. 2.2 Das Narrativ der jüdischen Weltverschwörung Wie sieht nun die narrative Struktur des Antisemitismus aus? Der moderne Antisemitismus ist ein synkretistisches Narrativ, in dem sowohl Elemente des christlichen Antisemitismus, konservative und reaktionäre Invektiven gegen den Liberalismus sowie antimoderne Verschwörungstheorien enthalten sind (vgl. Horn 2012). Der christliche Antisemitismus geht unter anderem auf die Differenz des jüdischen und des christlichen Gottesbildes zurück. Während der alttestamentliche Gott ambivalente Züge aufweist, etablierte die christliche Rezeption der Erzählung vom Sündenfall eine Zweiteilung der Welt mit dem Reich des Teufels als Gegenprinzip zum himmlischen Paradies. Fortan wurden ›die Juden‹ als Handlanger und Agenten des Teufels imaginiert (vgl. Trachtenberg 1993). So wurden im Johannesevangelium ein »kosmischer, ewiger Dualismus zwischen Licht und Finsternis als Grundstruktur der Welt eingeführt« (Schäfer 2020: 59) und ›die Juden‹ als Vertreter:innen der Finsternis ausgemacht. Für die folgende Argumentation ist relevant, dass der christliche Antisemitismus aus einem theologischen Konkurrenzverhältnis 164
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hervorgegangen ist und sich im Laufe der Zeit zu einem komplexen Weltdeutungsmuster entwickelt hat, das im Kontext von disruptiven Ereignissen durch immer neue Aspekte erweitert worden ist (vgl. Tarach 2022). In der Neuzeit wurden viele dieser antijüdischen Bilder auf die Aufklärungsphilosophie, den politischen Liberalismus, das kapitalistische Wirtschaftssystem und den Kontext der Nationalstaatsbildung übertragen. Sowohl der christliche als auch der neuzeitliche Antisemitismus basieren im Kern auf Verschwörungstheorien, in denen ›die Juden‹ für weltliche Übel verantwortlich gemacht werden (vgl. Simonsen 2020). In der Neuzeit lässt sich allerdings ein Übergang der ursprünglich theologischen Argumentation in eine politische Verschwörungstheorie beobachten und ein ›naives‹ und ›taktisches‹ Verschwörungsdenken unterscheiden (vgl. Rogalla von Bieberstein 1992: 102). Die Entzauberung religiöser Weltdeutungen führte dazu, dass ›die Juden‹ nicht mehr als bloße Agenten des Bösen, sondern als übermächtige Drahtzieher der Weltgeschichte dargestellt wurden. Dieser Wandel zeigte sich auch in einer neuen Bildsprache. Neben die Schlange, die letztlich nur Übermittlerin einer teuflischen Botschaft ist, trat der Krake, der die Welt mit seinen Tentakeln durchdringt. Die argumentative Funktion, die der Teufel in den theologischen Diskursen als symbolische Verkörperung des Bösen gespielt hatte, wird in den politischen Verschwörungsdiskursen durch Narrative erfüllt, die Akteur:innen oder gesellschaftliche Tendenzen als direkte Verursacher:innen von sozialen Krisen benennen. Vor allem die 1789 und ab 1797 erschienenen Schriften des Abbé Augustin Barruel, in denen er zunächst die Aufklärungsphilosophen und später Illuminaten, Freimaurer, Jesuiten und Republikaner als Drahtzieher der Französischen Revolution beschreibt, dienten als Folie für zahlreiche neuzeitliche Verschwörungstheorien, darunter auch die Protokolle der Weisen von Zion (vgl. ebd.: 31). Laut Eva Horn (2012: 6), traten ›die Juden‹ »in eine Position, die lange Zeit insbesondere die Freimaurer als gleichsam ›übliche Verdächtige‹ eines für das 19. Jahrhundert prägenden Verschwörungsdenkens eingenommen haben«. Die Protokolle bilden die Grundlage für das Narrativ der jüdischen Weltverschwörung, sind Horn zufolge jedoch selbst ein durch »Wirrnis, Sprunghaftigkeit und Widersprüchlichkeit« (ebd.: 21) gekennzeichneter Text; »ein Nichts, eine diffuse, leere Fläche, auf die – da sie sich dem Lesen hartnäckig entzieht – jeder das projizieren kann, was er in ihr lesen möchte« (ebd.: 25). Erst durch Zwischentitel, Vorworte und Kommentare seien die Protokolle zu dem Narrativ geformt worden, als das sie heute rezipiert werden (vgl. ebd.: 19ff.). Laut Timm (2023: 52) bietet es sich an, diese Erzählung der jüdischen Weltverschwörung als Narrativ zu konzeptualisieren, denn ein solches »beschreibt anders als eine einzelne Geschichte nicht nur Handlungen und Ereignisse aus einer Perspektive, 165
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sondern fasst alle Geschichten zusammen, die ganz ähnlich gebaut sind und sich ähnlicher Motive bedienen«. Dieses Narrativ möchte ich nun in seinen Grundzügen rekonstruieren. Anschließend lässt sich zeigen, dass der Text von Maaßen und Eisleben ebenfalls ähnlich aufgebaut ist und sich ähnlicher Motive bedient. 2.3 Krisennarrative und Antisemitismus Der Antisemitismus ist ein Deutungssystem für die krisenhafte Welt der Moderne. Er formuliert eine Ontologie, beschreibt den Verlauf multipler Krisenprozesse und sucht einen Endpunkt in einer Welt ohne Verschwörer:innen. Dieses System lässt sich auf drei narrative Grundstrukturen herunterbrechen, die ich als Entzweiungsnarrativ, als Dekadenznarrativ und als apokalyptisches Narrativ bezeichne (vgl. Schilk 2023). Das Entzweiungsnarrativ beschreibt die Welt der Gegenwart als gespalten oder entfremdet und konstruiert eine primordiale Einheit, die bedroht oder schon auseinandergefallen ist. Von der Erzählung des Sündenfalls und des Turmbaus zu Babel über den Inversionsgedanken der traditionalistischen Philosophie bis zu dem neuzeitlichen Motiv der Trennung von Staat und Gesellschaft und der postindustriellen Polarisierungsthese von ›somewheres‹ und ›anywheres‹ taucht das Entzweiungsnarrativ in dutzenden Varianten immer wieder auf. Die binären Codes, mit denen der Antisemitismus operiert – wie abstrakt vs. konkret, Gemeinschaft vs. Gesellschaft und Identität vs. Nicht-Identität – gehen auf die narrative Struktur dieser Entzweiungserzählung zurück, in der binäre Zuschreibungen angelegt sind. Zwar ist das Entzweiungsnarrativ nicht genuin antisemitisch, der moderne Antisemitismus lässt sich jedoch nicht ohne Rückgriff auf ein Entzweiungsnarrativ artikulieren. Das Dekadenznarrativ ist die säkularisierte Version der biblischen Erzählung von Sodom und Gomorrha und beschreibt die Zersetzung, Erosion und Desintegration der Gesellschaft durch Libertinage und Hedonismus sowie den Legitimationsverlust der wahren Autorität. Der Dekadenzbegriff bezeichnete ursprünglich den Niedergang des römischen Weltreiches, wurde im 19. Jahrhundert aber von diesem Kontext abgelöst und auf »alle Phänomene des Verfalls« (Rasch 1986: 19) übertragen. Derartige Dekadenznarrative finden sich etwa bei Georges Sorel, Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler. Der moderne Antisemitismus knüpft an diese Dekadenznarrative an, indem er die Ursache der Dekadenz in ›den Juden‹ personalisiert und sie mit den Zuschreibungen der Dekadenz ausstattet. Im antisemitischen Bild ›des Juden‹ schafft dieser »durchgängige Welten, bedroht mit hybriden Mischformen die territorialen Grenzen sowie die der nationalen oder familiären Identität. Der Jude verhindert jede klare Grenzziehung, verwischt, verschleiert und 166
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verletzt. Er bildet ein Loch oder ein Geschwür«, wie Delphine Horvilleur (2020: 59) schreibt. Das apokalyptische Narrativ geht schließlich auf das Johannesevangelium zurück, in dem das Bild ›der Juden‹ als Agenten des Teufels entfaltet worden ist. Die Apokalypse kündigt die Offenbarung dieser Wahrheit an und ordnet die Welt in ein normatives Raster von Gut und Böse, Leben und Tod, Ordnung und Chaos sowie Immanenz und Transzendenz. Diese normative Grundstruktur wurde in der Neuzeit durch politische Attribute der Macht erweitert und im Rahmen verschwörungstheoretischer Diskurse aufgegriffen (vgl. Barkun 1998). Als Weltverschwörungserzählung tritt der moderne Antisemitismus ebenfalls im apokalyptischen Gestus der Offenbarung auf. Die drei narrativen Grundstrukturen hängen zusammen, ergänzen und stützen sich gegenseitig. Sie sind kulturell derart wirkmächtig, dass sie nicht nur das narrative Gerüst des modernen Antisemitismus bilden, sondern in zahlreichen anderen Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen zu finden sind. Diese Narrative sind nicht in jedem Fall problematisch, verweisen aber auf einen kulturellen Wissensbestand, der für Projektionen besonders anfällig ist, da er auch unabhängig von individuellen Erfahrungen tradiert wird und auf diese Weise vergemeinschaftend wirkt. Nun stellt sich die Frage, durch welche Elemente der moderne Antisemitismus von anderen Entzweiungs-, Dekadenz und apokalyptischen Narrativen abgegrenzt werden kann? Ob man dazu auf das inhaltliche Kriterium der antijüdischen Feindbilder zurückgreift oder andere Kriterien formuliert, mit denen sich bestimmen lässt, wie hermetisch und projektiv das Weltbild im Ganzen ist, ist letztendlich eine definitorische Frage, die ich nicht für zweckmäßig halte. Das Ziel dieses Beitrags besteht weniger darin, klare Definitionskriterien für antisemitische Texte zu formulieren. Ich möchte vielmehr für Narrative sensibilisieren, die als strukturell antisemitisch qualifiziert werden können, weil sie im Laufe der Zeit Eingang in die antisemitische Erzählung der jüdischen Weltverschwörung gefunden und deshalb das Potential haben, antisemitisch codiert und antisemitisch gelesen zu werden.
3. Methodologie des strukturellen Antisemitismus Der moderne Antisemitismus ist nicht nur eine bestimmte Vorstellung von Juden:Jüdinnen, sondern ein Welterklärungssystem, das in kulturellen Wissensstrukturen verankert ist. Zu diesen Wissensstrukturen gehört ein über Jahrtausende gewachsenes Repertoire an Zuschreibungen, Geschichten und Legenden, das beständig an neue gesellschaftliche Kontexte angepasst und erweitert worden ist. Um zu verstehen, wie der 167
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Antisemitismus historisch tradiert wurde, ist es notwendig, ihn als Erzählung zu analysieren. Die erzähltheoretischen Konzepte des Narrativs und der Narration können die Transformation und Neucodierung antisemitischer Weltdeutungen erklären und zwischen den analytischen Sphären der Kultur und des Subjekts vermitteln. Einerseits sind Erfahrungen von Subjekten narrativ strukturiert und kollektive Identitäten narrativ verfasst, andererseits gewinnen Kulturen ihre Persistenz erst durch die Institutionalisierung von Deutungsmustern in Form von Narrativen, die wiederum jene Kausalitätssuggestionen und Affordanzen bereitstellen, auf die der moderne Antisemitismus angewiesen ist. Die Analyse dieser Erzählungen lenkt die Aufmerksamkeit »auf die Dynamik eines permanenten Fort- und Umbildens von Erfahrungshorizonten, an der die Akteure gestalterisch mitbeteiligt sind« (Koschorke 2012: 103). Durch eine Fokusverschiebung von der inhaltlich-thematischen Ebene auf eine strukturelle Tiefenebene wird es zudem möglich, die epistemische Dimension des Antisemitismus zu rekonstruieren und Phänomene wie die Kommunikationslatenz zu erklären. So kann die in der Antisemitismusforschung verbreitete Unterscheidung von »manifestem« und »latentem« Antisemitismus, die sich darauf bezieht, ob Subjekte antisemitische Aussagen bewusst oder unbewusst tätigen, geschärft werden. Manifester Antisemitismus läge dann vor, wenn Narrationen auf der inhaltlichen Ebene ein antijüdisches Feindbild aufweisen. Latenter Antisemitismus ließe sich auf der Ebene von komplexeren Krisennarrativen lokalisieren, die – weil sie nicht inhaltlich festgelegt sind, sondern lediglich einer Erzählstruktur folgen – auch ohne antijüdische Feindbilder funktionieren. Diese Unterscheidung ist der Schlüssel zum Verständnis des eingangs zitierten Textes von Maaßen und Eisleben. Anstelle eines antijüdischen Feindbildes greift der Text auf funktionale Äquivalente zurück, die zum Teil ohne Personalisierung auskommen oder derart vage formuliert sind, dass jede:r Leser:in den Text mit einer eigenen Deutung verknüpfen kann. Es ist die Rede von »Tendenzen«, »Kräften« und »gefährlichen Entwicklungen«, die »unsere Gesellschaften und Staaten zersetzen« und von »interessierter Seite massiv gefördert« (Maaßen/Eisleben 2021) werden. In diesen Passagen werden vermeintlich neue Konflikte des 21. Jahrhunderts in abgedroschenen Entzweiungs- und Dekadenznarrativen ausformuliert. Wenige Zeilen später nehmen Maaßen und Eisleben dann doch eine explizite politische Feindmarkierung vor. Das Motiv der Illuminaten, Philosophen und Aufklärer, die zu Zeiten der Französischen Revolution von konservativer Seite als vermeintliche Verschwörer bekämpft wurden, wird im Text auf neue Gruppierungen übertragen. Nun sind es aber die Autoren, die das revolutionäre Freiheitspathos reklamieren und sich in eine Tradition des antifeudalen Kampfes stellen. Diese rhetorische Volte ergibt nur vor der rechtspopulistischen Entgegensetzung von Freiheit und 168
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Totalitarismus Sinn, die heute die konservativen Bezüge auf die feudale Ständegesellschaft abgelöst hat: »Dieselben Kräfte beabsichtigen die Abschaffung jener Freiheit, für die unsere Vorfahren im Kampf gegen Feudalismus und Absolutismus ihr Leben riskiert und auch geopfert haben. Aber im Gegensatz zu den Revolutionären von einst werden sie heute nicht als Feinde unserer Gesellschaftsordnung erkannt; schließlich sind sie Geisteswissenschaftler, Journalisten, Berufspolitiker, EU- und UN-Bürokraten, Befürworter der ökonomischen Globalisierung sowie Manager multinationaler Konzerne und deren Dienstleister.« (ebd.)
Ein anderer Abschnitt liest sich wie ein Derivat des in den Protokollen der Weisen von Zion ausführlich ausgebreiteten »Marx-Rothschild-Theorems« (Horn 2012: 11), demzufolge ›die Juden‹ sowohl den Klassenkampf der Arbeiter:innen als auch die Finanzmärkte der Kapitalist:innen kontrollieren: »Die sozialistischen und die globalistischen Kräfte scheinen sich verbündet zu haben, um genau dieses Ziel zu erreichen. Schon die Architekten des Kommunismus und anderer totalitärer Regime wußten, daß eine Gesellschaft sehr viel leichter in einen totalitären Staat transformiert werden kann, wenn man die familiären und lokalen Zusammenhalte auflöst, wenn man die Menschen entwurzelt, wenn man ihre Traditionen und Nationalkulturen zerstört. Denn auf diese Weise verwandeln sie sich in eine anonyme, atomisierte Masse, die leicht zu kontrollieren und zu manipulieren ist.« (Maaßen/Eisleben 2021)
Wie die Protokolle insinuiert der Text schließlich auch, eine verborgene Wahrheit auszusprechen. Der Übergang, so raunen die Autoren, »vollzieht sich weitgehend im verborgenen [sic!] und ist den meisten Bürgern der westlichen Welt bislang kaum bewußt« (ebd.). Der abschließende apokalyptische Aufruf, »das Bürgertum aus seiner gegenwärtigen Erstarrung [zu] wecken« (ebd.), lässt sich vor dem Hintergrund des Textes nur als Drohung verstehen. Für die pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus lassen sich aus dem hier diskutierten Verständnis eines strukturellen Antisemitismus zwei Aufgaben ableiten. Um langfristig ein besseres Problembewusstsein für antisemitische Denkstrukturen zu vermitteln, sollte einem präventiven Prebunking der Krisennarrative, aus denen sich der moderne Antisemitismus speist, mehr Raum gegeben werden. Um diese Narrative zu erkennen und zu dekonstruieren, sollte gleichzeitig die historische Entstehung des neuzeitlichen Antisemitismus aus dem Geist der konservativen Gegenrevolution stärker als bisher in den Blick genommen werden. Dieser konservativ-reaktionäre Sprechort erklärt nämlich auch, woher Maaßen und Eisleben ihre ideologische Inspiration beziehen. Es sollte klar geworden sein, dass es sich bei ihrer Zeitdiagnose um keine Analyse der 169
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Gegenwart handelt, sondern um eine weitere Neuauflage jener reaktionären Krisennarrative, die im 19. Jahrhundert zum Mythos der jüdischen Weltverschwörung verdichtet wurden. Dass diese Erzählung schon damals maßgeblich im Umfeld von Geheimdienstmitarbeitern, denen der zaristischen охрана, verbreitet wurde, um den Volkszorn auf liberale und sozialistische Bewegungen zu lenken, ist eine weitere Kontinuität in der langen Geschichte des europäischen Antisemitismus.
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IV. Die Politik des Antisemitismus zeitgenössisch betrachtet
Johanna Bach und Valerie Schneider
Gefühlte Wahrheit und wahre Gefühle Zur Rolle von ›Ticket-Gefühlen‹ in der (emotionalen) Selbstbeglaubigung der Querdenken-Bewegung Der Artikel basiert auf Beobachtungen, die wir anhand einer Reihe von Videos über die Querdenken-Proteste in den Jahren 2020 und 2021 gemacht haben. Es handelt sich dabei um Demonstrationsdokumentationen, bei denen auch einzelne Querdenker:innen zu ihren Motiven und Überzeugungen befragt wurden. Wichtig anzumerken ist, dass die dort Sprechenden nicht unbedingt als repräsentativ für alle Querdenker:innen angesehen werden können. Aus unserer Sicht lässt sich anhand einer Analyse dieser Videos jedoch über spezifische Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus theoretisch diskutieren, die wir im Folgenden vorstellen.
1. Beobachtungen Bei der Analyse des Materials kristallisierten sich drei Irritationen1 heraus: 1. Kognitive Unsicherheit und Fehlleistungen: Die erste Irritation bezieht sich auf die manifeste Ebene der Äußerungen. Wurden einzelne Protestierende nach ihren Gründen und Motiven für die Teilnahme an den Demonstrationen gefragt, konnten diese nur in den seltensten Fällen eine klare und überzeugte Antwort geben. Stattdessen verfingen sich viele der Befragten in Widersprüchen und Fehlleistungen. Diese manifeste Unsicherheit ist besonders erklärungsbedürftig, weil die betreffenden Personen sich – der kritischen öffentlichen Debatte um die Proteste zum 1
In Anlehnung an die tiefenhermeneutische Methode deuten wir die bei uns aufgekommenen Irritationen als Brüche in der manifesten Sinnebene, an denen sich latente Bedeutungen des Materials offenbaren (vgl. Lorenzer 1990: 180). Sich von den eigenen Irritationen leiten zu lassen, bedeutet demnach, diese selbst zum Ausgangspunkt der Erkenntnis zu machen und nach den individuell wie kollektiv verworfenen »Modelle[n] menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens« (Lorenzer 2002: 65) zu fragen, die sich im Material latent ausdrücken und reproduzieren.
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Trotz – dazu entschieden hatten, sich den Demonstrationen anzuschließen. Sie hatten sich sogar oftmals die Mühe gemacht, ein Plakat oder anderes Demomaterial anzufertigen und mitzubringen, und man sah sie vorher teilweise noch Parolen skandierend mitmarschieren. Die Protestierenden schienen sich auf manifester Ebene dennoch unklar über ihre Protestmotivation zu sein, während sie gleichzeitig so handelten, als hätten sie starke und gefestigte Überzeugungen. 2. Theatralik des Gefühlsausdrucks: Die zweite Irritation bezieht sich auf die Gefühle, die die Befragten zum Ausdruck brachten. Überführten sie sich selbst der kognitiven Unsicherheit, war ihnen das teilweise merklich unangenehm. Die ihre Aussagen begleitenden Expressionen wurden dann entweder in ihrer Intensität gesteigert oder nahmen einen seltsam gestellten Zug an. So glichen die gezeigten Gefühle eher einer etwas unbeholfenen Performance als spontanen Gefühlsausbrüchen, was in uns wiederum ein Gefühl der Belustigung oder der Fremdscham auslöste. Mit dieser Reaktion waren wir nicht allein. Zeigten wir die entsprechenden Videoausschnitte im Rahmen von Vorträgen, lösten die angesprochenen Momente häufig Gelächter aus und regten zur Nachahmung an. Auch medial wurde sich über diese schrullig anmutenden ›Schwurbler‹ oder ›Aluhutträger‹ amüsiert, eigneten sie sich doch gut für einen humoristischen Umgang mit der wachsenden Bewegung der sogenannten ›Querdenker‹. Denn gerade diese Personen schienen in ihrer Unbeholfenheit und ihrer Unsicherheit eher bemitleidenswert und ›fehlgeleitet‹ als überzeugt und bedrohlich. 3. Diversität von Gefühlen und fehlende Gefühlsansteckung: Die dritte Irritation bezieht sich nun auf die große Bandbreite der gezeigten Gefühle. Passend zu der politisch-querfrontartigen Organisation der Proteste zeichneten sich die Gefühlsäußerungen der Querdenker:innen durch eine große Diversität und Varianz aus. Es ließen sich aggressive Reichsbürger neben Liebe predigenden Hippies, beherrschten Akademiker:innen, empörten selbsternannten Kinderrechtler:innen und selbstgefälligen Esoteriker:innen beobachten.2 Bemerkenswert ist dabei, dass diese verschiedenen bis gegensätzlichen Gefühlsäußerungen scheinbar konfliktund konsequenzlos nebeneinanderstehen konnten, ohne intern für sichtbare Irritationen oder Einspruch der Teilnehmenden zu sorgen. Darüber hinaus schienen manche Äußerungen auch keinerlei gefühlsmäßigen Anklang bei den anderen Teilnehmenden zu finden, auch dann nicht, wenn diese mit Vehemenz zum Ausdruck gebracht wurden. Ist das also alles nur gespielt? Glauben sich die Verschwörungsideolog:innen ihre Erzählungen selbst nicht und fühlen sie nicht das, was sie 2
Amlinger und Nachtwey (2022: 23) beschreiben die Heterogenität der Bewegung als eine Zusammensetzung aus diversen »Ausläufern der alten Alternativmilieus«, AfD-nahen und rechtsoffenen Milieus, wobei erstere am häufigsten vertreten seien (vgl. ebd.: 23ff.).
