Architektur und Lebenspraxis: Für eine phänomenologisch-hermeneutische Architekturtheorie 9783839436745

Architecture is put to use. Its expression is of fundamental significance for our wellbeing. In light of this, architect

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German Pages 306 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
A Wohnen als menschliche Grundsituation
Ausdruck und Gebrauch
Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens
Fragen des Transzendenten in der Architektur
Technikphilosophische Aspekte des Wohnens
Syn-Ästhesie oder: Die Kommunikation der Sinne
B Das Entwerfen des Architekten zwischen Einbildungskraft und Verantwortung
Das Entwerfen als wissenschaftliches Handeln der besonderen Art
Sichtbarkeit und Anschaulichkeit
Entwerfen, Planen und Entscheiden
Atmosphären entwerfen?
C Landschaft als Umwelt des Bauens
Aspekte neuer Lebensformen im „regionalen“ Raum
Suburbane Räume „als“ Lebensräume
Landschaft als Umwelt des Wohnens
Schluss ‒ Architekturtheorie
Bibliographische Angaben
Literatur
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Architektur und Lebenspraxis: Für eine phänomenologisch-hermeneutische Architekturtheorie
 9783839436745

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Achim Hahn Architektur und Lebenspraxis

Architekturen | Band 40

Achim Hahn (Dr. habil.), geb. 1951, ist Professor für Architekturtheorie an der TU Dresden. Er forscht zu lebensweltlichen Anfangsgründen einer Wissenschaftstheorie der Architektur.

Achim Hahn

Architektur und Lebenspraxis Für eine phänomenologisch-hermeneutische Architekturtheorie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Meike Köster Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3674-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3674-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Architektur und Lebenspraxis | 7

A W OHNEN ALS MENSCHLICHE G RUNDSITUATION Ausdruck und Gebrauch Vorüberlegungen zu einem ästhetisch-pragmatischen Architekturverständnis | 21 Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens | 45 Fragen des Transzendenten in der Architektur | 65 Technikphilosophische Aspekte des Wohnens

Eine architekturtheoretische Auseinandersetzung mit Bernhard Irrgangs „Umgangsthese“ | 85 Syn-Ästhesie oder: Die Kommunikation der Sinne

Zur Wahrnehmungslehre von Wilhelm Schapp und Maurice Merleau-Ponty | 101

B DAS E NTWERFEN DES ARCHITEKTEN ZWISCHEN E INBILDUNGSKRAFT UND V ERANTWORTUNG Das Entwerfen als wissenschaftliches Handeln der besonderen Art | 127 Sichtbarkeit und Anschaulichkeit | 143 Entwerfen, Planen und Entscheiden | 161 Atmosphären entwerfen?

Zur Hermeneutik des Erlebnisses von Landschaftlichkeit | 187

C LANDSCHAFT ALS UMWELT DES BAUENS Aspekte neuer Lebensformen im „regionalen“ Raum | 201 Suburbane Räume „als“ Lebensräume | 223 Landschaft als Umwelt des Wohnens

Über Konstruktion, Lebenswelt und Erfahrung | 241 Schluss – Architekturtheorie

Eine Positionsbestimmung | 269

Bibliographische Angaben | 279 Literatur | 281 Register | 301

Einleitung Architektur und Lebenspraxis

Soll ein Fach an einer Universität gelehrt werden, so fühlt man sich als dafür Verantwortlicher verpflichtet, es auch als eine methodisch untersetzte Wissenschaft zu begründen und aufzubauen.1 Bei der Architektur war zu Beginn dieses Jahrtausends ein entsprechendes Fundament durchaus eine Herausforderung, da innerhalb der Architekturtheorie ein Interesse an methodisch gestütztem Forschen mit wissenschaftstheoretischem Anspruch nicht festgestellt werden konnte. In der Regel wurde und wird an den Hochschulen und Universitäten Architekturtheorie als Architekturgeschichte von Kunsthistorikern mit „ideengeschichtlicher“ Orientierung betrieben. Sollten praktizierende Architekten sich auf das Feld der Architekturtheorie verirren, was nicht selten vorkommt, dann geht es oftmals um eine „Propaganda für sich selbst“ und für die eigenen „Stilentscheidungen“, so dass auch von dieser Seite keine wissenschaftliche Profilierung der Architekturtheorie erwartet werden darf.2 Da die hier versammelten Aufsätze alle an einer wissenschaftlichen Gründung des Faches „arbeiten“, ist es an dieser Stelle nützlich, sich den Aufbau von Wissenschaften einmal klar zu machen. Was ist die Grundposition, von der ausgehend im Bereich der Architektur geforscht werden soll? Pointiert gefragt: Wie kann die Einbettung von Architektur in unsere Lebenswelt glücken? Schon Vitruv hatte mit seiner Architekturtheorie behauptet: „Architektur ist scientia. Sie bestätigt sich in Theorie und Praxis, wobei die eine nicht ohne die andere beste-

1

Vgl. A. Hahn: Ausdruck und Gebrauch. Vorüberlegungen zu einem ästhetisch - pragmatischen Architekturverständnis, in diesem Buch S. 21-43, der in wesentlichen Teilen meine Antrittsvorlesung in Dresden wiedergibt.

2

Zum Stellenwert der Architekturtheorie aus figurationssoziologischer Sicht vgl. P. R. Gleichmann: Einleitung: Über „das architektonische Denken“.

8 | A RCHITEKTUR UND L EBENSPRAXIS

hen kann.“3 Ich habe „scientia“ in dem Sinne verstanden und ausgelegt, dass Architekturtheorie den Architekten darüber aufzuklären habe, welche Bedeutung der Architektur im praktischen Leben der Menschen zukommt und welches Wissen dieser Bedeutung zu entsprechen hat. Damit sind verschiedene Praxis- und Wissensformen als auch dazu passende Forschungsfelder angedeutet, denen sich die Architekturtheorie zuwenden kann. Da sind zu einem die Menschen in Stadt und Land, denen die gestaltete Umwelt in der alltäglichen Bewältigung ihrer Lebensführungsinteressen eine „Zumutung“ ist.4 Da sind zum anderen die Architekten, die in ihren Entwürfen selbstbewusst unserer Welt einen Ausdruck geben wollen, der freilich auch den Erwartungen eines „architektonischen Betriebs“ entgegenkommen soll.5 Ich habe versucht, die für die Architektur wesentlichen Praxisformen6 mit Wohnen, Entwerfen und Bauen zu bestimmen und einzugrenzen. Architekturtheorie hat zunächst einmal solche Praxisformen hinzunehmen, dann aber zu untersuchen, welche Orientierungsverhältnisse7 jenen zugrunde liegen. Was die Wissensformen angeht, so habe ich zwischen einem impliziten und einem expliziten Wissen, zwischen einem Erfahrungs- bzw. Gebrauchswissen und einem theoretischen Wissen als auch zwischen einem Orientierungs- und Verfügungswissen unterschieden. Freilich hatte schon Vitruv keine Verwendung für das Erfahrungs- und Gebrauchswissen vom Umgang mit Architektur. Er kannte nur ein Regelwissen, dessen Befolgung und Umsetzung er vom Architekten verlangte. Dabei hatten Platon und Aristoteles sowohl das Primat des Gebrauchs vor der Herstellung als auch die Einheit von Machen und Gebrauchen deutlich ausgesprochen8. Nach Aristoteles ist „jedes wirkliche Wissen ein Wissen aus Prinzipien“9. Es war ihm selbstverständlich, dass jedes Wissen immer schon etwas voraussetzt, nämlich das Woraus des Wissens. Im Griechischen wie im Lateinischen bedeutet das eingedeutschte Wort „Prinzip“: Anfang bzw. Ausgangspunkt. Dabei ist zu

3

Vgl. A. Horn-Onken: Über das Schickliche, S. 122.

4

Vgl. A. Hahn: Aspekte neuer Lebensformen im „regionalen“ Raum und Landschaft als Umwelt des Wohnens, in diesem Buch S. 201-222.

5

Vgl. A. Hahn: Sichtbarkeit und Anschaulichkeit, in diesem Buch S. 143-160.

6

Vgl. P. Stekeler-Weithofer: Was ist eine Praxisform?

7

Vgl. F. Kambartel: Begründungen und Lebensformen.

8

Vgl. W. Wieland: Platon und die Formen des Wissen, sowie B. Irrgang: Von der technischen Konstruktion zum technologischen Design. Vgl. auch A. Hahn: Technikphilosophische Aspekte des Wohnens. Eine architekturtheoretische Auseinandersetzung mit Bernhard Irrgangs ‚Umgangsthese‘, in diesem Buch S. 85-100.

9

W. Wieland: Die aristotelische Physik, S. 52.

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beachten, dass Prinzipien selbst nicht wieder etwas Eigenständiges sind, sondern ein bestimmtes Wissen von der gesuchten Sache. Was wir indes Wissen nennen, reicht von der wissenschaftlichen Erkenntnis bis zu den vielfältigen Weisen des Vertrautseins mit einem Gegenstand und des Sich-verstehens auf eine Sache. Prinzip und Sache hängen unmittelbar zusammen, denn das Prinzip kann niemals etwas für sich allein sein, sondern ist stets nur das Prinzip von etwas anderem. Die Sache, den Gegenstand, erkennt man erst, wenn man ihre Prinzipien kennt und umgekehrt. D.h., ein Prinzip lässt sich weder durch andere Prinzipien erkennen, noch übt es die Funktion eines Beweises (hinsichtlich der zu erforschenden Sache) aus. Fragen wir nach einer Sache, dann muss uns die Sache schon irgendwie, wenn auch noch begrifflich unbestimmt, bekannt sein. Deshalb setzt die Prinzipienlehre des Aristoteles voraus, „daß sich alles Forschen und Lernen immer schon auf Vorkenntnisse muß stützen können“10. Das ist die Ausgangssituation jedes Forschungsbemühens. Wo fangen wir bei der Architektur an, und wie begründen wir unser Anfangen? Was sind unsere Voraussetzungen oder Vorkenntnisse? Wie reden wir vernünftig über Architektur innerhalb einer empirischen Wissenschaft, die sich mit praktischen architekturnahen Lebenssituationen beschäftigen will? Was heißt hier „Empirie, empirisch“? Der Aufbau einer jeden Wissenschaft ist – im Gegensatz zum praktischen Umgang mit benötigten Lebensmitteln – eine willkürliche Konstruktion. Von Paul Lorenzen stammt die Aussage, dass das Leben und die denkerische Auseinandersetzung damit nur in einem bestimmten Verhältnis stehen können: „Alles Denken ist eine Hochstilisierung dessen, was man im praktischen Leben immer schon tut.“11 Was bedeutet dieses Diktum für die Ausgangssituation und den Aufbau der Architekturtheorie? Unter Anfang verstehen wir eine Grundlegung, hinter die nicht weiter gefragt werden kann, um nach einem finalen Argument zu suchen. Ausgangspunkt oder eine „erste Einsicht“ können weder eine Theorie noch eine Wissenschaft sein, die nur durch eine weitere Theorie begründet eingeführt werden könnten. Man meint vielleicht, mit der Festlegung von formalen Richtlinien (Axiome, Gesetze, Definitionen) eine anfängliche Leere der Architekturtheorie füllen zu sollen, um nicht „bei null“ und voraussetzungslos beginnen zu müssen. Wenn wir auch dies nicht wollen, bleibt das Problem der Begründung einer Theorie vom architektonischen Verhalten und Handeln, ohne dabei auf schon methodisch gewonnene Konstruktionen einer Wissenschaft zurückzugreifen. Auch dieser Vorschlag ist nicht akzeptabel, denn er wäre kein Anfang in unserem Sinne. Wir werden stattdessen damit zu beginnen haben, was

10 A.a.O., S. 54. 11 P. Lorenzen: Methodisches Denken, S. 26.

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selbst keiner Begründung bedarf, was vielmehr auf einer unmittelbaren Erfahrung beruht, die als Einsicht eine praktische Erkenntnis für diejenigen bedeutet, die die Einsicht eigenständig nachvollziehen können und entsprechend handeln. Darunter ist keine unvermittelte intuitive Eingebung verstanden, sondern Einsicht aufgrund von „Jedermanns“ Lebenserfahrung.12 Statt einer Leere oder „Voraussetzungslosigkeit“ finden wir immer schon praktisch-vernünftige Umgangsweisen mit dem Wohnen, Entwerfen, Bauen. Sich an Einsichten in seinem Tun orientieren ist klug und vernünftig. Einsichten, die einen vortheoretischen Anfang für eine Architekturwissenschaft darstellen, finden wir im lebensweltlich Vertrauten und Selbstverständlichen, in den pragmatisch immer schon verfolgten Orientierungen, das Leben auch wohnend, entwerfend und bauend führen zu müssen, insofern sich darüber vernünftig reden lässt und eine entsprechende „Technik“ beherrscht wird.13 Einsichten widerfahren uns, sie lassen sich weder theoretisch noch „methodisch sicher“ herbeiführen wie Beweise. Auch wenn wir als Wissenschaftler das Prinzip der Sache „Architektur“ als solches noch nicht wissen, deswegen fragen wir ja danach, zugleich aber alles Wissen etwas voraussetzen muss, so machen wir davon Gebrauch, dass es schon ein alltagsweltliches Vertrautsein mit der Sache gibt. Schließlich wohnt, entwirft und baut der sesshaft gewordene Mensch „schon immer“. Diese praktisch-

12 Husserls Auslegung von Einsicht als „apodiktische Evidenz“ ist „insofern nicht isoliert und willkürlich, als auch im nicht-terminologischen Gebrauch von ‹E(insicht)› sehr oft ein Erfassen von Wesensnotwendigkeiten oder doch ein Durchschauen von Strukturen, ein Durchblick durch das Ganze eines Zusammenhangs, vor allem auch eines Sinn- und Zweckzusammenhangs, gemeint ist.“ W. Halbfass: [Artikel] Einsicht, einsichtig. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Vgl. auch W. Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 95. Thomas Rentsch spricht von den „‘lebensweltlichen Evidenzen‘ – d.h. de(n) Erfahrungen, die wir in und mit unserem Leben machen“, in: T. Rentsch: Konstitution der Moralität, S. 64. 13 Vgl. auch Jürgen Mittelstraß: Gibt es eine Letztbegründung? „Maßgebend für die Ausarbeitung eines lebensweltlichen Aprioris in theoretischen Zusammenhängen ist allein die Einsicht, daß unsere (wissenschaftstheoretischen, A.H.) Konstruktionen, wenn sie nicht im Sinne eines Anfangs inmitten komplexer Theoriesprachen mißverstanden werden sollen, auf Orientierungen und Formen des Könnens basieren, die durch diese Konstruktionen selbst nicht begründet werden können.“ In: J. Mittelstraß: Der Flug der Eule, S. 302. In diesem Text weist Mittelstraß auch auf Aristoteles und auf das „induktive“ Verfahren der Epagoge hin, das unter anderem auch den „Rückgriff auf vor-theoretische Orientierungen“ vorsehe (ebd., S. 293).

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pragmatische oder vorwissenschaftliche Bekanntschaft und Kenntnis von der Sache in ihrer lebensnahen Angemessenheit ist die Ausgangssituation unserer Methodologie. Sie liegen nicht einfach vor, sondern müssen explorativ aufgespürt und methodisch eingeholt werden. Dieses „könnende“ Wissen aus einer Vertrautheit mit der Sache ist nicht das Wissen, das die Architekturtheorie als ihre Erkenntnis anstrebt. Dennoch muss davon der Ausgang genommen werden, da die praktischen Redehandlungen von Wohnenden und Entwerfern der Wissenschaft in gewisser Weise den Weg zu den Sachen zeigen, und gleichzeitig arbeitet ein solches Vorgehen bewusst gegen die Lebensweltvergessenheit der Theoriebildung. Die impliziten und latenten Voraussetzungen der Erfahrung der Güte einer Sache kann keine Erfahrung selbst hervorbringen und ausdrücklich machen.14 Zum anderen bleibt jede Erfahrung an die konkrete Lebenssituation desjenigen gebunden, der sie macht. Erst wenn im Vergleich sich ein Allgemeines innerhalb der Erfahrungen selbst aufweisen lässt, kann die Befangenheit, in die das einzelne Erfahrungsleben notwendig verstrickt ist, überwunden werden. An ihre Stelle setzt dann die Transsubjektivität der Wissenschaft ein. Hugo Dingler stand vor einem ähnlichen Problem, als er „sein Anfangen“ suchte. Er schreibt: „Wir sagten schon, daß der ‚Anfang’ nicht in einer Behauptung bestehen dürfe, an der irgendwie gezweifelt werden kann. Wir sind uns klar, daß er aber auch irgendwie in ‚Sprechen’ bestehen muß, also eine A u s s ag e bilden wird.“15 Damit ist einem Beginnen der Weg über einen primären evidenten Denkakt und ein Anrufen „ewiger“ Ideen verstellt, stattdessen wird die Aufmerksamkeit auf die Alltagssprache und die Praxis des Sprechens gelenkt.16 Was dem Bewusstsein gegeben ist, kann nicht sprachfrei sein. Die Welt, in der wir Menschen handeln und wirken, einschließlich der Sachen, mit denen wir dabei Umgang haben, sind uns bereits sprachlich erschlossen. Dabei werden die le-

14 Von „Güte“ kann gesprochen werden, insofern Erfahrungen auch Einsichten hinterlassen, ob und wie eine Sache den auf sie gerichteten „Erwartungen“ entspricht. „Die Erfahrung ist von Anfang an auf die Sache gerichtet. Aber sie lernt ständig aus sich selber. Was sie lernt, ist die Angemessenheit, die sie in ständiger Bemühung um die Sache aus der Sache gewinnt. […] Die wachsende Fertigkeit der Angemessenheit offenbar zu machen, kann die natürliche Erfahrung nicht aus sich selbst leisten.“ W. Szilasi: Phantasie und Erkenntnis, S. 31. 15 H. Dingler: Die Ergreifung des Wirklichen, S. 14. Zu Dingler vgl. P. Janich: Handwerk und Mundwerk, sowie J. Wernecke: Dinglers ‚Prinzip der pragmatischen Ordnung‘ in einem handlungstheoretischen Kontext. 16 Vgl. zur Ablösung der traditionellen Erkenntniskritik durch Sprachkritik G. Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie.

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bensweltliche Praxis und ihre Verständigungsprinzipien von der Alltagssprache sowie den konkreten kontingenten Umständen, die jede Verstehens-Situation begleiten, gewissermaßen begrenzt. Die Möglichkeiten ebenso die Grenzen und Horizonte der Umgangssprache und der Lebenssituationen aufzuzeigen und kritisch zu prüfen, ist Aufgabe der Architekturtheorie. Sie geht aus vom lebensweltlichen „Zeigen“ der Dinge und prüft, warum die Dinge „so gezeigt“ werden und was sie daraufhin „sind“. Erfahrungen und Prinzipien sind notwendige Orientierungskompetenzen von „Jedermann“ (Wilhelm Kamlah), die diesseits der jeweiligen Lebensgeschichte ihrem individuellen Träger zuwachsen bzw. zugewachsen sind. Damit verzichten wir auf jede wissenschaftliche „Letztbegründung“ der Architekturtheorie und finden unseren Startpunkt in einem lebensweltlichen Apriori – eben in Jedermanns Erfahrungen. Dahinter lässt sich sinnvollerweise nicht mehr zurückfragen. Allenfalls und immerhin können Geschichten erzählt werden, die dann den Gang der jeweiligen Erfahrung mit Architektur, das „zu-Einsichten-kommen“ eines Menschen, sprachlich nachvollziehen. Darüber hinaus deutet unser Umgangssprechen vieles nur an, ohne es innerhalb der Situation des gelegentlichen Sprechens und Meinens explizit machen zu müssen. Neben dem Reden gibt es weitere außerwissenschaftliche Vergegenwärtigungen von Einsichten und Erfahrungen in Alltag, Literatur und Kunst mit den ihnen eigenen Darstellungsformen.17 Und ebenso das Vertrautsein mit einer Sache, was es z.B. mit dem Wohnen in dieser Stadt auf sich hat, lässt sich auf verschiedene Weise „wissen“18, z.B. in der Wahrnehmung, im Erinnern, im Meinen, im Vorstellen. Wenn wir nur über die Erfahrungen und gelebten Prinzipien zur Sache selbst vorstoßen können, dann ist nicht zu erwarten, dass der am Ende gewonnene „Begriff“ von der Sache in einer allgemeinen Definition münden kann. Vielmehr werden wir der Breite und Mannigfaltigkeit des Erfahrungslebens auch in unserer begrifflichen Klärung entsprechend Raum lassen müssen. Die Architektur an sich werden wir niemals zu Gesicht bekommen. Dennoch ist eine Erkenntnis der Sache in ihrer Vielgestaltigkeit möglich, wenn methodologisch darauf reagiert wird, dass wir Menschen der Architektur immer wieder unter neuen Umständen auch anders begegnen.

17 Vgl. G. Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. 18 Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Schriften 1, § 150: „Die Grammatik des Wortes ‚wissen‘ ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte ‚können‘, ‚imstande sein‘. Aber auch eng verwandt der des Wortes ‚verstehen‘. (Eine Technik ‚beherrschen‘.)“

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Einsichten in Orientierungsverhältnisse betreffen leibliche Erlebnisse und ursprüngliche Erfahrungen „mit“ Grundsituationen19 sowie Sachverhalte („Tatbestände“), denen sich der Mensch in seiner Welt bewusst und kontinuierlich konfrontiert sieht, die ihm als solche widerfahren. Einsichten können umgangssprachlich kommuniziert werden. Ein Beispiel: „Ich wohne seit zwei Jahren in einem Neu-Baugebiet am Stadtrand von Dresden. Aber ich werde bald umziehen. Hier fühle ich mich nicht mehr wohl. Früher haben die Architekten anders gebaut. Ich werde mir etwas Besseres suchen, am liebsten einen Altbau in Zentrumsnähe. Irgendwo muss man ja schließlich bleiben!“

Diese Sätze sind geradewegs verständlich. Sie machen unmittelbar Gebrauch von Prinzipien einer pragmatischen Lebensführung, ohne sie als solche gesondert hervorheben und herausstellen zu müssen. Zur Grundsituation des Wohnens20 und Umziehens („Wanderns“) gehören stets auch bestimmte „Grundfähigkeiten“ (Hugo Dingler) wie planen, Koffer ein- und auspacken, mit Architekten und Vermietern verhandeln, Möbel aufstellen usw., die beherrscht werden müssen, um das Leben entwerfend und wohnend führen zu können. Mit jedem Handeln verfügen wir auch schon über die Grundfähigkeit „zu unterscheiden“, nämlich an Beispielen des „passenden“ und Gegenbeispielen des nicht oder nicht mehr „passenden“ Wohnens. Mit „Prinzipien vertraut sein“ zeigt sich dann auch in einem Sich-verstehen auf den unproblematischen alltäglichen Gebrauch, den man von etwas, z.B. der Architektur und ihren Elementen, machen kann.21 Der Weg von der Erfahrung zur Erwartung läuft über den Entwurf. Allein die Praxisform Entwerfen, so sieht es heute aus, hat sich institutionell mit dem Durchsetzen des architektonischen Betriebs derart ausdifferenziert, dass sich ihre Begründungen von der ursprünglichen Einheit mit dem Wohnen und Bauen emanzipieren konnten. Gleichwohl ist allein das Entwerfen der gestaltende Vorausblick auf sinnvolle Möglichkeiten, der den Menschen erst zu einem ge-

19 Vgl. Thomas Rentsch: „Wir sind die Subjekte der Auslegung unserer Grundsituation“, in, T. Rentsch: Konstitution der Moralität, S. 63. 20 Vgl. dazu A. Hahn: Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens, in diesem Buch S. 45-64. 21 So haben z.B. die Bewohner der schwedischen Schärenküste das Prinzip Brücke verstanden, als sie immer wieder neue Bauwerke konstruierten, um sich einen bequemen Zugang zum Meer zu ermöglichen. Zum gekonnten Umgang mit dem Prinzip gehört die konkrete Auslegung der Angemessenheit des Gebauten an menschliche Bedürftigkeit und landschaftliche Gegebenheiten. Vgl. L. Lerup: Das Unfertige bauen.

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schichtlichen Wesen macht. Aber ebenso wie das Haus als Gerüst zu deuten ist, muss auch die Welt, in der das architektonische Verhalten betrieben wird, als ein Gefüge, das die menschlichen Verhaltensweisen „trägt“, verstanden werden. Die mythische Erfahrungswelt gibt davon Kenntnis. Der Mythos und später die philosophischen Großgeschichten entwerfen sinnreich das Fundament und den Horizont unserer Welt, indem sie die gelebten Entwürfe auf ihre Kernbestandteile hin auslegen, und wir alle stützen unbewusst Fundament und Bau unserer Welt, indem wir unser Leben in diese einpassen.22 Horizontbildung ist etwas Alltägliches, ein „Urphänomen“, das ganzheitlich antizipiert wird. „In aller Alltäglichkeit nämlich praktizieren wir die horizontbildenden Sinnentwürfe, die einst mythisch, metaphysisch bzw. transzendentalphilosophisch vergegenwärtigt wurden“23. Das Entwerfen ist als ein elementarer Zug unseres Orientierungs- und Transzendenzbedürfnisses aufzufassen. Der architektonische Entwurf hat diese unsere Gegenwart überschreitende Entwurfspraxis in sich aufzunehmen. Die in diesem Buch versammelten Aufsätze beziehen ihre Beweggründe und Fragehaltung nicht aus dem akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb, sondern empfangen sie von außerwissenschaftlichen und vortheoretischen Anregungen. Auch für die diskursive Praxis des bildungssprachlichen Redens der Architekturkritik über Wohnen, Entwerfen, Bauen benötigen wir Orientierungsverhältnisse, in denen sich kritisch und nicht überheblich mit den lebensweltlichen Erfahrungen einer gelebten Baukultur auseinandergesetzt wird. Lebensweltliche Vernunft und wissenschaftliche Erkenntnis stehen in keinem Ableitungs- sondern in einem Ergänzungsverhältnis zueinander. Husserl hat die phänomenologische Methode in der Lebenswelt fundiert. Diese ist der primäre Bereich, in der sie ansetzen soll. Ausgangspunkt ist das mundane Ich, die Subjektivität in der Welt, die durch verschiedene Reduktionsschritte zur transzendentalen Subjektivität verfolgt werden soll. Begonnen wird mit der Intentionalität, bei der die Komponenten sinnliche Empfindung und geistige Zuwendung unterschieden werden. Damit wird das Wahrnehmungserlebnis in eine passive und eine aktive Stufe unterteilt. „Passivität ist immer unterste Stufe einer Aktivität, die ihrerseits wiederum als Passivität eine höherstufige Aktivität fungieren kann; Passivität birgt also in sich oder ist vielmehr selbst ihrem Wesen nach immer Möglichkeit, der gegenüber die jeweilige Aktivität als Aktualität fungiert.“24 Vor diesem Hinter-

22 Vgl. zu dieser gesamten Thematik A. Hahn: Fragen des Transzendenten in der Architektur, in diesem Buch S. 65-83. 23 T. Rentsch: Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht. 24 A. Diemer: Edmund Husserl. Versuch einer systematischen Darstellung seiner Phänomenologie, S. 47.

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grund lässt sich auch die Erfahrung fassen, insofern sie als passives oder rezeptives Moment die Einsicht und als aktives oder progressives Moment die Reflexion beinhaltet. „Empirie“ soll dabei konsequent als Erfahrung im oben erläuterten Verständnis ausgelegt werden. Wer Erfahrungen mit der Sache der Architektur gemacht hat, kann auch Gründe für ihr Passen oder Scheitern vorbringen.25 Wenn wir also in unserem Zusammenhang von „Erfahrung“ sprechen, dann muss uns klar sein, dass wir Erfahrungen nicht im wörtlichen Sinne „machen“, nämlich herstellen können. Erfahrungen stoßen uns zu, denn dieses „Machen“, so Otto F. Bollnow, „ist kein eigentliches Tun, vielmehr ein Machen-müssen, ein Erleiden, ein Ausgeliefertsein an die Widerwärtigkeiten des Lebens“26. Anders ausgedrückt: in der ursprünglichen Erfahrung geht es um den Umgang mit den Wirksamkeiten und Möglichkeiten der Welt. Der Mensch ist nicht souverän im „Gewinnen“ von Erfahrungen. Denn solches Wirken der Dinge habe nicht ich verursacht, indem ich sie etwa gezielt einer „Kraft“ aussetze, um anschließend die von mir veranlassten und verursachten Reaktionen an den Dingen in neutraler Haltung zu messen. Vielmehr eignet die Dinge (im Zusammenhang der Umwelt meines leiblichen Tuns und Lassens) eine eigene Kraft, auf mich zu wirken. Dieses Wirken kann ich nur „erleidend“ bzw. „leidenschaftlich“ hinnehmen.27 Auch wenn der moderne Mensch nicht mehr hinter seinen Leidenschaften, Befindlichkeiten und Stimmungen göttliche oder übersinnliche Kräfte weiß wie Menschen mit religiöser oder mythischer Welterfahrung, so bleiben dennoch unmittelbare Erlebnisse und Erfahrungen für ihn relevant: Wir erleben auch heute nicht souverän die Dinge der Welt als neutrale Objekte, sondern als emotional und stimmungsmäßig uns angehende Güter, eben als potentielle oder vermeintliche Lebensmittel, die uns Gutes oder Schlimmes bedeuten können. Das hat offensichtlich mit unserer Gebundenheit und Bedürftigkeit als in Situationen, Geschichten und ins leibliche Sprechen Verstrickte zu tun, eine Exposition, die wir rational nicht überspielen sollten. Unter dem Druck stehend, unser Leben in der Welt bei den Dingen führen zu müssen, sind wir auf die Dinge dieser Welt angewiesen. Deshalb begegnen sie uns stets auch als Widerfahrnisse, um so immer wieder aufs Neue zu erfahren, ob sie zu uns passen und uns fördern oder eben nicht. Diese gerichtete Aufmerksamkeit auf die Dinge als Güter und Lebensmittel bringen wir grundsätzlich jedem Kulturgut, auch der Architektur und allem

25 Vgl. dazu auch A. Hahn: Suburbane Räume ‚als‘ Lebensräume - Das Beispiel eines hermeneutischen Zugangs zum Raumphänomen, in diesem Buch S. 223-240. 26 Otto F. Bollnow: Philosophie der Erkenntnis, S. 131. 27 Vgl. dazu A. Hahn: Atmosphären entwerfen? Zur Hermeneutik des Erlebnisses von Landschaftlichkeit, in diesem Buch S. 187-198.

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Gebauten gegenüber auf. Freilich nicht, wenn wir als Kunstrichter und Architekturkritiker in den lebensfernen und außerleiblichen Modus des puren Betrachtens von Objekten übergewechselt sind. Für den Aufbau unserer Architekturtheorie suchen wir also den Zusammenhang, in den sich sowohl theoretische als auch vor-theoretische bzw. lebensweltliche Orientierungen stellen lassen.28 Architekturtheorie als Erfahrungswissenschaft sieht sich mit ihrem Erkenntnisinteresse hineingestellt in die schon immer geschehende Selbstauslegung des menschlichen Daseins in seinen Situationen. Wenn das so ist, dann dürfen wir mit einem Erfahrungs-„Wissen“ beginnen, insofern diese Erfahrungen Prinzipien lebensweltlicher Orientierung sind, die als eine Begründungsbasis einer empirischen Wissenschaft gelten können. Jede Daseinsauslegung geht von ursprünglichen Erfahrungen aus, dass das Leben in der sprachlich erschlossenen Welt geführt werden muss, und zielt auf das Verstehen seiner Bedeutung aufgrund gemachter und immer wieder neuer Erfahrung. Die Bedeutung der Lebenserfahrung für unsere Weltorientierung wird erlebbar und verständlich in der „vernünftigen“ Rede. Vernünftiges Reden ist begründendes Reden.29 Architekturtheorie versteht sich in der Blicknahme der Einheit der Praxisformen Wohnen, (tektonisch-konstruktives und gestaltendes) Entwerfen sowie Bauen. Diese praktische Welt, die das einigende Thema der Aufsätze dieses Buches ist, ist nicht aus lauter Bauwerken zu einer mit Architekturen ausgestatteten Objektwelt zusammengesetzt, die sich als solche wahrnehmen und betrachten lässt. Praxisformen haben ihre eigene Situationslogik, insofern „in“ ihnen Menschen sich kommunikativ verständigen und vertrauten Gegenständen in ihrer Umgebung begegnen. Zunächst einmal haben wir gelernt, Praxisformen zu unterscheiden. Dafür sind Handlungen und Redehandlungen zusammen gegangen. Z.B. ist die Situation des Bauherrn eine andere als die des Entwerfers.30 Was sind das für Praxisfelder, die sich die Architekturtheorie erschließen muss? Das situative Reden über Architektur im weiten Sinne erhält einen gewissen Rahmen des Selbstverständlichen und Erwartbaren durch das, was ich „Institution Architektur“ oder den „architektonischen Betrieb“ nennen möchte. In diese Institution sind alle mehr oder weniger hineinsozialisiert, die die Praxisformen Wohnen, Entwerfen, Bauen beherrschen. Die jeweiligen Zusammenhänge des Wissens und Könnens, in denen konkret praktisch agiert wird, müssen also als

28 Vgl. J. Mittelstraß: Das lebensweltliche Apriori, S. 114. 29 Vgl. auch A. Hahn: Entwerfen, Planen und Entscheiden, in diesem Buch S. 161-186. 30 Vgl. auch A. Hahn: Das Entwerfen als wissenschaftliches Handeln der besonderen Art, in diesem Buch S. 127-141.

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eine Art Primärsituation beachtet und methodisch berücksichtigt werden. Was ich von einem Anderen will, was ich begehre, kann ich nur in Form der verständlichen Rede vorbringen. Eingebettet in grundlegende Praxisformen orientieren wir uns und gestalten unsere Welt vor allem in Redesituationen: •

• • • •



Studierende der Architektur, die selbst Wohnende sind und ihre Wohn- und Architekturerfahrungen ins Studium einbringen, werden von erfahrenen Architekten, die ebenfalls Wohnerfahrungen im Rücken haben, „im Entwerfen“ geschult. Architekten besprechen mit ihren Bauherren die Bauaufgabe und die dafür gefundene Lösung. Bewohner unterhalten sich über den Nutzen eines Fensters, das sich nicht öffnen lässt. Städter artikulieren ihr Missfallen, das sie einem Neubau in ihrer Nachbarschaft gegenüber empfinden. Professionelle Architekturbeobachter ordnen ein gerade fertig gewordenes Bauwerk in die Disziplin bildungssprachlich ein und andere lesen diese Kritik im Feuilleton einer Zeitung. Usw.

Wir haben es also innerhalb von unterscheidbaren Praxisformen mit Verständigungs-Situationen zu tun, in denen Einer etwas „sagt“ oder sonst wie etwas zum Ausdruck bringt, was ein Anderer nachvollziehen kann. Mit jedem Wort, mit jeder Geste ist etwas gemeint, das jemanden betrifft, das er daraufhin aufnimmt und so versucht, ihm zu entsprechen. Es verhält sich hier ähnlich wie bei einem Tennismatch: Der Aufschlag des einen Spielers wird durch den Return des Gegenspielers beantwortet. Der Return ist aber selbst wieder ein aggressiver Ball, der jetzt dem Aufschläger widerfährt und den dieser eigenständig – auf seine Weise – retournieren muss. Beide Spieler bewegen sich aber zwingend innerhalb eines Regelwerks, dessen Spielraum sie kreativ ausnutzen können. • • • •

Der Student entspricht dem Vorschlag des Lehrers und überarbeitet seinen Entwurf. Bauherren lassen sich durch die Ausführungen des Architekten überzeugen und stimmen der vorgelegten Planung zu. Bewohner beraten sich und beschließen, einen offenen Brief zu verfassen, mit dem sie eine geplante Bebauung verhindern wollen. Der Kritiker bejubelt in seiner Besprechung ein eben errichtetes Bauwerk zum Jahrhundertereignis.

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Leser „verzweifeln“ an der Bildungssprache des Architekturfeuilletons, da es sich von „ihrem“ gewohnten alltäglichen Sprechen weit entfernt hat. Usw.

Damit sei ein erster, freilich noch unzureichender Überblick über lebenspraktische Situationen gegeben, denen die Forschung nachgehen kann, indem sie dem internen Sinngehalt nachspürt. Die folgenden Aufsätze haben in der Regel entsprechende Situationen des Wohnens, Entwerfens und Bauens zum Anlass gehabt, wobei primär nicht eine (z.B. ästhetische) Kritik angestrebt wurde, sondern die Aufdeckung des immanenten Logos der Praxis. Alle Beiträge verstehen sich als „Zuarbeiten“ zu einer erst noch vorzulegenden Wissenschaftstheorie der Architektur. Die in diesem Band versammelten Arbeiten sind seit meiner Übernahme der Professur für Architekturtheorie und Architekturkritik an der Technischen Universität Dresden im Jahre 2001 entstanden. Ich habe sie unter drei Überschriften geordnet: Wohnen als menschliche Grundsituation (A), Das Entwerfen des Architekten zwischen Einbildungskraft und Verantwortung (B) und Landschaft als Umwelt des Bauens (C).

A Wohnen als menschliche Grundsituation

Ausdruck und Gebrauch Vorüberlegungen zu einem ästhetisch-pragmatischen Architekturverständnis

W ISSENSCHAFTLICHES UND I NTERPRETATIONSSYSTEM

LEBENSWELTLICHES

Bekanntlich ist der theoretische Zugang zum Bauen und Wohnen nicht der einzig mögliche. Das Erklären architektonischer Zusammenhänge mittels definitiver Begrifflichkeit ist nur ein Interpretationssystem, das uns Menschen zur Verfügung steht. Es gibt daneben oder richtiger: davor ein Wissen, Kennen und Verstehen der Welt des Wohnens und Bauens, das sich aus unserer Lebenserfahrung speist. Und das Können aus Erfahrung ist viel älter als das spätere theoretische Wissen, das wir aus Deduktionen und Verallgemeinerungen gewinnen1. Erst wenn die Praxis nicht mehr weiter weiß, insofern der akute Problemfall nicht in der Verlängerung der bekannten Fälle gelöst werden kann, bedarf es der Unterbrechung des Tuns, um so, aus einer künstlich geschaffenen Distanz heraus, das Besondere vom Allgemeinen zu scheiden. Phänomenologie und Pragmatismus, zwei im 20. Jh. sich ausbreitende philosophische Interpretationssysteme, haben sich mit dem Status der vortheoretischen und außerwissenschaftlichen Lebenserfahrung intensiv auseinandergesetzt. Beide gehen vom Primat der Praxis aus, insofern sie davon überzeugt sind, dass jedes theoretische System auf lebensweltlichen Gewissheiten und Überzeugungen aufruht, die selbst nicht beweisbar sind, noch einer allgemeinen Regel unterliegen. Weder lassen sich Theorie und Praxis zur Deckung bringen, noch strebt unser praktisches Können danach, in ein theoretisches System integriert zu werden. Das Ziel unseres praktischen Wissens ist 1

Vgl. den Begriff „Könnensbewusstsein“ bei C. Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen.

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nicht Erkenntnis oder Theorie, sondern die Situation, in deren Lösung man gerade verstrickt ist, gut und gekonnt zu bewältigen. Für den Zusammenhang, den ich unter der Überschrift „Ausdruck und Gebrauch“ herstellen möchte, und die Einsichten, die sich möglicherweise daraus ergeben mögen, ist es wichtig herauszustellen, dass die Wiedereingliederung des praktischen Wissens in unser allgemeines Weltkennen nicht nur ein spezifisches Licht auf unser Verständnis unserer Welt sondern auch auf unser Verständnis von Architektur wirft. Wir müssen dann jedoch dafür sorgen, dass das Erfahrungswissen der Menschen, die praktisch mit Architektur umgehen, von der Architektur- und Wohnforschung zur Kenntnis genommen wird, damit schließlich unsere theoretischen Ansichten geschärft und möglicherweise revidiert werden können. Deshalb ist es notwendig, schon mal in Tuchfühlung mit den Nutzern von Architektur zu gehen. Erst der Gebrauch zeigt ja, ob die intendierte, entwurflich skizzierte und baulich umgesetzte allgemeine Nützlichkeit auch tatsächlich Jemandem von Nutzen ist. Auf diese konkreten Antworten sich einzulassen, ist nicht nur ein zeitaufwendiges Problem sondern vor allem ein methodisches. Die qualitative empirische Sozialforschung hat rekonstruktive Verfahren entwickelt, wie es gelingen kann, die Konzeptionen der vortheoretischen Lebensbewältigung zu erschließen, um so menschliches Tun und Lassen in ihren Absichten, Zielen und Erfahrungen verständlich zu machen. Die Theorie bekommt dann auch die Aufgabe, die Praxis über ihre Antizipationen und Vorurteile aufzuklären. Was im praktischen Tun und Lassen aus guten Gründen unanschaulich bleibt, dies kann der theoretisch und methodisch geleitete Zugang zur Lebenswelt anschaulich machen. Nichts wäre unsensibler, als sich einzureden, das lebensweltliche Weltdeuten könnte auf Begriffe verzichten. Praktische Konzeptionen nenne ich die alltagsweltlichen Begriffe, unter deren Gebrauch sich die Menschen in ihrer und über ihre Welt verständigen. Dies gilt selbstverständlich auch für Konzeptionen des Schönen, Guten und Nützlichen. Um andere über den Gebrauch und die Bedeutung einer praktischen Konzeption aufzuklären, z.B. anschaulich zu machen, auf was es einem beim Hausbau und Wohnen ankommt, folgt der Alltagsverstand keiner logisch-begrifflichen Konstruktion, vielmehr wird ein Beispiel herangezogen oder eine Geschichte erzählt, um so den anderen in eine praktische Situation zu versetzen, als deren Überschrift die gesuchte Konzeption fungiert. Um jemandem zu vergegenwärtigen, wie man z.B. dieses Haus bewohnt und seine Gestalt versteht, werden Wohngeschichten erzählt, d.h. Begebenheiten oder Episoden des Wohnens, die einem passiert sind. Ich werde

A USDRUCK UND G EBRAUCH

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in meinem Artikel nicht weiter auf Methodologie und Ertrag der empirischen Wohnforschung eingehen2. Zwar ist man als Theoretiker verpflichtet, sich in interesseloser Absicht betrachtend mit den Phänomenen der Welt auseinander zu setzen. Nichts anderes tut man denn auch, wenn man am Schreibtisch über die Welt des Wohnens und Bauens nachdenkt. Aber – man muss sich dennoch immer wieder darüber klar werden, dass die kontemplative Haltung niemals die ist, aus der heraus Ausdruck und Gebrauch umgangsweltlich bedeutsam werden. Vielmehr sind Ausdruck und Gebrauch auf der lebensweltlichen Ebene mit dem komplexen Reichtum des sozialen Handelns (Max Weber) verknüpft. Ausdruck und Gebrauch dienen der Orientierung. Wir müssen die „Wahrnehmung“ von Architektur aus ihrer Funktion im Lebens- und Wohnzusammenhang verstehen. Im Kontext des alltäglichen Verhaltens kommt eine ästhetische Wahrnehmung gar nicht zur Anschauung – jedenfalls nicht im Sinne einer ungestörten Betrachtung des Geschauten. Der in seinem Tun unterbrochene, besser noch: aufgehaltene Alltagsmensch antwortet auf den Sinneseindruck schließlich mit einer Gegenwirkung. Zunächst tritt das aus der alltäglichen Routine gerissene Leben vor dieser Wahrnehmung mit einer Plötzlichkeit und Haltlosigkeit zurück, um doch wieder nach vorne zu treten, sobald es sinnvoll zu antworten weiß. Ich glaube deshalb: Nur von dieser Antwort her, in der die „gemachte“ ästhetische Erfahrung ihre Wirkung zeigt, kommen wir empirisch dem Phänomen des Ausdrucks auf die Spur. Im Folgenden möchte ich meine Sicht auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt und Umwelt geben, aus der heraus ich das Bauen und Wohnen verstehe. Da unsere Lebensumwelt immer schon durch die uns gedeutete Wirklichkeit ist, frage ich anschließend nach den besonderen Wahrnehmungs- und Umgangsweisen des Menschen, die ich an den Beispielen von Ausdruck und Gebrauch erläutere. Wie kann auf dieses Wirklichkeitsverständnis wissenschaftlichmethodisch reagiert werden? Ich schlage dann vor, einer pragmatisch- ästhetischen Architekturauffassung zu folgen, da sie vorläufig am besten geeignet erscheint, Ausdruck und Gebrauch in der Perspektive der Nutzer von Architektur zu problematisieren. Am Ende versuche ich eine Verdichtung meiner Thesen und gebe einen gewiss noch nicht befriedigenden Ausblick, was aus diesem Verständnis von Architektur forschungspraktisch gefolgert werden könnte.

