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German Pages 332 Year 2014
Anita Moser Die Kunst der Grenzüberschreitung
Image I Band I7
»Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.« (Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier)
Anita Moser (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin, lehrt in der Erwachsenenbildung sowie an der Universität Innsbruck Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Kulturvermittlung, Soziokultur, Postkolonialismus und zeitgenössische Kunst.
ANITA MosER
Die Kunst der Grenzüberschreitung Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik
[ transcript]
Die Publikation entstand mit finanzieller Unterstützung des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, der Innsbrucker Vergleichenden Literaturwissenschaft, des Landes Tirol, der Stadt Innsbruck und des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung Wien. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Lasky Center für Transatlantische Studien.
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Inhalt EINLEITUNG
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ASPEKTE EINES ERWEITERTEN KUNSTBEGRIFFS UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG PERFORMATIVER UND POSTKOLONIALER PERSPEKTIVEN
Der erweiterte Kunstbegriff Ästhetik der Pertorrnativität
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Perspektive der Performativität I 21 Kategorien des Performativen I 24
Postkoloniale Perspektiven 1 38 Postkoloniale Kritik I 38 Postkoloniale Schlüsselkonzepte I 43 Exkurs: Komparatistik und Postkolonialismus »Erweiterte Kunst« und Liminalität
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KUNST ALS SOZIALER UND POLITISCHER RAUM IM KONTEXT DES nNEUEN EUROPA« I 69
Einleitung
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Die Ordnung des nneuen Europa« I 7l Migrationen in Europa I 7l Europas Grenzregime I 73 »Österreich ist kein Einwanderungsland« I 76
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Kunst und Postkolonialismus ab den 1990er Jahren
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Postkolonialismusrezeption im deutschsprachigen Raum I 84 Postkoloniale Kunst? I 88 Politisch-künstlerische Praktiken abseits des Mainstreams I 92
Liminale ästhetische Strategien im Spannungsfeld von Kunst und Politik
1 107 Von Mixed-Media, Menschen und Gesellschaft I 107 Zum Verhältnis von Kunst und Politik I 114 (Kunst-)Raum und Öffentlichkeit I 117 Prekäre Performances I 129 (Re-)Claim the Borders I 135 Massenmediale Interventionen I 148 Zur Rolle von Publikum und Communities I 164
Ästhetische Übergänge und 11Übergangsfähigkeill
Zusammenleben der KulturenIst interkulturelle Kompetenz tatsächlich ein Segen? Und wenn ja, für wen oder was? Anders gewendet: Wer profitiert vom Wuchern des Diskurses um interkulturelle Kompetenz? Wem nutzt er in welcher Weise?« 6 Die Autorin kritisiert interkulturelle Bildungsangebote als hierarchische, Macht erhaltende und ausgrenzende Diskurse, die hauptsächlich von Mehrheitsangehörigen konzipiert und geleitet werden, kulturalisierend auf kulturspezifische Patentrezepte zurückgreifen und interkulturelle Kompetenz »vor allem als Konfliktvermeidungs- oder -bewältigungskonzept> wirkungskräftig und als Kunstwerk das Resultat einer Erfahrung« 15 ist. Auch Theodor W. Adorno berücksichtigt vage die Erfahrungen auf der Rezipientlnnenseite, wenn er die Auflösung und Vermischung traditioneller Kunstgattungen als >>Verfransungsprozess« 16 beschreibt, der das Publikum in besonderem Maße herausfordert: .. was die Grenzpfähle der Gattungen einreißt, wird bewegt von geschichtlichen Kräften, die innerhalb der Grenzen aufwachten und schließlich sie überfluten. Im Antagonismus zwischen der fortgeschrittenen zeitgenössischen Kunst und dem sogenannten breiten Publikum spielt jener Prozeß wahrscheinlich seine beträchtliche Rolle.« 17
Dabei betont er, dass derartige Prozesse immer mit Angst vor Vermischung und mit Widerstand einhergehen, was sich häufig in der »Spießerfrage >Ist das noch?«< (Musik beispielsweise) ausdrücke.18 Insgesamt
14 I Vgl. John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (engl. Original 1934). Durch das Lesen eines Gedichtes, so Dewey, wird dieses neu geschaffen, das heißt, »daß jeder einzelne in seiner individuellen Befindlichkeit eine bestimmte Art zu sehen und zu hören mitbringt, so daß er in deren Interaktion mit dem bestehenden Material etwas Neues schafft, etwas, das bisher in der Erfahrung noch nicht existierte« (ebd., S. 127). 15 I Ebd., S. 188. 16 I Vgl. Theodor W. Adorno: Die Kunst und die Künste, in: Th eodor W. Adorno: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 168-192. 17 I Ebd ., S. 170. 18 I Ebd., S. 171. Die »pathogene« Seite dieser Tendenz äußert sich »im nationalsozialistischen Kult der reinen Rasse und der Beschimpfung des Hybriden« (ebd., S. 170). Die Frage »Ist das (noch) Kunst?« taucht übrigens im Kontext der Auseinandersetzung mit sozialkritisch engagierter Kunst auffallend oft auf. Nicht zufällig trägt das Standardwerk über künstlerischen Aktivismus von Nina Felshin den Titel But is it Art? (vgl. Nina Felshin (Hg.): But is it Art? The Spirit of Art as Activism, Seattle: Bay Press 1995).
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schreibt Adorno dem Phänomen der Verfransung der Künste eine negative Tendenz ein. 19 Er trifft eine Unterscheidung zwischen der Kunst und den Künsten und spricht sich für das Nebeneinander verschiedener Künste aus. Die Gleichstellung der Kunstgattungen basiert jedoch auf dem Gedanken, dass alle einem Gemeinsamen verpflichtet sind, nämlich der Artikulation des »Ästhetischen>herausfordernden und antagonistischen Gegenkultur« uminterpretiert. 118 Bhabha fokussiert die ambivalenten Prozesse und Diskurse von Kulturkontakt und Kulturaustausch in kolonialen Kontexten. Zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren ist keine klare binäre Opposition auszumachen, vielmehr sieht Bhabha beide >>in einer komplexen Reziprokität gefangen«ll9. Die Kolonisierten greifen -bewusst und unbewusstZeichen und Symbole der kolonisierenden Kultur auf und integrieren sie in ihr eigenes kulturelles Zeichensystem, ein Prozess, den Bhabha im Kontext von kolonisierten Subjekten auch als Mimikry versteht. Mimikry ist ein ambivalentes Phänomen von Wiederholung bzw. Nachahmung, die nie dem Original entspricht, sondern die Abweichung immer schon in sich trägt. »Mimikry wiederholt, statt zu re-präsentieren« 120 , so Bhabha, und ist ndas Begehren nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist. Das bedeutet, daß der Diskurs des Kolonialismus um eine Ambivalenz herum konstruiert ist; [ ... ] Mimi-
117 I Vgl. Andreas Ackermann: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, Themen und Tendenzen, Stuttgart;Weimar: Verlag J.B. Metzler 2004,& 139-154, & 141[ 118 I Vgl. ebd., S. 148. 119 I Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 85. 120 I Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 129. Hervorhebungen im Original.
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kry entsteht als die Repräsentation einer Differenz, die ihrerseits ein Prozeß der Verleugnung ist. Mimikry ist also das Zeichen einer doppelten Artikulation, eine komplexe Strategie der Reform, Regulierun g und Disziplin, die sich den Anderen •aneignet• (•appropriates•), indem sie die Macht visualisiert.« 121
Das (unvollständige) Imitieren der Kolonisatoren bricht bereits eine koloniale Autorität. Durch derartige Prozesse der Aneignung entsteht ein hybrides »Drittes«, von Bhabha als »dritter Raum« (third space) bezeichnet. Analog zum hybriden dritten Raum ist Identität nie als abgeschlossenes Ganzes oder Einheitliches zu betrachten, sondern als hybrides Konstrukt, das - immer in sich different - widersprüchliche Facetten in sich trägt und sich ständig neu konstituiert. Die postkoloniale Perspektive »insistiert darauf, daß kulturelle und politische Identitäten durch einen Prozeß der Alterität hindurch konstruiert werden« 122• Zentral ist, dass Bhabha Hybridität als politisches Konzept - im Sinne eines subversiven Handlungsraums- sieht. Das »Dritte« als Raum zwischen kolonisierendem Original und kolonisierter Nachahmung ist Ausgangspunkt der kritischen Distanzierung und Subversion der Kolonialkultur. Dem kolonisierten Subjekt ist möglich, in den »Rissen der dominanten Diskurse« Auseinandersetzungen und Befragungen zu initiieren und dadurch den kolonialen Prozess zu irritieren. 123 Irritationen und Subversionen funktionieren nicht als intentionale Praktiken, sondern als kontingente Effekte sozialer und diskursiver Praktiken. Ähnlich wie Judith Butler sieht Bhabha Handlungsmacht (agency) als kontingente Praxis der Wiederholung sozialer und diskursiver Konventionen. Das Kontingente ist ein verdoppelter und disjunktiver Diskurs räumlicher Differenz und zeitlicher Distanz: •Das Kontingente ist Kontinuität, Metonymie, Berühren räumlicher Grenzen an einer Tangente, und gleichzeitig ist das Kontingente auch die Zeitlichkei t des Indeterminierten und des Unentscheidbaren. Es ist die kinetische Spannu ng, die diese doppelte Determinierung innerhalb des Diskurses zusammen- und auseinanderhält. Seide repräsentieren die Wiederholung des einen in dem anderen oder als das andere, in einer- und dies ist ein Derridascher Begriff- Struktur •abgründiger Überschneidung•, die uns befähigt, uns den Handelnden als im Besitz strategischer Geschlossenheit und Kontrolle zu denken. Die Repräsentation sozialer Widersprüche oder Antagonismen in diesem sich verdoppelnden Diskurs der Kontingenz- in dem die räumliche Dimension der Kontiguität sich in der Zeitlichkeit des Indeterminierten wiederholt- kann nicht einfach als die mysteriöse Praxis des Unentscheidba ren oder Ap oretischen abgetan werden.«124
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Ebd., S. 126f. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 261. Vgl. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 85. Bhabha, Die Verortun g der Kultur, S. 278.
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Wir sollten uns Bhabha zufolge als »literarische Geschöpfe« und »politische Lebewesen« um ein Verständnis des menschlichen Handeins »als eines Moments bemühen, bei dem etwas außerhalb unserer Kontrolle ist, aber nicht außerhalb unserer Einflußnahme« 125 • Bezüglich der kontingenten Struktur von Handlungsmacht greift Bhabha unter anderem auf Überlegungen von Michail Bachtin zurück. Bei Bachtin, der >>das hervorbringende Subjekt und das kausale und kontinuitätsfixierte Fortschreiten des Diskurses« de-platziert, ortet der Autor >>ein Wissen über die Transformation des sozialen Diskurses« 126 : .. Bachtins De-plazierung des Autors als Handelnder resultiert aus seiner Einsicht in die •komplexe, aus vielen Ebenen bestehende• Struktur der Redegattung, die in jener kinetischen Spannung im Da-zwischen der beiden Kräfte der Kontingenz existiert. Die räumlichen Grenzen des Gegenstandes der Äußerung stoßen in der Assimilation der Rede aneinander an, aber die Anspielung auf die Äußerung eines anderen produziert eine dialogische Wende, ein Moment der Indetermination im Akt der- so Bachtin- •Adressivität•, das zu •unvermittelten Sekundärreaktionen und dialogischen Rückkoppelungen• innerhalb der Kette der gemeinschaftlichen Rede Anlaß gibt.« 127
Kritik an Bhabhas Hybriditätskonzept kommt unter anderem von feministischer Seite, da er in seinen Analysen die Interdependenz der Konzepte von »Rasse« und Geschlecht (ebenso wie den Zusammenhang von Klasse und »Rasse«) völlig ausblendet. Das von Bhabha beschriebene kolonisierte Subjekt, so Ania Loomba, sei zwar innerlich gespalten und agonistisch, jedoch - universalistisch und örtlich nicht lokalisierbar konzipiert- »immer männlich, nie behindert und immer ohne klare Klassenzugehörigkeit oder sozialen Kontextnur« den Rassismus fokussiere. Mit seiner Konzeption von Mimikry als eine männliche Strategie schreibe er Maskulinität als >>die unsichtbare Norm« in postkoloniale Diskurse ein. 129 Katharyne Mitchell betont, dass Bhabhas hybridem Subjekt nicht immer p er se eine politisch progressive Agenda unterstellt werden könne. Die implizite Annahme der Nation als abstrakter, kultureller Raum ignoriere
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Ebd., S. 18. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 281. Ebd . Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 101, unter Bezugnahme auf Ania Loomba. 129 I Vgl. ebd., S. 108f, unter Bezugnahme auf Anne McCiintock. McCiintock zeigt auf, dass Bhabhas Mimikry-Konzept von Luce lrigarays Gendermimikry inspiriert ist, wobei er ihr Verständnis von Mimikry als eine vergeschlechtlichte Subversion ignoriert. lrigaray sieht Weiblichkeit als notwendige Maskerade im und Widerstandsmoment gegen den Phallogozentrismus (vgl. ebd., S. 108).
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ökonomische Prozesse und Formen hybrider Subjektpositionen, die strategisch zur Profitoptimierung genutzt würden. »>Grenzorte< bieten sicherlich Raum für die strategische Intervention innerhalb hegemonialer Strukturen, aber ebenso gut dienen sie dem Spätkapitalismus für die Entwicklung immer neuerer Formen der Kapitalakkumulation.«130 Häufig werden Konzepte der Hybridität dekontextualisiert und ohne Berücksichtigung der historischen, ökonomischen und politischen Entstehungsbedingungen angewendet. Die Verbindung zum sozialen Alltag fehlt mitunter gänzlich, wodurch diese kontextlosen »Zwischenorte« zu mobilen, aber auch reaktionären Räumen zu mutieren drohen. Widerstand ist in einem derartigen Raumbegriff nicht lokalisierbar, vielmehr scheint er »überall und nirgends« verortbar. 131 Kwame Anthony Appiah kritisiert, dass die metaphorische Sprache von postkolonialen Werken wie Bhabhas Nation und Narration (1990) unter anderem zu einer Ästhetisierung von Migration geführt habe. Das bilderreiche Vokabular Bhabhas habe zwar zur diskursiven Erfassung von postkolonialen kulturellen Artikulationen beigetragen, andererseits seien die Lebensbedingungen im Exil, in der Diaspora und in der Migration durch die Rezeption dieses Sprachgebrauchs ästhetisiert worden. Die auf globaler Ebene stattfindenden Übertragungen der Metaphern der Deterritorialisierung, des Nomadismus und der Hybridität verklärten die lokalen geografischen und politischen Lebensbedingungen der Subjekte in der Diaspora, in der Migration und im Exil. 132 Spivak, ebenfalls eine Kritikerin Bhabhas, gibt ihren theoretischen Auseinandersetzungen eine dezidiert feministische Ausrichtung und lehnt eine »Reduktion postkolonialer Politiken auf die Zelebrierung eines >Migranten Hybridismus< (migrant hybridism) in der >Ersten Weltseltensten der seltenen Fälle< reserviert bleiben« soll. 139 Nicht jede Migrantln ist für
136 I Vgl. ebd .. S. 28ff. 137 I Antonio Gramsei bezeichnet in seinen Gefängnisheften ( 1929-1935) als Subalterne jene, die keiner hegemonialen Klasse angehören, die politisch unorganisiert sind und über kein Klassenbewusstsein verfügen - wie etwa die bäuerliche Bevölkerung des peripheren Südens Italiens. Die South Asian Subaltern Studies Group in Indien unter der Leitung von Ranajit Guha rezipiert Gramscis Konzept und entwickelt es weiter. Das Projekt South Asian Subaltern Studies Group ist die Rekonstruktion der Geschichte der Subalternen (als eine Art »Gegengeschichte«). jener Mehrheit der ländlichen indischen Bevölkerung und Arbeiterklasse, die als politische Subjekte ausgeschlossen und deren Anteil am Widerstand gegen die britische Kolonialmacht strategisch ignoriert wurde, und die auch nach Erreichen der nationalen Unabhängigkeit Unterdrückung und Marginalisierung erlebten (vgl. Castro Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 69f). 138 I Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, S. 121. »ln den im Sicherheitswahn verfallenen Metropolen des Westens sind dies insbesondere die Räume, die von undokumentierten Migrant_innen und Obdachlosen bewohnt werden.« (Beat Weber/Vina Yun: Subalterne gibt es nicht- Position ohne Identität. Interview mit Marfa do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, 23.05.2008, o.S. On line unter URL: http:jjwww. malmoe.orgj artikel/widersprechen/ 1618 [ 17.03.2011 ]). 139 I Vgl. WeberjYun : Subalterne gibt es nicht, Interview Castro Varela/Dh awan .