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zu inszenieren versuchen? Müsste es dann nicht ein Leichtes sein, sie von der Falschheit ihrer Annahmen zu überzeugen? Die Erfahrung der Pandemie hat gezeigt, dass dies kaum der Fall ist. Mit evidenzbasierter, auf wissenschaftliche Erkenntnisse verweisende oder auf Solidarität hoffende Argumentation ließen sich nur die wenigsten Anhänger:innen der Proteste zum Überdenken ihrer Überzeugungen anregen. Im Gegenteil: Die Wirkmächtigkeit ihrer Erklärungsmuster und ›gefühlten Wahrheiten‹ zeigte sich in den Jahren der Pandemie eindeutig und teilweise unmittelbar gewalttätig. Nicht nur lieferten sie für viele scheinbar überzeugende Argumente gegen eine Corona-Schutzimpfung – die Impfquote in Deutschland war lange eine der niedrigsten in Westeuropa. Auch ging und geht von der Querfront ein Gewaltpotential aus, welches zu mehreren Morden geführt, den ›Sturm auf den Reichstag‹ ermöglicht, und die allgemeine Zahl antisemitischer Straftaten seit Beginn der Pandemie hat ansteigen lassen. (vgl. Lamberty et al. 2022; vgl. RIAS 2021/2022). Die recht fragile und uneinheitliche Gefühlsbasis der Proteste, die kaum zu ignorierende Absurdität der Behauptungen und die eigene Unsicherheit, scheinen also kein Hindernis für den Zuspruch eines nicht zu vernachlässigenden Teils der Bevölkerung zu sein. Dieser Umstand erschien uns nach der Analyse der Videos umso erklärungsbedürftiger. Im Folgenden werden wir uns nun insbesondere auf eine Diskussion der 2. und 3. Irritation konzentrieren, da diese in der bisherigen Forschung eher randständig behandelt oder medial verharmlost wurden. Das Sich-lustig-Machen über die kognitiven Unsicherheiten und die Unbeholfenheit oder Künstlichkeit des emotionalen Ausdrucks übersieht, dass diese Aspekte zum Antisemitismus dazu gehören können. Wir haben es hier mit einer möglichen, ggf. sogar besonders ›modernen‹ Erscheinungsform desselben zu tun, die es zu untersuchen gilt.
2. Zur 1. Irritation: Kognitive Unsicherheit und Fehlleistungen Dass Verschwörungserzählungen sich nicht an die Regeln von Logik und Validierbarkeit halten, gehört zu ihrer Quintessenz und bleibt auch ihren eigenen Anhänger:innen nicht verborgen. Weder die antisemitische Weltanschauung noch die antisemitische Leidenschaft beruhten je auf realer Erfahrung. Antisemitismus war nie eine Reaktion auf das Verhalten von Juden und Jüd:innen, sondern entspringt der Phantasie und den Bedürfnissen der Antisemit:innen; er geht »den Tatsachen voraus« (Sartre 1944: 14f.). Die Diskrepanz zwischen antisemitischen Zuschreibungen und Behauptungen sowie der Realität lässt sich nur mit großem kognitivem und emotionalem Aufwand leugnen. In verschiedenen Ansätzen 177
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der Antisemitismustheorie findet sich folglich der Hinweis darauf, dass auch die Verfechter:innen antisemitischer und verschwörungsideologischer Erklärungsmuster sich diese oft selbst nicht restlos glauben. So vermutet Arnold Zweig bereits 1927, dass Antisemit:innen bei der übertriebenen Inszenierung ihrer Verachtung selbst nicht ganz wohl sei, und stellt fest: »Das Übertriebene macht unsicher«, woraus er die Angewiesenheit von Antisemit:innen auf »Gesinnungsgenossen« (Zweig 1927: 305) ableitet. Auch Jean Paul Sartre (1944: 16) geht davon aus, dass gerade das Lossagen von den Regeln der Rationalität und des Diskurses im Antisemitismus einen Teil von dessen Attraktivität ausmache und als befreiend wahrgenommen werde. Deshalb entschieden sich Antisemit:innen dazu, »im Modus der Leidenschaft zu leben« (ebd.: 15), und »vor [sich] selbst das Schauspiel der Unaufrichtigkeit aufzuführen« (Elbe 2010: 53). Und Adorno und Horkheimer (1947: 217) konstatieren: »[I]m Unmaß seines Widersinns [des Antisemitismus, J.B./V.S.] [tritt] die Wahrheit negativ zum Greifen nahe«. Selbes gilt für die strukturell antisemitischen Erzählungen der Querdenken-Querfront: Keiner der Protestteilnehmenden hat einen Mikrochip implantiert bekommen, niemandes Kind wurde von der politischen Elite entführt und verspeist. Und trotzdem haben sie sich dazu entschieden zu glauben, dass Bill Gates hinter Corona steckt, und dass Hilary Clinton Anführerin eines international agierenden Pädophilenrings sei. Die kreuz und quer im Internet zusammengetragenen vermeintlichen ›Beweise‹ selbsternannter Expert:innen genügen ihnen als Beleg für die Richtigkeit ihrer Behauptungen. Denn dieses ›Wissen‹ und die damit einhergehenden Gefühle erweisen sich als befriedigend oder wenigstens als psychodynamisch funktional.
3. Zur 2. Irritation: Theatralik des Gefühlsausdrucks Doch wie ist dieser Umstand zu erklären? Und wieso entstehen auf Grundlage einer so dünnen Erfahrungs- und Begründungsbasis subjektiv und kollektiv derart wirksame Gefühle? Peter Goldie (2000: 22) beschreibt in seiner philosophischen Untersuchung von Gefühlen auch solche, die auf Überzeugungen fußen, die sich in der Realität nicht validieren lassen – er nennt sie »ungrounded emotions« und führt aus: »For one thing, an emotion may be intelligible but also irrational if the false belief which putatively grounds it is one which was not arrived at by a suitable rational process. For another thing, it is possible for an emotion to be intelligible but either inappropriate or disproportionate given the beliefs which putatively ground it« (ebd.: 23). 178
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Das bedeutet, es kann Emotionen geben, die zwar verständlich gemacht werden können, die aber dennoch ›ungrounded‹ sind, weil sie auf falschen Überzeugungen beruhen (z. B. Xavier Naidoos Weinen aufgrund des vermeintlichen Kindsmords durch globale Eliten). Und es kann Emotionen geben, die im Verhältnis zu ihrer Begründung unangemessen oder unproportional erscheinen (etwa der Wutausbruch eines Maskengegners angesichts der Aufforderung, einen Mundnasenschutz zu tragen). Antisemitische Gefühle können also in Anschluss an Goldie als ›ungrounded emotions‹ interpretiert werden. Nun ließe sich mit Verweis auf Zweig, Sartre und die Kritischen Theoretiker konstatieren, dass emotionale Reaktionen gerade dann für Außenstehende unverhältnismäßig (zu stark oder zu schwach) ausfallen, wenn die Gefühlsträger:innen ihre Irrationalität selbst ahnen. Das Gefühl wirkt dann – wie in unseren Beobachtungen – künstlich übersteigert oder seltsam ich-fremd und unsicher inszeniert. 3.1 Kognitive und emotionale Selbstbeglaubigung Wie gehen die Subjekte nun mit dieser Ahnung der Unbegründetheit um? Auf kognitiver Ebene ist das Phänomen der Selbstbeglaubigung bekannt. Verschwörungsgläubige suchen permanent nach Belegen für ihre Welterklärung, sie fälschen die Protokolle der Weisen von Zion, sie finden überall Muster, Hinweise und versteckte Zeichen, sie tragen Unmengen an vermeintlichem Beweismaterial zusammen. Auch Sartre (1944: 31) beobachtete dieses geradezu zwanghafte Suchen nach Geschichten, »die die Geilheit des Juden offenbaren, seine Gewinnsucht, seine Schlauheit, seine Wortbrüchigkeit«. Darin besteht, so Julijana Ranc (2016: 23) in Anschluss an Sartre, der »Sucht- und Lustcharakter des Ressentiments«. Und finden sie diese Bestätigung nicht, so wird schließlich, wie im Nationalsozialismus, die Realität dem antisemitischen Phantasma gewaltsam angepasst (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 177). Diese These ließe sich nun auf die emotionale Ebene ausweiten: Antisemit:innen sind nicht nur auf kognitive Selbstbeglaubigung angewiesen, sondern auch auf emotionale. Sie müssen sich ihre Gefühle selbst glaubhaft machen, im Kollektiv (z. B. durch die Teilnahme an virtuellen oder realen Massen) wie individuell. Auch Sartre (1944: 15, Herv. i. O.) erinnert daran, »daß wir uns auf eine Wut immer einlassen müssen, damit sie sich äußern kann, daß man, wie es so richtig heißt, sich in Wut versetzt«. Hier lässt sich an Arlie Hochschilds Begriff der ›Gefühlsarbeit‹ (emotion work) anschließen, den sie in empirischen Fallstudien mit Flugbegleiterinnen entwickelte. Diesen wurde vom Management aufgetragen, die den Fluggästen entgegengebrachte Freundlichkeit nicht nur oberflächlich zu zeigen, sondern tatsächlich im Innern zu empfinden. Hierfür war eine 179
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gezielte Manipulation der eigenen Emotionen notwendig, die mit unterschiedlichen Methoden erreicht werden sollte (vgl. Hochschild 2006: 53ff.). Während in dieser Konstellation die ›Gefühlsnormen‹ von außen gesetzt waren und einem wirtschaftlichen Verwertungsinteresse dienten, ist das verschwörungsgläubige Subjekt innerpsychisch auf die Glaubhaftigkeit der eigenen Gefühle angewiesen. Wie die antisemitischen Narrationen, so dienen auch die mit diesen zusammenhängenden ›ungrounded emotions‹ der Ich-Stabilisation, deren ›Ungrounded‹-Sein vor sich selbst und anderen verborgen werden muss. Sie als unbegründet zu erkennen, würde das fragile, innerpsychische Gleichgewicht gefährden. Deshalb wird ›Gefühlsarbeit‹ notwendig, in deren Folge man nicht nur versucht, einem Gegenüber die eigenen Gefühle durch einen entsprechenden Ausdruck ›authentisch‹ erscheinen zu lassen. Man will sie auch selbst für ›echt‹ halten, weshalb sich Verschwörungsideolog:innen während ihrer ›suchthaften‹ Suche nach ›Beweisen‹ immer wieder emotionalen Situationen aussetzen, sich permanent mit emotional hoch aufgeladenen Themen beschäftigen, sich selbst bei Gefühlsausbrüchen filmen, den Gefühlsausdruck in seiner Intensität hochschrauben oder sich Gefühlsgemeinschaften anschließen (vgl. Rosenwein 2006). Agnes Heller (1981: 119) beschreibt diesen Drang, bestimmte emotionelle Situationen immer wieder selbst zu schaffen, als Tendenz zur »Selbstzündung«. Aurel Kolnai (2007: 110) fasst das »wählende[…] Aufsuchen des Gegenstandes« in seiner phänomenologischen Analyse des Hasses wie folgt: Der Hass »tritt nicht selbstverständlich und automatisch ein, sondern ist – gleich der Liebe im höheren und engeren Sinn – etwas Ereignishaftes, ein Kurs, den die Persönlichkeit einschlägt.« (ebd.) Gleichzeitig betont er, dass »[d]er persönliche Einsatz, den der Haß mit sich bringt«, »sinnlos, deplaciert, unecht« erscheine, sofern ihm keine akute und »persönliche Feindschaftssituation« (ebd.) zugrunde liegt. Nun lässt sich feststellen, dass sich im Zuge der Pandemie erstaunlich viele Menschen darauf einließen, den Kurs antisemitischer Gefühle einzuschlagen, obwohl diesen keine »persönliche Feindschaftssituation« (ebd.), zugrunde lag – jedenfalls nicht die, die sie behaupteten.3 Sie übernahmen/wählten also Gefühle und Überzeugungen, die weder ihrer individuellen ›Psychologie‹ entsprangen, noch konnten sie sich für deren Legitimation auf ursächliche Erfahrungen berufen. 3
Der Stellenwert von ›ursächlichen‹ Erfahrungen ist in der Antisemitismusforschung nicht unumstritten. Korrespondenztheoretische Ansätze gehen nach wie vor davon aus, es ließen sich solche ausmachen. Die hier zitierten Autor:innen argumentieren gegen eine solche Annahme. Mithilfe des Konzepts der Schiefheilung lässt sich darauf verweisen, dass im Antisemitismus Erfahrungen verarbeitet und ›schiefgeheilt‹ werden, die nichts mit Juden und Jüd:innen selbst zutun haben (vgl. Brunner 2016: 21ff.).
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3.2 Ticketmentalität Dies ist ein Phänomen, das auf der Ebene politischer Meinungsbildung von Horkheimer und Adorno (1947: 210ff.) bereits mit dem Konzept der »Ticketmentalität« oder des »Ticketdenkens« beschrieben wurde. Sie beobachten eine zunehmende Angleichung der Subjekte an die Anforderungen von kapitalistischer Massenproduktion und -kultur, was sich durch einen Hang zu stereotypem Denken, verdinglichter Wahrnehmung und einer Unfähigkeit, sich auf individuelle Erfahrungen tatsächlich einzulassen, bemerkbar mache. Die so prädisponierten Subjekte entschieden sich mit der Wahl eines politischen ›Tickets‹ für eine grundlegende ›Fahrtrichtung‹ – ob liberal, konservativ, faschistisch usw. – und ließen sich von dieser passiv ›mitnehmen‹. Sie orientierten sich an den beschränkten, formelhaften Grundprinzipien des jeweiligen Tickets, was ein klischeehaftes und gegen Besonderheiten resistentes Denken und Handeln hervorbringe. Welches Ticket dabei gewählt wird, ist Horkheimer und Adorno zufolge ebenso zweitrangig wie die Frage, aus welcher Serienproduktion der nächste Neuwagen oder die Einbauküche inklusive ihrer genauen Ausstattung stammen. Hier kommt es nicht auf individuelle Normvorstellungen, Bedürfnisse oder kritisches Nachdenken an. Stattdessen werden die angebotenen Tickets samt ihren unterschiedlichen Inhalten eher zufällig und im Gesamtpaket gewählt (vgl. ebd.: 210) Diese Entwicklung kommt Verschwörungsideologien und antisemitischen Erzählungen entgegen. Denn es sind gerade diese Formen der Erfahrungslosigkeit und der Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Beschaffenheit des Objekts, die den Kern des Antisemitismus ausmachen und sich in der Ticket-Mentalität universalisieren, weil sie so gut mit den ökonomischen Anforderungen und der ›abstrakten Arbeitsform‹ korrelieren. So fassen Horkheimer und Adorno diesen Gedanken wie folgt zusammen: »Nicht erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt« (ebd.: 217). 3.3 Ticketgefühle Auf Grundlage unserer Beobachtungen und des zuvor Besprochenen ließe sich nun die These aufstellen, dass die beschriebenen Gefühlskonstellationen das emotionale Pendent zu dem tickethaften Urteils- und Denkvermögen spätkapitalistischer Subjekte bilden. Nicht nur das kognitive Welt- und Selbstverhältnis wird von gesellschaftlichen und ökonomischen Anforderungen geprägt und beschnitten, auch die Fähigkeit, emotionale Erfahrung zu machen scheint beeinträchtigt. So wie laut Horkheimer und Adorno der »Wahrnehmende […] im Prozeß der 181
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Wahrnehmung nicht mehr gegenwärtig [ist]« (ebd.: 211), so scheint es der Fühlende auch nicht mehr im Prozess des Fühlens. Lässt sich also ein Äquivalent zum »urteilslosen [...] Urteil[...]« des Ticketdenkens behaupten – ein ›gefühlloses Gefühl‹ oder Ticketgefühl? Wenn dem so ist, dann wäre die ›Performance‹ bestimmter Gefühle und die damit einhergehende ›Gefühlsarbeit‹ der Versuch, gewählte Tickets auch emotional wirksam werden zu lassen, sie sich nicht nur äußerlich überzustülpen. Der Anspruch, dass sich politische Positionen auch ›richtig anfühlen‹ sollen, scheint ein Spezifikum zeitgenössischer Vergesellschaftung zu sein, in der vermehrt zu ›Authentizität‹ und ›Individualität‹ aufgerufen wird und Gefühle nicht mehr aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Unmittelbar nach Kriegsende, als Horkheimer und Adorno die siebte These der Elemente des Antisemitismus formulierten, mag dies noch anders gewesen sein. Nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus und mit dem Einsetzen der Reeducation wurde es für die ehemaligen ›Volksgenossen‹ zunehmend schwierig, ihre Gefühle öffentlich kundzutun, die – so die Diagnose der Mitscherlichs (vgl. Mitscherlich/Mitscherlich 1967) – sich noch nicht von der Identifikation mit dem geliebten Führer lösen konnten. So mutet auch das ticketorientierte Subjekt bei Adorno und Horkheimer eher gefühllos und abgestumpft an. Doch gerade vor dem Hintergrund der Omnipräsenz sozialer Medien und der Inwertsetzung von Gefühlen in der postfordistischen ›Dienstleistungsgesellschaft‹, scheint der Aspekt emotionaler ›Authentizität‹ und des emotionalen Ausdrucks relevanter zu werden; auch für autoritäre Bewegungen und deren Tickets. 3.4 ›Authentische Gefühle‹ im Zeitalter sozialer Medien Die Frage, was die ›Echtheit‹ von Gefühlen ausmacht, ist nicht einfach zu beantworten. Grundsätzlich ist der Authentizitäts-Begriff nicht unproblematisch und wird auch in essentialistischen und biologistischen Ideologien bemüht. Davon abgesehen lässt sich jedoch die These aufstellen, dass im Zeitalter sozialer Medien Gefühle dann als besonders authentisch gelten, wenn ihre Außenwirkung besonders glaubwürdig erscheint; wenn also potentielle Zuschauer:innen den gezeigten Emotionsausdruck für glaubhaft halten. Damit verschiebt sich der Fokus von der inneren Wahrnehmungs- und Erlebniswelt des Individuums auf die antizipierte Wahrnehmung konkreter oder abstrakter Anderer. Da jedoch die Tiefe eines Gefühls nicht gleichbedeutend mit einer intensiven (und damit vermeintlich eindeutigen) Expression ist, kann es hier zu einer Schieflage kommen: Die Intensität und Theatralik der Expression wird dann mit der Tiefe des Gefühls verwechselt.
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4. Zur 3. Irritation: Diversität von Gefühlen und fehlende Gefühlsansteckung Neben der Theatralik der Gefühlsexpression lässt sich, wie eingangs beschrieben, eine große Bandbreite unterschiedlicher Gefühlsexpressionen der Querdenker:innen beobachten, was auf den ersten Blick den von Freud analysierten Massenbildungsprozessen zu widersprechen scheint. Besonders in einer kurzlebigen Massensituation – wie einem Protest – zeichnet sich, so Freud (1921: 21ff.), das Individuum durch Enthemmung, Suggestibilität und Entindividualisierung aus, während eine kollektiv gesetzte Führerfigur oder eine führende Idee handlungsleitend wird. Die Tatsache, dass die Einzelnen in der Masse »ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben« (ebd.: 61), löse bei den Massenmitgliedern – ihren individuellen Besonderheiten zum Trotz – eine libidinöse Bindung sowie Affektangleichung aus. Die Identifizierung über das gemeinsame Ichideal4 sorge dafür, dass interne Feindseligkeiten der Massenmitglieder externalisiert, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle abgebaut werden und eine narzisstische Erhöhung durch die imaginäre Teilhabe an der Macht des Führers oder der Idee stattfinden kann (vgl. Brunner 2022: 93ff.). Durch die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Massenideal oder die für sich imaginierte Führerliebe, verringere sich die Spannung zwischen Ich und Ichideal, was zu einer innerpsychischen Entlastung sowie zu einem Lustgewinn der Einzelnen führe (vgl. ebd.). Je nach libidinöser Organisation der Masse könnten die zugrundeliegenden Identifizierungen der Massenmitglieder sogar wie eine »psychische[...] Infektion« (Freud 1921: 50) wirken, die dann in der Masse für eine gegenseitige Gefühlsansteckung der Individuen sorge. »Solange die Massenbildung anhält oder soweit sie reicht, benehmen sich die Individuen, als wären sie gleichförmig« (ebd.: 45). Doch weder eine solche Gefühlsansteckung noch eine Gleichförmigkeit im Verhalten oder im Gefühlsausdruck waren in unseren Beobachtungen vordergründig ausschlaggebend für die Massendynamik der Querdenker:innen. Vielmehr evozierte die ausbleibende (sichtbare) Gefühlsansteckung, bis hin zu einer Gleichgültigkeit in den gegenseitigen emotionalen Bezugnahmen der Protestteilnehmenden, eine unserer Irritationen.
4
Das Ichideal beschreibt eine »Instanz der Persönlichkeit, die aus der Konvergenz des Narzißmus (Idealisierung des Ichs) und den Identifizierungen mit den Eltern, ihren Substituten und den kollektiven Idealen entsteht. Als gesonderte Instanz stellt das Ichideal ein Vorbild dar, an das das Subjekt sich anzugleichen sucht« (Laplanche/Pontalis 1973: 202f).