2

Vgl. dazu A. Hahn: Wohnen als Erfahrung.

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M ENSCH

UND

U MWELT

Ich möchte zunächst einige Antizipationen klären, deren Setzung mir nützlich erscheinen, um einen bestimmten Blick auf die Welt der Architektur zu werfen. Wenn ich von Architektur rede, dann besinne ich mich auf zwei menschliche Daseinsfelder und Verhaltensweisen, die für mich untrennbar miteinander verbunden sind: wohnen und bauen. Wir wohnen jedoch nicht, um zu bauen. Vielmehr bauen wir, weil wir wohnen. Das Wohnen erfüllt eine menschliche Bedürftigkeit. Es ist die vorzügliche Art des Menschen, sich in der Welt zu halten. Bedeutungsgenetisch impliziert das Wort Wohnen eine Haltung wie: Bleiben wollen und Zufrieden sein. Diesem Wohnen im weitesten Sinne dient das Bauen. Unser Entwerfen und unser Bauen sind deshalb immer auch ein Zeigen von Lösungen für dieses Wohnen. Dabei ging und geht es niemals nur um technische Leistungen und Ergebnisse. Den Wohnenden interessiert vielmehr die konkrete Lösung, die gefunden wurde, wie sich das eigene Wohnen hinsichtlich auch des Ausdrücklichmachens von Wohnweisen und Lebensstilen praktizieren lässt. Der Ausdruck eines Gebäudes ist gleichsam ein Versprechen auf seinen Gebrauch und die Lebensführung des Bauherrn. Hier liegt möglicherweise der noch nicht gesichtete Kern unserer Enttäuschungen über das Bauen, die wir zwar verspüren, über deren inneren Zusammenhang mit unseren Erwartungen an Ausdruck und Gebrauch von Architektur wir jedoch so gut wie nichts wissen, da diese Erwartungen und Hoffnungen selbst oftmals im Dunkeln liegen. Neben diesem historischen Befund gibt es den existenziellen: Wohnen und Bauen sind untrennbar mit der Situation des Menschen verknüpft, wie sie die philosophische Anthropologie und Kultursoziologie immer wieder beschrieben haben. Der Mensch lebt nicht nur sein Leben, er muss sein Leben auch führen. Und er führt dieses sein Leben stets – er kann gar nicht anders – in Richtung auf eine Umwelt, ein Umfeld und eine Umgebung, die er hinnehmen muss. Die Aufnahme dieser Richtung geschieht dann als ein Einrichten in ..., ein Zurechtkommen mit ... und Fügigmachen von ... Die Umwelt ist nicht schon immer passend da für den wohnenden Menschen. Der Mensch baut, weil die Welt, in der er lebt, ihm als wohnlich-Gemachte nicht schon gegeben und ein für allemal erschlossen ist, sondern immer wieder neu gefunden werden muss. Dass wir Menschen überhaupt Welt haben, die wir unentwegt mit unseren Vorstellungen, Wünschen und Ideen „möblieren“, hat offensichtlich damit zu tun, dass wir fähig sind, unsere Umgebung zu deuten. Wenn, wie z.B. von Hans Blumenberg3, von der „Lesbarkeit der Welt“ gesprochen wird, dann doch in der

3

Vgl. H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt.

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Betonung, dass unsere Anschauungen nicht nur anschaulich sind, sondern auch sinnvoll. Deutungen der Umwelt sind niemals beliebig. Ein See bedeutet einem Schwimmer etwas anderes als einem Nichtschwimmer. Ein Bergsteiger betrachtet ein Alpenmassiv mit anderen Augen als ein Bauer. Es gibt niemals so etwas wie den See oder den Berg schlechthin. Das Bild, welches jeweils ein Architekt und ein Bewohner von einem Gebäude haben, ist streng bezogen auf ihre Welt, in deren Horizont sie ihr Leben führen. Der Mensch zwingt gleichsam die Dinge der Umwelt in seine schöpferische Perspektive. Im unbehauenen Holz und Stein zum ersten Mal ein Haus zu sehen, setzt große Schöpferkraft voraus. Es ist aber auch klar, dass zunächst das Lebensinteresse bestehen muss, dass uns provoziert, kreativ auf menschliche Bedürfnisse zu reagieren. Vor der Umarbeitung der Natur liegt die Ausdeutung der Wirklichkeit. Den Menschen zeichnet also aus, dass er seine Welt deutet. Dass ihm alles zur Bedeutung wird. Der Mensch sieht, hört, fühlt usw. nicht nur, sondern immer etwas! Er sieht eine Kirche, einen Baum, einen Freund. Er hört ein Auto, einen Vogel, die Mutter. Er fühlt Holz, Stein, das Fell eines Tieres oder menschliche Haut. Der Mensch nimmt nicht nur wahr, nicht nur etwas (ein Ding schlechthin): sondern er nimmt etwas als etwas wahr. Ja, wir können noch einen Schritt weiter gehen, um die Einzigartigkeit der menschlichen Welt noch rätselhafter erscheinen zu lassen: das Holz, genauer betrachtet, ist eine afrikanische Schnitzerei, die eine Gottheit darstellt. Für den gläubigen Afrikaner ist sie die Gottheit. Der Vogel, aus der Nähe gesehen, ist ein Seeadler, der König der Lüfte, der vom Aussterben bedroht ist, und ein nationales Symbol der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Stein ist aus Granit, der, wie Goethe meinte, ältesten Gesteinsart überhaupt, und schmückt einen steinzeitalterlichen Grabhügel, den wir unter Denkmalschutz gestellt haben. Es ist die produktive Einbildungskraft, die uns befähigt, was zuvor für uns war wie Luft, schlicht uninteressant und ausdruckslos, mit einem Mal als etwas ungemein Bedeutsames aufzufassen und entsprechend damit umzugehen. Gewissermaßen schaffen wir die Wirkungen selbst, die von den Dingen ausgehen und entsprechende kulturelle Reaktionen auslösen und veranlassen. Darin sehen wir schon erste Ansatzpunkte, das Verhältnis von Ausdruck und Gebrauch lebensweltlich- pragmatisch zu deuten. Aristoteles hat den Menschen als das Lebewesen aufgefasst, das Sprache oder Logos hat, also zur Rede, zum Ausdruck, zur Kommunikation fähig ist. Der deutsche Philosoph Ernst Cassirer verstand den Menschen als animal symbolicum, als dasjenige Lebewesen, dem alles etwas Bedeutetes wird. Dies sind für uns ganz wichtige Bestimmungen. Denn sie reflektieren in ihrer eigenen Diktion und historischen Situation die Tatsache, dass der Mensch stets schon immer ein Verständnis seiner Welt und von allem, was in den Grenzen dieser Welt ist, be-

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sitzt. Der Mensch befindet sich immer schon inmitten seiner Mitmenschen und zwischen den Dingen und Gegenständen seiner Umwelt. Dies ist nicht eine irgendwie von außen gesehene Beschreibung uns im Grunde nichts weiter angehender Zustände. Vielmehr weiß sich jeder von uns schon immer als ein solcher Mensch, der seine Welt im naiven „belief“, wie die Pragmatisten sagen, bewohnt.

AUSDRUCK

UND

G EBRAUCH

Ausgehend von diesem Erfahrungswissen, dass unsere bewohnte Welt nicht nur sinnlich ist, sondern auch sinnvoll, möchte ich im Folgenden nach der Art und Weise fragen, wie der Mensch seine Welt und die Dinge, die sie ausfüllen, versteht. Ausdruck und Gebrauch helfen dabei, die Dinge der Welt in Griff zu bekommen. Dabei werde ich mich v.a. auf die Positionen dreier bedeutender Philosophen des 20. Jh. beziehen, die, obwohl selbst weder Phänomenologen noch Pragmatisten, der Haltung, man könne unsere Weltwissen durchgängig wissenschaftlich-exakt darstellen, mehr als skeptisch gegenüber standen. In der Vorstellung der Standpunkte möchte ich mehr die Breite und Aufgeschlossenheit ihres Denkens für das Ausdrucksphänomen aufzeigen, weniger die Positionen im Einzelnen diskutieren und gegeneinander abwägen. Architektur ist immer Architektur in einer Umwelt und Umgebung. Sie wird stets betrachtet mit Augen, die ihr Sehen geschult haben in einer bestimmten Zeit und Geschichte und an bestimmten Beispielen und Gegenbeispielen. Es gibt kein Betrachten von Architektur ohne einen Standpunkt, eine Perspektive. Die architektonisch gestaltete Umwelt und Umgebung ist eine kulturelle, eine Sinn ausdrückende Umwelt. Denn Ausdruck gehört zu Charakter und Gehalt unserer Umwelt, weil es der kulturellen „Hälfte“ des Menschen entspricht, in einer künstlich gestalteten Welt zu leben. Helmuth Plessner (1892-1985) hat von der „Hälftenhaftigkeit“ des Menschen gesprochen, der seine Naturhälfte durch kulturelle Aktivitäten ausgleicht. Zum Menschen, so wie wir ihn verstehen, gehört die Richtung seiner Aufmerksamkeit auf die „Gegenwelt“ einer gestalteten Umgebung. Eine Umwelt haben und das Gerichtetsein der menschlichen Intentionen auf eine Ausdruckswelt fallen zusammen. Richtung und Gerichtetsein bedeuten: wir verhalten uns bezogen auf etwas, reagieren auf etwas. Dieses Etwas ist die widerfahrene Umwelt. Es ist uns anschaulich gewiss, dass die Umwelt oder das, was uns im Überraschungsfeld der Welt widerfährt, sinnhaft und verständlich ist. Nicht dass es nicht oft auch Unverständliches gibt, dessen Sinn uns sich nicht oder erst durch Austausch von Gesichtspunkten erschließt: „Immer erwarten wir

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in dieser Daseinsschicht vom Anschaulichen selbst ohne Zeichensystem, ohne Sprache bedeutet zu werden und sind enttäuscht, wenn es nicht gelingt“4. Was kommt in dem Bildhaften des Angeschauten zum Ausdruck, was erfassen wir, wenn wir das Verhalten von Menschen zur Umwelt beobachten? Wir sehen Männer Steine aufeinander schichten und beobachten, dass unterschiedlich große Flächen freigehalten werden. Wir sehen Abfolgegestalten, die jedoch mehr als Gestalten sind. Es kommt darauf an, außer der Gestalt noch etwas Wesentliches zu fassen, nämlich den „Sinn“. Der Mensch hat die Fähigkeit in dem Verhalten eines anderen Menschen nicht nur seine Ganzheitlichkeit, sondern auch das Motiv in der Gestalt wahrzunehmen5. Wir sind uns sicher, ein Haus wird gebaut. Wir erkennen jetzt Außenwände und Fensteröffnungen. Uns fällt ein, es gibt einen Bauherrn und einen Architekten. All dies wird natürlich nicht gesehen. Vielmehr fügen wir diesen Sinn dem Sinneseindruck hinzu. Wir erschließen die Gestalt in Gänze erst dadurch, dass wir dem menschlichen Tun eine Motivation oder Richtung auf ein Ziel unterstellen. Nur so wird die Gestalt sinnvoll und bedeutend. Ein Handeln erschließt sich uns nur dann als ein sinnvolles Tun, wenn wir darin eine Absicht verstehen. Wenn wir also in jedem Ausdruck einen Sinn deuten, dann meint dies: „Gerichtetsein durch irgend etwas“. Das Handeln ist orientiert an einem Ziel, strebt seiner Vollendung zu. Helmuth Plessner hat diese Hinordnung von Aktivitäten zu einem Ganzen so ausgedrückt: „Wort und Geste meinen etwas, bringen unsere Aufmerksamkeit in eine Richtung, zielen auf etwas hin. Eine Maßnahme übt die gleiche Funktion aus, da sie auf einen Zweck zielt. Ein Zusammenhang lässt sich aus sich selber heraus verstehen, wenn in seinen Teilen ein Richtungszug waltet, in welchem sich die Geschlossenheit der Teile in einem Ganzen kundgibt“6. Dieser Sinn oder Richtungszug, der die Gestalt erst bedeutsam macht, ist selbst nicht gegenständlich gegeben. Auch ein Schild mit der Aufschrift „I’m a monument! Ich bin ein Monument“, das Robert Venturi als der Alltagsarchitektur angeheftet verstand, erteilt keine Auskunft darüber, was es soll. Nur wer schon im Bilde ist, kann diesem Bild (Schild) etwas abgewinnen. Es beendet also nicht unser Fragen, sondern heizt es erst richtig an, insofern wir den Witz der Veranstaltung verstehen wollen. Dieses Nicht-Gegenständliche des Motivs oder des Gerichtetseins „ist aber gegeben, trotzdem wir es, wenn wir scharf darauf achten, weder im Objekt noch im Subjekt der Beachtung unterbringen können“7. Das Bild oder der Ausdruck „nimmt“

4

H. Plessner: Die Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 159.

5

Vgl. a.a.O., S. 162.

6

A.a.O., S. 163.

7

Ebd.

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den Betrachter sozusagen „mit“. Geht der Ausdruck der Gestalt vom Objekt oder vom Subjekt aus? Weder noch: Das Motiv liegt nicht im Objekt, denn dem ist nichts Gegenständliches der Art nachzuweisen. Auch nicht dem Subjekt, denn dieses wird ja erst aufmerksam auf den Sinn in der Begegnung mit dem Geschauten. Wir sprechen deshalb besser von der Gegenseitigkeit von Ausdruck und Verständnis. Den Verstehensaspekt beim sprachlichen Ausdruck hat vor allem Georg Misch (1878-1965) aufgenommen. Misch war ein Schüler Wilhelm Diltheys und hat sich u.a. darum bemüht, zwischen der Lebensphilosophie seines Lehrers und Heideggers „Hermeneutik der Faktizität“ zu vermitteln. In seinen nachgelassenen Logik-Vorlesungen widmet er sich dem Thema der Logik. Für Misch gibt es sehr wohl eine Logik, die noch „vor“ der Aussagenlogik anzusiedeln ist: die Logik vom Ausdruck. Der Ausdruck, so stellt Misch fest, realisiert sich immer in einer Situation des Verstehens. Er ist die Antwort auf eine Verstehensdisposition. Was sich ausdrückt, wird verstanden. Georg Misch: „Verstehen ist die Weise, wie uns etwas im Ausdruck Gegebenes zugänglich ist“8. Misch versucht nun auf die Ebene zu gelangen, auf der man vom menschlichen Ausdruck in einem spezifischen Sinne sprechen kann: z.B. der Ausdruck von menschlichen Gebilden. Misch denkt hier an die darstellenden Künste. Aber auch an religiöse Gemeinschaften, die „Kulthandlungen und Symbole als Ausdrucksformen für die Darstellung und Mitteilung ihrer Geheimnisse“9 besitzen. Ganz pointiert fährt Misch fort: „Überall ist der Ausdruck die Form, in der das Leben leibhaftig, greifbar und Menschen einer Gemeinschaft verbindend da ist. Überall ist der Ausdruck für uns das Erste, wenn die Erkenntnis sich allgemein darauf richtet, verstehend in das vom Leben her Ausgedrückte, in den erlebbaren verständlichen Gehalt einzudringen“10. Das Leben und seine Gebilde müssen uns in ihrer Wirkung schon vortheoretisch ausdrücklich erfasst haben, bevor wir uns wissenschaftlich-analytisch überhaupt mit ihnen beschäftigen können. Uns ist nur möglich das zu erkennen, was uns zuvor in irgendeiner Weise ausdrücklich begegnet ist. Insofern Misch den Ausdruck etwas Geistiges nennt und nicht etwa etwas Gefühltes, will er alles uns in der Welt Bedeutsame auf ihren Ausdruck zurückführen. Freundschaft, Liebe und Hass drücken sich in Verhaltensweisen aus, die wir als solche verstehen. Transparenz, Großzügigkeit und Enge haben ihren Ausdruck. Ein Zimmer, das Leere ausdrückt, ist nicht ein Zimmer, dem Möbel und Bilder fehlen. Ein Haus, das Wärme ausdrückt, ist ein Haus, das so wirkt. In

8

G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, S. 75.

9

A.a.O., S. 78.

10 Ebd.

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solcher „Leere“ und „Wärme“ drückt sich das Leben selbst aus11. Der Ausdruck, sagt Misch, ist die Weise wie sich Geistiges manifestiert, bewusst wird und zur Besinnung kommt. Es muss sich in irgendeiner Art des Ausdrucks objektivieren, gleichsam zur Welt kommen. Fraglich ist dann jedoch, so Misch, wie weit tatsächlich die „Fülle inneren Lebens zum Ausdruck“ kommt und inwiefern diese Objektivierungen „in ihrer wahren, echten Bedeutung auslegbar sind bis zur Klarheit des Verständnisses“12. Für Misch ist Ausdruck “Bewusstwerdung und Objektivität des geistigen Lebens“13. Der Ausdruck hat darin eine eigene Logik, die zu unterscheiden ist von der theoretischen Gegenständlichkeit. Das Gegenständlichwerden und Greifbarwerden des Lebens im Ausdruck wird charakterisiert dadurch, dass die “gemeinschaftliche geistige Welt, in der wir leben, eine Ausdruckswelt ist“.14 Die Logik des Ausdrucks liegt in der Logik der Sprache: Worte sind nicht bloß Laute oder Klänge, vielmehr haben sie eine Bedeutung. Dies eignet den Ausdruck: zu ihm gehören Sinn und Bedeutung. Ausdruck muss wie ein Wort verstanden werden. „Das Verstehen entspricht dem Sichausdrücken wie Reaktion der Aktion“15. Schließlich ist für Hans-Georg Gadamer (1900-2002) und die philosophische Hermeneutik „Sein, das verstanden werden kann, Sprache“. Gadamer hat einen Exkurs, den er seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ anhängte, der Deutung des Ausdrucks gewidmet. Innerhalb der antiken Rhetorik, auf die sich Gadamer zunächst bezieht, betrifft der Begriff des Ausdrucks das Verhältnis der Sprache zum Gedanken. Das Wort „Ausdruck“ entspricht dem lateinischen expressio, exprimere. Doch erst im 18. Jh. wird es benutzt in einer erweiterten Bedeutung, vorzüglich auch in der ästhetischen Theorie, wo es den Begriff der Nachahmung (mimesis, imitatio), der seit der Antike das Verständnis allen Herstellens und Hergestellten, einschließlich Kunstwerke, leitete, verdrängt. Vorherrschend in seiner Verwendung ist der Sinn von „den Ausdruck finden“ im Zusammenhang der Mitteilung und Mitteilbarkeit. Gadamer betont nun, dass dieses „einen Ausdruck finden“ nicht im Sinne des Erlebnisausdrucks gemeint ist, sondern im Sinne der Bedeutung von „einen Ausdruck finden, der einen Eindruck erzielen will“.

11 Vgl. J. König: Sein und Denken und J. König: Die Natur der ästhetischen Erfahrung; dazu auch A. Hahn: Architektonische Erfahrung und praktische Ästhetik. 12 G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, S. 79. 13 A.a.O., S. 83. 14 Ebd. 15 Ebd.

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In diesem Zusammenhang möchte ich an das Tun des Schauspielers erinnern, der Geiz oder Wagemut ausdrücken will, damit der Zuschauer den gewünschten Eindruck von der dargestellten Person (Rolle) erhält. Oder wir lesen in einem Interview der Berliner „Tageszeitung“, dass sich der Schweizer Architekt Peter Zumthor von seinem Gebäude, wenn es einmal fertig ist, erhofft, es möge eine „gewisse Heiterkeit ausstrahlen, eine gewisse gelassene Eleganz“. In beiden Fällen wird im Sinne von Gadamer ein Ausdruck gesucht, der einen bestimmten Eindruck erzielen will. Es wollen sich jedoch nicht der Architekt und auch nicht der Schauspieler in ihrer subjektiven Befindlichkeit ausdrücken. Vielmehr soll sich im Ausdruck etwas Drittes, Misch sprach von etwas Geistigem, zeigen. Die subjektivistische Wendung, dass jeder Ausdruck Ausdruck eines Erlebnisses sei, dass man sich selbst z.B. in der Musik, im Tanz, im Bauwerk ausdrückt, lag der rhetorischen Auffassung noch fern. Vielmehr suchte man einen Ausdruck zu finden, der Empfindungen erregt. Etwas ausdrücken und sich ausdrücken sind zwei unterschiedliche Konzeptionen und Anlässe, das Wort „Ausdruck“ zu gebrauchen. Ende des 18 Jh. geht die rhetorische Tradition der Darstellung über in die Erlebnispsychologie. Gadamer betont, dass auch der ästhetische Ausdruck niemals bloß ein Zeichen ist, durch das man auf ein Anderes, Inneres zurückgewiesen wird. „Im Ausdruck ist das Ausgedrückte selbst da, z.B. in den Zornesfalten der Zorn“16. Um auf unser früheres Beispiel zurückzukommen: Im Ausdruck des Zimmers ist die Leere gleichsam selbst da, wie auch die Wärme im Ausdruck des Hauses. Ein Haus, welches Wärme ausstrahlt, ist nicht ein Haus, in dem bei geöffneten Fenstern geheizt wird. Dass das Eine im Anderen ist, die Leere im Zimmer wie der Zorn in den Zornesfalten, dies deutet Gadamer als zur Seinsweise des Lebendigen gehörig. Jeder geistige Gehalt hat einen geschichtlichen Ausdruck, in dem er nur auftreten kann. Kein Zeitalter und auch kein kulturelles Milieu hat einen privilegierten Zugang zu einem Ausdruck als solchen. So muss der Schauspieler jeden Abend neu etwas zum Ausdruck bringen, um beim Zuseher den gewünschten Eindruck zu erzielen. Niemals sind Mimik, Intonation und Gestik identisch, dennoch mag immer wieder etwas Charakteristisches am Geiz zum Ausdruck kommen. Unterschiedlichen Zeiten und Milieus bringen ein Tempel, ein Stahlbetonbau, ein Fachwerkhaus Unterschiedliches zum Ausdruck. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck, ob bei Worten, Gesten oder Gebäuden. Der Ausdruck unserer Welt tritt nur in konkreten historischen Situationen auf. Jeder Ausdruck ist situativ, er tritt gelegentlich und beiläufig auf.

16 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, S. 385.

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„Was der Ausdruck ausdrückt, ist eben nicht nur das [...] mit ihm Gemeinte, sondern vorzüglich das, was in solchem Meinen und Sagen mit zum Ausdruck kommt, ohne dass es zum Ausdruck gebracht werden soll, also das was der Ausdruck sozusagen ‚verrät’“17. Dies ist der Sinn einer historischen Interpretation. Sie ist relativ zum Verstehenspotential der eigenen Gegenwart. Sie kann weder die biographische noch die zeitgenössische Befangenheit überschreiten. Jede historische Deutung erfasst den Ausdruck auf der Höhe der eigenen Zeit. Sie befragt das Überlieferte deshalb nicht nur hinsichtlich des vom Autor einst Gemeinten, also rekonstruktiv, sondern ebenso konstruktiv hinsichtlich der im Gesagten eingenommenen Haltung. Für Gadamer bekommt innerhalb der Hermeneutik der Begriff der Interpretation einen neuen und zugespitzten Sinn. Interpretation von „Ausdruck“ ist mehr als Verstehen und Auslegen des gemeinten Sinns. Im Ausdruck zeigt sich eine weitere Sinndimension, die der Autor selbst nicht intendiert hat, die sich, wie etwa ein persönlicher Stil, dennoch im Ausgedrückten zeigt, ebenso das Zeitbedingte, das lebensgeschichtlich Variable, das allem Verstehen zugehört. Die drei Positionen von Plessner, Misch und Gadamer schärfer gegeneinander zu positionieren, kann ich hier und heute nicht leisten. Die Reichweite des ganzen Ausdrucksphänomens muss erst noch für die Architekturtheorie und die empirische Wohnforschung entdeckt werden. Mir war es wichtig, einen Weg zumindest anzudeuten, wie wir über Ausdruck möglicherweise kommunizieren können, nachdem uns einsichtig geworden ist, dass wir das Phänomen der Wirkung von Architektur nicht unterschlagen dürfen. Erst ein intensiveres Eindringen in die theoretisch-wissenschaftliche Umgebung von „Ausdruck“ und dazu kontrastierende empirische Architektur- und Wohnforschungen werden zeigen, wohin uns die Aufnahme der Reichweite des Ausdrucksphänomens führen wird. Dies ist jedoch noch Zukunftsmusik. Näherliegend sind mir jetzt folgende Überlegungen, mit denen ich auf das zu Beginn Ausgeführte zurückkomme. Ich hatte behauptet, dass das Bauen eine gezielte Reaktion und Antwort auf unsere Leiblichkeit ist, z.B. auf unsere Einseitigkeit als Lebewesen, das unangepasst auf diese Welt kommt und sich die Welt als seine erst zurechtrücken muss, damit sie auf ihn und zu ihm passt. Diese zweite Seite macht das Kulturwesen Mensch aus. Helmuth Plessner hat deshalb von der natürlichen Künstlichkeit des Menschen gesprochen. Der Mensch, halb Natur- und halb Kulturwesen, muss sich immer neu die andere Hälfte, seine künstliche, schaffen und erarbeiten. Natur und Kultur des Menschen ergänzen sich so und nur, indem unsere kulturellen

17 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, S. 341.

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Schöpfungen sich mit den natürlichen Anlagen des Menschen verfugen, ist der Mensch erst ganz. Es ist dann davon gesprochen worden, z.B. von Odo Marquardt, dass die kulturellen Leistungen des Menschen recht eigentlich als Kompensationstaten zu verstehen seien. Der Mensch – ein homo kompensator. Dies gilt dann selbstverständlich auch für das Bauen. Der Mensch muss, verglichen mit dem Tier, auf Umwegen und über künstliche Dinge leben. Es gibt keine für ihn natürliche Behausung. Sie entsteht auf der ganzen Welt zerstreut im klugen Umgang mit den jeweiligen Umweltverhältnissen als kulturelle Leistung. Zwecke der eigenen Daseinserhaltung und Lebensbereicherung sowie Anpassungsstrategien gegenüber der Umwelt zeichnen das menschliche Bauen aus. Der Mensch lebt nur, sagt Plessner, indem er ein Leben führt. Natürlichkeit und Künstlichkeit stehen dabei in einem ungesicherten Ergänzungsverhältnis zueinander. Das Bauen ergänzt das Wohnen und gibt ihm zeitlich-historischen ebenso wie räumlich-örtlichen Ausdruck. Das Gebaute dürfen wir in dieser Richtung auch als ein Werkzeug betrachten, das der Wohnende in Gebrauch nimmt. Diese allgemeine Nützlichkeit, die in allen Werkzeugen liegt, drückt darin ein objektives Seinsverhältnis aus. Gäbe es diese Seite des Wohnens, die aufs Bauen und Gebaute zielt, nicht, so wüsste der Mensch nicht, sich irgendeine Behausung anzueignen. Das Bauen liegt also im Welthorizont desjenigen Lebendigen, das wohnt. In dieser Ergänzungs- bzw. Kompensationsrichtung des kulturellen Daseins liegt eine gewisse Objektivität, die man im Schaffen und Herstellen der Kulturgüter berücksichtigen muss. So sagt Plessner: „Glaubt man also, dass die Dinge unseres Umgangs und Gebrauchs den vollen Sinn, ihr ganzes Dasein erst aus der Hand des Konstrukteurs empfangen und allein in dieser Relativität auf das Umgehen mit ihnen wirklich sind, so sieht man nur die halbe Wahrheit. Denn ebenso wesentlich ist für die technischen Hilfsmittel (und darüber hinaus für alle Werke und Satzung aus menschlicher Schöpferkraft) ihr inneres Gewicht, ihre Objektivität, die als dasjenige an ihnen erscheint, was nur gefunden und entdeckt, nicht gemacht werden konnte“18. Konstrukteure und Techniker, dies ist der grandiose Gedanke Plessners, können nur das herstellen, für das die Gesellschaft schon potenziell Verwendung hat. Wie es keinen Hammer geben würde, gäbe es nichts zu hämmern, so kein Haus ohne das Bedürfnis zu wohnen. „Nicht der Hammer hat existiert, bevor er erfunden wurde, sondern der Tatbestand, dem er Ausdruck verleiht“19. Der Architekt kann das Wohnen weder erfinden, noch machen oder herstellen. Er kann nur das hervorbringen, was es

18 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 321. 19 A.a.O., S. 322.

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schon an sich gibt. Hier liegt meines Erachtens der Kern der Kritik von Ernst Bloch an den Erfindungen der Baumeister der Neuen Sachlichkeit, die durch Flachdach, liegende Fenster und fließenden Grundriss die Wohnenden zu neuen Menschen des Maschinenzeitalters erziehen wollten.20 Schöpfertum kann es auch hier nur geben, insofern die Anpassung an die objektive Welt gelingt. Jedes Werkzeug hat also diese beiden Seiten: Ausdruck und Gebrauch. Jeder Nutzer erfährt die Dinge auf diese doppelte Weise. Das Haus verleiht zum einen dieser Bedürftigkeit des Wohnens Ausdruck, zum anderen wird es daraufhin in Gebrauch genommen. Zwar kann der Tatbestand des Wohnbedürfnisses oder der Wohnnot (nicht der Wohnungsnot) nicht erfunden werden, denn er liegt schon vor, dennoch muss jedes Haus erfunden, d.h. die konkrete Form dafür gefunden werden. Das Finden der Form ist ein schöpferischer Griff, ist eine Ausdrucksleistung. Seine Künstlichkeit liegt in der Art und Weise, wie mit den vorgefundenen Materialien umgegangen wird. Ausdruck ist eine konkrete Manifestation von Kultur und nicht von Natur. In einer sozialen Welt, die nur möglich ist aufgrund der prinzipiellen Gegenseitigkeit aller Verhaltenspartner, geben Sprache, Geste und Mimik dem anderen die je eigenen Befindlichkeiten kund. Erfahrungen, seien sie individueller oder kollektiver Art, sollen weitergegeben, sollen kommuniziert werden. Dies geht nur, wenn wir ihnen in irgendeiner lesbaren oder sonstwie verständlichen Form Ausdruck geben. Auf die Sprache bezogen, können wir sagen: wir verstehen nicht Wörter, sondern das, was sie ausdrücken. Auf die Architektur bezogen, möchte ich behaupten: wir verstehen nicht eine Form, sondern das, was sie ausdrückt21. Beim Ausdrucksverstehen ist es wie bei jedem Dialog: er funktioniert nur in der Einheit von Ausdruck und Verständnis.

Z UR PRAGMATISCH - ÄSTHETISCHEN ARCHITEKTURAUFFASSUNG Ich habe mit dem Vorstehenden einen ersten tastenden Versuch unternommen, das Phänomen des Ausdrucks auf unseren Umgang mit Architektur zu beziehen. Ich will dies nun vertiefen, zugleich damit die Absicht verfolgen, den wissenschaftstheoretischen Hintergrund einer pragmatisch-ästhetischen Architekturauffassung zu skizzieren. Wir sind ja gewohnt, die Architektur theoretisch hinsicht-

20 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 21 Vgl. W. Perpeet: Das Sein der Kunst und die kunstphilosophische Methode.

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lich des Begriffstrios Funktion, Zweck und Form zu diskutieren22. Einmal abgesehen davon, was man sinnvollerweise unter diesen Begriffen zu verstehen hätte, bleibt doch die Unterstellung, solcherart Begriffe reichten zur architektonischen Theorie hin. Insofern eine Theorie ein mögliches Gesamtwissen über einen Gegenstand bereitstellen soll (diese Forderung oder diesen Anspruch hat schon Vitruv formuliert), dann muss sie auch die Leistungen des lebensweltlichen Interpretationssystems einbeziehen. Ich bin der Ansicht, dass das Wissen über Architektur ohne diese Erweiterung um das praktische Verstehen aus dem Umgang heraus nicht sinnvoll gerahmt werden kann. Denn Form, Zweck und Funktion geben nur einen statischen Eindruck wieder, der sich durch Beobachtung und Beschreibung objektivieren lässt. Sie drücken die allgemeinen Absichten des Entwerfers und Herstellers von Architektur aus, können jedoch die Wirklichkeit des konkreten umweltlichen Verhaltens nicht fassen. Architektur ist aber ein Lebensmittel, darin sich ein kulturelles Bedürfnis manifestiert. Architektur eignet ein Ausdrucks- wie ein Gebrauchsmoment. Beide realisieren sich als Umgangsphänomene. Ausdruck und Gebrauch beschreiben eben nicht die Objekt- oder Funktionsseite eines Gegenstandes (z.B. Architektur), sondern sie bezeichnen ein menschliches Umgangsverhältnis. Wahrnehmend verstehen wir den Ausdruck eines Hauses wie wir auch seine Gebrauchspotentiale, verschiedene Elemente handhabend, entdecken. Denn in der Begegnung mit Architektur gehen wir ein Verhältnis mit ihr ein, das sich in einer Wirkung zeigt. Ausdruck und Gebrauch hinterlassen einen Eindruck, der zum einen den sinnlichen Überschuss zum anderen die konkrete Nützlichkeit eines Gebäudes sinnfällig macht. Ausdruck und Gebrauch von Architektur sind verhältnismäßig bezogen auf unsere Bedürftigkeit und unsere Erwartungen als Wohnende. Nur das tatsächliche Umgangsverhalten, sei es als Bildeindruck oder Bildwirkung, sei es als Gebrauchserfahrung, zeigt die Angemessenheit unseres Bauens. Ausdruck und Gebrauch sind deshalb die wesentlichen Begriffe eines pragmatisch-ästhetischen Architekturverständnisses. Warum aber „pragmatisch-ästhetisch“? Der Mensch lebt nicht nur sein Leben. Er erlebt es auch. Er erkennt sich in seinen Werken wieder, da seine Welt, die natürliche wie die künstliche, ihm etwas bedeutet. Da er sich seine Welt nicht anders als sprachlich erschließen kann, spricht ihn alles in dieser Welt an. Dass die Welt und die Dinge in ihr den Menschen ansprechen, dies muss auch im Verständnis des Begriffs „ästhetisch“ wieder zum Vorschein kommen. Der ästhetischen Theorie liegt schon seit den Griechen ein kultureller Vorgriff auf das Schön-zu-nennende zugrunde und voraus, der, wie der Dresdner Kollege Thomas Rentsch es formuliert hat, „in allen Le-

22 Vgl. Der Architekt, Heft 12 2001.

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bensbereichen das jeweils Hervorragende, besonders Geeignete, Nützliche, Brauchbare, Schickliche, Angemessene, Wohlgefällige, Begehrens- und Liebenswerte, Gelungene und im Wettkampf Auszuzeichnende meinte“23. Ästhetisch nennen wir eine Wissenschaft, die von der sinnlichen Erfahrung zur Beschreibung fortschreitet, um sich auf diese Weise ihrer Begriffe zu versichern. „Was immer unmittelbar und aus vorwissenschaftlicher, natürlicher Einstellung als schön auffällt, bemerkt und angesprochen wird, gehört ihrer [nämlich: der ästhetischen] Domäne an“24. Eine solche ästhetisch-pragmatische Theorie der Architektur entwickelt diese aus der sinnlichen Anschauung und der Erfahrung der Phänomene. Das Pragmatische bezieht sich auf die handlungsorientierte Lebenspraxis. Aus dem Umgang mit Architektur, ihre Lesbarkeit und ihren Gebrauch eingeschlossen, gewinnt die ästhetisch-pragmatische Theorie der Architektur ihre Begriffe. Ästhetische Erfahrung ist hier ein Schlüsselbegriff. Dabei reicht es nicht aus, bei der Erlebniswirklichkeit von Architektur, deren Ausdruck und Nutzung, stehen zu bleiben. Vielmehr müssen wir einen Schritt vollziehen, damit das Erlebte selbst darstellbar und kommunizierbar wird. Das geschieht, wenn ich mich auf meine Erfahrung beziehe. Dieser Bezug ist reflexiv, insofern er das Erlebte alltagsbegrifflich fasst und mit dem Gewussten und Bekannten vergleicht. Diese Ebene ist dann erreicht, wenn wir zur Darstellung von Wirklichkeit in Geschichten kommen. Wir müssen uns unsere Sprache über das Sinnliche erobern bzw. bewusst erobern wollen. Nur über die Sinne kommt etwas zu Bewusstsein, sie sind unser Tor zur Wirklichkeit der Welt. Hier führt sozusagen der Weg nur über das „innere Auge“ zur Sprache. „Ästhetisch“ meint so viel wie: „auf die Anschauung bezogen“25 und nicht auf eine Logik. Jede ästhetische Theorie geht vom sinnlich Wahrnehmbaren aus, was sie sich beschreibend zu vergegenwärtigen sucht. Dabei macht es im Vorfeld keinen Unterschied, welcher Darstellungsform man sich beim Aufzeigen von Erkenntnis bedient26. Die Dinge, deren Sinn sich als ästhetische Erfahrung sprachlich zeigt, geben von sich nicht vor, wie sie aufzufassen sind. Vielmehr wählt die pragmatisch-ästhetische Theorie die Sichtweise oder Hinsicht, wie sie dem selbstverständlich hingenommen Alltagsverstand zunächst eignet. Der pragmatische Alltagsverstand zielt dabei auf den Ausdruck ebenso wie auf den Gebrauch der Dinge. Er nimmt die Dinge in ihrem äußeren Erscheinungsbild

23 T. Rentsch: [Artikel] Schöne, das, in: Enzyklopädie Philosophie Bd. 3, S. 722. 24 W. Perpeet: Antike Ästhetik, S. 8. 25 Vgl. F. Fellmann: Phänomenologie als ästhetische Theorie, S. 98. 26 Vgl. G. Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis.

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und handelt ganz fraglos und souverän mit Ausdrücken wie „gut“ und „schön“. Das sinnlich Wahrgenommene und Erfasste ist zugleich das Selbstverständliche, weil wir etwas nur erfassen und verstehen können vor dem Hintergrund dessen, wovon wir schon überzeugt sind.

ARCHITEKTURFORM

UND

AUSDRUCKSFORM

Da ich gerade einige Folgen einer bestimmten Aufmerksamkeit gegenüber der pragmatisch-ästhetischen Seite des Umgangs mit Architektur angesprochen habe, will ich nun einige erste Hinweise geben, wie auf der Seite der Formgebung reagiert werden kann. Zentral ist die Unterscheidung zwischen der Architekturform auf der einen Seite und der Ausdrucksform eines Bauwerks auf der anderen Seite27. Die Architekturform geht zurück auf Entwurf und Herstellung, die Ausdrucksform ist Folge der Wirkung einer Form im Kontext seiner Umgebung. Wir verdanken die Unterscheidung zwischen Werkform und Ausdrucksform dem Kulturphilosophen Wilhelm Perpeet: „Es ist nicht zu bestreiten, dass die Werkformen sehr wohl auch Selbst- und Weltverhältnis eines einzelnen Künstlers oder einer Künstlergeneration, einer Epoche oder eines Volkes zum Ausdruck bringen können. Wohl aber ist die methodische Zulässigkeit zu bestreiten, dass an den Werkformen ein darin manifestierter Ausdrucksgehalt einwandfrei mitgesehen werden kann“28. Die Herstellung einer bestimmten Form lässt sich technisch und wissenschaftlich exakt bestimmen, die Produktform beliebig reproduzieren. Die Form des Ausdrucks, also sein Innenklang oder seine Wirkung sind indessen kaum abschätzbar und vorauszusehen. Es ist unser aller geschichtliche Erfahrung, dass identische Architekturformen ein unterschiedliches Ausdrucksverstehen nach sich ziehen, je nach Zeit und Ort der Begegnung mit einem Bauwerk. Deshalb ist Wilhelm Perpeet uneingeschränkt Recht zu geben, wenn er schreibt: „Eine gesetzlich kanonische Zuordnung von Ausdruck und Form ist nicht möglich. Formale Gleichheit der optischen Formen bedeutet nicht ohne weiteres schon Gleichheit der in den Formen zum Ausdruck kommenden Sinngehalte“29. Formen lassen sich deshalb nur quantifizieren, indem sie in Maßplänen für Handwerk und Industrie weitergegeben werden und unendlich oft anwendbar sind. Der Ausdruck einer Form lässt sich niemals auf diese Weise verrechnen: bei ihm geht es um sinnbezogene Bedeutungsqualitäten. Vor Jahren hat

27 Vgl. W. Perpeet: Das Sein der Kunst und die kunstphilosophische Methode, S. 69. 28 A.a.O., S. 70. 29 A.a.O., S. 69.

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einmal der Kunsthistoriker Heinrich Klotz über die „Röhrenden Hirsche“ in der Architektur geschrieben. Deren Beliebtheit werde man nicht gerecht, wenn man zu rein ästhetischen Urteilen greife, vielmehr habe man den populären Gehalt von Ausdrucksqualitäten zu berücksichtigen. Es gibt ein anderes anschauliches Beispiel von Erich Rothacker, der genau dieses prinzipielle Verhältnis von Form und Ausdruck aufgreift. Auch ein objektiv schlecht gemaltes Madonnenbild, so Rothacker in seinem Aufsatz: Die Wirkung des Kunstwerks, kann einen starken Ausdruck haben, insofern nämlich der Gläubige durch die Atmosphäre des Bildausdrucks auf die Knie gezwungen wird. Rothacker spricht hier von der „Hinterwelt“ des Betrachters, vor der das kunstgeschichtlich uninteressante Bildnis der Madonna dennoch seine Wirkung mit ganzer Kraft entfalten kann. Nicht in erster Linie und nicht allein die „sinnliche Gegebenheit“ lässt uns so oder so reagieren, sondern ebenso der Sinn, den der Betrachter selbst dem Bildnis gibt. Was Rothacker „Hinterwelt“ nennt, können wir auch als unsere Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten ansprechen. Nicht übersehen sollten wir auch Rothackers methodischen Hinweis, auf den ich später noch eingehen möchte: „Man muss hier nüchtern das menschliche Behavior beobachten und interpretieren lernen. Genau so wie diese hinterweltlichen Existenzen behandelt werden, genau so ‚sind‘ sie für den Erlebenden. Sie sind ‚die‘ ‚Wirklichkeit‘, auf welche ernsthaft reagiert wird. Die faktische Reaktion ist das Kriterium der Realsetzung“30. Statt „faktische Reaktion“ können wir auch tatsächlicher Gebrauch sagen. Welche Spielräume hat der Formgebungsprozess innerhalb eines pragmatisch-ästhetischen Architekturverständnisses? Ich kann dazu nur Vorläufiges sagen und werde mich an Ausführungen des Philosophen Friedrich Kambartel anlehnen31, der sich jedoch nicht ausdrücklich auf Architektur bezogen hat. Fassen wir Architektur als ein Lebensmittel auf, dessen Werkform immer auch einen praktisch ausgerichteten Sinn hat, dann heißt Entwerfen und Bauen, bestimmten Situationen und Mitteln unseres Lebens Gestalt zu geben, welche nicht schon durch Zwecke unseres Lebens festgelegt und gar nicht festlegbar sind: Weder bestimmt ja die Handhabung eines (Gebrauchs-)Gegenstandes vollständig dessen Aussehen, Material, Größe, Proportion, Zuschnitt usf.; noch sind etwa Art, Gliederung und Anordnung der räumlichen Situationen, in welchen sich das Leben vollzieht, durch die Aufgaben, die wir in diesen Situationen zu bewältigen ha-

30 E. Rothacker: Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus, S. 305. 31 Vgl. F. Kambartel: Zur Philosophie der Kunst und F. Kambartel: Wahrheit und Begründung.