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Spivak automatisch eine Subalterne. Vielmehr fordert sie beispielsweise postkoloniale »Elite-Migrantlnnen« dazu auf, sich selbst als Agentinnen internationaler Ausbeutungsverhältnisse und nicht als Opfer der Globalisierung zu betrachten. Die viel diskutierte Aussage, Subalterne könnten nicht sprechen, meint - und dies verdeutlicht Spivak anhand der Diskurse über indische Witwenverbrennungen, die niemals >>das Zeugnis eines Stimmbewusstseins der Frauen«140 offenbaren -, dass man diesen subalternen Stimmen keinen Raum und somit kein Gehör gegeben hat. 141 Die britischen Kolonisatoren schafften den Ritus der Witwenverbrennung unter dem Vorwand des Schutzes der Frauen ab, >>[u)m den Moment zu markieren, in dem aus inneren Wirren eine nicht nur zivile, sondern gute Gesellschaft hervorgeht«142 . Dagegen stehe das nativistische indische Argument, dass die Frauen tatsächlich sterben wollten, so Spivak: »Niemals trifft man auf das Zeugnis eines Stimmbewusstseins der Frauen. Ein solches Zeugnis würde natürlich nicht jenseits der Ideologie stehen oder >Völlig• subjektiv sein, aber es hätte die Elemente fü r die Produktion eines Gegen-Satzes [counter-sentence, Anm. im Original, A.M.] bereitgestellt.« 143
Frauen werden zum Austragungsort konkurrierender Diskurse gemacht, die Lücke zwischen diesen beiden Äußerungen stellt die >>Aporie der zum Schweigen gebrachten Subalternen«144 dar. Die Aussage, die Subalterne könne nicht sprechen, meint, dass sie - selbst wenn sie eine Anstrengung bis zum Tode unternimmt, um zu sprechen - nicht fähig ist, sich Gehör zu verschaffen. 145 »Sprechen« ist demnach weit meh r als >>etwas sagen«, nämlich »eine Transaktion zwischen Sprecherln und Hörerln« 146 . >>Spre-
140 I Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 80. 141 I »Die Hindu-Witwe steigt auf den Scheiterhaufen des toten Ehemannes und opfert sich selbst auf diesem. Das ist das Witwenopfer. (Die gebräuchliche Transkription des Sanskritwortes für die Witwe wäre satT. Die früheren Kolonisatoren haben es als suttee transkribiert.) Der Ritus wurde nicht durchgängig pra ktiziert, und er war nicht kasten- oder klassenspezifisch festgeschrieben. Die Abschaffu ng des Ritus durch die Briten wurde weithin als ein Fall von •weißen Männern, die braune Frauen vor braunen Männern retten•, verstanden. Weiße Frauen - von den britischen Missionarregistern des 19. Jahrhunderts bis zu Mary Daly- haben kein alternatives Verständnis hervorgebracht. Dagegen steht das indische nativistische Argument, das eine Parodie auf die nostalgische Suche nach verlorenen Ursprüngen darstellt: •Die Frauen wollten tatsächlich sterb en. "' (Ebd. , S. 80f). 142 I Ebd., S. 81. 143 I Ebd. 144 I Castro Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 75. 145 I Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, S. 127. 146 I Ebd., S. 122. ln diesem Punkt wird die Theoretikerin häufig falsch oder verkürzt wiedergegeben , wie sie selbst immer wieder betont: »Probleme treten dann
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chen« bezeichnet eine Position im Diskurs, von der aus gesprochen werden kann, die die Artikulation bestimmter Sachverhalte erlaubt und von der aus die/der sich Artikulierende auch gehört wird. Das Zuhören selbst wird zu einem Akt, der die Sprechenden ermächtigt. Diese Verschiebung der Perspektive auf »Möglichkeiten der Subversion durch Zuhören« verändert die Machtdynamiken zwischen aktiv Sprechenden und passiven Zuhörerinnen und ist zugleich ein grundlegender Aspekt postkolonialer feministischer Politiken, die sich um die Sichtbarmachung marginalisierter Perspektiven bemühen, betonen Castro Varela und Dhawan. 147 Es geht also primär auch darum, Prozesse von Subalternisierungen zu identifizieren und subalterne Räume aufzulösen, und nicht in einem wörtlichen Sinn darum, den Subalternen eine Stimme zu geben.148 In Anlehnung an poststrukturalistische Identitätskonzepte, die Essenzialisierungen ablehnen, sieht Spivak Identität als diskursiv produziertes Phänomen. In der Gruppe der so genannten »Dritte-Welt-Frauen« ortet sie eine von der »Ersten Welt« diskursiv hervorgebrachte Kategorie. Erst durch die Konstruktion der »Dritte-Welt-Frau« als Opfer kann sich die weiße westliche Frau als modernes emanzipiertes Subjekt konstruieren. 149 »Können Subalterne sprechen? Was muss die Elite tun, um der andauernden Konstruktion der Subalternen Beachtung zu schenken? Die Frage der •Frau• scheint am problematischsten in diesem Zusammenhang. Es ist klar, dass arm, schwarz und weiblich sein heißt: es dreifach abbekommen. Wenn diese Formu lierung jedoch aus dem Zusammenhang der Ersten Weit in einen postkolonialen Zusammenhang (was nicht gleichbedeutend mit der Dritten Weit ist) verschoben wird, dann verliert die Beschreibung als •schwarz, oder •of color• ihre Überzeugungskraft und Signifikanz. Die notwendige Stratifizierung der kolonialen Subjektkonstitution in der ersten Phase des kapitalistischen Imperialismus macht •Farbe• als emanzipatorischen Signifikanten unbrauchbar.« 150
auf, wenn Sie dieses •Sprechen• [speak, Anm . im Original, A.M.] absolut wörtlich als •Reden• [talk, Anm. im Original, A.M .] verstehen«, so Spivak in dem Interview mit Donna Landry und Gerald Maclean (vgl. ebd., S. 125). 147 I Vgl. Marfa do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan: Postkolonialer Feminismus und die Kunst der Selbstkritik, in: Hito SteyerljEncarnaci6n Gutierrez Rodriguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster: UNRAST-Verlag 2003, S. 270-290, S. 278f. 148 I Vgl. Weber/Yun, Subalterne gibt es nicht, Interview Castro Varela/Dhawan. 149 I Diese Perspektive teilt Spivak mit einer Reihe anderer postkolonialer feministischer Theoretikerinnen wie Chandra Talpade Mohanty, Trinh T. Minh-ha, Jenny Sharpe, Aiwah Ong, Sara Suleri, Norma Alarc6n u.a. (vgl. Gutierrez Rodriguez, Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik, S. 25). 150 I Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 74. Mit ähnlicher Argumentation beschloss beispielsweise die Vereinigung FeMigra (Feministische Migrantinnen, Frankfurt) sich dezidiert als »Migrantinnen« zu organisieren: »Der Begriff Migra ntin
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Von dem Versuch, authentische subalterne Stimmen einzufangen und »subalternes Bewusstsein« wiederzugewinnen, distanziert sich Spivak, da er das westliche Konzept stabilisiere, wonach das Sprechen Ausdruck von Subjektivität sei. Wenn Wissenschaftlerinnen und Intellektuelle, die sich als eine Art >>transparentes Medium« verstehen, versuchen, Zeugnis von den Erfahrungen subalterner Frauen in der »Dritten Welt« zu geben, vergessen sie nur zu oft, dass es sich bei der Gruppe um ein Konstrukt des westlichen Diskurses handelt. Beim Versuch, ihre Stimmen aus den Dokumenten der Kolonialzeit herauszufiltern und dadurch >>hörbar« und öffentlich zu machen, läuft man Gefahr, die verfälschten und vereinfachten Darstellungen zu reproduzieren, die der westliche Diskurs hervorgebracht hat. 151 >>Jeder Versuch, die Stimmen subalterner Frauen wieder zu finden, entstellt also ihre Rede.« 152 >>Subalternes Bewusstsein« kann nur als >>theoretische Fiktion« betrachtet werden, jedoch >>mit hohem strategischem Wert«, da es ermöglicht, die dominante koloniale und national-bürgerliche Geschichtsschreibung einer grundlegenden Kritik zu unterwerfen. 153 In diesem Sinne plädiert Spivak für einen >>strategischen Essenzialismus«, der im strategischen Gebrauch von Essenzialismen zur Durchsetzung politischer Interessen besteht: •Reading the work of Subaltern Studies from within but against th e grain I would suggest that elements in their text would warrant a reading of the project to retrieve the subaltern consciousness as the attempt to undo a massive historiographic metalepsis and •situate• the effect of the subject as subaltern. I would rea d it. then, as a strategic use of positivist essentialism in a scrupulously visible political interest.« 154
[ ... ]kennzeichnet [im Gegensatz zur Kategorie •Schwarz•, Anm. A.M.] den Schritt der Immigration, den zum Teil unsere Eitern oder auch wir selbst machten , vor allem aber unterstreicht er die politisch-soziale Komponente des Vergesellschaftungsprozesses. Am Beispiel der Migration wird die Funktion des Rassismus in der nationalen und internationalen Arbeitsteilun g deutlich .« (Glossar der politischen Selbstbezeichnun gen (Teil 2). Online unter URL: http:j;www.migrazine.atjartikeljglossar-der-politischenselbstbezeichnungen-teil-2 [17.03.2011]). 151 I Vgl. Burtscher-Bechter, Diskursanalytisch-kontextuelle Theorien, S. 285. 152 I Ebd., S. 286. 153 I Vgl. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 71f. 154 I Gayatri Chakravorty Spivak: ln Other Worlds. Essays in Cultural Politi cs, New York/ London: Methuen 1987, S. 205. Das Konzept des •strategischen Essenzialismus« ermöglicht es, •über und für eine minorisierte Gruppe zu sprech en, diese zu repräsentieren, obschon die Fallen dieser Repräsentation offenkun dig sind. Doch da ansonsten die Stimmen dieser nicht vernommen werden, bleibt die Verantwortung, diese zu repräsentieren. Man kann diesem Dilemma nicht einfach ausweichen, indem man eine Repräsentation verweigert. Eine der größten Herausforderungen liegt deshalb in der effektvollen Problematisierung der Kategorien selbst,
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Zentral ist für die Literaturwissenschaftlerin die Frage danach, wie es möglich ist, »in eine Struktur der Verantwortlichkeit mit ihnen [den Subalternen, Anm. A.M.] einzutreten, in der Antworten in beide Richtungen fließen« 155• Für westliche Wissenschaftlerinnen und Intellektuelle - häufig »Komplizinnen in der beharrlichen Konstituierung des/der Anderen als Schatten des Selbst« 156 -liegen mögliche Auswege aus dem Dilemma zwischen Schweigen und hegemonialem Sprechen bzw. Repräsentieren in permanenter Selbstreflexion und im Hinterfragen des eigenen Tuns. Spivak schlägt die Fokussierung heterogener Subjektpositionen vor, die das Konzept eines undifferenzierten subalternen Subjektes -als Produkt monolithischer kolonialer Machverhältnisse- in produktiver Weise irritieren. 157
Exkurs: Komparatistik und Postkolonialismus Die von den Vergleichenden Literaturwissenschaftlerinnen Spivak, Bhabha und Said entwickelten postkolonialen Ansätze erfahren nicht nur eine beachtliche Rezeption im eigenen Feld, sondern zunehmend auch außerhalb der Kultur- und Literaturwissenschaften. Allerdings, so Haun Saussy im aktuellen ACLA-Bericht 158 , habe die Tatsache der »omnipresence of comparative Iiterature ideas« keine unmittelbar spürbaren Rückwirkungen auf die universitäre bzw. institutionelle Ebene der Komparatistik im Sinne einer Aufwertung des Faches. 159
die unhinterfragt als Instrumente der Kriti k fungieren. Eine wichtige Konsequenz postkolonialer Intervention ist insoweit, dass Kategorien wie etwa •M igrantin• nicht als stabile, sondern irritierende Signifikanten gelten.« (Marfa do Ma r Castro Varela/ Nikita Dhawan: Migration und die Politik der Repräsentation, in: Anne BrodenjPaul Mecheril (Hg.): Re-Präsentationen. Dynamiken der Migrationsgesel lschaft, Düsseldorf: IDA-NRW 2007, S. 29-46, S. 32). 155 I Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, S. 129. 156 I Spivak, Can the Subaltern Speak? , S. 41. Spivak übt diesbezüglich besonders an Deleuze und Foucault Kritik, indem sie versucht darzulegen, »dass die substanzielle Sorge um die Politik der Unterdrückten, die den Reiz Foucaults oft ausmacht, über die Privilegierung des Intellektuellen sowie des •konkreten• Subjektes der Unterdrückung hinwegtäuschen kann, die den Reiz in derTat verstärkt« (ebd., S. 67).
157 I Vgl. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 71. 158 I Seit 1965 erscheint im Abstand von cirka zehn Jahren ein Bericht der ACLA (American Comparative Literature Association), der über »the state of the discipline« informiert, das heißt, es werden der Stand, die Ausrichtung und die aktuellen Entwicklungen der Vergleichenden Literaturwissenschaft in den USA sowie die Anforderungen an Studierende des Faches dargelegt. 159 I Haun Saussy: Exquisite Cadavers Stitched from Fresh Nightmares. Of Memes, Hives, and Selfish Genes, in: Haun Saussy (Hg.): Comparative Literature
AS PE KTE EINES ERWEITERTEN KUNSTBEG RIFFS
Im Zuge von Auseinandersetzungen um Postkolonialismus und »Multikulturalismus« 160 innerhalb der Komparatistik wird immer wieder die generelle Neuausrichtung des Faches gefordert. Spivak etwa kritisiert als geradezu typisch für westliche Universitäten deren Ignoranz gegenüber Kolonialismus und Imperialismus und ortet in diesem Faktum (Neo- )Kolonialimus in Form epistemischer Gewalt. 161 Der westeuropäische »Nationen«-Gedanke habe die Komparatistik von Anfang an maßgeblich bestimmt, so die Autorin, wenngleich es durch den zunehmenden Einbezug der Frankophonie, Lusophonie, Hispanaphonie etc. innerhalb der alten Nationalgrenzen zu einer Destabilisierung der »Nation>Insoweit ist das Vestibül auch Vorhof eines Sakralraums, dessen sakraler Charakter- wie vergleichbare Räumlichkeiten in den verschiedensten Religionen - durch die Existenz eines Vorraumes betont und verstärkt wird.«220 Das Vestibül ist ähnlich
216 I Homi K. Bhabha zitiert nach Kien Nghi Ha: Hybridität un d ihre deutschsprachige Rezeption. Zur diskursiven Einverleibung des >Anderen •, in: Karl H. HörningjJulia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhä ltnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript 2004, S. 221-238, S. 223 , Auslassungen Ha. 217 I Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, in: Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur. Zwei Essays, Hamburg: Claassen Verlag 1959 (franz. Original 1953), S. 7-81, S. 40. ln der von mir verwendeten Übersetzung spricht Barthes vom "vorstadium«. ln Ottmar Ettes Biografie ist im selben Zitat wörtlich vom "vestibülären Zustand« die Rede (vgl. Ette, Roland Barthes Biographie, S. 85). 218 I Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, S. 40. 219 I Ette, Roland Barthes Biographie, S. 85. Hervorhebung im Original. Eine Literatur im vestibülären Zustand ist Meta- und Objektsprache gleichermaßen, die "ständig zwischen den textinternen und textexternen Markierun gen hin und her springt und in dieser Bewegung den Raum für das eigene Schreiben - oder die Entscheidung zum Schreiben, die selbst schon Schreiben ist- schafft« (ebd., S. 250). 220 I Ebd., S. 86.
AS PE KTE EIN ES ERWEITERTEN KUNSTBEGR IFFS
Turners Raum der Liminalität Ort und Zustand der Verwandlung und zwar mit einem doppelten Gesicht. Es wird darin auf die Transformation hingewiesen und diese gleichzeitig vollzogen: »Wenn die Literatur jener Bereich ist, in dem der Autor seine Maske vor sich herträgt und zugleich auf sie deutet, dann könnten wir im Vestibül vielleicht erkennen, welche Maske er wählen oder welche anderen Masken er nicht verwenden wird, obwohl sie zur Verfügung stünden. Hier wählt der Künstler seine Robe, legt die Straßenkleidung ab, ergreift die Rollenmaske seiner Persona und sch ickt sich an, in jenen Bereich der Literatur einzutreten, den Barthes schon in Le Oegre zero als geheiligten Bezirk bezeichnet hatte. Das Vestibül ist jener Ort, von dem aus die Grenzen beider Räume erkennbar werden, ohne doch nur von außen gesehen zu sein: Der vestibüläre Zustand ist ein stets prekärer, der Dauer entzogener Zwischenraum.«221
Das Vestibül kann als Ort gesehen werden, der nicht nur die Masken und den Wandel der Künstlerin und deren doppeltes Gesicht anzeigt, sondern auch den Zwischenraum markiert, in den die Rezipientinnen mit der Lektüre eintreten, also jenen Erfahrungszustand der Transgression bzw. des »betwixt und between« (Victor Turner), in den auch Performance-Teilnehmerinnen versetzt werden. 222 Liminalität markiert eine transitorische Zone des Übergangs und umfasst - im Gegensatz zum starren Begriff der Grenze - den Raum von Grenze und Überschreitung. Dieser Raum im »Dazwischen« lässt sich mit Kategorien wie Vestibül, Hybridität, ästhetische Situation, Schwellenraum, Schwellenerfahrung, Atmosphären, lntermedialität, Interdisziplinarität, »Dritter Raum« etc. beschreiben. Ein liminaler Zustand, der buchstäblich durch das Überschreiten einer realen Schwelle oder durch Ortswechsel realisiert wird, kennzeichnet sich generell dadurch, dass bekannte und gewohnte Bestimmungen, Regeln und Normen außer Kraft gesetzt und neu auszuhandeln sind. Insofern korrespondiert dieses Konzept mit der Realität jener Menschen, deren Erfahrungen und Lebenssituationen vielfach Ausgangspunkt der in den folgenden Kapiteln untersuchten Kunst sind. Das Stadium der Grenzerfahrung und Liminalität wird dabei jedoch nicht »Zwingend durch Wiederangliederung abgelöst [... ].Erst durch die Linse des performative turn lassen sich solche Liminalitätsverzerrungen der Migration erkennen: >the liminality of the modern world where people are exposed to an unstructured or unfamiliar freedom, with no clear or meaningful incorporation.«>Experimentieren>Draußen-
205 I Kube Ventura, Politische Kunst Begriffe, S. 17. 206 I Ebd., S. 18. Hervorhebungen im Original. Sich für ein bestimmtes Thema zu engagieren, kann .. auch von dem Wunsch nach karrieristischer Selbstpositionierung motiviert sein«, betont der Autor... Das heißt, so wie die erste Gruppe nicht automatisch •rechts• und kulturell ausbeutend sein muss, ist die zweite nicht zwangsläufig •links• und selbstlos.« (Ebd.).
KUNST ALS SOZIALER UND POLITISCHER RAUM
sein« zu »Verweigern« und »Anderssein« reichen und ein Spektrum zwischen expliziter Anklage, strukturverändernder Maßnahme und dem »Nullpunkt [... ],bei dem die so genannte >Gegenmacht der Kunst< als Kategorie vollständig verschwindet« 207, beschreibt. Zusätzlich zu all diesen Begriffen führt Kube Ventura drei weitere ein, die nicht nach methodischen Aspekten, sondern nach der Wirksamkeit bzw. Funktion von Kunst organisiert sind. Implizit wird in dieser Kategorisierung jedoch davon ausgegangen, dass die Form bzw. Methode eines Kunstwerks mit dessen Wirkung zusammenhängt. Zu unterscheiden gilt es zwischen Informationskunst (als taktisches Medium), Interventionskunst (als Realpolitik) und Impulskunst (als trigger). 208 Informationskunst (als taktisches Medium) bezeichnet eine Kunstpraxis, die sich »mehr oder weniger explizit mit der decouvrierenden Kontextualisierung offiziöser Diskurse« 209 beschäftigt. Impulskunst (als trigger) ist »eine antreibende, ermunternde Kunstpraxis [... ],die etwas auslösen will, wie z.B. eine kollektive Bewegung«210 . Künstlerische Arbeiten, die sich konkret für die Beseitigung sozialer und politischer Missstände einsetzen, können als Interventionskunst (als Realpolitik) bezeichnet werden. Dabei gilt es zwischen temporären, benefizartigen Eingriffen und unbefristeten Strukturveränderungen zu unterscheiden.m Kube Venturas Kategorisierung, auf die in vorliegender Arbeit immer wieder rekurriert wird, eignet sich als Analyseinstrument, wenngleich in der konkreten Anwendung die Enge des Konzepts offensichtlich wird. Selten ist nur die eine oder andere Kategorie auf ein sozialkritisches Kunstprojekt anwendbar, vielmehr sind im Großteil der Arbeiten Aspekte aller drei Formen - in verschieden starken und evidenten Ausprägungen - zu finden. Häufig sind es überhaupt kaum mehr formale Kriterien, die eine Zuordnung der Phänomene zum Kunstbereich möglich machen, vielmehr sind es willkürliche Zuschreibungen von außen oder Selbstdefinitionen der Agierenden, die die Basis der Zuordnung der Arbeiten zu Kunst oder Politik bilden. 212 Die Zuschreibungen werden strategisch je nach beabsichtigten Zielen getroffen:
207 208 209 210 211 212
Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 192ff. Ebd., S. 177. Ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 192. Tasos Zembylas geht in seiner Untersuchung Kunst oder Nich tkunst von der Frage aus, wie in unterschiedlichen Institutionen und Zusammenhängen konkret mit dem Phänomen Kunst umgegangen wird. Der Formatierungsprozess des Kunstbegriffs ist ein »informeller, nicht-linearer, aber strukturierter Prozeß. Die Instanzen, die die allgemein geltenden ästhetischen Normen festsetzen (d.i. der Kunstmarkt, die Kunstkritik, die Ausstellungsinstitutionen, die Künstlergruppe und bestimmte Rezipientinnengruppen), haben nicht immer das gleiche Maß an Einfluß auf die
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nMit der Bezeichnung •Kunst• ist es möglich, einer Position einen gewissen Nachdruck und eine gewisse Unangreifbarkeit zu verleihen. •Kunst• ist ein symbolisches Stellvertretersystem der Gesellschaft, insofern damit immer Politik gemacht wird (bewusst oder unbewusst und explizit oder implizit). Und genauso, wie auf der hegemonialen Seite •Politik via Kunst• betrieben wird, so können nun natürlich auch minoritäre Oppositionen mit •Kunst• umherinstrumentalisieren.« 213
Sozialkritische Kunst ist in Hinblick auf die verwendeten Materialien und Medien, die inter- und transdisziplinären Arbeitsweisen und das Changieren zwischen künstlerischem und politischem Feld von Liminalität gekennzeichnet, also einem Zustand des Prozesses, des Übergangs und der Entgrenzung, in dem sich Dichotomien aufheben. Mit Helga Kämpf-Jansen können diese künstlerischen Praktiken auch unter dem Begriff der ästhetischen Forschung - auf die im dritten Kapitel anhand der Arbeiten von Franz Wassermann genauer eingegangen wird - subsumiert werden: nSie bedient sich aller zu Verfügung stehender Verfahren, Handlungsweisen und Erkenntnismöglichkeiten aus den Bereichen der Alltagserfahrung, der Kunst und der Wissenschaft. Sie ist prozessorientiert und hat doch Ziele. [ ... ] Ästhetische Forschung führt zu Erkenntnisformen, die sowohl rational sind, als auch vorrational, sowohl subjektiv als auch allgemein, sowohl über ästhetisch-künstlerische Sichtweisen als auch über den dokumentarisch-fotografischen Blick geprägt, sowohl über nachvollziehbare verbal-diskursive Akte strukturiert als auch von diffusen Formen des Denkens begleitet.« 2 14
Nina Felshin beschreibt sozialkritisch und politisch engagierte Kunst als eine »hybrid cultural form«, die charakterisiert wird »by the innovative use of public space to address issues of sociopolitical and cultural significance, and to encourage community or public participation as a means of effecting social change«215 . Diese zwei Charakteristika - der innovative Gebrauch des öffentlichen Raums und die Aktivierung von Gemeinschaft( en) - werden im Anschluss an allgemeine Überlegungen hinsichtlich Kunst und Öffentlichkeit detaillierter beleuchtet.