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4.1 Attraktivität der Querdenken-Bewegung So divers und austauschbar die Rationalisierungen der QuerdenkenQuerfront sind, so vielfältig scheinen auch die emotionalen Expressionen zu sein. Unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Gefühle können hier recht unvermittelt nebeneinanderstehen, ohne dass eine Angleichung notwendig zu sein scheint, um den Gruppenzusammenhalt und die massenpsychologische Wirkung auf die Einzelnen zu garantieren. Auch jene Gefühle, die für Außenstehende irritierend, inszeniert oder übertrieben anmuten, sorgen in der Gruppe selbst weder für Widerspruch noch für Irritation oder Abwendung. Wir vermuten nun, dass es nicht der unmittelbare Gleichklang der Gefühle ist, der es den Einzelnen – auch eigenen Unsicherheiten zum Trotz – attraktiv erscheinen lässt, sich den Protesten anzuschließen. Es scheint vielmehr gerade die Tatsache zu sein, dass jede noch so aberwitzige Begründung und jede noch so übertrieben und abwegig erscheinende Gefühlsäußerung hingenommen wird. Das heißt, Rationalisierung und Normalisierung individuell abweichender Affekte, Gefühle und/oder irrationaler Vorstellungen bedürfen in der konkreten Masse nicht zwangsläufig der Übereinstimmung mit anderen. Doch was hält Teilnehmenden dann als Masse zusammen? Im Protest vereint sind die Querdenker:innen über die abstrakte und negative Leitidee, dass etwas mit der äußeren Realität und deren hegemonialen Interpretation nicht stimme und ›die da oben‹ dafür verantwortlich seien. Durch das Ausbleiben der individuellen Realitätsprüfung und ihren pathisch-projektiven Charakter nehmen Verschwörungsideologien eine besondere Nähe zum Antisemitismus sowie zur Struktur der Massenpsychologie ein. Verschwörungserzählungen imponieren »durch ihre Aufklärungsresistenz - ähnlich einem Wahn können sie jeden Widerspruch integrieren« (Kirchhoff 2020: 108), solange sie vom Subjekt irgendwie rationalisiert und damit realitätsgerecht gemacht werden können (vgl. ebd.: 108f.). Das heißt, allein die Tatsache zu wissen oder – wie sich noch zeigen wird – sich vorzustellen, dass man seinen ›Wahn‹5 nicht alleine glaubt, genügt für die Validierung der eigenen, irrationalen Wirklichkeitskonstruktion. Die grundlegende Offenheit für verschiedene, ›wahnhafte‹ Vorstellungen erhält die Masse der Querdenker:innen also über ihren verschwörungsideologischen (Minimal-)Konsens. So spiegelt sich in der unvermittelten Diversität der Gefühlsexpressionen zunächst die Wahllosigkeit der verschwörungsideologischen 5
Mit ›Wahn‹ ist hier nicht eine individuelle Leidsymptomatik, sondern das Teilnehmen an einer »kollektiv geteilten wahnhaften, d.h. […] die Realitätsprüfung aussetzenden Wahrnehmungs- und Denkstruktur« (Brunner 2016: 31) gemeint, welche die Subjekte gerade vor der Ausbildung wahnhafter Symptome im klinischen Sinne bewahrt.
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Behauptungen. Durch den verschwörungsideologischen Kitt der Bewegung ist für jede:n etwas dabei. Gerade dieser Umstand macht die Bewegung so anschlussfähig für verschiedenste Milieus mit ihren je eigenen Gefühlsnormen und -regeln. Der basale, strukturell antisemitische Konsens über die Feindschaft gegen ›die da oben‹ scheint auszureichen, damit die so entstandene Gruppe die Einzelnen davor schützt, einfach nur als verrückt zu gelten. 4.2 Die Masse in der Masse Die Varietät und teilweise Gegensätzlichkeit der gezeigten Gefühlsäußerungen deutet aber auch darauf hin, dass die Einzelnen bereits bei ihrer Zusammenkunft an Massen gebunden sind, die sich der inhaltlichen und emotionalen Ausgestaltung nach unterscheiden können. Diese bestehenden massenpsychologischen Bindungen lassen sich als Mechanismus der Identifikationen mit den zuvor angesprochenen Tickets interpretieren. So treffen in der konkreten Protestsituation Personen aufeinander, die ihre jeweils relativ feststehenden Ticket-Mentalitäten und -Gefühle mitbringen. Die Herausbildung eines stereotypen Denk- und Gefühlsmusters geschieht stets über die Identifikation mit gesellschaftlich vorherrschenden Ideologien und ihren Ansprüchen an die Subjekte, die in Form von ›Massenidealen‹ verinnerlicht werden (vgl. Brunner 2022: 98ff.).6 Daraus folgt ein spezifischer Realitätsbezug und Wahrnehmungsmodus, der darauf angewiesen bleibt, notwendige Differenzerfahrungen projektiv einzuebnen und aushaltbar zu machen. So geht auch die Übernahme eines Tickets stets mit der Verinnerlichung einer (vorgestellten) Masse einher, die für das Subjekt folglich die Funktion der Realitätsprüfung übernimmt. Über den persistenten Gebrauch von Tickets als kollektivem Ersatz der subjektiven Realitätsaneignung und -bewältigung, werden individuelle Erlebnisse und Erfahrungen also permanent durch massenpsychologische Prozesse überformt und beschnitten. Daraus erwächst ein Prozess der ›Entsubjektivierung‹, der sich sowohl negativ auf die Fähigkeit zur Reflexion als auch auf die Erfahrungsfähigkeit der Einzelnen auswirkt: »Je mehr ›Vorausurteile‹ man fällt, desto mehr verstellen diese die Möglichkeit, überhaupt Erfahrungen machen zu können, etwas Neues, vielleicht Überraschendes oder Irritierendes oder Infragestellendes oder Verunsicherndes oder Enttäuschendes am anderen wahrnehmen zu können« (Kirchhoff 2020:113). 6
Brunner (2022: 98) spricht in diesem Zusammenhang von einem »stummen Massenprozess«, der seine schiefheilende Wirkung bereits als Teil der ›normalen‹ Subjektkonstitution entfaltet.
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Vor diesem Hintergrund ließe sich annehmen, dass die ausbleibenden Irritationen und Gefühlsansteckungen in der Masse, ein Resultat der so erworbenen, verarmten emotionalen Erfahrungsfähigkeit selbst darstellt. Die mangelnde Erfahrungsfähigkeit verstärkt wiederum die Abhängigkeiten der Einzelnen von Massenbindungen sowie die Wichtigkeit der ›externen‹ Validierung, der prekär gewordenen Gefühlswelt durch eine (Gefühls-)Gemeinschaft. Die verschiedenen Massenideale der einzelnen Massenmitglieder geraten daher auch nicht in Widerspruch, solange sie den Einzelnen Unmittelbarkeit im Sinne des Aussetzens der Realitätsprüfung sowie einer ›Begegnung‹ zwischen Ich und Ichideal versprechen. So ist es kein Zufall, dass es bei den Querdenker:innen weniger ein konkretes idealisiertes Objekt – wie etwa eine führende Idee oder eine Führerfigur – ist, das an die Stelle des Ichideals der Einzelnen getreten ist und die handlungsleitende Realitätsprüfung übernimmt. Auch Amlinger und Nachtwey (2022: 178) kommen – allerdings keinen massenpsychologischen Ansatz verfolgend – in ihren Studien zu den Querdenker:innen zu dem Ergebnis, dass sich deren »libertärer Autoritarismus« nicht (mehr) durch einen Ruf nach einem starken Führer oder einer anderen externen Identifikationsfigur, sondern durch die eigene Selbstsetzung als Autorität auszeichnet. Die Querdenker:innen könnten zwar punktuell eine Gemeinschaft bilden (wie etwa im gemeinsamen Protest), würden aber nicht dauerhaft in einer sozialen Gruppe aufgehen, sondern in ihren Beziehungsweisen letztlich eine »lose Ansammlung von Individuen« bleiben (vgl. ebd.). Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass es sich hier um eine autoritäre Masse ohne Massenpsychologie handelt. Vielmehr scheint das Objekt über das die gemeinsame Identifikation stattfindet die Masse selbst zu sein. Die französische Psychoanalytikerin Janine Chasseguet-Smirgel (1987: 86) beschrieb diesen spezifischen Aspekt der Massenbildung bereits Mitte der 1970er Jahre mit dem Verweis darauf, dass die Anziehungskraft des Führers sich maßgeblich über seine Funktion als Heilsbringer für narzisstische Wunden und psychische Differenzerfahrungen auszeichne. Dieses Heilsversprechen könne jedoch auch von der Idee einer Gruppensituation selbst ausgehen, was laut Smirgel vor allem bei von ihr sogenannten virtuellen Massen der Fall ist. »Virtuelle Massen« (ebd.: 88) seien im Vergleich zu anderen Massen durch einen gesteigerten illusorischen Charakter geprägt und könnten ihre regressive und narzisstische Wirkung bereits durch die vorgestellte Vereinigung in einer politischen, insbesondere einer mystisch-politischen Überzeugung entfalten (vgl. ebd.). Die Notwendigkeit zu einer solchen ›virtuellen‹ Massenbildung wird vermutlich umso dringlicher, je mehr das Individuum vereinzelt und unter anomischen gesellschaftlichen Bedingungen auf sich selbst gestellt bleibt. So gesehen spiegelt sich in der Massenbildung der Querdenker:innen der objektive Zug spätmoderner Individualisierungsprozesse wider, 186
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der den Einzelnen Freiheit und Individualität ideologisch zwar verspricht, real jedoch über einen abstrakten »Fake-Individualismus« (Stögner 2020: 270) nicht hinauskommt und daher selbst Auslöser für das Bedürfnis nach der Identifikation mit einem Kollektiv darstellt (vgl. ebd.). Das könnte bedeuten, dass die Querdenker:innen unterschiedlichster Couleur sich nicht primär über Inhalte oder eine gemeinsame emotionale Grundlage identifizieren, sondern über den dahinterliegenden Modus ihres Welt- und Selbstbezugs, der auf eine massenpsychologische Bindung angewiesen ist, unabhängig von der konkreten Ausgestaltung. Sie sind also alle Subjekte der Masse oder des Tickets und können sich gerade deshalb in den anderen Protestteilnehmenden wiedererkennen, auch wenn sie auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben: »Die Gruppe erzeugt sich selbst. […] Es geht nicht darum, sich um eine zentrale Person zu scharen (den Leiter)« (Chasseguet-Smirgel 1987: 85), sondern um sich »mit der Kollektivbildung im ganzen zu identifizieren« (ebd.: 88; Herv. i. O.). So können die einen ›Liebe und Frieden‹ predigen, während neben ihnen andere ihren hasserfüllten Affekten gegen die ›zionistische Weltverschwörung‹ freien Lauf lassen oder wieder andere rebellisch zum Widerstand gegen den ›Impfzwang‹ aufrufen. Auf Grundlage des verschwörungsideologischen (Minimal-)Konsenses steckt die Gruppe ihre eigenen Grenzen ab, innerhalb derer sie die Austauschbarkeit der Rationalisierungen, ihrer Affekte und Gefühle gestattet. Daraus können sich für die Einzelnen durchaus psychodynamische Vorteile ergeben. Denn wird in der Masse das Ideal nicht (mehr) so eng gefasst – wie in führerzentrierten Massen –, wächst für die Einzelnen das narzisstische Größenpotenzial in doppelter Hinsicht. Je abstrakter das Ideal in der Masse gefasst wird, desto offener wird es für die individuelle Ausgestaltung der Identifikation der Einzelnen, wodurch sich zumindest potenziell ein zahlenmäßiger Zuwachs der Masse ergibt; sie wird schlicht für mehr Personen attraktiver. Wenn das idealisierte Objekt abstrakt bleibt, oder gar austauschbar wird, eröffnet sich zudem gewissermaßen für jedes einzelne Massenmitglied die Möglichkeit, selbst FührerQualitäten anzunehmen.7 So ließe sich neben der Validierung der eigenen irrationalen Gefühle durch die Masse, die Macht der Masse auch für die Rekrutierung eigener Gefühlsangebote und Realitätsdeutungen der Einzelnen leihen. Die Teilhabe an einer solchen, ›virtuellen Masse‹ verspricht also sowohl eine besondere Entlastung, als auch Macht in Bezug auf die Realitätsprüfung und den Umgang mit psychischen Differenzerfahrungen, die vom Ich als störend empfunden werden. 7
Hier stellt sich jedoch die Frage, inwiefern das tatsächlich möglich ist sowie sich ebenfalls über die psychodynamischen Nachteile einer solchen Massendynamik in Bezug auf den narzisstischen Gewinn für die Einzelnen diskutieren ließe.
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5. Schluss Die Analyse der drei zu Beginn dargestellten Irritationen, die in dem von uns vorgeschlagenen Begriff der Ticket-Gefühle mündete, hätte ergeben können, dass wir es bei den beobachteten Personen mit ›oberflächlichen‹ Antisemit:innen, Mitläufer:innen oder Pseudo-Verschwörungsgläubigen zu tun haben, die sich recht schnell wieder anderen Themen zuwenden würden. Das hätte insofern eine Erleichterung bedeutet, als dass man sich in der Erforschung und Bekämpfung des Antisemitismus auf die ›wirklich überzeugten‹, manifesten Antisemit:innen hätte konzentrieren können. Doch würde die Schlussfolgerung, Gefühle und Überzeugungen seien nur dann ernst zu nehmen, wenn sie tatsächlich ›tief‹ im Subjekt verankert oder ›authentischer‹ Ausdruck individueller Erfahrung sind, nicht nur die Tatsache verkennen, dass dies selbst erklärungsbedürftige Konstruktionen sind. Man würde auch Gefahr laufen, der antisemitischen Selbsterzählung auf den Leim zu gehen. Denn diese stilisiert ihren emotionalen wie kognitiven Weltbezug ja gerade als quasi natürliche Notwendigkeit, während sie die Attribute von Künstlichkeit, Oberflächlichkeit und mangelnder ›Einheitlichkeit‹ als ›jüdisch‹ diskreditiert. Doch schon immer waren solche Momente dem Antisemitismus selbst immanent, obwohl er stets das Gegenteil behauptete. Zeitgenössisch sind sie der genuinen Unwahrheit antisemitischer Behauptungen ebenso geschuldet, wie der spezifischen Form spätmoderner Subjektivierung und Massenbildung: In Abgrenzung zur fordistischen ›Massengesellschaft‹ stehen seit Ende des 20. Jahrhunderts Anforderungen an die Subjekte ideologisch im Zentrum, die ihre Individualität selbst betreffen. So kann das ›neoliberale Individuum‹ seine Arbeitskraft nicht mehr allein in Form zweckgebundener Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt verkaufen. Diese Fähigkeiten sollen zugleich ›authentischer‹ Ausdruck ›individueller‹ Identität sein (vgl. Bröckling 2007). Damit geht eine Kommodifizierung von Gefühlen und ›emotionalen Kompetenzen‹ einher. Im Bereich der Kulturindustrie sowie im Konsum und Marketing von Waren allgemein erscheint heute Singularität und ›authentisches‹ Erleben umso wichtiger (vgl. Illouz 2018). Aufgrund dessen lässt sich vermuten, dass gerade eine Bewegung, die keine eindeutige Rationalisierung- und Normalisierungsrichtung für die eigenen Affekte und Gefühle liefert, der neoliberalen Subjektivierungsweise entgegenkommt. Auf diese Weise kann den Einzelnen ermöglicht werden, sich ganz ›individuell‹ mit den verschiedensten Gefühlsexpressionen hervorzutun, trotzdem sie sich zugleich einer Masse zugehörig fühlen können. Als vereinendes Moment genügt die diffuse Gefühlslage, dass etwas mit der erlebten Realität nicht stimmt, wofür ›die da 188
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oben‹ verantwortlich sein müssen – die emotionale und kognitive Ausgestaltung dieser Gefühlslage jedoch scheint flexibel. Mit der theatralen Inszenierung des Gefühlsausdrucks kann man sich zudem gemäß den gesellschaftlichen Anforderungen als Person mit ›authentischen‹ Überzeugungen und tiefen Gefühlen darstellen und wahrnehmen. Doch wie weit die Querdenker:innen tatsächlich davon entfernt sind, von der Entfremdung, an der sie als Subjekte leiden, etwas zurückzunehmen, zeigt sich noch in der Hilflosigkeit und Unbeholfenheit, mit der sie ihre vermeintliche Überwindung inszenieren und propagieren. Die beschriebenen Ticket-Gefühle bringen also einerseits die Sehnsucht nach einem Zustand zum Ausdruck, in dem individuelle Gefühle tatsächlich tief, bedeutsam und angemessen sind, und Authentizität mehr ist als eine ideologische Behauptung. Andererseits zeigt sich in ihnen gerade die Unmöglichkeit eines solchen Selbst- und Weltverhältnisses. Antisemitismus könnte gerade deshalb Vielen so attraktiv erscheinen, weil sich in ihm seit Jahrtausenden Mechanismen erproben und tradieren konnten, die diese Diskrepanz innerpsychisch wie gesellschaftlich zu überwinden versprachen. Verschwörungserzählungen behaupten nicht nur eine ›rationale‹ Erklärung für das Geschehen in der Welt zu liefern und damit die kognitive Verunsicherung zu überwinden. Sie eröffnen auch emotionale Orientierungs- und Ausdrucks-Möglichkeiten. Ihren Anhänger:innen wird versprochen, dass sie sich (wieder) auf ihr Gefühl verlassen können, dass die gefühlte Wahrheit auch tatsächlich wahr ist, dass sie sich von ihren Gefühlen leiten lassen können und sollen. So kann der Verschwörungsglaube dazu beitragen, dass sich seine Anhänger:innen in der Welt auch emotional wieder ›zu Hause‹ fühlen, sie sich vermeintlich orientieren und ihren Gefühlen vertrauen können. Dass die in den Verschwörungserzählungen gezeichnete Welt eine äußerst brutale ist, tut der Wirkung keinen Abbruch. Im Gegenteil: Gerade die äußerste, willentliche Grausamkeit einer konkreten Person oder Gruppe legitimiert scheinbar eindeutigere und intensivere emotionale Reaktionen als die komplexen, teilweise widersprüchlichen und übersubjektiven Zusammenhänge der realen Welt.
Literatur Amlinger, Carolin/Oliver Nachtwey (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin: Suhrkamp. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Berlin: Suhrkamp. Brunner, Markus (2016): »Vom Ressentiment zum Massenwahn«, in: Charlotte Busch/Martin Gehrlein/Tom David Uhlig (Hg.), Schiefheilungen. 189
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GEFÜHLTE WAHRHEIT UND WAHRE GEFÜHLE
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Omnipotente Opfer Über Selbstviktimisierung und Antisemitismus in der Querdenken-Bewegung1 »Darauf spekuliert tatsächlich einer der wesentlichen Tricks von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und erfolgreichsten handhaben.« (Adorno 1962: 363)
Relevante Teile der Sozialwissenschaften haben mittlerweile die sogenannte Querdenken-Bewegung als soziales Phänomen für sich entdeckt: Während unter den Zugängen, die sich einer kritischen Theorie der Gesellschaft verpflichtet fühlen, vornehmlich die Perspektive des autoritären Potentials der Bewegung in den Blick genommen wird, bilden Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus in der Querdenken-Bewegung bislang die Ausnahme.2 1
2
Der Beitrag stellt eine überarbeitete und ergänzte Version des Working Papers #009 Opferfantasien - Zur Kritik des Antisemitismus in der Querdenken-Bewegung dar, welches vom Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen im Dezember 2022 publiziert wurde (vgl. Burghardt 2022). Zu nennen sind, neben journalistischen und antifaschistischen Recherchen, die Publikationen von Andreas Speit (2021), Uli Krug (2022) sowie von Kleffner und Meisner (2021). Hilfreiche Broschüren für die politische Bildungsarbeit zum Thema Antisemitismus und Verschwörungsmythen sind von RIAS im Auftrag des American Jewish Committee Berlin Lawrence and Lee Ramer Institute (2021) herausgegeben worden sowie in der Publikationsreihe der Amadeu Antonio Stiftung zu finden. Empirisch wurden etwa im Rahmen der Leipziger Autoritarismusstudien (LAS) aus den Jahren 2020 und 2022 die Querdenken-Proteste unter den Kategorien ›Verschwörungsmentalität‹, ›Aberglaube‹ und ›Esoterik‹ beforscht. Dabei wird in der Gesamtbevölkerung eine Zunahme der traditionell high scorenden Items zu esoterischem ›Aberglauben‹ und ›Verschwörungsmentalität‹ bemerkt. Die darin »mindestens latent vorhandenen antisemitischen Ressentiments«
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Dabei findet in der Querdenken-Bewegung eine offene Rückkehr zu einem manifesten Antisemitismus statt, der sich über einen direkten Bezug zum Nationalsozialismus und zur Shoah charakterisiert. Das Ausbleiben einer präzisen Analyse des Antisemitismus in der Bewegung ist insofern auffällig, als im (sekundären) Antisemitismus nach Auschwitz eine neue strategische Position eingenommen wurde, die über eine latente und zum Teil codierte Umwegs- und Entlastungskommunikation funktioniert (vgl. Holz/Haury 2022: 87ff.). Dieser Entwicklung gesellt sich nun der manifeste Ausdruck durch eine antisemitische Selbstviktimisierung (Dilling et al. 2022: 239) werden darin mitverhandelt. Eine explizite Korrelation wird dagegen zwischen Sexismus und Antisemitismus festgestellt (vgl. Kalkstein et al. 2022: 254ff.). Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei haben spezifische Daten zu den Querdenkenprotesten in Deutschland und der Schweiz (in geringerem Maße auch in Österreich) erhoben und mit der LAS aus dem Jahr 2020 verglichen. Auch hier wird im Rahmen der Zunahme von Verschwörungsideologien in der Gesamtbevölkerung eine »relative Neigung zum Antisemitismus« in der Bewegung konstatiert. Gleichwohl wird hier auf einen progressiven Bias und die fehlende Repräsentativität der empirischen Daten hingewiesen: »Die Statements, die eine traditionell antisemitische Einstellung exemplifizieren, werden in einem geringeren Masse abgelehnt als in der LAS. Es wird ihnen jedoch auch nicht stark zugestimmt. Die Rolle der sozialen Erwünschtheit spielt bei solchen Items immer eine große Rolle. Was auffällig ist: Fast 30% der Studienteilnehmer:innen sind bei diesem Item auf ›keine Angabe‹ ausgewichen, so viele wie nur bei einem anderen Item der Studie, welches auf eine Verschwörungstheorie Bezug nahm (›Die Regierung will den Menschen Mikrochips implantieren‹). Bei allen anderen Items, auch bei kontroversen, bei denen eine soziale Erwünschtheit zu vermuten ist, gab es keinen derartig hohen Anteil von ›keine Angabe‹. Und auch nicht bei anderen, die ebenfalls für Studienteilnehmer:innen kontrovers sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele Personen mit latenten antisemitischen Vorurteilen durch Nichtbeantwortung der Frage gewissermaßen ›ausgewichen‹ sind [...]. Insgesamt ist die relative Neigung zum Antisemitismus insofern nicht überraschend, als wir es mit einer Bewegung zu tun haben, die viele Bezüge und eine hohe Neigung zum verschwörungstheoretischen Denken aufweist – und Verschwörungstheorien häufig antisemitische Züge aufweisen« (Nachtwey et al. 2020: 52f.). Schließlich wird auch in der österreichischen Parallelstudie ein »latenter Antisemitismus« in der Querdenken-Bewegung konstatiert (vgl. Brunner et al. 2021: 50). Insbesondere der hohe Prozentsatz, der auf ›keine Angabe‹ auswich, deckt sich mit dem Befund von Längsschnittstudien, die eine wachsende Kommunikationslatenz von offenem Antisemitismus feststellen. So nahm zwischen 1950 und 1983 die Zustimmung zu dem Satz ›Würden Sie sagen, es wäre besser, keine Juden im Land zu haben?‹ von 40% auf 9% ab, während die Zahl derjenigen die ›unentschiedenen‹ waren oder die Frage nicht beantworten wollten auf etwa 50% anstieg (vgl. Schüler-Springorum 2020: 31).