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ben, im Einzelnen festgelegt. Architektur ist auch deshalb eine Gestaltgebungsaufgabe des Handgreiflichen, weil der Mensch alles, mit dem er tagtäglich zu tun hat, „in die Hand“ nehmen will. Form, Ausdruck und Gebrauch liegen hier ganz nah beieinander. Jedoch vom Gebrauch her lässt sich niemals eindeutig auf eine Form schließen. Es besteht insofern ein Spielraum von Alternativen für die fertige Erscheinung, welche wir unserem Leben und seinen Inhalten jeweils geben, Alternativen, zu denen wir uns letztlich, eine Entscheidung findend und diese durchsetzend, stellen müssen. Bei dieser Entscheidung für eine Werkform stehen keine „externen“ Zwecke mehr zur Verfügung, noch können wir uns auf fremde Sachzwänge berufen. Das Ausdrucksverstehen ist weder Mittel noch Zweck. Es ist ein Existenzial des In-der-Welt-seins. Wir wissen aber um die Ausdrücklichkeit jeder Gestaltung. Die konkrete Form müssen wir erst finden, ob sie passt, d.h. dem Ausdrucksbedürfnis entspricht, müssen wir herausfinden. Wollen wir in dieser Beziehung zur Gestaltwahl unser Leben nicht dem Zufall oder einer nicht verantworteten Konvention überlassen, so bedarf es „innerer“ Gesichtspunkte für eine Entscheidung, die wir als einen bewussten Umgang mit dem geschilderten Problem verstehen können. Diese inneren Gesichtspunkte lassen sich gewinnen und immer wieder überprüfen, wenn wir über Ausdruck und Gebrauch des Lebensmittels Architektur nachdenken und an vielen Beispielen und Gegenbeispielen überprüfen. Diese Aufgabe pragmatisch angehen, heißt, sich mit den praktischen Folgen der ästhetischen Entscheidung hinsichtlich der Formgebung auseinandersetzen. Es kommt also bei der ästhetischen Verantwortung darauf an, die Kunst der Herstellung und Gestaltung dieser Architektur für diesen konkreten Anlass, d.h. die Lösung des Form- und Ausdrucksproblems der bestimmten Situation, zu beherrschen. Ästhetisch wahrnehmen heißt einen Ausdruck wahrnehmen. Dieser Ausdruck korreliert mit dem Wissen, wie wir unser Leben führen wollen, wie sich unser Wohnen zeigen soll. Es gibt bei der Bewältigung von Form- und Ausdrucksproblemen keine Regeln, die wir nur befolgen müssten, damit uns eine Lösung gelingt. Allenfalls gibt es Erfahrungen, wie man eine Aufgabe besser lösen kann. Maßstab können hier nur das Paradigma oder das Musterbeispiel sein, an dem wir alle weiteren Versuche messen.

Z UR M ETHODE DER PRAGMATISCH - ÄSTHETISCHEN ARCHITEKTURLEHRE Gewiss müssen wir am Ende dahin kommen, die an der architektonischen Form orientierte Methode mit der an der jeweiligen Form des Ausdruck orientierten zu

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verknüpfen und beide Seiten, die des Entwerfens und die des Gebrauchs von Architektur, als eine Einheit zu präsentieren. Dabei stehen wir noch ganz am Anfang. Es war kein geringerer als Ludwig Wittgenstein, der bei seinen vielen Beispielen, an denen er zeigte, was wir erreichen können, wenn wir auf den Sinn unserer Worte achten, die Sprache als ein Mittel unseres Ausdrucksvermögens präsentierte. Andere Vermögen sind Gesten oder Gebärden, aber auch weitere Verhaltensweisen. Stets ging es Wittgenstein darum zu prüfen, ob die gebrauchten sprachlichen Mittel tatsächlich dem Ausdruck verleihen, um das es uns in einer bestimmten Situation geht bzw. von dem wir glauben, sie brächten diesen gemeinten Sinn zum Ausdruck. Oftmals belehrt Wittgenstein uns, dass unsere ästhetischen Wörter wie „schön“, „grässlich“ oder „hübsch“ nur weitere Handlungen begleiten oder auch fehlen können. Um ästhetische Vorlieben oder ästhetisches Unbehagen zu zeigen, können Wörter des Behagens oder Unbehagens ganz durch Verhaltensweisen ersetzt werden. Wittgenstein wollte damit unsere Aufmerksamkeit auf den Umstand richten, dass Ausdrücke des Gefallens oder Missfallens und der Gebrauch der so bedeuteten Gegenstände auf eine nicht weiter wissenschaftlich zerlegbare Art zusammen gehören. Wie zeige ich, dass mir ein Anzug gefällt? Indem ich ihn oft trage und dabei ein zufriedenes Gesicht mache. Hätten wir als einer seiner Cambridger Studenten im Sommer 1938, als Wittgenstein in seinen Wohnräumen Vorlesungen über Ästhetik hielt, die Frage aufgeworfen: Was drücken architektonische Elemente aus? – So hätten wir mit folgender Antwort zu rechnen gehabt: Schau darauf, wie sie gebraucht werden! Wir verstehen den Ausdruck eines Dinges, insofern wir den Gebrauch des Dinges beobachten. Der Gebrauch ist eine Antwort darauf, was etwas ausdrückt. Drückt etwas Ehrfurcht aus, dann gehen wir damit ehrfurchtsvoll um usw. Dieses Verstehen des Ausdrucks als Gebrauch hat mit unseren kulturellen Überzeugungen zu tun. Damit ist jedoch noch nichts über die Form gesagt, deren Ausdruck verstanden wird. Nicht eigentlich wird eine Form verstanden, diese kann nur „beobachtet“ werden, sondern der Eindruck, die Wirkung, die etwas auf uns macht, werden verstanden. Ausdrucksverstehen ist etwas als etwas verstehen. Allgemein kann man sagen, was uns gefällt, damit gehen wir auf angemessene Weise um. Einmal fragte Wittgenstein in die Runde seiner Studenten: „Wie drückt es sich aus, wenn man etwas mag? Geht es nur um das, was wir sagen, um unsere Ausrufe, oder um die Gesichter, die wir schneiden? Ganz offensichtlich nicht. [...] Angenommen, wir bauen Häuser und geben den Türen und Fenstern bestimmte Abmessungen. Zeigt sich der Umstand, dass uns diese Abmessungen gefallen, notwendigerweise in dem, was wir sagen? Wird das, was uns gefällt, notwendigerweise durch einen Ausdruck des Gefallens bezeichnet? An-

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genommen, unsere Kinder zeichnen Fenster, und wenn sie sie falsch zeichnen, bestrafen wir sie. Oder jemand baut ein Haus, und wir weigern uns, darin zu wohnen, oder laufen weg“32. Es gibt hier keine Wirklichkeit schlechthin. Sondern diese hat ihr Kriterium darin, dass sie auf uns eine Wirkung erzielt, die wir durch ein Verhalten ausdrücken. Wirklichkeit zeigt sich uns in ihrer Wirksamkeit. Die Reaktionen, die Wittgenstein beschreibt – und es lassen sich immer weitere Beispiele anfügen, werfen ein methodisches Licht auf unseren Zusammenhang von Ausdruck und Gebrauch, der kurz so lautet: die Bedeutung eines Ausdrucks zeigt sich im Gebrauch des Ausgedrückten. Was etwas ausdrückt, offenbart sich in den Folgen seiner Behandlung. Welche Reaktionen folgen auf die Wirkung? Usw. Damit ist von Wittgenstein vehement der Gegenstandstheorie der Bedeutung widersprochen, die meint, es gebe neben dem konkreten Gegenstand, wie z.B. Tür, Fenster und Haus, wie sie in den obigen Beispielen auftauchen, noch etwas Zusätzliches – nämlich seinen Ausdruck. Lebensweltliche Erfahrung, wie die von Ausdruck und Gebrauch umweltlicher Dinge, erfasst diese niemals isoliert, sondern nur in Handlungs- und Erlebnisfügungen33. Wir beobachten, wie Menschen etwas gebrauchen, mit etwas umgehen. Wenn Kinder einen Tisch mit einer Decke verhüllen, so dass unter der Tischplatte plötzlich ein Raum entsteht und sie sich darunter einrichten, dann haben sie den Tisch nicht als ein Ding verstanden, an dem sich die Familie zum Essen niederlässt, sondern sie gebrauchen diesen Tisch als eine Höhle, in deren enger Dunkelheit man sich geborgen fühlt. Im Spiel der Kinder wird der Tisch zu einer Höhle, er ist dann diese Höhle und bedeutet es auch. Dies ist eine ganz wesentliche Seite der Dinge, mit der wir ständig rechnen müssen. Die Dinge bedeuten das, wie sie gebraucht werden. Da ist gar nicht mal nötig, viele Worte zu machen. Ihr Spiel drückt dieses „Nehmen als“ unmittelbar aus. Kinder rutschen auf einem Karton die Treppe runter, und die Treppe wird zum Wasserfall. Jeder Gebrauch der Dinge ist eine Deutung. Der in meinen Augen methodisch folgenreichste Hinweis Wittgensteins hinsichtlich des Ausdrucksverstehens unserer architektonischen Umwelt ist folgender: „Um zur Klarheit über ästhetische Ausdrücke zu kommen, muss man Lebensformen beschreiben“. Für Wittgenstein ist ein ästhetischer Ausdruck z.B. folgende Bemerkung: „Dies ist ein guter Anzug“, oder bezogen auf denselben Anzug: „Der ist schön“. Es reicht aber auch, dass ich den Anzug oft trage und

32 L. Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, S. 34f. 33 Vgl. F. Fellmann: Phänomenologie als ästhetische Theorie, S. 203.

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dabei ein zufriedenes Gesicht mache. Darin wird deutlich, dass nichts gewonnen ist, wenn wir einzelne Wahrnehmungen interpretieren. Diese sind vielmehr eingebettet in einen Komplex von Verhaltensweisen, die Wittgenstein „Lebensform“ genannt hat. Was bedeutet nun: Beschreibung einer Lebensform? Eine Lebensform finden wir z.B. in den Vorortsiedlungen der sog. Zwischenstadt oder in den Lofts aufgelassener Industriearchitektur. Hier sind ästhetische Ausdrücke über Architektur gebunden an gewisse kulturelle Überzeugungen, warum das Wohnen hier einem anderen Wohnen dort vorzuziehen sei. Abschließend möchte ich die für neugierige Wissenschaftler bemerkenswerteste Ausdrucksweise von Lebensformen vorstellen. Die Methode, die Wittgenstein selbst anwendet, nämlich das Einbringen von immer neuen Beispielen, bis uns das Prinzip, zu dem wir durch die Beispiele geführt werden sollen, wie Schuppen von den Augen fällt, benutzen wir, wenn auch eher intuitiv und beiläufig, im alltäglichen Beschreiben und Erzählen. Denn alles Bedeutsame, was uns im vortheoretischen Leben in der Ausdruckswelt begegnet, erfassen wir im Horizont unserer Überzeugungen und Erfahrungen. Ich habe diese Methode an anderer Stelle als Beispielhermeneutik herausgearbeitet34. Wenn jemand mit Interesse einen anderen fragt, wie es ist, hier, z.B. im Ort Pesterwitz bei Dresden, zu wohnen, so reicht in der Regel eine Antwort wie „angenehm“ und „super“ oder auch „schrecklich“ und „ätzend“ nicht aus. Wir wollen es genauer wissen. Dann bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als die eine oder andere Geschichte zu erzählen, um den anderen in eine Situation und Wirklichkeit zu versetzen, so dass er verstehen und nachvollziehen kann, was die Wörter „angenehm“ und „super“ oder „schrecklich“ und „ätzend“ bedeuten bzw. ausdrücken. Geschichten sind die der Alltagswelt gemäße Art, Wirklichkeiten darzustellen. Erst Geschichten, die den Umgang und Gebrauch mit den Dingen des Wohnens zum Ausdruck bringen, lassen den Architektur- und Wohnforscher erahnen, welche pragmatisch-praktische Bedeutung Türe und Fenster, Fassaden- und Dachformen haben. Diese Wohngeschichten thematisieren Ausdruck und Gebrauch der Architekturelemente im Kontext der Lebensführung und im Kontext dessen, auf was es dem Erzähler beim Wohnen ankommt. Insofern Geschichten vom sinnlichen Umgang mit dem lebensweltlich Unverzichtbaren handeln, sind sie primäre Erkenntnisquelle einer Erfahrungswissenschaft, die sich einen angemessenen Begriff von den praktischen Folgen von Ausdruck und Gebrauch von Architektur machen will. So ist jede Geschichte, die immer einen konkreten Autor hat, gedeutete Wirklichkeit. Drückt sich in der Geschichte Enttäuschung über das Gebaute aus, dann kann nur auf Grundlage eines methodisch geleiteten Ge-

34 Vgl. A. Hahn: Erfahrung und Begriff.

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schichtenverstehens auch nach den Erwartungen des „guten“ und „schönen“ Bauens geforscht werden, die im vorliegenden Fall nicht eingelöst werden konnten. Nur in Geschichten lassen sich die Antizipationen und Überzeugungen des vorwissenschaftlichen Wirklichkeits- und Alltagsverständnisses fassen. Ich bin von der These ausgegangen, dass das Bauen eine Antwort auf das Lebensbedürfnis des Wohnens ist. Wir müssen den Weg zu einer passenden Architektur als einen dialogischen Prozess begreifen. Die Frage, welches Wohnen zu welcher Lebensform passt, muss immer wieder neu gestellt und beantwortet werden. Hans-Georg Gadamer hat einmal gesagt, dass das Werk des Architekten stets „in eine von weither vorbestimmten Lebenswelt hineingebaut“ wird und ergänzte noch, dass ein Bauwerk nur insofern als eine rechte Lösung einer Bauaufgabe beurteilt werden kann, wenn wir etwas darüber wissen, wie Menschen es in ihr Leben einbeziehen35. Versteht sich der Architekt jedoch als Baukünstler, der sein Werk als isoliertes Kunstobjekt verstanden wissen will oder als schon umfassend informierter Erzieher der Menschheit, der diese in eine ideale Bewohnerschaft idealer Städte verwandeln will, dann werden ihm meine Überlegungen und Thesen freilich nichts zu sagen haben. Frage und Antwort sind indes Urformen des Dialogs, die auch hinsichtlich des Wohnens und Bauens zum Zuge kommen sollten. Bauwerke haben im alltäglichen Lebensvollzug ihren Platz, denn dem Bauen ist das Wohnen als sein Ziel immer schon vorgegeben. In diesem präzisen Sinne ist die ästhetische Wahrnehmung und Wirkung von Architektur eingestellt in die pragmatischen Lebensbezüge des Wohnenden. Erst angesichts dieser pragmatischen Lebensbezüge, insofern das eigene Wohnen gelingen soll, trifft die Rede über Zweck und Funktion von Architektur überhaupt auf ein praktisches Verständnis. Wie alles, was Bestandteil der Ausdruckswelt ist, erwartet der Mensch die Bewohnbarkeit, ja sogar die Wohnlichkeit seiner Welt in der Architektur „zu lesen“. Denn im Bauwerk tritt etwas in Erscheinung, das die Menschen im Hinblick auf ihr Wohnen verstehen wollen. Es gibt nämlich so etwas wie eine Ausdruckserwartung, so unklar sie auch dem Einzelnen zur Verfügung stehen mag, welcher der Architekt begegnen muss. Von dieser Ausdruckserwartung in ihrer möglichen Enttäuschung wie Erfüllung zu wissen und die methodisch gewonnenen Kenntnisse weiter zu reichen, dieser Aufgabe stellt sich, neben anderen, die empirische Architektur- und Wohnforschung. Auf diese Ausdruckserwartung mit einer Werkform zu antworten, die sie nicht nur erfüllt, sondern ästhetisch übertrifft, diese Aufgabe muss der architektonische Formgebungsprozess bewältigen. „Übertreffen“ heißt: neue Lebensformen verlangen neue Ausdrucksfor-

35 Vgl. H.-G. Gadamer: Anschauung und Anschaulichkeit, S. 216f.

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men, die erst erfunden werden müssen. Und auch wir Wohnenden streben mit jedem Umzug danach, dass unser Wohnen besser werden soll. Der Architekt kann auch hier nur erfinden, indem er findet, was als Ausdruck einer Lebensform und Wohnweise gleichsam schon „in der Luft liegt“. Gewiss muss der Architekt in diesem Prozess der Formfindung frei bleiben, dennoch wird er seine anspruchsvolle Aufgabe nur im Hinblick auf Ort, Zweck und Umgebung passend lösen können. Architekturtheorie hat in diesem Prozess eine Mitteilungsaufgabe, indem sie die Erfahrungen der Menschen mit Ausdruck und Gebrauch der Bauwerke sich begegnen lässt, diese im Kontext einer Lebensform beschreibt, um sie so der hoffentlich geweckten Aufmerksamkeit des Architekten zur Verfügung zu stellen.

Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens

Im Jahre 1951 hielt der Philosoph Martin Heidegger in Darmstadt vor Architekten und Baukünstlern einen Vortrag mit dem Titel: Bauen, Wohnen, Denken.1 Nie zuvor und nie danach ist die Architekturwelt so eindringlich auf das Phänomen des Wohnens hingewiesen worden. Bis heute, so mein Eindruck, denkt man darüber nach, was Heidegger unter Wohnen verstanden wissen wollte. Mein Anliegen ist es, die Diskussion fortzusetzen und nach weiteren philosophischen Hinweisen zu forschen, die das menschliche Wohnen auf eine erhellende und weiterführende Weise deuten. Für Heidegger wurden in jener Epoche seines Schaffens die Sprachschöpfungen Friedrich Hölderlins zur Inspirationsquelle, der von einem „dichterischen Wohnen“ des Menschen sprach. Immerhin, so lässt sich mit Heidegger verbinden, kann und muss das Wohnen im Zusammenhang eines allgemeinmenschlichen Daseinsverständnisses und Weltgefühls bzw. Gestimmtseins gefasst werden. Alle Empirie des Wohnens – auch das Entwerfen des Architekten, das explizit das Wohnen bedenkt, – nimmt schon, in der Regel unbewusst, Teil an einer bestimmten Weltsicht, ist Ausdruck einer unhinterfragten, vielmehr selbstverständlich vollzogenen Anschauung der Welt, für die das Wohnen etwas bedeutet. Aber Sehen und Anschauen als menschliche Griffe in die Welt sind selbst schon gestimmt. Diesen liegt ein bestimmtes Lebensgefühl, ein „stimmungsmäßiges Innesein“ (Rothacker) zugrunde, das Philipp Lersch einmal den „endothymen Grund“ genannt hat.2 Ohne das Verständnis einer Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-seins lässt sich auch über das Wohnen philosophisch wenig Substanzielles aussagen. Hier spielen Grundgestimmtheiten,

1

1991 erschien eine Neuausgabe der Vorträge und Diskussionen durch Ulrich Conrads. Im Jahr 2000 gab Eduard Führ das Buch „Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur“ (Münster u.a. 2000) heraus, dem eine CD mit dem Originalvortrag von Heidegger beigelegt war.

2

Vgl. P. Lersch: Der Aufbau des Charakters, S. 37 ff.

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die bei Heidegger als Existenziale gefasst werden, wie Heimatlosigkeit, Geworfenheit oder Weltgeborgenheit hinein.3 Das Wohnen, insofern es auf das Sein, Dasein und den Aufenthalt des Menschen als Ganzes bezogen ist, zeigt den Menschen als „Wanderer“ in einem unwirtlichen Welt-Raum, der für ihn nicht geschaffen ist und den er darum erst „bewohnbar“ machen muss.4 Dieses Herstellen und dauerhafte Sichern von Bewohnbarkeit bedarf indes eines Maßes, das sich der Mensch nur selbst geben kann. Diese Problematik besteht vor allem für eine Welt, für die heute das technische Messen eine Alternative zum mittelalterlichen Maßverständnis, mâze, geworden ist. Der Welt und ihren Räumen eignet indes das Unheimliche und Abgründige, das der Mensch angstvoll flieht, dem er aber einen eigenen Bereich abgewinnt, um ein bleibendes Wohnen zu ermöglichen und die Welt auf diese Weise in Besitz zu nehmen5. Im häuslichen intimen Wohnen, worin sich vor allem das moderne Leben einzurichten wünscht, zeigt sich dann aber eine andere Abgründigkeit, die im Draußen kanalisiert, unterdrückt oder abgelenkt ist: nämlich die erregbare „Natur des Menschen“, die in ihren Temperamenten, Affekten und Emotionen entdeckt und durch Erzeugen einer gedämpften und behaglichen „häuslichen“ Stimmung in Zaum zu halten versucht wird.

W OHNEN ALS M ETAPHER DES I N - DER -W ELT - SEINS 6

RÄUMLICHEN

Vor allen in Kontexten religiöser Lebensformen wird das Wohnen als Bild des Aufenthalts des Menschen auf der Erde und damit in Bezug auf die Endlichkeit des Daseins und das dafür rechte Maß gebraucht. Mythen sind hier allgemeine

3

Franz Josef Wetz beschreibt die „Grunderfahrung der antiken Griechen“ folgendermaßen: „Die Menschen gehören als leiblich-seelisch-geistige Einheit in das Ganze der göttlichen Natur hinein, die sie als Stätte des Behagens und der Geborgenheit erfahren.“ In: F.-J. Wetz: Hans Jonas. Eine Einführung, S. 28.

4

Für Jürgen Mittelstraß bspw. ist Kultur „die Welt bewohnbar gemacht“, in: J. Mittelstraß: Bauen als Kulturleistung, S. 53-59.

5

Vgl. P. Dessauer: Besitzen und Wohnen.

6

Vgl. inzwischen den Artikel „Wohnen“ von Axel Beelmann in R. Konersmann: Wörtebuch der philosophischen Metaphern, S. 551-563, der in diesem Aufsatz noch nicht berücksichtigt werden konnte.

Ü BERSICHT

ZU EINER

P HILOSOPHIE DES W OHNENS

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Voraussetzungen des Daseins.7 Die Texte des Alten Testaments deuten das Wohnen auf zwei Weisen. Dazu unterscheidet das Hebräische zwischen jsb und skn. Das Nebeneinander der Wohnvorstellungen bringt die beiden Aspekte göttlicher Präsenz, die des „thronenden“ (jsb) und des „dynamisch gegenwärtigen“ (skn) JHWH (Jahwe) zusammen. Damit kommt die „hintergründige“ Abhängigkeit des menschlichen Wohnens zum Ausdruck. Der Bedeutungskern im jsb kombiniert den Sinn von Ortsgebundenheit mit Ruhestellung. „Über das Bedeutungspaar ‚Sich-setzen‘ / ‚Sitzen‘ hinaus führt als weitere Abstraktionsstufe die Sinnverbindung ‚Sich-Niederlassen‘ / ‚Wohnen‘ bzw. ‚Bleiben‘“8. Der Aspekt des „Bleibens“ rückt in den Mittelpunkt, wenn vom Wohnen in der Zukunft die Rede ist. Im Vorblick steht hier das „Sich-Niederlassen“ im künftigen Erbbesitz. Dabei geht es um ein „Wohnen in Sicherheit“, für welches Gott zuvor Ruhe vor den Feinden geschaffen hat. Menschliches Wohnen hängt stets von der Gewähr JHWHs ab. Außerhalb dieser käme es einem „Nicht-Wohnen“, d.h. künftiger Nicht-Existenz gleich. Skn bedeutet ein Wohnen, bei dem der Akzent auf dem angstfreien Niederlassen ohne bleibende, d.h. auch besitzrechtliche Ortsbindung liegt. Es bezeichnet die offene Orientierung hin zu einer noch nicht definierten, zukünftigen Lebensform. Im Vordergrund steht nicht die lokale Fixierung oder territoriale Verhaftung, sondern die dynamische Gegenwart im Vorblick auf ein kommendes Geschütztsein. Obwohl im außerbiblischen Gebrauch selten auftauchend, erfährt der Ausdruck χατασχηνόω [kataskenoo9] im Griechischen des Neuen Testaments eine auffallend häufige Verwendung in der vorrangigen Bedeutung eines längeren oder dauernden Verweilens, eines Wohnens also, das Bestand hat. Darin wirkt der alttestamentliche Sprachgebrauch nach, nämlich ein Sich-Niederlassen, um einstweilen zu bleiben.10

7

Vgl. auch die Nachzeichnung z.B. des babylonischen Weltschöpfungsepos durch Thomas Rentsch. Dabei beschreibt jeder Mythos bzw. jede kosmische Ordnung einen Welthorizont und eine Entwurfspraxis, in welche das Bauen und Wohnen, das gesamte Entwerfen und Gestalten seinen bleibenden Bezugspunkt gewinnt. (T. Rentsch: Entwurf und Horizontbildung aus philosophischer Sicht).

8

Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, hgg. v. G. J. Botterweck und H.

9

Engl. Übersetzung: „to pitch one's tent, to fix one's abode, to dwell“, vgl.: Greek Lex-

Ringgren, Band III; S. 1021. icon – King James Version. 10 Z.B.: Gleichnis vom Senfkorn, aus dem ein Baum erwächst: ποιεî κλάδους µεγάλους, ώστε δύνασθαι υπο την σκιαν αυτου τα πετεινα του ουρανου κατασκηνουν […dass die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können.] (Mk 4, 32).

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Gegenüber dem kosmischen Weltvertrauen der Griechen11, das dem irdischen Dasein eine nachvollziehbare Ordnung vorzeichnet, bestehen für das Selbstverständnis der Gnosis radikal andere Verhältnisse, Sein und Dasein in der Welt zu deuten. Die Mandäer, eine gnostische Täufersekte, die in entlegenen ostjordanischen Fluss- und Sumpfgebieten siedelte, hatten sich in ihren Mythen eine eigene räumliche Vorstellungswelt geschaffen, die Hans Jonas in seinem Buch „Gnosis und spätantiker Geist“ (zuerst 1934) untersucht hat.12 Für die mandäische Vorstellungswelt hatten die Welt, der Raum und seine Grenzen sowie das Wohnen eine gewisse Bedeutung. Jonas zitiert aus der „Heiligen Schrift“ der Mandäer Ginzā (mandäisch „Schatz“) in der Übersetzung von Mark Lidzbarski (Göttingen 1925): „Nicht einzelne Größen im Raume der Welt – der Raum selbst, in dem das Leben sich findet, ist als solcher eine dämonische Macht, und die ‚Dämonen’ sind ebenso wohl Personal- wie Raum-Begriffe. Ihre Überwindung ist daher nichts anderes als ihre Durchquerung, die mit der räumlichen Grenze auch ihre Macht durchbricht und aus der Magie ihrer Umfassung herausführt. Darum sagt das erlösende Leben von sich, daß es ‚die Welten durchwanderte’: ‚Die Welten (Äonen) alle will ich durchziehn, die Mysterien alle erschließen’“.13 Es ist hier vor allem die Idee von Weg und Wanderung, die dem Aufenthalt des Menschen in der Welt eine spezifische Weise des Im-Raumseins, „des menschlichen Inseins“ (Jonas), bescheinigt: die Bewegung. Der Kosmos der Mandäer besteht aus vielen fremden und finsteren Welten, die, eine nach der anderen, durchgangen werden müssen, denen die eine jenseitige lichte Welt gegenübersteht. Auch dies wird räumlich gedacht: jene vom Licht durchflutete Welt ist die Welt außerhalb der irdischen. „‘Wie lange halte ich es schon aus und wohne in der Welt!’“14, zitiert Jonas und sieht darin die Grundstimmung der Weltangst als „Raum-Zeit-Angst“ formuliert. Jonas spricht vom Panischen dieses Erlebnisses, wobei sein und wohnen offensichtlich identisch aufgefasst werden: „‘In jener Welt der (Finsternis) wohnte ich tausend Myriaden Jahre, und niemand wußte von mir, daß ich dort war. […] Jahre um Jahre und Generationen um Generationen war ich da, und sie

Vgl. G. Kittel: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hgg. von G. Friedrich, Band VII: S. 389 ff., hier S. 391. 11 F.-J. Wetz: Hans Jonas. Eine Einführung. 12 H. Jonas: Gnosis und spätantiker Geist. Jonas wurde mit dieser Arbeit in Marburg von Heidegger und dem Religionsphilosophen Rudolf Bultmann promoviert. 13 A.a.O., S. 99. 14 A.a.O., S. 100.

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wußten um mich nicht, daß ich da in ihrer Welt wohnte.’“15 Die Welt oder passender das Weltgehäuse ist räumlich angeschaut: es ist geschlossen. In diese Welt gelangt man hinein, jedoch aus ihr auch wieder hinaus. „Der Aufenthalt ‚in der Welt’ ist ein ‚Wohnen’“, so der Logos der Gnosis. Damit ist sowohl das räumlich Umgrenzte als auch das Austauschbare bezeichnet. Die Welt als ganze ist „Wohnung“ oder „Haus“, wobei Wohnen und Haus unterschieden werden, je ob es sich um die irdische oder die jenseitige Welt handelt. Entsprechend ist das Haus finster oder licht. Die wie mir scheint philosophisch bedeutsamste Herausforderung steckt in der zweiseitigen Bedeutung des Wohnens16 selbst. Der Mandäismus unterscheidet zwischen der episodischen Zufälligkeit und der grundlegenden Bestimmung des Wohnens: „Im Wohnen liegt die doppelte Beziehung: das nur Zeitweilige, nur Ansässigsein, aus Wahl oder Schicksal (auch Vorgeschichte) zustandegekommen und grundsätzlich wieder lösbar – eine Wohnung kann man aufgeben, verlassen, gegen eine andere vertauschen, ja, man kann sie hinter sich zugrundegehen lassen –, und zugleich das Konstitutive, das der Ort des Daseins für dasselbe hat, sein Angewiesensein auf ihn: das Leben muß wohnen und ist seinem Wo zugehörig; die Hingehörigkeit ist ihm wesentlich, es wird von seinem Wo bestimmt – d. h. es selber ist ein ursprünglich raumhaftes Phänomen und lebt aus seinem Raume her. Daher kann es nur Wohnung mit Wohnung vertauschen und auch das außerweltliche Dasein ist Wohnen – in den Wohnsitzen des Lichts und des Lebens, die eine Unermeßlichkeit von umzirkten Örtern jenseits der Welt sind.“17 Das Zeitweilige und das Konstitutive, dies sind die beiden Gesichtspunkte, unter denen das gnostische Denken das Wohnen betrachtet. Die „Gefahr des Wohnens“ wird darin gesehen, dass sich das Leben in der Welt ansiedelt und im irdischen Haus sich festzusetzen versucht. Das „Bleiben“ ist nicht gewünscht, denn die Welt ist nur „die Herberge“, in der man befristet weilt: „‘die Herberge hüten’ ist formelhaft für: in der Welt (im Körper) sein.“18 Jonas weist in diesem Zusammenhang auf die Verbindung bzw. Gleichsetzung von Welt und Körper hin. Wie der Körper das Leben „behaust“, so die Welt das in ihr eingeschlossene Leben. „Mehr noch ist es ‚das Zelt’, vorzüglich aber das ‚Gewand’, das den Körper als flüchtige Weltform der Seele kennzeichnet. Das Gewand ‚zieht’ man ‚an’ und zieht man wieder aus, man vertauscht das eine mit dem anderen, das stoffliche

15 Ebd. 16 Vgl. auch A. Hahn: Architekturtheorie. Dort habe ich zwischen der „Grundsituation des Wohnens“ und dem „So-Wohnen“ unterschieden, S. 162-171. 17 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, S. 101. 18 Ebd.

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mit dem Lichtgewand. Denn auch im jenseitigen Dasein bedarf das Leben eines ‚Gewandes’. Darin bekundet sich, daß zum Leben als solchen ein räumliches Worin und eine umschließende Form gegen diese gehört.“19 In diesen Bildern, so Jonas, ist vor allem auf die impliziten und expliziten Fragen zu achten, da diese, im Gegensatz zu den meist konstruierten Antworten, elementar sind, da aus dem „Zustand des Daseins gegeben“.20

„D ICHTERISCH WOHNET 21 AUF DIESER E RDE “

DER

M ENSCH

Heideggers Darmstädter Vortrag von 1951 steht in einer Reihe weiterer Vorträge und Aufsätze, die das Thema des Wohnens zum Inhalt haben. Zwar ist bereits in Sein und Zeit (1927), d.h. vor der Zeit der „Kehre“ und der intensiven Beschäftigung mit dem Werk Hölderlins, vom Wohnen die Rede, neu ist aber der Bezug auf Maß und Messen. In Sein und Zeit taucht das Wohnen bei der Erläuterung von „In-Sein“22 auf. Danach meinen „in“ und „inan-“ ursprünglich „wohnen, habitare, sich aufhalten“. „Sein“, als Existenzial („ich bin“) verstanden, bedeutet „wohnen bei ... vertraut sein mit“. So die knappen Ausführungen Heideggers in seinem frühen Hauptwerk. Mit dem Werk des Dichters Friedrich Hölderlin (1770-1843) beschäftigt sich Heidegger spätestens seit den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.23 Vor allem in Seminaren und Vorträgen werden Gedichte Hölderlins zum Ausgangspunkt von Interpretationen. 1951, im Jahr des Darmstädter Gesprächs über Mensch und Raum, erscheinen Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung in zweiter Auflage. Hölderlin sei der „Dichter des Dichters“, bei ihm lasse sich das „Wesentliche“ des Wesens der Dichtung finden. Der Aufsatz Hölderlin und das Wesen der Dichtung zeigt, warum Hölderlin und das Dichten für die Phase der „Kehre“ in Heideggers Denken so bedeutsam wurden. Darin fragt er, wer im

19 A.a.O., S. 102. 20 Ebd. 21 Im Folgenden verwende ich Passagen aus meinem Buch Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen. 22 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 54. 23 Nach einer Bemerkung von Walter Biemel hat Heidegger in den Jahren 1933/34 zum ersten Mal den Dichter Hölderlin zum Thema seiner Vorlesungen gemacht. (W. Biemel: Zu Heidegger (Interview), S.10).

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Fluss der Zeit ein Bleibendes fassen und es im Wort zum Stehen bringen kann?24 Der Dichter stiftet durch das Wort das Bleibende. Das Bleibende ist nichts was immer schon vorhanden wäre. Vielmehr muss „gerade das Bleibende gegen den Fortriß zum Stehen gebracht werden; das Einfache muß der Verwirrung abgerungen, das Maß dem Maßlosen vorgesetzt werden“25. An dieser Stelle begegnet uns im Zusammenhang mit dem Dichten (und Bleiben) das Maß, welches dem Maßlosen entgegen gesetzt werden soll. Dazu müssen, so Heidegger, die Götter ursprünglich genannt werden. Durch das Nennen der Götter stellt sich der Mensch unter ihren Anspruch. Die Bedeutung der Dichtung liegt im Aussprechen des wesentlichen Wortes: „Dichtung ist worthafte Stiftung des Seins. [...] Das Einfache lässt sich nie unmittelbar aus dem Verworrenen aufgreifen. Das Maß liegt nicht im Maßlosen“26. Darauf folgt eine weitere Bestimmung der Aufgabe der Dichtung für das Bemessen der Dinge: „Weil aber Sein und Wesen der Dinge nie errechnet und aus dem Vorhandenen abgeleitet werden können, müssen sie frei geschaffen, gesetzt und geschenkt werden. Solche freie Schenkung ist Stiftung“27. Auch das Dasein des Menschen wird so auf einen festen Grund gestellt. In diese feste Gründung spielt nun ebenfalls das Wesen des menschlichen Wohnens hinein. „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet / Der Mensch auf dieser Erde (.)“, heißt es bei Hölderlin.28 Das Wohnen, oder auch das Dasein, sei in seinem Grund „dichterisch“. Das dichterische Wohnen ist kein Verdienst des Menschen, sondern ein Geschenk. Der ebenfalls 1951 von Heidegger gehaltene Vortrag „...dichterisch wohnet der Mensch...“29 wendet sich zunächst gegen die gewöhnliche Vorstellung, das Wohnen bedeute nur eine Verhaltungsweise des Menschen neben anderen30 bzw. das Innehaben einer Wohnung31. Bei der Suche nach dem Wesen der Dichtung, wobei Dichten zunächst als „Wohnenlassen“ gedeutet ist, gelangt Heidegger ins Wesen des Wohnens. Wieder ist es der Zuspruch der Sprache, der den Weg zur Bedeutung dieses „Wesens“ öffnet. Bei seinem Wohnen baut der Mensch die der Pflege bedürfenden Dinge der Erde an und errichtet Bauwerke. Doch dieses Bauen füllt das Wesen des Wohnens nicht aus. Das Bauen sei eine „Wesensfolge

24 Vgl. M. Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S.38. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 F. Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, S. 908. 29 M. Heidegger: „...dichterisch wohnet der Mensch...“. 30 A.a.O., S. 183. 31 A.a.O., S. 182.

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des Wohnens, aber nicht sein Grund oder gar seine Gründung“32. Heidegger befindet, dass der Mensch das Wohnen „vermögen“ muss. Dies führt ihn zu einem weiteren Verständnis von Bauen. Das Dichten erweist sich jetzt als das „anfängliche Bauen“, insofern es dem menschlichen Wohnen erst sein Maß gibt: „Das Dichten erbaut das Wesen des Wohnens“33. Das Maß, welches sich das Dichten nimmt, wird im Durchmessen der Dimension zwischen Himmel und Erde gefunden. Der Dichter nimmt dieses Maß, indem er dichtet. „Das Dichten ist diese Maß-Nahme und zwar für das Wohnen des Menschen“34. Somit wird das Dichten zum Grundvermögen des Wohnens35. Das Undichterische des Wohnens, nämlich nicht menschlich zu wohnen, liegt im Unvermögen des Menschen, das Maß zu nehmen. Das Zeitwort Wohnen, so Heidegger im Vortrag Hebel – der Hausfreund von 1957, „nennt uns die Weise, nach der die Menschen auf der Erde unter dem Himmel die Wanderung von der Geburt bis in den Tod vollbringen“36. Diese Wanderung sei der „Hauptzug des Wohnens“ als des „Aufenthalts zwischen Erde und Himmel, zwischen Geburt und Tod, zwischen Freud und Schmerz, zwischen Werk und Wort“37. Die Welt ist das Haus, das der Mensch „als der Sterbliche“ bewohnt. Das menschliche Wohnen, so führt Heidegger aus, stehe zwischen Technik und Dichtung. Die „technisch beherrschbare Natur der Wissenschaft“ hat sich mit rasender Geschwindigkeit von der „natürlichen Natur des gewohnten, gleichfalls geschichtlich bestimmten Wohnens des Menschen“38 entfernt. Vom ursprünglicheren Wohnen des Menschen her gedacht, sei das „bloße Leben, das man lebt, noch kein Wohnen“39. Aber der Dichter vermag das Maß des Wohnens zu benennen, insofern er es von den Göttern sich nimmt. In einem späteren Text von 1970 kommt Heidegger noch einmal auf Das Wohnen des Menschen zurück. Der Dichter kann nur dasjenige als Maß stiften, was er zuvor von den Himmlischen empfangen hat. Die Himmlischen und die Sterblichen gehören zusammen, so Heidegger den Dichter Hölderlin auslegend, die einen geben das Maß, die anderen nehmen es sich daraufhin. Denn der Mensch wohnet dichterisch ... auf dieser Erde. Damit ist ein Maß angesprochen: „Die irdisch

32 A.a.O., S. 185. 33 A.a.O., S. 196. 34 A.a.O., S. 192. 35 A.a.O., S. 197. 36 M. Heidegger: Hebel – der Hausfreund (1957), S. 138 f. 37 A.a.O., S. 139. 38 A.a.O., S. 148. 39 A.a.O., S. 147.

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Dichtenden sind nur die Maß-Nehmenden einer himmlischen Maßgabe“40. Die Menschen, insofern sie sich allein „technisch“ zum Wohnen verhalten, können sich selbst kein Maß geben, insofern „das Maß für den nur noch rechnenden Menschen das Quantum (ist)“41. Das Maß des Wohnens soll nicht verwechselt werden mit dem Wohnungsaufmaß! Es ist für unseren Zusammenhang von einigem Interesse, schaut man sich die veröffentlichten Protokolle der Aussprache auf dem Darmstädter Gespräch an, dass von den anwesenden Architekten der Begriff des Maßes nicht thematisiert wurde.42 Dies erscheint umso verwunderlicher, als wir es doch beim Maß (Proportion, Symmetrie usw.) mit einem Schlüsselbegriff der Architektur und des Bauens zu tun haben. Einzig der Zusammenhang von Wohnen und Bauen, von Heidegger sehr eindringlich und provokant am Leitfaden der Wortbedeutungsgeschichte ausgelegt und entfaltet, findet Beachtung. Aber die Verknüpfung von Wohnen und Bauen mit dem Maßdenken wird ignoriert.