öffentliche Meinung und auf die Rechtsprechung. Das bedeutet, daß es keine rationalen oder formal-ästhetischen Begründungen für den Kunstbegriff gibt, weil er im Grunde ein normativer Begriff ist.« (Tasos Zembylas: Kunst oder Nichtkunst Über Bedingungen und Instanzen ästhetischer Beurteilung, Wi en: WUV Universitätsverl ag 1997, S. 57). 213 I Kube Ventura, Politische Kunst Begriffe, 101f. Hervorhebung im Original. 214 I Helga Kämpf-Jansen: Ästhetische Forschung. Aspekte eines innovativen Konzeptes ästhetischer Bildung, in: Manfred Böhm (Hg.): Leerstellen. Perspektiven für ästhetisches Lernen in der Schule, Köln: Salon-Verlag 2000, S. 83-114, S. 101. 215 I Felshin. lntroduction, But is it Art?, S. 9.
KUNST ALS SOZIALER UND POLITISCHER RAUM
(Kunst- }Raum und Öffentlichkeit Im Kontext von Globalisierung und weltweiten Migrationsphänomenen sind Auseinandersetzungen um geografische wie soziale Räume und deren Begrenzungen hoch virulent. Seit Ende der 1990er Jahre lässt sich eine Konjunktur der wissenschaftlichen, philosophischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Raum beobachten. 216 Wer darf welchen Raum betreten- und in diesem bleiben? Wem »gehört« welcher Raum? Wer setzt in einem (öffentlichen) Raum welche Zeichen und Aktionen? Wer wird in welchem Raum repräsentiert? Und von wem? Wer wird wie repräsentiert? Diese Fragen zeigen, dass es im Zusammenhang mit Raum immer um Fragestellungen in Bezug auf Repräsentations-, Definitions- und Partizipationsmacht geht. Zudem zeigen sie, dass das Phänomen Raum nicht im Singular, sondern im Plural zu denken ist. Wir haben es mit einem •Nebeneinander der verschiedensten Kulturen, Regime, Lebensstile, Werte, Moden usw. zu tun [ ... ]. die nicht in einem Behälter namens Nation, Staat oder Weltgesellschaft enthalten sind, sondern selbst Räume hervorbringen- vielfältig miteinander verflochtene, sich überlagernde Räume unterschiedlicher Reichweite und Ausdehnung, die durch keine vereinheitlichende Klammer mehr zusammengehalten werden, sondern nebeneinander existieren« 217 .
Die Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte der kritischen Befragung von Räumen, Raumkonstruktionen und Raumnutzungen. Mit der Avantgarde der 1920er Jahre beginnt ein Prozess, der museale Raumkonzeptionen von Kunst radikal in Frage stellt und beginnt aufzubrechen. In den 1960er und 1970er Jahren nimmt die Kunst mit Formen wie Aktionismus, Interventionismus, Performanceoder Installationskunst zunehmend Orte außerhalb des aseptischen Kunstraums in Beschlag. Sie eignet sich kunstfremde Orte an und lenkt damit den Blick auf die fragwürdigen Ein- und Ausgrenzungsmechanismen künstlerischer Institutionen wie Museen und Galerien. Die Kunstformen stellen nicht nur Kritik an den traditionellen Orten der Kunst dar, sondern bringen gleichzeitig vielfältige Räume in der Öffentlichkeit als Kunsträume neu hervor. Die sozialkritisch engagierte Kunst ab den 1990er Jahren zitiert den öffentlich-interventionistischen Gestus der 1960er und 1970er Jahre, wobei es zu Modifikationen und Modulationen kommt. Die grund-
216 I Vgl. Rudolf Maresch/Niels Werber: Permanenzen des Raums, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.): Raum- Wissen- Macht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 7-30, insbesondere S. 7, Fußnote 1. 217 I Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 226.
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legende Veränderung im Umgang mit Raum, die sich in der Kunst der 1990er Jahre ereignet, »liegt im Verständnis von Raum als einem sozialen Gebilde« 218 . Ab 2000 entstehen weitere signifikante Reorganisationen in der künstlerischen Bezugnahme auf den Raum. Der öffentliche Kunstaktionismus ist nicht mehr auf einen Platz in der Stadt oder einen Stadtteil beschränkt, sondern wird - einer nomadischen (Such-)Bewegung folgend - mobil. Die künstlerischen Interventionen, die unter anderem Demonstrationsformate, Wanderbühnenkonventionen und Zirkuspraktiken zitieren und reaktivieren, sind nicht mehr an einen fixen Ort gebunden, sondern bewegen sich von einer Station zur nächsten. Konstanter Bezugsrahmen dieser unterschiedlichen ästhetischen Artikulationen ist der Raum - als Referenz- und Austragungsort von Präsentations- und Partizipationsweisen -, der aus der Perspektive des Performativen durch die Bewegung bzw. das Sich-Bewegen im Raum entsteht. Das Modell der Site Specifity, das zunächst die Ortsgebundenheit des Kunstwerks219 einfordert und auf die Untrennbarkeit des Kunstwerks von seiner Umgebung besteht, erhält dadurch neue Dimensionen und Implikationen.
Soziologische Raumbetrachtung
Der Raum hat zwei Qualitäten: Als reales, territoriales oder physisches Gebilde in Form eines Theaterraums oder eines Staates lässt er sich vermessen, kartografieren, abbilden, begrenzen und verschließen. Als gesellschaftlicher oder individueller Denk- und Handlungsraum ist er ein ephemeres Konstrukt, das sich sozialen Konventionen verdankt. Die Phänomenologie, und hier vor allem Maurice Merleau-Ponty und später Otto Friedrich Bollnow, entwickelt das Konzept des anthropologischen oder erlebten Raums, der grundsätzlich vom geometrisch-physikalischen Begriff eines dreidimensionalen Behälterraums zu unterscheiden ist.220 Der anthropologische Raum ist dynamisch ausgerichtet, da er von einem
218 I Möntmann. Kunst als sozialer Raum, S. 9. 219 I Richard Serras Skulptur Ti/ted Are gilt als eines der bekanntesten Werke so genannter Site Specific Art, das- nicht zuletzt aufgrund der umstrittenen Entfernung des Werks- zu einem Paradigmenwechsel und einer Weiterentwicklung der Ortsspezifik innerhalb des Kunstdiskurses führt. Die Anfang der 1980er Jahre auf der Federal Plaza in New York aufgestellte Skulptur ist so platziert. dass sie die freie Sicht verstellt und die Überquerung des Platzes erschwert und dadurch den Menschen eine formale wie optische Auseinandersetzung mit der Arbeit abverlangt. Protestaktionen der Anrainerinnen führen dazu, dass die Skulptur 1989 wieder entfernt wird (vgl. Uwe Lewitzky: Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität, Bielefeld: transcript 2005, S. 88ff). 220 I Vgl. Arbeitsgruppe Wahrnehmung, Wahrnehmung und Performativität. S. 28.
KUNST ALS SOZIALER UND POLITISCHER RAUM
sich bewegenden und wahrnehmenden Subjekt, das den Raum erschließt und mit hervorbringt, ausgeht. Darüber hinaus ist er ein heterogener und pluraler Raum, da »die an einen individuellen Leib gebundenen Akte des Wahrnehmensund Sich-Bewegensauf das einzelne Subjekt bezogene Akte darstellen. Bis zu einem gewissen Grad also vervielfacht sich der Raum um jedes Subjekt, so dass wir eigentlich von >anthropologischen Räumen< sprechen müssten.« 221 Auch Henri Lefebvres Raumtheorie zufolge sind physische Räume unverzichtbar mit sozialer Praxis verknüpft. Das Räumliche ist sozial konstituiert, umgekehrt ist der Raum konstitutiv für die Herstellung sozialer Beziehungen.222 Nach Pierre Bourdieu ist der soziale Raum ein Raum, der zwischen Individuen gebildet wird und den physischen Raum abbildet. >>Die Struktur des sozialen Raums manifestiert sich so in den verschiedensten Kontexten in Form räumlicher Gegensätze, wobei der bewohnte (oder angeeignete) Raum als eine Art spontaner Metapher des sozialen Raums fungiert.« 223 Die Untersuchung von Räumen hängt unmittelbar mit der Analyse von Macht und Machtverhältnissen zusammen, denn jeder Raum ist hegemonial strukturiert, wobei die wichtigsten Segregationsprinzipien Geschlecht, >>Rasse« und soziale Schicht sind: 224 »ln einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert ist und nicht die Hierarchien und sozialen Distanzen zum Ausdruck bringt, (mehr oder minder) entstellt und verschleiert durch den Naturalisierungseffekt, den die dauerhafte Einschreibung der sozialen Realitäten in die physische Weit hervorruft: Aus sozialer Logik geschaffene Unterschiede können dergestalt den Schein vermitteln, aus der Natur der Dinge hervorzugehen [ ... ].« 225
Der Raum konstituiert sich über soziale Beziehungen, er ist performativ konstruiert und als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrneh-
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Ebd., S. 28. Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 291. Pierre Bourdieu zitiert nach Grothe, lnnenStadtAktion, S. 11. Dieser Mechanismus gilt insbesondere auch für Kunsträume. Kunsträume produzieren, wie Pierre Bourdieu in seiner Studie Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982) zeigt, ihr bildungsbürgerliches Publikum und dieses wiederum bildet seinen bildungsbürgerlichen Geschmack an den Wänden der Museen und Galerien ab. Dieser reziproke Kreislauf schließt marginalisierte Gruppen , deren Kunst nicht in institutionellen Ausstellungsräumen zu finden ist, automatisch aus der Kunstweit aus. Auch der breite und insbesondere von Staatsseite her organisierte Versuch, Kunst mittels Kulturvermittlungsprogrammen zu den Menschen zu bringen, wirkt vielfach oberflächlich, da er an den realen Segregationspri nzipien und Ausschlussmechanismen der Kunstweit nichts ändert. 225 I Pierre Bourdieu zitiert nach Grothe, lnnenStadtAktion, S. 11.
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mung, Nutzung und Aneignung eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation - beispielsweise durch Zeichen, Codes und Karten. 226 Im physischen und sozialen Raum spiegelt sich in der Verschränkung von äußeren und verinnerlichten Zwängen die Foucault'sche Logik von Macht als regulierendes Dispositiv, das regulierende Subjekte hervorbringt und umgekehrt, wider. Abgesehen von realen Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Orten, wie sie beispielsweise in groß angelegten Regulierungspraxen von Flüchtlingsbewegungen sowie in strukturellen Rassismen und alltagsrassistischen Übergriffen gang und gäbe sind, trägt jeder Mensch verinnerlichte Inklusions- und Exklusionsmechanismen in sich, die dazu führen, dass sie/er symbolische Schwellen als »natürliche« Grenzen erlebt und als solche einhält oder verteidigt. Die Konfrontation mit Räumen, die nicht für einein vorgesehen sind, wird durch ein Verhalten vermieden, das Markus Schroer als »vorauseilende Selbstexklusion« bezeichnet: »Man begibt sich erst gar nicht dort hin, wo man nicht weiß, wie man sich zu verhalten hat, wo man unangenehm auffallen würde, weil man öffentlich nicht über die entsprechenden, dort gültigen Regeln verfügt [... ]. «227 Durch die Wahrnehmung und Inkorporation der Struktur des physisehen Raums bildet sich der individuelle Habitus in Form eines spezifischen Lebensstils oder Geschmacks - und dieser wiederum wird durch die alltägliche Wahrnehmung des physischen und sozialen Raums reproduziert, so Pierre Bourdieu: .. vermittels der Merkmale und ihrer Verteilung gewinnt die soziale Weit somit objektiv den Status eines symbolischen Systems, das analog dem System der Phoneme gemäß der Logik von Differenzen, von differentiellen Abständen, die damit zu signifikanten Unterscheidungen, Distinktionen werden, organisiert ist. Der soziale Raum und die in ihm sich •spontan< abzeichnenden Differenzen funktionieren auf der symbolischen Ebene als Raum von Lebensstilen oder Ensemble von Ständen, durch unterschiedliche Lebensstile ausgezeichnete Gruppen.« 228
In der Konzeption der »Räume von Lebensstilen«, die Bourdieu als relativ homogene und starre Gebilde sieht, folgt der Soziologe einer dialektischen Tradition. Postmoderne und postkoloniale Ansätze hingegen betonen die transgressiven, prozesshaften und kontingenten Aspekte sozialer Räume.
226 I Im Zuge des so genannten Spatial Turn ist dieses Raumverständnis, in Abgrenzung zur Vorstellung von territorialem Raum als Container oder Behälter, zentral (vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 291ff). 227 I Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 97. 228 I Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen«. LeGon su r Ia leGon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 (franz. Original 1984), S. 21. Hervorhebungen im Original.
KUN ST ALS SOZIA LE R UND POLITI SC HER RAUM
Der postkoloniale öffentliche Raum
Der Raum, respektive der öffentliche Raum, wird von Jürgen Habermas in spätmoderner Tradition als zentrale politische Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft definiert, in der demokratische Teilhabe, Mitbestimmung und Entscheidungstindung stattfinden.229 In diesem Raum hat das Volk die Möglichkeit zur Artikulation von Emanzipation und hier ist Emanzipation prinzipiell möglich. Im Zuge postmoderner und postkolonialer Theoriebildung, in der es »keine große Erzählung einer universalen Emanzipation mehr [gibt]«230 , verändert sich auch die Sichtweise auf den Raum als politische Kategorie. Die Idee der politischen Veränderung selbst sei aus dem politischen und historischen Horizont verschwunden, betont Boris Buden. Der öffentliche Raum habe an politischer Bedeutung verloren und über das Konzept der sozialen Veränderung könne nicht mehr gesprochen werden. 231 An die Stelle der Rede von politischer Veränderung tritt jene von kultureller Subversion und Raum wird in postmodernen und postkolonialen Theorien als Feld von gleichzeitig bestehenden und gleichzeitig aufeinander einwirkenden, völlig unterschiedlichen sozialen, kulturellen, globalen und lokalen Phänomenen betrachtet. Die Raumperspektive erstreckt sich •auf Räume, die nicht mehr nur real, territorial und physisch, auch nicht mehr nur symbolisch bestimmt sind, sondern beides zugleich und damit potenziert zu einer neuen Qualität: ·Heterotopien•, so nennt sie Foucault, unter >imagina ry geography• fasst sie Said, als .global-ethnoscapes• bezeichnet sie Appadurai, •Thirdspace• bzw. •real-and-imagined places•, so nennt sie Soja .«232
In einem differenziert gedachten öffentlichen Raum, der aus lauter Teilöffentlichkeiten mit völlig unterschiedlichen Interessen besteht, verschwinden Dichotomien und eindeutige Hierarchien sowie klare Oppositionen und konkretes politisches »Dagegen-Sein« oder »DagegenHandeln« wird ungleich schwieriger. »Es ist nunmehr der sogenannte Dritte Raum, der auf völlig verschiedene Weise die politische und soziale Rolle des öffentlichen Raums übernimmt. Der Dritte Raum ist der Raum der Hybridität oder [ ... ] der Raum der Subversion, der Transgression, der Blasphemie, der Häresie.« 233 In Bhabhas Entwurf vom Dritten Raum wird Handlungsmacht - wie im ersten Teil des Buchs dargestellt -
229 I Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersu chungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Ma in: Suhrkamp 1990. 230 I Buden, Öffentlicher Raum als Übersetzungsprozess, S. 49 . 231 I Vgl. ebd. 232 I Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 297f. 233 I Buden, Öffentlicher Raum als Übersetzungsprozess, S. 49f.
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nicht intendiert, sondern als Effekt des Diskursortes verstanden. Das Politische ist nicht im so genannten öffentlichen Raum lokalisiert, »sondern in den wechselnden, nicht selten unbewussten, affektiven Bereichen des >Dazwischen< (in-between) der dominanten und unterworfenen Kulturen. Ihm [Bhabha, Anm. A.M.] zufolge ist hier der Ort, wo psychische Identifikationen und politische Neuverhandlungen beobachtet werden können.« 234 Es sind nicht die fixierten Oppositionen, also die klaren Pro- und Contra-Stellungen, sondern die immer wieder produzierten Kontingenzen, die eine politische Positionierung ermöglichen. 235 Der Dritte Raum wird gedacht als temporärer Zwischenraum, in dem Differenzen ohne Vereinheitlichung zum Oszillieren gebracht werden können. Laut Bhabha eröffnet dieser »zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen [... ] die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt«236 • Der Dritte Raum ist der Raum der Verhandlung bzw. Übersetzung - der Bhabhas Konzeption folgend immer auch Platz für Subversion bietet - und übernimmt als solcher die politische und soziale Rolle des öffentlichen Raums, der in sich geteilt, transgressiv und widersprüchlich ist: ein Raum der Hybridität, »in dem alle binären Aufteilungen und Antagonismen, die für moderne Konzeptionen typisch sind, inklusive der alten Opposition zwischen Theorie und Politik, nicht mehr funktionieren« 237 . In Bhabhas Konzeption wird der öffentliche Raum zu einem kulturellen Raum, der politisches Handeln zulässt, und die Möglichkeit einer emanzipatorischen Erweiterung der Politik wird im Feld der kulturellen Produktion verortet Unter Bezugnahme auf Hannah Arendt betont Bhabha, dass er mit ihr darin übereinstimme, »daß der Autor sozialen Handeins der Initiator von dessen einzigartiger Bedeutung sein kann, daß er oder sie aber als Handelnder nicht das Ergebnis der Handlung kontrollieren kann«238 . In einem postkolonialen Raum, der seinen Status als autonomer politischer Handlungsraum verloren hat, bietet Spivaks Konzept des »Strategischen Essenzialismus« ein Modell, um dennoch reale politische Veränderungen durchsetzen zu können. Übertragen auf politisches Handeln im öffentlichen Raum bedeutet der strategische Gebrauch des positivistischen Essenzialismus mit klar politischer Absicht, die essenzialistischen Identitäten, mit denen die Politik nach wie vor arbeitet (wie zum Beispiel Nationalstaat oder Öffentlichkeit), strategisch zu gebrau-
234 I Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 98. 235 I Vgl. ebd., S. 99 sowie den Abschnitt Hybridität im Kapitel Postkoloniale Schlüsselkonzepte im ersten Teil des Buchs. 236 I Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 5. 237 I Buden , Öffentlicher Raum als Übersetzungsprozess, S. 50.