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hinzu, während freilich die latenten Codes auch innerhalb der Bewegung bestehen bleiben. Eine Analyse der Bewegung sollte somit die Brüche im Ausdruck und die Kontinuitäten in der Funktion des Antisemitismus in den Blick nehmen. Im Anschluss an die Kritische Theorie hebt der vorliegende Beitrag daher auf eine relative Kontinuität der massenpsychologischen Funktionsweise, des von Adorno einst als »Gerücht über die Juden« (Adorno 1962: 363) bezeichneten Antisemitismus, ab. So eröffnet Ernst Simmel seinen bedeutsamen Artikel Antisemitismus und Massen-Psychopathologie mit folgender Feststellung: »Die Geschichte zeigt, dass der Antisemitismus, wie immer sich seine Manifestationen im Laufe der Zeit gewandelt haben, im Grunde in allen Epochen der gleiche blieb, ungeachtet wechselnder Gesellschaftsstrukturen und der Veränderungen, die die Juden selber durchmachten« (Simmel 1946: 282).
Auch wenn diese Diagnose selbst nun mittlerweile gut 75 Jahre alt ist, legt die im Antisemitismus fortgesetzte Form der Schuldumkehr nahe, Parallelen zwischen autoritären und antisemitischen Bewegungen damals und heute zu ziehen. Zu diesem Unternehmen werden im Folgenden psychosoziale Mechanismen und Funktionsweisen des Antisemitismus über Formen der Selbstviktimisierung dargestellt. Dabei geht es um kein geschlossenes Erklärungsmodell, sondern vielmehr um Zusammenführung einzelner Bausteine einer noch ausstehenden Analyse der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr in der Querdenken-Bewegung. Die hier prototypisch ins Feld geführten Formen der Selbstviktimisierung markieren gewissermaßen die Rückseite dieser Umkehr, ohne die als Kriterium kein antisemitisches Stereotyp auskommt.3 Konkret werden fünf Begründungsmuster der Schuldumkehr unterschieden, die jedoch insofern aufeinander aufbauen, als alle Projektionen zur Voraussetzung haben.
1. Selbstviktimisierung als falsche Projektion Mit Blick auf die Querdenken-Proteste fällt neben der heterogenen Zusammensetzung und dem allen Friedens- und Freiheitsbekundungen zum Trotz großen Gewaltpotential, insbesondere die wahnhafte Inszenierung der Teilnehmer:innen als Opfer auf (vgl. Speit 2021). So bestimmten NSrelativierende Vergleiche das Bild vieler Demonstrationen. Dem eigenen Status als Opfer wurde dabei häufig durch das Tragen eines gelben Davidsterns mit der Aufschrift ungeimpft oder über Vergleiche mit Anne 3
Weitere Strukturprinzipien des Antisemitismus wären, mit Thomas Haury (2002: 105ff.), Personifizierung, Manichäismus, die Konstruktion identitärer Kollektive und eine Vernichtungsperspektive.
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Frank und Sophie Scholl Ausdruck verliehen. Dieser Form der Selbstinszenierung kann ohne große Umschweife das Attribut des Wahnhaften verliehen werden. Gleichwohl steckt in der »wahnhaften Umbildung der Wirklichkeit« (Freud 1930: 440) auch ein Stück Wahrheit über die Funktionsweise des Antisemitismus. Im Anschluss an die Psychoanalyse soll der Wahn daher unter dem Begriff der Projektion verhandelt werden. Dabei kann die Projektion zunächst als ein spezifischer Wahrnehmungs- und Vermittlungstypus im Umgang mit sich und der Welt, dem Innen und dem Außen, dem Eigenen und dem Fremden oder zwischen Subjekt und Objekt verstanden werden. Freud bezeichnet die menschliche Neigung, »Ursachen gewisser Sinnesempfindungen nicht […] in uns selbst zu suchen, sondern sie nach außen zu verlegen« (Freud 1911: 303) als einen normalen seelischen Vorgang, der gleichsam als Abwehrmechanismus fungiert durch welchen das Ich entlastet wird.4 Melanie Klein ergänzt ihr Konzept der projektiven Identifizierung im erweiterten Anschluss um eine Theorie der Affekte. Demnach werden insbesondere »zerstörerische, als ›böse‹ empfundene Persönlichkeitsanteile […] unbewusst isoliert, abgespalten, externalisiert und schließlich geeignet erscheinenden (oder geeignet gemachten) Personen oder Personengruppen nicht einfach nur durch Übertragung angeheftet, sondern gleichsam in deren Inneres eingepflanzt« (Pohl 2006: 45). Insofern der negative Selbstanteil im Konzept der projektiven Identifizierung gänzlich in das andere Objekt hineinprojiziert wird, unterscheidet sich Kleins Ansatz von dem klassischen Abwehrmechanismus der Verdrängung, welcher immer noch im eigenen Unbewussten lokalisierbar ist. Die Verknüpfung der verpönten Selbstanteile mit den jeweiligen Affekten und die Identifizierung eines geeigneten äußeren Objekts, konstituiert dieses als absolut böse und vergeltungssüchtig. Wenn Adorno und Horkheimer feststellen, dass der Antisemitismus »sein Objekt gewissermaßen erst erfinden [muss]« (Horkheimer/Adorno 1947: 232), setzen sie die Projektion als Konstituens des Antisemitismus voraus.5 Dementsprechend heißt es in der sechsten These der 4
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Freud verweist in Der Mann Moses und die monotheistische Religion historisch auf die theologischen Wurzeln des Antisemitismus im Christentum. Dabei liegt nach Salzborn die »tiefere Ursache für die Projektionsorientierung auf ›den Juden‹ […] in den Differenzen von Christentum und Judentum, dem kleinen narzisstischen Unterschied« (Salzborn 2020: 108f.). Für die Diskussion und Anmerkungen zur projektiven Identifizierung bei Klein und der falschen Projektion bei Adorno und Horkheimer sei an dieser Stelle Rolf Pohl gedankt. Pohl hält hinsichtlich der antisemitischen Projektion drei Schlussfolgerungen fest: 1. Die innere Gefahrenabwehr durch die Projektion tendiert durch die ›(Wieder-)Findung‹ eines äußeren Feindes dazu, real zu werden. 2. Durch die innerpsychischen Quellen des Projektionsvorgangs ist dieser niemals vollständig abschließbar. Das äußere Objekt
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Elemente des Antisemitismus ebenfalls zunächst rein wahrnehmungspsychologisch, dass »alles Wahrnehmen Projizieren« (ebd.: 213) sei. Gleichwohl wird dieselbe These mit dem Urteil eröffnet, dass der Antisemitismus auf »falscher Projektion« (ebd.: 212) beruhe. Die Kriterien für die Unterscheidung in wahre und falsche Projektion ergeben sich dabei aus dem Umstand, dass Letztere als bloße Abwehr durch eine ausbleibende Realitätsprüfung verabsolutiert wird. Um dieses Ausbleiben aufrecht zu erhalten, nimmt die Wahrnehmung wahnhafte Züge an.6 Nicht das Subjekt passt seine Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit an, vielmehr wird umgekehrt die Realität der eigenen Triebstruktur angeglichen.7 Der eigene Wunsch tritt nun als objektive Macht auf. Im Antisemitismus gerät die Projektion zu einem sich selbst verstärkenden Zirkel, einem paranoiden Kreislauf, in dem das Auslagern negativer Selbstanteile auf andere eine Form der Entdifferenzierung annimmt, »was wiederum die Ängste (vor einer Auflösung des Selbst) bis hin zu apokalyptischen Wahnvorstellungen vergrößert« (Peham 2022: 37). Otto Kernberg (1979: 51f) spricht diesbezüglich über »gefährliche, vergeltungssüchtige Objekte, gegen die der Projizierende wiederum sich zur Wehr setzen muß […]. [E]r muß das Objekt beherrschen und eher selber angreifen, bevor er (wie befürchtet) vom Objekt überwältigt und zerstört wird«. Der Antisemit und die Antisemitin werden gewissermaßen Opfer ihrer eigenen Rachsucht, die überall im Unbewussten die Strippen zieht.8 Der (unbewusste) Feind wächst dabei in dem Maße, in welchen sich die eigene Potenz als Illusion entpuppt. Die Eskalation dieses irrationalen Kreislaufs ist bereits in dessen Ursprung mitangelegt.
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wird daher auch über den Tod hinaus verfolgt, wie das Beispiel der Schändungen jüdischer Friedhöfe zeigt. 3. Die projektive Feindbildung bedeutet die Transformation einer Wahrnehmung von innen nach außen. Diese kann bis zum vollständigen Austausch der Innen- mit der Außenwelt führen (vgl. Pohl 2006: 48f.). Salzborn spricht in diesem Zusammenhang und im Anschluss an Jean Paul Sartre vom Antisemitismus als einer Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft. In der Dialektik der Aufklärung wird als Ausdruck der Verkehrung der pathischen Projektion die Mimesis entgegengestellt: »Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich« (Horkheimer/Adorno 1947: 212). Andreas Peham (2015: 62) spricht diesbezüglich von einer imaginären Opferposition: »Die Projektion des Hasses aus dem Inneren des phantasmatischen (reinen) Raumes führt in die imaginäre Position des Opfers, das von diesem Hass dann verfolgt wird. Somit erlaubt es der Antisemitismus, sich als nicht schuldig (hassend) zu erleben«.
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2. Selbstviktimisierung als Märtyrertum In den Ausführungen zur falschen Projektion ist gleichwohl das Negativ der Selbtsviktimisierung enthalten: Die Figur des Märtyrers. Laut Volker Weiß ist die Selbstinszenierung als Opfer und Märtyrer eine der bemerkenswertesten Konstanten in der Geschichte der Neuen Rechten und des Antisemitismus (vgl. Weiß 2011). Weiß vollzieht diese Figur anhand zeitgenössischer Bestsellerautoren nach – von Julius Langbehns, Rembrandt als Erzieher über Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes bis hin zu Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab. All jene Autoren traten bzw. treten einen einsamen kulturpessimistischen Opfergang für die Nation an und machen dies im Gestus des Tabubrechers. Leo Löwenthal stattet die Märtyrer in seiner Studie zu den Falschen Propheten indes mit einer »kugelsicheren Weste« (Löwenthal 1948: 128) aus und zeigt so deren Widersprüchlichkeit, die in Ritualen der heroisierenden Selbstbemitleidung besteht. Dabei bildet die Anrufung des »großen, ›kleinen Mannes‹« ein Kernelement der autoritären Agitation: »Äußerungen des Agitators zu seiner Person teilen sich in Nähe und Distanz zu seinen Zuhörern ein: Die erste soll ihn als ›großen kleinen Mann‹ etablieren, die andere sozusagen als Märtyrer mit kugelsicherer Weste, der trotz oder gerade wegen seiner ungeheuren Leiden stets als Sieger über seine Feinde triumphiert« (ebd.: 128).
Mittels Personalisierung sowie der Etablierung von Eigen- und Fremdgruppen fühlt man sich zugleich unter- und überlegen. Dementsprechend erzeugt die Feindesbeschreibung das Komplementärbild zur Kraft und Ohnmacht des Agitators. Er, der Feind, ist hilflos, schwach, ja, degeneriert und gerade deshalb so kriminell, verbrecherisch und gefährlich (vgl. ebd.: 53, 64). Waren die Feinde in Löwenthals Analyse meist jüdische Exilanten, ist bei den Querdenken-Protesten der äußere Feind zunächst nicht zu bestimmen.9 Dabei erfüllt das Virus durchaus ambivalente Eigenschaften. Es ist einerseits unsichtbar und bringt zugleich die Welt zum Stillstand. Analog dazu gilt SARS-CoV-2 in der Querdenken-Bewegung zugleich als inexistent und/oder harmlos. Gleichwohl greift auch hier der antisemitische Mechanismus der Personifikation. Denn hinter dem Virus werden globale Konzerne oder eine kleine Gruppe einflussreicher Menschen wie Bill Gates vermutet, die dessen Ausbreitung steuern, da sie an den Hebeln der Macht sitzen. Die Gestalten der Querdenken-Bewegung wähnen 9
Inwiefern im Hinblick auf die Querdenken-Bewegung Protagonisten wie Attila Hildmann, Jürgen Elsässer, Bodo Schiffmann, Sucharit Bhakdi oder Ken Jebsen als Agitatoren im Sinne Löwenthals gelten können, wäre eine noch ausstehende Analyse. Erste Überlegungen bezogen auf einen autoritären Populismus finden sich bei Lars Rensmann (2020: 43ff.).
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sich als Opfer der Infektionsschutzmaßnahmen und zugleich als unverwundbar gegenüber dem Virus, so es denn für sie überhaupt existiert. Diese wahnhafte Ambivalenzspirale führt aufgrund der eigenen Ohnmacht jedoch nicht in die Resignation, sondern erzeugt eine ohnmächtige Wut, wie Erich Fromm bereits in den 1930er Jahren analysierte (vgl. Fromm 1937). Dieses Gefühl der Ohnmacht drängt als verzweifelte Omnipotenz verkleidet zur Tat; der Umschlag von der Opferrolle in die des Märtyrers wird mit Andauern der Proteste immer wahrscheinlicher. Es gab bislang keines der geforderten Tribunale und keine der Personen, die man hinter der Pandemie vermutet, ist im Gefängnis. Egal ob Maskenoder Impfpflicht, man fühlt sich als »verfolgte Unschuld« (Löwenthal 1948: 135) und macht nun lediglich von seinem legitimen Widerstandsrecht gebrauch. Die gesellschaftliche Ausnahmesituation und das Privileg, zu den Wissenden zu gehören, nimmt einen ethisch dazu sogar in die Pflicht. So brechen sich in diversen Telegram-Kanälen regelmäßig konkrete Tötungsfantasien Bahn. Taten wie der Tankstellenmord von IdarOberstein, die Anschläge auf Impfzentren sowie die unzähligen Morddrohungen gegen Ärzt:innen, Politiker:innen und Expert:innen haben dabei durchaus Signalwirkung und werden in den dementsprechenden Kanälen bejubelt. Dieses Phänomen beschränkt sich freilich nicht allein auf die Querdenken-Bewegung, es ist vielmehr Signum des Antisemitismus selbst. So wähnen sich, bei allen Differenzen, die Antisemit:innen immer schon in einer Notwehrsituation, vom iranische Regime bis hin zu den vereinzelten Verschwörungsideologen am heimischen PC.
3. Selbstvikitimisierung als narzisstische Kränkung Die Leugnung oder Relativierung der Pandemie kann im Anschluss an das Omnipotenzgebaren des Märtyrers überdies narzissmustheoretisch analysiert werden. Vor diesem Hintergrund betrachten Uli Krug (2022) sowie Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (2022) die Krankheit als eine narzisstische Kränkung. Demnach trifft die Pandemie auf eine gesellschaftliche Charakterbildung »die man mit Stichworten wie Realitätsverlust, Empathieunfähigkeit und übergroßer Selbstinszenierung beschreiben könnte« (Krug 2022: 45). Ähnlich der Projektion bedeutet der Narzissmus einen Rückzug der äußeren Objekte auf sich selbst. In seiner frühkindlichen primären Ausprägung markiert die Ungeschiedenheit von Ich und Außenwelt, noch ein notwendiges Verkennen der Tatsache, dass belebte Objekte einen eigenen Willen besitzen und ein eigenes Leben führen. Das Kind lernt indes sukzessive seiner phantasierten Grandiosität zu misstrauen. Diese erste Kränkung der Omnipotenz bleibt danach 198
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latent und prägt das gesellschaftliche Unbehagen, dem zivilisiertes Verhalten immer auch Lustfeindlichkeit bedeutet. Im sekundären Narzissmus drückt sich »ein falsches Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit aus, das aus der mangelhaften Anerkennung beider resultiert« (Eichler 2013: 240). Die Suggestion vollkommener Unabhängigkeit bildet mit Freud eine Form des magischen Denkens, eine »Rearchaisierung des Bewusstseins inmitten einer längst nicht mehr archaischen Gesellschaft […], ohne dass es deshalb sofort zu klinischen Syndromen kommen muss« (Krug 2022: 62). Die Bewegung der Pandemieleugner:innen hat demnach ihren gemeinsamen Nenner darin, dass sie sich durch das Virus bzw. durch die Eindämmungsmaßnahmen in ihrer Lebensform gekränkt fühlen. Sie können dieses als »Einbruch des Realen in ihre libidinös besetzte Phantasiewelt« (ebd.: 65) nicht akzeptieren. Daher schlägt die Verleugnung des Realen den Selbsterhaltungstrieb. Ehe erkannt wird, dass ein nach Maßgaben der neoliberalen Effizienz gestaltetes Gesundheitssystem der Pandemie nicht gewachsen ist, wird ein Komplott gegen die Freiheit vermutet, welches jenseits jeder Realitätsprüfung, die eigene Lebensweise zur Zielscheibe haben soll. In Anlehnung an die Studien zum autoritären Charakter sprechen Amlinger und Nachtwey (2022: 171ff.) von einem libertären Autoritarismus, der jede äußere Einschränkung als Kränkung des Anspruchs auf Selbstverwirklichung auffasst. Dabei erfolgt die narzisstische Identifikation weniger über eine äußere Führungsfigur, als über die eigene Autonomie – eine Beobachtung die sich durchaus mit Freuds Ausführungen zum »sekundären Führer[...]« (Freud 1921: 110) deckt. Dieser sekundäre Narzissmus tendiert, neben Kontrollverlust, Auflösungs- und Vergiftungsängsten, insofern zum Verschwörungsdenken, als die Überschätzung der eigenen Person und Macht eine Fokussierung der äußeren Welt auf das Selbst impliziert. Die Gekränkten können durch das Rekurrieren auf Verschwörungsnarrative ihre Unabhängigkeit beweisen, die sie gleichsam in den Wahn treibt: »Die Reproduktion frühkindlicher Vorstellungen der eigenen Größe und Bedeutung geht also mit Gefühlen paranoider Furcht einher. Das klingt paradox und ist doch folgerichtig: Wenn ich im Zentrum der Welt stehe, dann nimmt wiederum alles Unangenehme und Bedrohliche ebenfalls den Zug des persönlich gegen mich gerichteten an: Die Welt der Objekte erscheint mir als feindlich gesinntes Subjekt« (Krug 2022: 70).
Der Antisemitismus fügt sich passgenau den Geltungswünschen des gekränkten Subjekts; er verleiht der anonymen und sinnlosen Todesgefahr durch das Virus die Bedeutung, welche die phantasierte Macht verlangt.
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4. Selbstviktimisierung als regressive Rebellion Die bislang herangezogenen Begründungsmuster gehen von einer gesellschaftlichen Schieflage aus, die von den Protesten nicht zum Gegenstand gemacht wird – Löwenthal (1948: 25) nennt diese eine »[g]esellschaftliche Malaise«. Auch Adorno und Horkheimer gehen von einem objektiv gesellschaftlichen Leiden aus, welches sich als Konformismus verkehrt hat: »In diesem Leiden ist […] ein Element von Wahrheit enthalten gegenüber dem bloßen Hinnehmen des Gegebenen, auf das die überlegene Vernünftigkeit sich vereidigt hat (Horkheimer/Adorno 1947: 222). In den Studien zum autoritären Charakter wird die grundsätzliche Loyalität auch derjenigen Klassen gegenüber dem System zum Gegenstand erhoben, die unter diesem besonders zu leiden haben. Der autoritäre Charakter bildete schließlich die Subjektseite einer autoritär eingerichteten Gesellschaft, welcher die eigene Ohnmacht durch Konformismus bejaht und komplementär dazu die Aggressionen auf diejenigen projiziert, denen gesellschaftlich keine Autorität zukommt. Konformistisch ist dessen Rebellion, da sie innerhalb der soziale Herrschaftskoordinaten stattfindet. Demnach werden vom autoritären Charakter konventionelle Werte ebenso rigide geteilt, wie er sich einer idealisierten Autorität unterwirft, ein binäres Machtdenken verfolgt und sich in Überlegenheitsfantasien gegenüber sozialen Randgruppen ergeht (vgl. Adorno 1950). Amlinger und Nachtwey ergänzen diesen Befund um eine ›spätmoderne‹ Dimension; den Typus des regressiven Rebellen (vgl. Amlinger/Nachtwey 2022: 321ff.). Im Gegensatz zum autoritären Charakter kündigt jener, so die Diagnose, konventionelle Wert- und Verhaltensnormen auf und neigt stärker als andere Subjekttypen zu Destruktivität und Zynismus. Auch greifen die regressiven Rebellen häufig auf antisemitische Welterklärungsmodelle zurück (vgl. ebd.: 333f.). Von den Items der F-Skala, die die Einstellungen des autoritären Charakters erfasst, treten demnach die Muster in den Vordergrund, welche mit dem narzisstischen Selbstverständnis der eigenen Freiheit am ehesten in Einklang zu bringen sind. Klassisch konservative Eigenschaften treten dabei zunehmend in den Hintergrund. Das noch den autoritären Charakter auszeichnende Gleichmaß von Aggression und Anpassung wird nun zuungunsten der letzteren eingeebnet: »Angepasst sind sie nur insofern als sie die Normen der Konkurrenzgesellschaft internalisiert haben« (ebd.: 178). Die regressiven Rebellen erweisen sich als Subjektform einer spätkapitalistischen Konstellation, die nach Ingo Elbe (2020: 92) durch »Freiheit ohne Existenzsicherung« und »Verantwortung ohne Kontrolle der Lebensbedingungen« charakterisiert ist. Gleichwohl stellen auch die regressiven Rebellen »das Resultat eines Fluchtversuchs« (ebd.: 82) dar. Zwar wird gegen die konkrete Ohnmacht gegenüber den abstrakten Verhältnissen rebelliert, jedoch in herrschaftskonformer Weise, insofern sich 200
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die Aggression gegen »von der Herrschaft freigegebene ›Andere‹ und ›Schwache‹ richtet« (ebd.: 88). Die projektive Form der Bearbeitung der Malaise führt schließlich dazu, dass diese, »vor allem Juden als Verursachern zugeschrieben wird« (ebd.: 88). Aber auch andere als schwach und vulnerabel geltende Gruppen geraten ins Visier und leiden ganz konkret unter der regressiven Rebellion, wie beispielsweise Vorerkrankte, Immunsupprimierte oder Alte. Auch die Querdenken-Bewegung, deren Teilnehmer:innen sich zeitweilig und symptomatisch als Corona-Rebellen bezeichnen, rebellieren nur scheinbar gegen gesellschaftliche Autoritäten. Dabei deckt sich das Bedürfnis nach Rückkehr zu einer idealisierten Normalität mit den im kapitalistischen Einklang staatlich propagierten Zielen (vgl. Ebermann 2021: 9ff.). So entpuppt sich das Einklagen der individuellen Freiheit schnell als Bedürfnis nach Egoismus und Rücksichtslosigkeit, was im erstrebten Normalfall vom kapitalistischen System durchaus gratifiziert wird – Amlinger und Nachtwey (2022: 87ff.) sprechen diesbezüglich von einem verdinglichten Freiheitsverständnis. Flankiert werden diese passförmigen Postulate von dem Wunsch nach einem Staat, der diese Freiheitsrechte auf Kosten vulnerabler Gruppen autoritär durchsetzt. Die Corona-Rebellen sind nicht staatskritisch, vielmehr haben sie ein fetischisiertes Staatsverständnis, dass dessen Autonomie nicht relativ zum Kapitalverhältnis betrachtet.10 Daher kann auch das Tragen eines MundNasen-Schutzes und das Einhalten gewisser Abstandsregeln – das waren vor der Debatte um die Impfpflicht lange Zeit die dominierenden Themen – zum Ermächtigungsgesetz deklariert werden. Die konkrete Gefahr der Infektion erscheint abstrakt, wohingegen der Staat und sein Handeln personalisiert begriffen werden. Diese Verkehrungslogik korrespondiert mit der von Salzborn hervorgehobenen charakteristischen Umkehr im Antisemitismus aus konkretem Fühlen und abstraktem Denken: »Der Antisemitismus vertauscht beides, das Denken soll konkret, das Fühlen aber abstrakt sein, wobei die nicht ertragene Ambivalenz der Moderne auf das projiziert wird, was der/die Antisemit/in für jüdisch hält« (Salzborn 2018: 23).