D AS M ASS

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Schon bei Aristoteles, dann offensichtlicher bei Vitruv wird unter dem Maß etwas genommen, was man von außen an eine Sache heranführt. Der Maßstab, insofern wir ihn wie etwa einen Zollstock als ein Messgerät von einer bestimmten Länge verstehen wollen, ist ein entsprechendes Gerät, mit dessen Hilfe ein quantitatives Maß an etwas Drittem, passender Weise einer Säulenstärke, abgenommen werden kann. Diesen Umgang mit solchem Gerät nennen wir „messen“. Hölderlin dichtet so: „der Mensch misset sich [...] mit der Gottheit“. Diese soll das Maß sein, mit dem der Mensch sein Wohnen „ausmisst“. Heidegger interpretiert: „Das Vermessen ermißt das Zwischen, das beide, Himmel und Erde, einander zubringt. Dieses Vermessen hat sein eigenes métron und deshalb seine eigene Metrik“43. Offensichtlich kommt es entscheidend auf dieses Vermessen an. Dazu wird kein Zollstock oder anderes Messgerät benötigt. Das Wohnen selbst, insofern es dichterisch ist, ist ein Vermessen. Heidegger sagt: „Das Vermessen ist das Dichterische des Wohnens. Dichten ist ein Messen“44. Zunächst nimmt sich das Dichten das Maß, an dem etwas überhaupt gemessen werden

40 M. Heidegger: Das Wohnen des Menschen, S. 215. 41 A.a.O., S. 219. 42 Vgl. O. Bartning: Mensch und Raum. 43 M. Heidegger: „...dichterisch wohnet der Mensch...“, S. 190. 44 Ebd.

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soll. Hölderlin nennt die Gottheit als Maß für das menschliche Wohnen. Verwirrend ist hier allerdings Hölderlins Feststellung, dass die Gottheit unbekannt sei, dennoch aber das Maß für das Wohnen sein soll. Obwohl Gott unbekannt ist, kann er dennoch offenbar sein „wie der Himmel“. In dieser Offenbarkeit erscheint das Maß, woran der Mensch sich misst. Heidegger spricht deshalb von einem seltsamen, geheimnisvollen Maß, insofern wir daran gewöhnt sind, unter dem Messen uns eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Werkzeuggebrauch und Messtechnik vorzustellen. Das Maßnehmen, wie es Heidegger bei Hölderlin deutet, ist indes ein vernehmendes Hören, dessen Mittelstellung der Dichter einnimmt. Dieser steht nämlich gleichsam als Bote zwischen Erde und Himmel, zwischen dem Menschen und der Gottheit. „Denn der Mensch wohnt, indem er das ‚auf der Erde’ und das ‚unter dem Himmel’ durchmißt“45. Das Dichten sei also ein „ausgezeichnetes Messen“. Insofern kann das Dichten auch das „anfängliche Bauen“ genannt werden, da es das Maß nimmt „für die Architektonik, für das Baugefüge des Wohnens“46. Aber Heidegger nennt Dichten auch „Andenken“. Die Worte des Dichters machen auf das Bleibende aufmerksam. Sie stiften, was bleibt: „Das stiftende Wohnen des Dichters weist und weiht dem dichterischen Wohnen der Erdensöhne den Grund“47. In diesem Weisen wird das Maß gedacht. Wollte Heidegger noch vor die Metaphysik zurückgehen, um das Wohnen aus der Seinsvergessenheit herauszuheben, kritisiert E. Lévinas bei Heidegger gerade den Primat der Ontologie vor der Metaphysik, die jener als Ethik auslegt. Er denkt das Wohnen vom Verhältnis des Ich zum Anderen, wobei er zwischen der Andersheit der Welt und dem absolut Anderen unterscheidet. In einer bewohnten Welt, in der ich mich aufhalte, „fällt die Andersheit [...] unter meine Vermögen“48. Im Gegenzug zu Heideggers Interpretation des Wohnens als Aufenthalt bei den Dingen setzt Lévinas das „Geschehen des Wohnens (habitation)“, das allerdings vom Wissen des Menschen getrennt werden muss. Wohnen und Wissen haben kein gemeinsames Maß. Denn jedes Wissen, jede Vorstellung der Welt, der Gegenstände und Orte sind nachträglich zur Situation des Wohnens: „Jede Betrachtung von Gegenständen [...] (ereignet) sich im Ausgang von einer Bleibe (demeur)“.49 Der Mensch findet sich nicht in die Welt geworfen und

45 A.a.O., S. 192. 46 A.a.O., S. 196. 47 M. Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 143. 48 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 42. 49 A.a.O., S. 218. Demeurer heißt sowohl „bleiben“ als auch „wohnen“. Bollnow weist darauf hin, dass „der französische Begriff der ‚demeure’ [„Heim“] stärker das zähe

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verlassen wieder, wie Heidegger behauptet, denn die Bleibe liegt gewissermaßen noch „vor“ der Welt. Die primäre Veranschaulichung der Welt erfährt das Subjekt also durch das Wohnen, durch die Existenz von der Intimität und Isolierung eines Hauses aus, die die menschliche Subjektivität als Sammlung und Bei-sichbleiben erweckt und sich „als Existenz in einer Bleibe“ konkretisiert50: „Von nun an bedeutet Existieren Bleiben“51. Der Philosoph Werner Marx52 reagiert auf die bei Heidegger aufgelassene Kluft, insofern dieser, nachdem das Dichterische als leitend für das Errichten von Bauten aufgezeigt wurde, es versäumt habe zu sagen, wie der Weg für den Menschen, der kein Dichter ist, zu gehen sei, damit er das jetzige „undichterische“ Wohnen überwinde53. Diese Lücke nun selbst schließend, stellt Marx dem „dichterischen Wohnen“ ein „Wohnen in den Maßen“ gegenüber. Marx entwickelt, anders als Heidegger, ein „nichtmetaphysisches“, d. h. für den sterblichen Menschen erfahrbares Maß, insofern er ein Maß-nehmen denkt, in welchem der „Maßnehmende ‚wohnt’“54. Dafür stehe paradigmatisch das Maß des Heilenden, welches sich im Bereich des „Mitmenschlichen“ ereignet, da die mitweltlichen sozialen Erfahrungen des Liebens, des Mitleidens und des Anerkennens des Anderen ein „Wohnen“ in jenen Maßen bedeutet. Dieses Maß wohnt als Gestimmtheit in dem Menschen, der jene maßgebenden mitmenschlichen Erfahrungen gemacht hat. Marx spricht deshalb vom „‚Wohnen’ in den Maßen“55. Es ist die Endlichkeit des Lebens, die die Menschen überhaupt für die Erfahrung von Maßen öffnet, in denen zu wohnen sie freilich erst noch lernen müssen56. Hatte Marx das ethische Maß für das Wohnen des Menschen stärker an die mitweltliche Erfahrung binden wollen, so erinnert Walter Biemel daran, dass Heidegger im „Brief über den ‚Humanismus’“ den von Heraklit gebrauchten griechischen Ausdruck ethos mit Aufenthalt bzw. „Ort des Wohnens“ übersetzt habe. Der vollständige Spruch heißt in Heideggers Übersetzung: „der Mensch

Verweilen am Ort im Gegensatz zum widerstandslosen Fortgetriebenwerden im Fluß der Zeit (betont).“ (F. O. Bollnow: Neue Geborgenheit, S. 165). 50 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 220. 51 A.a.O., S. 223. 52 W. Marx; Gibt es auf Erden ein Maß? 53 A.a.O., S. 152. 54 A.a.O., S. 60. 55 A.a.O., S. 68. 56 A.a.O., S. 116.

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wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe Gottes“57. Damit sei für Heidegger das Thema der Ethik die Frage nach dem „rechten Wohnen“. Die Bedeutung von Wohnen führe in den Bereich, den Heidegger für das Sein vorbehalten habe: das Offene, die Nähe, die Lichtung. Der dabei mitgedachte Aufenthalt des Menschen inmitten des Seienden („Geviert“) umfasse eben nicht nur das Mitmenschliche, sondern ebenso die Natur und das Göttliche. Um das eigentliche Wohnen des Menschen zu ermöglichen, dürfe das Sein nicht vom Seienden her gedeutet werden58. Biemel erklärt das Wohnen als den Aufenthalt des Menschen, welchen Heidegger auch als die Nähe zum Sein gedacht habe. Dabei hat Heidegger ausdrücklich betont, dass der Mensch als der Ek-sistierende, der in der Lichtung des „Da“ wohnt, es heute nicht vermag, „dieses Wohnen eigens zu erfahren und zu übernehmen“59. Nähe meint Vertrautheit, so dass das Wohnen zu denken bedeutet, nach der Vertrautheit des Menschen zum Mitmenschen, zur Natur, zum Göttlichen und schließlich nach der Vertrautheit zu sich selbst60 zu fragen. Biemel interpretiert das Wohnen als Entsprechung des Ethos, als dasjenige, „von dem das menschliche Sein tragenden Bezug zur Lichtung“61 auszugehen hat. Der dem Wesen des Wohnens gerecht werdende Aufenthalt entspricht dann dem Verhalten des Menschen zum Seienden in der Erfahrung der Nähe. Mit dem Gewinn des richtigen Wohnens sei auch der rechte Bezug zum „Geviert“ verwirklicht, so dass sich die klassischen ethischen Fragen nicht mehr stellten62. Die andauernde Suche nach diesem Aufenthalt, dem „rechten Wohnen“, verweist indes den Menschen weiterhin in die Heimatlosigkeit63. Otto Pöggeler nimmt in seinem Aufsatz Gibt es auf Erden ein Maß? den Gedankenkontext Hölderlin-Heidegger auf, indem er zunächst auf die Interpretationen von Marx hinweist: Dessen „Weiterführung geschieht von Hölderlins Frage nach dem Maß her, doch so, daß das Wohnen, von dem Hölderlin spricht, nicht nur ein dichterisches sein soll, sondern auch vom alltäglichen Leben aus gefunden und zum Ethos geführt werden soll“64. Pöggeler geht dann aber wieder zurück auf den ursprünglichen Hölderlin-Text und findet eine andere Interpretation des Maßes als Heidegger: „Der Mensch muß auf der Erde aufrecht stehen, wie

57 M. Heidegger: Brief über den ‚Humanismus’, S. 354 f. 58 W. Biemel: Zu Heidegger (Interview), S. 12. 59 M. Heidegger: Brief über den ‚Humanismus’, S. 337. 60 W. Biemel: Maß und Maßlosigkeit der Sterblichen, S. 33. 61 A.a.O., S. 34. 62 W. Biemel: Zu Heidegger (Interview), S. 12. 63 W. Biemel: Maß und Maßlosigkeit der Sterblichen, S. 35. 64 O. Pöggeler: Gibt es auf Erden ein Maß?, S. 138.

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die Kirche mit ihrem Turm, der in den Abgrund der Bläue ragt. Die himmlischen Gestalten sind sein Maß, ein Maß nämlich im Sinne der alten Tugend, in bestimmten Situationen die Mitte zu treffen, die ‚mâze’ nach dem mittelhochdeutschen Ausdruck. Ein bleibendes Maß aber gibt es nicht, denn gerade der höchste Gott ist der Donnerer, der jede Ausgewogenheit auch wieder zerstört.“65 Heidegger und Marx stimmten darin überein, so Pöggeler, dass der Ausdruck „ein Maß“ vom Maßnehmen her zu verstehen ist. Sowohl Hölderlin wie Heidegger behaupten, dass es dieses Maß auf Erden nicht gebe. Anders freilich Marx: Für ihn kann dieses Maß im alltäglichen Leben gefunden werden. So mag es zunächst einmal „offen“ bleiben, inwiefern beim menschlichen Wohnen überhaupt so etwas wie Maß und Mitte intendiert sind. Auch Gadamer hat sich über eine kritische Lektüre Marxens mit der Thematik des Wohnens und seines Maßes auseinandergesetzt.66 Er interpretiert Heideggers Weigerung, ein gemessenes Wohnen anzuerkennen, nicht so sehr von jenen mitweltlichen Tugenden her, die Marx aufzählt. Entscheidender ist ihm, dass wir das Wohnen nicht mehr denken können. Das gegenwärtige Denken, so Gadamer in einem Rezensionsaufsatz von 1987, ist von einer zunehmenden Berechenbarkeit in Beschlag genommen: „Es geht nicht um das Wohnen als solches, sondern darum, Wohnen wieder ‚denkbar’ zu machen, d.h. ihm seinen Rang im Selbstverständnis des Menschen wiederzugeben [...]“67. Deshalb muss der Mensch wieder ins „Wohnenkönnen“ zurückgeführt werden, was das rechnende Denken nicht bewerkstelligen kann. Insofern sind es Dichter und Denker, denen Heidegger zutraut, ein anderes Wohnen als ein anderes Denken und schließlich die Erfahrung vom Maß zu antizipieren. Wichtig bleibe, dass Hölderlin und Heidegger das „dichterische Wohnen“ als „die eigenste Möglichkeit des Menschen“ beschreiben68. Gadamer selbst hat dann später für ein qualitatives Maßdenken gesorgt. Beim „rechnenden“ Messen wird ein Maß von außen ans Wohnen gelegt, um festzustellen, wie sich das Wohnen an diesem Maß ausnimmt: mehr oder weniger Quadratmeter, die eine Fläche ausmessen. Es gibt aber, so Gadamer, zwei Arten des Maßnehmens. Gadamer spricht davon, dass es auch ein Maß gibt, „das

65 A.a.O., S. 142. 66 So ausführlich in Gadamers Rezension zu Marxens „Gibt es auf Erden ein Maß?“, in: H.-G. Gadamer: „Gibt es auf Erden ein Maß?“ (W. Marx), in: Neuere Philosophie I, S. 333-349. 67 A.a.O., S. 344. 68 A.a.O., S. 348.

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man in den Sachen selbst findet und das sich als das rechte Maß erweist“69. Für Maß 1 ist der Handwerker zuständig, der auf Grund einer durchgeführten Messung sich nachprüfbar in seinem eigenen Verhalten nach dem erzielten Ergebnis richtet. Bei Maß 2 reagiert man nicht auf das an eine Sache angelegte Maß, sondern man folgt dem Blick auf das Maßvolle und orientiert sich an dem, „was sich als richtig erweist und dem man gehorcht“70. Dazu bedarf es der Fähigkeit, das Angemessene gelten zu lassen. Dem Angemessenen Folge zu leisten, muss selbst anerkannt sein und als Richtmaß gelten. Wir haben es dann mit der seltenen Gabe zu tun, dass jemand spürt, „was hier das Richtige ist“71, um daraufhin auch das Richtige zu tun. Die Bedeutung des mittelalterlichen mâze, von der Pöggeler gesprochen hat und von dem Gadamer ebenfalls auszugehen scheint, weist vor allem drei Richtungen auf.72 In der ersten wird unter mâze eine bestimmte Größe verstanden, mit der eine andere verglichen wird, eine abgegrenzte Ausdehnung in Raum, Gewicht, Kraft. So kann das Maß allgemein genommen wie auch von bestimmten, eingeführten Maßen jeglicher Art gesprochen werden. Zweitens ist unter mâze eine verglichene und richtig befundene Größe, eine gehörige Größe, das rechte, gebührende Maß zu verstehen. Drittens dann wird mâze auch im Sinne des Maßhaltens, der Mäßigung gebraucht. Daraus ergeben sich weitere Bedeutungsebenen: die Kunst zu messen, das rechte Maß zu finden, diejenige Eigenschaft des Gemüts, vermöge derer der Mensch in allen Dingen Maß hält, die äußerste Grenze nie überschreitet, anstandsvolle Bescheidenheit usw. Diese zuletzt und drittens aufgeführten Bedeutungen von mâze betreffen eine bestimmte Disposition des Gemüts, des Charakters und der Erziehung, die den ritterlichen Kreisen, deren Ideen für den Gehalt der mittelhochdeutschen Literatur maßgebend waren, als eine der vornehmsten Tugenden galt, deren Trefflichkeit umso öfter gerühmt wird, je näher die roheren Leidenschaften jener Zeit die Notwendigkeit derselben legen mochten.73

69 H.-G. Gadamer: Sprache und Musik – Hören und Verstehen, hier S. 17. 70 Ebd. 71 A.a.O., S. 18. 72 Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 73 Ebd.

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D AS HÄUSLICHE W OHNEN ALS S TIFTUNG EINER BESONDEREN S TIMMUNG Einem anderen philosophischen Impuls folgen die Autoren, die mit dem (häuslichen) Wohnen vor allem das Erzeugen einer Stimmung und damit den Zustand einer bestimmten Befindlichkeit verbinden. Bei Heidegger ist von der Befindlichkeit oder Gestimmtsein des Menschen die Rede. Sie sei eine eigene Grundweise des Verstehens. Auch Hans Lipps hat von der Gestimmtheit unserer Existenz gesprochen, von dem Druck, unter dem der Mensch steht, dass er etwas beginnen, seinem Leben eine konkrete Gestalt geben muss. Solche existenzialen Stimmungen werden oft metaphorisch zum Ausdruck gebracht, indem Bilder des Geworfenseins bzw. der Geworfenheit des Menschen, aber ebenso auch des Heimatlichen und Geborgenen usw. erzeugt werden. Es geht den nachfolgenden Autoren aber nicht mehr um das menschliche Wohnen und Bleiben in der Welt, sondern – ausgesuchter – um das Wohnen in einem erst dafür „gemachten“ bzw. hergerichteten Raum, den bergenden Raum, den man bewusst und gekonnt der Abgründigkeit, Fremde, Kälte und Unheimlichkeit der Welt draußen entgegen setzt. Wir haben es hier gleichsam mit einem Gegenentwurf zur Gnosis zu tun: Der dort beschworenen „Gefahr des Wohnens“, nämlich ein Bleiben in der profanen Welt auf Dauer auszubilden, wird nun getrotzt, indem das Bleiben und die Bleibe als Inbegriffe des Wohnens gedeutet werden. Auch kann damit dem Dasein seine dramatische Hauptbedeutung der „Wanderung“ durch die vielen Räume der Welten genommen werden. Es wird vielmehr gerade dieses dauernde Verweilen als ein willentliches Festsetzen an einem geschützten Ort („Haus“) als Flucht vor dem Panischen des Erlebens jener „Raum-Zeit-Angst“ gedeutet, die Jonas an den mandäischen Schriften herausgestellt hat. Der Religionsphilosoph Paul Tillich hat ganz in diesem Sinne das Wohnen in einem Haus gegen das Fremde und Abgründige des Draußen gestellt: „Um dem Unheimlichen zu entfliehen, sucht der Mensch sich heimisch zu machen im Dasein, sucht er dem Dasein das Fremde, das Drohende zu nehmen. Ein hervorragendes Symbol dieses Willens ist das Haus. [...] Im Hause wird ein Stück des Daseins heimisch gemacht, zur Vertrautheit gebracht.“74 (Kursiv durch mich, A.H.) Die Unheimlichkeit versteht sich als eine räumliche Welt-Stimmung, gegen die sich der Mensch wappnen muss, indem er sich seinen „intimen“ Bezirk schafft und diesen mit einer ganz eigenen Atmosphäre ausstattet und so „Wohnlichkeit“ stiftet. Schon der Blick auf die Wortgeschichte des Wohnens deutet dieses Tun an. So stellt „Trübners Deutsches Wörterbuch“ für das Verbalsubstantiv „Wohnen“ die „im

74 P. Tillich: Die technische Stadt als Symbol, S. 308.

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Westnord. erhaltenen Bedeutungen des Behagens und Zufriedenseins“ fest. Die später von Hermann Schmitz hervorgehobene Bedeutung des Wohnens und der Wohnung als Ergebnis einer „Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum“ hat ihre Vorgänger in der Phänomenologie von E. Minkowski, Otto F. Bollnow, H. Lassen und K. von Dürckheim.75 Beispielsweise werden in Minkowskis Aufsatz über „Raum, Intimität, Wohnung“76 die Stimmungen „Gemütlichkeit, Behaglichkeit, Wohnlichkeit“ angesprochen. „In dieser speziellen Verwendung könnte man den im Deutschen etwas seltenen Begriff der Intimität anspruchsvoller auch mit ‚Wohnlichkeit’ wiedergeben, in andrer Hinsicht vielleicht auch mit ‚Gemütlichkeit’ oder ‚Behaglichkeit’ oder anders auch wieder mit dem Begier des ‚Anheimelnden’, ohne damit den vollen Bereich der mit ‚Intimität’ bezeichneten Sphäre wiederzugeben.“77 Dass es in diesen Beschreibungen in erster Linie auf den von Menschen entworfenen, erbauten und eingerichteten Raum ankommt, hat Minkowski auch darin zum Ausdruck bringen wollen, dass er diesen Räumen den besonderen Charakter der Intimität gegeben hat. Es handelt sich hier um gestaltete Räume, in denen sich das Gefühl der Intimität entfalten kann. Er spricht „von einem ‚Klima’, einer ‚Atmosphäre der Intimität’“78. Hier werden Räume nicht in dem wahrgenommen, was sie an Dingen und Materialien enthalten, sondern es geht allein um ihr Wirken und den Eindruck, den sie auf den Menschen machen, der sich in ihnen aufhält. Den Zusammenhang von räumlicher Geborgenheit und menschlichen Beziehungen verdeutlicht folgendes Zitat von Minkowski: „So sehr ist es wahr, daß man zu zweit sein muß, wie es die menschliche Bestimmung will um das Leben aufzubauen, um die Intimität zwischen sich und um sich zu schaffen. Und das ‚Interieur’ belädt sich jetzt mit Büchern und unbedeutenden kleinen Bibelots [Nippsachen], mit Schmerzen und Freuden, mit Wünschen, mit dieser Anstrengung, gemeinsam dieses Leben wie diese Wohnung zu bauen, indem man dort einen wichtigen Platz dem Klima der Intimität gewährt, das einen kleinen Kreis gleichfühlender und naher Freunde offen ist […] So beweist die Intimität ihre Lebensbedeutung; sie fordert eine gewisse Kultur des Herzens und des Geistes.“79 Georg Simmel wiederum hat die unweigerlich auftretende Nähe von Menschen untereinander im intimen Raum als ein Wagnis der Zumutbarkeit beschrieben, insofern wir nun dem anderen durch bestimmte, jede räumliche Distanz aufgebende Sinneseindrücke bekannt werden:

75 Vgl. die entsprechenden Ausführungen bei O. F. Bollnow: Neue Geborgenheit. 76 E. Minkowski: Espace, intimité, habitat, S. 172 ff. 77 O. F. Bollnow: Neue Geborgenheit, S. 173. 78 Ebd. 79 E. Minkowski zitiert bei O. F. Bollnow: Neue Geborgenheit, S. 174 f.

Ü BERSICHT

ZU EINER

P HILOSOPHIE DES W OHNENS

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„Daß wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner, er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Sinnlich-Innerstes ein, und es liegt auf der Hand, daß bei gesteigerter Reizbarkeit gegen Geruchseindrücke überhaupt dies zu einer Auswahl und einem Distanznehmen führen muß […]“80. Die „Kultur des Herzens und des Geistes“, von der oben gesprochen wurde, soll das Stichwort sein, um auf die ganz ähnlichen Ausführungen von Hermann Schmitz sprechen zu kommen. Für ihn ist das Wohnen „ein Verfügen über Atmosphärisches, sofern ihm durch eine Umfriedung ein Spielraum gewährt wird“.81 Dieser spricht deshalb auch von der „Kultur der Gefühle“. Es geht ihm ebenfalls um Anlässe und Bedingungen des Erzeugens eines Klimas der Wohnlichkeit. Er deutet das gelingende Wohnen als eben dieses Herstellen einer besonderen Stimmung, die als leibliche Regung gespürt wird. Schmitz spricht wie Tillich82 von der Abgründigkeit des Unheimlichen, dem man gleichsam einen Bezirk abtrotzt, der in sich friedvoll und harmonisch erlebt werden kann. Wichtig ist das Eingegrenzte und Abgetrennte, dass die Wohnenden sich durch Wände (Haus, Kirche) und Mauern (Friedhof) oder Zäune und Hecken (Garten) einen eigenen geschützten Gefühlsraum schaffen. Das Wort Behaglichkeit enthält den Wortteil „Hag“ (Umzäunung)83, was auf einen in seine Grenzen eingelassenen und darin behüteten Spiel-Raum für menschliche Aktivitäten hindeutet. Ausschließung ist hier die wesentliche Vorbedingung für die Erzeugung einer intimen, auf Leib und Gemüt gleichermaßen wirkenden Stimmung. In diesem Verständnis ist das Wohnen auf Haus und Wohnung (überhaupt auf räumlich geschlossene Räume) angewiesen. Auf der anderen Seite bleibt der erzeugte Gefühlsraum stets bedroht durch das Verhalten der Wohnenden infolge von Reaktionen auf Widerfahrnisse aller Art. Insofern kann hier das Abgründige der inneren Natur des Menschen das Unheimliche, das in der äußeren Natur empfunden, aber im Wohnen erfolgreich ausgeschlossen wird, gleichsam ablösen: „Eine Wohnung reicht nur so weit, wie die durch eine Umfriedung eingeräumte Chan-

80 G. Simmel: Soziologie der Sinne, S. 291. 81 H. Schmitz: Das Göttliche und der Raum, S. 258. Vgl. dazu auch die von Schmitz ausgehenden Ausführungen zum Verhältnis von Wohnen und Denken in: J. Hasse: Wohnen als Prozess der Umfriedung und das Problem der Transformation des Urbanen, S. 16-33. 82 „Der isoliert wohnende niedersächsische Bauer trotzt in der Heimlichkeit seines Hauses der Unheimlichkeit der Weite, die ihn umgibt und in Einsamkeit bannt“, in: P. Tillich: Die technische Stadt als Symbol, S. 308. 83 Vgl. F. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 348.

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ce, abgründige Erregungen abzuhalten, zu dämpfen und einer harmonischen Gefühlskultur anzupassen; wenn die Scham, eigens herbeigerufen, die Umfriedung überflutet, bricht die Wohnung daher zusammen, nicht anders, als bei schockartigem Durchbruch des Erschreckens.“84 Wenn aber das Wohnen gelingt, bedeutet es auch eine gewisse Steigerung oder Auszeichnung des Lebens, oder wie Schmitz sagt, dass die umfriedete und abgeschlossene Wohnung „alles Leben zum Wohnen werden läßt“85.

AUSBLICK

AUF DEN

S TIL EINES „ MODERNEN “ W OHNENS

Die Empfindsamkeit für Atmosphärisches, das „gemütliche“ Wohnräume zeigen, lassen dafür aufgeschlossene Hausherren bzw. Hausfrauen vermuten.86 Das Wohnen und die Wohnung stehen Jedermanns Geschmack zur freien Verfügung. Um aber dem Einwirken des Unbehaglichen, Fremden und Kalten ins Wohnen gekonnt zu trotzen, sollte dieser Geschmack kultiviert und das Wohnen eingeübt sein. Wir sprechen dann von einem „guten“ Geschmack. Der gute Geschmack, den eine Wohnung zu erkennen gibt, appelliert an die „befriedeten Schichten“ eines zurückgezogenen Lebens jenseits der Öffentlichkeit des Überindividuellen und seinen Erregungspunkten. Individualität und Allgemeinheit sind die beiden Extreme, zwischen denen der moderne Mensch sich weiß und sein Leben einzurichten hat. Georg Simmel, der große Kenner der kulturellen Moderne, sieht in der Stilisierung „als Hintergrund und Basis des täglichen Lebens“ den Ausgleich zur „absoluten Selbstverantwortlichkeit“87, die die moderne Gesellschaft dem einzelnen Menschen abverlangt. Er gibt einen tiefen Einblick in den Sinn des Wohnlichen, wie es dem Menschen in einem beruhigten Zuhause angemessen ist: „In seinen Zimmern ist der Mensch die Hauptsache, sozusagen die Pointe, die, damit ein organisches und harmonisches Gesamtgefühl entstehe, auf breiteren, weniger individuellen, sich unterordnende Schichten ruhen und sich von ihnen abheben muß. […] Das Prinzip der Ruhe, das die häusliche Umgebung des Menschen tragen muß, hat mit wunderbarer instinktiver Zweckmäßigkeit zu der Stilisierung dieser Umgebung geführt: von allen Gegenständen unseres Gebrauchs sind es wohl die Mö-

84 H. Schmitz: Das Göttliche und der Raum, S. 259. 85 A.a.O., S. 261. 86 Dem Erzeugen einer „gemütlichen Atmosphäre“ sind u.a. Bollnow und Schmitz nachgegangen. 87 G. Simmel: Das Problem des Stiles, S. 380.

Ü BERSICHT

ZU EINER

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bel, die am durchgehendsten das Cachet irgend eines ‚Stiles’ tragen.“88 Simmel nennt an erster Stelle das „Prinzip der Ruhe“, das das wohnliche Haus auszeichnet. Ausspannung und Herabstieg der Erregungen begünstigen die in der Regel mit anderen Menschen geteilte häusliche Bequemlichkeit. Das einzelne Gebrauchsstück ist zu unterscheiden hinsichtlich seiner Stilisiertheit von der Wohnung bzw. der Umgebung des Wohnens als Ganze, in der es sich das Individuum behaglich macht: „Die Wohnung, wie sie der einzelne nach seinem Geschmack und seinen Bedürfnissen einrichtet, kann durchaus jene persönliche, unverwechselbare, aus der Besonderheit dieses Individuums quellende Färbung haben, wenn jeder konkrete Gegenstand in ihr dieselbe Individualität verriete.“89 In der Auflösung dieses vermeintlichen Widersinnigen im Verständnis von Individualität des Wohnenden und einem gleichen Zug der Anmutung bei den Gebrauchsgegenständen des Wohnens macht Simmel deutlich, worin das Wohnliche für den Menschen besteht: „Angenommen, es [das Widersinnige] gälte, so würde es zunächst erklären, weshalb Zimmer, die ganz streng in einem bestimmten historischen Stil gehalten sind, zum Bewohnen für uns etwas Unbehagliches, Fremdes, Kaltes haben – während solche, die aus einzelnen Stücken verschiedener, aber nicht weniger strenger Stile nach einem individuellen Geschmack, der freilich ein ganz fester und einheitlicher sein muß, komponiert sind, im höchsten Maße wohnlich und warm wirken können.“90 Stilistisch einheitlich eingerichtete Räume schlössen zwangsläufig „das darin wohnende Individuum sozusagen von sich (aus)“. Es ist aber der Wohnende, dem es durch das Glück des Stils gelingt, aus einzelnen Möbelstücken eine Gesamtform zu schaffen, die zum bewohnbaren Gegenüber dieser „besonders gestimmten Persönlichkeit“ wird. Die WohnDinge offenbaren ein ihnen „anfühlbares Erlebtsein“91 Mit der Wohnung tue sich der Mensch (das „Ich“) „ein stilisiertes Gewand um“.92 Frühere Zeiten zeichneten sich dadurch aus, dass sie „nur einen und darum selbstverständlichen Stil besaßen“. Simmel nennt Stil mit einem geglückten Ausdruck auch die „Fraglosigkeit der allgemeinen Lebensgrundlage“93, also eine bestimmte Haltung und Daseins-Disposition, die man sich im Leben geschaffen hat, ohne sie im Einzelnen bewusst benennen oder anwenden zu können. Diese erworbene Disposition des guten Geschmacks kann dann auch durch Betonung des Guten des Geschmacks

88 A.a.O., S. 380 f. 89 Ebd. 90 A.a.O., S. 381; kursiv durch mich, A.H. 91 A.a.O., S. 382. 92 Ebd. 93 A.a.O., S. 383.

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die Quelle für jenes ethische Maß sein, das der Mensch sich setzt und das ihm die Grenzen des Wohnlichen auch in einem ästhetischen Sinne lehren kann. Die moderne Zeit besitzt allerdings eine „große Anzahl von Stilen“, „so daß die individuelle Leistung, Verhalten, Geschmack sozusagen in einem lockeren Wahlverhältnis zu dem weiteren Fundament, zu dem allgemeinen Gesetz steht, dessen sie doch bedarf“.94 Haus und Wohnung decken unser Bedürfnis nach Wohnlichkeit ab. Sie sind deshalb „mit Geschmack“ zu entwerfen und einzurichten. „Geschmack“ ist als Sinn ein sicheres Empfinden für die Wirkung von etwas. Er setzt die Interessiertheit und Aufgeschlossenheit im Sinne des praktischen, lebendigen Verhältnisses voraus, in dem man zum Beispiel zu einem Haus, zu einer Wohnung stehen muss, um es bewohnend in seiner Angemessenheit und Schönheit entdecken oder besser: empfinden zu können. Fehlt überhaupt diese praktische Freiheit, etwas auf sich wirken zu lassen, so wird man an der „Wirklichkeit“ der Dinge vorübergehen. Den guten Geschmack als gesellschaftliches und nicht als ein privates Phänomen entwickelt der Einzelne auf dem kommunikativen Boden jener Fraglosigkeit lebensweltlicher Verbindlichkeiten, die z.B. jedes Kunstwerk ja gerade gezielt in Frage stellt.95 So lässt sich mit Simmel die Wohnung in einem modernen Verständnis deuten als den privat-häuslichen Bereich, in den sich das moderne Individuum, um zur Ruhe zu kommen, immer wieder in sein Wohnen zurückzieht. Hier bedarf es aber gerade einer geschmackvoll stilisierten Wohnumgebung: „in diesem überindividuellen Charakter liegt das Gedämpfte und Beruhigende, das von allen streng stilisierten Gegenständen ausgeht“96. Deshalb sei auch „der Stil, und nicht die Individualisierung, das rechte Lebensprinzip“97. Mit diesen Überlegungen hat Simmel auch eine Grundlage für eine „moderne“ Philosophie des Wohnens gelegt, die durch anschließende Überlegungen zu den Phänomenen guter Geschmack und Lebens-Stil fortgeführt werden kann.

94 Ebd. 95 Ein Kunstwerk in einem bewohnten Zimmer „unterdrückt den Menschen, der doch mit seiner Individualität schließlich die Hauptsache, und jenes nur Hintergrund sein soll“, in: G. Simmel: Der Bildrahmen, S. 105. 96 Ebd. 97 A.a.O., S. 106.

Fragen des Transzendenten in der Architektur

T RANSZENDENZ

ALS

T HEMA DER ARCHITEKTURTHEORIE

Die im Titel angekündigte Problemstellung hat sich mit zwei geisteswissenschaftlichen Komplexen abzugeben: der Transzendenz und der Architektur. Was Architektur ist, was sie bedeutet, was man unter dieser Überschrift meint, ist nicht voraussetzungslos und ein für alle Mal abgemacht. Versteht man darunter z.B. das Beherrschen einer Baukunst oder ein bestimmtes fachmännisches Wissen? Heute ist Architektur ebenso Gegenstand der Kunstwissenschaft und Ästhetik wie auch von Sozialwissenschaften wie Soziologie und Psychologie bzw. historischen Wissenschaften wie der Bau-, Architektur- und Kulturgeschichte? Ich werde im Folgenden versuchen, mich dem Phänomen Architektur so zu nähern, dass ich nach einem spezifischen architektonischen Verhalten bzw. Handeln frage. Der damit verknüpfte phänomenologisch-hermeneutische Standpunkt begreift Architektur als Lebensmittel, entworfen, hergestellt und schließlich in Gebrauch genommen von Menschen, die ihr Leben führen müssen. Grundbedingung dieser Lebensführung ist, dass der Mensch, einmal auf der Welt, irgendwo bleiben muss, was wir wohnen nennen, und dieses Wohnen soll gelingen.1 Architektur ist also eine Antwort des Menschen auf sein In-der-Welt-sein. Unsere Welt haben wir uns primär sprachlich erschlossen. Der Mensch wohnt nicht, weil gebaut wurde. Sondern er baut, insofern der Mensch ein Wohnender ist. Es gibt ein vorarchitektonisches Bauen und Wohnen, das man auch „architektonisches Verhalten“ nennen könnte, und es gibt seit Vitruvs Unterscheidung zwischen der Fachwissenschaft „Architektur“ und einem Laienwissen

1

Vgl. ausführlich dazu A. Hahn: Architekturtheorie; jetzt auch A. Hahn: Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens.

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(Umgangs- und Gebrauchswissen von Architektur) das professionalisierte architektonische Handeln, insofern Wohnen, Entwerfen und Bauen sich auseinander differenziert haben. Das Entwerfen selbst mag man als einen Wurf in eine Welt verstehen, deren Zukunft für die „Weltbewohner“ zu einem Problem werden kann. Ich sehe es nicht als eine Aufgabe der Architekturtheorie an, unterschiedliche Transzendenz-Begriffe vorzustellen und beurteilend abzuwägen. Vielmehr versuche ich mich in der Anwendung eines Transzendenzverständnisses in der Hoffnung, damit für das Nachdenken über Architektur – das Deuten ihrer Wirklichkeit – einen brauchbaren Beitrag leisten zu können. Der Ausdruck Transzendenz bedarf allerdings gewisser Erläuterungen. „Ursprünglich“, so Hans Blumenberg 1962 im Lexikonartikel „Transzendenz und Immanenz“, ist die Vorstellung von Transzendenz, dass ein endliches Wesen seine Natur übersteigt, „an ein räumliches Schema gebunden: transzendent ist, was außerhalb des Kosmos existiert und mit den an kosmischen Gegebenheiten orientierten Begriffen nicht erfaßt werden kann.“2 Heidegger hat dieses Schema der Transzendenz verworfen, indem er sagt: In-der-Welt-sein heißt transzendieren. Das Transzendente sei nicht, wohin ich übersteige, sondern das „Überschreitende als solches“3, nämlich das Dasein. Und: „Transzendenz besagt, sich aus einer Welt verstehen“4. Innerhalb der Architekturtheorie ist Transzendenz zunächst fassbar in einem Verständnis von architektonischem Entwurf, insofern dieser einen beabsichtigten Zustand willentlich vorwegnimmt, der insofern die unmittelbare Gegenwart übersteigt und der Welt etwas Neues hinzufügen wird. Freilich ist das architektonische Entwerfen abgeleitet vom Sich-Entwerfen eines jeden Menschen, womit wir die Antizipation unseres zukünftigen, jedoch endlichen Daseins in der Welt meinen. Darin entwerfe ich mich auf eine Existenz hin, deren Welt-Sein ich als wirklich und möglich anerkenne. Vom architektonischen Handeln lässt sich sagen: Der Architekt entwirft immer von irgendwo herkommend irgendwie auf etwas hinzielend, darin das Ganze des Seins der Architektur in der Welt mit verstanden ist. Er entwirft aber nicht „als Architekt“, sondern als Mensch stehen ihm die Möglichkeiten, die gegebene Welt zu überschreiten, zur Verfügung. Der Architekt macht es sich auf seine Weise zu Nutzen, dass es für den Menschen keine absolute Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt, sondern dass wir ständig sowohl noch in der Vergangenheit als schon in der Zukunft leben. Mit den Worten von Thomas Rentsch: „Wir müssen unsere Horizonte

2

H. Blumenberg: Transzendenz und Immanenz, S. 989.

3

M. Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 427.

4

A.a.O., S. 425.

F RAGEN

DES

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vorzeichnen und kommen so aus der Zukunft auf uns zurück in die schon erschlossene Gegenwärtigkeit“.5 Ich werde später Fragen des Transzendenten bezogen auf Architektur und Weltanschauung bei Otto Schubert und hinsichtlich der Erzählkonstruktionen der Moderne bei Rudolf Schwarz aufwerfen und versuchen, einzuordnen. Was und woraufzu wird aber transzendiert?

T RANSZENDENZ ALS „U RPHÄNOMEN DES L EBENS “ (G EORG S IMMEL ) Das 1. Kapitel von Georg Simmels Buch „Lebensanschauung“, erschienen 1918, trägt den Titel „Die Transzendenz des Lebens“. Darin entwickelt der todkranke Philosoph die Unterscheidung von Relativität und Absolutheit, die Heidegger später als ontisch- ontologische Differenz markieren wird, als einen Widerspruch zwischen Geist und Form. Form bedeutet Grenze. Geist oder Selbstbewusstsein bedeutet, sich der Grenze gewahr werden, womit sie bereits überwunden ist. Es gibt Wahrheiten, aber jeder muss sich für eine entscheiden, die für ihn gelten soll. Man kann nur einen Gedanken fassen und nicht zugleich den entgegen gesetzten. Sobald also etwas eine entschiedene Form und Gestalt angenommen hat, ist jedes alternative Hier und Jetzt ausgeschlossen. Die Schranke, die in jeder Entscheidung zur Form liegt, ist nach Simmel aber bereits unterlaufen, insofern diese einem Selbst bewusst geworden ist. Simmel entwickelt sein Verständnis von Transzendenz am Phänomen der Zeit. Die Gegenwart, die nur einen winzigen Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft ausmacht, kann vom Menschen im Grunde nicht erlebt werden. Wenn trotzdem von der Gegenwart des Lebens die Rede ist, dann deshalb, weil das Leben „die Gegenwart transzendiert“6. So arbeitet Simmel Phänomen für Phänomen heraus, um plausibel zu machen, „daß das jeweilige Leben sich selbst transzendiert“7. Jedes Hinausgreifen des Lebens über sich selbst vollzieht sich in der Form bzw. als Gestalt. Die Existenzart, die die Zeit für sich zu nutzen weiß, ist das „Leben“. Dessen Träger sind Individuen. In ihnen staut sich gewissermaßen der Lebensstrom, und so wird dieser „zu einer fest umrissenen Form und hebt sich sowohl gegen seinesgleichen wie gegen die Umwelt mit all ihren Inhalten als ein Fertiges ab und duldet keine Verwischung seines Umfanges“8.

5

T. Rentsch: Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht, S. 82.

6

G. Simmel: Lebensanschauung, S. 10.

7

A.a.O., S. 11.

8

A.a.O., S. 12.

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Bestimmung, Form und Gestalt widersetzen sich dem Strömen und Fließen, so dass Grenze und Nicht-Grenze zusammen gehören. „Sobald aber irgend etwas als für sich bestehende, nach einem Zentrum gravitierende Einheit existiert, so ist das Hinausfluten des Geschehens von diesseits ihrer Grenzen zu jenseits ihrer Grenzen nicht mehr eine subjektlose Bewegtheit, sondern es bleibt mit dem Zentrum irgendwie verbunden, so daß auch die Bewegung jenseits ihrer Grenze ihm zugehört, ein Hinausgreifen, bei dem dieses Gebilde immer das Subjekt bleibt und das doch über dieses Subjekt hinausgeht. Daß das Leben absatzloses Fließen ist und zugleich ein in seinen Trägern und Inhalten Geschlossenes, um Mittelpunkte Geformtes, Individualisiertes, und deshalb, in der anderen Hinsicht gesehen, eine immer begrenzte Gestaltung, die ihre Begrenztheit dauernd überschreitet – das ist seine wesensbildende Konstitution.“9 Simmel nennt diese Kategorie des Hinausgreifens des Lebens über sich selbst eine „ganz primäre“ bzw. eine „Grundtatsache“ oder auch das „Urphänomen des Lebens überhaupt“: denn dem konkret erfüllten Leben ist die Transzendenz immanent10. Simmel verdeutlicht diese Grundtatsache am Beispiel „Selbstbewusstsein“. Mit diesem „Urphänomen des Geistes“ stellt sich das Ich nicht nur sich selbst gegenüber, sondern beurteilt sich auch wie einen Dritten, achtet und verachtet sich. Dadurch überschreitet das Ich dauernd sich selbst und verbleibt dennoch in sich selbst. „Mit dem jeweils höchsten, uns selbst überschreitenden Bewußtsein sind wir das Absolute über unserer Relativität. Indem aber das Weiterschreiten dieses Prozesses jenes Absolute wieder relativiert, zeigt sich die Lebenstranszendenz als die wahre Absolutheit, in der der Gegensatz des Absoluten und des Relativen aufgehoben ist. Mit solcher Erhebung über die Gegensätze, die in der Grundtatsache, daß dem Leben die Transzendenz immanent ist, beschlossen liegt, beruhigen sich die von je am Leben gefühlten Widersprüche: es ist zugleich fest und variabel, geprägt und sich entwickelnd, geformt und formdurchbrechend, beharrend und weitereilend, gebunden und frei, in der Subjektivität kreisend und objektiv über den Dingen und über sich selbst stehend – alle diese Gegensätze sind nur die Auseinanderlegungen, Strahlenbrechungen jener metaphysischen Tatsache: daß sein innerstes Wesen ist, über sich selbst hinauszugehen, seine Grenze zu setzen, indem es über sie, d.h. eben über sich selbst, hinausgreift.“11

9

A.a.O., S. 13.