238 I Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 19.
KUN ST ALS SOZIA LE R UND POLITI SC HER RAUM
chen. 239 Es geht also darum, so zu tun, als würden diese Kategorien noch gelten, wenngleich klar ist, dass sie als Imaginationendekonstruiert werdenkönnen: »Denn die historische Situation, in der wir leben, artikuliert sich in zwei verschiedenen Sprachen: Die eine ist die der postmodernen anti-essenzialistischen Theorie, die andere die einer parallelen, alten essenzialistischen politischen Praxis. Spivaks Konzept des •strategischen Essenzialismus• erkennt einfach an, dass es keine direkte Übereinstimmung zwischen beiden Sprachen gibt- sie können nicht auf herkömmliche dialektische Weise in einem dritten universellen Begriff aufgehoben werden, der als eine dialektische Einheit der beiden funktioniert. Es gibt daher nur einen möglichen Weg der Kommunikation zwischen den beiden: den einer Art Übersetzung. An diesem Punkt sehe ich immer noch die Notwendigkeit der alten politischen Kraft des öffentlichen Raums als einem Ort der Übersetzung zwischen, sagen wir, einem tatsächlichen Akt der kulturellen Subversion und der altmodischen Machtpolitik.«240 Soziale Veränderung wird nicht dialektisch h ervorgebracht, vielmehr ist sie ein fortwährender t r ansgr essiver Prozess.241 Im Gegensatz zu den Forderungen der historischen Avantgarde verfolgen postkoloniale K onzepte des Dritten Raums nicht die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Kunst und Leben, betont Gerald Raunig, sondern als »kleinere« Variante die Realisierung eines Zwischenraums, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Leben temporär aufgehoben werden. 242 Zentral ist für den Dritten Raum d essen Offenheit und Durchlässigkeit in unterschiedlichste Richtungen .243 Anhand der Veränderung des künstl erischen Konzepts d er
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Vgl. Buden, Öffentlicher Raum als Übersetzungsprozess, S. 5 1 sowie den
Abschnitt Subalternität im Kapitel Postkoloniale Schlüsselkonzepte im ersten Teil des Buchs.
240 I Buden, Öffentlicher Raum als Übersetzungsprozess, S. 51f. Was Spivak mit dem Begriff "transnationale Lesefä higkeit« beschreibt, so Buden, kann ein Weg sein, um mit beiden Sprachen umzugehen und zur Lösung von Problemen , die in Zusammenhang mit der Globalisierung auftreten und nicht nationalstaatlich zu bearbeiten sind, beitragen (vgl. ebd., S. 52).
241 I "Sie geschieht nicht als Ergebnis von Zusammenstößen zwischen sozialen Antagonismen, also durch den Prozess der Vermittlung, sondern durch eine unendliche Transgression der existierenden sozialen und kulturellen Begrenzungen, durch gewaltfreie, demokratische, übersetzende Verhandlungen. " (Ebd., S. 5 1).
242 I Gerald Raunig: Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Wien: Passagen-Verlag 1999, S. 117.
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I
Die Nichtabkoppelung besonders vom kulturellen Mainstream und die
Durchlässigkeit für alle möglichen Differenzen ist, so Raunig "ein typ ischer Unterschied der Postcolonial Studies zur Praxis des Modernismus, in der die Differenz kultiviert und zugleich eingeschlossen/ abgegrenzt wird" (ebd., S. 119).
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Site Specifity lassen sich Strategien des Dritten Raums bzw. Zwischenraums ausmachen, in denen die konstruktive oder kritische ortsbezogene »Bearbeitung« von Räumen in den Hintergrund tritt und temporäre, interventionistische und vor allem von außen nicht kalkulierbare Besetzungen und Wiederaneignungen zunehmend wichtiger werden.
Site Specifity - ein Konzept im Wandel
Mit den Praktiken von Minimal-, Land- und Concept-Art entstehen neue künstlerische Diskurse wie die Theorie der Site Specifity (Ortsspezifität), die der Kontext- bzw. Ortslosigkeit modernistischer Kunst nicht nur neue Akzente gegenüberstellen, sondern diese überwinden soll. Ortsspezifisch arbeitende Künstler sind bemüht, »den umgebenden Ort und dessen Besonderheiten bei der Konstitution des Werkes miteinzubeziehen, um zu einerneuen Erfahrbarkeit von Werk und Ort zu gelangen [... ]«244• Jede Art von ortsbezogener Kunst setzt eine Kenntnis des Ortes voraus und basiert auf der Methode des »Mapping«, die als »subjektive Kartographierung« - unter Konzentration auf ein bestimmtes Thema und damit in Verbindung stehender Aspekte des Platzes - zu verstehen ist.245 Die künstlerische Erforschung von Plätzen zielt dabei auf verschiedene, zum Teil auch gegensätzliche Wirkungsfelder ab. So kann ortsspezifische Kunst beispielsweise - häufig in Übereinstimmung mit Stadtentwicklern und Kunst-am-Bau-Programmen- als Marketingstrategie, Werbeträger und Standortfaktor herangezogen werden. In diesen Funktionen wird Kunst wirksam, wenn die Einzigartigkeit und Authentizität eines Ortes, einer Stadt oder eines ganzen Gebietes qua Einzigartigkeit der Kunst hergestellt werden soll.246 In einer globalisierten Welt, in der sich Städte und Stadtidentitäten immer mehr angleichen, wird Kunst zum Distinktionsmedium: »Site Specificity und Public Art erlangen in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung, weil sie für die Distinktion eines Ortes und die Einzigartigkeit lokaler Identität sorgen - höchst attraktive Eigenschaften bei der Vermarktung von Städten in einer durch die Umstrukturierung der globalen ökonomischen Hierarchien bestimmten Konkurrenzsituation. So bleibt ortsspezifische Public Art unumstößlich
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Lewitzky, Kunst für alle?, S. 81. Vgl. Möntmann, Kunst als sozialer Raum, S. 48. »Die am meisten geschätzten Eigenschaften von ortsspezifischer Kunst sind noch immer Einzigartigkeit und Authentizität, offenbar garantiert du rch die Präsenz der Künstlerinnen, nicht nur in Hinblick auf die vermeintliche Unwiederholbarkeit der künstlerischen Arbeiten, sondern auch insofern, als die Präsenz der Künstlerinnen den Orten die Distinktion des •Einzigartigen• zukommen lässt.« (Kwon , Public Art und städtische ldentitäten).
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an einen Prozess gebunden, der die Eigenheiten und ldentitäten verschiedener Städte zu einer Frage der Produktdifferenzierung macht.« 247
Als Gestus der Aneignung von Räumen sowie als Methode zur Etablierung einer kritischen Öffentlichkeit kann ortsspezifische Kunst auch dazu beitragen, vergessene und »verdrängte Geschichten hervorzuholen, marginalisierte Gruppen und Themen verstärkt sichtbar zu machen und die Wiederentdeckung und -herstellung >minderer< Orte zu fördern, die von der dominanten Kultur bislang verdeckt wurden«248 • »Sinnvolle Kunst im öffentlichen Raum«, betont Rosalyn Deutsche, sollte »als oppositionelle urbane Praxis funktionieren«, die sich mit den sozialen Folgen der Neugestaltung städtischer Räume auseinandersetzt und die Konsequenzen beleuchtet.249 Beide hier dargestellten Aspekte von Site Specifity haben (affirmative und widerständige) politische Implikationen, die in Kube Venturas »Kunst mit politics«-Kategorie »Draußensein« zusammentreffen: »Im wörtlichen Sinne dieser Bezeichnung stecken zwei Dimensionen: Einerseits ließe sich jegliche Kunst draußen (also Kunst im öffentlichen Ra um, Kunst am Bau, Kunst unter freiem Himmel) als Politikum bezeichnen, weil sie stets konkrete Kontexte anstelle des aseptischen white cubes in Beschlag nimmt, kommentiert und analysiert.[ ... ) Andererseits ließe sich unter •Draußensein• auch Marginalität verstehen - eine Marginalität, die als kritisch gemeinte Dissidenz lesbar ist. Denn wenn man annimmt, dass das Kunstsystem sich durch Machtinstanzen wie Museen, Kunstvereine, Kunsthallen, Galerien, Messen, Kunstmagazine und Kunstgeschichte konstituiert und als ganzes Ausdruck einer hierarchischen Klassengesellschaft ist, dann kann alles, was mit Kunstwerksanspruch außerhalb dieser Instanzen passiert. als Politikum gesehen werden.« 250
Das »Draußensein« als »kritisch gemeinte Dissidenz« spielt bei vielen gesellschafts- und rassismuskritischen Projekten eine zentrale Rolle. Dieses »Draußensein« kann eine bewusst gewählte, sich vom Mainstream der Institutionen absetzende Strategie sein. Oftmals ist es jedoch die einzige Möglichkeit, künstlerisch aktiv zu werden, da Marginalisierten
247 248 249
Ebd. Ebd. Vgl. Lewitzky, Kunst für alle?, S. 92. 250 Kube Ventura, Politisch e Kunst Begriffe, S. 19f. Hervorhebung im Original. Dass derartige Kategorisierungen extrem verkürzend sind und nur funktionieren, indem sie sich über zahlreiche Details, Fragen und Einzelfälle hinwegsetzen, betont Kube Ventura immer wieder im- oder explizit. Zudem hebt der Autor hervor, dass er in Form einer Konstruktion probehalber einen systematischen Katalog erstellt habe, mit dessen Hilfe »peu a peu auf einen gewissen Nullpunkt von Kunsttheorien zugesteuert wird« (ebd., S. 14).
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der Weg in die Kunstinstitutionen sowie Definitionsmacht in diesen weitgehend verwehrt ist. Für Nina Möntmann sind gerade ortsspezifische Arbeiten innerhalb des »white cube«, die ihre Rahmenbedingungen nicht hinter sich lassen, sondern in diesen eindeutig als Kunst in Erscheinung treten, häufig politischer als Kunst im urbanen Raum. Ortsbezogene Positionen der 1990er Jahre, die innerhalb der Institutionen realisiert werden, richten sich gegen eine simplifizierende Definition von Öffentlichkeit, so die Autorin. Die Künstlerinnen arbeiten mit einem »erweiterten Begriff des öffentlichen Interesses, indem sie dieses mit den Fragestellungen innerhalb des >Betriebssystems Kunst< verknüpfen. Dadurch funktionalisieren sie ihre eigene Position nicht in einem anderen Feld, sondern stellen ihre gegebenen Rahmenbedingungen mit in Frage.«251 Durch die eigene Lokalisierung im Kunstbetrieb wird dieser »mit den Fragestellungen des Öffentlichen verschaltet« 252 • Um diese vermeintlich kritischen Auseinandersetzungen zu rezipieren, muss vom Publikum zuerst jedoch der Weg in die Kunstinstitution gefunden werden, d.h. sie haben tendenziell ausschließenden Charakter. Dieser Ausschließungscharakter betrifft, wie oben angemerkt, auch (marginalisierte) Themen und Künstlerinnen. Die politische Tragweite von Kunst innerhalb der Institutionen bleibt also beschränkt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es der so genannten hohen Kultur erlaubt ist, ständig ihre eigenen augenscheinlichen Subversionen zu fabrizieren, wie Joshua Decter schreibt: »Segen und Fluch des Pluralismus zeigen sich dort, wo der •Unsichtbare• Rahmen der Avantgardekultur ein Territorium eingrenzt. innerhalb dessen die •Differenz• gestattet, gepflegt und geradezu kultiviert wird. Innerhalb dieses Rahmens werden Grenzüberschreitungen jeder Art gefördert und regelmäßig dem Blick der Öffentlichkeit vorgestellt.« 2 5 3
Am ehesten können provokante Formen von Site Specifity bzw. der Aneignung von Definitionsmacht (wie beispielsweise die »Stürmung« einer Galerie 254 ) oder ironische Über-Identifizierungen255 als Systemkritik innerhalb des institutionalisierten Kunstsystems funktionieren.
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Möntmann, Kunst als sozialer Raum, S. 46. Vgl. ebd. Joshua Decter: Die Verwaltung des kulturellen Widerstands, in: Marius Babias (Hg.): Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Dresden; Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 29-51. S. 30. 254 I Vgl. Kapitel Illegal Border Crossing II: Aktivismus in der Galerie im dritten Teil des Buchs. 255 I Als Beispiel dafür kann Tanja Ostojics Arbeit 1'11 Be Your Angel genannt werden, in der sie bei der Biennale von Venedig als Schatten von Kurator Ha rald Szeemann auftritt (vgl. http:/ ;www.kontakt-collection.netj artists;Ostojic+Tanja [ 17.03.2011 ]).
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Seit geraumer Zeit werden traditionelle Konzepte von Site Specifity - nicht zuletzt aufgrundder weltweiten Migrationsphänomene, der veränderten Funktionsweise von Räumen und Grenzen sowie der Herausbildung postkolonialer (Raum-)Theorien ab den frühen 1990er Jahrenzunehmend obsolet. Site Specifity, verstanden als untrennbare Verbindung des künstlerischen Objektes mit seinem physischen Ort, stellt in den Ortsdiskursen der 1990er Jahre kein passendes Modell mehr dar: »Die Fragestellungen kreisen nicht mehr um Werte wie Authentizität und Originalität, sondern um den Ort in seiner Relation zu anderen Orten, um die Kommunikation und den Austausch zwischen den Orten.«256 In den sozialkritischen öffentlichen Kunstprojekten im deutschsprachigen Raum der 1990er Jahre geht es folglich immer weniger um die Auseinandersetzung mit Orten und Plätzen in physischer oder geografischer Hinsicht. Vielmehr wird die Betonung des politischen Aspekts der Öffentlichkeit als Ort des Diskurses bzw. der Meinungsbildung stärker in den Mittelpunkt der Arbeiten gestellt. Die Künstlerinnen arbeiten mit einer »neuen Art von Ortsspezifität, die sich nicht länger nur nach den physischen Vorgaben richtet, sondern auch den sozialen Kontext des Ortes berücksichtigt. [ ... ] Eine andere Entwicklungslinie stellt im Kontext des sozialen Raums verschiedener Teilöffentlichkeiten auch die Akzeptanz pluraler künstlerischer Ansätze dar, die aufgrundspezifischer Formen und Inhalten [sie] unterschiedliche Rezipientengruppen ansprechen.« 25 7
Sozialkritisch engagierte (Stadtteil-)Arbeiten und künstlerische Interventionen sind ebenso Beispiele dieser Entwicklung wie die von London ausgehende »Reclaim the Streets«-Bewegung, eine koordinierte, aktivistische Interventionsform im öffentlichen Raum unter der Beteiligung von Künstlerinnen, Ravern und Umweltaktivistlnnen. 258 »Street« steht
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Möntmann . Kunst als sozialer Raum. S. 44. Lewitzky, Kunst für alle?, S. 86. 1991 formiert sich in London die aktivistische Gruppierung Reclaim the Streets, die sich anfangs vor allem gegen das Überhandnehmen von Autos und motorisiertem Verkehr in den Städten sowie gegen den zunehmenden Straßenbau richtet. ln unangemeldeten Aktionen wie Raves und Parties werden die Straßen dem motorisierten Verkehr entzogen, in nächtlichen Aktionen Fahrradstreifen auf Straßen gemalt etc. »Durch die Vern etzung mit globa lisierungskritischen Gruppierungen wie PGA [People's Global Action, Anm. A.M.] oder Ya Basta!, aber auch lokalen antikapitalistischen Aktivistinnen folgte 1995 die Abkehr von der reinen Anti-AutoGruppierung zu einer radikal-demokratischen Bewegung.[ ... ] Ende der 1990er Jahre breitete sich Reclaim the Streets vorwiegen d in Europa und den USA in mehreren Städten aus. Am 18. Juni 1998 (J18) rief das Netzwerk zum ersten internationalen antikapitalistischen Akti onstag auf, der als ·Karneval• angekündigt und an
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dabei für den öffentlichen Raum schlechthin, betont Gini Müller, der »als >public area< und Auseinandersetzungsort« kollektiv genutzt wird, um soziale Diskurse öffentlich zu machen. 259 Der Ansatz der »Reclaim the Streets«-Aktivismen weitet sich zunehmend aus. Insbesondere die ab der Jahrtausendwende im Kontext von Globalisierungs- und Rassismuskritik verstärkt beobachtbaren Interventionen an realen Staatsgrenzen sowie (symbolischen und realen) grenzüberschreitenden Bewegungen treten als neue Formen künstlerisch-politischer Bezogenheit auf den öffentlichen Raum - sozusagen als transformierte Formen von Site Specifity in Erscheinung. Das noborder-Netzwerk beispielsweise entwickelt seit 2001 Widerstandsstrategien und organisiert jeden Sommer eine Kette von Grenzcamps und politische Treffen. 260 Das größte internationale Grenzcamp des noborder-Netzwerks fand 2002 an der französisch-deutschen Rheingrenze in Strasbourg statt. 261 Die Bewegungen gehen zunehmend illegal bzw. illegalisiert über reale Grenzen hinweg. Die Forderung »Reclaim the Streets!« entwickelt sich sukzessive zu »(Re-)Claim the Borders!«. Die Idee von Site Specifity ist in diesen Zusammenhängen als Gestus der Aneignung von Räumen sowie als Methode zur Etablierung einer kritischen Öffentlichkeit zu verstehen und in gewissem Sinne auch - beispielsweise bei der interventionistischen Erkundung von Grenzräumen als Reaktion auf spezifische Ortsgegebenheiten. Die zwischen Orts- und Nicht-Ortsgebundenheitnomadisierenden Aktivismen stellen »den informations- und kontrollgesellschaftlichen Mechanismen Praxen entgegen [ ... ].die genauso wie die deterritorialisierten Kapitalströme sich nicht auf einen Ort fixieren lassen, nicht sesshaft machen lassen, die anders als diese aber kontinuierlich unkontrollierte wie selbstbestimmte Bruchlinien erschaffen. Und hier bewegen wir uns in die Nachbarschaftszonen künstlerisch-politischer Interventionen im Rahmen der globalen Proteste, mit ihrer Zuspitzung der spontanen Aktion, der taktischen Attacke und der schnellen Anpassung an die jeweils neue Situation, mit ihren Fluchtlinien in und durch den nomadischen Raum.« 262
über 40 Orten weltweit mit unterschiedlichen kreativen Protestformen durchgeführt wurde: >Anti-business-lunch• in Sydney, öffentliche Verbrennung eines Arschlochs in Kanada, Straßentheater vor der Weltbank in Mexiko [ ... ].« (Müller, Possen des Performativen, S. 83).