10 Aus der Perspektive einer materialistischen Staatstheorie steckt der Staat durch die Pandemie in einem Dilemma: »Einerseits muss er – aus Gründen der Beständigkeit der Kapitalverwertung, der Legitimität und des sogenannten inneren Friedens – die Gesundheit der Bevölkerung einigermaßen sicherstellen; andererseits muss er die Kapitalakkumulation so weit wie möglich in Gang halten, um sich selbst und die gesellschaftliche Reproduktion zu erhalten. Die Regierungen stehen also vor der Schwierigkeit, die Gesundheitskrise eindämmen zu müssen, ohne es mit den wirtschaftlichen Einschränkungen zu weit zu treiben.« (Hauer/Hamann 2021).
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5. Selbstviktimisierung als Schiefheilung Bei dem Phänomen der Selbstviktimisierung handelt es sich um kein individuelles und kein rein psychologisches Problem. Damit soll eine politische Psychologie des Antisemitismus gegen eine Psychologisierung des Antisemitismus verteidigt werden. Zwar sind individueller und kollektiver Wahn miteinander verschränkt, doch müssen abschließend mit Ernst Simmel die Grenzen der Anwendung klinischer Kategorien betont werden: »Der einzelne Antisemit ist kein Psychotiker – er ist normal. Erst wenn er sich einer Gruppe anschließt, wenn er Bestandteil einer Masse wird, verliert er gewisse Eigenschaften, die Normalität ausmachen, und trägt dazu bei, einen Massenwahn zu erzeugen, an den sämtliche Mitglieder der Gruppe glauben« (Simmel 1946: 290).11
Der Antisemitismus stellt demnach keine Krankheit, sondern eine Normalpathologie dar. Daher sprechen Adorno und Horkheimer auch von einer pathischen (nicht pathologischen) Projektion. »Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin« (Horkheimer/Adorno 1947: 214).12 Im Gegensatz zum echten Wahnkranken, der kaum eine Alternative bei der Wahl der Objekte seiner Projektion hat, werden beim Antisemitismus die Objekte der Projektion aus der Realität bestimmt: »Dem gewöhnlichen Paranoiker steht dessen Wahl nicht frei, sie gehorcht den Gesetzen seiner Krankheit. Im Faschismus wird dies Verhalten von Politik ergriffen, das Objekt der Krankheit wird realitätsgerecht bestimmt, das Wahnsystem zur vernünftigen Norm in der Welt, die Abweichung zur Neurose gemacht« (ebd.: 212).
Der oder die Antisemit:in besitzt aus sozialpsychologischer Perspektive demnach die relative Freiheit, das Objekt selbst zu wählen. Insofern impliziert der Antisemitismus eine moralische Entscheidung, die von den Einzelnen aktiv vollzogen werden muss und daher immer auch Gegenstand der Kritik des antisemitischen Subjekts bleibt (vgl. Grigat 2014: 125ff.; vgl. Scheit 1999: 50f.). 11 Horkheimer betonte, dass Simmel der erste war, der dem »Ausdruck ›Massenwahn‹ eine mehr als metaphorische Bedeutung gab« (Horkheimer 1948: 485; vgl. Pohl 2000). 12 Rolf Pohl (2010: 64f.) verortet den Ausdruck des Pathischen in der Nähe des Freudschen Unbehagens. Beide verweisen auf »auf den subjektiven Zustand eines allgemeinen Leidens in und an der Gesellschaft«. »Als pathisch bezeichnet Adorno jene zeitgemäße ›Krankheit der Normalen‹, die das ›herrschende Allgemeine‹ immer wieder mit den typischen Erscheinungsformen eines Ausfalls der Reflexion sowie einer damit einhergehenden Kälte und Affektlosigkeit im Umgang miteinander hervorbringe«.
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Mit dem Freudschen Terminus der Schiefheilung kann der sozialpsychologische Fokus auf die kollektive Funktionsweise des Antisemitismus gerichtet werden. Während in der Analyse der Projektionsmechanismen dargestellt wurde, inwiefern die Auslagerung gehasster Selbstanteile wahnhafte Formen annimmt, wurde unterschlagen, welche Entlastung diese Abwehr für die projizierenden Subjekte bedeutet. Denn die Enthemmung, die mit jedem Wahn einhergeht, erleichtert die Einzelnen und verbindet sie libidinös mit dem Kollektiv. Pflichthofer (2021: 210) bezeichnet die wahnhafte Dynamik bei den Querdenken-Protesten als »manische Abwehr von Gedanken«. So erspart die kollektive Gedankenflucht den Einzelnen die individuelle Symptombildung – sie werden mithilfe der ideologischen Schablonen des Antisemitismus schief geheilt (vgl. Brunner 2016: 22). Freud wand das Bild der Schiefheilung einst auf die religiöse Illusion an und erkannte in dieser »mannigfaltige Neurosen« (Freud 1921: 159), die durch ihre geteilte Form ein gesellschaftliches Phänomen bilden. Dies deckt sich mit den Einschätzungen Simmels, der davon ausging, dass der Antisemitismus eine regelrechte Abwehrfunktion gegen individuelle Psychosen einnehme: Der Antisemitismus verschafft dem Einzelnen, »einen nicht unerheblichen Krankheitsgewinn. Sein Ich bläht sich auf, er fühlt sich überlegen, denn er gehört einer Gemeinschaft mit angeblich höheren Werten an: der Gemeinschaft der Nichtjuden« (Simmel 1946: 284). Auch die Protestierenden der Querdenken-Bewegung blähen sich als Renegaten der Angepassten auf und heilen sich über die Gedankenflucht in eine antisemitische Täter-Opfer-Umkehr kollektiv und schief: »Die Flucht in die Massenpsychose ist demnach nicht nur eine Flucht vor der Realität, sondern auch vor dem individuellen Wahnsinn« (ebd.: 294). Jahoda und Ackermann haben in den 1940er Jahren diagnostiziert, dass Träger:innen antisemitischer Einstellungen kaum depressive Störungen aufwiesen. Eine Art Heilung muss aber dennoch stattfinden, da die antisemitisch eingestellten Personen an diffusen Angstzuständen leiden, welche »nicht als bewusste Furcht erfahren [wurden], sondern […] sich indirekt in verschiedenen Formen sozialen Unbehagens und sozialer Unfähigkeit [manifestieren].« (Jahoda 1950: 227) Ferner weist Simmel darauf hin, dass der Antisemitismus immer dann offen in Erscheinung trat, »wenn die Sicherheit des Individuums oder der Gesellschaft durch katastrophale Ereignisse erschüttert wurde« (Simmel 1946: 290). Simmel nennt etwa durch Wirtschaftskrisen verursachte Formen der Massenverelendung, welche ein »Gefühl der Panik« heraufbeschwört, »das Erwachsene zu hilflosen Kindern macht und sie veranlaßt sich in Massenbindungen zu flüchten« (ebd.: 307). Gegenwärtig beschreiben auch Amlinger und Nachtwey (2022: 323ff.) in ihren Fallanalysen biographische Abstiegs- und Deprivationserfahrungen insbesondere von mittlerweile prekären Angehörigen der Mittelschicht. Zugehörige der Mittelschicht waren auch 203
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weitaus häufiger an den Demonstrationen der Querdenken-Bewegung beteiligt, als etwa untere Klassen, die ohnehin regelmäßig von staatlichen Einschränkungs- und Repressionsmaßnahmen betroffen sind (vgl. ebd.: 276f.). Eine sozialpsychologische Analyse der ökonomischen Voraussetzungen des antisemitischen Tickets könnte daher einen materialistischen Beitrag zu einer Analyse der Querdenken-Bewegung bilden, ohne vulgärmarxistischen Ableitungstheorien das Wort zu reden. Denn der Antisemitismus bildet eine Ergänzungsreihe zur schief eingerichteten Realität. Er benötigt einen Rückhalt in der Erfahrung, an die er sich als Wahn heften kann.
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»No Pride in Israeli Apartheid«? Zur Funktion des Antisemitismus in queerfeministischen Diskursen Seit über 20 Jahren lässt sich innerhalb der Wissenschaft, insbesondere in den USA und Europa, ein Trend des israelbezogenen Antisemitismus beobachten: Das betrifft in besonderem Maß die Gender- und Queerstudies sowie postkoloniale und intersektionale Theorien. Ressentiments gegen Israel, Relativierungen der Shoa genauso wie tradierte antisemitische Denkmuster haben in einigen Theorien renommierter GenderstudiesProfessor:innen ein neues Zuhause gefunden. Diskurse um Pinkwashing, die Einordnung Israels als kolonialen oder rassistischen Apartheitsstaat finden in einem Großteil queerer, linker Bewegungen eine praktische Entsprechung: So wird von Queers for Palestine, Pinkwashing Israel und vielen weiteren linken Gruppen, Vereinen und Institutionen die faktische Auslöschung des jüdischen Staates gefordert. Damit einher geht die Invisibilisierung queerer Juden:Jüdinnen und Israelis. Überraschend ist diese Entwicklung der letzten 10–15 Jahre für mich in Bezug auf die Gender- und Queer Studies deswegen, weil der Kampf gegen und die Kritik an Antisemitismus mit den Anliegen des Feminismus, insbesondere mit den queeren Ansätzen, viele theoretische Überschneidungen hat. Die Queer Studies entwickelten in den 1990er Jahren Theorien, die sich nicht nur gegen die heteronormative Gesellschaftsstruktur, sondern vor allem gegen den Zwang des Subjekts zur totalen Identifikation mit derselben richteten. Ich schließe mich Andreas Kraß an, der Judith Butler, Michel Foucault und Eve Kosofsky Sedgwick als die drei wichtigsten theoretischen Positionen der Queer Theory nennt, deren Konzept von Queer »auf die Denaturalisierung normativer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Entkoppelung der Kategorien des Geschlechts und der Sexualität, die Destabilisierung des Binarismus von Hetero- und Homosexualität […]« (Kraß 2003: 18) abziele. Die Queer Studies und die queere Bewegung seit den Stone Wall Riots 1969 in New York waren in ihren Anfängen ein dezidiert anti-identitäres Projekt. Das heißt, dass die Queer Theory nicht ohne eine Vermittlung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auskam und damit gerade kein identitäres, sondern in ihrer Theorie ein gesellschaftskritisches und in ihrer Praxis ein widerständiges, emanzipatorisches Projekt war. Dieses queere Projekt verteidigte gegen den nach Theodor W. Adorno 208
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im Kapitalismus vorherrschenden »Identitätszwang« (Adorno 1966a: 277) des, wie Roswitha Scholz es nennt, »warenproduzierenden Patriarchats« (Scholz 2009) das Unreine, Unnatürliche, Unpassende, Polymorph-Perverse, Heimatlose und Nicht-Identische. Für Adorno – und das will ich mit einer queeren Perspektive vermitteln – wäre das Subjekt erst dann frei, wenn das Nicht-Identische lebbar werden kann: »Voraussetzung seiner [des Subjekts, F. H.] Identität ist das Ende des Identitätszwangs« (Adorno 1966a: 277). Queer verstehe ich in diesem Sinne mit Patsy L’Amour laLove immer noch als eine »Kritik an der heterosexuellen Normalität«, als »die perverse Entgegnung auf die Feindseligkeit in der Gesellschaft« (L’Amour laLove 2017: 9). Gerade in Bezug auf die Regulierung des geschlechtlichen Körpers als biopolitisches Machtprinzip des Kapitalismus haben Antisemitismuskritik und Queerfeminismus Gemeinsamkeiten, die sich für ein emanzipatorisches Anliegen verbinden ließen. Ein Beispiel der Gemeinsamkeit ist der spezifisch biopolitische Sexismus gegen Jüdinnen:Juden, der insbesondere im Nationalsozialismus versuchte, sie anhand geschlechtlicher und körperlicher Attribute aus der Ideologie der deutschen Körper- und Geschlechternorm auszuschließen, um im Kontrast eine identitäre Norm der Volksgemeinschaft zu begründen: So galten – und diese Stereotype schreiben sich bis heute fort – jüdische Männer als zu klein, zu feminin, als unmännlich und die Frauen als zu freizügig und promisk usw. (vgl. Adamczak 2005). Monty Ott spricht in diesem Zusammenhang in seiner Forschung zu den Verschränkungen von LGBTQI*-Jüdinnen:Juden, Homofeindlichkeit und Antisemitismus vom jüdischen Subjekt als »Anti-Typ« (Ott 2020). Das Jüdische gehe also gerade nicht in der binären Logik herrschender Identitätstypen auf, vielmehr versperre es sich gegen die identitäre Kausalkette vom einen, reinen, echten Ursprung zur gelebten Geschlechteridentität. Diese Spielart der Ideologiekritik des einen (biologischen, ethnischen o.ä.) Ursprungs ist wiederum eine genuin queere: Donna Haraways queere Cyborgfigur »[besitzt] keine Ursprungsgeschichte. […] Sie würde den Garten Eden nicht erkennen […]« (Haraway 1995: 35f.). Christina von Braun hat die Intersektionen von Antisemitismus und Antifeminismus herausgestellt, indem sie u.a. zeigte, dass beide Diskriminierungsformen über geschlechtliche Darstellungen und Verkörperungen des Anderen funktionieren (vgl. Braun 1995 und Braun 2005). Autorinnen wie Charlotte Kohn und Ilse Korotin (1994) untersuchten prominent die Rolle des Antisemitismus in der Frauenbewegung und sein Verhältnis zu Weiblichkeit (vgl. Kohn 2004). Seit Anfang der 2000er Jahre scheint diese Linie, die vor feministischem Hintergrund die Zusammenhänge von Geschlecht und Antisemitismus analysierte, abgebrochen zu sein. Die Liste an Beispielen der theoretisch fruchtbar zu machenden Intersektion von Antisemitismuskritik und Queerfeminismus ließe sich 209
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jedoch theoretisch endlos fortsetzen. Sie zeigen, dass es aus theoretischer Perspektive des frühen Queerfeminismus kein logisches Zusammengehen von Queer und Antisemitismus gibt. Oder anders gesagt: Die Beispiele zeigen, dass der frühen Queer Theory keine antisemitischen Tendenzen zugrunde liegen, es also auf den Queerfeminismus bezogen keinen, von Ljiljana Radonić (2014) so formulierten, »spezifischen feministischen Antisemitismus« gibt. Sowohl die akademische und institutionelle Entwicklung der Queer- und Genderstudies als auch die politische Praxis queerfeministischer Bewegungen sprechen allerdings deutlich gegen die aufgezeigten Gemeinsamkeiten. Daher drängt sich die Frage auf, warum sich ausgerechnet in einem nach eigenem Verständnis progressiven Bereich, ein derartiger glühender Antizionismus und israelbezogene Antisemitismus als neuer allgemeiner Fixpunkt der politischen und akademischen Kollektivierung herausbilden konnte? Um diese Frage zu beantworten, gehe ich zwei Beobachtungen nach, die in Bezug auf diese Fragen Schlüsselmomente darstellen: Erstens haben sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der politischen Praxis Verschiebungen aufgetan, die den Antizionismus als internationalen Code für den Kampf gegen Unterdrückung festzuschreiben und zu verallgemeinern versuchen. Dieser Beobachtung gehe ich im ersten Teil mit einer deskriptiven Bestandsaufnahme anhand einiger exemplarischer Beispiele nach. Darauf aufbauend wird im zweiten Teil ausgeführt, was die Gründe für diese Entwicklung sein könnten. Ich gehe zweitens davon aus, dass die theoretische Fokussierung auf das Besondere/Partikulare/Individuelle in intersektionalen, postkolonialen, identitätslogischen queeren Theorien, sowie der sozial-ökonomische Wandel zu einer neoliberalen »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz 2017: 11), einem Verlust des Allgemeinen und lang geltender universeller Bezugspunkte (wie bspw. das Wir der Arbeiter:innen oder das Wir der Frauen) zur Folge haben. Eine vorläufige These lautet daher, dass queere Subjekte dem Zerfall ihrer Identität und ihrer Kollektive in Partikularismen mit der Suche nach einem kollektiven Bezugspunkt begegnen: Der israelbezogene Antisemitismus kann diese Funktion des kollektivbildenden Allgemeinen erfüllen. Im Übereinkommen antisemitischer Denkmuster erfahren sich diejenigen, die in und durch ihre eigenen identitätslogischen Theorien und Praxen aufgrund verschiedener Hautfarben, Herkünfte, Sexualitäten, Geschlechtsidentitäten usw. voneinander getrennt scheinen, als Kollektiv gemeinsam Handelnder. In diesem zweiten Teil werde ich mit Theodor W. Adorno und Andreas Reckwitz eine gesellschaftstheoretische, materialistische Perspektive auf die geschilderten Phänomene werfen.
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1. Bestandsaufnahme. Israelbezogener Antisemitismus im Queerfeminismus Das Erstarken des israelbezogenen Antisemitismus in der queeren Theorie und Bewegung hat u.a. mit einer grundsätzlichen Verschiebung der Definitionsmacht in der Antisemitismusdebatte zu tun. In Diskursen um bspw. den sogenannten ›Zweiten Historikerstreit‹, postkoloniale Apartheitsdebatten oder der Jerusalem Declaration on Antisemitism, die jene Antisemitismusdefinition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) abzulösen sucht, wurde u.a. um den Status der Singularität der Shoah gestritten und im Anschluss daran um die Frage, was das Aufgeben dieser Singularität für politisches Handeln bedeuten würde. Viele Wissenschaftler:innen sowie diverse akademische Institutionen gehen Verbindungen mit jenen politischen Kämpfen ein, die in Europa und den USA oftmals im Namen des palästinensischen und queeren Befreiungskampfes gegen Jüdinnen:Juden geführt werden. Jüdinnen:Juden werden von Seiten linker, queerer Aktivist:innen nie direkt benannt, was nicht selten als Argument genutzt wird, Antizionismus oder sogenannte Israelkritik von Antisemitismus und Judenfeindschaft abzugrenzen. Slogans wie »from the river to the sea, Palestine will be free«, die sich auf dutzenden queerfeministischen Demonstrationen wiederfinden oder Aufrufe zur Intifada1 hingegen weisen deutlich darauf hin, dass diese indirekten Botschaften direkte Folgen haben: Denn die praktische Konsequenz der Forderungen, den jüdischen Staat oder Israelische Zivilist:innen zu vernichten, ist schlichtweg Antisemitismus. Mit der Behauptung, Israel sei ein kolonialistischer, rassistischer Apartheitsstaat wird begründet, warum die Freiheit der Palästinenser:innen mit der Vernichtung Israels einhergehen müsse. So versteht bspw. die USCPR (US Campaign for Palestinian Rights/Elia o. J.) »Palestine as a Queer Struggle« und zitiert Ghaith Hilal von AlQaws: »You cannot have queer liberation while apartheid, patriarchy, capitalism and other oppressions exist. It’s important to target the connections of these oppressive forces.« (ebd.) Statt die jeweils genannten Unterdrückungsmechanismen erst einmal für sich zu verstehen und zu bekämpfen, wird in dem folgenden Text dieser Kampagne die Auslöschung Israels als die Lösung all der genannten Probleme erhofft. Dass der Antizionismus der akademischen und linken Hegemonie antisemitisch getränkt ist, wird jeden Orts negiert, wiewohl Argumente wie die folgenden Jean Amérys bislang nicht widerlegt werden konnten: Für Améry gibt es keinen Antizionismus der nicht auch antisemitisch funktioniert oder funktionalisiert wird bzw. werden kann. Daher nennt er 1
Vgl. den Aufruf zur Intifada – dem Töten israelischer Zivilist:innen – von der queeren Gruppe Kanal Wagenplatz aus Berlin (vgl. BDS Berlin 2016).