10 Vgl. A.a.O., S. 14. 11 A.a.O., S. 15.

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W ELTANSCHAUUNG ALS V ERSTEHEN DES S EINS DES S EIENDEN (M ARTIN H EIDEGGER ) Heidegger spricht nicht von Leben und Erleben, sondern von Dasein. Er sagt: „Im Wesen der Existenz liegt Transzendenz“.12 Er gibt der Transzendenz die Bedeutung des Sich-lösens des Daseins vom Seienden und von sich als Seiendem. Auch bei ihm ist die Transzendenz produktiv, indem sie in ihrem Überschreiten die Dimension des Seins erschließt, die das Begegnen von Seiendem ermöglicht. In jedem Dasein liegt die Möglichkeit zur Streuung, die Simmel auch Relativität genannt hat. Heidegger hat sich ausführlich mit Fragen der Transzendenz vor allem in Vorlesungen der Jahre 1927 bis 1929 beschäftigt.13 Er spricht darin von einem „vorgängigen Verstehen des Seins des Seienden“14, vorgängig jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, und bestimmt das Leben des Menschen als faktisches Dasein, als In-der-Welt- sein. Dieses Dasein als In-derWelt-sein beinhaltet stets schon ein Verhalten zu Seiendem, d.h. zu anderen Menschen, zu Dingen der nahen und fernen Umgebung wie zu sich selbst. So ist das Dasein als In-der-Welt-sein durchdrungen von Seiendem und hält ebenso ein Seins- und Weltverständnis vor, wie jedes Dasein auch auf eine eigene Weise gestimmt ist. Das Seinsverständnis drückt eine Erhellung und Führung aus, die den Umgang mit Seiendem bindend macht. Obwohl das Dasein von Seiendem durchdrungen ist, darin es sich inmitten befindet, verhält es sich insofern frei zum Seienden, als es sich Spielräume von Grundmöglichkeiten seiner selbst nimmt, von denen eine Möglichkeit realisiert werden muss. Das Übersteigen des Seienden, indem wir in diesen Spielraum entscheidend eingreifen, setzt eine Richtung voraus, woraufhin es überstiegen werden soll. Insofern zeichnet das Inder-Welt-sein des Daseins einen Halt oder eine Bindung aus, die der Haltlosigkeit des Daseins vorbeugen. Die Transzendenz orientiert das Seiende an ei-

12 M. Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, S. 194. 13 In den Vorlesungen: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ (1927), „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ (1928), „Einleitung in die Philosophie“ (1928/29) sowie der Veröffentlichung „Vom Wesen des Grundes“ (1929); vgl. I. Görland: Transzendenz und Selbst; M. Enders: Das TranszendenzVerständnis Martin Heideggers im philosophiegeschichtlichen Kontext, S. 383-404 sowie ders.: [Artikel] Transzendenz, Neuzeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 1442 ff. 14 M. Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, S. 170.

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nem Sein, das es sich wählt. Jedes Dasein muss nämlich damit zurechtkommen, so Heidegger, dass es für die eigene Existenz nicht verantwortlich ist, sondern sich frei für einen Weg entscheiden muss. So hat sich jedes Dasein seine Orientierung schon verschafft; dieses Sich-halten des Daseins nennt Heidegger „Weltanschauung“. Faktisch offenbart sich in der Weltanschauung die Weise, wie der Haltlosigkeit des Daseins begegnet wird. Die Weltanschauung gehört zum Inder-Welt-sein. In dem bislang freigelegten Verständnis von Transzendenz bedeutet diese also nicht, dass eine Schranke, die zwischen einem Innen und einem Außen aufgebaut ist, übersprungen wird. Die Welt wird nicht verlassen. Der Sprung führt wieder in die Welt hinein, nicht aus ihr heraus. Auch für Simmel spielt die Transzendenz nicht in ein „Jenseits“ hinein, sondern sie ist die Grundtatsache des Lebens selbst. Das Dasein findet sich ständig zwischen den Polen des Relativen und Absoluten, des Seienden und des Seins. Deshalb sagt Heidegger, dass das Überschrittene ein Objekt, also auch Architektur, sein kann, das Wohin des Überschreitens aber die Welt mit ihrem besonderen Zeithorizont der Endlichkeit ist. Ich hatte schon auf das Phänomen der Weltanschauung verwiesen, mit der Mittel an die Hand gegeben sind, die Existenz auf eine bestimmte Weise zu vollziehen, ihr einen Halt zu geben. Mit Welt ist ein bestimmter Bezug des Menschen zu den Dingen aufgenommen. Auch der Mensch selbst schöpft aus dem Ganzen der Welt seine Selbstbestimmung. Der Akt des Überschreitens, der z.B. im architektonischen Entwurf bestimmte Möglichkeiten fasst und andere liegen lässt, intendiert wieder etwas konkret Seiendes, dem sein Sein prinzipiell angesehen werden kann. Dass Konkretes überhaupt anschaulich ist und daran etwas Prinzipielles sinnlich erkannt werden kann, ist die Möglichkeit des architektonischen Stils.

F ORMEN DES T RANSZENDENTEN BEI O TTO S CHUBERT UND R UDOLF S CHWARZ Fragen wir nach dem Woraufzu der Transzendenz hinsichtlich des Ganzen der Welt, so ist die Antwort: Es geht darum, die Freiheit, das Umwillen des Daseins selbst zu begründen. Platon nannte das Umwillen „die Idee des Guten“ und deutete es als ein ethisches Prinzip. Die Transzendenz verschafft uns also die Freiheit, das Umwillen unseres Tuns und Lassens selbst zu bestimmen. Dass es dabei keine Tabus gibt, zeigt sich auch in der Reaktivierung eines mythischen Denkens, indem es einem logischen Denken gegenüber gestellt wird. Möglicherweise zeigt ja das mythische In-der-Welt-sein und die mythische Erfahrung

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eine Tendenz, das Leben des Menschen auf eine Weise wahrzunehmen, die die neuzeitliche Wissenschaft und Empirie verdeckt haben. „Der Mythos kennt keine geschichtlichen Ereignisse, er braucht und will keine“, heißt es bei R. Marlé15. Was macht ein mythisches Denken attraktiv? Es lässt zumindest den Gedankengang zu, ob, angesichts des Vordringens naturwissenschaftlicher Kausalität in alle Angelegenheiten des Lebens, der Mensch ganz auf eine „Mythisierung“ verzichten kann, ohne damit nicht zugleich auf bedeutsames Fragen zu verzichten. Der Mythos besitzt weder einen Begriff von Geschichte noch einen von Fortschritt. „Entmythisierung als Inbegriff wissenschaftlicher Nivellierung anschaulicher Bedeutsamkeit kann freilich auch Illusion oder zumindest Verhehlung des unüberbietbaren Restes sein, dessen archaische Qualität man in neuer Funktion bedarf.“16 Dieses Bedürfnis nach „archaischer Qualität“ ist tatsächlich vorhanden. Man mag nicht daran glauben, dass das den Menschen schlechtweg Überwältigende ein für alle Mal überwunden sein könnte. Was immer der Mythos dem Menschen zu sagen haben wird, sein „Wissen“ ist sehr lange her, aber eine Auskunft bleibt doch immer möglich. Insofern besteht auch die Freiheit, den Wesensgrund der Architektur mit einer mythisch-religiösen oder doch mit einer säkularisierten Idee des Absoluten und Letztsinnigen zu verschränken. Das Moderne Bauen, indem es sich radikal gegen die Denkgewohnheiten und die Architektur des Historismus und Eklektizismus des 19. Jahrhunderts wendete, musste zwangsläufig ureigenste Fragen des Stils, des Wesens der Architektur und der Weltanschauung stellen und zu lösen versuchen.17 Dieser Problematik hat der in den Jahren 1924 bis 1940 an der TU-Dresden wirkende Architekt Otto Schubert (1878-1968) im Jahre 1931 eine eigene Publikation gewidmet. Darin heißt es in der Einleitung: „Architektur und Weltanschauung ist der Titel dieses Buches, da es das aus dem Widerstreite technischen Zwanges und menschlichen Wollens erwachsende Wesen der Baukunst behandelt.“18 Die Rede von der „Zeiterhabenheit“ der Baukunst ist Schuberts Kunstgriff, um seine Erfahrungen mit Absolutem und Relativem zu ordnen und das Wesen der Architektur in Vergleich zu den vergänglichen Künsten zu bestimmen. Allein in herausragenden Epochen konnte dieses Wesen der Architektur anschaulich werden. So gilt es für Schubert, Orientierung zu fassen und eine platonische Entwurfshaltung zu gewinnen, indem er seine Leser davon überzeugen will, dass die Bau-

15 R. Marlé: [Artikel] Mythos, in: Handbuch Theologischer Grundbegriffe, hg. von H. Fries, S. 194. 16 H. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 48. 17 Vgl. A. Hahn: Sichtbarkeit und Anschaulichkeit, in diesem Buch S. 143-160. 18 O. Schubert: Architektur und Weltanschauung, S. 9.

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kunst „auf unvergänglichen, von Macht und Reichtum unabhängigen Ideen“ beruhe19. Dem Widerstreit von Relativismus und Absolutheit begegnet er damit, dass er allen bauenden Kulturen das Haben einer absoluten Idee attestiert: „[...] (U)nter ihrem [der Kulturen, A.H.] wechselnden Gewande verbirgt sich aber ein gleicher letzter Sinn.“20 Transzendenz bedeutet bei Schubert, sich aus der Umklammerung lösen, die Gegenwart und Vergänglichkeit bedeuten, um wieder auf Wesen und Idee der Baukunst zu stoßen. Ziel seines Sprungs ist die Besinnung auf Ewigkeitswerte, die er in absoluten Ideen und Idealen der Menschheit fixiert sieht. Der Baukunst räumt er entsprechend Überzeitliches ein, falls es ihr gelingt, „vollkommen eine Idee auch formal“21 zu verkörpern. Es sei aber nur wenigen glücklichen Zeiten beschieden, das Ideenreich in ihrer Baukunst zum Ausdruck zu bringen. Allerdings fällt das Absolute gleichsam aus der irdischen Jetzt-Zeit unseres Autors, dafür das Relative an die Lebenszeit seiner Epoche und ihrer Moden umso deutlicher gebunden ist. Vor allen der Eklektizismus in der Architektur ist Schubert eine solche vorübergehende Mode. Den sich seines Selbst bewussten Baukünstler, so Schuberts Hoffnung, leitet bei seinem Schaffen der Wille zur Form, der das Chaos von Möglichkeiten seinem Ordnungswillen unterzieht. Die Moderne hat indes eine Situation hervorgebracht, in der alle Gestalter „vor sich den Schild einer neuen Weltanschauung“22 tragen, so sich der Einzelne für eine Haltung zur Welt entscheiden muss. Ist aber für diese unübersichtliche Zeit überhaupt ein Überstieg des Modischen zum Absoluten möglich und wohin würde man dabei gelangen? „Kann sich überhaupt die Zeitgebundenheit unserer Aufgaben ins Transzendentale erheben?“ Er antwortet: „Nein, wenn der Transzendentalismus nur an das Leben nach dem Tode gebunden ist. Ja, wenn wir allen Fragen, die einem Volk oder einer Gemeinschaft im Volk im Stadium des Ringens als Ewigkeitswerte vorschweben, das gleiche Recht einräumen.“23 Schuberts Schrift dient dem klammen Selbstverständnis des verunsicherten Architekten und seinem Seinsverständnis von Architektur, indem der Leser auf einen „letzte(n) Zweck und Zweck aller Baukunst“ eingeschworen wird, wobei „die höchsten Ideale der Menschheit durch Gestaltung der Vergänglichkeit“24 entrissen werden sollen. Dem als bedrohlich einge-

19 A.a.O., S. 32. 20 A.a.O. 21 A.a.O., S. 47. 22 A.a.O., S. 83. 23 A.a.O., S. 84. 24 A.a.O., S. 48.

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schätzten Relativismus versucht Schubert dadurch zu begegnen, dass er diesen „übersteigt“ hinsichtlich baukünstlerischer Ewigkeitsbeteuerungen, damit aber die Endlichkeit des In-der-Welt-seins des Baukünstlers unterlaufen muss. Schubert ist sich eines Dilemmas der Moderne bewusst. Indem er Ewigkeitswerte beschwört, reagiert er auf die eigene Zeit, die von einer Mode zur nächsten getrieben wird. Hans Robert Jauss hat darin die Grundsituation der modernen Existenz gesehen, die nach Romantik und Fortschrittswahn der Modernisten nun wieder Halt in Unwandelbarem sucht und findet. Was ist die Natur des Schönen, wenn sich die modernité ständig im Zustand des Umschlagens von Einmaligem zu Klassischem befindet? „Wie kann das Schöne dem ständig wechselnden Ideal der nouveauté genügen, dem Einmaligen der gegenwärtigen Zeit im Spiegel der Kunst entsprechen und andererseits doch auch wieder seinen eigenen Gegensatz bilden, insofern es als klassisch Gewordenes unvergänglich, im historischen Wechsel beharrend, ja ewig erscheint?“25 Baudelaire hat eine Antwort auf die Herausforderungen gefunden. Er beschreibt (s)ein eigenes Bewusstsein von modernité so: „Die Natur des Schönen sei weder einseitig am Aktuellen, d.h. am Charakteristischen der Epoche, ihrer Mode, ihrer Moral und ihren Leidenschaften, noch einfach an der musealen Klassik zeitentrückter Meisterwerke zu fassen [...]. Das Schöne [...] lasse sich am besten am Phänomen der Mode erkennen [...].“26 Dies macht Baudelaire seinen Lesern an einem Essay über den Maler Constantin Guys deutlich. Hier entdeckt er den Ausgangspunkt einer „modernen Ästhetik“. Die Mode, so Baudelaire, „verkörpert das Poetische im Historischen, das Ewige im Vorübergehenden; in ihr tritt das Schöne hervor, nicht als vorgängig vertrautes, zeitloses Ideal, sondern als Idee, die sich der Mensch selbst vom Schönen macht, in der sich die Moral und Ästhetik seiner Epoche verrät und die ihm erlaubt, dem ähnlich zu werden, was er sein möchte.“27 Modernité wird mit Mode gleichgesetzt: „La modernité, c'est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l'art, dont l'autre moitié est l'éternel et l'immuable“28. Die Kunst ist zweigeteilt: in das Vorübergehende, Flüchtige, Zufällige und in das Ewige, Unwandelbare. Für Baudelaire fallen ästhetische Erfahrung und geschichtliche Erfahrung zusammen. Dieser Zustand beschreibt ein verändertes geschichtliches Selbstver-

25 H. R. Jauss: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, S. 183. 26 A.a.O., S. 183. 27 A.a.O. 28 A.a.O.

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ständnis seit 1848. Bezeichnenderweise gilt Baudelaire nicht mehr das Romantische als Gegenposition zur Modernität. Anders als Stendhal, der die Moderne als aktuelle Mode immer sich selbst als Mode von gestern gegenüber stellte, behauptet Baudelaire nun einen „ruhigen Pol“, der der stets aktiven, nie stillstehenden Modernität entgegensteht. „Wie das Vorübergehende, Momentane, Kontingente nur die eine Hälfte der Kunst sein kann, die das Unbewegliche, Zeitlose, Allgemeine als ihre andere Hälfte erfordert, setzt auch das geschichtliche Bewußtsein der modernité das Ewige als seine Antithese voraus. [...] (É)ternel nimmt hier die stelle ein, die in der früheren Tradition von der Antike oder vom Klassischen besetzt war: wie das Idealschöne [...] / hat auch das Ewige [...] als Antithese der modernité für Baudelaire den Charakter einer abgeschiedenen Vergangenheit. Auch was uns ewig schön erscheint, mußte erst hervorgebracht werden; das zeitlos Schöne ist nichts anderes als die vom Menschen selbst entworfene und ständig wieder aufgegebene Idee des Schönen im Status des Vergangenseins.“29 Eine ungemein reichhaltige Auseinandersetzung mit Fragen der Transzendenz in der Architektur kann dem schriftstellerischen Werk von Rudolf Schwarz (1897-1961) entnommen werden.30 Schwarz war Meister-Schüler von Hans Poelzig und machte sich Ende der 1920er Jahre einen Namen als Architekt von in moderner Formensprache ausgeführter Kirchen- und Schulbauwerke. 1931 bekennt er sich zu einer durchaus „modernen“ Entwurfshaltung: „Es muß überhaupt einmal gesagt werden, daß das künstlerische Thema dieser Kirchen tatsächlich der ‚Kasten’ ist. Wenn man damit nicht fertig wird, nützen Bogenhallen, Portale und Backsteinornamente auch nichts mehr.“31 Fragen der Transzendenz, wie ich sie der Architektur schon zugewiesen habe, spielen auch bei Schwarz eine wesentliche Rolle. Jenseits von Historismus, Eklektizismus und Neuer Sachlichkeit stehend, ringt Schwarz mit seiner „Baulehre“ um die Wahrheit der Architektur, ihr Worumwillen. Den Vertretern einer Neuen Sachlichkeit, insofern sie einen Funktionalismus befürworteten, stand er weltanschaulich fern. Schwarz war Mitglied des Quickborn, einer katholischen Jugendbewegung, en-

29 A.a.O, S. 185. 30 Vgl. zur „Weltanschauung“ von Schwarz die Dissertation von A. H. Smolian: Weltanschauung und Planung am Beispiel des Architekten und Stadtplaners Rudolf Schwarz. (= Schriftenreihe Architekturtheorie und empirische Wohnforschung.) Darin auch weitere Sekundärliteratur zu R.S. 31 Die Schildgenossen. Zeitschrift aus der katholischen Lebensbewegung, S. 286.

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ger Freund des Religionsphilosophen Romano Guardini32 und Bewunderer des älteren Architekten Mies van der Rohe33. Diese Bewunderung beruhte auf Gegenseitigkeit. Mies nannte Schwarz einen „der tiefsten Denker in unserer Zeit“ und dessen Schrift „Vom Bau der Kirche“ „eines der wirklich bedeutenden Bücher“34. Es ist hier nicht der Ort, Schwarz’ „Werklehre“ auch nur annähernd gerecht werden zu können. An seinem schriftstellerischen Werk kann man jedoch ersehen, dass Architektur ohne Transzendenz, also ohne Überstieg zur Welt und ohne Bezug auf einen bestimmten Bedeutungszusammenhang bzw. ohne Mitvollzug einer Bewandtnisganzheit, wie Heidegger sagt, sozusagen aus Wirklichkeit und Welt fallen müsste. Schwarz’ Auseinandersetzung mit der Wahrheit in der Architektur gründet sich auf einem Verständnis vom Menschen und dessen Stellung in der Welt. Schon bei Schubert fanden wir Wahrheit und Wesen der Architektur nur entdeckt, insofern ein „mythischer“ Anfang gesetzt wird und Ewigkeit als Möglichkeit des Seins aufscheint. Wie geht Schwarz vor? Wollte man Schubert einen Platoniker oder Idealisten nennen, so Schwarz einen Phänomenologen und Pragmatiker, der sich mit der „Wesensschau“ Husserls und Schelers beschäftigt hat. Schwarz deutet Husserls Epoché – also die Einklammerung der „natürlichen Lebensumwelt“ – als ein „Zurückgehen hinter den ersten Schöpfungstag“. Damit ist eine vor-architektonische Ursprungswelt angedacht, in die der Mensch hineingeschaffen wurde. Der Mensch, so Schwarz, sei überhaupt der erste „Bau“ gewesen, an seiner Gestalt müsse sich deshalb alles architektonische Bauen ausrichten: „Die Welt soll gleichsam hinter den ersten Schöpfungstag zurückgeführt und dann neu erschaffen werden ‚aus nichts’. Nicht in Bildern und Bauten, sondern zuerst in lebendigen Menschen soll diese Erschaffung geschehen, der Bau soll zuerst nur ihr Mittel sein und nachher ihre Wirkung.“35

32 Zum Verhältnis Guardini – Schwarz vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz: Romano Guardini 1885 – 1968; Leben und Werk. Zum Transzendenzverständnis Guardinis vgl. auch H. Kuhn: Roman Guardini. Der Mensch und das Werk, S.51-59. 33 Zum Verhältnis Mies van der Rohe – Rudolf Schwarz vgl. F. Neumeyer: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. 34 Mies hat von Amerika aus die englische Übersetzung von „Vom Bau der Kirche“ veranlasst. Im Vorwort zu „The Curch Incarnate“ schreibt Mies: „Rudolf Schwarz, the great German church builder, is one of the most profound thinkers of our time. […]Yet it is not only a great book on architecture, indeed, it is one of the truly great books one of those which have the power to transform our thinking.“ Chicago 1958. 35 R. Schwarz: Vom Bau der Kirche 1947, S. 134. Hier erinnert seine Aussage an den freilich christlich gewendeten Gott Platons, der Demiurg, Entwerfer und Handwerker

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Schwarz stellt die Architektur in die Welt, und indem er dies tut, werden zentrale Fragen wie von selbst aufgeworfen: die nach dem Wesen der Welt, in der und für die gebaut wird, nach dem Menschen, seinem Leib und seiner Gestalt, dem Leben, dem architektonischen Werk usw. Am Ende des Buches „Vom Bau der Kirche“ stellt Schwarz die Frage nach dem Wesen des Architektenberufs. Dieser gehöre zu den wenigen Berufen, „die für eine letzte, auf nichts mehr rückführbare Haltung zur Welt stehen“36. So kommt auch der Architekt als „Statthalter aller bauenden Wirklichkeit“ „in seiner Weise bis in den innersten Weltpunkt“. Was ist mit diesem „innersten Weltpunkt“ gemeint? Schwarz gibt folgende Antwort: „Wir sind keine Ingenieure, sondern Architekten und haben ganz anderes zu vertreten, nämlich das unverstümmelte Leben in seiner lebendigen Ganzheit. Diese aber ist keine Funktion, lässt sich nicht in Funktionen auflösen und nicht daraus zusammensetzen […]. Das Leben nämlich ist jeweils ein einzelnes, das in Freiheit geführt und frei verantwortet wird und vorab die Art des Daseins hat, das auf dem Urgrund seines Geheimnisses ruht und dessen Bewegungen Äußerungen sind; und darum ist unsere erste Aufgabe die, ihm einen Raum für seine Freiheit zu schaffen, in dem es zu sich kommen kann, in dem es die zarte Schönheit seiner ursprünglichen Regungen entfalten kann und der ihm stille Geborgenheit gibt.“37. Das Selbstverständnis des Architekten, davon ist Schwarz überzeugt, hat schon immer einen Bezug zu Leben, Freiheit und Dasein aufgenommen, auch wenn es nicht explizit gemacht wird bzw. sprachlich nicht ausgedrückt werden kann. In seinen Polemiken gegenüber Architekten der Neuen Sachlichkeit ebenso wie in seinen Auseinandersetzungen mit Historismus und Jugendstil macht er

ineins war, an dessen Tun der Architekt sich, seine Entwurfsideen und sein Wirken orientieren soll. Gott und die Ideen gehören in jene Region, „die durch den Wesenszug des Immerseins ausgezeichnet ist. […] Soll die Gottheit trotz dieser Entrückung in die Region des Immerseienden nicht in unerreichbare Ferne geraten, dann bedarf es einer Vermittlung zur endlichen Welt hin. Hier wird die Vorstellung eines schaffenden Weltbildners bedeutsam, wie sie der ‚Timaios‘ entwickelt. Freilich so, daß nun im christlichen Bereich – nach dem Vorgang Philos – die Ideen Gott untergeordnet und als dessen Gedanken vor Erschaffung der Welt verstanden werden. Gott erscheint nun als der große Handwerker, der in seinen Ideen die Welt vorentwirft und in seiner Macht sie jenen gemäß schafft […]“, nachzulesen bei W. Weischedel: Der Gott der Philosophen, S. 53. 36 A.a.O., S. 142. 37 R. Schwarz: Was dennoch besprochen werden muß, S. 191-199; wieder abgedruckt in: U. Conrads (Hg.): Die Bauhaus-Debatte, S. 169.

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deutlich, dass sich das Reden über Architektur nicht in der Kritik der architektonischen Form erschöpft, sondern das Gespräch darin seinen Ausgang zu nehmen hat, dass Architektur sichtbarer Ausdruck einer Haltung zur Welt ist. Haltungen sind Grundsätze, die man wählt und für die man verantwortlich ist. Sie lassen sich nicht durch wissenschaftliche Ableitungen beweisen. Schwarz nennt seinen Standpunkt auch „Wesensperspektive“38. In einer Rezension eines 1936 erschienenen Buches von Alfons Leitl macht Schwarz seine eigene Position zur „Haltung“ deutlich. Leitl favorisiert darin das Deutsche Bauernhaus, von dem aus die Baukunst erneuert werden müsste, da sie eine Einheit von Form, Konstruktion und Sinn darstelle: „Das ist der Grundsatz der Schrift. Beweisen lässt sich ein solcher Satz wohl nicht, der Verfasser entscheidet sich mit ihm schöpferisch – und das zeichnet sein Buch aus, es ist von einem glaubenden und wollenden Menschen, von einem Baumeister geschrieben, der sich für die nordische Form und ihre karge Wahrhaftigkeit entscheidet.“39 Orientiert an der Phänomenologie, beabsichtigt Schwarz mit dem Kirchenbuch eine „Werklehre“, der es um das rechte Tun und um das Gelingen des Werks geht. Schwarz entwickelt die Baukunst „schöpferisch“ aus einem „Mythos“. Insofern nämlich die Werklehre weder Wissenschaft noch Theorie (auch keine Theologie) sein soll, dennoch den Horizont für das architektonische Handeln ausbildet, muss sie Erzählung, Benennung und Geschichte des menschlichen Schicksals sein. Der Mythos gibt uns ein Bild davon, wie die Welt „im Anfang“ war, nämlich „archaisch“. Das Archaische setzt Schwarz gegen eine wissenschaftlich-theoretische Weltursprungsidee. Indem das Bauen und seine Formen und Gestalten aus einem heiligen Mythos verstanden werden, kann ihnen ganzheitlicher Sinn zukommen. Dabei können auch andere Großerzählungen als die Kosmologie des Alten Testaments herangeführt werden, die ebenfalls Heiliges und Profanes scheiden. Die Architektur, will sie ihr Sein und Wesen nicht einer wissenschaftlichen Begründung etwa durch den Materialismus überlassen, muss einen eigenen Begründungszusammenhang inszenieren, darin sie ihre Wahrheit entdecken kann. Schwarz verortet Dasein und Entwerfen in einer konkreten Welt, der ihr Sinn und ihre Bedeutung vom Menschen und nicht von einer Theorie zugesprochen werden soll. Diesem Dasein geht es um sich selbst, d.h. um sein eigenes Schicksal: „Es geht (die Baukunst) nichts an, wie man sich die Welt ‚an sich’ vorstellen könnte, sondern nur wie sie hier und für diese Menschen wirklich ist.“40 Und

38 R. Schwarz: Vom Bau der Kirche, S. 2. 39 R. Schwarz: Gottesdienst, S. 29. 40 R. Schwarz: Vom Bau der Kirche, S. 32.

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überraschend pragmatisch heißt es einmal: „Für den Baumeister ist wahr, was sich bewährt, wirklich, was wirkt. In seiner kargen Werkstatt gelten die Dinge nur so viel, als sie leisten.“41 In-der-Welt-sein heißt: das Dasein immer wieder auf den Sinn von Sein zu transzendieren: „Aber Baukunst ist keine Geometrie, sondern Formung des eigenen Schicksals. Wir können ihre Pläne nicht hin und her wenden und von oben und außen betrachten, denn wir sind selbst in die Pläne hineingearbeitet. Wir selbst, unser eigenes Leben, unser Boden und Volk, und Gott, wie er hier und heute zu uns ist, das sind unsere Pläne.“42 Und an anderer Stelle: „Unser Sprechen und Bauen muß jeweils ein glaubendes sein und auf dem tiefsten Grund ruhen, auf dem unser Leben geführt wird. Und das soll nicht um einer sauberen Fachlichkeit willen verschwiegen und ausgemerzt werden, denn dieses allein gewährleistet eben die Sauberkeit“43. Der „tiefste“ Grund muss einer Großerzählung entnommen werden. Diese fixiert den Menschen in einer überkommenen Seinsordnung, in welche er, sein Wohnen und Bauen, je schon eingegliedert sind. Dieser Ur-Grund kann daher auch nur der sein, auf dem die Weltanschauung selbst ruht: auf Überzeugung und Gewissheit. Als solcher ist dieser Grund in der Welt und gibt dem irdischen Dasein Halt und Führung. Schwarz hat auf seine Weise tatsächlich so etwas wie einen Überstieg des Lebens zur Welt unternommen. Ausgehend von einem Verständnis der Welt als Ganzheit, hat er die Möglichkeiten des zur Welt hin offenen Menschen in seinen Möglichkeiten besprochen. Das Ganze der Welt ist der Baukunst sowohl die Ganzheit des Raums als auch der Zeit, d.h. die Räumlichkeit des Menschen, die er einmal „stille Geborgenheit“ nennt, wie seine Geschichtlichkeit, die auf der Endlichkeit des Menschen gründet. Zu dieser Ganzheit gehören ebenfalls das „Unplanbare“44 sowie der „offen gehaltene Ort“, der z.B. als Schwelle entworfen werden kann, dahinter sich Ewigkeit und heiliger Raum auftun. Jenseits dieser Schwelle hat die Baukunst keine Aufgaben zu erledigen und nichts verloren. Tor und Schwelle bezeichnen „den heiligsten aller weltlichen Überschritte“, doch stehe das Tor „inmitten der Welt“45. Der Baukünstler bleibt nur dann in der

41 A.a.O., S. 5. 42 A.a.O., S. 68. 43 A.a.O., S. 175. 44 R. Schwarz: Wegweisung der Technik und andere Schriften zum Neuen Bauen, S. 154 ff. 45 R. Schwarz: Gottesland, S. 96.

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„Wahrheit“, wenn er „den Boden der Erde nicht (verlässt)“46. Das Sakrale ist nicht ein jenseitiger Raum, sondern „der andre Zustand der Welt“.47 Schwarz war davon überzeugt, dass der Materialismus und Funktionalismus des späten Bauhauses, die mit dem Namen Hannes Meyer verbunden sind, sich nicht allein als eine Frage der architektonischen Form diskutieren lassen, sondern dass hier die „Welt als Ganzes“ völlig konträr zu dem aufgefasst wird, wie er selbst es wünschte. Dass es dabei tatsächlich um mehr als um architektonische Formfindung geht, hat der mit dem späten Bauhaus sympathisierende Rudolf Carnap, Verfasser des Aufsatzes Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, im Vorwort seines Hauptwerkes Der logische Aufbau der Welt eindrücklich herausgestellt: „Wir spüren eine innere Verwandtschaft der Haltung, die unserer philosophischen Arbeit zugrunde liegt, mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganz anderen Lebensgebieten auswirkt; wir spüren diese Haltungen in Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen: des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, der Erziehung, der äußeren Ordnungen im Großen. Hier überall spüren wir dieselbe Grundhaltung, denselben Stil des Denkens und Schaffens. […] Der Glaube, daß dieser Gesinnung die Zukunft gehört, trägt unsere Arbeit.“48 Rudolf Schwarz bedient freilich eine andere horizontbildende Geschichte als es jene Erzählkonstruktionen der Moderne49 sind, denen etwa Lampugnani u.a. vorgeworfen haben, sie seien wie

46 A.a.O., S. 95. 47 A.a.O., S. 104. Interessant ist in diesem Zusammenhang Blumenbergs Auslegung des „ganz Anderen“: „Das „ganz Andere“ beginnt nicht jenseits der Welt, sondern noch „vor“ allem Welthaften, in der Tiefe des Selbstseins, als substantielle Bürgschaft der Fremdheit des Menschen in der Welt.“ H. Blumenberg: [Artikel] Transzendenz und Immanenz, S. 989 ff. [zitiert nach http://www.digitale-bibliothek.de/band12.htm] Siehe auch R. Guardini: Welt und Person, S. 78 ff. 48 R. Carnap: Der logische Aufbau der Welt, S. 653-685, hier S. 670 (kursiv durch mich). Das gemeinsame Ziel von Carnap und den Architekten Gropius und Meyer, so der amerikanische Philosophiehistoriker Peter Galison, bestand in ihrer Mitwirkung an der Schaffung einer modernen „Gestaltung des menschlichen Lebens“, die sich ganz dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt anzupassen hätte. „Meyer wollte die Architektur in das neutrale und universale Idiom der Technik übertragen; Carnap verfolgte das entsprechende Ziel für die Philosophie.“ (A.a.O., S. 675) 49 Der Begriff „modern“ wird im 19. Jhdt. zum Gegenentwurf zu allem, was sich als ewig oder wesenhaft zu erkennen gibt. Es ist ein tiefer Gedanke des sog. Historismus

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ein Märchen mit Happy-Ending aufgebaut50, oder von denen Ocón-Fernandez feststellt, sei seien als ein lineares Fortschrittsgeschehen verfasst, an dessen Höhepunkt das Neue Bauen „echt und universell“ sich zeigen dürfe51. Schwarz entwickelt seine baumeisterliche Wahrheit nicht als eine Architekturtheorie oder Architekturgeschichtsschreibung der Moderne, wie es beispielsweise Nikolaus Pevsner52 oder Sigfried Giedion53 bevorzugten. Wovon Schwarz überzeugt ist, dahin ist er nicht durch nachprüfbare Gedankengänge gekommen. Er bewegt sich abseits jeden Zweifels. Gewissheiten bauen nicht auf Hypothesen auf, weil sie die selbstverständliche Grundlage des Forschens sind und als solche gar nicht explizit Thema werden können. Schubert wie auch Schwarz appellieren, gewisse Ewigkeitsmomente auch für die Welt der Architektur anzuerkennen. Angesichts einer Fülle modischer Strömungen in Architektur und Gesellschaft erinnern sie an Leitideen, die sich aus der Identifikation mit „Großerzählungen“ ergeben können. Wogegen wehren sich die beiden Architekten? Offensichtlich dagegen, dass der „moderne“ Mensch sich nicht mehr in einer „Allgeschichte“ (Wilhelm Schapp) aufgehoben fühlen kann. Halt und Orientierung, überhaupt Bleibendes gehen dadurch aber verloren. Wilhelm Schapp hat von dem „eigenartige(n) Ineinandergeflochtensein“ von Einzelding und Welt gesprochen. Jedes Phänomen, auch ein Bauwerk, taucht in einer „aufgefaßten Welt“ auf54, der sich niemand entziehen kann, da es immer seine Welt ist, die schon aufgefasst ist, „in“ der er wahrnimmt. Jede Auffassung von Phänomenen ordnet diese in Geschichten ein, wobei Geschichten so alt wie die Welt sind. Diese Einordnung von Phänomenen in Geschichten und diese wiederum in „Welt“ muss man sich wohl als eine orientierende Ausrich-

gewesen, dass jede Epoche der Menschheitsgeschichte sich selbst als Gegenwart erlebt. Jedes Zeitalter ist sich selbst Gegenwart und kann sich darum in seiner „Modernität“ als einzigartig verstehen. Welche ungeheure Motivation muss aus diesem Selbstverständnis folgen! Bis weit ins 20. Jhdt. hinein bleibt diese Historisierung der Zeit gelebte menschliche Erfahrung. Es ist ein neuer Typus von Künstler aufgetaucht, der sich von der Rückbesinnung auf bleibende ewige Werte nichts verspricht. Vgl. H. U. Gumbrecht: [Artikel] Modern, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 93 ff. 50 Vgl. V. Lampugnani: Die Geschichte der Geschichte der „Modernen Bewegung“ in der Architektur 1925-1941: eine kritische Übersicht, S. 284. 51 Vgl. M. Ocón Fernández: Ornament und Moderne, S. 31. 52 Vgl. N. Pevsner: Wegbereiter moderner Formgebung. Von Morris zu Gropius. 53 S. Giedion: Bauen in Frankreich; ders. Space, Time &Architecture: The Growth of a New Tradition. 54 W. Schapp: Wissen in Geschichten, S. 109 f.

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tung vorstellen, die Menschen erst dazu befähigen, dass Wahrgenommene zu verstehen und so dem eigenen Verhalten und Handeln eine Richtung zu geben. Mythos ist der griechische Ausdruck für Geschichte und Erzählung. Welt, Geschichten, Mythen stehen in einem Zusammenhang des Gebens von Orientierung, des Eingeordnet-seins in etwas Umfassendes. Die Moderne wird erlebt als eine Zeit der Extreme, in der der Mensch ins Trudeln gerät. „Die äußersten Gegensätze sind etwa, daß der Mensch sich in einer Heilsgeschichte aufgehoben weiß oder daß er sich andererseits wie eine Art Schimmelbildung auf einem beliebigen Stern vorkommt. Dieser äußerste Gegensatz wird auf andere Weise ausgedrückt in dem Gegensatz von Geschichte und Sachverhalt. Es ist fast so, als ob irgendeine Kraft den Menschen aus der Geschichte herausschleuderte in eine Sphäre des Sachverhalts hinein.“55 Beide Architekten scheinen dieses Umhertreiben der menschlichen Existenz stark und intensiv verspürt zu haben. Vielleicht lässt sich ihre Haltung auch durch den Hinweis auf eine „mythische Lebenserfahrung“56 beschreiben. Es geht mir mit diesem Ausdruck um Fragen des Sinns der menschlichen Tätigkeiten, des menschlichen Tuns und Lassens insgesamt. Wenn die (Architektur-)Geschichte selbst nur mehr als Steinbruch benutzt wird und man sich nicht mehr in der Lage sieht, aus ihr einen bleibenden kontinuierlichen historischen Sinn zu schöpfen, dann ist die „Freiheit“ des Architekten „total“ geworden. In der Moderne, so haben es wohl Schubert wie Schwarz erlebt, löst sich das historische Wesen der Architektur in rasant wechselnden Moden auf, die sich weder für einen Anfang noch für ein Ende interessieren. Was gerade modisch ist, ist bald schon vergangen. „Wenn die Freiheit des Menschen nicht mehr an einer übergeschichtlichen Menschennatur ihre Grenze findet, und wenn insbesondere die Formen des Denkens sich als geschichtlich erweisen und nicht mehr auf eine ‚ewige Form der Vernunft’ zurückgeführt werden können, woraus sollen dann die Gesetze der Sittlichkeit abgeleitet werden?“57

55 W. Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 183. 56 Zum Begriff der „mythischen Lebensform“ vgl. z.B. G. Krüger: Religiöse und profane Welterfahrung und G. Picht: Kunst und Mythos. 57 R. Schaeffler: Vorwort des Herausgebers.