259 I Vgl. ebd. 260 I Vgl. ebd. , S. 76ff. 261 I Vgl. ebd., S. 77. 2003 findet eine weitere Serie von Grenzcamps in Europa (Finnland, Deutschland, Polen, Slowenien, Italien, Rumänien). an der mexikanischen Grenze sowie in Australien statt (vgl. ebd. S. 78). 262 I Gerald Raunig: Kriegsmaschine gegen das Empire. Zum prekären Nomadismus der VolxTheaterKarawane, 05/2002 , o.S. Online unter URL: http:/ jwww.eipcp. netjtransversalj0902jraunigjde [ 17.03.2011].
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Die Bewegung impliziert immer auch die Unmöglichkeit konkreter Festschreibbarkeit und Fixierbarkeit. Beobachtungen und Beschreibungen herumstreunender Aktivismen und deren Effekte sind notwendigerweise lücken-und bruchstückhaft. Für die Künstlerinnen und Aktivistinnen selbst bedeutet dies jedoch eine Freiheit abseits von Überwachungskameras und Bewegungsmeldern.
Prekäre Performances Während eine formale Unterscheidung zwischen verschiedenen performativen Praktiken, die weitgehend der Performance-Art zugeordnet werden - wie Happening, Fluxus, Event, Aktionismus oder Body Art -, kaum klar zu treffen ist, können sehr wohl Übereinstimmungen zwischen den Artikulationsweisen der verschiedenen Ausprägungen der Performance-Künste festgestellt werden. Marie-Luise Lange sieht eine erste Gemeinsamkeit darin, dass sich der ästhetische Prozess »durch das körperliche Handeln der Akteure innerhalb eines >Echt-Zeit-Raumes< (Daniel Charles) entfaltet«263 • Als zweites gemeinsames Merkmal performativer Künste nennt sie »lntermedialität und Interdisziplinarität«264 und als dritten Punkt deren »unmittelbaren Bezug zum Publikum«265 • Diese Kriterien treffen weitgehend auch auf die liminalen performativen Arbeitsweisen sozialkritischer Kunst im öffentlichen Raum zu. MarieLuise Lange unterscheidet darüber hinaus in Hinblick auf Handlungsstruktur und Wirkung 13 Performancetypen, die von »physischen und psychischen Grenzüberschreitungsperformances« über »Annäherungen an rituelle Performances« oder »Destruktionsaktionen« zu »politisch intendierten Aktionen und Performances, die ihre ästhetischen Mittel entsprechend ihrer inhaltlichen Ziele wählen,« reichen.Z66 Diese Kategorisierung trägt nicht zur Klärung des Phänomens Performance bei, sondern ist vielmehr ein weiterer Hinweis darauf, dass sich Performancekunst einer trennscharfen Einteilung - unter welcher Perspektive auch immer- entzieht und auf »paradoxe Weise ein Trans- oder Anti-Genre innerhalb der Kunstwissenschaften«267 bezeichnet. Tatsache ist jedenfalls,
263 I Maria-Luise Lange: Schneisen im Heuhaufen. Formen von Performance-Art, in: Hanne Seitz (Hg.): Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung, Essen : Klartext Verlag 1999, S. 149-161, S. 149. 264 I Ebd., S. 150. 265 I Ebd., S. 151. 266 I Vgl. ebd., S. 152ff. 267 I Hans Friedrich Bormann/Gabriele Brandsteuer: An der Schwelle. Performance als Forschungslabor, in: Hanne Seitz (Hg.): Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung, Essen: Klartext Verlag 1999, S. 45-55, S. 46.
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dass Politik und Performance seit den l960er Jahren ein sehr enges, utilitaristisches Verhältnis eingehen, was auch für die Entwicklung sozialkritisch und politisch engagierter Kunstpraktiken ab den l990er Jahren wichtig ist. Mit den politischen Aktivismen der 1960er Jahre habe die Bevölkerung gelernt, »die hinter den ästhetischen Aktionsformen stehenden Symbole und Inhalte zu >lesen«< 268 , so Lange: "Heutzutage ist es eine Selbstverständlichkeit, daß Bürgerbewegungen, Gewerkschaften und andere Interessengruppen ästhetische Zeichen und Aktionen als Ausdruck für ihre Forderungen nutzen.[ ... ] das Wissen um die Sprengkraft innovativer, spektakulärer Aktionen und die Fähigkeit zur Entwicklung ästhetischer Symbole [ist] zum selbstverständlichen Methodenarsenal der jüngeren Generation geworden [ ... ].«269
Innerhalb der Theaterlandschaft, die bis in die späten 1960er Jahre als relativ hermetische bürgerliche Institution gilt, kommt es in Folge der l968er-Bewegung zu Veränderungen, insbesondere zu einer (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit der Institution sowie zu einer zunehmenden Politisierung des Theaters in theoretischer wie praktischer Hinsicht. 270 Handlungsmöglichkeiten gegen Unterdrückung werden von politischen Theatermacherinnen wie Augusto Boal, Armand Gatti oder dem Living Theater initiiert und ausprobiert, indem sie die Theaterinstitutionen verlassen und sich »den radikal-demokratischen Revolten gegen repressive Ordnungsmächte, Krieg, Imperialismus, Kapitalismus und die patriarchale Weltsicht« 271 anschließen. Die inhaltliche Politisierung des Theaters und formal-ästhetische Veränderungen ab jener Zeit führen zum so genannten postdramatischen Theater272, das - mit seiner Ästhetik der Multimedialität, Prozessorientiertheit und Dekonstruktion - eng mit dem Feld der Performance-Art und auch mit den künstlerisch-aktivistischen Praktiken ab den 1990er Jahren verknüpft ist. Die Formen des »neuen« Performance-Aktivismus sind vielfältig und beinhalten unter anderem Demo-Animation, Direct Action oder Menschenmaschinen. Mittels Aktionsklettern werden große Transparente an Gebäuden oder Autobahnbrücken angebracht. Unter Radical Puppetry ist die Verwendung von großen Puppen und Figuren bei politischen Aktionen, als Teil von Demonstrationen oder (Straßen-) Theaterstücken zu verstehen. Radioballett ist eine Performance, bei der
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Lange, Schneisen im Heuhaufen, S. 161. Ebd. Vgl. Müller, Possen des Performativen, S. 11f. Ebd., S. 12. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Fran kfurt am Main: Verlag der Autoren 1999 sowie Müller, Possen des Performativen, S. 17ff.
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sich die Teilnehmerinnen synchron (und über einen Sender im Ohr miteinander verbunden) im öffentlichen Raum bewegen. 273 Ziviler Ungehorsam ist das bewusste Überschreiten von Regeln, »Um ein Problem zu thematisieren, wobei auch die juristischen Folgen bewusst in Kauf genommen werden« 274 • Die Österreichischen Plattformen Demokratische Offensive, Performing Resistance, WienerWahlPartie, Volkstanz, Volxtheaterkarawane oder gettoattack operieren im Spannungsfeld von Theater, Performance und Demonstration - und üben sich infolge der politischen Veränderungen vom Februar 2000 zum Teil auch in zivilem Ungehorsam. Der sich aus der Wiener Tanz- und Performance-Szene generierenden Gruppe Performing Resistance geht es laut Maitaussendung darum, den »Körper als Zeichen von Widerstand« einzusetzen sowie »in und an Protest performative Aktionenparticipation through interpretationdie Sprache der Macht< konstituieren, selbst zu beherrschen«357 • Sowohl performative Aktionen im öffentlichen Raum als auch die Nutzung von Internet und diversen Plattformen (Indymedia oder Wikipedia) sind wesentliche Strategien der Kommunikationsguerilla. Häufig arbeiten die Aktivistinnen unter »falschen« Namen oder Gruppenlabels. »Die Nähe zur Kunst zeigt sich [ ... ] darin, dass künstlerische Kritik Entwicklungen unkonventioneller Aktions- und Ausdrucksformen leichter möglich macht und ausdrucksstärker sein kann, als dies im Rahmen wissenschaftlicher Kritik möglich ist. Andererseits kommt dem künstlerischen Aspekt der Kommunikationsguerilla keine autonome Bedeutung zu, weil die Brauchbarkeit künstlerischer Ausdrucksmittel und künstlerischer Bewegungen durch die Zwecke politischer Subversion beurteilt wird [ ... ].« 358
354 I Felshin, lntroduction, But is it Art? , S. 16. 355 I Handbuch der Kommunikationsguerilla zitiert nach Kleiner, Medien-Heterotopien, S. 384. 356 I »Die Kritik naturalisierter Machtstrukturen erfordert, diese zunächst einmal sichtbar zu machen - und sichtbar werden sie dort, wo das reibungslose Funktionieren der Zeichensysteme und Interpretationsmechanismen ins Stocken gerät.« (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Kommunikationsguerill a, S. 98). 357 I Ebd., S. 103. »Kommunikationsgueriller@s sind keine Spione oder Undercover-Agentinnen in der Arbeitswelt oder der Weit des bürgerlichen Konsens. Oft sind sie in ihrer Lebenspraxis Teil davon, akzeptieren Rollen als Lehrende oder KollegInnen, übernehmen Funktionen im kapitalistischen System. Gerade dadurch wird das Oszillieren zwischen radikaler Kritik und Camouflage möglich.« (Ebd.). 358 I Kleiner, Medien-Heterotopien, S. 369, Fußnote 36.
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Die Kommunikationsguerilleros berufen sich auf Umberto Ecos Überlegungen zu einer »semiologischen Guerilla«, auf Guy Debords Kritik an der »Gesellschaft des Spektakels« sowie auf Theorien von Antonio Gramsei und Noam Chomsky. 359 Als Arbeitsmotto wird häufig unter Bezugnahme auf Roland Barthes die Frage in den Raum gestellt: »Ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstellen, statt sie zu zerstören?«360 Für Roland Barthes ist das Wort nicht Transportmittel bestimmter Ideen, sondern Material. Die Verantwortlichkeit der Schriftstellerinnen entsteht in dem Raum zwischen Sprache und Stil, der »ecriture«: »Denn sie [die •ecriture•, Anm. A.M.] wird als dritte Dimension kün stlerischer Form (und nicht künstlerischen Formwi//ens) in einem ganz räumli chen Sinne eingeführt, stehe sie doch quer zu den [ ... ] Begriffen von Sprache und Stil. ln Barthes' räumlicher Anordnung steckt die Sprache den Bereich des Möglichen als Horizont ab, während der Stil als Dimension einer •Notwendigkeit• die Vertikale dazu darstelle; zwischen •Sprache und Stil• gebe es aber Raum für eine andere Wirklichkeit der Form, die ecriture [... ].« 361
Subversives Handeln und soziales Engagement sind in diesem Raum der »ecriture>Nichts ist für eine Gesellschaft von größerer Wichtigkeit als die Klassifikation ihrer Sprachen. Die Klassifikation ändern, das Sprechen verschieben heißt, eine Revolution machen.Bühne für das Spiel der Wörter«. Barthes zufolge ist das der einzige machtentzogene Raum, der die Utopiefunktion der Literatur begründet und an eine »responsabilite de Ia forme« gebunden wird. 363
359 I Vgl. ebd. , 369ff. 360 I Vgl. URL: http:j /kommunikationsguerilla.twoday.netjtopicsj Zum+Begriff+ der+Kommunikationsguerilla [ 17.03. 2011].
361 I Ette, Roland Barthes Bi ographie, 64f. Hervorh ebungen im Ori ginal. 362 I Roland Barthes: Kritik und Wahrheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967 (franz. Original 1966), S. 57.
363 I Vgl. Carola Hilmes: Roland Barth es' Projekt einer kritischen Literaturwissenschaft, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2000/2 001, Heidelberg: Synchron Wi ssenschaftsverlag der Autoren 2001, S. 51-67, S. 57. Ette weist in seiner
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Bei der Kommunikationsguerilla stehen Theorie und Praxis in engem Zusammenhang und durch die Ausarbeitung einer »Theorie und Praxis der Subversion«, das heißt einer auf Umsturz der bestehenden Ordnung zielenden Tätigkeit, sollen Möglichkeiten zur Veränderung von Missständen geschaffen werden. 364 Mit Bezug auf Michel de Certeau kann die Subversion der Kommunikationsguerilla als Taktik bezeichnet werden, die vielen Alltagspraktiken (wie Sprechen, Lesen, Unterwegssein, Einkaufen oder Kochen) zu eigen ist und deren intellektuelle Synthese nicht die Form eines Diskurses hat, sondern vielmehr in der Entscheidung selbst liegt, »im Akt und in der Weise, wie die Gelegenheit >ergriffen wird«< 365• In diesem Sinn produzieren Kommunikationsguerilleros »ihre eigenen Wege durch den Dschungel funktionalistischer Rationalität« - »IrrLinien«, »unbestimmte Bahnen« oder »Quergänge« -,die den Systemen gegenüber heterogen bleiben. 366 •Auch wenn sie aus dem Vokabular der gängigen Sprachen (des Fernsehens, der Zeitung, des Supermarktes oder der offiziellen Museen) gebildet werden und der vorgeschriebenen Syntax (Zeitmodi des Stundenablaufes, paradigmatische Ordnungen von Orten etc.) unterworfen bleiben , verweisen sie auf Finten mit anderen Interessen und Wünschen, die von den Systemen, in denen sie sich entwickeln, weder bestimmt noch eingefangen werden können.« 367
Die Tätigkeit des Benutzens bzw. der Gebrauch von vorgefundenem Material bringt eigene Formen hervor und wird zur »unmerkliche[n] und listenreiche[n] >Beweglichkeit«>kein menschist illegal« eine Kampagne gegen die Abschiebeflüge der Lufthansa gestartet, mit der sie gegen die europäische Abschiebepraxis und die Rolle der Fluggesellschaften dabei protestiert.372 Auslöser ist der Tod des sudanesischen Flüchtlings Mohamed Aamir Ageeb, der im Mai 1999 an Bord der Lufthansa-Maschine LH-558 nach Kairo erstickt.373 Zentral ist, dass es bei den Aktionen von >>kein mensch ist illegal« nicht um Aufrufe zum Boy-
369 I Kleiner, Medien-Heterotopien, S. 368. Hervorhebung im Original. 370 I Ralf Homann: Immerwährender Neustart Zur hybriden Praxis von kein mensch ist illegal, in: Gerald Raunig (Hg.): Transversal. Kunst und Globalisierungskritik, Wien : Turia + Kant 2003, S. 106-112, S. 106.
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I
Vgl. ebd., S. 106f. Das auf der documenta X erarbeitete Manifest ist auf
URL: http:/ jwww.kmii-koeln.de/index.php?speciai~Manifest+1997 [ 17.03.2011] nachzulesen.
372 I Vgl. URL: http:/ jwww.noborder.orgj archivejwww.deportation-class.com/ [ 17.03.2011].
373 I Vgl. URL: http:/ jwww.kmii-koeln .de/pre2005/framej dc2.htm [17.03. 2011].
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kott geht, sondern darum, Flugpersonal und Fluggäste zu Zivilcourage und konkretem Handeln bei Abschiebungen zu animieren. 374 Teil der Kampagne ist eine ästhetisch am offiziellen Webauftritt der Deutschen Lufthansa angelehnte Website, auf der unter anderem Sonderangebote für Flüge nach Khartum, Lagos oder Manila aufgelistet sind. In nüchterner Businesssprache werden bei Buchung eines Lufthansa-Fluges der Deportation Class spezielle »Servicessoziales Handeln< politisch ist bzw. ein soziales Interesse an die Stelle des politischen tritt« 408, und warnt vor utilitaristisch-ausbeuterischen Partizipationskonzepten, die auf Kosten Einzelner das Allgemeinwohl bedienen.409 Elaborierte Konzepte partizpativer Kunst setzen das Publikum nicht zur Aktualisierung einer vorgegebenen Partitur ein, sondern orientieren sich am konkreten Lebenszusammenhang der Mitwirkenden und zielen auf eine Veränderung dieser Lebensverhältnisse ab. 410 Bei aller Unterschiedlichkeit partizipatorischer Kunst, deren Konzepte von spielerischen über didaktische zu »pastoralen« Ansätzen reichen, gibt es doch eine Gemeinsamkeit, und diese liegt in der »Kritik am sozialen Ausschließungscharakter der Institution Kunst, dem sie [die partizipatorisch arbeitenden Künstlerinnen, Anm. A.M.] >einschließende< Praktiken entgegensetzen. Für alle bedeutet >Beteiligung< mehr als die Ausdehnung des Rezipientenkreises.«4ll Partizipation kann auch verstanden werden als »a way of working and a way of relating to people that can be used in any situation. It is about shared responsibility, power and knowledge. It is a democratic way of getting things done.« 412 Allgemeiner formuliert, kann das Phänomen Partizipation als »Wagnis der Aktivierung bestimmter Beziehungen, initiiert und dirigiert von Künstlerinnen, häufig auf Betreiben von Kunstinstitutionen, die mitunter auch zum einzigen Ziel gewisser
405 I Vgl. Suzana Milevska: Partizipatorische Kunst. Überlegungen zum Paradigmenwechsel vom Objekt zum Subjekt, in: springerin 02/2006, Theory Now, o.S. Online unter URL: http:/ ;www.springerin .atj dyn/ heft_text. php?textid~ 1761 & 1ang~de [ 1 7.03. 2011] . 406 I Ehmayer, Kulturvermittlun g und Partizipation, S. 39. 407 I Ebd., S. 40, unter Bezugnahme auf Barbour/Kritzinger. 408 I Kravagna, Arbeit an der Gemeinschaft, S. 30. 409 I Ebd., S. 29f. 410 I Vgl. ebd., S. 43. 411 I Ebd., s. 45. 412 I Baker/ Hinton zitiert nach Ehmayer, Kulturvermittlung und Partizipation, S. 39.
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Kunstprojekte werden«413 , bezeichnet werden. Dieses »Wagnis« zeichnet sich häufig dadurch aus, dass es von Hierarchien und Ungleichheiten zwischen den Beteiligten bestimmt ist. Bereits im Vorfeld werden Ideen, Herangehensweisen, Umsetzungsmöglichkeiten etc. von Künstlerinnen erläutert und konzipiert, diesbezügliche Entscheidungen getroffen und an die potenziell Mitwirkenden herangetragen. Dieser Kommunikationsakt ist per se hierarchisch und artet häufig in wohlmeinende Didaktik aus. Diese Tatsache ist allerdings nicht neu. Anhand eines Abrisses über linke Kunstkonzepte ab 1900 zeigt Stella Rollig auf, dass Partizipation in der Kunst immer von Ungleichheit geprägt ist und stellt fest: »Das Problem, das gegen Ende der neunziger Jahre wieder evident wird, kann schon zu Beginn der linken Kunst nicht gelöst werden: Die Gleichheit von Künstlern und Nicht-Künstlern in von Künstlern erdachten und initiierten Projekten bleibt Fiktion.« 414 Während Teilhabe als Form von individueller Rezeption in der Kunst und in Kunsttheorien immer relevant ist, wird im Kontext dezidiert partizipatorischer Kunst nicht die Partizipation von Einzelpersonen reflektiert, sondern das Ansprechen und Einbeziehen ganzer Gruppen zum Thema und Teil des Konzepts gemacht. Welche impliziten Vorannahmen und Problematiken die künstlerische Arbeit mit Gemeinschaften bzw. Communities als vermeintlich kollektive Identitäten mit sich bringt, soll im Folgenden erörtert werden.