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den Antizionismus auch »ehrbaren Antisemitismus«: »Die Linke muß redlicher sein, Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus. […] Israels Bestand ist unerläßlich für alle Juden […] wo immer sie wohnen mögen« (Améry 1969: 140). In all den offenen Briefen, Aktionen und Artikeln, die sich gegen Israel und seine (jüdische) Bevölkerung richten, finden sich auffällig viele feministische und/oder queere Akademiker:innen und Kulturschaffende. Dies reicht von der BDS-Kampagne, Open Gazaletters, Frauenschiffen gegen Israel, Kunst- und Kulturinstitutionen, der Initiative GG5.3 bis zu antizionistischen Aktionen bei Alternativen Christopher Street Days oder linken 1. Mai-Demonstrationen. Auch andersherum finden sich in zahlreichen queeren und feministischen Bewegungen Antizionist:innen wie Linda Sarsour, Jasbir Puar, Lana Sirri, Laurie Penny, Judith Butler, Angela Davis, Kübra Gümüşay, Naomi Klein, Sarah Schulman, Khola Maryam Hübsch uvm. Ein prominentes Beispiel, wie Antisemitismus und Queer theoretisch versucht wird, zu verbinden, ist die promovierte Genderstudies-Professorin Jasbir Puar. Sie prägte den erstmals von Sarah Schulman genutzten Begriff Pinkwashing Israel, der dessen liberale LGBTQI*-Politik als Verschleierungstaktik begreift: »Israel’s gay propaganda war […]. One of the most remarkable features of the Brand Israel campaign is the marketing of a modern Israel as a gay-friendly Israel. […] This ›pinkwashing‹, as it is now commonly termed in activist circles, has currency beyond Israeli gay groups. Within global gay and lesbian organising circuits, to be gay friendly is to be modern, cosmopolitan, developed, first-world, global north, and, most significantly, democratic. […] Israeli pinkwashing is a potent method through which the terms of Israeli occupation of Palestine are reiterated […]. It produces Israel as the only gay-friendly country in an otherwise hostile region. This has manifold effects: it denies Israeli homophobic oppression of its own gays and lesbians, of which there is plenty, and it recruits, often unwittingly, gays and lesbians of other countries into a collusion with Israeli violence towards Palestine.« (Puar 2010)
Wenn sie davon spricht, dass Israel einen homosexuellen Propagandakrieg (»gay propaganda war«) betreibe, bedient sie sich einer gewaltvollen, mit Krieg und Vernichtung verknüpften, Rhetorik. Gewalttätiges Handeln wird ausschließlich auf der Seite Israels verortet (»Israeli violence towards Palestine«) und als kriegerischer Kolonialismus (»occupation«) verstanden. Das belegt auch ihre Verwendung des Apartheitsbegriffes in Bezug auf Israels Politik (vgl. ebd). Außerdem wird Israel hier in der Rhetorik des Finanzwesens begriffen, was wiederum intertextuelle Verweise auf nationalsozialistische Rhetorik mit sich bringt: Universelle Werte der Anerkennung von LGBTQI*s dienten nur der Vermarktung (»marketing«, »Brand«) und als Währung (»currency«), um die sonst verbrecherische Politik verschwörerisch zu verschleiern. Diese 212
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Terminologie hat auffällige Ähnlichkeiten mit derjenigen in Adolf Hitlers antisemitischen Reden oder der von Martin Heidegger vorgebrachten antisemitische Gegenüberstellung von dem berechnenden Zins-Juden auf der einen und dem deutschen protestantischen Arbeiter auf der anderen Seite (vgl. Lelle 2022, 59-70). Die Weise, wie Puar Israelis als Kapitalist:innen den von ihr so verstandenen unterdrückten Palästinenser:innen gegenüberstellt, hat zudem Überschneidungen mit der antisemitischen Gegenüberstellung von ›schaffendem und raffendem Kapital‹ (vgl. Postone 1995). Puar legt mit Begriffen wie »strategy«, »produced«, »lobby« nahe, dass alle demokratischen Errungenschaften für Queers in Israel (zu denen zweifelsohne bspw. das Adoptionsrecht, die HomoEhe oder Gesetze gegen Homo- und Transfeindlichkeit der Antidiskriminierungsklausel von 1993 zählen) nur eine Erfindung Israels seien. Das Existenzrecht Israels ist für Puar nichts mehr als das Ergebnis jüdischer Machenschaften – auch diese Rhetorik erinnert an den Antisemitismus in Heideggers Begriffskosmos, denn besonders in dessen Schwarzen Heften ist ›Machenschaft‹ dasjenige Wort, das »jede Passage einleitet und begleitet, in denen vom ›Judentum‹ die Rede ist« (Di Cesare 2016: 158). Bei Puar zeigt sich der Zusammenhang zwischen einer eigentlich emanzipatorischen Bewegung (queer), ihren Strategien (Pinkwashing) und der althergebrachten Rhetorik des Vernichtungsantisemitismus. Puars Konzept von Queerfeminismus ist auch ansonsten fragwürdig, rückt sie doch islamistische Attentate in die Nähe einer widerständigen queeren Körperpraxis (Puar 2017a: xxiii). Ihr Buch The Right to Maim widmet sie dem palästinensischen Volk: »This book is dedicated to the fortitude of the Palestinian people, the imminent liberation of Palestine, and whatever new worlds and struggles that may bring.« (Puar 2017b: xxviii). Auch darin taucht antisemitisches Vokabular wie das der »ethnischen Säuberung« auf (vgl. ebd.). Sie suggeriert, dass das Vorkommen von Homofeindschaft unter Palästinenser:innen und Muslim:innen ein von Israel erfundener Diskurs sei (vgl. ebd.) Unter Wissenschaftler:innen der Genderstudies bildet sie damit keine Ausnahme: Auch Amy Villarejo und Jordy Rosenberg führen in dem Band Queer Studies and the Crisis of Capitalism als Beispiele für die wichtigsten internationalen sozialen Bewegungen der ganzen 2000er Jahre im Kampf gegen rassistische und sexistische Unterdrückung ausschließlich Beispiele auf, die sich durch israelbezogenen Antisemitismus auszeichnen: Queers Undermining Israeli Apartheid, Queers Undermining Israeli Terrorism, Al Qaws Palestine, antizionistische Netzwerke und queere BDS-Gruppen (vgl. Villarejo/ Rosenberg 2011: 16). Während die Gender- und Queerstudies ursprünglich von der Dekonstruktion normativer Verallgemeinerungsbewegungen geprägt waren, verhält sich der Umgang mit Antisemitismus zu dieser Bewegung mittlerweile paradox: Israel wird nach dem single-out-Prinzip singularisiert 213
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(vgl. Hafner/Shapira 2015), als Grund für alle Übel der Welt phantasiert und im Antizionismus ein neues, aber – so will ich gleich mit Reckwitz zeigen – falsches Allgemeines statuiert, dessen Partikularität verschleiert wird.
2. Israelbezogener Antisemitismus. Das neue Allgemeine des Queerfeminismus? Ausgehend von dieser kursorischen Bestandsaufnahme paradigmatischer Beispiele aus den gegenwärtigen Diskursen der Queer- und Genderstudies möchte ich nun den Versuch unternehmen, eine gesellschaftstheoretische Erklärung für diese augenscheinlichen Widersprüche zu skizzieren: Ich folge dabei Andreas Reckwitz’ in seiner Analyse, dass im spätmodernen Kapitalismus ein »gesellschaftlicher Strukturwandel statt[findet]« (Reckwitz 2017: 11), »der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft […] an die soziale Logik des Besonderen [verliert]« (ebd.: 11, Herv. i.O.). Damit geht, so Reckwitz, eine »Kulturalisierung des Sozialen« (ebd.: 17, Herv. i.O.) sowie eine Repräsentationspolitik einher, die durch Anerkennung des Besonderen und Partikularen strukturiert sei. Zu seiner Analyse eines allgemeinen gesellschaftlichen Wandels kommen theoretische und strukturelle Umbrüche in der Ausrichtung der feministischen, linken Bewegung hinzu. Judith Butler kritisierte feministische Strömungen der sogenannten Zweiten Welle etwa für die universelle Annahme eines allgemeinen Wir der Frauen sowie für die Konstruktion eines universellen Patriarchats, welches unabhängig von der Kultur, des Begehrens oder der Klasse überall unterschiedslos wirksam und gültig sei (vgl. Butler 1990). Dieser falsch verstandene Universalismus der Identität Frau trage den Bedingungen seines eigenen Produktionsregimes nicht Rechnung, weil er das Geschlecht der Frau nicht als produziert, sondern als gegeben betrachte. Gegen die fiktive Allgemeinheit eines falschen Universalismus (des weißen, bürgerlichen Mannes) versuchte also ganz besonders der frühe Queerfeminismus die Produziertheit aller Identitäten aufzuzeigen und auf ihre Bedingtheit durch gesellschaftliche Herrschaftsformen zu verweisen. Der produzierten Ungleichheit sollte nicht mit partikularen Identitätspolitiken begegnet werden, sondern mit dem gegenteiligen Verweis auf das Nichtidentische, das sich dem Zwang zur Identifizierung entzieht, unabgeschlossen bleibt, und daher Raum für Veränderung und perspektivisch für eine andere Vorstellung von Universalität gibt. In Verbindung mit intersektionalen und postkolonialen Ansätzen entwickelte sich die heute für die linke Bewegung stichwortgebende Queer-Theorie in eine ihren Ursprüngen widersprechende Richtung: Einige queere linke 214
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Diskurse könnten daher zurecht für ihren (zumindest der Form, nicht immer dem Inhalt nach) bürgerlichen Partikularismus, (Kultur)Relativismus und stellenweise auch segregierenden Kulturessenzialismus kritisiert werden. Gleichzeitig übergehen diejenigen materialistischen Kritiken, die Universalismus gegen die partikularisierte Queercommunity in Stellung bringen, dass intersektionale und postkoloniale Theorien (etwa im vielversprechenden Vorschlag des strategischen Essenzialismus von Spivak) einen Wahrheitskern in ihrer Kritik am (falschen) Universalismus hatten: Nämlich an jenem Universalismus des Bürgertums, der Menschen nur als weiße Männer der europäischen Bourgeoisie denken konnte; derjenige Universalismus, bei dem das, was der Form nach als universell dargestellt wird nur einen Schleier für die materielle und soziale Unterdrückung und Ausbeutung durch bürgerlich-kapitalistische Interessen Einzelner bildet (vgl. Spivak/Harasym 1990). Der Verlust des Allgemeinen und die sich durchsetzende neoliberale Logik des Singulären ist nun für die linke, queerfeministische Bewegung deswegen von besonderer Bedeutung, weil die Singularisierung, so Reckwitz, nicht nur Individuen, sondern vor allem Kollektive betreffe (Reckwitz 2017, 12). Linke Bewegungen befinden sich heute in genau dieser paradoxalen Lage: Der Kampf um die Rechte Marginalisierter (Logik des Partikularen) scheint im Spannungsverhältnis zum Kampf um soziale Gerechtigkeit (Logik des Universellen) zu stehen. Diese Bewegungen sind par excellence in queerfeministischen Diskurse zu beobachten. Mit identitätslogisch verfassten queeren Theorien wie einer identitären Kritik an kultureller Aneignung, identitär geführten Privilegiendiskursen oder der als betroffenheitshierarchisierendes Stufenmodell gedachten Intersektionalität gehen häufig Essenzialisierungsprozesse einher (vgl. Haug 2018). In diesem Kontext überrascht es nicht, dass Antisemitismus innerhalb intersektionaler Ansätze oft nicht systematisch erfasst wird oder als Teilform von Rassismus auftaucht. Am Beispiel der unzureichenden Erfassung des Antisemitismus in der Intersektionalität zeigt sich eine vielleicht grundsätzlichere Problematik des Ansatzes. Denn mit der positiven Betonung der Identitätsmerkmale wie race, gender oder age und ihren Intersektionen geht die Gefahr der Essenzialisierung von genau denjenigen Identitäten einher, für deren Diversität und Vielfältigkeit queere Kritik einst antrat. Das Konzept der Intersektionalität ließe sich demgegenüber aus einer feministischen Perspektive, die die hermetische Ideologie von feststehenden Identitäten nicht in und durch die eigene Praxis affirmieren will, mit Karin Stögners Begriff der »Intersektionalität von Ideologien« fruchtbar machen. Der Vorteil läge, so Stögner, darin, dass sich in einem solchen Modell, auch der »Antisemitismus als eine Ideologie, die sich maßgeblich von den anderen darin unterscheidet, dass sie nicht entlang der eindeutigen, selbst schon ideologisch binären Kategorisierung von innen/außen, unterlegen/überlegen, Natur/Kultur, gebildet 215
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wird, sondern ihren Wesenskern aus der Ambivalenz und Nicht-Identität eben dieser Kategorisierungen zieht« (Stögner 2018: 27f.). In queeren Ansätzen wird gegenwärtig jedoch oft genau jene Gefahr der Essenzialisierung und Kategorisierung nicht mehr gesehen. In einer Ich-als-Logik wird das Individuum nunmehr nicht in seiner Vermittlung mit der Gesellschaft, sondern als vorgefundenes Partikulares in den Vordergrund gestellt. Doch auch das, was die Subjekte als besonders bzw. singulär erleben, ist – ganz im Sinne des Marx’schen Warenfetischs – für Reckwitz »durch und durch sozial fabriziert« (Reckwitz 2017: 13, Herv. i.O.). Diese »reale Paradoxie« des spätmodernen Kapitalismus, dass sich »das Soziale« gerade um »Singularitäten […] dreht« (ebd.), zeigt sich im aktuellen Queerfeminismus paradigmatisch. Aus meiner Sicht gelingt ihm das, wofür er einst antrat, aktuell nicht mehr: Gerade dasjenige als Partikulares zu entschlüsseln, was sich als Allgemeines zeigt. Der Grund für dieses Unvermögen liegt vor allem darin begründet, dass identitäre Queertheorien keine Vermittlung mehr mit den materiellen Verhältnissen oder mit der, so Horkheimer und Adorno, Klassengesellschaft denken: »Rasse ist nicht, wie die Völkischen es wollen, unmittelbar das naturhaft Besondere. Vielmehr ist sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die verstockte Partikularität, die im Kapitalismus gerade das Allgemeine ist. Rasse heute ist die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individualismus, integriert im barbarischen Kollektiv. [...] Die Verfolgung der Juden, wie Verfolgung überhaupt ist von der Klassengesellschaft nicht zu trennen.« (Horkheimer/Adorno 1947: 198f.)
Eine Kritik an Rassismus oder Judenfeindschaft, die das Partikulare identitätslogisch in den Vordergrund stellt ohne seine Vermittlung mit dem Allgemeinen zu denken, muss hinsichtlich ihrer emanzipatorischen Ansprüche scheitern. Denn die Pointe des Fetischcharakters der Ware besteht gerade darin, dass das spezifische gesellschaftliche Verhältnis der kapitalistischen Produktionsweise als ›gesellschaftliche Natureigenschaft von Dingen‹ (vgl. Marx 1867: 86) erscheint. Eigenschaften, die Menschen oder Dingen allein durch ihre Position und Funktion innerhalb der Verwertung des Werts zukommen, erscheinen als überhistorische, also natürliche Eigenschaften von Dingen. Jegliche Rede von Eigenschaften, die zum Ausgang von Identitätskonstruktionen dienen, verkehrt das gesellschaftliche Verhältnis. Diese Verkehrung ist, mit Marx gesprochen, selbst »objektive Gedankenform« (ebd.: 90) in der sich das Bewusstsein im Kapitalismus inhaltlich bestimmt. Kapitalismus ist also immer auch die Produktion von Bewusstsein, indem er ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis auf vermeintlich unhintergehbaren Eigenschaften der Individuen errichtet. Adorno spricht im Anschluss an Marx in diesem Sinne von »verdinglichte[m] Bewusstsein« (Adorno 1966b: 98, Herv. i. O.). Eine queere, materialistische Ideologiekritik hingegen müsste genau 216
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diese durch »verstockte Partikularitäten« (Horkheimer/Adorno 1947: 198f.) konstituierten Fabrikationsprozesse des Allgemeinen kritisieren. Dann wäre sie eine antiessenzialistische Theorie, die race, class und gender seiner vermeintlichen »Naturhaftigkeit« (ebd.) entreißt und entlarvt, das letztere Merkmale sozial produziert sind. Dass Antisemitismus in der intersektionalen Theorie, wie bereits angedeutet, nicht recht erfasst wird, hat methodische Gründe, die mit dieser Vorherrschaft der Identität und der Singularitäten zusammenhängen. Denn Antisemitismus lässt sich gerade nicht mit der Aufwertung oder Repräsentation einer vermeintlich homogenen, mit sich selbst identischen (jüdischen) Identität begegnen, weil die Ideologie des Antisemitismus sich aus den Ambivalenzen vermeintlich binärer, homogener Kategorien zusammensetzt. In dem Verkennen des Antisemitismus wird auch die Struktur des gesamtgesellschaftlichen Unterdrückungszusammenhangs verkannt. Denn durch die Ablehnung des universellen Allgemeinen (bspw. das Wir der Frauen oder der Arbeiter:innen) und die Fokussierung auf das Besondere (bspw. der bestimmten Identität, des besonderen Geschlechts usw.) verstellt sich der Blick auch für dasjenige Allgemeine, was alle – wenn auch auf verschiedene Weise – betrifft: die universelle Negativität elendiger Verhältnisse im Kapitalismus. Für diesen grundlegenden Strukturwandel von der Logik des Allgemeinen zum Besonderen, wie ihn Reckwitz beschreibt, ist der Queerfeminismus das beste Beispiel: Angetreten als emanzipatorisches Projekt, dessen gesellschaftliche und politische Errungenschaften nicht zuletzt aus kollektiven Kämpfen hervorgingen, wirkt der Verlust des Allgemeinen dann besonders stark, wenn sich aufgrund der jeweiligen Besonderheiten kein positives Allgemeines zur Kollektivbildung mehr finden lässt. Dieser Verlust des Allgemeinen rührt – Marx, Adorno und Reckwitz zusammenfassend – zum einen aus dem beschriebenen allgemeinen kulturellen und sozialen Wandel und zum anderen daher, dass in einem identitären Queerfeminismus verkannt wird, dass das Partikulare sich in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gerade als Allgemeines zeigt. Jede queere Theorie, die ihre eigenen Produktionsbedingungen verkennt und das Partikulare zum universell gültigen Allgemeinen erhebt, verfährt formal ähnlich zu der herrschenden Ideologie, für dessen Abschaffung sie antrat. Durch das Verkennen der tatsächlichen Ursache gesellschaftlichen Leids – die kapitalistische Produktionsweise – tut sich nicht nur bei dem fehlenden positiven Allgemeinen für queere Kollektive eine Leerstelle auf, sondern ebenso in der Feindbestimmung. Denn wenn weder ein positives Allgemeines (bspw. das Wir der Frauen) noch ein geteiltes negatives Allgemeines (das könnte die kapitalistische Produktionsweise sein) vorhanden ist, wird kollektive politische Praxis schier unmöglich. In der Dämonisierung und Delegitimierung Israels scheint nun die queere Community einen neuen universellen Bezugspunkt gefunden zu haben. Sie setzen ein 217
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singuläres Problem als Allgemeines und tun damit genau das, was die ihr Bewusstsein produzierende Struktur des Kapitals tut: Sie projizieren. Der israelbezogene Antisemitismus erhält also dabei die Funktion zur Konstitution eines neuen Allgemeinen. Letzteres ist aber deswegen ein falsches Allgemeines, weil sich sein kollektives Moment aus der Affirmation neoliberaler, identitätslogisch segregierter Partikularitäten zusammensetzt. So bleibt diese Kollektivität jener queeren Communities partikular bestimmt und steht einer emanzipatorischen Politik der Allgemeinheit, die auf die Abschaffung neoliberaler Vereinzelungslogiken zielt, entgegen. Es hat sich eine paradoxale Bewegung gezeigt: Waren es doch gerade feministische, queere und antirassistische Theorien, die das vormals Universelle für seine falsche Verallgemeinerung eigentlich partikularer Positionen (das Männliche, der Weiße usw.) kritisierten, sind es nun eben jene, die auf Kosten von Juden:Jüdinnen ein neues, aber ebenso falsches Allgemeines statuieren. Paradox bleibt, warum sich diese antisemitische Identitätslogik gerade im Queerfeminismus ausbreiten konnte. Insofern Queerfeminismus in der Weise identitätsideologisch auftritt, wie ich es beschrieb, stellt der bei ihm neu beheimatete Antisemitismus insofern kein Paradox dar, als dass er der Nichtbeachtung kapitalistischer Mechanismen geschuldet ist.
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Anthroposophie, Querdenken, Antisemitismus Bereits bei der ersten Welle der Covid-19-Pandemie waren die Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die sogenannten Querdenken-Demonstrationen, eine wahrnehmbare politische Größe in Deutschland, der es gelang, zehntausende Menschen aus verschiedensten politischen Lagern zu vereinen. So rekrutierte die Bewegung aus der bürgerlichen Mitte ebenso wie aus Kreisen der Rechtsextremen, Reichsbürger:innen, Linken, Esoteriker:innen, Verschwörungsgläubigen, Impfgegner:innen und Friedensbewegten. Zu beobachten war, wie eine Art »neue Lebensreformbewegung« (Speit 2021: 14) und autoritäre Querfront mit libertärem Gedankengut (vgl. Amlinger/Nachtwey 2022) gemeinsam gegen die staatlichen Maßnahmen marschierte und zum Sturm auf die Parlamente aufrief. Zwei Jahre nach Beginn der Proteste sehen sich zahlreiche der deutschen Rädelsführer:innen mit Strafanzeigen konfrontiert, sitzen in Untersuchungshaft oder sind auf der Flucht vor den Polizeibehörden. Nicht wenige müssen sich aufgrund von antisemitischer Hassrede oder Holocaustrelativierungen vor Gericht verantworten. Selten wird der Judenhass dabei offen propagiert. Wird jedoch auf einer der größten Querdenken-Kundgebungen am 01. August 2020 in Berlin vor 30.000 Menschen von einer »kleinen Minderheit aus Geldadel«, die von der Pandemie profitiere, oder von Politiker:innen, die lediglich »zeichnungsberechtigte Schriftführer der Pharmaindustrie und der Hochfinanz« (Speit 2021: 49) seien, gesprochen, dann ist die antisemitische Stoßrichtung dieser Äußerungen deutlich. ›Hochfinanz‹, ›Geldadel‹, genauso wie ›Globalisten‹, ›Israel‹, ›Zionisten‹, ›Rothschilds‹, ›Wall-Street‹ etc. gelten in der Antisemitismusforschung bereits seit Langem als Chiffren, um offenen Judenhass zu verschleiern und ihn dennoch äußern zu können (vgl. Rensmann 2015; vgl. Baier/Hermann 2022; vgl. Markewitz 2014). Oliver Nachtwey et al. (2020: 53) untersuchten die Querdenken-Bewegung soziologisch und fanden heraus, dass jener ein Hang zum antisemitischen Vorurteil innewohnt. In späteren Analysen (vgl. Frei/ Nachtwey 2021) stellten die Baseler Forscher:innen fest, dass neben dem alternativen vor allem das anthroposophische Milieu eine der ideologischen Quellen der Querdenken-Bewegung ist. Für die Antwort auf die Frage, warum gerade in den deutschsprachigen Ländern Europas die Impfgegnerschaft besonders ausgeprägt ist (vgl. Jones/Chazan 2021) und 221
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warum die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie hier nennenswerten Gegenprotest mobilisieren konnten, ist die Analyse der anthroposophischen Bewegung unerlässlich. Denn jene ist nicht nur auffällig stark in den alternativen Milieus dieser Länder verankert, sondern konnte sich auch mit ihren eigenen Schulen, eigenen Kindergärten, ihrer eigenen Medizin und ihren erfolgreichen Markenprodukten bis weit ins bürgerliche Milieu hinein etablieren (vgl. Nachtwey et al. 2020). In der Analyse zeigen sich nicht nur historisch auffällige Kontinuitäten (vgl. Staudenmaier 2012), sondern auch auf ideologischer Ebene lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen der autoritären und anthroposophischen Bewegung erkennen (vgl. Seeburger 2021). Dabei lässt sich der Antisemitismus als Bindeglied über die verschiedenen Milieus hinweg begreifen und manifestiert sich im anthroposophischen Kontext vor allem als Materialismuskritik.