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I M ( KONKRETEN ) S TIL DER ARCHITEKTUR

ZEIGT SICH DAS

P RINZIP

Im Transzendieren des Seienden können wir also unserer Weltanschauung begegnen. Damit ist etwas anderes gemeint als ein wissenschaftliches Weltbild, zu dem ich mich ausdrücklich bekenne. Eine Weltanschauung ist durchaus einer Mythologie vergleichbar, wie Wittgenstein einmal bemerkte, da beide aus einem „Gebäude“ von Überzeugungen bestehen. Es ist nicht leicht, einzelne Überzeugungen daraus zu entfernen und womöglich durch andere zu ersetzen, ohne dass das Gebäude als Ganzes darunter leidet. Ebenso wie eine Mythologie ist eine Weltanschauung aufs engste mit unserer Lebenspraxis, mit unserem Handeln, Denken und Sprechen, verknüpft. Sie beruht aber weder auf instrumentellen Erfahrungen noch auf der Bewahrheitung von Hypothesen wie ein wissenschaftliches Weltbild. Unsere Weltanschauung lässt sich nicht durch Nachweise von „logischen“ Widersprüchen ohne weiteres erschüttern. Der Wechsel zu einer anderen Weltanschauung ebenso wie die Annahme einer anderen Mythologie haben Bekehrungscharakter. Auch Schubert war ein „Gläubiger“ und „Bekenner“, insofern er sich der ewigen Kraft absoluter Ideen unerschütterlich verbunden fühlte. Selbst Carnap sprach in dem Zitat vom Glauben an seine Gesinnung. Transzendenz in der Architektur, so möchte ich abschließend deuten, heißt, dass beim Entwerfen des Architekten letzte Gründe und Erkenntnisse mitvollzogen sind. Der Akt des Entwerfens überschreitet jede einzelne konkrete Formfindung hinsichtlich eines prinzipiellen Fürwahrhaltens von gelungener Form und wesentlichem Inhalt, um schließlich doch wieder für den einzelnen Architekturentwurf die Gestalt faktisch „hier und jetzt“ entscheiden zu müssen. Prinzip wie Beispiel sind in der Welt – wo sonst? Denn dieses willentliche Streben nach dem Fassen des Seins des Seienden oder der architektonischen Wesenswahrheit im gebauten Beispiel macht gerade unser In-der-Welt-sein aus. Wir wissen zwar nicht, was Welt ist, aber wir können danach fragen. Der Mensch selbst ist weltbildend, er ist von Welt durchstimmt. Wollten wir am Ende Schubert und Schwarz vergleichen, so könnte man sagen, dass Schubert von der Unverfügbarkeit der Grundlagen der Architektur, Schwarz darüber hinaus von der Unverfügbarkeit menschlicher Lebensgrundlagen überzeugt war. Stimmung und Stil unseres Denkens und Tuns sind eine Einheit, wie Ludwik Fleck feststellte: „Der Denkstil besteht, wie jeder Stil, aus einer bestimmten Stimmung und der sie realisierenden Ausführung. Eine Stimmung hat zwei eng zusammenhängende Seiten: sie ist Bereitschaft für selektives Empfinden und für entsprechend gerichtetes Handeln. Sie schafft die ihr adäquaten Ausdrücke: Religion, Wissenschaft, Kunst, Sitte, Krieg usw., je nach der Prävalenz gewisser

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kollektiver Motive und der angewandten kollektiven Mittel.“58 Stil ebenso wie Wesen und Wahrheit der Architektur können nicht erfunden, sondern nur vorgefunden werden. Stil zeigt die Art und Weise, Wesen und Wahrheit zur Gestalt zu bringen, konkret und anschaulich. Stil ist Ausdruck. Ich komme zum Schluss: Am konkreten Ausdruck architektonischer Werke könnte der Überstieg von Seiendem zu Sein und zurück zu Seiendem nicht aufgewiesen werden, wenn nicht schon das Entwerfen selbst „denkstil“-gebunden wäre: Der Architekt macht in seinem Verhalten zur Welt, im Denken, Sprechen, Entwerfen, „immer schon“ Gebrauch von Freiheitsspielräumen innerhalb eines geschichtlich gegebenen Umrisses oder Rahmens. Das im architektonischen Entwerfen aktivierte Selbstbewusstsein (Simmel) stützt sich in seinen Entscheidungen auf ein „Ganzes von Gründen“, wie es auch in alltäglichen Sätzen, wenn ein Schlusspunkt gesetzt werden soll, intersubjektiv gebraucht wird. Diese „Urteile“, die jedem Entwurf mit zugrunde liegen, bilden gleichsam Schlusssteine des Zweifels und der Überzeugung wie der Rechtfertigung. Der Überstieg aller einem konkreten Dasein erreichbaren Gründe endet schließlich im Entschluss, dieses oder jenes zu tun bzw. zu unterlassen. Wir unterstellen diese Endpunkte „immer schon“, ohne sie explizit unserem Denken und Sprechen „voraussetzen“ zu können. Insofern können sie auch nicht „überstiegen“ werden. In einer architekturnahen Metapher hat Wittgenstein über „den tiefsten Grund“, bei dem wir uns selbst hinsichtlich des Stils unseres Denkens betreffen können, einmal geschrieben: „Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt./Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.“59

58 L. Fleck: Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 130. 59 L. Wittgenstein: Über Gewißheit, Nr. 246.

Technikphilosophische Aspekte des Wohnens Eine architekturtheoretische Auseinandersetzung mit Bernhard Irrgangs „Umgangsthese“1

E INLEITUNG Für eine Architekturtheorie, die nicht Ingenieurswissenschaft sondern Geistesoder besser noch: Erfahrungswissenschaft ist, ist der Mensch, nicht die Architektur, ihr zentraler Bezugspunkt – der Mensch in seinem Verhalten zu den Angelegenheiten des Wohnens, Entwerfens und Bauens. Die Architekturtheorie unterscheidet zwischen architektonischem Verhalten und architektonischem Handeln.2 Unter architektonischem Verhalten verstehe ich alles Tun, das sich im Gebrauch von Artefakten3 wohnend vollzieht. Das architektonische Handeln wirkt bewusst auf die Hervorbringung solcher Artefakte ein, entweder planend oder herstellend im Entwerfen wie im Bauen. So ist das heutige professionelle architektonische Entwerfen eine Spezifikation des architektonischen Verhaltens (des

1

Für Bedenken und Hinweise, die einer ersten Fassung entgegen gebracht wurden, danke ich herzlich Dr. Karsten Berr, Dr. Henrik Hilbig und Dipl.-Ing. Architektur Jörg Schröder.

2 3

Vgl. A. Hahn: Architekturtheorie. Unter solchen Artefakten sind auch naturlandschaftliche „Umgebungen“ wie schützende Höhlen und Busch- oder Strauchwerk zu verstehen, insofern sie von Menschen zum Wohnen bzw. als bewohnbar gedeutet und genutzt werden. Aber ebenso gehören dazu Sachen der „Kategorie Gerät“ im Verständnis von Hans Freyer und Hans Linde.

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Wohnens) und diesem nachgeordnet.4 Nur weil wir (immer schon) Wohnende sind, entwerfen wir (auch professionell) das Wie unseres Wohnens. Wohnen kann allgemein als Bleiben verstanden werden, d.h. an einem Ort sich dauerhaft aufhalten und sein Leben, ausgehend von einem Haus und heimkommend in ein Haus, führen. Architektur als Artefakt ist das (Lebens-)Mittel, damit Wohnen möglich ist, d.h. selbständig vollzogen werden kann, und überhaupt gelingen soll. Technikphilosophische Aspekte innerhalb einer Architekturtheorie zu skizzieren, ist meines Erachtens bis heute nicht versucht worden. Dies soll im Folgenden unternommen werden, indem unter Rückgriff auf Bernhard Irrgangs Ansatz eines impliziten Umgangswissens dessen Bedeutung herausgestellt wird.5 Dafür gibt es schon Übereinstimmung im Ausgang einer hermeneutischen Praxisphilosophie: Praxis heißt könnender Umgang. So gibt es eine Praxis des Wohnens, ebenso wie es eine Praxis des Entwerfens gibt. Beide Praxen sollen im Folgenden unter eine technikphilosophische Perspektive gestellt werden.

T ECHNIKPHILOSOPHIE Der griechische Ausdruck τέχνη, auf den das eingedeutschte Wort Technik zurückgeht, bezeichnet zunächst eine Kunstfertigkeit, ein (Fach-)Wissen sowie auch ein herstellendes Verhalten. Es hat seine frühe und bis heute wesentliche philosophische Bestimmung durch Platon und Aristoteles erhalten: „Seitdem ist die Geschichte des technischen Herstellens mit der Geschichte des Wissens und der Wahrheit und damit mit der Metaphysik wesentlich verknüpft.“6 In der antiken Technik „bestimmte sich der Umkreis der Werkzeuge aus der Art des herzustellenden Werkes, und dieses bestimmte sich letztlich aus dem Gebrauch, den der Mensch in seinem Leben davon machen wollte“.7 Dieses Verhalten des Herstellens und Hervorbringens hatte also die menschliche Lebenspraxis in sich aufzunehmen, wurde an ihr ausgerichtet. Dafür mussten Her-

4

Einen der Wort- und Bedeutungsgeschichte entnommenen Zusammenhang von Bauen und Wohnen entwickelt Martin Heidegger im Verfolg der Frage, „was das Bauen, aus dem Wesen des Wohnens gedacht, eigentlich ist“ (M. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 146), der an dieser Stelle nicht vertieft werden kann.

5

Einschränkend muss gesagt werden, dass es sich im Folgenden nur um einen ersten Versuch handelt, der in keiner Weise beansprucht, alle technikphilosophischen Aspekte für eine Architekturtheorie zu erfassen, geschweige denn sie überhaupt zu kennen.

6

K. Ulmer: Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles, S. 220.

7

A.a.O., S. 221 f.

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stellung und Gebrauch unterschieden werden. Wolfgang Wieland weist darauf hin, dass es schon im Mythos, dann auch für Platon üblich war, den Gebrauch mit der Herstellung einer Sache zu konfrontieren.8 Dieses Verhältnis ist freilich nicht äquivalent: „Das Urteil dessen, der eine Sache zu gebrauchen weiß, hat nämlich stets einen höheren Rang als das Urteil dessen, der sie herstellt.“9 Damit ist auf einen teleologischen sowie einen pragmatischen Bezug zur τέχνη hingewiesen. Der Gebrauch ist situativ (in wechselnden Zusammenhängen jeweils neu) und am Gelingen (z.B. an den Folgen für ein gutes Leben) orientiert. Seit der Neuzeit profitiert die moderne Technik von den Erfolgen der von Theologie und Philosophie endgültig emanzipierten Naturwissenschaft und verändert nun selbst das Bedingungsverhältnis von Natur und Kultur auf radikale Weise.10 Mit der „allmähliche(n) Ablösung des göttlichen durch den menschlichen Baumeister“11 befreit sich auch die neuzeitliche Technik von der Vormundschaft der überkommenen Metaphysik. Nach Ulmer scheint in dieser „Befreiung“12 das ganze Wesen der modernen Technik auf: „Diese Technik ist nicht einfach Herstellung von Werkzeugen zu bestimmten Zwecken, sondern zuerst das Verfügbarmachen von Naturkräften in einer Maschine für den Menschen“13 Ist damit aber die alte Bindung der technischen Artefakte an die menschliche Lebenspraxis und die in ihr anfallenden Bedürfnisse und Zwecke aufgelöst weil obsolet? Offensichtlich nicht! Denn die ständige Bereitstellung neuer, auch zusammengesetzter Werkzeuge für den Gebrauch wirkt zurück auf die Welt, in der wir leben, „indem sie dieser immer neue LebensMittel anbietet und damit dem Menschen seine Lebensverhältnisse immer neu

8

„Hier haben wir es mit einem Denkschema zu tun, das zu den wichtigsten Orientierungshilfen des platonischen Denkens gehört.“ (W. Wieland: Platon und die Formen des Wissens, S. 17).

9

W. Wieland: Platon und die Formen des Wissens, S.17; zum Vorrang des Gebrauchs gegenüber der Herstellung vgl. auch W. Wieland: Platon und die Formen des Wissens, S. 176 f.

10 Vgl. H. Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie sowie D. von Engelhardt: Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, S.10. 11 J. Mittelstraß: Aneignung und Verlust der Natur, S.73. 12 „Diese höchste Möglichkeit besteht in der Freiheit, diese ist das neu gedachte Wesen der menschlichen Tüchtigkeit. Und diese Tüchtigkeit […] vollzieht sich als die Ausmessung seines eigenen Wesens und der damit ihm zugehörigen Welt.“ (K. Ulmer: Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles, S. 223). 13 A.a.O., S. 222.

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gestaltet“14. Wie muss heute das Verhältnis von moderner Technik und kluger Lebensbewältigung gedacht werden?

U MGANG UND U MGANGSWISSEN „Das Konzept eines impliziten Umgangswissens aufgrund eines Verstehensprozesses der Verwendungsmöglichkeiten natürlicher Prozesse oder von Werkzeugen wird Ausgangspunkt für ein Philosophieren über Technik.“15 Der Umgang mit technischen Artefakten ist uns Menschen so vertraut, dass wir seinen Ursprung weder stammesgeschichtlich noch biographisch feststellen können. Die hermeneutische Technikphilosophie nimmt einen daseinsanalytischen Standpunkt ein. In Heideggers Sein und Zeit wird auf das Verstehen als einer zentralen Struktur des menschlichen In-der-Welt-seins hingewiesen und existenziell exploriert16. Mensch, Verstehen und (Werk-)Zeug sind gleich-ursprünglich in der Welt, in welcher der Mensch sein Leben praktisch-pragmatisch führen muss. Insofern müssen wir Herstellung und Umgang mit technischen Artefakten klug auf die menschliche Lebenspraxis projizieren, da allein aus dieser pragmatischen Perspektive nach dem Warum und Wofür der Sachen gefragt werden kann. Allerdings: Gemacht wird ein Gerät in der eigengesetzlich aufgebauten „Gegenstandswelt“ (Hans Freyer), im Gebrauch verstanden wird es in der nach „Bewandtnisganzheit“ (Heidegger) strukturierten Lebensumwelt. Das hermeneutische Philosophieren über Technik nimmt ein besonderes Können und dessen Ertrag – als Entwurf und als Werk – nicht nur zur Kenntnis, sondern fragt nach den Voraussetzungen wie nach den Folgen dieses Wirkzusammenhangs. „Technik ist das, dessen Wesen sich im Prozess des Herstellens und Umgehens zeigt, das überraschende Elemente enthält und nicht in allen Punkten vorausgeplant war.“17 Und die je vorliegende technische Praxis muss sich kritischen Fragen zu Funktion, zu Anwendung sowie zu ethischen Implikationen und Folgen des Tuns und Lassens stellen. Ein zentraler Begriff der hermeneutischen Technikphilosophie heißt also Umgang. Der Umgang ist ein vortheoretisches, praktisches Verhalten. Der von Irrgang an zentraler Stelle seiner Technikphilosophie benutzte Ausdruck ist offensichtlich von Heidegger übernommen. Dieser nennt das In-der-Welt-sein

14 Ebd. 15 B. Irrgang: Philosophie der Technik, S. 9. 16 M. Heidegger: Sein und Zeit, §15. 17 B. Irrgang: Philosophie der Technik, S. 14.

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auch den „Umgang in der Welt und mit dem inner-/weltlichen Seienden“18. Der Umgang, der ein Besorgen ist, ist immer schon mit einer eigenen „Erkenntnis“ (Umgangswissen) ausgezeichnet.19 Diese Erkenntnis ist ebenso vielfältig wie das Besorgen selbst. Jedes Besorgen, wie Herstellen, Pflegen, Verwenden und Gebrauchen, ist Zutunhaben mit etwas. In einen derart besorgenden Umgang sind wir Menschen eingeübt: „die Tür öffnend, mache ich Gebrauch von der Klinke“. Dem Ausdruck Umgang korrespondiert bei Heidegger das „Wesen“ des Zeugs, insofern dieses Wesen immer schon auf den Menschen und seine Welt hinweist. Ohne menschliche Welt gäbe es kein Zeug: „Ein Zeug ,ist‘ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ,etwas, um zu .. ‘. Die verschiedenen Weisen des ,Um-zu‘ [bzw. Wozu] wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit.“20

Es ist nun wichtig zu sehen, dass jenes Eingeübtsein (in den Umgang) ebenso wie der Ausdruck „Zeugganzheit“ mit einem Verstehen und Wissen verknüpft sind, das nicht bloß zugefallen, sondern lebensweltlich-pragmatisch angeeignet ist. Derart ist der gebrauchend-hantierende Umgang zwar nicht von einem theoretischen Hinsehen abhängig, aber dennoch nicht blind. Er wird geführt von einer ihm eigenen „Umsicht“, „die das Hantieren führt und ihm seine spezifische Sicherheit verleiht“21 Der Ausdruck Umgang ist also alles andere als banal. Er rückt die Rede vom technischen Umgang in den Horizont einer phänomenologisch-hermeneutischen Daseinsanalyse. Umgang mit Artefakten und Geräten ist immer Umgang „in der

18 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 66f. 19 Heidegger weist darauf hin, dass die Griechen die „Dinge“ pragmata nannten. Er schlägt den deutschen Ausdruck „Zeug“ vor und wählt für die angemessene Übersetzung des griechischen Worts praxis den zusammengesetzten Ausdruck „besorgender Umgang“. So erfahren Zeug wie Umgang eine wertbesetzte Charakteristik. 20 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 68; es sei an dieser Stelle auf die Unterscheidung zwischen Zeug und Werk hingewiesen: „Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug“ (M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 68). – „Das, wobei der alltägliche Umgang sich zunächst aufhält, sind auch nicht die Werkzeuge selbst, sondern das Werk, das jeweilig Herzu-stellende, ist das primär Besorgte und daher auch Zuhandene. Das Werk trägt die Verweisungsganzheit, innerhalb derer das Zeug begegnet.“ (a.a.O., S. 69 f.) Vgl. auch A. Luckner: Heidegger und das Denken der Technik. 21 A.a.O., S. 69.

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Welt“. Diese Welt muss ganzheitlich aufgefasst werden in dem Sinne, dass es nicht ein Außerhalb oder Jenseits von ihr gibt. Wissen und Können halten das offene und steigerbare Vermögen bereit, sich in der Welt praktisch umzutun, sie zu verändern, aber auch sich in ihr zu orientieren. In diese Welt sind Architekt, Ingenieur und Nutzer als in ihre Lebenswelt immer schon verstrickt, aber jeder auf seine besondere Weise. Jeder Umgang setzt ein Wissen des Um-zu der im Umgang begegnenden Sache voraus. Dieses Wissen weiß um den „auf das Zeug zugeschnittene[n] Umgang“.22 Insofern der Gebrauch sich dem Um-zu unterstellt, vollzieht sich beim Umgang ein Wissen, „wie es angemessener nicht möglich ist“.23. Dieses Umgangswissen, wie wir mit Irrgang auch sagen können, gewinnt seine Güte nicht primär durch theoretische Intelligenz. Das Leben zu führen bedarf des bedürftigen Brauchens und tätigen Gebrauchens. Die modernen Wissenschaften verkennen dabei mitunter, dass der Mensch sich immer schon auf die Möglichkeiten versteht, die ihm seine Umund Sachwelt bietet. Das hier den Menschen tragende aufmerkende Verstehen von Bedeutung ist aktiv-fordernd. Und dieser „suchende“ und erst „im Finden“ sich beruhigende primäre Zug des technischen Könnens und Wissens, der diesem vor jeder wissenschaftlichen Erkenntnis schon lebensweltlich zugewachsen ist, wird oft übersehen oder findet vielfach in den Wissenschaftstheorien keine Beachtung. Wilhelm Kamlah hat in seiner Auseinandersetzung mit Gehlen herausgestellt, dass „allem wissenschaftlichen Verhalten das bedürftige und tätige Gebrauchen von Möglichkeiten immer schon vorausgeht. Der erste Bezug des Menschen auf seine Welt ist nämlich nicht ein Erkennen, sondern ein Verstehen“.24 Die hermeneutische Technikphilosophie greift deshalb auch an dieser Stelle kritisch ein: „Die traditionelle Wissenschaftstheorie technischen Wissens hat den Aspekt des Umgangswissens und des impliziten Wissens, das den Kunstcharakter technischen Könnens (und Wissens) begründet, also den Gebrauch, vernachlässigt. Ein hermeneutisches Konzept technischen Wissens und Verstehens geht von diesem impliziten Wissen aus [...]“.25 (Irrgang 2010, S. 11)

Verstehen und Umgang ermöglichen erst das menschliche Zu-tun-haben mit Dingen, und deshalb muss jede technikphilosophische Reflexion entsprechend

22 Ebd. 23 Ebd. 24 W. Kamlah: Von der Sprache zur Vernunft, S. 128. 25 B. Irrgang: Von der technischen Konstruktion zum technologischen Design, S. 11.

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sich aufstellen: Das „implizite Umgangswissen sollte dabei im Sinne eines ineinander verwobenen Wissens und Könnens rekonstruiert werden, bestimmt von der Sachstruktur, mit der umgegangen wird, und der Habitualität des Umgehenden.“26

ARCHITEKTURTHEORETISCHE F RAGESTELLUNGEN Das 19. Jahrhundert, genauer: die Durchsetzung eines neuen revolutionären Geistes seit der Französischen Revolution, hat eine Vermehrung von Potentialitäten menschlicher Verhältnisse, Weltanschauungen und Lebensformen eingeleitet, die bis heute nicht abgeschlossen ist.27 Aufklärung und Historismus ihrerseits nahmen die philosophisch-wissenschaftliche Interpretation von Mensch, Natur und Geschichte seit Antike und Mittelalter radikal neu in Angriff. Es wurde und wird nach Sinn, Zweck und Ziel des geschichtlichen menschlichen Lebens gefragt, wobei mit der Erfindung der Geschichtsphilosophie durch Voltaire der Fortgang der menschlichen Angelegenheiten erstmals als Fortschritt der Menschheit insgesamt interpretiert wird28. Daran lassen sich vor allem die posi-

26 Ebd. 27 Vgl. H. Freyer (Schwelle der Zeiten), der die Folgen von Sesshaftigkeit und Industriekultur für die menschliche Lebenswelt eindrücklich beschreibt. Wilhelm Kamlah hat diesen Prozess auch als Profanisierung (in Abhebung von Säkularisierung) gedeutet, deren Folgen ausgehend von Descartes bis in die Technisierungswellen des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus reichen: „Erst als im 19. Jahrhundert die Naturwissenschaft in der Breite der Industrialisierung auf die Technik zurückwirkt, wird die Entheiligung nicht allein der Welt, sondern auch des Menschen in gleicher Breite wirksam.“ (W. Kamlah: Von der Sprache zur Vernunft, S. 26) Der Historiker Franz Schnabel schreibt: „Was aber die moderne europäische Technik von jeder Technik der Vorzeit grundsätzlich unterscheidet und ihre einzigartige geschichtliche Größe ausmacht, ist ihre exaktwissenschaftliche Grundlage.“ (F. Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, S. 240). Zum Verständnis von Potentialität unter Bezug auf Hans Freyer vgl. H. Poser: Entwerfen als Lebensform, S. 571 ff. 28 Vgl. L. Landgrebe: Phänomenologie und Geschichte sowie O. Marquardt: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie und H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit.

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tivistischen Naturwissenschaften mit ihren nachweisbaren Folgen messen29 In diesem Zusammenhang ist vor allem die Ingenieurskunst zu nennen, die eindrucksvoll und nachhaltig die sichtbare Welt umgestaltete30, aber auch tief in die einzelnen Lebensverhältnisse eindrang.31 Aus der Perspektive des frühen 20. Jahrhunderts und ihren Erfahrungen mit Modernität32 und modernem Bauen wurde jene Zeit als Stil-Barbarei bzw. als Eklektizismus kritisiert.33 Aber natürlich ist die architektonische Avantgarde, die vor dem 1. Weltkrieg sozialisiert wurde, in ihrem Selbstverständnis nicht ohne diese Präge-Zeit einer „ProtoModerne“ zu denken.34 Überhaupt haben die Diskussionen um Moderne, Postmoderne und Post-postmoderne in den im 19. Jahrhundert vorgerückten und am Fortschritt orientierten Weltbildern ihre Wurzeln, so dass auch eine Technikphilosophie für Architekten hier fündig werden wird. Das Herstellen wie das Wahrnehmen der neuen technischen Erzeugnisse durch den modernen Menschen wurde ganz auf naturwissenschaftliche bzw. naturalistische Grundlagen gestellt. Es mag dabei auch um die Ahnung gegangen sein, dass es Stimmungen und Empfindungen sind, in denen sich ein „neues“ Lebensgefühl (hier das „moderne“) primär äußert.35 Angesichts des Primats der

29 Vgl. F. Schnabel: Erfahrungswissenschaften und Technik sowie D. von Engelhardt: Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus. 30 Diese neuen An- und Aussichten werden aus zeitgenössischer Sicht eindrucksvoll beschrieben von Friedrich Naumann (F. Naumann: Im Reich der Arbeit). Aus heutiger Perspektive vgl. J. Radkau: Technik in Deutschland. 31 Vgl. H. Freyer: Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft, S. 131-141 sowie J. Radkau: Technik in Deutschland. 32 Vgl. auch den Ausdruck modernité bei H. Lefébvre (Einführung in die Modernität) Lefèbvre untersucht darin u.a. den Gebrauch des Ausdrucks „modern“ sowohl bei Marx als auch bei Baudelaire. 33 H.-W. Kruft: Geschichte der Architekturtheorie siehe auch H. Sedlmayr: Verlust der Mitte. 34 Vgl. zum Beispiel H. Broch: Hoffmannsthal und seine Zeit. 35 „Was von Periode zu Periode in diesem geistigen Sinn 'modern' ist, läßt sich leichter fühlen als definieren“, so Hugo v. Hofmannsthal 1893. Empfindungen und Stimmungen waren zentrale Themen der Wiener Moderne, mit denen sich Kritiker wie Karl Kraus und Verfechter wie Hermann Bahr beschäftigten. Eine nicht unerhebliche Rolle z.B. für das Selbstverständnis dieser Moderne spielte der Positivismus des Physikers und Wissenschaftsphilosophen Ernst Mach („Beiträge zur Analyse der Empfindungen“), der auch dank seiner populären Vorlesungen vor allem seit 1895 in Wien wirk-

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Maschinentechnik musste in der „fortschrittlichen“ Architektur ab sofort nicht mehr von (individuellem oder nationalem) Stil gesprochen werden. Die Vervielfältigung eines Produkts als Serienfolge identischer Einzelstücke wurde als epochale Chance aufgefasst, das Bauen nun ganz einer Industrieintelligenz zu unterstellen. Technisch Gemachtes wurde als neutral, zweckmäßig, in seiner Sachlichkeit ästhetisch reizvoll international verstanden und begrüßt. Ein Blick in die vor der Jahrhundertwende verfassten sogenannten „Ausstellungsbriefe“ von Friedrich Naumann (1860-1919) genügt, um zu erahnen, welchen Eindruck Maschinen auf die Menschen des beginnenden 20. Jahrhunderts gemacht haben. Naumann verfolgt mit seinem Buch, das er „Im Reiche der Arbeit“ nennt, zwei Absichten. Die innere wie die äußere Wahrnehmung der Zeitgenossen soll mit den Neuerungen der Epoche vertraut gemacht werden. So heißt es im Vorwort der Neuauflage: „Das Buch ist dasselbe geblieben und geht von neuem aus, diejenigen zu grüßen, die die Arbeitsgröße unseres Zeitalters innerlich miterleben möchten. Insbesondere will es auch die Augen schärfen für die künstlerischen Aufgaben des neuen deutschen Gewerbes.“36

Es sind dann vor allem die Themen Serie und Maschinenästhetik, mit denen sich Naumann auseinandersetzt, wenn er die Folgen und Chancen des Maschinenzeitalters für die Kunst diskutiert, die wohl nicht zufällig auch von den Architekten Le Corbusier und Rudolf Schwarz aufgegriffen werden. Das Haus mit einer Maschine zu vergleichen und von einer Wohnmaschine zu sprechen, war die Idee des Schweizer Architekten Le Corbusier (1887-1965). Fasziniert vom Stand der damaligen Technik und von der Gestalt ihrer Artefakte (Ozeandampfer, Automobil und Flugzeug) suchte er eine Antwort auf den Historismus in der Architektur. Die klare Konstruktion der Maschine und ihre Materialästhetik hatten es ihm angetan. Entsprechend sollten jetzt auch die ingenieurtechnischen Artefakte der Architektur von aller Ornamentik befreit werden und nur mehr zeitlos-international wirken.37 Von der Industrie lernen heißt Standardlösungen bzw. Prototypen finden und in Serie bauen. Wie nah dieses Denken dem ingenieurwissenschaftlichen Selbstverständnis kommt, zeigt sich nun: „Der Serienbau beruht auf Analyse und experimenteller

te (vgl. A. Janik,/S. Toulmin: Wittgensteins Wien sowie G. Wunberg: Die Wiener Moderne). 36 F. Naumann: Im Reich der Arbeit, S.7. 37 Dies (zeitlos-international) ist überhaupt eine treffende Beschreibung für die sachliche Moderne.

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Forschung“.38 Diesen Bedingungen und Anforderungen des wissenschaftlichen Arbeitens ist Le Corbusier selbst freilich nie nachgekommen. Aber seine Aussagen, vor allem die Haltung, die sie vertraten, passten offensichtlich in die Zeit und machten Schule. Ein neues, technisches Vokabular zieht in die Architekturkritik ein: „Wenn man aus seinem Herzen und Geist die starr gewordenen Vorstellungen vom Haus reißt und die Frage von einem kritischen und sachlichen Standpunkt aus ins Auge faßt, kommt man zwangsläufig zum Haus als Werkzeug, zum Typenhaus, das gesund ist (auch sittlich gesund) und ebenso schön wie die Werkzeuge der Arbeit, die unser Dasein begleiten.“39

Auch das Berufsbild wird entsprechend angepasst: „(D)er Architekt ist zuerst einmal Ingenieur“.40 Le Corbusiers Haltung, die viel Wert auf eine „neue“ technische Sprache legt, ist jedoch nicht mit einem anti-künstlerischen Reflex ausgestattet. Vielmehr will sie eine epochale Baukunst sozusagen „auf der Höhe der Zeit“. Und diese seine Zeit erlebt er als „Maschinenzeitalter“41, an das er versucht, den Architekten sowie die Architektur kreativ anzupassen. Der Kirchenbaumeister und bekennende Katholik Rudolf Schwarz (18971961) war von 1925-1934 an Kunstgewerbeschulen in Offenbach und Aachen leitend tätig. Seit dieser Zeit hat er sich immer wieder mit Fragen der Technik auseinandergesetzt und dazu publiziert.42 Im Mittelpunkt seiner Schriften steht oft die Frage nach dem Maß. Die Griechen hätten noch in der Mitte, also zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, ihr Maß zu begrenzen gewusst. Die neue Zeit manifestiere sich „zu gutem Teil im neuen Werk, dem 'technischen',

38 Le Corbusier: Vers une architecture, S. 394. 39 Ebd. 40 A.a.O., S.400. 41 Vgl. J.-L. Cohen: LeCorbusier. 42 Ich kann mich im Rahmen dieses Beitrags mit Blick auf das Wirken meines Kollegen Bernhard Irrgang (Professur für Technikphilosophie) nur auf ganz wenige Aspekte von Schwarz' Œvre beziehen, die aber doch für meine Zwecke ausreichend sind. Hinweisen möchte ich aber auf die an meinem Lehrstuhl (für Architekturtheorie) angefertigte und noch unveröffentlichte Dissertation von Alexander H. Smolian mit dem Titel „Weltanschauung und Planung am Beispiel des Architekten und Stadtplaners Rudolf Schwarz“, die sich intensiv auch mit dem Technikverständnis des Architekten auseinandersetzt.

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das zu ihrem gültigen Symbol heranwächst“.43 Schwarz sieht in der Technik den Heraufzug des Maßlosen und fragt, „ob es sich verantworten läßt, daß diese Welt entsteht“. In mehreren Aufsätzen versucht er, darauf eine Antwort zu geben. Der Text Das Gesetz der Serie, der 1927 zuerst in der Zeitschrift Die Schildgenossen erschien und später in eine Reihe der Aachener Werkbücher aufgenommen wurde, behandelt kritisch die neuen Möglichkeiten der Reproduktion. Man müsse sich genau anschauen, was überhaupt in Serie wiederholt werden soll, nicht jeder Gegenstand sei dafür geeignet. Er sieht in der Serienproduktion vor allem das Problem des Maßes, das leicht verletzt werden könnte, wenn es nicht mehr sich am Menschen orientiere. Ein weiterer Aspekt von Schwarz´ reichhaltigen Gedanken zur Technik, der in einem gewissen Gegensatz zu Le Corbusiers Ausführungen vom Haus als aus Werkzeugen zusammengesetzte Maschine steht, greift das Wohnen auf. Im Aufsatz Gespräch und Denken über 'Technik' stimmt Schwarz der auch öffentlich geäußerten Meinung zu, Architektur „sei nur bedingt 'Kunst', weil sie Zwecken zu dienen / habe“.44 Dies tue das Werk, insofern es bewohnbar ist. Dieses Ziel habe der Architekt mit verschiedenen Materialien durchzuführen, und das eingesetzte Material „soll tragfähig, wetterfest, sparsam verwendet werden“ .45 Aber dieser Umgang mit Aufgabe und Material macht nur die eine, die technisch-bauliche Seite des architektonischen Tuns aus. Auf einer anderen Ebene, so Schwarz, „liegt die Forderung, diesen Menschen einen gebildeten 'Raum' zu geben“. Der damit angesprochene architektonisch gestaltete Raum ist etwas vollkommen anderes als der Nutzraum. Was jenen Raum eignet, kann „nur im Akt der Bewohnung erfahren werden. Es ist darum aussichtslos, ihn durch irgend ein ,ästhetisches‘ Experiment begreifen zu wollen. Er erschließt sich einfach nicht dem ästhetischen ,Subjekt‘ [...]“.46 Leider ist es an dieser Stelle nicht möglich, detailliert Schwarz zu behandeln. Aber im Vergleich mit Le Corbusiers „Wohnmaschine“ stellt sich die Frage, inwieweit sich der Umgang mit Technik im Entwurf auf den Gebrauch der Architektur auswirkt.47 Schwarz scheint auszuschließen, dass irgendein ästhetischer Zugang zur Architektur dem „Akt der Bewohnung“ vorgreifen könnte. Beider Architekten Haltungen zur Architektur implizieren ein Meinen und Wissen, das im Entwurfskönnen und

43 R. Schwarz: Wegweisung der Technik und andere Schriften zum Neuen Bauen, S.12. 44 A.a.O., S.17 f. 45 A.a.O., S.18. 46 Ebd. 47 An dieser Stelle wäre es interessant, die Äußerungen Le Corbusiers zu den Reaktionen der Bewohner seiner Siedlungsanlage im südfranzösischen Pessac heranzuziehen (vgl. P. Boudon: Die Siedlung Pessac – 40 Jahre Wohnen à Le Corbusier).

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schließlich im Werk sich zeigen soll. Doch Schwarz geht noch einen Schritt weiter: die Rezeption von Architektur muss auch jenseits einer ästhetischen Betrachtung ernst genommen und beachtet werden, insofern im Wohnen selbst etwas erfahren wird (und gelingen soll), das dem Architekten nicht gleichgültig sein darf.

ARCHITEKTUR – W ERKZEUG

ODER

L EBENS -M ITTEL ?

Wenn wir innerhalb der Architekturtheorie von Technik im Sinne technischen Vermögens sprechen, dann meinen wir entweder ein Können oder ein Wissen. Dabei steht hier freilich auch die Verbindung von Technik mit Kunst im Raum, wovon schon die lateinische Übersetzung der τέχνη als ars (dt. Kunst) Ausdruck gibt. Technik ist entweder ein bestimmtes Herstellungs- oder Konstruktionsverfahren, einen Bau auszuführen, oder eine bestimmte Weise, mit etwas umzugehen, etwas anzuwenden oder etwas zu beherrschen. Beide Bedeutungen werden in der Regel zur Kompetenz des Architekten gerechnet und an den ingenieurtechnischen Hochschulen vermittelt. Während die Herstellungs- und Konstruktionsverfahren als propositionales Wissen gelehrt werden müssen, gibt hingegen ein entsprechend gelerntes Wissen noch keine Garantie, dass das abstrakt oder theoretisch Gewusste auch angewendet werden kann. Der Anwendungsfall wird im Entwerfen mehr simuliert als wirklich eingeübt. Dabei kommen an Architekturschulen in erster Linie bestimmte lehrbare Methoden und Regeln zum Einsatz, aber auch das Lernen am Paradigma (am als gelungen angesehenen Musterfall) darf nicht unterschätzt werden.48 In der Ausbildung von Architekten lässt sich der Gebrauch des Entworfenen und Hergestellten nicht vermitteln. Der „Könnensbeweis“ (Irrgang) des architektonischen Entwurfs zeigt sich nicht im Vor- und Herzeigen eines Produkts. „Letztendlich beurteilen kann ich aber das Gelingen von Technik nur an der technischen Handlung und ihrem Resultat.“49 Dem ist zuzustimmen. Jedoch ist für das technische Artefakt Architektur das Maß des Gelingens zu differenzieren. Versuchen wir folgende Frage zu beantworten: Worin liegt der praktischpragmatische Unterschied zwischen dem Verwenden eines Hammers und dem Gebrauch eines Hauses? Anders gefragt: Worin unterscheiden sich Hämmern und Wohnen? Inwiefern ist das Wohnen des Menschen überhaupt eine „techni-

48 Vgl. zum ganzen Komplex des Entwerfens des Architekten auch A. Hahn: Das Entwerfen als wissenschaftliches Handeln der besonderen Art, in diesem Buch S. 127141. 49 B. Irrgang: Von der technischen Konstruktion zum technologischen Design, S. 147.

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sche Handlung“?50 Hier stoßen wir auf den Unterschied zwischen Werkzeug (Gerät) und Lebens-mittel. Der Ingenieur/Techniker hat es in der Regel mit einfachen oder zusammengesetzten Werkzeugen (Maschinen) zu tun. Der Architekt entwirft Wohn-Dinge. Eine von der Technikphilosophie angeleitete Architekturtheorie wird dabei auf den Unterschied zwischen dem Umgang mit Werkzeugen und dem Gebrauch von Lebens-mitteln zu achten haben. Es bleibt die Frage, was Artefakte wie Hämmer und Häuser mit unserer Lebenspraxis zu tun haben, welche Bedeutung wir ihnen je für unsere Lebensführung zubilligen. Muss der Architekt zwischen Verfügungs- und Anwendungswissen unterscheiden können? Inwiefern zeichnet sich sein Können als Entwerfer auch durch ein Orientierungswissen aus? Welches entwurfsrelevante „Wissen“ kennt überhaupt die Architekturtheorie?51 „'Tacit knowledge' macht eine andere Art der Reflexion erforderlich, die sich nicht im Definierenkönnen bewährt, sondern im Gelingen des Konstruktionsentwurfs im fertigen Gerät.“52 Lässt sich diese Aussage über den Ingenieur auch für den Architekten behaupten? „Wie“ bewährt sich der architektonische Entwurf? Der Blick in den überlieferten Beginn der Architekturtheorie wird entdecken, dass Vitruv einen Unterschied machte zwischen Praxis und Theorie.53 Bereits in Buch 1, Erstes Kapitel, in welchem er über die „Ausbildung des Baumeisters“ schreibt, unterscheidet Vitruv zwischen fabrica und ratiocinatio. Der Übersetzer Curt Fensterbusch erläutert, der Ausdruck ratiocinatio habe die Grundbedeutung von „Berechnung“, werde von Vitruv aber auch in einem allgemeineren Sinne als „Kenntnis der theoretischen Grundlagen“ (έπίστήµη) verstanden. Bei Georges54 ist überdies nachzulesen, dass ratiocinatio innerhalb der Architektur die Theorie, im Gegensatz zu fabrica (oder opus) die Praxis, bedeute. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen widerspricht Vitruv der Auffassung des Architekten Pytheos, der behauptete, ein Baumeister habe auf allen architek-

50 Ich kann Frage und Antwort im Rahmen dieses Aufsatzes nur anreißen. 51 Vgl. zu dieser Problematik eines wissensbasierten Entwerfens in der Architektur unter Berücksichtigung von Intuition und Imagination den lehrreichen Artikel des Architekten und Architekturtheoretikers H. Hilbig: Was Fahrradfahren, wissenschaftliche Erkenntnis und ein Hotelentwurf miteinander zu tun haben, S.309-334. 52 B. Irrgang: Von der technischen Konstruktion zum technologischen Design, S. 186. 53 Vitruv: Zehn Bücher über Architektur; Es handelt bei den Zehn Büchern um die einzige überlieferte antike Schrift über die Architektur, die der Autor in den Jahren vor 33 bis vor 22 v. Chr. verfasst hat. Der lateinische Text gilt als früheste architekturtheoretische Schrift überhaupt. 54 K.-E. Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Sp. 2206.

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turrelevanten Gebieten sein Wissen zur Meisterschaft zu bringen: „[...] ein Architekt müsse in allen Zweigen der Kunst und Wissenschaft mehr leisten können als die, die einzelne Gebiete durch ihren Fleiß und ihre Tätigkeit zu höchstem Glanz geführt haben“.55 Vitruv hält Pytheos vor, dass dieser die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis, zwischen wissen und können oder mit Gilbert Ryle ausgedrückt: zwischen know-that und know-how, nicht vollziehe: „Also scheint in diesem Punkte [was die Kenntnisse des Architekten angeht, A.H.] Pytheos geirrt zu haben, weil er nicht bemerkt hat, daß die einzelnen Künste sich aus zwei Faktoren zusammensetzen, aus Ausführung und ihrer Konzeption [ex opere et eius ratiocinatione], wovon das erstere, nämlich die Ausführung der Arbeit, eine eigene Sache derer ist, die auf speziellen Gebieten ausgebildet sind, das zweite aber Gemeingut aller wissenschaftlich Gebildeten ist, das ist die bewußte vernünftige (theoretische) Überlegung, wie sich z.B. Ärzte und Musiker mit dem Zeitmaß des Pulsschlages und der Bewegung der Füße beschäftigen. Wenn es aber nötig sein sollte, eine Wunde zu heilen oder einen Kranken aus der Gefahr zu befreien, dann wird nicht der Musiker herbeikommen, sondern das wird die besondere Tätigkeit des Arztes sein. Ebenso wird auf einem Musikinstrument nicht der Arzt, sondern der Musiker so spielen, daß die Ohren eine süße Annehmlichkeit durch die gespielten Weisen empfinden.“56 (Vitruv: S. 33 ff. )

Die Unterscheidung Vitruvs ist wichtig, insofern sie zwei Wissensformen, die der Baumeister beherrschen soll, klärt: das theoretische Wissen (ratiocinatio) und das technische, handwerkliche Können/Wissen (fabrica/opus). Diese Unterscheidung ist dennoch unzureichend, weil sie die Frage der Rezeption durch den Nutzer bzw. Bedingungen des Gebrauchs unterschlägt. Vitruv kennt Architektur oder Baukunst nur als ein Werke-herstellendes Können. Aber Werke als bewohnbare Bauten zeichnet nichts Selbstzweckhaftes aus, sie sollen in ihrer Dienlichkeit gefallen und befriedigen. Der Gebrauch, der von einem Gebäude gemacht wird, stößt überhaupt in eine andere Dimension vor als Herstellung, Handhabung oder Funktion einer Sache. Die Weite des Gebrauchs, die sich im Wohnen vollzieht, ist aber schon im Entwurf mit zu bedenken. Das heißt: das Mittel muss nicht nur das richtige (auf der Höhe einer Technik), sondern auch das „wahre“ (passende, angemessene) Mittel sein. Wahrheit (im Sinne von „Angemessenheit“57) stellt sich erst im Gebrauch, den man von etwas macht, ein. Bei Vitruv, anders als bei Schwarz, ist der Gebrauch, den man wohnend von Archi-

55 Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, S. 33. 56 A.a.O., S.33 ff. 57 Vgl. T. Rentsch: Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken?