Communlty: Mit Ihr, für oder gegen sie?
Der Zusammenhang, in dem partizipatorische Konzepte in den l990er Jahren am meisten diskutiert werden, ist jenes »Konglomerat inhomogener Praktiken«, für das sich die Bezeichnung »New Genre Public Art« (NGPA) durchgesetzt hat. 415 Im Kontext dieser Diskussionen steht weniger zur Debatte, wie partizipatorische Kunst aussehen könnte, als vielmehr, für wen diese zu konzipieren ist, das heißt, die identitätspolitische Dimension ist wesentlicher Bestandteil der theoretischen wie künstlerischen Auseinandersetzungen. 416 Künstlerinnen setzen sich mit verschiedenen, häufig minorisierten Gruppierungen und deren Anliegen auseinander und sehen im Empowerment von diesen Grup-
413 Milevska, Partizipatorische Kunst. 414 Rollig, Zwischen Agitation und Animation, S. 132. 415 Vgl. Kravagna , Arbeit an der Gemeinschaft, S. 33. Der Ausdruck "New Genre Public Art« wird primär in Bezug auf die USA angewendet. Für dasselbe Phänomen sind auch die Begriffe "community-based art« und im deutschsprachigen Raum "Kunst im öffentlichen Interesse« in Verwendung. 416 I "Der NGPA geht es zuerst und vor allem um eine Definition ihres Publikums.« (Ebd.).
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DIE KUNST DER GRENZÜBERSCHREITUNG
pen bzw. Communities eine wichtige Zielsetzung ihrer Arbeit. 417 Die in diesem Kontext entstandenen Konzepte sehen Kunst und die Einbindung von Menschen zur Realisierung dieser häufig als Mittel zu sozialarbeiterischen Zwecken. Kravagna zeigt auf, dass die Kunstform der New Genre Public Art sogar eine eigene Rhetorik hervorgebracht hat, und er stellt anhand von Publikationen von Suzanne Lacy, Suzi Gablik, Michael Brenson, Lucy Lippard und Mary Jane Jacob fest, dass diese von einem Begriffsinventar geprägt ist, das »deutlich pastorale Züge« aufweist: »Die pastorale Mischung aus Fürsorge und Erziehung erklärt die teilweise pseudoreligiösen Züge der NGPA, die spirituellen Qualitäten ihrer Gemeinschaftsbeschwörung sowie bestimmte Tendenzen, Communities auf traditionalistische Rituale, wie z.B. •Parades•, zu verpflichten. [ ... ] Es sei jedoch noch einmal daran erinnert, daß hier ein homogenisierender Diskurs äußert divergente Praktiken überlagert.«418
Besagte »Heilsrhetorik«419 kommt auch im Kunstbegriff des 1999 gegründeten, in North Carolina angesiedelten Community Arts Network (CAN) zum Tragen: »Üur definition of the term [community art, Anm. A.M.] is reflected in our databases, from the narrowest view of community art as art for social change (activist art that intends to eure social ills) to the broadest view that includes public art (art installed outdoors that intersects with daily community life) and public arts policy (from arts funding to political involvement).«420 Neben derartigen paternalistischen Tendenzen ist auch das Prinzip des »Üthering>Othering«, also die Konstruktion eines >>Anderen« als Bedingung weiterer Projektionen, kaum. >>Die >anderen< sind sowohl arm und benachteiligt als auch Repräsentanten des Echten und Wirklichen, somit einerseits hilfsbedürftig und andererseits Quelle der Inspiration.« 423 Eine Gruppe ist - ebenso wie Identität - nichts Naturgegebenes, sie wird erst durch die Anrufung als Gruppe dazu gemacht, und zwar aufgrundvermeintlicher gemeinsamer Identitätsmerkmale. >>Fremdsein« ist ebenfalls keine ontologische Kategorie, sondern ein mittels Zuschreibungen von außen diskursiv produziertes Phänomen, das von Perspektive und Auslegung der/des Zuschreibenden abhängig ist und - zum Teil schwerwiegende - performative Effekte erzeugt. So ist ein alltäglicher Effekt von >>Fremdsein« in Österreich, jederzeit von der Polizei angehalten und kontrolliert werden zu können. >>Dass >Migrantinnen< eine soziale Realität darstellen, dass es sie gibt, ist in einer Einwanderungsgesellschaft >normalmythischen Norm< (Lorde 1984) abweicht.«424 Diese doppelte Realität wird durch Kunstprojekte, die auf Communities zugeschnitten sind, reproduziert. >>Die helfende Hand kippt in die gewalttätige Zu- und Festschreibung des/r >AnderenOffice for Exchange of Citizenship, P.O. Box 160, 1043 Vienna, Austria« zu schreiben. Der Brief soll Informationen zur aktuellen und zur gewünschten Staatsbürgerschaft beinhalten sowie Angaben dazu, ob die/der Verfasser In »gewillt und/oder fähig« ist, für den Austausch der Staatsbürgerschaft zu bezahlen. Abschließend heißt es in der Anzeige: >>Wir können nicht garantieren, daß Ihre Staatsbürgerschaft ausgetauscht werden kann, aber wir versprechen, daß wir unser Bestes tun werden.« 92 In erster Linie ist das Projekt von Jens Haaning als Experiment und kritische Auseinandersetzung mit den Grenzen des Tausches- und damit einhergehend den Grenzen der persönlichen Freiheit - zu betrachten. Als eine Art ästhetische Forschungsarbeit legt die Arbeit Wünsche und Bedürfnisse von Menschen in Bezug auf nationale (Nicht-)Zugehörigkeit und Migration sowie damit in Verbindung stehende (institutionelle) Machtpositionen offen. Zentral ist außerdem der Transfer von Wissen und Information über die Thematik. Das »Büro« ist vermittelnd, beratend und initiativ tätig. Während der Öffnungszeiten werden interessierte Besucherinnen von Juristinnen beraten, die auch deren Staatsbürgerschaftstauschwünsche entgegennehmen. Das Projekt Office for Exchange of Citizenship bewegt sich in einer juristischen Grauzone. Im internationalen Völkerrecht gibt es kein Gesetz, das den Staatsbürgerschaftstausch explizit verbietet, allerdings aber auch keines, das ihn erlaubt bzw. vorsieht. 93 Bei allen diesen Beispielen ist der Akt des Tausches als Mittel der Kontaktaufnahme und Kommunikation- zwischen Künstlerinnen und Publikum - wesentlich. Die dabei entstehenden, zuweilen einseitigen und sich in unterschiedlichen Intensitäten formierenden Ströme von Gütern geben Aufschluss über die Organisation von Städten und Stadtteilen, die (ungleiche) Verteilung von Wissens- und Bildungsressourcen, Geschmack und Vorlieben des Publikums oder dessen Interessen (etwa an Kunst, Politik) etc. Die Tauschströme weisen auch auf Machtpositionen sowie institutionelle Lenkung, Förderung bzw. Verhinderung von Tauschbeziehungen hin. Wie im zweiten Teil dargestellt, ist der partizipative Einbezug von Nicht-Künstlerinnen in Kunstprojekte immer von
91 I Vgl. Huber, Telekommunikation, urbaner Raum und künstlerische Interventionen. 92 I URL: http:jj www.mip.atjcreationsjkuenstlerische-freiheit-02 [17.03.2011]. 93 I Vgl. Jan Winkelmann: Ausländer frei, in: I Believe in Dürer, Ausstellungskatalog Kunsthalle Nürnberg, Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2000. On line unter URL: http:; ;www.jnwnklmnn.de/haaning.htm [17.03.2011 ].
PERFORMATIVE ÄSTHETIK UND POSTKOLONIALE KRITIK
Hierarchien und Einseitigkeiten geprägt94 , nicht-hierarchische Zusammenarbeiten gibt es in diesem Bereich nicht. Der auf Freiwilligkeit beruhende Tausch kann jedoch als eine Möglichkeit relativ egalitärer Begegnung zwischen Künstlerin und Publikum betrachtet werden. Im Kontext von Schubhaft kommt es durch den Tausch zu einer egalitären Begegnung und in dieser- wenn auch nur kurzfristig- zu der von Levi-Strauss beobachteten Angleichung von Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionen. An der realen Ungleichheit ändert die Tauschaktion selbstredend nichts. Darüber hinaus ist der Kleidertausch bei dem Projekt Anlass für den Austausch von Informationen (über Haftbedingungen, Fluchterfahrungen, Möglichkeiten der Hilfestellung etc.). Durch die Tauschaktion wird außerdem das Sichtbar-Machen marginalisierter Positionen initiiert. Dieser Aspekt hängt wesentlich mit der getauschten »Ware« selbst - der Kleidung - zusammen. Die schmutzigen, zum Teil zerrissenen T-Shirts, die die Inhaftierten auf ihrer Flucht nach Österreich getragen haben, werden durch die Aktion zur Chiffre ihrer sozialen Körper.
Verstörende vestimentäre Zeichen Kleidung trägt dazu bei, den menschlichen Körper als einen sozialen Körper dar- und herzustellen- sie ist »Element sozialer Anerkennung und Mittel des Gemeinschaftslebens>des segregierten städtischen Raums einer exklusiven Stadt der wohlhabenden Integrierten und einer Stadt der Unterprivilegierten und Marginalisierten« 131 der Begriff der Neuen Urbanität herangezogen. >>Im Rahmen der Neuen Urbanität ist es das Ziel der Wachstumskoalition, städtischen Raum den Bedürfnissen eines qualifizierten Publikums entsprechend zu gestalten bzw. zu vermarkten [ ... ].« 132 Damit einhergehend kommt es zu säubernden Stadtaktionen und zu Vertreibung und Ausgrenzung Marginalisierter, wobei sich die Argumentation der hierfür zuständigen Behörden auf einen sich seit Mitte der 1990er Jahre verschärfenden Sicherheitsdiskurs stützt. In der öffentlichen Auseinandersetzung geht es zunehmend um die Frage, wie >>sicher« sich das Leben in den Städten gestaltet, wobei implizit vermittelt wird, dass Marginalisierte ein Gefahrenpotenzial darstellen. 133 Auch in Innsbruck sind Sicherheitsdiskurse134 und daraus resultierende Marginalisierungstendenzen seit Jahren im Ansteigen begriffen. Deutlich sichtbar wird dies durch die zunehmende Zahl von Überwachungskameras im öffentlichen Raum sowie daran, dass Wohnungslose und Punks aus der Maria -Theresien-Straße und Drogenkonsumentinnen aus dem Rapoldipark verbannt werden, dass auf Graffiti-Sprüherinnen >>Kopfgeld« ausgesetzt wird, >>Bettlerlnnen« durch Drohung mit Inhaftierung
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Vgl. URL: http:j ;www.tirolwerbung.at [ 17.03.2011]. Vgl. Lewitzky, Kunst für alle?, S. 29. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. Grothe, lnnenStadtAktion, S. 25 . ln dem Projekt re:control setzt sich das lnnsbrucker Kollektiv k.u .u.g.e.l. (Kritische Universität Und Gesellschafts-Emanzipatorische Lehre) mit dem Sicherheitsdiskurs als hegemonialem Thema der postmodernen Gesellschaft auseinander. Ab März 2003 ruft die Gruppe alle lnnsbruckerlnnen dazu auf, Überwachungskameras in der Stadt zu fotografieren und die Bilder auf die Homepage von re: control zu posten. Dort werden alle Kamerastandorte gesammelt und dokumentiert (vgl. URL: http://www.recontrol.org [17.03.2011]). Einen anderen Weg des Protestes gegen die allgegenwärtige Überwachung artikuliert die New Yorker Gruppe Surveillance Camera Players. Bereits seit 1996 spielt die Gruppe im Sichtfeld von Überwachungskarneras im öffentlichen Raum. Zu ihrem Performance-Repertoire gehören Alfred Jarrys Ubu Roi, Theateradaptionen von Orwells 1984 oder Becketts Warten auf Godot. Das Publikum der Surveillance Camera Players sind die Sicherheitsbeamtinnen, die die Monitore überwachen, sowie zufällig vorbeikomm ende PassantInnen (vgl. URL: http:/ ;www.medienkunstnetz.de/kuenstler/ surveillance-cameraplayers/biografie [17.03.2011]) .
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vertrieben werden oder junge Migrantinnen Aufenthaltsverbot am Vorplatz des Innsbrucker Hauptbahnhofs erhalten. Diese Aktionen sollen nicht zuletzt dazu dienen, Innsbrucks Bewohnerinnen und den sich hier aufhaltenden Touristinnen ein makelloses und »sicheres« Bild der Stadt zu offerieren. Die 1997 gestartete »Bahnhofsoffensive« der Österreichischen Bundesbahnen reiht sich ebenfalls als eines vieler weiterer Beispiele nahtlos in das Konzept der Segregation des öffentlichen Raums ein. Als häufig erster Ort, den ankommende Touristinnen betreten, soll der Bahnhof ein Bild dessen repräsentieren, was die Besucherinnen außerhalb des Gebäudes erwartet: Sauberkeit, Freundlichkeit, Sicherheit. Dafür sollen bauliche Maßnahmen, die Beseitigung von Sitzmöbeln, die zum Liegen oder Lümmeln geeignet wären, verstärkte Polizeipräsenz oder die Verbannung von Menschen, die nicht als Reisende den Ort frequentieren, sorgen. Erklärtes Ziel der Aus- und Umbauten der Bahnhöfe ist, diese »auf einen zeitgemäßen Standard« zu bringen, wobei zeitgemäß gleichbedeutend mit wirtschaftlich, pflegeleicht und funktional ist. 135 Auch Kunst, insbesondere das »autonome« Kunstwerk, wird in den Dienst des Sicherheitsdiskurses gestellt. Anlässtich des Kulturhauptstadtjahres 2003 entwirft Peter Kogler für den Grazer Bahnhof eine großflächige Kunstinstallation. Die Innenwände werden mit organisch anmutenden Netzstrukturen überzogen. Den Innsbrucker Bahnhof ziert ein Fresko von Max Weiler, das 2004 vom alten in den neu erbauten Bahnhof übersiedelt wird. Durch diese Formen von Kunst kann der Bahnhof als eine Art Museum rezipiert werden und als »museal« rezipierter Ort, der in der Regel mit sämtlichen Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet ist, vermittelt er den Besucherinnen Sicherheit. Analog zu den Entwicklungen in Deutschland lässt sich für Österreich feststellen, ndass mit der Privatisierung eines staatlichen Unternehmens[ ... ] die Privatisierung eines vormals quasi öffentlichen Raumes einhergeht. Der Unternehmerische Maßstab der Gewinnmaximierung hat dabei konkrete Auswirkungen auf die Gestaltung der Bahnhöfe und des Bahnhofsumfeldes einerseits, andererseits auf die Menschen, die dieses Areal auf verschiedene Weise nutzen.« 136
Die Ansiedlung von Asylsuchenden an den Rändern der Städte oder in Dörfern - in häufig heruntergekommenen und nicht mehr rentablen Pensionen und Hotels oder in Containersiedlungen - kann ebenfalls als Teil dieser Strategie betrachtet werden und zeigt deutlich, dass Flucht und Migration räumliche Effekte zeitigen. In Tirolleben seit den frühen 1980er Jahren zwischen 70 und 95 Prozent der Flüchtlinge in Gasthöfen,
135 I Vgl. URL: http:/ jwww.oebb-immobilien.atjdejBahnhofsoffensivejindex.jsp [ 17.03.2011]. 136 I Grothe, lnnenStadtAktion. S. 24.
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Hotels und Pensionen, unter anderem auch in Tourismusgemeinden. Trotz dieser Realität ergibt eine Befragung der Tiroler Tourismusverantwortlichen, dass die Unterbringung in eigentlich für Touristinnen gedachten Einrichtungen dezidiert abgelehnt wird. 137 Asylwerberinnen sollen die Hochglanzidylle möglichst nicht stören. Die Angst, sie könnten aufTouristinnen abschreckend wirken, ist vorherrschend. Das »prekäre« Leben der Asylwerberinnen wird als ein zu starker Einbruch der Realität in die heile Urlaubswelt wahrgenommen. 138 Indem Wassermann auf Österreichs offizielle Werbelinie als Urlaubsland Bezug nimmt, den Slogan der Österreich Werbung zitiert und in verschiedenen Kontexten des Projekts erscheinen lässt, wird der Blick auf das widersprüchliche Feld erwünschter/nicht erwünschter Migration und staatlicher/privater Zuständigkeiten sowie auf die Distinktionslinie und-logikdes Kapitals gelenkt, scheint doch die Basis der Regulierung von Migration und Mobilität - und damit einhergehend die Akzeptanz der damit verbundenen Menschen - deren Rentabilität und Image zu bilden. 139 Die ganze Bandbreite des ambivalenten Phänomens Mobilität wird evident. Sie wird einerseits als Bedingung- etwa bei flexiblen Arbeitnehmerinnen und Touristinnen - vorausgesetzt, andererseits jedoch streng kontrolliert und gesteuert. Mobilität ist nicht einfach gegeben, sondern wird produziert und gemanagt, und zwar »durch ein komplexes
137 I Vgl. Raimund Pehm: Der andere Fremdenverkehr. Die Unterbringung Asylsuchender aus der Sicht von Tourismusverbänden am Beispiel Tirols, in: Rundschau der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft;SWS-Rundschau, Heft 2/2007, S. 186-208, S. 197f. Es gibt Befürchtungen von Seiten derTourismusverbände, dass »das negative Image einer •Fiüchtlingspension• [ ... ] zunächst auf die touristische Infrastruktur des betroffenen Dorfes und schließlich auf die Gemeinde insgesamt •abfärben«< könnte (vgl. ebd., S. 198). 138 I Vgl. ebd., S. 202f. »Der Geschäftsführer des Verbandes einer erfolgreichen Wintersportdestination im Bezirk Kitzbühel argumentiert [ ... ] genau in diese Richtung: Eine Unterbringung Asylsuchender in kleineren Gemeinden, die wie die seine •überwiegend vom Tourismus leben•, könne er nicht befürworten, denn •diese kleinen Orte stellen für unsere Gäste eine Art •Weit, die noch in Ordnung ist•, dar.«< (Ebd., S. 203). 139 I So ist beispielsweise die Tourismusregion Zell am See/ Kaprun stolz auf die hohe Anzahl zahlungskräftiger arabischer Touristlnnen. Kapital lässt offensichtlich die Akzeptanz von »fremden« Zeichen ansteigen: »Die Burka regt im Unterpinzgau keinen mehr auf. An diesen Anbli ck haben sich die Leute inzwischen gewöhnt. Sagt zumindest Hans Wallner, und der muss es ja wissen. Wallner ist Geschäftsführer des Tourismusmarketings von Zell am See und Kaprun, und das wiederum ist für viele Araber so etwas wie Mekka - zumindest was die Sommerfrische betrifft.« (Markus Pehertstorfer: nWenn's einmal regnet, ju beln sie«. Der Österreichische Sommer lockt auch mit schlechtem Wetter immer mehr Touristen an , in: Der Standard, 16./17.08.2008, s. 17).