1. Ziel und Methode Der Aufsatz hat zum Ziel, mit Blick auf die Anthroposophie einen ideologiekritischen Beitrag zur Aufklärung der spezifischen soziologischen Zusammensetzung der Querdenken-Bewegung zu leisten und damit die Zusammenhänge der antisemitischen Querfront tiefergehend zu erhellen. Zu diesem Zweck sollen zuerst überblicksartig historische Anknüpfungspunkte zwischen der völkischen und der anthroposophischen Bewegung herausgearbeitet werden, um dann in einem zweiten Schritt eine sozialpsychologische Analyse anzuschließen. Hier sollen vor allem die psychischen Mechanismen untersucht werden, um die Frage zu beantworten, wie genau Antisemitismus heute als Bindeglied zwischen den heterogenen Milieus der Querdenken-Bewegung fungiert.
2. Historische Kontinuitäten Historisch ist es nur schwer möglich, die Esoterik im Allgemeinen oder die Anthroposophie im Besonderen einer politischen Strömung eindeutig zuzuordnen. Über die letzten 200 Jahre zeichnet sich eine besonders wechselvolle Geschichte der zahlreichen verschiedenen esoterischen Strömungen ab. Eine der wichtigsten esoterischen Gemeinschaften der europäischen Geschichte ist die Anthroposophie (vgl. Zander 2007). Sie war, wie viele esoterischen Strömungen (Spiritismus, Okkultismus, New Thought), eng verflochten mit politischen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts, die ihrem Kern nach eher »sozialistischen, feministischen, oder anarchistischen Richtungen zuzuordnen wären« (Strube 2017: 1). 222
ANTHROPOSOPHIE, QUERDENKEN, ANTISEMITISMUS
Hinsichtlich der Anthroposophie kann jedoch gesagt werden, dass jene bereits zahlreiche ideologische Elemente des Nationalsozialismus, im Besonderen den völkischen Antisemitismus, antizipiert. Anthroposophie wie Nationalsozialismus speisten sich in weiten Teilen aus der völkischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Beide lassen sich als eine Art regressive Gegenbewegung auf Industrialisierung, Materialismus und Urbanisierung zum Beginn des 20. Jahrhunderts verstehen, verbunden mit dem Streben, in einen idealisierten Naturzustand zurück(ein-)zukehren. Diese gemeinsame Wurzel lässt sich auch durch personelle Verstrickungen des Nationalsozialismus mit der Anthroposophie belegen (vgl. Staudenmaier 2012). Zwar wurde die Anthroposophie nach der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten bereits 1935 verboten, jedoch durch einflussreiche NS-Funktionäre über weitere Jahre protegiert. Bei zahlreichen NS-Größen genossen die Lehren Rudolfs Steiners nachweislich größte Anerkennung: Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter, Otto Ohlendorf, SS-Gruppenführer und Amtschef im Reichssicherheitshauptamt, Alfred Baeumler im Amt Rosenberg und Richard Walther Darré, welcher nicht nur Landwirtschaftsminister und Reichsbauernführer war, sondern auch Mitbegründer des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes (vgl. ebd: 480). So wurden auch die Waldorfschulen teilweise weiter betrieben, ihnen wurden aber weitere Einschulungen bis 1940 untersagt (vgl. Werner 1999: 137). Noch 1938 wurde der ›Kräutergarten Dachau‹ aufgebaut, ein Teil des Dachauer Konzentrationslagers, welcher als Versuchsanstalt des biologisch-dynamischen Landbaus1 genutzt wurde und seine Tätigkeit bis 1945 fortsetzen konnte. Für den Betrieb war der Anthroposoph und SSOffizier Franz Lippert zuständig. Die Bedingungen im ›Kräutergarten‹ wurden vom tschechischen Historiker und ehemaligen KZ-Häftling Stanislav Zámečník (2007: 123) als mörderisch beschrieben; der Boden war ungeeignet und die Häftlinge mussten dort bis in den Tod schuften. Erst 1941 kam es, vermutlich durch das in Ungnade Fallen eines der berühmten Protegés der Anthroposophie, Rudolf Heß, zur Durchsetzung des von Reinhard Heydrich ausgesprochenen Verbots. Heydrich sah in der Anthroposophie eine Weltanschauung, die nicht für das deutsche Volk geeignet war, sondern vielmehr »eine den Nationalsozialismus gefährdende Sonderlehre«, die »einen gefährlichen Faktor orientalischer Zersetzung der germanischen völkischen Art darstellt« (Staudenmaier 2012: 480). Zentraler ideologischer Konfliktpunkt zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus ist das jeweilige Verhältnis zum Materialismus. Auf der einen Seite repräsentiert durch einen immanenten Materialismus Heydrichs und auf der anderen Seite die anthroposophische 1
Dabei handelt es sich um eine Boden, Vieh und Pflanzen umfassende Wirtschaftsweise, welche auf den Lehren Rudolf Steiners beruht.
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Anschauung, die Welt durch Vergeistigung vom materialistischen Denken zu befreien; beides verbunden durch den imperialistischen Anspruch der Weltmission eines deutschen Geistes (vgl. Steiner 1914: 78). Ableitbar ist dieser Anspruch auf anthroposophischer Seite aus Steiners esoterischer Rassenlehre und seinem Antisemitismus (vgl. Staudenmaier 2012: 474). So unterhielt Steiner gute Beziehungen zu führenden Antisemiten der Weimarer Republik. Der Schriftsteller und völkische Ideologe Friedrich Lienhard, Vertreter eines »idealistischen Antisemitismus« (ebd.) war selbst seit 1913 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und wurde von Steiner vielfach rezitiert und gewürdigt, sogar Eurythmien wurden zu seiner Poesie aufgeführt (vgl. Lindenberg 1988: 307, 366f.). Ebenso steuerte Steiner für Karl Heises Entente-Freimaurerei und Weltkrieg, einem »Klassiker der antisemitischen Verschwörungsliteratur«, das Vorwort und einen »erheblichen Teil der Druckkosten« (Staudenmaier 2012: 475) bei. Jener Klassiker wurde nachweislich wiederum von Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg rezipiert (vgl. Werner 1999: 13, 70, 245f.). Auch diese personellen Verknüpfungen kamen nicht von ungefähr, sondern waren ideologischer Natur. Vielen Protagonisten der völkischen Bewegung, etwa Eugen Diederichs oder Richard Karutz, ging es um die Vermittlung des materialistisch fundierten Rassismus mit der geistigeren Ebene der Anthroposophie. Zur Transzendierung der Rassenlehre und einer Kritik am reinen Materialismus der völkischen Bewegung schrieb Karutz 1932: »[I]n den Menschen völkischer Kreise liegt viel gute Saat für eine geistige Zukunft, es ist als stiege in ihnen die altgermanische Spiritualität richtig verwandelt wieder hoch, aber die Not der Heimat bannt ihren Blick auf den politischen Vordergrund, verkrampft sie mit den äusseren Erscheinungen« (Karutz zit. n. Staudenmaier 2012: 477).
Hoffnungsvoll blickt Karutz zwei Jahre später in eine Zukunft, unter der »man auch die positive Einstellung zur Rasse wieder[gewinnt], die unter dem wissenschaftlichen Materialismus verlorengegangen war« (ebd.: 487). Für jene Anthroposophen war das Judentum die Verkörperung jenes uninspirierten Materialismus und abstrakten Intellektualismus, des Rationalismus und der Zersetzung (vgl. ebd.), den es im Namen des Volkes zu bekämpfen galt. Jedoch ist in der auf das Ich zentrierten Anthroposophie damit nicht nur ein äußerer Feind gemeint, sondern vor allem die im Judentum vermeintlich verkörperte Idee moderner Zivilisation, die auch im Inneren bekämpft werden müsse: »Der Jude im Menschen ist der Feind«, erklärt 1929 Karutz. Das Problem sei der Geist des Judentums, der eben in jedem Menschen steckt« (ebd.). Dieser sei »engherzig[...], vergangenheitsstarr[...], totem Begriffswissen und totem Stoffe opfernd[...]« und »weltmachthungrig[...]« (ebd.). 224
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So schreibt auch die anthroposophische Gesellschaft Deutschlands in ihrer Zeitschrift 1925, dass »das Judentum [...] sich selbst als bestimmender Exponent der Zivilisation, der es viel zu lange gewesen ist« begraben würde. Es würde »sehr wohl [fühlen], dass seine für die Weltlage unheilschwere Rolle ausgespielt ist und das Blatt sich zu wenden beginnt«. Jene »Ausgeburten eines perniziösen Fieberzustandes« würden »sich aus allen Kräften gegen die andringende Vernichtung sträub[en], ohne sie aufhalten zu können« (ebd.). So frohlockt auch Friedrich Rittelmeyer, Begründer der der Anthroposophie nahestehenden Christengemeinschaft, ein Jahr vor den Novemberpogromen, dass nun »die Stunde da [ist], wo wirklich im Christentum all das noch in ihm lebende Judentum überwunden werden muss. Die Zeichen der Zeit fordern es gebieterisch« (ebd.: 488). Jedoch sollte erwähnt werden, dass, so schreibt Staudenmaier, »die anthroposophische Mehrheitsmeinung in Hinblick auf die Judenfrage in einer Selbstaufgabe jüdischer Identität [bestand], nicht in staatlich verordneter Gewalt. Anders als im faschistischen Italien waren deutsche Anthroposophen offenbar nicht [direkt] an Judenverfolgungen beteiligt« (ebd.). Aus historischer Sicht lässt sich abschließend sagen, dass das Verhältnis komplex und wechselseitig war: Komplex, da es zwar einerseits zu einer Protegierung durch zahlreiche NS-Größen kam, andererseits die anthroposophische Lehre im Nationalsozialismus letztlich verboten wurde. Dies kann man als »Ausdruck einer verdrängten ideologischen Konkurrenz von Esoterik und Nationalsozialismus sehen, etwa um ›Ganzheitlichkeit‹ und ›Gemeinschaft‹« (Martins 2015: 73). Denn beide Ideologien würden eine »totale Integration des Individuums« (ebd.) beanspruchen. Wechselseitig, da es nicht nur zahlreiche Beziehungen von Nationalsozialisten ins anthroposophische Milieu gab, sondern auch andersherum. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten, zeigten sich auch Differenzen zwischen völkisch-nationalsozialistischer und anthroposophischer Ideologie. Jedenfalls sollte nicht der Fehler begangen werden, jenes komplexe und wechselseitige Verhältnis einseitig in Richtung Anthroposophie aufzulösen (vgl. Staudenmaier 2014; vgl.Pasi 2009). Denn die Überbetonung esoterischer Einflüsse auf den Nationalsozialismus verleitet dazu, jenen als eine okkulte Macht anzusehen, welcher in die deutsche Kultur eingedrungen ist und diese durch ihre schwarzmagischen Machenschaften korrumpiert hätte. So tauchen vor allem im populärkulturellen Kontext, etwa in zwei der Indiana Jones-Filme solche Interpretationsmuster immer wieder auf (vgl. Partridge 2005). Jene werden der historischen und politischen Dimension des Nationalsozialismus, welche seine Entstehungs- und Erfolgsgeschichte im Kern deutscher Kultur sehen und nicht außerhalb, sowie seiner, in der Kritischen Theorie ausführlich dargelegten, massenpsychologischen Basis nicht gerecht. Darum gilt es im Folgenden viel mehr die psychologischen Anknüpfungspunkte deutlich 225
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zu machen, welche den nationalsozialistischen Antisemitismus mit dem anthroposophischen verbinden.
3. Ideologie und Sozialpsychologie »Wenn die objektive Realität den Lebendigen taub erscheint wie nie zuvor, so suchen sie ihr mit Abrakadabra Sinn zu entlocken.« (Adorno 1951: 274)
Die zentrale Aufgabe aller esoterischen Strömungen seit der Moderne ist, in einer Welt der Ohnmacht gegenüber überbordenden, gesellschaftlichen Anforderungen und einem Gefühl der Sinnlosigkeit, ausgelöst durch die Krise der alten Glaubenssysteme, Selbstwirksamkeit und Sinn zu stiften. Wie der Religionswissenschaftler Helmut Zander (2013: 119) schreibt, wurzeln esoterische Weltanschauungen in identitätsphilosophischen Annahmen der Ganzheitlichkeit, des Alles-Miteinander-in-Beziehung-Setzens und versprechen dabei durch ihr geheimes Wissen wieder ein Verständnis dafür zu erlangen, dass für alles »die gleichen Gesetze und Regeln« gelten, seien es »für Atome, Gegenstände des Alltags und die Psyche« (Zinser 2009: 13). Doch woher rührt dieser Wunsch nach Sinnhaftigkeit und Kontrolle? 3.1 Narzissmus und Ambiguitätstoleranz Jan Weyand (2012: 54) betont in Anlehnung an Adorno (1955), dass die Erfordernisse der Selbsterhaltung unter Bedingungen kapitalistischer Produktion die übermäßige narzisstische Besetzung der eigenen Person erfordern. Im auf Konkurrenz basierenden System scheint diese narzisstische Besetzung ausweglos, doch worin genau besteht der Zusammenhang zwischen den ökonomischen Produktionsbedingungen und der narzisstischen Besetzung? Es besteht eine Verwandtschaft zwischen den spezifisch irrationalen Bewältigungsformen, zwischen der dem Zweck des Selbsterhalts vollkommen entfremdeten kapitalistischen Produktion und der narzisstischen Persönlichkeitsdisposition, die die List des Odysseus mit dem Subjekt des postfordistischen Zeitalters verbindet: Im Kern stehen gleichermaßen irrationale Maßnahmen, die List. Mit Hilfe jener, die einen selbst mehr ›austrickst‹ als die Verhältnisse, versucht das Ich, die bedrückende äußere Umwelt wieder beherrschbar zu machen; eine Art heilende Hybris2 (vgl. Jäger 2022: 86ff.): Wenn ich es nicht mehr packe, wenn 2
›Heilend‹ im Sinne einer »Schiefheilung« (Freud 1921: 827).
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mich die Umwelt übermannt, dann wende ich einfach eine List an und setze mich als Herrn über die Verhältnisse ein. Das ist eine rationalisierende Technik, eine Technik der Welt- und Selbstbeherrschung. Beides, die List des Odysseus, mit der Horkheimer und Adorno (1947: 50–88) die Genese des modernen Subjekts beschrieben, und der Narzissmus im Kapitalismus, dienen der Überwindung, der Einhegung einer bedrückenden Umwelt. Zur Illustration schreibt Adorno über die Astrologie: »Scheinhaft, wie mit einem Schlag fügt sie das Getrennte wieder zusammen [...] verzerrte Stimme der Hoffnung, das Auseinandergerissene sei doch zu versöhnen. [...] Ihr Reich ist die Beziehung des Beziehungslosen als Mysterium. In ihrer Irrationalität klingt jene nach, die am Ende der Arbeitsteilung steht als Frucht derselben Rationalität« (Adorno 1962: 174f.).
Irrational ist diese Maßnahme auch deshalb, weil das Ich dabei einen Lösungsweg einschlägt, welcher sich auf eine Technik stützt, die auf der Bemächtigung und Abwertung anderer beruht. In Esoterik, Narzissmus und instrumenteller Vernunft liegt der Wunsch nach der Beherrschbarkeit der angsteinflößenden Umgebung durch Macht. Macht verspricht dort die vollständige Abschaffung der Ängste, wo es bei weniger wirksamen Maßnahmen noch das Aushalten der Ambivalenz zwischen innen und außen bedarf. Das Nicht-Aushalten-Können dieser Ambivalenz, die Unsicherheit erzeugt, ist dabei zentral; denn sich die Umwelt hegemonial anzueignen, verspricht diese Unsicherheit zu reduzieren. In der alles betäubenden Totalität seiner Einflusssphäre erdrückt Macht jedoch, wozu eine mimetische Beziehung (zur Natur) noch zu befähigen vermochte (diese verlangte aber das Aushalten von Ambivalenz) und verunmöglicht damit jegliche genuine Beziehung des aus den Naturzusammenhängen erwachsenen Selbst mit anderen. So aufregend, bunt und vielschichtig die esoterischen Scheinwelten auch anmuten wollen, in der Ambiguitätsintoleranz (vgl. Frenkel-Brunswik 1949) liegt die Verwandtschaft zum autoritären Charakter (vgl. Seeburger 2021). Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung haben Probleme, ihre Umwelt zu verstehen und zeigen sich im sozialen Verhalten starr. Das Störungsbild manifestiert sich in dissozialem oder antisozialem Verhalten sowie in Selbstüberschätzung und Größenwahn (Zurückweisung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Querdenken-Bewegung). Die narzisstische Persönlichkeitsstörung erzeugt verzerrte Ansprüche an die Umwelt, mit denen das Ich sich von den irrationalen Ansprüchen an sein Selbst zu befreien versucht. Dem als Größenwahn empfundenen Leistungsanspruch, kann nur durch den eigenen Größenwahn begegnet werden. Die durch die ökonomischen Bedingungen erzeugte Schwächung des Ichs (vgl. Jäger 2022: 83ff.) wird durch die ständige Angst vor 227
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Deklassierung in der Leistungsgesellschaft noch verstärkt (vgl. Adorno 1955: 47). Dies koinzidiert auch deutlich mit den Ergebnissen der Studie von Nachtwey und Kolleg:innen (2020), dass es sich beim Großteil der Teilnehmer:innen der Querdenken-Proteste um den von Prekarität bedrohten mittleren und gehobenen Mittelstand handelte. Der Einzelne wird in einer auf Leistung formierten Gesellschaft gezwungen, seine Person massiv narzisstisch zu besetzen, um den Anforderungen dieser Gesellschaft gerecht zu werden und überhaupt eine Handlungsmotivation für das auf Konkurrenz basierende System aufzubauen. Jedoch steht das Ich einem System, das permanente Verunsicherung ebenso erzeugt wie den Wunsch, diese durch leistungsaffirmatives Verhalten zu überwinden, ohnmächtig gegenüber. Das Ich erfährt diese »Ohnmacht als narzisstische Kränkung« (Adorno 1955: 72). Diese prädestiniert das Ich für die totalitären Formen des Lebens, d. h. nach innen durch einen schützenden Narzissmus, nach außen durch autoritäre Aggression, die eine Entschädigung dieser Kränkung durch ihren Ersatz beim Anschluss an totalitäre Großgruppen als ›kollektiven Narzissmus‹ verspricht (vgl. ebd.) Der beschädigte Narzissmus hat nur eines im Sinn: Er sucht nach Schuldigen für die ihm zugefügte Verletzung, nach Restitution und Reparation. ›Heilung‹ findet sich unter gleichgesinnten Leidensgenossen (vgl. Adorno 1950), wovon der Kapitalismus unzählige produziert. Die Gegner:innen der Glaubensgemeinschaft sind zentral, denn ohne sie kann sie sich nicht konstituieren. Dabei konstituiert den Gegner, dass er außerhalb der Gruppe steht und idealtypisch eine vermeintliche Verkörperung alles Antipodischem der Ingroup darstellt (vgl. Adorno/Horkheimer 1975: 368). 3.2 Antisemitismus, Antiamerikanismus, Verschwörungstheorie Der große Antipode der Anthroposophie ist der Materialismus. Die Ablehnung des Abstrakten und des Materialismus, welcher mit dem Judentum assoziiert wird, speist sich aus einer Art romantisiertem Zivilisationshass, welchen Horkheimer und Adorno in den Elementen des Antisemitismus als eine der Quellen für moderne Judenfeindlichkeit ausgemacht haben: »Zerstörungslust der Zivilisierten [...], die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten« (Horkheimer/ Adorno 1947: 181). Der Schmerz entspricht dabei der oben erläuterten narzisstischen Kränkung aus unreflektierter Triebrepression. Gegen die bestehende Gesellschaft wird eine vormoderne Sozietät imaginiert, in welcher der zersetzende jüdische materialistisch-abstrakte Geist noch nicht wirksam sein konnte. Es sind ›die Juden‹, die für die unaufgeklärte »[g]esellschaftliche Malaise« (Löwenthal 1948: 25) verantwortlich 228
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gemacht werden. Der Kampf gegen die sogenannte ›Entartung‹, gegen einen die organisch-ganzheitliche Wesenheit zersetzenden Fremdkörper. Die Assoziation jenes Fremdkörpers mit Vertretern einer progressiven Moderne – namentlich des Judentums – sind vom Nationalsozialismus und der Anthroposophie Steiners geteilte antisemitische Motive. Analog zum Nationalsozialismus findet sich jenes klassische antisemitische Motiv des Sündenbocks auch bei Steiner. Er exemplifizierte, dass es vor allem der »Geist des Judentums, die jüdische Denkweise« (Steiner 1888: 152) sei, welche immer wieder einen schädlichen Einfluss auf die Gesellschaft nehme und auch beispielsweise eine Schuld am ersten Weltkrieg trage: »[D]aß Menschen die großen allgemeinmenschlichen Prinzipe nicht mehr wollen, sondern sich absondern, Volkskräfte entwickeln wollen [Zionisten], das hat eben gerade zu dem großen Krieg geführt!« (Steiner 1924a: 202). Ein funktionales Äquivalent zum genannten Antisemitismus lässt sich in Steiners Antiamerikanismus finden, der sich vor allem als kulturchauvinistische Materialismuskritik äußert. Steiner macht den Amerikaner:innen den gleichen Vorwurf, den er dem Judentum macht. Der vermeintliche Einfluss von Moderne, Vernunft und Rationalismus, sei in den USA am stärksten (vgl. Steiner 1920c).3 Beide oben genannten Teile die Feindschaft gegen den Materialismus, als Ausdruck einer Rationalisierung des unvollzogenen Prozesses der Zivilisation und die Sündenbockfunktion, als Projektion verleugneter Selbstanteile, finden sich im Antisemitismus und Antiamerikanismus wieder (vgl. Beyer 2014: 111–116). Steiner sprach von »langjährige[n] Erfahrungen, durch ein sorgfältiges Beobachten dessen, was im weltgeschichtlichen Werden sich vollzieht« mit Hilfe dessen er herausbekommen habe, »wie vor allen Dingen bei dem angelsächsischen Volk und insbesondere bei gewissen Menschengruppen innerhalb dieses angelsächsischen Volkes 3
Bemerkenswert wie aktuell ist in Abgrenzung zum Antiamerikanismus die Russland-Nähe Steiners. So beschwört er in einer seiner Spätschriften, dass »das Deutschtum sich nur retten« könne, »durch Harmonisierung seiner Interessen mit denen der slawischen Welt« (Steiner, zit. n. Meyer 2010: 12). Aufgrund der Unbekanntheit der Rezeptionsgeschichte dieses Textes lässt sich mit Einschränkung dennoch fragen, ob nicht Teile der anthroposophisch orientierten Querdenker:innen, welche heute in die Relativierung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine übergehen, nicht zumindest auf einer subliminalen Ebene davon beeinflusst wurden. So lässt Thomas Meyer, Herausgeber der anthroposophischen Monatsschrift Der Europäer, keinen Zweifel an der Stoßrichtung des Textes. Er kommentiert im Duktus eines Schuldabwehrantisemitismus, dass es gelungen sei, »Deutschland zum ›kleinsten Hindernis‹ zu machen, zeigte sich klar nach dem von westlichen Finanzkreisen mit heraufgeführten Holocaust, mit dem auch heutige Deutsche wirtschaftlich und moralisch ›an der Leine gehalten‹ werden« (ebd.).