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tektur macht, nicht vorgesehen, auch deshalb, weil er das Wohnen nicht thematisiert.58 Kommen wir nun zurück auf unsere Ausgangsfragen: Ist das Haus eine Maschine oder ein Lebensmittel? Wie hängen Gebrauchen und Wohnen zusammen? Wohnend entdecken wir, ob eine Wohnung oder ein Haus den konkreten Zweck erfüllt, brauchbares Lebens-mittel für dieses bestimmte Wohnen und Leben zu sein. Als Mittel für die Zwecke des Lebens gewährt die Wohnung offene Spielräume, um die im eigenen Wohnen kreativ erschlossenen Möglichkeiten verwirklichen zu können, unabhängig davon, ob Wohnung oder Haus in einem allgemeinen Verständnis „funktional“ und „sachlich“ entworfen und gebaut sind. Wohnen gelingt oder misslingt nur im Gebrauch von Räumen und Dingen, die dem Wohnen dienen. Zum Beispiel sind Ruhe und Geborgenheit Befindlichkeiten, die sich nur vollziehen können, wenn Haus, Wohnung und Architekturelemente auf eine bestimmte Weise in Gebrauch genommen werden können. Was heißt hier aber Gebrauch? Offensichtlich nicht Funktion. Eine Maschine (ein zusammengesetztes Werkzeug) funktioniert, wenn sie so läuft, wie es der Techniker sich vorgestellt und berechnet hat. Sie ist ein autarkes System, das am eigenen Laufen, am Gang der Maschine hängt. Ist der Gang unterbrochen, dann geht das System nicht mehr einwandfrei und muss repariert oder ersetzt werden. Einen Gebrauch macht man von etwas. Er ist immer nicht-technisch, sondern durch die Umstände meines Daseins motiviert. Im Gebrauch von etwas bewältigen wir eine Lebenssituation. Wir reagieren so auf eine herausfordernde Bedürftigkeit, die wir ohne Zuhilfenahme von etwas Drittem nicht meistern können. Die Wortbegriffe „Gebrauch“ und „gebrauchen“ lassen sich nach dem Grimmschen Deutschen Wörterbuch deuten als „zu seinen Bedürfnissen nöthig haben“ oder kurz „bedürfen“. So kommen wir zu folgendem Verständnis von wohnen: im Wohnen machen wir von etwas Gebrauch hinsichtlich eines Bedürfens. So ist das Gebrauchen ein Tun im Hinblick auf ein Bedürfnis, das – umgangssprachlich gesagt: „sich meldet“. Wir haben oben gesagt, dass wir von etwas Gebrauch machen, wenn wir bestimmte Situationen bewältigen wollen. Dann ist das Gebrauchen also auch eine Art zu handeln. Aber offensichtlich ist nicht jedes Handeln ein Gebrauchen. Gegenüber dem Handeln ist das Gebrauchen also noch zu präzisieren. Obwohl wir in einer arbeitsteiligen Dienstleistungsgesellschaft viele Handlungen delegieren können, wie z.B. Auto putzen und Kaffee kochen, die wir also nicht selber verrichten bzw. technisch-können müssen, um dennoch von den Folgen zu profitieren, gibt es ein Handeln, bei dem uns niemand vertreten kann, da es das Leben

58 Vgl. A. Hahn: Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens, in diesem Buch S. 45-64.

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selbst zum Ziel hat. Insofern endet das gebrauchende Handeln auch nicht mit der Herstellung eines Produkts (frisch gebrühter Kaffee) oder der Veränderung eines Sachverhalts (das schmutzige Auto ist nun ein sauberes geworden). Jetzt ahnen wir, warum sich Hämmern und Wohnen nicht vergleichen lassen. Sollte ich die technische Handlung des Hämmerns nicht selbst beherrschen, was stets vorkommen kann, lasse ich mich von einem anderen darin „vertreten“. Er wird dann an meiner Statt den Nagel in der Wand verankern. Der eingeschlagene Nagel sowie das daran aufgehängte Bild sind Gegenstände, die von seinem Hersteller und Autor (meinem Freund) getrennt sind. Wie wir sehen, können manche Tätigkeiten, die mir von Nutzen sind, auch von anderen erledigt werden. Im Wohnen aber kann uns niemand vertreten. Bernhard Irrgang hat vorgeschlagen, das Gelingen von Technik an der technischen Handlung und ihrem Resultat zu messen, wobei die Perspektive des Technikexperten wie die des Techniknutzers zu beachten sind59. Bei der Architektur haben wir folgendes Phänomen festgestellt: Das „Bauen“ muss der Wohnende heute in der Regel delegieren, hier „vertritt“ ihn tatsächlich der Architekt (der Technikexperte) und beweist darin sein „technisches“ Können. Deshalb ist das Ziel dieses Könnens des Architekten nicht das technische Artefakt. Das ist sein Produkt oder Resultat. Das Ziel von Entwurf und Herstellung vielmehr ist das Wohnen. Das am Gelingen des Gebrauchs orientierte Entwerfen und Bauen antizipiert die Möglichkeiten und Spielräume eines „guten“ Wohnens. Das Wohnen als Gebrauchen ist aber wohl keine „technische Handlung“. Der „Akt des Bewohnens“ (R. Schwarz), so ließ sich feststellen, ist ein bedürftiges und tätiges Gebrauchen von Möglichkeiten, die Menschen zum Leben nötig haben und die allein der architektonische Raum dem Wohnenden bieten kann. Im Wohnen erst entdeckt der Wohnende die Brauchbarkeit der ihm vom Architekten zur Verfügung gestellten „Wohndinge“. Und je mehr der Wohnende im Horizont des Gebrauchens Spielräume und Möglichkeiten sich erschließt, desto befriedigender wird er auch sein Wohnen z.B. als Ruhe und Geborgenheit vermögen und können.

59 B. Irrgang: Philosophie der Technik, S. 7 f.

Syn-Ästhesie oder: Die Kommunikation der Sinne Zur Wahrnehmungslehre von Wilhelm Schapp und Maurice Merleau-Ponty

Z UGANG In einem Brief vom 13. August 1878 schrieb der Zürcher Dichter und Schriftsteller Gottfried Keller seinem Husumer Kollegen Theodor Storm: „Auf Ihre neuen Verse freue ich mich außergewöhnlich und werde dieselben mit horchenden Augen besehen und sehenden Ohren behorchen. Indessen habe ich auch Ihre Renate gelesen, und zwar mit großem Genusse. Die Stimmungen in Land und Leuten sind wieder einzig […]“1. Keller versucht offensichtlich, dem Brieffreund etwas von seiner Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsbereitschaft mitzuteilen, wie er diese im Umgang mit den Gedichten und der Novelle Storms selbst schon erfahren hat. Sind die Ausdrücke „mit horchenden Augen besehen“ und „mit sehenden Ohren behorchen“ mehr oder weniger geglückte Sprachbilder, die aber möglicherweise einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Synästhesie in theoretischer Einstellung widersprechen, oder wird mit ihnen ein geschautes leibliches Vermögen sensibler Empfindsamkeit zum Ausdruck gebracht? Ich bin davon überzeugt, dass die Architekturtheorie nicht auf eine gründliche Beschäftigung mit Theorien der Wahrnehmung verzichten kann. Mein Interesse gilt dabei nicht einer Wahrnehmungslehre von Architektur als Teil einer Theorie der Kunst (‚architektonische Ästhetik‛), sondern dem besseren Verstehen des Menschen hinsichtlich seines sinnlich-sinnhaften Zur-Welt-seins. Wird

1

P. Goldhammer: Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gottfried Keller, S. 22.

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eine Architekturtheorie, wie von mir, als eine phänomenologisch - hermeneutische Wissenschaft aufgebaut und praktiziert, dann hat sie sich auch im Spektrum eben dieser Tradition und ihrer Wissenschaftsgeschichte umzutun. In diesem Aufsatz wird allerdings keine unmittelbare Anwendung von theoretischen Überlegungen auf Fälle des Wohnens, Entwerfens und Bauens erfolgen. Stattdessen wird in einer Art Grundlagenbefragung zwei Klassikern der phänomenologischen Wahrnehmungsphilosophie Referenz erwiesen. Es rücken dabei ausgewählte Fragen an die Theorien in den Vordergrund, auf die es der Phänomenologie besonders ankam, zum Beispiel: Wie konstituieren sich Ding und Raum in der Wahrnehmung? Obwohl also im Folgenden nicht explizit auf Architektur eingegangen wird, steht dennoch im Hintergrund meiner ‚Befragung‛ das Phänomen, dass Gebautes überhaupt sinnlich in Erscheinung treten kann und etwas bedeutet.

H INFÜHRUNG Das Wort Synästhesie verbindet die beiden griechischen Ausdrücke syn [„zusammen“] und aisthesis [„sinnliches Wahrnehmen“]. Ich werde nicht den psychologischen oder medizinischen Terminus Synästhesie verfolgen, sondern den Ausdruck wörtlich nehmen: verschiedene Sinne nehmen zusammen oder gemeinsam etwas wahr. Es geht mir also im Folgenden darum, einen bestimmten wahrnehmungstheoretischen Standpunkt zu skizzieren. Dieser wird immer auch, insofern wir uns mit dem menschlichen Wahrnehmen beschäftigen, nach dem Beitrag des Bewusstseins (des Wissens) bzw. der Sprache fragen. Dazu gibt es Überlegungen zu der je spezifischen Leistung eines Sinns (sogenannte „Sinnesqualitäten“) und nach dem Verhältnis der Sinne zueinander. Diese unspektakuläre Auslegung der Synästhesie hat, wie ich meine, Ähnlichkeit mit einer anderen, der von koinê aisthêsis bzw. sensus communis. Bei Aristoteles erscheint die koinê aisthêsis „als immanenter Konvergenzund Einheitspunkt des gesamten Wahrnehmungsbereiches gewissermaßen als das sinnen-immanente Vermögen zur Einheit des Bewußtseins in der Vielheit z. T. gegensätzlicher Sinnesaffektionen“.2 Innerhalb der Begriffsgeschichte von koinê aisthêsis / sensus communis begegnet uns diese Diskussion wieder bei Baumgartens Aesthetica (1750–1758), ein Buch, das ‚sinnliche Erkenntnis‘ „mit

2

J. Ritter/K. Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 623 f.; zur Begriffsentwicklung des Anglizismus common sense vgl. H. Kleger: Common Sense als Argument, Bd. 30, S. 192–223 sowie Bd. 33, S. 22–59.

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Empfindung, Einbildungskraft und andere(n) intuitive(n) Fähigkeiten“3 theoretisch abzudecken versucht, und dann insbesondere bei Herder, der den sensus communis wieder in einer durchaus wahrnehmungstheoretischen Weise gebraucht. Er nennt den Menschen „ein horchendes, merkendes Geschöpf“4 und bringt Sprache und Verstand ins Spiel. „Wer kann Gestalt reden? Wer kann Farben tönen? [...] Wer kann, was er fühlt, sagen?“5 Herder kam es auf das vermittelte Zusammen von Gefühl und Verstand an. Ich schlage vor, dieses Basisvermögen aus Empfinden und Wissen Wahrnehmungsstil zu nennen. Der sensus communis war für Herder das menschliche Vermögen, Wahrgenommenes intuitiv aufzufassen. „Daß der Mensch mit dem Verstande empfindet oder – umgekehrt – mit dem Gefühl ‚denkt‛, daß also schon die Sinnlichkeit des Menschen von besonderer, distanzierender Natur ist, versucht Herder genauer in seiner Analyse des Gehörsinnes zu zeigen […]“, so Irrscher.6 Damit soll nur angedeutet sein, auf welchem Weg und in welcher Linie wir der Sinnestätigkeit (der SynÄsthesie) zu folgen gedenken. Ein anderes literarisches Beispiel dafür, was Herder „das schnelle Gefühl zu fassen“7 genannt hat, fand ich in einem Roman von Ernest Hemingway. Das Zitat deutet, wie ich finde, unmittelbar auf den Wahrnehmungsstil der Fischer hin: „Wenn ein Orkan kommt, sieht man auf See die Anzeichen hierfür immer schon Tage vorher am Himmel. – An Land sehen sie sie nicht, weil sie nicht wissen, wonach sie Ausschau halten sollten, dachte er.“8 Es ist nicht nur diese Einheit von Empfinden und Wissen, was hier auffällt. Dazu tritt die Erkenntnis, Menschen seien sowohl disponiert für dieses ‚Vermögen‛ als auch in es hineingewachsen. Diese hier knapp gehaltenen Überlegungen sollen als eine Hinführung zu dem wahrnehmungstheoretischen Phänomen, das bei Schapp als Einheit von Sinnlichkeit und Idee, bei Merleau-Ponty als Zur-Welt-sein des Leibes näher ausgedeutet wird, ausreichen.

3

F. Kümmel: Vom beherrschenden Raum des Sehens zum gelebten Raum des Hörens, S. 46–91.

4

Herder in V. Lau: Erzählen und Verstehen, S. 45.

5

A.a.O. S. 44.

6

H. D. Irscher: Nachwort, in: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 160.

7

Herder in V. Lau: Erzählen und Verstehen, S. 123, Anm. 40.

8

E. Hemingway: Der alte Mann und das Meer, S. 32.

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S INNLICHKEIT UND I DEE IN DER BEI W ILHELM S CHAPP

W AHRNEHMUNG

„Nur was geschaut ist, gehört in die Phänomenologie.“9 „Schauen“ meint das Sehen in naiver vor-wissenschaftlicher Einstellung. Dieses methodische Bekenntnis des Juristen und Philosophen Wilhelm Schapp (1884–1965) findet sich in den Vorbemerkungen zu seinen Beiträgen zur Phänomenologie der Wahrnehmung aus dem Jahr 191010 (zugleich Schapps Dissertation bei Husserl von 190911). Es ergänzt auf eindrucksvolle Weise eine Selbstverpflichtung aus dem Vorwort: „Ich hoffe nur, daß ich nichts schrieb, was ich nicht selbst sah.“12 Schapp waren damals Schüler des Begründers der modernen Phänomenologie Edmund Husserl. In der Philosophie hat Schapp dann Jahre später mit seiner Geschichten-Philosophie für einiges Aufsehen gesorgt.13 Das Thema der Wahrnehmung zieht sich durch viele seiner Arbeiten. Seine philosophische Position und insbesondere die Beherrschung der phänomenologischen Methode zeigt er in seinem Erstlingswerk eindrucksvoll. Er sagt in den Beiträgen, man müsse die Untersuchung der Wahrnehmung „mit leichter Hand“ vornehmen und nicht Voraussetzungen einführen oder nach Theorien Ausschau halten. Besser sei es wie ein Künstler, am besten wie ein Maler, vorzugehen. Denn die Welt soll nicht in Formeln eingezwängt werden, vielmehr gehe es um ein „Hineinversenken in die sinnliche Welt“.14 Schapp stellt einen roten Tisch vor, um den er herumgeht und der dabei immer derselbe bleibt, obwohl er beim Gehen ganz andere Ansichten von ihm zu sehen bekommt. Auch können wir den Tisch betasten, wobei er uns wieder auf eine ganz neue Art begegnet. Dennoch sind wir uns gewiss, es mit demselben Tisch zu tun zu haben trotz wechselnder Beleuchtungseffekte und total verschiedener Wahrnehmungen. Ist es dann aber zulässig, verschiedene Empfindungen und Sinne zu isolieren und zu behaupten, zwischen den einzelnen Arten von Sinnesinhalten seien Übergänge ausgeschlossen?

9

W. Schapp: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 14.

10 Zur philosophiegeschichtlichen Einordnung der Beiträge siehe T. Rolf: Der dichtende Gegenstand, S. 87–113. Für Rolf warten die Beiträge „als immer noch aktueller Text auf ihre Neuentdeckung“, a.a.O., S. 11. 11 Zur Vorgeschichte der Dissertation vgl. W. Schapp: Erinnerungen an Husserl, S. 12– 25. 12 W. Schapp: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 9. 13 Lübbe, Marquard, Noack, Szilasi, Landgrebe, Fellmann, Th. Rentsch u. a. beziehen sich auf Schapps Philosophie der Geschichten. 14 W. Schapp: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 12.

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Das Anliegen von Schapps Wahrnehmungsbuch besteht darin zu beschreiben, „was vor aller Theorie in unmittelbarer Leibhaftigkeit gegeben und zu finden ist“.15 In einer einleuchtenden Unterscheidung macht er die Haltung des Phänomenologen zu den Dingen deutlich, denn die Dingwahrnehmung sei das Eigentliche jeder Wahrnehmung.16 Er erinnert an den Handwerksmeister, der das Material, zum Beispiel ein eben angeliefertes Stück Leder, mit dem er arbeiten will, zuvor auf seine Tauglichkeit hin prüft. Was macht er? Es sind konkrete Lagen, in die er das Material bringt, um dann in einem Augenblick die Güte und die wesentlichen Eigenschaften des Materials festzustellen. Damit ist das phänomenologische Verständnis der Intentionalität als ein vortheoretisches Gerichtetsein beim „natürlich-weltlichen“ Umgang mit den Dingen erläutert. Schapp schließt allerdings in den Beiträgen die ästhetische Anschauung aus. Er möchte das Wahrnehmen in einem weiten Sinne als ein Beobachten verstanden wissen, wie ja auch im täglichen Leben das Wahrnehmen unvermittelt in ein beobachtendes Wahrnehmen übergehen kann.17 Dem Meister geht es bei seiner Prüfung um das Stück Material in seiner konkreten Eigenschaft, so dass das beobachtende Wahrnehmen seine sinnliche Aufmerksamkeit gut ausdrückt. Er antizipiert den späteren Gebrauch und klammert ihn zugleich ein, da er nur auf den kommenden Umgang gerichtet, das Material ‚beobachtet‛. Die prüfende Begutachtung ist ja noch kein Bearbeiten, dennoch besteht sie aus konkreter Handhabung durch gekonnte Griffe. Im ‚hantierenden‛ Umgang nur erfahren wir die Eigenschaften der Dinge. Wir bringen sie mit Hilfe des „Strahls der ‚Intention‛“ in eine bestimmte Lage und erfahren so an uns eine entsprechende Reaktion. Es kommt also auf dieses In-Berührung-kommen des Menschen mit den Dingen an. Hier liegt mehr vor als ein bloßer Unterschied der Aufmerksamkeit. Ohne unseren ‚Zugriff‛, ohne dieses ‚Gegenständlich haben‛ blieben die Dinge stumm. Eine genaue Beschreibung dieser im prüfenden Zugriff auf die Eigenschaften der Dinge gerichteten Aufmerksamkeit zeigt uns, „daß wir leibhaftig Elastizität, Flüssigsein, Rauhsein im Sehen vor uns haben“.18 Die Rede vom Gegebensein der Dinge in „unmittelbarer Leibhaftigkeit“ (Schapp) soll jene theoriegeleiteten Meinungen zurückweisen, die behaupten, „eigentlich nehme das Auge nur Farben, das Ohr nur Töne wahr, alles andere besorge Assoziation und Erfahrung“.19 Vielmehr habe man das Phänomen zu registrieren, dass uns alle Sinne „doch

15 A.a.O., S. 38. 16 Vgl. a.a.O., S. 114. 17 Zu dieser Unterscheidung vgl. a.a.O., S. 65 f. 18 A.a.O., S. 37. 19 A.a.O., S. 38.

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dasselbe – die Welt draußen – auf ihre Weise darstellen“.20 Farben und Töne stellen uns unmittelbar eine Welt vor. „Bezüglich der Tonwelt braucht man nur an das Theater zu denken, wo Sturm, Gewitter, eine Volksmenge mit den einfachsten Mitteln dargestellt wird. Das was hierbei der Ton darstellt, kann in weite Fernen rücken, sich allmählich nähern, wieder verschwinden. Es wird damit ein Weltausschnitt dargestellt […]“.21 Mit Welt werden zugleich auch Raum, besser Dinge im Raum zur Darstellung gebracht. Dabei sind für Schapp Farben, Töne und Data des Druck- bzw. Tastsinns nur verschiedene Wege, einen Raum zur Darstellung zu bringen. Doch auf welchem Weg wird der Raum gegenständlich? Statt „Weg“ sollte man besser sagen: „der Raum zeige sich immer nur in einer Umkleidung, in einem Gewand; den nackten Raum für sich bekomme man nirgends zu sehen“.22 Welcher Sinn je beansprucht wird, um Gegenstände im Raum darzustellen, hängt von unserem Interesse ab, von dem, womit wir gerade sind. Der Raum ordnet nicht die Sinne unter sich, so dass wir es mit verschiedenen Räumen, je mit einem Seh-, Ton-, Tastraum, zu tun hätten. Es ist immer nur ein Raum, der im Sehen, Hören und Tasten erfahren wird. Er ist der ‚eine‛ Raum unserer alltäglichen Erfahrungswelt. Um den Zusammenhang von Raum und Wahrnehmung zu erläutern, greifen wir das Beispiel der Töne heraus. Wir nehmen im ‚räumlichen Hören‛ nicht einen Ton als solchen wahr. Vielmehr stellt sich unterschiedlich Dingartiges etwa im „Rauschen, Wehen, Rasseln, Klirren, Poltern, Dröhnen“23 dar. Diese Wortwahl macht sofort begreiflich, dass im Tönen mehr steckt als bloßer Ton. Das Wahrnehmen von Tönen bezieht uns unmittelbar auf die Außenwelt und schafft zugleich deren räumliche Gliederung. Denn wie alles Dingartige ist das Rauschen im Raum an einer bestimmten Stelle, von der es uns anweht und antönt. Das Rauschen ist weit weg, das Poltern bedrohlich nah. „Rein als Ton betrachtet, hat er keine Beziehung zum Raum. Nur das, was er darstellt, ist im Raum, und damit in anderer Weise auch er selbst als Darstellendes. Fassen wir das Sausen des Ofens als Sausen / des Windes auf, der Ton ist immer da, wo das Dargestellte ist. In Bezug auf den Raum folgt er dem Dargestellten.“24 Das Gleiche lässt sich an den Farben zeigen. Als Oberflächenfarben zum Beispiel sind sie nicht von den Dingen zu trennen, die sie zur Darstellung bringen. Der rote Tisch ist nah oder fern, er ist zu niedrig oder als Schreibtisch gut zu gebrauchen. Auch das

20 Ebd. 21 A.a.O., S. 39. 22 W. Schapp: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 42. 23 A.a.O., S. 44. 24 A.a.O., S. 44 f.

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Weiße der Milch im durchsichtigen Glas ist an einem bestimmten Platz mit dem Gefäß im Schrank gegeben. Immer kommt mit der Farbe ein bestimmter Ort im Raum mit zur Darstellung. Was ist eine deutliche Wahrnehmung? Wir sehen ein Haus in weiter Ferne, aber wir sehen es, wenn auch sehr verkleinert, noch als ein Haus. Bei schlechteren Wetterverhältnissen sehen wir nur ‚etwas Bläuliches‛, können dieser Erscheinung keinen bekannten Gegenstand zuordnen. Das bläuliche Etwas ist also beispielsweise keine blaue Wolke, die wir deutlich als Wolke sehen können. Was wir dort sehen, lässt überhaupt nicht vermuten, dass es ein Ding ist wie das Haus nebenan. Wir sind uns also bewusst, dass die Bezeichnung ‚etwas Bläuliches‛ oder ‚bläuliches Etwas‛ nur eine wenig vertrauenswürdige Annäherung ist an etwas nicht deutlich Wahrnehmbares. Wir setzen auch selber kein großes Vertrauen in unsere Bezeichnung. Schapp kommt es nun darauf an, an diesen beiden alltäglichen Phänomenen: Dem deutlich sichtbaren Haus gegenüber und dem nur nebelhaft und undeutlich gegebenen farbigen Gespinst, deren kategoriale Verschiedenheit festzustellen: „es liegen Abgründe zwischen beiden.“25 Inwiefern? Schapp will darauf hinaus, dass es sich hier nicht um Unterschiede der Sinneswahrnehmung oder im einen Fall um eine Täuschung der Sinne selbst handelt. Wir hätten uns vielmehr vorzustellen, dass das bläuliche Gespinst zum Beispiel auch in der Nähe nichts von seiner Undeutlichkeit verlieren würde. Der Befund ist stattdessen der: Die Sinneswahrnehmung lässt uns einfach im Stich, sie erhebt gar keinen Anspruch, uns das Ding deutlich zu geben. Der Befund von etwas Bläulichem ist nicht mehr oder weniger deutlich, vielmehr kann hier überhaupt nichts zur Deutlichkeit gebracht werden, egal wie nah oder fern wir etwas vors Auge bringen. Was ist dann aber Deutlichkeit? Die beobachtende Wahrnehmung, so hatten wir schon gemeint, ist eine ‚prüfende‛ Wahrnehmung der ‚Dinge‛. Etwas Bläuliches lässt sich nicht als ein Ding wahrnehmen, sondern verschwimmt im Nebel oder in der Dämmerung. Um Dinge wahrzunehmen, müssen adäquate Bedingungen herrschen: Günstige Umstände, gute Beleuchtung und passende Entfernung.26 Ins Dunkle können wir hineinblicken, allein es lässt sich dabei nichts beobachten. Die Dämmerung lässt sich durch ein Näherkommen nicht deutlicher wahrnehmen. Um etwas deutlich zu sehen, passen wir unsere Lage der Situation an. „Wir verändern solange das Licht und die Entfernung, bis wir das Ding deutlich sehen, wirklich beobachten können. Bei der Dämmerung aber scheint es anders zu sein. Hier scheint es doch fraglich zu sein, ob wir sagen können: Wir se-

25 A.a.O., S. 64. 26 Vgl. a.a.O., S. 70.

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hen zwar die Dämmerung, aber nur ungenau, wie wir es bei dem Dinge fraglos tun können […]“.27 Was Deutlichkeit ist, lässt sich nicht weiter bestimmen. Es gibt hier auch keine Abstufungen in Grade von Deutlichkeit.28 „Die Deutlichkeit ist nicht wieder ein Ding. Sie ist auch nicht Eigenschaft eines Dinges, sondern die Wahrnehmung eines Dinges ist deutlich oder undeutlich.“29 Was hier für unsere alltägliche Erfahrungswelt gilt, stimmt ebenso für den Wissenschaftler: Das Verständnis von Deutlichkeit muss ihm schon vertraut sein, um wahrnehmen zu können. Der Forscher bringt „den Deutlichkeitsbegriff des täglichen Lebens mit und wendet ihn wieder auf das an, was er unter dem Mikroskop sieht. Er sieht die Dinge unter dem Mikroskop genau so, wie wir größere Dinge im täglichen Leben sehen, in derselben Deutlichkeit, in derselben Art.“30 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die am Ding anhaftende Farbe substituiert gleichsam den Idealzugang zum Ding, der freilich nicht zu verwirklichen ist, da es keine reinen Umstände und keinen absoluten Standpunkt gibt, die ein Ding in idealer Anschauung uns präsentieren. Wir nehmen farbige Formen bzw. zu Formen geordnete Farben wahr, insofern wir diese mit Gegenständen in Verbindung bringen können. Der Maler, zum Beispiel, bietet uns Ölfarbenflecken an, und er ist „teilweise auf unsern guten Willen angewiesen, daß wir die Farbenflecken in die Formen hineinzwingen, die sie haben müssen, um Gegenstände darzustellen“.31 Immer spielen aber irgendwelche Umstände, beispielsweise der Beleuchtung, hinein. Es sind auch Form und Gestalt zu unterscheiden. Es gibt Situationen, in denen wir felsenfest davon überzeugt sind, was hier vor unserer Augen sich befindet – ist eine Tonscherbe. Aber diese Sicherheit kann plötzlich radikal umschlagen: Tatsächlich haben wir es mit etwas völlig Anderem, einer Speckschwarte, zu tun. Die Form ist vor und nach dem Umschlag identisch. Aber als Gestalt sind Tonscherbe und Speckschwarte etwas völlig Verschiedenes.

27 A.a.O., S. 71. 28 Eine zweite (wissenssoziologische) Ebene der deutlichen Wahrnehmung beschreibt Ludwik Fleck im Jahr 1935 (in polnischer Sprache) unter dem Begriff des Denkstils in dem Aufsatz „Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im Allgemeinen“. Dort lautet der abschließende Satz: „‚Sehen‛ heißt: im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört“. Fleck in S. Werner/C. Zittel: Ludwik Fleck – Denkstile und Tatsachen, S. 211–238, 233. 29 Ebd. 30 A.a.O., S. 74. 31 W. Schapp: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 113.

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Zum Angeschaut-sein von Raum, Gestalt und Bewegung in der Wahrnehmung gehört indes mehr als die sinnliche Gegebenheit des Dings. Damit Wahrnehmung nicht „blind“ ist, muss sie „die Idee in der Wahrnehmung“ (Schapp) hervorbringen. Auch diese Idee, oder auch Begriff oder Wesen, muss man sich zur Gegebenheit bringen. Schapp kommt noch einmal auf die Wahrnehmung der Tonscherbe zu sprechen, die sich dann als Täuschung erwies. Beim Sehen der Scherbe stand diese in ihrer „Bestimmtheit mit vielen Eigenschaften“ vor ihm. Mit diesem leibhaftigen Gegenüberstehen ist der Inhalt der Wahrnehmung allerdings nicht erschöpft. „Die geistige Haltung, worin ich dies sinnlich, leibhaftig Gegebene erfahre, nannten wir Anschauung.“32 Die Wahrnehmung der Tonscherbe ‚als‛ Tonscherbe war ein Wissen, ein Meinen. Das ‚Tonscherbe sein‛ kann nicht angeschaut, nur gemeint werden. Anschauen und Meinen sind also verschieden. Nun gibt es ein Meinen, das eng verbunden mit dem Anschauen ist, und ein Meinen, das sich mit dem Wissen verbindet: „Hätte mir jemand gleich zu Anfang gesagt: Was ich da sähe, sei eine Speckschwarte, so hätte ich wohl gewußt und auch – in gewissem Sinne – gemeint, daß es Speckschwarte und nicht Tonscherbe sei; trotzdem hätte ich – auf andere Weise – weiter das Ding als Tonscherbe gesehen, weiter gemeint, daß es Tonscherbe sei, solange ich nicht eben selbst ‚gesehen‛ hätte, daß es ‚Speckschwarte‛ sei. Es handelt sich also hier um zwei verschiedene Arten von Meinen […]“.33 Wir sehen den Gegenstand als Tonscherbe, er steht als solche vor uns. Dem liegt kein urteilender Akt zugrunde. Vielmehr steht uns etwas ‚in einem Schlage‛ gegenüber. In dieser Wahrnehmung liegen sowohl ein Anschauen wie ein Meinen. „Man nimmt den Gegenstand wahr; damit ist der Einheit, in der der Gegenstand vor uns steht, ihr Recht geworden. Aber in der Wahrnehmung kann man das ‚Anschauen‛ wieder trennen vom ‚Meinen‛. Mit dem ‚Anschauen‛ faßt man die sinnliche Gegebenheit des Dinges: das ‚Meinen‛ aber geht nicht direkt auf das Ding. Man meint nicht das Ding, sondern man meint es ‚als‛ Ding, von der oder der Beschaffenheit. Das ‚Meinen‛ bezieht sich auf das, als was das Ding gemeint wird, auf das ‚Tonscherbesein‛.“34 Das Anschauen verbindet sich mit der sinnlichen Gegebenheit, das Meinen mit der Idee oder dem Begriff vom Ding. „Das sinnlich Gegebene wird durch eine Idee hindurch wahrgenommen […]“.35 Anschauen und sinnliche Gegebenheit sind eng verbunden mit dem Darstellenden: den Farben, der Raumhaftigkeit, Dinghaftigkeit, den Charakteren von

32 A.a.O., S. 131. 33 Ebd. 34 A.a.O., S. 132. 35 Ebd.

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Dingen. Begriff und Idee spielen eine Rolle, wenn wir nach dem ‚was‛ des Dargestellten fragen, stets haben wir eine Auffassung, eine Meinung davon. Zu jeder Wahrnehmung gehört immer beides: „Man kann sich schwer auch nur einen Begriff davon machen, was das sinnlich Gegebene ohne Idee wäre. Es kommt zum sinnlich Gegebenen als sinnlich Gegebenen nichts hinzu, indem die Idee hinzukommt, weder sinnliches Material noch Formen des Materials.“36 Was ist mit Idee gemeint? Ein Gegenstand kann nur wahrgenommen werden, wenn wir davon eine Idee bzw. eine Meinung haben. Bei dem, worunter man etwas wahrnimmt, kann man sich täuschen. Die ‚Idee‛ von Tonscherbe, darunter man zunächst etwas gesehen hatte, kam dem Gegenstand nicht zu. Er stellte sich als Speckschwarte heraus. „In erster Linie wechselt hier zwar der Gegenstand, aber damit verbunden ist der Meinungswechsel, der Wechsel dessen, ‚als was‛ man das, was vor einem steht, auffaßt.“37 In diesem Wechsel fasst man am besten, was unter Idee verstanden werden soll. Um die Bedeutung von „Idee“ zu erläutern, beschreibt Schapp, was passieren kann, wenn wir das Spiel der Wolken betrachten. Wir können es als eine Ansammlung bloßer Wolken sehen, aber unvermittelt stellt sich uns – mit etwas kindlicher Phantasie – ein Ungeheuer dar. Wie kann das gehen? Wir müssen dabei etwas übersehen, was uns eben noch wichtig war. „Indem wir lösen, trennen, zusammenfassen, entsteht erst der Gegenstand in roher Form, aber als wahrgenommener am Himmel. Die Schattierung der Wolke wird benutzt, um Perspektive in das Bild hineinzubekommen, unbequeme Schattierung wird beiseite geschoben, ungedeutet gelassen […]. Wir können auch die ganze Welt, die wir so am Himmel sehen, auswischen […]. Und nun können wir eine beliebige Welt daraus machen.“38 Es lässt sich eine Idee vorstellen, die man versucht, an ein Gebilde heranzutragen, da man sich vornimmt, etwas unter einer bestimmten Idee sehen zu wollen. Damit wird man aber nicht dem gerecht, was Schapp unter „Idee“ oder „Meinung“ versteht. Sich etwas vorstellen ist eine andere Situation als etwas wahrnehmen. Denn nur im Sehen selbst erscheint uns die Idee: „Denn die Ausgestaltung im einzelnen vollendet sich erst im Sehen und dementsprechend erscheint die Idee erst ganz, wenn wir das Gebilde, das wir sehen wollen, vor uns haben.“39 Die Einzelidee hängt am konkreten Ding, lässt sich aber nicht wie der Gegenstand sehen oder beobachten. Sie gehört zur Wahrnehmung, ohne selbst ge-

36 A.a.O., S. 133. 37 A.a.O., S. 134. 38 A.a.O., S. 134 f. 39 A.a.O., S. 135.

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genständlich zu sein. Sie wird in der Wahrnehmung gebraucht, ohne sinnlich angeschaut zu sein. Wie also kommt man zur Idee? Ihr liegt ein eigenartiges „Schließen“ zugrunde, das Schapp von jeder Subsumtion, die eine Wirkung einem Verursachenden logisch einwandfrei unterordnen kann, abheben möchte. Mit einem abschließenden Beispiel kommt Schapp deshalb auf den Zusammenhang von Subsumtion und Deutlichkeit zu sprechen. Es betrifft einen „Fleck“ an der Zimmerdecke, der entweder ein Kalkfleck oder ein Lichtfleck sein musste. Aber Schapp konnte das Gesehene nicht bestimmen. Es war nicht so, dass es ihm mal als Kalk- und mal als Lichtfleck erschien, „sondern ich sah ihn unbestimmt“.40 Ein Drittes kam nicht in Frage. Er hätte den Fleck unter Kalkfleck „richtig“ subsumieren können, „aber nicht allein auf Grund einer Wahrnehmung, sondern unter Zuhilfenahme von Erfahrung; denn ich sah ja etwas deutlich genug, um es in seiner Identität festzuhalten“.41 Schapp aber wollte wissen, wie sich allein durch Wahrnehmung etwas unter eine Idee ordnen ließe. Erst als er die Vorhänge aufzog, sah er bestimmt, dass es sich um einen Kalkfleck handelte. Die neuerliche Subsumtion geschah nun allein auf Grund einer unmittelbaren Wahrnehmung. „Jetzt sah ich nicht nur, daß es ein Kalkfleck war, was da an der Decke war, sondern es als Kalkfleck oder noch enger, ich sah den bestimmten Kalkfleck in seiner Idee, eindeutig bestimmt. Jetzt wußte ich, was das war, was ich lange beobachtet hatte.“42 Mit der deutlichen Wahrnehmung verändert sich auch die Anschauung des sinnlich Gegebenen. Dies ist schwer zu beschreiben. Aber auffällig ist, dass nun der gesehene Fleck Farben in eine Form fasst: „die Form der anhaftenden Farbe“. Ferner weiß man plötzlich, insofern nämlich die Idee hinzutritt, was das ist, was man beobachtet hat. Und man weiß es in der Wahrnehmung und nicht durch einen weiteren (logischen) Akt der Subsumtion. Zwar war zuvor schon ein Wissen da (entweder Kalk- oder Lichtfleck, ein Drittes kam nicht in Frage), aber es war unbestimmt. Diese Unbestimmtheit verlor sich plötzlich. Schapp war sich absolut sicher, dass sich die Unklarheit zu einer Klarheit entwickeln würde. Dies ist umso verblüffender, weil ihm ebenfalls bewusst war, diesen konkreten Fleck noch nie gesehen zu haben. Wie ist das Phänomen zu verstehen? Unbestimmtheit bzw. Mehrdeutigkeit in der Wahrnehmung sind unmöglich. „Wäre es denn nicht möglich, daß ich hier zum ersten Male einen mir noch durchaus fremden Gegenstand gesehen hätte? Weshalb ist das ausgeschlossen? Es ist ausgeschlos-

40 A.a.O., S. 138. 41 Ebd. 42 Ebd.

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sen, weil das, was vor mir steht, der inneren Bestimmtheit entbehrt, vieldeutig ist. Von allem was ist, aber fordere ich, daß es bestimmt eindeutig ist.“43 Dinge stehen vor uns, und wir wissen nicht, was sie bedeuten. Das Ding trägt in sich alle Möglichkeiten, wie es wahrgenommen wird. Aber in der deutlichen Wahrnehmung wird eine Möglichkeit erschlossen, von allen anderen sind wir sofort abgeschnitten. Im konkreten Akt der Wahrnehmung erschließt sich die Bestimmung des Dings, es gibt sich eindeutig. Ein Ding kann sich nur auf eine bestimmte Art zu sein festlegen. Sofort ist es daran gebunden. Wenn etwas im Wahrnehmungsprozess wechselt, erst war es eine Tonscherbe, jetzt ist es eine Speckschwarte, dann hat sich nicht das Ding gewandelt, sondern wir haben uns getäuscht. Eindeutigkeit und Bestimmtheit des Dings heißt, es ist in Wirklichkeit so, „es nimmt an dieser Idee ‚Tonscherbe‛, ‚Kalkfleck‛ Teil“.44 Etwas Sinnliches ist eindeutig und bestimmt, insofern es diese Idee verkörpert. Ohne Idee gehört etwas Sinnliches nicht unserer Welt an. „Die sinnliche Welt aber wird erst zur Welt, zum ‚Kosmos‛, zu etwas eindeutig bestimmten, sofern sie fähig ist, die Idee zu verkörpern, in sich aufzunehmen.“45 Etwas Unbestimmtes, Vieldeutiges bedeutet Chaos. Es „hat an keiner Idee teil“.46 Das Chaos ist die Welt in Dunkelheit und Ferne getaucht, so dass keine Auffassung und keine Bestimmung als etwas Eindeutiges (Tonscherbe, Kalkfleck) möglich sind. Zum Kosmos dagegen gehört die Auffassung des Dings unter einer Idee, nicht aber eine Wahrnehmung von zwei Merkmalen: Ding hier und Idee da. Die Idee ist immer geradezu die Idee dieses individuellen Dings. Insofern scheint die Idee („Einzelidee“) hier etwas anderes zu sein als ein Allgemeinbegriff, unter den alle möglichen Fälle subsumiert werden. Die Idee hat keine Raumstelle und kann nicht wie das Ding wahrgenommen werden. Sie ist das Als-was des Gegenstands in der Wahrnehmung. Zugleich ist die Idee das Wissen vom Gegenstand, aber auch nur, insofern der Gegenstand wahrgenommen wird. Die Idee vom Ding wird nur bewusst, indem das Ding sinnlich gegeben ist. Es ist aber stets ein Wissen vom Gegenstand und nicht von der Idee. Die Idee lässt sich weder beobachten noch zu einem Gegenstand machen. Was Idee ist, lässt sich indes näher bringen, wenn man erwägt, dass die Wahrnehmung ein „Verstehen“ enthält. Das Verstehen bezieht sich allein auf die Idee, nicht auf das Ding, welches die Idee verkörpert. Das Ding beobachtend, hat man immer nur das Ding vor Augen, nie die Idee. „Man muss

43 A.a.O., S. 139. 44 A.a.O., S. 140. 45 Ebd. 46 A.a.O., S. 141.

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vielmehr auf dies ‚verstehen‛ achten, das ‚Verstandene‛ ist dann die Idee, so wie das Ding das Wahrgenommene ist.“47 Das ‚Verstehen‛ ist etwas durchaus Eigenständiges und verschieden zu dem, was wir gegenüber haben und empfinden. Es liegt beim Verstehen überhaupt nichts Sinnliches vor, das irgendwie von außen in unser Bewusstsein einstrahlt. „Was man versteht, kann man nicht empfinden, nicht sehen, hören, tasten, dafür ‚versteht‛ man es.“48 Die deutliche Wahrnehmung ist eine verständliche, die undeutliche eine unverständliche. Das Verständnis, das in der Wahrnehmung liegt, bezieht sich nicht auf das Ding, sondern auf den Begriff, die Idee vom Ding. Auffassen und verstehen sind zwei Schritte der einen Wahrnehmung: „Das Ding wird aufgefaßt als Tonscherbe, aber dies ‚Tonscherbe‛ wird verstanden, mit dem Verständnis erfaßt.“ Auf alle Fälle muss die Einheit, in der das Ding in oder durch seine Idee erfasst wird, beachtet werden. „Ding“ und „Begriff“ werden erfasst oder verstanden, aber auf verschiedene Weisen: „Auf den Begriff angewandt bedeutet es, daß ich den Begriff habe, wie ich eben einen Begriff in meinem Bewußtsein haben kann. Auf das Ding angewandt heißt es, daß ich das Ding verstehe, indem ich den richtigen Begriff von ihm habe. Den Begriff kann ich dann nicht in der Weise verstehen, wie das Ding.“49 Das Verstehen ist ein „Hineinspringen in die Wahrheit“50. Jede Berührung mit Ideen vollzieht sich im Verstehen plötzlich. „Man weiß nicht, woher das Verstehen kommt; es ist mit einem Schlage da. Man versteht nicht, wie man es solange übersehen konnte, man empfindet es wie eine Offenbarung, Erleuchtung.“51 Diese Berührung empfinden wir ständig, nicht nur im alltäglichen Wahrnehmen, sondern auch auf allen Gebieten des wissenschaftlichen Arbeitens. Unmittelbar kommt Sinn in die Wahrnehmung. Jedes Verstehen ist ein einmaliges Erkennen, es lässt sich nicht zurückweisen. „Das Verstehen gibt sich als Licht kund. Es liegt in ihm das, was keine Wiederholung geben kann, daß hier ein Ziel erreicht ist, daß man hier recht hat, wenn man vertraut, daß hier etwas Absolutes ist, auf das man bauen kann.“52 Es geht allein um die Art von Wahrheit, die der Mensch nur anerkennen und verstehen kann. Das Ende seiner Ausführungen widmet sich Schapp noch einmal der „Idee“. Nun wird sie mit der Grenze (dem „Aufhören von etwas“) in Verbindung ge-

47 A.a.O., S. 144. 48 A.a.O., S. 145. 49 A.a.O., S. 146. 50 A.a.O., S. 147. 51 Ebd. 52 A.a.O., S. 148.

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bracht. Schauen wir uns im Zimmer um, so sehen wir Dinge und zugleich die Grenze der Dinge. Dinge zwingen sich uns mit ihren Grenzen auf. Aber die Grenze selbst sehen wir nicht, sie ist unanschaulich. Es ist die „Idee“, die das einzelne Ding begrenzt, indem sie uns es in seinem Wesen sehen lässt. Das „Sinnliche“ selbst hat keine Grenze, hört nicht irgendwie auf, es ist die Idee, die das „Sinnliche“ zerschneidet. „Indem wir das Ding in seiner Idee sehen, steht es als Begrenztes vor uns.“53 So lassen sich auch von etwas Ganzem wiederum einzelne Teile als eigenständige Gegenstände abgrenzen, so die Türklinke von der Tür, der Zeiger von der Uhr, der Bart vom Gesicht. Damit scheinen zwei Prinzipien die Wahrnehmung auszumachen: Sinnlichkeit und Idee. Die Wahrnehmung gibt es nur in dieser Einheit.