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Zusammenspiel von Erleichterungen und Erschwernissen, Gewährleistungen und Restriktionen« 140 . Ein anderer Aspekt, der durch die Korrelation des Projekts Schubhaft mit dem Werbespruch »Alltag raus, Österreich rein« augenscheinlich wird, ist die Heterogenität des Begriffs »Flucht>als über das langweiligste Kulturgeschehen. Deshalb nutzt die WochenKlausur, wo es geht, diese Medien. Über Zeitungsartikel und Radiobeiträge kann auf Entscheidungsträger Druck ausgeübt werden.« 182 Fakten über das Phänomen Schubhaft werden mit dem gleichnamigen Kunstprojekt öffentlich gemacht und von der Presse rezipiert. In einer unangemeldeten Pressekonferenz wird verlautbart, dass sich in der Zeit von Anfang Jänner bis Anfang November 2001 13.028 Menschen in den 17 Polizeigefangenenhäusern in Österreich in Schubhaft befinden. >>Der Haft liegt selten ein Verbrechen zugrunde, da ihr zumeist die Flucht voraus geht« 183, zitiert die Tiroler Tageszeitung die Obfrau der arge-Schubhaft, ebenso deren Aussage >>Der Staat hält Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel bis zu sechs Monate fest. Die Polizeigefangenenhäuser entsprechen alle nicht den geforderten Haftstandards.« 184 Über das Projekt Schubhaft erscheinen des Weiteren Artikel in den Tageszeitungen Kurier, Der Standard, Kronen Zeitung, in der monatlichen Straßenzeitung 20er und im Kunstforum International. Im ORF ist ein Fernsehbericht zum Kunstprojekt zu sehen. Im Zuge der Berichterstattung über das Projekt wird immer auch dessen realpolitischer Hintergrund, das heißt, die Schubhaftbedingungen in Österreich, mitverhandelt Zum Teil stehen in den Medienberichten die Fakten in Bezug auf Flucht und Schubhaft mehr als das Kunstprojekt selbst und dessen Strategien im Vordergrund. Schubhaft wird gewissermaßen zum Auslöser für die Medien, um über Missstände und Problemfelder zu berichten, die in Tirol von der Presse bis dahin nahezu völlig ignoriert worden sind. Diesbezüglich lässt sich eine Parallele zur Wirkung der Arbeit Solid Sea 01: The Ghost Ship der Gruppe Multiplicityl 85 ziehen, die mit diesem Projekt eines der größten Schiffsunglücke der 1990er Jahre im Mittelmeer erforscht und auf der documenta 11 vor Augen führt. Bei dem von den Medien verschwiegenen und von den Behörden über Jahre geleugneten Unglück in der Nähe der Küste Siziliens kommen über 280 Menschen beim Versuch, nach Europa einzuwandern, um. Eine der Folgen des documenta-Beitrags ist die erhöhte (mediale) Aufmerksamkeit für
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Zinggl, Oft gestellte Fragen, S. 132. Wassermann , Schubhaft, Abbildung 28. Michaela Ralser zitiert nach Alexandra Plank: Wohnmobil wird geweiht und soll dadurch zum Asylraum werden, in: Kurier, 07.12.2001, S. 12. 185 I Vgl. URL: http:/;www.multiplicity.it [ 17.03.2011].
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Flüchtlingstragödien im Mittelmeerraum. 186 Das Projekt von Multiplicity trägt ebenso wie Schubhaft von Wassermann - zwar nicht ausschließlich, doch in einigen Teilen - Aspekte so genannter Informationskunst in sich, geht es doch darum, offizielle Diskurse durch die Veröffentlichung marginalisierten Wissens zu korrigieren. Unter Bezugnahme auf Copyshop von BüroBert stellt Kube Ventura Informationskunst als Kunstform dar, in der die Verbindung und die gemeinsame Arbeit von Künstlerinnen und politischen Initiativen zentral sind. Sämtliche dabei zum Einsatz kommenden Medien - Fotografien, Drucksachen, Videos etc. - können als taktische Medien bezeichnet werden, »wenn ihre Benutzerinnen aus politischen Motiven heraus damit im Feld Kunst operierten: Jedes Medium sei dazu geeignet, im Kunstkontext zu politischen Zwecken eingesetzt zu werden, und jede/r Produzent/in könne im Kunstbetrieb als Künstlerin auftreten« 187, paraphrasiert Kube Ventura Jochen Becker von BüroBert. Insofern avancieren in Schubhaft die Plakate, das Konzept, die Presseaussendungen, die verschiedenen performativen Aktionen, auf die ich an späterer Stelle detailliert zu sprechen komme, der Künstler selbst und andere Mitwirkende des Projekts zu taktischen Medien. Nach Einschätzung vonHerbertAu derer und Holger Fankhauser von der arge-Schubhaftfindet aufgrunddes Kunstprojekts Schubhaft erstmals in den Tiroler Medien eine breitere Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Der arge-Schubhaft als Kooperationspartnerin geht es vorrangig darum, dass Schubhaft als» Tiroler Phänomen« sichtbar wird188 und nicht als Problematik der »Anderen«, die mit Tirol und den Bedingungen vor Ort nichts zu tun hat: »Unsere Erwartungen, durch die Transformation dieser Thematik in ein Kunstprojekt neues Interesse an der Migrationsproblematik zu wecken und einen anderen Zugang zu dieser Frage im öffentlichen Raum zu eröffnen, wurden erfüllt.« 189 Eine Distanzierung zu den »Erzählungen« in der Presse bzw. eine Relativierung dieser findet statt, indem die journalistischen Artikel in dem Katalog abgedruckt werden. In ihrer chronologischen Abfolge erscheinen sie als Dokumentation und als eine Art Pressespiegel zum Projekt. Darüber hinaus mutieren die Texte zu Ready-mades, die in dem Katalog als Kunstwerke aus der Serie »Medien« präsentiert werden. 190 Die dadurch entstehende formale Verfremdung der journalistischen
186 I Vgl. Hanne Seitz: o.T., in: Joachim KetteljiGBK (Hg.): Künstlerische Bildung nach Pisa. Neue Wege zwischen Kunst und Bildung, Oberhausen : ATHENA-Verlag 2004, S. 377-387, S. 385, Fußnote 374. 187 I Kube Ventura , Politische Kunst Begriffe, S. 178. 188 I Vgl. Maser, Durch die Beobachtung von außen, S. A18. 189 I Herbert Auderer/Holger Fankhauser in: Franz Wassermann (Hg.): Schubhaft, lnnsbruck: Eigenverlag 2002, o.S. 190 I Vgl. Werkverzeichnis in: Franz Wassermann (Hg.): Schubhaft lnnsbruck: Eigenverlag 2002, o.S.
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Texte bringt eine Verschiebung in der Lesart der Artikel mit sich. Was in einer Tageszeitung weitgehend als objektive, verlässlich recherchierte und sehr wahrscheinliche Tatsache rezipiert wird, erhält im Kunstkontext einen anderen Stellenwert. Nicht mehr der Inhalt des Textes, sondern das Medium selbst rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Indem ein Zeitungsartikel als Kunstwerk in einem Katalog dargestellt wird, wird der Betrachterinnenblick auf den Konstruktionscharakter desselben gelenkt, der ein hohes Maß an Fiktion impliziert.
Ausstellungsrundgang im Katalog Fakten - Fiktionen - »flctlons«
»Ich verwende die Dokumentation wie einen Ausstellungsraum, in dem die entstandenen Arbeiten zueinander und aufeinander bezogen werden können. Hier wird das kollektive Kunstwerk sichtbar und in seiner Komplexität begreifbar.« 191 Was Pranz Wassermann im Zusammenhang mit seiner Arbeit Temporäres Denkmal formuliert, tritt im Rahmen von Schubhaft deutlich zutage. Der Katalog zu dem Projekt erscheint im Jahr 2002 und ist nicht nur Dokumentation und Kommentar, sondern als Veröffentlichungsmedium elementar im Kontext der Arbeit. Was ursprünglich in der Galerie im Taxispalais gezeigt werden sollte, darunter Briefe und Zeichnungen von Flüchtlingen, wird im Katalog »ausgestellt«. Der Logik des gesamten Projekts folgend, ist die Veröffentlichung mit dem Titel Schubhaft nicht als Hochglanz-Hardcover-Ausgabe gestaltet, die Kunstwerke wie Katalog exklusiv und vermarktbar präsentieren soll. Vielmehr suggeriert die unprätentiöse heftartige Zusammenstellung im A4-ähnlichen Format, dass die Thematik Schubhaft und insbesondere die davon betroffenen Menschen im Vordergrund stehen und eine »Überästhetisierung« nicht davon ablenken soll. Die Publikation wird vom Künstler selbst herausgegeben, sie erscheint in geringer Auflagenzahl und wird nicht im Buchhandel vertrieben. Hinsichtlich dieser kostengünstigen Veröffentlichungsweise sowie im konzeptionellen Zugang, weniger jedoch in Bezug auf die künstlerische Technik selbst, erinnert das Buch an Copy Art, die den Wunsch nach Reproduktion und genauer Wiedergabe eines Sachverhalts (Copy) mit dem Streben nach künstlerischem, innovativem Ausdruck (Art) verknüpft. 192 In der Broschüre
191 I Franz Wassermann zitiert nach Pechtl, Reibungsflächen 11 Flächenbrand, S. 105. 192 I Vgl. Textmaterialien zur Ausstellung Leidenschaft ist unser Antrieb. Sigmar Polke- Die gesamten Editionen (1963- 2000), 03.11.2000-25. 02 .2001 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bann. Online unter URL: http:/;www2.kah-bonn.dejausstellungenjpolkejcopy.pdf [17.03.2011].
PERFORMATIVE ÄSTHETIK UND POSTKOLONIALE KRITIK
Schubhaft wird das reproduzierte Material (Fotografien, Zeitungsartikel etc.) nach den ästhetischen Gesichtspunkten eines Fotoalbums mit dazwischen geschobenen Briefen, Berichten und Kommentaren arrangiert. Das Buch stellt auch eine Kombination aus Kunstkatalog, der traditionellerweise künstlerische Abbildungen mit wissenschaftlichem Kommentar verbindet, und Künstlerbuch 193 dar, wodurch es Informationsmedium bzw. Kommentar zur Arbeit ist und gleichzeitig den Charakter eines als Multiple gestalteten Kunstobjekts erhält. Wie bei einem Rundgang durch eine Galerie oder ein Museum sind es im Katalog einerseits einzelne Arbeiten, die den Blick besonders anziehen, zum Verweilen und zu einer intensiven Auseinandersetzung einladen. Es sind aber auch die Gesamtheit der »ausgestellten« Arbeiten, deren Verwiesenheit aufeinander sowie die Kontraste oder Brüche, die das Konglomerat entstehen lässt, die die Lektüre prägen. Auf der Titelseite der Publikation ist die farblieh verfremdete Skizze einer »Schubhaftzelle« (aus der Serie Geschenke) abgebildet, die ein anonymer Asylwerber während seiner Schubhaft im Innsbrucker Polizeigefangenenhaus angefertigt hat. Die Skizze stellt einen durchsichtigen Würfel dar, im Inneren sind Betten, Tisch, vier Stühle, WC, Spinds zu sehen und daneben ist »~ 12-14m2 « vermerkt. Mit dieser Abbildung wird ikonografisch unmissverständlich vorweggenommen, worum es in der Publikation geht: um Gefängnis und Haft, aber auch um Realitätsnähe und Dokumentation. 194 Der dokumentarische Charakter der Broschüre wird auf den ersten Blick durchgängig suggeriert, doch auf den zweiten Blick radikal in Frage gestellt. Auf der ersten Doppelseite ist
193 I Manifeste, Pamphlete, Dada- und Bauhaus-Publikationen sind Vorläufer der in den 1960er Jahren zunehmenden Buchveröffentlichungen von Künstlerinnen, die im Kontext von Fluxus und Konzeptkunst eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Kunst, Ideen und Strategien "für alle« einnehmen. Diese Druckwerke - in kleiner Auflage oder als Serienprodukte - ermöglichen, die traditionellen Grenzen von Kunst hin zu einer breiten Öffentlichkeit zu überschreiten, nicht zuletzt auch im Dienste der kommunikativen Vernetzung der Künstlerinnen untereinander. Ein wesentlicher Aspekt vom Künstlerbuch ist, dass mit dem Buch als künstlerisches Medium experimentiert wird und Materialcharakter wie Funktion desselben thematisiert werden. 194 I Auch in der Dokumentation des Schlingensief-Projekts Bitte liebt Österreich wird die Skizze des Containers, in dem die Asylwerberinnen untergebracht werden, als »Lagerplan" abgebildet. Als Kommentar zur Skizze ist zu lesen: »Der Auftrag besteht darin, möglichst viele Leute auf engstem Raum unterzubringen. Im Durchschnitt 5 bis 10 Personen auf 18 qm. Ein Waschraum, ein Aufentha ltsraum, ein Innenbereich mit Sehschlitz, Schlafraum für Männerund Frauen getrennt. Luxus ist unnütz. Eine Bambushütte ist auch sehr funktional und hat sich durchgesetzt. Man sollte die Asylbewerber mit Luxus nicht überfordern. Die Bauleitung... (Lilienthai/Philipp, Schlingensiefs Ausländer raus, S. 28).
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das Faksimile eines Schreibens abgedruckt, das ein Inhaftierter auf Englisch an die Kufsteiner Polizei richtet und in dem er wiederholt bittet, freigelassen zu werden. Es folgt das Protokoll eines Hungerstreiks, Fotografien, ein offizielles Schreiben der Bundespolizeidirektion Innsbruck etc. Bei näherer Betrachtung des Katalogs stellt man fest, dass - mit Ausnahme von drei eigens für das Buch verfassten Textent 95 sämtliche Materialien, die im Rahmen des Projekts Schubhaft produziert und verwendet werden, von Pranz Wassermann zu Kunstwerken erklärt werden und als solche in die Publikation Eingang finden. Diese Setzung sei ihm wichtig, so der Künstler, da sie die Rezeptionsweise der Betrachterinnen beeinflusse.t96 Judith Siegmund betont, dass das Wissen der Rezipientinnen um den Evidenzanspruch der Produzentinnen auch den Anspruch der Rezipientinnen an das, was sie ästhetisch aufnehmen, bestimmt und »also den Modus der ästhetischen Erfahrung in Richtung auf ein sehr spezifisches Kommunikationsverhältnis [lenkt]« 197. Das Kommunikationsverhältnis wird im Fall des Katalogs zum Projekt Schubhaft vom Prinzip der Ready-mades bestimmt, das als konventionalisierte Lesart die Rezeption des Abgebildeten als Kunst vorgibt. Fotografien, die das Projekt Schubhaft bzw. Ausschnitte einzelner Aktionen dokumentieren, offizielle Schreiben von Institutionen (wie der Galerie im Taxispalais oder der Bundespolizeidirektion Innsbruck), die Projektbeschreibung des Künstlers, Pressemeldungen und Zeitungsberichte, das bei der Wohnmobil-Weihe vorgetragene Segensgebet und die Fürbitten, Briefe und andere Aufzeichnungen von Flüchtlingen werden zu Kunst erklärt. Die Artefakte werden als durchnummerierte Kunstwerke aus Serien - mit den Titeln Geschenke, Briefe, Medien, Tauschaktion im Schubhaftgefängnis etc. oder als Arbeiten der Fotoserien Privat, Unangemeldete Pressekonferenz, Leitsystem II etc. - im Werkverzeichnis
195 I Vgl. Texte von HerbertAu derer und Holger Fankhauser, Klaus Zerinschek und Hubert Salden in jeweils deutsch- und englischsprachiger Ausgabe, in: Franz Wassermann (Hg.): Schubhaft, lnnsbruck: Eigenverlag 2002, o.S. 196 I Vgl. Maser, Für mich ist Kunst, S. All. 197 I Judith Siegmund: Die Evidenz der Kunst. Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation, Bielefeld: transcript 2007, S. 16. Die Autorin plädiert dafür, den Anspruch der Künstlerinnen, ein evidentes Werk herzustellen, als Differenzkriterium für die Unterscheidung zwischen Kunstwerken und ästhetisch rezipierten NichtKunstwerken zu betrachten . Für Siegmund ist entscheidend, dass Erfahrungen, die in der Reaktion auf das Kunstwerk aktiviert werden, von eben diesem Kunstwerk veranlasst sind. Künstlerinnen haben ein anderes Verhältnis zum eigenen Werk vor oder während seiner Entstehung als Rezipientinnen zum Kunstwerk in der Rezeption. »Diese den Rezipienten implizit bekannte Erfa hrungsdifferenz zwischen Herstellung und Rezeption, so möchte ich behaupten, modifiziert die Rezeption von Kunstwerken insoweit, als das Hergestelltsein des Werks auf die Erfahrungsweit der Produzentin verweist.« (Ebd., S. 17).
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»Schubhaft« 198 aufgelistet und im Katalog abgebildet. Durch diese Setzung wird es den BetrachterInnen verunmöglicht, die Publikation als Dokumentation des Projekts zu lesen, vielmehr wird der Katalog selbst zum Kunstobjekt, das eine spezifische Lesart bzw. das Changieren zwischen verschiedenen Lesarten herausfordert. So können die abgebildeten Materialien als Kunstwerke oder als Dokumente oder als beides in einem rezipiert werden. Dem Dokumentarischen ist grundsätzlich kritisch zu begegnen, da es keinesfalls ein Garant für »mehr Objektivität« oder »mehr Wahrheitsgehalt« ist, die der Gattung »natürlich« innewohnen. 199 Auffällig ist, dass bei künstlerischen Arbeiten, die sich in Österreich mit dem Thema Rassismus und Antirassismus beschäftigen, die Bevorzugung eines dokumentarischen Charakters zu beobachten ist. 200 Wassermann spielt in dem Katalog Schubhaft also einerseits mit den Konventionen rassismuskritischer Kunst und andererseits mit ästhetischen Konventionen von Dokumentationen und den Konnotationen des Dokumentarischen allgemein. Durch die Collage, die De- bzw. Recodierung von Fakten und Fiktionen und die radikale künstlerische Funktionalisierung von Zeugenaussagen werden der grundsätzlich ambivalente Charakter von Dokumentarischem und die Ambivalenz der Beziehung zwischen Kunst und Realität betont: »Diese Beziehung gestaltet sich innerhalb von fiktionalen Werken anders als im Rahmen von künstlerischen Arbeiten mit dokumentarischem Chara kter. Ohne Letzteren Attribute wie Objektivität und Neutralität zu verleihen , kann ma n hier von der Intention der Abbildung, des Feststellens realer Zustände und Zusammenhän ge als ein wesentliches Merkmal im Produktionsprozess sprechen. Fiktionale Arbeiten hingegen schaffen eine künstlerische Wirklichkeit, die sich zwar von erlebten oder möglicherweise gelebten Erfahrungen ernährt, aber sie dokumentiert die Erfahrungen nicht. Sie ernährt sich davon, nicht um sie zu bestätigen , sondern um einen anderen Raum zu konstituieren.« 201
Die Briefe der Inhaftierten sind ähnlich einem Tagebuch reale Zeugnisse und Fiktionen gleichermaßen. Sie sind - wie Selbstzeugnisse generell als »Texte zwischen Erfahrung und Diskurs« 202 zu lesen, die zwar sub-
198 199 200 201 202
Wassermann, Schubhaft, o.S. Vgl. Salgado, Nicht nur die Rü ckseite der Realität, S. 167. Vgl. ebd., S. 166. Ebd., S. 166f. Vgl. Fabian Brändle/Kaspar von Greyerz/ Lorenz Heiligensetzerj Sebastian Leutert;Gudrun Piller: Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Kaspar von Greyerz/ Hans Medick/Patrice Veit (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugn isse als historische Quellen ( 1500-1850), Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau Verlag 2001, S. 3-3 1.