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[...], bei gewissen Hintermännern, [...] eine politische Anschauung [besteht], hinter den eigentlichen äußeren Politikern, die zuweilen Strohmänner sind, [...] daß der angelsächsischen Rasse [...] die Mission zufallen müsse [...] eine wirkliche Weltherrschaft auszuüben. Es ist dieses festgewurzelt in diesen Persönlichkeiten, auf materialistische Art und in materialistischen Vorstellungen von dem Weltenwirken [...], es ist aber so festgewurzelt in denjenigen, die die wahren Führer der angelsächsischen Rasse sind, daß man es vergleichen kann mit den inneren Impulsen, welche einstmals das altjüdische Volk von seiner Weltmission hatte [...] die Intensität [...] ist keine andere bei den eigentlich Führenden der angelsächsischen Rasse wie bei dem altjüdischen Volk.« (Steiner 1921a: 357f.).
Das Raunen über die »Hintermänner«, die eigentlichen Strippenzieher:innen hinter der Weltpolitik, ist ein bis heute wirksames Motiv des Antisemitismus. Es kommt in Chiffren wie »USrael, JewSA, Jewnited States« (Benz, 2010: 336) zum Ausdruck, die die jüdische Kontrolle der US-amerikanischen Politik sowie Wirtschaft andeuten sollen. Dabei handelt es sich um einen Verschwörungsmythos, der darauf zielt, politische und gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse monokausal zu erklären. Bei Verschwörungs›theorien‹ handelt es sich nicht um Theorien im allgemeinen Sinne, da ihre Modelle sich nicht auf empirisch fundierte Annahmen begründen und sich meistens auch im Gegensatz zu Verschwörungshypothesen einer Überprüfung entziehen (vgl. ebd.: 334). Kern sogenannter Verschwörungstheorien ist immer die Annahme, dass »Einzelne oder Gruppen im Geheimen versuchen, mit ihrem Vorgehen die Welt, einzelne Länder und Regierungen oder bestimmte [...] Bereiche der Gesellschaft zu beherrschen« (ebd.). Psychologisch erklären lassen sich Verschwörungstheorien durch die sogenannte Verschwörungsmentalität als »eine individuelle Tendenz, die Welt als Ort voller Verschwörungen wahrzunehmen« (Nocun/Lamberty 2020: 23). Von Psychologen:innen wird diese Mentalität als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal angenommen. Das heißt, dass es stabil über die Variation verschiedener Kontexte und Situationen bleibt. In der psychologischen Forschung wurden vor allem zwei Gründe gefunden, weshalb Menschen an Verschwörungstheorien glauben, welche sich deutlich mit den obigen theoretischen Ausführung zum Einfluss der empfundenen Ohnmacht und des Narzissmus als Bewältigungsmechanismus decken. Neben der einfachen Tatsache, dass gezeigt werden konnte, dass es einen Zusammenhang zwischen Narzissmus und Verschwörungsglauben gibt (vgl. Cichocka et al. 2016), konnten vor allem der erwähnte Kontrollverlust (vgl. Whitson/Galinsky 2008)4 sowie das daraus erwachsende 4
In ihrem experimentellen Setting erzeugten Whitson und Galinsky (2008) ein Gefühl des Kontrollverlusts, in dem sie in der Experimentalgruppe eine vollkommen erratische Rückmeldung zum Spielerfolg gaben und anschließend nachweisen konnten, dass Menschen mit dem experimentell erzeugten
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Bedürfnis nach Einzigartigkeit (vgl. Lantian et al. 2017) als zentrale Motive nachgewiesen werden. Nocun und Lamberty (2020) weisen darauf hin, dass beispielsweise viele Mitglieder aus dem Reichsbürgerspektrum von einschneidenden Lebensereignissen berichten, in welchen sie Kontrollverlusterfahrungen gemacht haben. 3.3 Pandemie und Anthroposophische Medizin Verschwörungstheorien werden besonders dann virulent, wenn wichtige Ereignisse in der Welt passieren und kausale Informationen nicht schnell verfügbar scheinen, welche zur Verringerung von Unsicherheit und Komplexität beitragen (vgl. Douglas et al. 2017). Um sich in ihrer Umwelt wieder sicher und autonom zu fühlen und Kontrolle über die eigene Umwelt auszuüben, greifen Individuen mit einer entsprechenden Disposition zu Verschwörungstheorien. Betrachtet man diese Faktoren, verwundert es wenig, dass eine Pandemie geradezu als Paradebeispiel für die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien gelten kann. Wie Frei und Nachtwey (2021) herausfanden, gab es einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung der medizinisch begründeten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie und der Zugehörigkeit zum anthroposophischen Milieu, sowie der Zustimmung zur verschwörungstheoretischen, tendenziell antisemitischen Aussagen. Dieser Zusammenhang dürfte durch den ideologischen Hintergrund der Anthroposophischen Medizin erklärbar sein: Steiners antisemitische Materialismuskritik machte keinen Halt vor einem der bedeutsamsten Praxisfelder der Anthroposophie. So führte er aus, dass aufgrund des Bilderverbotes das Judentum dazu verdammt sei, seinen Gott nur »mit dem Verstande zu begreifen« (Steiner 1924: 200f.) und damit wurde nicht nur der »menschliche Egoismus im höchsten Grade verdichtet« (ebd.: 201), sondern jenes würde auch zur Abstraktion zwingen. Das mache ›die Juden‹ blind dafür, die Naturgeister zu erkennen, was einen besonders schädlichen Einfluss auf die Medizin entfalte, vor allem dadurch, da sehr viele Juden Ärzte seien, da sie sich »zu der Medizin sehr hingezogen [fühlen], weil es ihrem abstrakten Denken entspricht« (ebd.). Durch den Einfluss der Juden sei »die Medizin das geworden, was sie heute geworden ist« (ebd.). Man wisse nicht mehr, »wie das eine Mittel wirkt, gerade sowenig wie man im Judentum gewußt hat, wie die einzelnen Naturgeister sind. So ist auch da in der Medizin ein abstrakter Geist, ein abstrakter Jehova-Dienst eingezogen, der heute eigentlich noch immer in der Medizin drinnen ist.« (ebd.) Dagegen erkennt man »in der Gefühl des Kontrollverlustes dazu neigen, eher eine Verschwörung gegen sie wahrzunehmen als in der Kontrollgruppe.
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Anthroposophie, wo man wieder zurückgeht auf die einzelnen Naturgeister, […] auch wieder, was in den einzelnen Kräutern und Steinen an Naturkräften enthalten ist« (ebd.). Das Bild einer vom ›jüdischen‹, zersetzten ›Schulmedizin‹, ein vermutlich durch den Homöopathen Franz Fischer 1876 eingeführter Kampfbegriff (vgl. Schroers 2006: 32), hält sich als hartnäckiger Verschwörungsmythos bis zu heutigen Querdenken-Demonstrationen (vgl. RIAS 2020). Es verwundert daher kaum, dass während der ersten Jahre des Nationalsozialismus alternative ›Mediziner‹ und Naturheilkundler eine deutliche Aufwertung erfuhren (vgl. Jütte 1996: 45). Die Ärzteschaft und Medizin galten den NS-Antisemiten als »verjudet« (Friedländer, 2007: 118). So zeigte das Propagandablatt Der Stürmer 1933 die Karikatur einer deutschen Frau, welche ihr Kind einem jüdischen Arzt mit Hakennase zur Impfung reicht. Das Bild ist mit dem Spruch versehen »Es ist mir sonderbar zumut, denn Gift und Jud’ tut selten gut«. Die Verbindung von Impfgegnerschaft und Antisemitismus mittels Verschwörungstheorien ist bis heute wirksam und war neben Selbstviktimisierung und Täter-Opfer-Umkehr durch sogenannte ›Ungeimpft-Judensterne‹ zahlreich auf den Querdenken-Demonstrationen zu beobachten: So wurde auf einer Demonstration in München am 9. Mai 2020 eine Fotomontage gezeigt, »auf der uniformierte Menschen gewaltsam ›zwangsimpften‹. Das Emblem auf den Uniformen und den Autos der fiktiven Impfeinheit war an einen Davidstern angelehnt und trug die Inschrift ›ZION‹« (RIAS 2020). Dass sich impfkritische Ressentiments im anthropologischen Milieu bahnbrechen, ist auf eine lange bis heute anhaltende Tradition der Impfskepsis innerhalb dieses Milieus zurückzuführen. Neben Steiners Impfskepsis (vgl. Steiner 1921b: 130f.; vgl. Steiner 1924b) ist es vor allem die Medizinische Sektion des Anthroposophischen Hauptsitzes in Dornach, welche seit Jahrzehnten diese Tradition mit Erfolg fortführt.5 So verwundert es nur wenig, dass empirisch eine deutliche Nähe zu anthroposophischen Annahmen messbar war. So äußerten 87,2% ganz oder teilweise, dass »[m]ehr spirituelles und ganzheitliches Denken [...] unserer Gesellschaft gut tun« (Nachtwey et al. 2020: 33ff.) würde. 92% nehmen ganz oder zumindest teilweise an: »Unsere natürlichen Selbstheilungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen» (ebd.). 88,6% können 5
Dr. Michaela Glöckler leitete sie 28 Jahre lang und brachte mit der Kindersprechstunde einen der erfolgreichsten Elternratgeber auf den Markt, der gerade in der 21. Auflage erhältlich ist. Glöckler (2020) äußerte sich in einem Vortrag während der Pandemie kritisch zur Impfung und verbreitete die Ansicht, dass ein positives Selbstgefühl »wesentlich gesünder – und vor allem sicher wirksamer als eine Impfung« (ebd.) sei. Die Probleme, welche sie mit der Bewältigung der Pandemie sieht, führt sie auf eine rein psychische Schwäche im Geistesleben zurück und kritisiert den »materialistischwissenschaftlichen Konsens« (ebd.) der politischen Maßnahmen.
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sich für die Alternativmedizin begeistern und 84,7% lehnen die Impfung ab. Interessant für die oben genannten Zusammenhänge ist, dass mit 34,9% mehr der antisemitischen Aussage: »Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß« ganz oder teilweise zustimmen als in der Leipziger Autoritarismus Studie 2022 (vgl. Decker et al. 2022: 42) (21,6%). Besonders auffällig war dabei, dass fast 30% der Probanden auf ›keine Angabe‹ auswichen. Bei keinem anderen Item kam es zu so hohen Werten in dieser Kategorie (vgl. Nachtwey et al. 2020: 50ff.). Nachtwey und Kollegen:innen hielten es für »nicht unwahrscheinlich, dass viele Personen mit latenten antisemitischen Vorurteilen durch Nichtbeantwortung der Frage gewissermaßen ›ausgewichen‹ sind« (ebd.: 53).
4. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der Zusammenhang zwischen Anthroposophie und Antisemitismus in der Querdenken-Bewegung an drei zentralen Punkten festmachen lässt. Erstens romantisierter Zivilisationshass, die Abwehr von Moderne, Abstraktion und, daraus resultierend, wissenschaftlichen Denkens: Dies gründet auf einer Welt- und Wissenschaftskritik der Anthroposophie, die nicht nur anschlussfähig für Impfgegnerschaft macht, sondern ebenso für völkischen Antisemitismus, welcher das Judentum als den Boten der modernen, materialistischen Weltsicht imaginiert. Steiners Anthroposophie bedient dabei klassische Muster des modernen Antisemitismus, knüpft aber auch zahlreich an Elemente des Antijudaismus an. Demnach kann völkischer Antisemitismus als zweiter zentraler Punkt genannt werden: Steiners Ausführungen zur deutschen Mission, sein spiritueller Ariermythos und seine kosmische Evolutionslehre führen zu kulturchauvinistischen, rassistischen und antisemitischen Ressentiments und verbinden diese mit dem Bestreben, in einen vormodernen Heilszustand einzukehren, in welchem die Malaise moderner Vergesellschaftung wieder aufgehoben scheint, da in ihm der jüdische materialistisch-abstrakte Geist noch nicht wirksam sein konnte. Dies führt zum dritten Punkt, dem Denken in Verschwörungen: Das unaufgeklärte Unbehagen als Folge der ökonomischen Produktionsbedingungen, welches auf ideologischer Ebene zur Materialismuskritik und Antisemitismus führt, mündet psychologisch in Gefühlen der Ohnmacht und dem Wunsch nach Einzigartigkeit, in heilende Hybris. Antisemitische Verschwörungstheorien bedienen beide Bedürfnisse: Die Überwindung von Ohnmacht durch Reduktion von Komplexität mittels monokausaler Welterklärung und das Gefühl von Einzigartigkeit mittels 233
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esoterischer Geheimlehre, einem exklusiven Wissen, die Macht mehr zu Wissen als alle anderen.
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Herausgeber:innen und Autor:innen Felix Kronau studierte Politikwissenschaft und Politische Theorie. In seiner Promotion erforscht er die Rolle von Gewalt in demokratischen Subjektivierungsprozessen. Er ist gegenwärtig Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr in München. Anne-Maika Krüger hat Geschichte und Philosophie studiert. Sie promoviert zum Thema »Ernst Moritz Arndt und das deutsche Volk. Eine Männerphantasie und ihre Rezeption« am Zentrum für Antisemitismusforschung Berlin und arbeitet ebendort im Projekt »deras_on – Deradikalisierung Antisemitismus Online«. Sie forscht emotions- und ideengeschichtlich zu gegenwärtigen und historischen Ausprägungen von Antisemitismus, Nationalismus und Vorstellungen von Geschlecht. Stefan Vennmann hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert und promoviert als Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung an der Universität Duisburg-Essen zum Thema ›Kollektive Schuld‹. Er forscht und lehrt zu Kritischer Theorie, Schuld- und Verantwortungstheorien, Antisemitismus und Erinnerungskultur sowie zum Werk von Franz L. Neumann. Johanna Bach hat Soziologie und Philosophie in Frankfurt am Main studiert und promoviert zu dem Thema ›Die Gefühlswelt des Antisemitismus‹ an der Universität Passau. Sie ist Promotionsstipendiatin der RosaLuxemburg-Stiftung und Mitglied des AK Antisemitismus der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Sie forscht und publiziert zu Emotionstheorien, zu Antisemitismus sowie zur Moralphilosophie des Nationalsozialismus. Detlef David Bauszus lehrt an der Universität Duisburg-Essen Politische Theorie mit den Forschungsschwerpunkten Bekämpfung des Antisemitismus, Kritische Theorie, religionspolitische Thematiken und Ideengeschichte moderner und klassischer Politischer Theorie. 2018 war er Goerres Lecturer der Internationalen Goerres Gesellschaft in Jerusalem. Veröffentlichungen und Vorträge zu genannten Themen. Mitgliedschaft im Institut für Religionspolitik und dem Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte. Prof. Dr. Daniel Burghardt ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Ungleichheit und soziale Bildung an der Universität Innsbruck. Seine Arbeitsschwerpunkte sind kritische Pädagogik, 239
HERAUSGEBER:INNEN UND AUTOR:INNEN
Erziehungs- und Bildungsphilosophie sowie Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung. Er ist u. a. Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie (GfpS) und der Initiative kritisches Gedenken Erlangen. Dr. Paul Erxleben hat an der Universität Leipzig zur Aktualisierung kritischer Theorien ausgehend von Adorno und Foucault promoviert. Lehraufträge zu (post)marxistischer Gesellschaftstheorie und praktischer Philosophie. Sozialforschung in Ludwigshafen und Marburg zur Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, Demokratieförderung und Autoritarismus. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Naturkrise, Geschichtspolitik und Kapitalismuskritik. Marvin Ester arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Social Critique an der Humboldt-Universität zu Berlin. In seiner Dissertation mit dem Titel ›Narzissmus und Ideologie‹ rekonstruiert er aus sozialphilosophischer Perspektive das Narzissmus-Konzept in den Schriften Theodor W. Adornos. Prof. Dr. Roger Griffin ist emeritierter Professor der Oxford Brookes University und hat zahlreiche Publikationen über die psychologische Dynamik von Faschismus, Terrorismus, Rassismus und Rechtsextremismus veröffentlicht. Seine einflussreichsten Bücher sind The Nature of Fascism (1991), Modernism and Fascism (2007), Terrorist’s Creed (2011) und Fascism. An Introduction to Comparative Fascist Studies (2018; deutsche Übersetzung 2020). Sie wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Franziska Haug forscht zu Politischer Ökonomie, Geschlechterfragen, (Queer)Feminismus, Materialismus und Antisemitismus. Ihre Promotion schrieb sie zu ›Arbeit als literarisches Verfahren der Produktion von Geschlecht‹. Sie arbeitet(e) als Lektorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Referentin. Seit Oktober 2023 ist sie PostDoc im VW Freigeist Projekt ›Queer Literatures and Cultures under Socialism‹ mit einem Projekt zu Queerer DDR-Literatur. Dr. David W. G. F. Jäger hat Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie, Erziehungswissenschaften und Germanistik an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg sowie Psychologie an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen studiert. Als Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung promovierte er zum Thema ›Dialektik der Deprivation. Zu Idee und Praxis der Entsagung als Element des Autoritarismus und ihre Rekonfiguration in der Gegenwart. Gesellschaftstheoretische, psychologische und empirische Dimensionen und ihre Aktualität im Spiegel der Kritischen 240
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Theorie‹ an der Reichsuniversität Groningen und der Leibniz Universität Hannover. Derzeit ist er als Psychologe in der psychiatrischen Praxis tätig und forscht an der Universität Passau zu den Themen Antisemitismus, Autoritarismus, Corona-Proteste, Kritische Theorie und Sozialcharakter. Niklas Lämmel hat Politikwissenschaft, Interdisziplinäre Antisemitismusforschung und Holocaust Studies in Berlin, Prag und Victoria (Kanada) studiert. Von 2016 bis 2021 arbeitete er als studentische und wissenschaftliche Hilfskraft beim Editionsprojekt ›Judenverfolgung 1933–1945‹. Er promoviert am Institut für Philosophie der Universität Kassel mit einer Arbeit zum Verhältnis von Antisemitismustheorie und Erkenntniskritik bei Theodor W. Adorno. Zu seinen Forschungsinteressen zählen Kritische Theorie, Antisemitismusforschung, Erinnerungskultur und die politische Theorie mittel- und osteuropäischer Dissidenten. PD Dr. Philipp Lenhard ist DAAD Associate Professor of History and German an der University of California, Berkeley und Privatdozent für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht zur deutschen, europäischen und jüdischen Kultur- und Geistesgeschichte der Neuzeit. Zudem ist er Herausgeber der Gesammelten Schriften Friedrich Pollocks. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule (2019) und Wahlverwandtschaften. Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Judentum, 1888–1938 (2023). 2024 erscheint Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule. Dr. Sandra Markewitz lehrt Philosophie an der Universität Vechta. DAAD- und Erasmusaufenthalte in Indonesien, Marokko, Tunesien und Norwegen. Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Forum Vormärz Forschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Wittgenstein, Sprache und Schweigen, Kulturphilosophie, Vormärz und Ethik. Zu ihren letzten Veröffentlichungen gehören Menschenrechte im Vormärz (2019, mit Jean-Christophe Merle), Grammatische Subjektivität. Wittgenstein und die moderne Kultur (2019), Wahrnehmung in Vor- und Nachmärz (2023, mit Tania Eden) sowie Wittgenstein und die Kulturen der Affekte (im Erscheinen, mit Ilse Somavilla). Felix Schilk ist Soziologe, freier Journalist und politischer Erwachsenenbildner. Sein Schwerpunkt liegt auf der Analyse konservativer, neurechter, verschwörungsideologischer und antisemitischer Narrative. Journalistische Beiträge von ihm sind u. a. in Jungle World, der rechte rand und iz3w erschienen. Aktuell arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter 241
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im Projekt ›REDACT: Researching Europe, Digitalisation and Conspiracy Theories‹ an der Universität Tübingen. Valerie Schneider hat Soziologie, Germanistik und Gender Studies an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main studiert. Aktuell promoviert sie an der Universität Passau zum Thema ›Autoritarismus und Individuation‹ am Beispiel der Querdenken-Bewegung. Sie ist Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitglied bei der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie sowie dem AK Antisemitismus der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
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Kritische Theorie des Antisemitismus bei Velbrück Wissenschaft
Helmut König Elemente des Antisemitismus Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 380 Seiten · ISBN 978-3-95832-095-6 · EUR 39,90 Die Elemente des Antisemitismus sind das vorletzte Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die 1947 zum ersten Mal publiziert wurde. Die Studie von Helmut König zeigt, dass dieses Kapitel ein bislang weithin unterschätzter Schlüsseltext der Kritischen Theorie ist. Die Dialektik der Aufklärung will verstehen, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaften menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt« (Adorno/Horkheimer). Der Antisemitismus ist der zentrale Wahn des Nationalsozialismus und deswegen für sein Verständnis von herausragender Bedeutung. In einer komplexen und faszinierenden Argumentation versuchen die Elemente des Antisemitismus die vielfältigen ökonomischen, politischen, religiösen, rassistischen und kulturellen Motive freizulegen, die in den totalitären Antisemitismus eingehen. Die Studie von Helmut König ist mehrstufig aufgebaut. Im ersten Teil ist der Text der Elemente des Antisemitismus vollständig abgedruckt. Im zweiten Teil, »Kommentare«, folgt der Autor den Elementen in einer sehr engen Lektüre, die These für These, Absatz für Absatz und zum Teil Satz für Satz vorangeht und kurze Erläuterungen, Informationen, Kommentare und Zusammenfassungen anbietet, inhaltliche Querverweise und Bezüge herstellt und gelegentlich auch übergreifende und vertiefende Perspektiven und Fragen in den Blick nimmt. Im dritten Teil, »Interpretationen«, geht der Autor auf den Entstehungsprozess der Elemente ein und bestimmt ihren Ort in der Kritischen Theorie. Darüber hinaus untersucht der Autor Aspekte, die in den Elementen und im gesamten Werk von Horkheimer bzw. Adorno eine große Rolle spielen, vor allem das Verhältnis von Aufklärung und Herrschaft und den Begriff der Mimesis. Schließlich geht der Autor den Einseitigkeiten und Aporien nach, in die die Überlegungen der Elemente münden, und diskutiert die Suche nach Auswegen aus diesen Aporien, die Horkheimer und Adorno auf je unterschiedliche Weise in ihrem späteren Werk unternommen haben.
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