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jektive Erfahrungen artikulieren, zugleich aber eingebunden in den bzw. abhängig vom jeweiligen zeitgenössischen Diskurs sind. Es spiegeln sich in den Texten also immer Individuelles und Kollektives wider sowie die Konventionen eines spezifischen Diskurses. In Anlehnung an Natalie Zernon Davis, die sich in ihrem gleichnamigen Buch mit »Fiction in the Archives« auseinandersetzt, ist »fiction« im Kontext von Selbstzeugnissen »nicht auf Fälschung, sondern auf das gestaltende Element in allem, was wir tun und denken« 203 , zu beziehen. Natalie Zernon Davis beobachtet dieses gestaltende Element in Gnadengesuchen aus dem spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frankreich und stellt fest, dass sie »den literarischen Geschmack und die kulturellen Strategien von Menschen in verschiedenen Milieus [reflektierten], sowohl der Gnade Suchenden wie ihrer Nachbarn, die bestätigen mußten, daß die Bittsteller die Wahrheit sagten, wenn der Gnadenbrief seine Wirkung haben sollte«204 • Eine deutliche Parallele lässt sich zu heutigen »Asylgeschichten« ziehen. Bei den Behörden Erfolg versprechende Varianten werden unter anderem im Internet verkauft. Das soll den Flüchtlingen ermöglichen, ihre Fluchtgeschichten, auch wenn sie vielleicht nicht wahr sind, so darzustellen, dass sie der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen und die Gewährung von Asyl wahrscheinlicher wird. Migrantinnen passen also mitunter ihre Erzählungen den Anforderungen der Migrationspolitik an, um sich vor Abschiebung zu schützen. »Asylgeschichten« sind also Effekte einer restriktiven Migrationspolitik. 205
Wenngleich deren Interpretation mit gewissen Schwierigkeiten - in Hinblick auf das Problem der Repräsentativität eines Textes oder der Frage der Stilisieru ng, die gerade nim Gefühlsbereich erheblich sein kann« - verbunden ist, stellen Selbstzeugnisse (etwa in der Geschichtswissenschaft) wi chtige Dokumente der Selbstbeschreibung dar. Sie bieten nals schriftlicher Ausdru ck von Selbstbetrachtung einen Zugang zum historischen Menschen mit vergleichsweise hoher Authentizität« (ebd., S. 12). 203 I Natalie Zemon Davis: Lebensgänge. Glikl. Zwi Hirsch. Leone Modena. Martin Guerre. Ad me ipsum. Berlin : Wagenbach 1998, S. 100f. 204 I Ebd., S. 100. 205 I Vgl. Kratzmann, Auf einmal war ich illegal, S. 70. nDas heißt, dass Asylwerber ihre Wanderungen vor den Behörden mit politischer Verfolgung begründen (müssen), auch wenn sie im Herkunftsland vielleicht ni cht politisch verfolgt wurden, da es für sie die einzige Möglichkeit darstellt, ihre Migration zu legitimieren und ihren Aufenthalt (eventuell) zu legalisieren. Unbeachtet bleibt dabei oft, dass Asylgeschi chten dazu führen, dass eventuell die tatsächlichen Erfahrungen im Herkunftsland nicht erzählt werden. Und dies, obwohl sie teilweise Asyl rechtfertigen würden.« (Ebd.) Sich als von Abschiebung bedrohte Migrantln auf nAsylgeschichten« zu beziehen ist ein durchaus verständliches und nnormales« Verhalten, das von Medien und Politik meistens als nßetrug« am Staat scharf verurteilt und polemisierend dargestellt wird - wie etwa die Wahlwerbung der FPÖ für die Wahlen am 28.09.2008 zeigt: nAsyl betru g heißt Heimatflug« (vgl. ebd.).
PERFORMATIVE ÄSTHETIK UND POSTKOLONIALE KRITIK
In den im Katalog abgedruckten Briefen der Inhaftierten ist die Rede von Ausweglosigkeit, Unwissenheit über die Gründe der Inhaftierung, gesundheitlichen Problemen, Gewalt im Gefängnis, Bedrohung im Land, aus dem man geflüchtet ist, etc. 206 Als hybride Konstrukte zwischen Authentizität und (Ver-)Fälschung legen die Schreiben eine transliterarische Spur zur Situation der Inhaftierten frei. Dass diese in den meisten Fällen von prekärer Sprachlosigkeit und Verständigungsschwierigkeiten gekennzeichnet ist, kommt explizit durch ein Schreiben, das aus chinesischen Schriftzeichen besteht, zum Ausdruck.207 Mit dem Abdruck der Briefe wird implizit die von Spivak immer wieder angesprochene Problematik der so genannten authentischen Stimme ins Spiel gebracht. Authentische (Selbst-)Repräsentation gibt es ihrer Meinung nach nicht, und diese Tatsache ist bei allen vermeintlich authentischen (Zeugen-)Aussagen mitzubedenken. Spivaks provokante Dekonstruktion der Idee subalterner Selbstrepräsentation weist mit der akademischen Konstruktion subalterner Kollektivität gleichsam den Anspruch derer zurück, die vorgeben, stellvertretend für die von den dominanten Foren Ausgeschlossenen zu sprechen.208 Ein diskurskritischer und selbstreflexiver Umgang mit (akademischen Selbst-)Repräsentationen ist daher unumgänglich, das heißt, es ist immer der Frage nachzugehen, wer in welchem Kontext vor welchem Publikum und insbesondere auch warum und für wen spricht. Die Selbstzeugnisse der Asylsuchenden im Katalog sind einerseits als Repräsentationsversuche zu sehen, gleichzeitig problematisieren sie Repräsentatives als Phänomene, die gestaltet werden und gestaltenden Charakter haben. »Scheinbar paradoxerweise macht eine Politik der Repräsentation nur dann Sinn, wenn sowohl die Subjekte als auch der Prozess der Repräsentation permanent einer Problematisierung zugeführt werden.«209 Auch die Schreiben der Leiterin der Galerie im Taxispalais, die Absage von Bischof Kothgasser, die Fotos von der Galeriebesetzung oder jene der unangemeldeten Pressekonferenz bewegen sich in dem ästhetischen Zwischenraum zwischen Realität/ Authentizität und Fiktion. Ähnlich den Briefen der Inhaftierten legen sie Spuren zur transliterarischen Wirklichkeit offen und können unter anderem als dekuvrierende Zeugnisse von Restriktionen und Ausschlüssen gelesen werden, die nicht nur die inhaftierten Menschen betreffen, sondern auf einer allgemeinen Ebene den gesellschaftlichen Umgang mit Marginalisiertem und Ausgegrenztem verdeutlichen. Die doppelte Einschreibung von individueller Meinung (der Verfasserinnen) und offiziellem Diskurs kommt auch in
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Vgl. Wassermann, Schubhaft, Abbildungen 1 und 25. Vgl. ebd., Abbildung 14. Vgl. den Abschnitt Subalternität im Kapitel Postkoloniale Perspektiven im ersten Teil. 209 I Castro Varela/Dhawan, Politik der Repräsentation, S. 32.
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den Behördenschreiben zum Ausdruck. Die »ausgestellten« Gegenstände werden im Katalog nicht kommentiert, sondern sprechen - in ihren nicht immer logisch nachvollziehbaren Argumentationsweisen - für sich. Im Schreiben der Bundespolizeidirektion wird als Grund für die Nicht-Einwilligung in die Betreuung und Genehmigung von Wassermanns direkter Zusammenarbeit mit den Häftlingen angeführt, dass »das Interesse der Behörde einzig und allein darauf gerichtet sein muss, einerseits die Menschenwürde der Häftlinge zu garantieren und andererseits Sicherheitsaspektenicht außer acht [sie] zu lassen« 210 • Zentrale Elemente des Katalogs sind die Kontextualisierung sowie die Darlegung des prozesshaften Charakters des gesamten Projekts Schubhaft. Diesbezüglich lassen sich Parallelen zu den Arbeiten von Martha Rosler ziehen, in denen das Dokumentarische auch immer wieder einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Das zeigt sich beispielsweise bei ihrem Projekt If you lived here ... (1987-89), in dem sie sich mit den Gentrifizierungsprozessen Sohos und deren Folgen für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen auseinandersetzt. Neben Kunstobjekten, Fotografien und Installationen gehören Flugblätter, Broschüren, Zeitungsausschnitte oder Fachliteratur zum AusstellungsmateriaL Rosler betont, wie wichtig es sei, einzelne Phänomene nicht isoliert von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen darzustellen, sondern diese zu kontextualisieren. Da »das postmoderne Leben durch das Verschwinden eines historischen Bewusstseins und eines kollektiven Gedächtnisses« gekennzeichnet sei, falle Künstlerinnen die Aufgabe zu, »gesellschaftliche Entwicklungen zu dokumentieren und Zusammenhänge herzustellen«. 211 Wie bereits mehrfach betont, zeichnet sich Informationskunst nach Kube Ventura durch das Veröffentlichen entlarvender bzw. dekuvrierender Fakten aus und jede Produzentin von Medien, die im Kunstkontext politisch nutzbar werden, kann als Künstlerin auftreten. In diesem Sinn avancieren innerhalb des Projekts Schubhaft die Mitarbeiterinnen der arge-Schubhaft, ebenso der Geistliche, der das Segensgebet und die Fürbitten verfasst, die Journalistinnen, deren Artikel im Katalog abgedruckt sind, oder die Flüchtlinge, die dem Künstler Aufzeichnungen, Briefe und Zeichnungen zur Verfügung stellen, zu Künstlerinnen. 212
Individualisierung und/oder De-Subalternisierung?
Von Ku Mina stammen zwei künstlerische Arbeiten, die im Katalog abgebildet sind. Es handelt sich dabei um mit Buntstiften gefertigte, cornicarüge Zeichnungen voll Bewegung, Farbe und Leben. Die vermeintliche
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Vgl. Wassermann, Schubhaft, Abbildung 11. Vgl. Grothe, lnnenStadtAktion, S. 94. Vgl. Kube Ventura, Politische Kunst Begriffe, S. 177ff.
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Buntheit und Fröhlichkeit der Szenen ist bei genauerer Betrachtung von Kampf, Verteidigung und Morbidität geprägt. 213 Auch der schlichte, ebenmäßige »Ungebrannte Tonkopf« von Luobo Zaxi wird in dem Katalog abgebildet. 214 Die künstlerischen Arbeiten sind insbesondere in Relation zu den Künstlerinnen, das heißt den Subjekten hinter den Artefakten von Interesse. Durch die Integration der Kunstwerke in das Projekt Schubhaft kommen Aspekte der Menschen zum Tragen, die die Bezeichnungen »Häftling« oder >>Flüchtling« schlichtweg ausblenden. Die Kunstobjekte ermöglichen es, mit den Geschichten der Inhaftierten von einer anderen Seite her, einer rein ästhetischen, in Berührung zu kommen, und dadurch wiederum die hinter diesen Geschichten stehenden Menschen anders bzw. neu wahrzunehmen. Die Menschen werden als Künstler Innen - und dadurch mit allem, was dieser Berufimpliziert-in der Öffentlichkeit präsentiert, wodurch deren Festschreibung als Subalterne temporär aufgehoben und eine Anzahl anderer Aspekte betont werden kann. Dem Faktum, dass Flüchtlinge kaum als Individuen wahrgenommen werden215 , kann dadurch - zumindest kurzfristig - entgegengewirkt werden. Flüchtlinge sind außerdem einer großen Diskrepanz zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit, Individualisierung und De-Individualisierung ausgesetzt. Einerseits sind sie ständig dazu angehalten, ihre individuellen Fluchtgeschichten preiszugeben, davon Bericht zu erstatten, andererseits müssen sie gleichzeitig wesentliche Aspekte ihrer Individualität ausgeblendet lassen: »Trotz der Tatsache, dass ihre Personalangaben Aktenberge füllen, ihre Lebensdaten -entgegen politischer Erklärungen -zu den bestdokumentierten gehören, bleiben ihre Geschichten unbegriffen: die Ausgangsbedingungen der Flucht ebenso wie die Fluchterfahrung selbst. ihr freiwillig-unfreiwilliges Gehen ebenso wie ihr Ankommen hier, ihre Lebensprojekte ebenso wie die Visionen, die ihr Gehen und Ankommen begleiten.« 216
Das Kunstprojekt Schubhaft akzentuiert diese Diskrepanz und arbeitet an deren temporärer Auflösung, indem es verschiedene Aspekte der Flüchtlinge zutage treten lässt und den Menschen hinter den Schicksalen Individualität bzw. eine Stimme gibt. Die Integration der Zeichnungen in
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Vgl. Wassermann, Schubhaft, Abbildungen 24 und 42. Vgl. ebd., Abbildung 10. »Wie ihre Geschichten unbegriffen sind, sind es auch sie als Personen. Unterschiedslos und herrschaftsförmig als >illegale Einwanderer• gehandelt, bleiben sie meist ohne Chance, in ihrer individuellen Unterschiedenheit wahrgenommen zu werden, als Frau und als Mann, als Personen mit verschiedenen sozialen und politischen Herkünften, Lebensgeschichten und -plänen.« (Michaela Ralser: Vorwort, in: Michaela Ralser (Hg.): Kein Land zum Bleiben. Auf der Flucht durch und nach Österreich. Siebzehn Porträts, lnnsbruck: StudienVerlag 2002, S. 9-11, S. 9).
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das Kunstprojekt weicht den festgeschriebenen Opferstatus zeitweilig auf und lässt abseits von stereotypen Bildern und Projektionen Menschen in ihrer Vielfalt bzw. Hybridität erscheinen. Die Geste der Veröffentlichung ist für Wassermann eine politische, die zum Ausdruck bringen soll, dass beispielsweise auch das Kunstsystem seine (neo-)kolonialen Aus- und Eingrenzungsmechanismen beinhaltet und diese immer weiter fortschreibt. Für eine Person in Schubhaft - als »Subalterne« - sind per se sämtliche Kommunikations- und Handlungsoptionen extrem limitiert und insofern auch die Wege in die Kunstwelt und (Selbst-) Repräsentationen in dieser. Der zentraleuropäische ästhetische Blick ist kolonialistisch eingefärbt, insofern als das ästhetisch »Fremde« gar nicht oder als das Exotische, das heißt, kulturalisiert als das »Andere>Dokumenten>Echte« und >>Ganze« wird im Schubhaft-Katalog durchbrachen von als Ready-mades dargebotenen Inhalten. Wie bereits mehrfach betont, lenken Ready-mades, häufig einzig aufgrund der Definition der SchöpferInnen erkenntlich, das Interesse weg vom dargestellten Inhalt bzw. der Bedeutung eines Artefaktes in Richtung Material und Materialcharakter des Kunstwerks. Die Rezeptionskonvention für Ästhetisches gibt vor, etwas als Fiktion zu rezipieren. Dass jedoch Fakten - wie das Hungerstreikprotokoll eines Häftlings als Kunstwerke erscheinen, löst Irritationen aus, und es entsteht ein Zwischenraum, der als Reflexionsebene für das Publikum fungieren kann. Noch bevor auf die inhaltliche Bedeutung des Protokolls eingegangen werden kann, werden die Rezipientinnen auf die Frage der Wahrnehmung selbst zurückgeworfen: Ist es wahr oder erfunden, ist es
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Vgl. Kapitel Postkoloniale Kunst? im zweiten Teil des Buchs. Vgl. Kapitel/I/egal Border Crossing II: Aktivismus in der Galerie.
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Kunst oder Nicht-Kunst, was ich da sehe? Deutlich wird, dass es keine ästhetischen oder gar ontologischen Kriterien für Kunst gibt. Deutlich wird zudem auch der doppelte Prozess, der vonstatten geht, wenn Alltagsgegenstände - wie etwa der Flaschentrockner von Duchamp - in einen Kunstkontext gestellt werden: »Der Flaschentrockner wurde dabei nicht nur ästhetisiert, sondern sozusagen auch zu einem fiktiven Gegenstand: Im Museum darf ihn niemand mehr zum Flaschentrocknen verwenden, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.«219 Mit dieser Spannung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion arbeitet Franz Wassermann, und das ermöglicht die Distanzierung von den Dingen und deren Inhalten sowie letztendlich auch die nicht eindeutige bzw. die explizit mehrdeutige Festschreibung der Herstellerinnen der Artefakte. Die illegalisierten Migrantinnen erscheinen einerseits als Insassinnen der Haftanstalt Innsbruck, die mit ihren traumatischen Flucht- und Hafterfahrungen präsent sind, andererseits scheinen sie mit Zeichnungen und einer Arbeit aus Ton als Künstlerinnen auf. Dadurch wird der Blick auf die Betroffenen deutlich erweitert und konnotiert, dass sie weit mehr als >>Opfer« sind, nämlich Arbeiterinnen, Künstlerinnen, Familienangehörige, Visionäre, Privatpersonen, politische Subjekte etc. Der Einbezug künstlerischer Artefakte von Migrantlnnen kann daher auch als Kritik an eindimensionalen und reduktionistischen postkolonialen Subjektkonzeptionen gelesen werden: »Westliche kritische Theorie legt häufig einen kolonisierenden Impetus an den Tag, indem sie geradezu erwartet, dass sich postkoloniale Subjekte ohne Widerrede ihren Vorstellun gen von ·Unterdrückung< und •Emanzipation< fü gen. Dabei wird die so genannte •Dritte Weit< produziert oder auch der •Orient< als ein Raum konstruiert, fü r den etwa die Unterdrückung der Frauen aufgrundseines essentiellen nichtwestlichen •Primitivismus< und •Barbarismus< geradezu symptomatisch ist [ ... 1. Die Folgen hiervon sind z.B. quasi-normalisierte Darstellungen von Migrantlnnen als die Anderen.« 220
PERFORMATIVE PROVOKATIONEN
Der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner bezeichnet die Provokation als eine Art Klassiker unter den ephemeren Brücken zwischen künstlerischer Produktion und sozialen Bewegungen. Lange Zeit sei sie im Kontext minoritärer Strategien das probate Mittel schlechthin gewesen, >> Um Unterdrückung (sexueller, geschlechtlicher, ethnischer Art) öffentlich zu machen und soziale Ungleichheit anzuprangern. In dieser Strategie trafen sich künstlerische Praktiken und jene sozialer Bewegun-
219 I Martin Sexl: Literatur und Erfahrung. Ästhetische Erfahrung als Reflexionsinstanz von Alltags- und Berufswissen , lnnsbruck: Studia 2003 , S. 32 .
220 I Castro Varela/ Dhawan, Politik der Repräsentation , S. 33.
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gen. [... ] Die Provokation bestand darin, die Verletzlichkeit der unterdrückten Körper sichtbar zu machen und sich selbst zu ermächtigen.« 221 Provokation ist- unabhängig davon, ob sie bewusst intendiert oder kontingenter Effekt ist- ein wesentlicher Aspekt perfonnativer Kunstpraktiken. Mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts beginnt man innerhalb des Kunstfeldes, den provozierenden und schockierenden Effekt, den Kunst erzielen kann, als Strategie gezielt einzusetzen, und in den 1960er Jahren schließlich etabliert sich in der Kunst ein »emphatischer, normativer Begriff von Provokation« 222 • Joseph Beuys etwa hält Provokation für den »Lebensstoff der Gesellschaft«223 und betrachtet sie als Mittel, um die Menschen wachzurütteln und Konventionen zu unterlaufen. Er spricht dezidiert vom therapeutischen Charakter des Provozierens und von einem >»Auferstehungsprozesshochkommt