D AS Z UR -W ELT - SEIN

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L EIBES

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Merleau-Ponty geht es um eine ursprünglichere Welterfahrung als die theoretisch-objektive. „Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus […]“54, so beginnt der zweite Teil von Merleau-Pontys nach- gelassenem Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung.55 Damit soll keine Lagebestimmung eines Organs im menschlichen Körper angedeutet werden. Der Leib ist in der Welt, zugleich nehmen wir diese Welt leiblich wahr: „wir (sind) zur Welt durch unseren Leib und mit ihm (nehmen) [wir] sie [die Welt] wahr“56. Die Welt, das ist die von Husserl so genannte Lebenswelt, die Welt in natürlicher Einstellung. Für Merleau-Ponty ist es zudem die Welt, in der wir „als Leib“ existieren. Diese vortheoretische „Einstellung“ oder „naive Weltansicht“ vermittelt dem Menschen eine bereits aufgefasste Welt, in der er sich perspektivisch beheimatet weiß. Dieser je schon eingenommene Blickpunkt, den ich mir lebensweltlich angeeignet habe, kann nicht außerhalb meiner Welt positioniert sein, kein unbeteiligter Beobachter kann auf diese Welt seinen Blick richten. Eingestellt bin ich etwa auf meine Wohnung, die ich als meine gegenwärtige Umgebung konkret wahrnehme: „Die mannigfaltigen Aspekte, unter denen ich meine Wohnung sehe, wenn ich in ihr auf und ab gehe, können mir nur daher als Anblicke ein und desselben Dinges erscheinen, daß ich zum voraus schon weiß,

53 A.a.O., S. 156. 54 A.a.O., S. 239. 55 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung; vgl. zur Entwicklung seiner wahrnehmungstheoretischen Position zum Beispiel Wiesing 2003: S. 85–124. 56 A.a.O., S. 243.

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daß ein jeder dieser Aspekte die Wohnung von hier gesehen oder von da gesehen darstellt, und meiner eigenen Bewegung sowie meines Leibes als eines durch die Phasen dieser Bewegung hindurch Identisches mir bewußt bin.“57 Auch den Grundriss meiner Wohnung kann ich nur zeichnen, insofern meine leibliche Erfahrung mir die möglichen Stand- und Blickpunkte, die ich von meiner Wohnung haben kann, vermittelt: „[…] denn was ich als den Grundriß nenne, ist nur eine erweiterte Perspektive: ist die Wohnung ‚von oben gesehen‛, und nur insofern bin ich imstande, in jenem Grundriß all meine gewohnten Perspektiven zusammenzufassen, als ich das Wissen habe, daß ein und dasselbe inkarnierte Subjekt abwechselnd von verschiedenen Stellungen aus zu sehen vermag.“58 Und es spricht nichts dagegen, dass immer wieder neue Perspektiven, die ich im Wohnen entdecke, hinzukommen können, ohne dass sich die Rede von der Einheit der Wohnung aufhebt. Aber auf eben diese Weise kann sich das Verständnis, das ich von meiner Wohnung habe, wandeln, es wird nie in einer absoluten Beschreibung einer ‚Wohnung-an-sich‛ aufgehen können. Die Einheit eines Gegenstandes unserer Lebenswelt ist nichts Definitives. Merleau-Ponty stellt in seiner Theorie des Leibes als Grundlegung des menschlichen Zur-Welt-seins fest: Leib und Sinne (Empfindung) arbeiten ineinander in Wahrnehmung und Erfahrung. „Die äußere Wahrnehmung und die Wahrnehmung des eigenen Leibes variieren miteinander, weil sie nur zwei Seiten ein und desselben Aktes sind.“59 Wir haben es also mit zwei Gliedern oder Ressourcen des Wahrnehmens zu tun, die nur miteinander uns ein Bild von unserer Welt vermitteln. Merleau-Ponty spricht von äußerer und von der Wahrnehmung meines Leibes, die unmittelbar synonym greift. Das Bewusstsein kann sich diese Doppelstruktur nur im Nachgang vergegenwärtigen und versuchen, das darin Begriffene zur Sprache zu bringen – aber nicht in einer theoretischen Konstruktion begreifen. „Wenn nun […] der Leib kein transparenter Gegenstand und uns nicht, wie dem Geometer der Kreis, gegeben ist in Gestalt des Gesetzes seiner Konstitution, wenn er vielmehr eine Ausdruckseinheit ist, die wir nur kennenzulernen vermögen, indem wir sie durch Übernahme uns zu eigen machen, so muß diese Struktur sich auch der sinnlichen Welt selbst mitteilen.“60 Die naturalistische Wahrnehmungstheorie, von der Merleau-Ponty sich abgrenzen möchte, versteht Wahrnehmung als eine Ausleuchtung von Gegenständen, insofern diese vom ‚Scheinwerfer‛ der Vernunft erhellt werden. Die ‚unbe-

57 A.a.O., S. 239. 58 A.a.O., S. 241. 59 Ebd. 60 A.a.O., S. 242.

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teiligte Vernunft‛, die sich leiblich-situativ nicht betreffen lässt, konzentriert sich allein auf das vom Lichtkegel Erhellte. Bewusstsein und Sehen sind aber eins! Merleau-Pontys Anti-Cartesianismus behauptet den Leib nicht als einen Gegenstand, sondern trotz seiner kulturellen Formung als verwurzelt in der Natur. Er ist gleichsam der „Schatten“ unseres Bewusstseins, immer präsent, doch nie reflexiv zugänglich.61 Das hat zum Beispiel zur Folge, dass sich der Wahrnehmende beim Wahrnehmen eines Gegenstands nicht selbst wahrnehmen (beobachten) kann. Wollte er das, müsste er sich zuvor von der Wahrnehmung des Gegenstandes wieder zurückziehen. Will er aber sein Wahrnehmen analytisch betrachten, so bedient er sich gewisser Voraussetzungen und Theorien. Leiblichkeit erfahren wir nur in ihrem lebendigen Vollzug. Bei der Wahrnehmung kommt es dann auf die beste Perspektive an, nämlich die zur Sache passt, ihr entspricht. Erst in der Umwendung vom leiblichen Wahrnehmen zu sich selbst, lässt sich erinnernd etwas über den Akt des Wahrnehmens aussagen. Die Wahrnehmung, die ich dann ausspreche, ist aber der Erwerb von etwas, was der erregte Leib schon besorgt hat und was mein Bewusstsein als sein Wissen dann übernimmt. Der Leib und sein „Tun“ sind vorgängig der Reflexion über das Getane. In der Aneignung der Wahrnehmungssituation durch die Vernunft verwandele ich jedoch die Situation in eine andere. Die theoretische Gegenstandsanalyse des Wahrgenommen bleibt notwendigerweise abstrakt und nachträglich zum leiblich Gewussten. Für Merleau-Ponty konzentriert sich die Auseinandersetzung mit dem Empirismus auf das Empfinden. Das Empfinden steht auf eigenartige Weise vermittelnd zwischen Leib und bewusster Welt, deshalb rät er: „Gehen wir also auf die Empfindung zurück und prüfen wir sie des näheren daraufhin, was sie über den lebendigen Bezug des Wahrnehmenden zu seinem Leib und zu seiner Welt uns zu lehren vermag.“62 Die leibliche Erregung verdankt sich einem situativen Vermögen, Merleau-Ponty spricht von einem „Existenzmilieu“, und dieses lebensmäßige Milieu drückt jeweils eine „bestimmte Weise des Zur-Welt-seins“63 aus. Dass das Empfinden und der empfindende und erlebende Leib in der Welt, das heißt in Raum und Zeit, sind, bestätigt sich für Merleau-Ponty auch darin, dass wir die Dinge bezüglich unserer schon gemachten leiblichen Erfahrungen nur wahrnehmen können. In einem längeren Zitat lässt sich das spontane Wirken des Empfindens bzw. der Empfindung nachfühlen:

61 „Insofern ist der Leib der Schatten, der den Philosophen begleitet und ihm die Welt schon vor aller Reflexion [...] eröffnet hat [...]“, L. Landgrebe: Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie, S. 175. 62 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 245. 63 A.a.O., S. 249.

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„Das Verhältnis von Empfindendem und sinnlich Empfundenen ist vergleichbar dem des Schläfers zum Schlaf: der Schlaf kommt, indem eine bestimmte willentlich eingenommenen Haltung plötzlich von außen eine Bestätigung erfährt, die sie erwartete. ‚Ich‛ atme langsam und tief, um den Schlaf herbeizurufen, und plötzlich ist es, als kommuniziere mein Mund mit einer riesigen äußeren Lunge, die meinen Atem anzieht und zurückdrängt, der soeben noch von mir gewollte Rhythmus meines Atems wird mein Sein selbst, der Schlaf, zuvor als Bedeutung vermeint, verwandelt sich jäh in Situation. In gleicher Weise lausche und blicke ich in der Erwartung einer Empfindung, und plötzlich ergreift das Sinnliche mein Ohr oder meinen Blick und ich liefere einen Teil meines Leibes oder gar meinen ganzen Leib jener Weise der Schwingung und Raumerfüllung aus, in der das Blau oder das Rot besteht. So wie das Sakrament das Wirken der Gnade nicht in sinnlicher Gestalt symbolisiert, sondern darüber hinaus die wirkliche Gegenwart Gottes ist, diese einem Stück des Raumes einwohnen läßt und denen vermittelt, die das geweihte Brot essen, wenn sie innerlich darauf bereitet sind, ebenso hat das Sinnliche nicht allein motorische und lebensmäßige Bedeutung, sondern ‚ist es‛ nichts anderes als eine je bestimmte Weise des Zur-Welt-seins, die sich von einem Punkte her sich uns anbietet und die unser Leib annimmt und übernimmt, wenn er dessen fähig ist: Empfindung ist buchstäblich eine Kommunion.“64

Wird aber die Erwartung stets erfüllt oder kann mir in der Jähheit und Plötzlichkeit etwas Unerwartetes widerfahren? Situationen sind ja etwas Einmaliges, die sich allein untereinander ähneln, nicht aber identisch wiederholen können. Hier ist dann auch ein Begriff von Erfahrung wichtig, den Merleau-Ponty angibt, um Empfindungen und Wahrnehmungen ihre lebensnahe und existentielle Dimension und Bedeutung zu geben. Beide sind nicht zufällige und flüchtige Erscheinungen, sondern immer schon vermittelt mit etwas Gewusstem und Bleibendem: „als identifizierbares Sein bestimmt sich der / Gegenstand erst im Durchgang durch die offene Reihe möglicher Erfahrungen von ihm, und ist so nur für ein Subjekt, das die Identifizierung vollzieht.“65 Es geht für Merleau-Ponty darum, wie das obige ausführliche Zitat zeigte, den Leser von der integrierenden Rolle des Leibes und von dessen intuitivem ‚Wissen‛ zu überzeugen: „Wir müssen mithin die Alternative des Für-sich und des An-sich in Frage stellen, welche die ‚Sinne‛ der Welt der Gegenstände zuteilt und die Subjektivität als absolutes Nichtsein von aller leiblichen Verkörperung loslöst. Und nichts anderes tun wir, indem wir die Empfindung als Koexistenz oder Kommunion definieren. Die Empfindung von Blau ist nicht

64 Ebd. 65 A.a.O., S. 249 f.

118 | W OHNEN ALS MENSCHLICHE G RUNDSITUATION Erkenntnis oder Setzung eines durch alle Erfahrungen seiner hindurch identifizierbaren quale, so wie der Kreis des Geometers derselbe in Paris wie in Tokio ist. Sie ist gewiß intentional, d.h. sie ruht nicht in sich wie ein Ding, sie vermeint und bedeutet etwas über sich selbst hinaus. Doch das in ihr Vermeinte ist nur blindlings erkannt durch die Vertrautheit meines Leibes mit ihm, es ist nicht in voller Klarheit konstituiert, es ist nur rekonstituiert oder übernommen von einem latent bleibenden Wissen, das seine Undurchdringlichkeit und Diesheit nicht beseitigt.“66

Es lässt sich der „Inhalt“ einer Empfindung nicht vom empfindenden Menschen trennen. Die Empfindung ist weder ein isolierbares Datum noch ein eigenständiges Objekt. „Empfindender und empfundenes Sinnliches sind nicht zwei äußerlich einander gegenüber stehende Terme, und die Empfindung nicht die Invasion des Sinnlichen in den Empfindenden. Die Farbe lehnt sich an an meinen Blick, die Form des Gegenstandes an die Bewegung meiner Hand, oder vielmehr mein Blick paart sich mit der Farbe, meine Hand mit dem Harten und Weichen, und in diesem Austausch zwischen Empfindungssubjekt und Sinnlichem ist keine Rede davon, daß das eine wirke, das andere litte, das eine dem anderen seinen Sinn gäbe. Ohne meinen forschenden Blick, meine tastende Hand und ehe mein Leib sich mit ihm synchronisiert, ist das Sinnliche bloß eine vage Erregung.“67

Es liegt durchaus etwas Mystisches in der Art, wie Merleau-Ponty über Empfindung spricht. Hier reichen Erklärung und Analyse nicht mehr hinein. Allein Beispiele können helfen, den Verstehenden zu einer Einsicht zu führen. Schon das Beispiel der Kommunion lässt vermuten, dass der Philosoph davon überzeugt ist, dass sich mit einer empirischen Tatsachenwissenschaft das Phänomen nicht begreifen lässt. Es fehlen der Wissenschaft, nicht aber der phänomenologischen Philosophie, Bilder und Sprache, davon nicht begrifflich, sondern durch das Geben von passenden Beispielen den Leser zu einem Verstehen zu leiten. „Ich, der ich das Blau des Himmels betrachte, stehe nicht ihm gegenüber als ein weltloses Subjekt, […]; ich überlasse mich ihm, ich versenke mich in dieses Geheimnis, es ‚denkt sich in mir‛ […]“. Dieses ‚Ich‛ ist wirklich, „in keiner Weise ein reines Nichts ohne jede irdische Schwere“, vielmehr irgendwie in seiner Existenz bodenständig in seinem Alter. „Genau genommen, wie ich es [das Schauspiel des Himmels] sehe, ist es ein Moment meiner individuellen Geschichte, und da Empfindung Rekonstitution ist, setzt sie in mir Sedimente vorangegangener

66 A.a.O., S. 251. 67 Ebd.

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Konstitution voraus, ich bin, als Empfindungssubjekt, voll natürlicher Vermögen, über die ich selbst als Erster erstaunt bin.“68 Es denkt in mir, es nimmt in mir wahr – dies sind Umschreibungen, dem Ineinandergreifen von Subjekt und Empfindung nachsinnend zu folgen, dem Phänomen des Fühlens ‚denkend nachzufühlen‛. Das Ich ist sich im Empfinden seiner Tätigkeit nicht bewusst. Vielmehr widerfährt mir die Empfindung, obwohl es meine Augen sind, die sehen. Ich bin mir kaum bewusst, „das wahre Subjekt meiner Empfindung zu sein“69. Weil jede Empfindung an die Existenz des Empfindenden, an das Moment einer individuellen Geschichte, gebunden ist, ist sie immer einmalig und unwiederholbar. Jede Empfindung ist „streng genommen die erste, letzte und einzige ihrer Art“70. Merleau-Ponty leitet daraus zu einer Allgemeinheit über, insofern die Erfahrung einer Empfindung nur der erlebte Ausschnitt einer uns schon wohlvertrauten Lebenswelt ist. Von diesem Hintergrund des In-der-Welt-seins hebt jede Empfindung zwar unmerklich ab, um sich schließlich in die vorgegebene Erschlossenheit der Welt einzureihen. Letzteres ist dann der eigentliche Denkprozess, mit dem die Empfindung einen Abschluss finden kann. Dass ich überhaupt sehend bin, bedeutet zunächst eine organischnatürliche Disposition: „ich (bin) je schon einem System von Seiendem erschlossen und (habe) zu ihm Zugang“71. Das Gesichtsfeld ermöglicht den Zugang zur Welt. Insofern ist Sehen etwas „Vorpersönliches“. Aber darüber hinaus ist Sehen auch das Erfassen von Sinn. Es ist umgeben von einem Horizont, der nicht gesehen werden kann, sondern in naiver Weltansicht „gewusst“ ist. „Sehen ist sonach an ein bestimmtes Feld gebundenes Denken“72, es erschließt einen Sinn, den ich nicht erst konstituiert habe, sondern in meinem Gesichtsfeld entdecke. Insofern Welt sinnlich gegeben ist, ist auch Raum gegeben. Eine Empfindung von etwas „zeichnet sich in der konfusen Masse der Impressionen erst ab, wenn und sofern diese sich durch den Raum perspektivisch koordiniert finden“73. Gestalten müssen sich differenzieren können und lassen sich so von anderen abzeichnen. Damit ist ein Zugang zu einzelnen „Dingen“ oder „Qualitäten“ gefunden. Jede Empfindung ist also räumlich, insofern der Empfindende und das sinnlich Empfundene einen gemeinsamen Raum aufspannen oder, wie

68 A.a.O., S. 252. 69 A. a. O., S. 253. 70 Ebd. 71 A.a.O., S. 254. 72 Ebd. 73 A.a.O., S. 255.

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Merleau-Ponty sagt, „ein Milieu der Koexistenz“74 konstituieren. Jede sinnliche Empfindung ist ein Berühren im Raum der gegebenen Welt. Denn das Berührte hat seinen eigenen Ort des Dort gegenüber meinem Hier als der Ort des berührenden Leibes. Räumliche Bewegung, Perspektivität und Mannigfaltigkeit bedingen einander. Zwar habe jeder Sinn seinen eigenen „Raum“: das Sehen eines Konzerthauses und das Hören der Musik spielen sich in unterschiedlichen „Räumen“ ab. Sprechen wir dennoch von einer Einheit des Raums, dann aufgrund einer vorerst geheimnisvollen Verfugung der Sinnesbereiche ineinander. Bei jedem Sehen und Hören sind wir durch das Spüren eines tragenden Grundes geerdet in der Welt und aufgehoben in ihrer Sinnhaftigkeit. Dieses Phänomen nennt Merleau-Ponty die „Kommunikation der Sinne“. In natürlicher Einstellung ist mir meine Welt sinnlich erschlossen immer als eine Einheit. Sich einmal ganz und absolut dem Sehen oder dem Hören hinzugeben und sich in nur einen Sinn einzuschließen, ist dagegen eine besondere Einstellung und der natürlichen Wahrnehmung fremd. Kein Sinn ist ganz für sich, sondern eingebunden in ein menschliches Schicksal: das der Existenz. Die Sinnhaftigkeit der Existenz schafft Einheit in der Mannigfaltigkeit sinnlichen Wahrnehmens. Die Einheit der Sinne ist unser primäres Erlebnis im Wahrnehmen. Nur wenn wir uns dem Gesehenen oder Gehörten in intellektueller Haltung zuwenden und die Welt in natürlicher Einstellung verlassen, beispielsweise „dem Blick selber uns zuwenden und uns fragen, was wir eigentlich sehen“75, wird der lebendige Zusammenhang des „Gesamtschauspiels“ aufgelassen, die natürliche Gesamtsicht in ein bewusstes Fixieren und Beobachten umgeleitet. Sogenannte Sinnesqualitäten, nämlich die Aufteilung unseres Empfindens in einzelne Sinne, präsentieren sich erst durch eine gewollte Umstellung der Optik, insofern das Sehen oder Hören als sie selbst bewusst thematisiert werden sollen. „Die Qualität, die abgetrennte Sinnlichkeit tritt erst in Erscheinung, wenn wir diese Gesamtstrukturierung unseres Sehens zerbrechen, unserem eigenen Blick die Gefolgschaft versagen und, statt erlebend im Sehen aufzugehen, uns bezüglich seiner Fragen stellen, unsere Möglichkeiten auf die Probe stellen wollen, / das Band zwischen unserem Sehen und der Welt, zwischen uns selbst und dem Sehen auflösen, um es selbst zu erhaschen und zu beschreiben.“76 Ist erst einmal die Teilung und Trennung der Sinne mit ihren je eigenen Qualitäten vollzogen, was sich zwangsläufig mit der Einnahme eines naturwissenschaftlichen Standpunkts ergibt, wird es umso notwendiger, die primäre Einstel-

74 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 259. 75 A.a.O., S. 265. 76 A.a.O., S. 265 f.

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lung zur Welt und eine „Urschicht des Empfindens“ zu rekonstruieren. Deutlich wird diese Notwendigkeit bei der Erklärung sogenannter Synästhesien. Denn unter der Annahme eines objektiven Leibes mit getrennten Organen bleibt nach Merleau-Ponty das Phänomen der Synästhesien „paradox“. Geht man von der getrennten Wahrnehmung von leiblichen Organen aus, dann müssen Aussagen wie: jemand sehe die Töne an den Orten, wo die Farben erscheinen, als sinnlos gelten. Von der Wahrnehmung ausgehend, müssen wir vielmehr unsere Einstellung dazu so modifizieren, dass das Erlebte einen Sinn bekommt, „da das Sehen von Tönen und das Hören von Farben nun einmal phänomenal existiert“77. Die syn-ästhetische Wahrnehmung beschreibt nichts anderes, als dass die Sinne miteinander kommunizieren. Dass wir uns dieser Tatsache so wenig bewusst sind, „so weil die Wissenschaft unsere Erfahrung verschoben hat und wir zu sehen, zu hören, und überhaupt zu empfinden verlernt haben, vielmehr aus der Organisation unseres Körpers und der Welt, so wie die Physik sie auffaßt, deduzieren, was wir sehen, hören und empfinden müssen“.78 Es ist ein und derselbe Raum, den ich einmal von meinem Sessel aus sehe und den ich später im Grundriss zeichne. Ich spüre wie die Weichheit des Möbels meinen Körper aufnimmt. Ich klopfe mit dem Knöchel an das Holz meines Schreibtisches, an dem ich gerade sitze und horche dem Ton nach, der von der Bewegung meines Fingers ausgeht. Merleau-Ponty identifiziert den Leib als das vermittelnde Lebensorgan, das die einzelnen Sinne zusammenwirken lässt. „Die Sinne kommunizieren mit einander in der Wahrnehmung […], dadurch daß der Leib nicht eine Summe nebeneinandergesetzter Organe, sondern ein synergisches System ist, dessen sämtliche Funktionen übernommen und verbunden sind in der umfassenden Bewegung des Zur-Welt-seins, dadurch, daß er die geronnene Gestalt der Existenz selbst ist.“79 Alle Vorkommnisse und Erlebnisse des Sehens, Hörens und Empfindens verdanken sich einem harmonischer Gleichlauf von Leib und Zur-Welt-sein. Der Leib ist entgegen der Auffassung des Cartesianismus kein Körperding, sondern ein Modus menschlicher Existenz. Existenz ist nicht-transzendierbare Faktizität (Hier und Jetzt). Und das Bewusstsein des Leibes ist kein Denken und Reflektieren, sondern ein Erleben, Fühlen, Spüren.

77 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 268. 78 Ebd. 79 A.a.O., S. 273.

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S CHLUSS Was leistet Wahrnehmung? Wie immer im Einzelnen darauf geantwortet wird, man muss ihr einen existenziellen Sinn zusprechen. Der Mensch ist über seinen Leib „zur“ Welt, seine Existenz ist leiblich. „Als Leib behaupte ich einen Standpunkt zur Welt und übernehme die ihm gemäße Perspektive und Orientierung“, so Kaulbach über Merleau-Pontys Leibbegriff.80 Schapp, der in seinem Frühwerk der Wesensphänomenologie Husserls nahe stand, wird später zum Begründer einer Geschichtenphilosophie, die durch ihren Griff nach Geschichtlichem bzw. Geschichtenhaftem dem Verständnis von Existenz bei Merleau-Ponty sehr entgegenkommt. Ausgangspunkt beider ist die Einheit der Phänomene: Die Tonscherbe oder das Blau des Himmels, und nicht die mechanische Zerlegung des in der Wahrnehmung Gegebenen. Beide Zugänge rücken die Wahrnehmung ab vom Empirismus, der Empfindungen als Zustände von Passivität eines wahrnehmenden Subjekts und Wahrnehmungen als in der Welt vorkommende Sachverhalte voraussetzt. Ist es nun abwegig zu behaupten, dass die beiden Dichter Gottfried Keller und Theodor Storm einen Wahrnehmungsstil teilten, einen senus communis, den der „Metakritiker“ Herder mit dem Vermögen eines „horchenden, merkenden Geschöpfes“ verband? In jeder Wahrnehmung steckt eine „Idee“ bzw. das Erfassen von weltlichem Sinn. Kellers Formulierungen „mit horchenden Augen besehen“ und „mit sehenden Ohren behorchen“ deuten nicht nur auf die Einheit der sinnlichen Wahrnehmung, sondern ebenso auf die Disposition für ein „denkendes Fühlen“. Schapp und Merleau-Ponty liefern einige Begründungen, dies so auffassen zu dürfen. Sie entstammen beide dem philosophischen Umfeld der Phänomenologie. Wilhelm Schapp kannte Husserl aus seiner Zeit in Göttingen. Bei ihm hatte er studiert und später promoviert. Allerdings waren Schapp wegen der frühen Entstehungszeit der Beiträge (um 1909) von Husserl nur die Logischen Untersuchungen sowie – vielleicht – der Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1910) bekannt. Merleau-Ponty hingegen war damit vertraut und bezog sich auch auf Husserls Krisisaufsatz, erschienen 1936, und selbstverständlich auf Heideggers Sein und Zeit, ferner auf die Gestalttheorie und Forschungsergebnisse der Psychopathologie sowie Schapps Beiträge. Für diesen wiederum waren Goethes naturkundliche Studien, insbesondere seine Farbenlehre, eine wichtige Inspirationsquelle. Beiden phänomenologischen Denkern gemeinsam ist ihr anti-empiristisches Vorgehen. Sie argumentieren nicht als Naturwissenschaftler, sondern als Philosophen und entfalten ihr methodisches Kön-

80 F. Kaulbach: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 87.

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nen eindrucksvoll in der anspruchsvollen Beschreibung von dem, was ihnen in vortheoretischer Einstellung im Kontakt mit der Welt widerfährt. So kann der Faktizität des Wahrnehmungsgeschehens entsprochen werden. Gegen die Unterstellung getrennt auftretender Sinnesqualitäten stellen sie die Einheit der Sinne, genauer die Einheitlichkeit der Wahrnehmung ins Zentrum ihrer Theorie. Wahrnehmen heißt verstehen! Ihr beider Bezugspunkt, so darf man vielleicht sagen, ist ein Verständnis von „ganzer“ Welt („Lebenswelt“), die jedem Wahrnehmenden schon sprachlich in ihrer Sinnhaftigkeit erschlossen ist. Sinn wird nicht durch einen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsakt erst – wie aus dem Nichts – gestiftet. Beide Philosophen beschäftigen sich auch mit Raum. Dieser ist nicht „an sich“ durch irgendeine Vernunft gesetzt und mit einer ihr eigenen Ordnungslogik gegeben. Vielmehr konstituiert sich Raum spontan mit der Gerichtetheit und Perspektivität jeder Wahrnehmung, gehalten auch durch die jeweiligen Umstände der Wahrnehmung von Dingen an ihren Orten. Ausgehend von der Einheitlichkeit der Wahrnehmung, der „Kommunikation der Sinne“ (Merleau-Ponty) bzw. der Kooperation verschiedener Sinnesbereiche, stellt sich uns auch der Raum als Einheit dar. Für beide Philosophen ist das Phänomen der Syn-Ästhesie das nicht weiter fassbare Zusammengehen bzw. Zueinanderkommen der Sinne in der Wahrnehmung, zugleich aber auch die nicht hintergehbare Einheit von Wahrnehmungsgegenstand und Wahrnehmenden. Dem widerspricht auch nicht Herders Verständnis des sensus communis als „Existenzmilieu“ in der Einheit von Sprache, Gefühl und Verstand. Architektur ist Lebensmittel.81 Wir begegnen ihr im alltagslandschaftlichen Milieu unter Hinsichten des guten, gelingenden Wohnens. Im Umgang erleben und erfahren wir die „Wohndinge“ in ihrer Anschaulichkeit und in ihrer Dienlichkeit. Ihre Bedeutungen erschließen sich uns im Bekanntwerden mit ihren Möglichkeiten. Empfindungen, so habe ich zu zeigen versucht, berühren uns allein im Raum der gegebenen Welt, in einem Milieu der Koexistenz von Mensch und Ding. Wie es sich „hier bei uns anfühlt“, dies ist in einem vorreflexiven Wissen erschlossen, dem sich eine Architekturtheorie als eine phänomenologisch-hermeneutische Erfahrungswissenschaft nicht verschließen darf. Ohne vertraut zu sein mit Wahrnehmungstheorien, die den Menschen leibhaftig anwesend in seiner sinnhaften Welt begreifen, finden wir keinen anpackenden Zugriff auf Phänomene des Verstehens, Anmutens und Wirkens von Stadtraum, Landschaft und Architektur.

81 Dazu ausführlich: A. Hahn: Architekturtheorie, S 30 f.

B Das Entwerfen des Architekten zwischen Einbildungskraft und Verantwortung

Das Entwerfen als wissenschaftliches Handeln der besonderen Art

E NTWERFEN

ALS ARCHITEKTONISCHES

H ANDELN

Um eine feinsinnige und treffende Unterscheidung von Wilhelm Kamlah aufzunehmen, können wir das architektonische Handeln (Entwerfen) vom architektonischen Verhalten (Bewohnen, Bauen) dahingehend abgrenzen, dass „das Handeln sich stets mehr oder weniger aus dem Verhalten gleichsam herausprofiliert“.1 Das wohnende und bauende Verhalten des Menschen muss es notwendigerweise schon als gesellschaftliche Praxis geben, damit daraus das architektonische Handeln als eine eigenständige Aktivität sich gleichsam herauskristallisieren und schließlich professionalisieren kann. Gegenüber dem lebensweltlichen oder existenzialen Wohnen und dem vor- und außerarchitektonischen Bauen ist das Entwerfen, so wie ich es im Folgenden verstehen möchte, die jüngere Tätigkeit des Menschen. Ich meine nämlich jenes Verständnis von Entwerfen, für das sich die Architekturtheorie spätestens seit Vitruv interessiert. Entwerfen soll deshalb als typisches Handeln des Architekten verstanden werden. Vitruv unterschied bekanntlich den Architekten vom „bloßen“ Handwerker hinsichtlich des Wissens, das der Architekt (idealerweise) in sich vereinigt. Und dieses Wissen, möglicherweise unterschieden von einem nur angelernten „Können“2, galt Vit1

W. Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 49, kursiv im Original.

2

Vgl. auch das Kapitel „Können und Wissen“ bei G. Ryle: Der Begriff des Geistes. Ryle unterscheidet dort zwischen einem knowing-how und einem knowing-that. Beide sind Formen des Wissens, wobei das knowing-how eine praktische Betonung erfährt, nämlich etwas tatsächlich ausführen und handhaben zu können, das knowing-that eher eine theoretische Betonung aufweist, nämlich etwas vor allem erklären und begründen zu können. Ebenfalls an einer klärenden Differenzierung von Wissen interessiert ist die Untersuchung Die Formen des Wissens bei Platon von Wolfgang Wieland. Heute

128 | DAS ENTWERFEN DES A RCHITEKTEN

ruv zurecht als Voraussetzung des besonderen architektonischen Handelns. Dieses Handeln des Architekten wird bei Vitruv hinsichtlich auch eines sprachlich auftretenden Beurteilungswissens (ratiocinatio) gedeutet.3 Das Entwerfen bearbeitet allgemein die Aufgabe, dem menschlichen Wohnen und Bauen eine Form zu geben. Es zielt aber ebenso auf etwas Konkretes, das sich dann in der Welt zeigt. Ich möchte das Entwerfen deshalb auch als eine Antizipation des Künftigen beschreiben. Der Entwurf als Konzeption nimmt etwas gedanklich vorweg und kann dies doch nur, indem das Künftige oder Neue mit dem Bekannten und Alten in eine Beziehung gesetzt wird. Ein neues Haus kann nur entworfen (konzipiert) werden, insofern der Entwerfer bereits ein „Bild“ oder eine Auffassung davon besitzt, was ein Haus „überhaupt“ ist, zu dem das zu entwerfende Haus in eine Beziehung, nämlich in die von Fallreihe zum Einzelfall bzw. von Prinzip zum Beispiel4 gebracht wird. Dabei begreife ich dieses Tun des Entwerfers als

immer noch aktuell sind die Untersuchungen aus den 20er-40er Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Wissenssoziologie von L. Fleck, z.B.: Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens von 1927. 3

Vitruv unterscheidet zwischen fabrica (handwerkliches Können) und ratiocinatio (Beurteilungswissen), vgl. Zehn Bücher über Architektur. Den Ausdruck ratiocinatio erklärt der Herausgeber und Übersetzer Fensterbusch in einer Anmerkung so: „Daneben aber erscheint es [ratiocinatio] in allgemeinerer Bedeutung und lässt sich etwa mit ‚planvolle, theoretische Überlegung’, ‚Konzeption’ [...] „ wiedergeben. Der Begriff der Konzeption deutet schon in die Richtung, in der ich das Entwerfen diskutieren möchte. Vitruv vergleicht die Tätigkeit des Architekten mit derjenigen des Arztes bzw. des Musikers. Einen Zugang zu dem, was Vitruv möglicherweise unter dem Entwurf verstand, findet man etwas verschlüsselt im Folgenden: „Wie nämlich auf allen Gebieten, so gibt es ganz besonders auch in der Baukunst folgende zwei Dinge: was angedeutet wird und was andeutet (quod significat). Angedeutet wird der beabsichtigte Gegenstand (das Ziel), von dem man spricht“ (24 f.). Erhellend sind hier die Anmerkungen des Übersetzers Curt Fensterbusch, nämlich dass quod significat die „Erläuterungsschrift“ meint, „die das Werk begleitet“. Insofern ist der Entwurf (auch) eine selbständige sprachliche Deutung oder Interpretation (das Ziel, von dem man spricht) und nicht (nur) die Anwendung eines theoretischen Wissens. Dieses praktische Wissen begreift Fensterbusch in den Kompetenzen des Architekten, nämlich „in beidem geübt (zu) sein, d.h., er muß eine richtige Vorstellung haben von dem, was er schaffen soll, und er muß das Mittel beherrschen, das zum Ziel hinführt“, – Dieser weiter führende Zusammenhang kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.

4

Zum Verhältnis von Prinzip und Beispiel vgl. vor allem G. Buck: Lernen und Erfahrung, S. 31 ff.

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eine praktische Erkenntnisleistung, die nicht ohne Theorie, d.h. ohne das Wissen von etwas Allgemeinem oder Prinzipiellem auskommen kann.5 Ich möchte sogar so weit gehen zu behaupten, dass das Entwerfen ein wissenschaftliches Handeln der besonderen Art ist. Im Folgenden soll es ausdrücklich nicht darum gehen, eine neue oder überhaupt eine Entwurfstheorie für den Architekten aufzustellen. Meine Überlegungen richten sich vielmehr darauf zu klären: Von welcher Art Tätigkeit ist das entwurfliche Handeln des Architekten, und inwiefern bedarf dieses Handeln geisteswissenschaftlicher Aufklärung? Insofern orientieren sich meine Überlegungen auch an philosophischen und soziologischen Handlungstheorien. Die Architektur ist hier nur ein Beispiel für eine praktische Disziplin neben anderen wie Jurisprudenz und Medizin.6 Vergleichbar mit dem Entwerfen und Planen des Architekten sind meiner Meinung nach das „Urteil-sprechen und Urteil-begründen“ des Richters sowie das „Diagnose-stellen und Therapieverordnen“ des Arztes, wenn man jeweils deren offene Kontexte des Suchens, Findens und Erwerbens solcher (sprachlicher) Gestalten (Urteil, Diagnose, Therapie usw.) in den Mittelpunkt dieser Handlungen stellt.7 Da dieses Finden und Erwerben gleichsam innerhalb eines offenen Such-Horizonts und Gestaltungsprozesses geschieht, kann sich das Handeln der praktischen Disziplinen gar nicht an vorgängige praxisferne Bedingungen und Voraussetzungen streng binden, wie es die exakten und experimentierenden Wissenschaften hinsichtlich ihres geschlossenen Theoriehorizonts notwendigerweise tun müssen.8

5

Vgl. a.a.O., S. 35.

6

Im Folgenden beziehe ich mich auf W. Wieland: Aporien der praktischen Vernunft. Wieland geht es vor allem darum, die Grenzen der praktischen Vernunft anzugeben, indem er die Aporien aufzeigt, in die sie sich allzu oft verstrickt.

7

In allen drei Berufen ist der Praktiker vor einen Fall gestellt, in dem er klären muss, inwiefern und auf welche Weise allgemeine Normen (Gesetze) auf den konkreten Fall passen. Dieses Anwendungsproblem beherrscht i.Ü. auch die Logik der Raumplanung. Kann es Techniken der einwandfreien Subsumtion geben, die man wie ein geschlossenes Regelwerk nur beherrschen muss, oder wird das „Finden“ selbst zu einer höchst anspruchsvollen und wissenschaftlichen Tätigkeit? Mit anderen Worten: Wird die Lösung des Einzelfalls mit einer schon bekannten Theorie verrechnet, oder führt erst der Umgang mit dem Einzelfall zu einer passenden Theorie?

8

Wird allgemein für die Medizin ihr Ziel in der Gesundheit, für die Jurisprudenz in der Gerechtigkeit angesehen, so kann entsprechend das allgemeine Ziel des architektonischen Handelns im Maß gesehen werden, genauer im Maß fürs Bleiben. Bei der Definition von Zielen ist aber folgendes zu beachten: „ [...] nicht Gesundheit oder Gerech-

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P RAKTISCHE

VERSUS THEORETISCHE

V ERNUNFT

Alle praktischen Disziplinen stehen heute in einem Wettbewerb um Wissenschaftlichkeit mit den neuzeitlichen exakten Wissenschaften. Der Wissenschaftscharakter des architektonischen Handelns lässt sich am besten dadurch abwehren und zurückstellen, dass man behauptet, das Können des Entwerfens würde lediglich darin bestehen, das Wissen anderer, nämlich exakter, primärer Disziplinen, das diese durch Forschung und Theoriebildung geschaffen und bereit gestellt haben, anzuwenden. Wenn es hoch kommt, wäre dasjenige Wissen, das das Handeln des Architekten ausmacht, nur „angewandtes“, nicht-originäres und sekundäres Wissen, Architektur, wenn es hoch kommt, eine angewandte Wissenschaft. Die Auffassung von Architektur als Baukunst mag diesem Verständnis des architektonischen Handelns Vorschub geleistet haben, da es Herstellungs- und Beurteilungskriterien für ein Bauwerk verlangt, die der Kunstphilosophie und Ästhetik entstammen. Was indes, so möchte ich fragen, wird verdeckt oder verdrängt, wenn man es bei der Beschreibung des praktischen architektonischen Handelns der Einfachheit halber bei der Denkfigur der Anwendung oder Applikation von fremdem Wissen beließe? Die exakten Wissenschaften bedienen ein Forschungsideal, in dem die Lebensbedingungen der Menschheit einem unaufhaltsamen Fortschreiten der menschlichen Erkenntnis anheimfallen. Auch die Bedürfnisse einer vernünftigen Lebenspraxis scheinen am besten in den Händen jener wissenschaftlichen Berufe zu liegen, die ein ungebrochenes Verhältnis zur Idee des Fortschritts dann ge-

tigkeit ‚als solche’ sind zu ‚verwirklichen’, sondern Krankes ist nach den Regeln der Heilkunst, Streitiges nach den Regeln juristischer Kunst zu behandeln. Was aber ‚krank’ oder ‚streitig’ ist, ist eine Frage des Einzelfalles; und die ‚Regeln der Kunst’ beruhen auf nichts anderem als auf den Erfahrungen, die man in der langen Reihe der Behandlung dieser Einzelfälle gemacht hat“ (R. Gröschner: Die richterliche Rechtsfindung: „Kunst“ oder „Methode“?, S. 944-950). Will man nun entsprechend die „Regeln der Kunst“, die im architektonischen Handeln zum Tragen kommen, anführen, dann muss auf den Ausdruck „Angemessenheit“ zurückgegriffen werden. Denn die Erfahrung des Architekten ist darin zu suchen, dass die gefundene Lösung, die das konkrete Werk darstellt, der gestellten Aufgabe angemessen ist. Angemessenheit hinsichtlich des architektonischen Werks bezieht sich auf den Aufenthalt des Menschen, dem das Werk gilt, dass der Mensch nämlich bleiben kann. Das rechte Maß fürs Bleiben lässt sich indes nur hinsichtlich der Situation, in die Entwurf und Werk hineingehören, treffen. Das Bleiben-können ist das qualitative Maß, dessen mathematischquantitative „Umrechnung“ dann in den Aufgabenbereich des Ingenieurs fällt.

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währleistet sehen, wenn die praktischen Disziplinen (Architektur, Jura, Medizin) die Resultate der exakten und theoretischen Wissenschaften, da wo es möglich ist, anwenden und umsetzen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Kernbereich des Praktischen, nämlich all das, was die Grundprobleme des lebensweltlich-situativen Handelns9 ausmacht, als nicht fortschrittsfähig und nicht wissenschaftsfähig zu gelten habe. Das praktische Handeln, mein Beispiel sei hier das Entwerfen, entbehre in diesem idealen Verständnis sowohl der Wissenschaftlichkeit als auch der Begründbarkeit. Der theoretischen Erkenntnis der exakt und experimentell arbeitenden Wissenschaften ist nun eine Wissensgestalt entgegen zu setzen, die dem praktischen Verstricktsein des Architekten (Mediziners, Juristen) ins konkrete Handlungsund Erfahrungsfeld der Praxis gerecht werden kann. Mit Wolfgang Wieland möchte ich diese Wissensgestalt „praktische Vernunft“10 nennen. Es wird im Nachfolgenden vor allem zu zeigen sein, dass die praktische Vernunft sich gar nicht theoretisch konstituieren kann, ohne damit nicht schon ihre Besonderheit eingebüßt zu haben, die darin gesehen werden muss, unmittelbar lebensweltlich

9

Vgl. zu diesen Grundproblemen ausführlich F. Kaulbach: Einführung in die Philosophie des Handelns.

10 Mit dem Begriff der „praktischen Vernunft“ hat Kant eine Erkenntnisleistung des Menschen beschrieben, die sich auf die Veränderung der Welt durch Handeln richtet. Damit sich diese Kompetenz nicht allein am Sollen (Pflicht), sondern ebenso am Können (Gelingen des Lebens) orientiert, wurde die „praktische Vernunft“ für die Praxis der Lebensführung, die nun mitweltliches Sprechen und Handeln integriert, insgesamt bindend: „Von Praxis bzw. Handlung wird man nur in dem Falle sprechen, in welchem der Handelnde mit sich oder andern zu Rate gegangen ist, Möglichkeiten und alternative Wege des Handelns erwogen und sich für die ‚beste’ entschieden hat. Beraten, Abwägen, Entscheiden sind Formen des Denkens, die für Praxis wesentlich sind: im Hinblick darauf ist es begründet, von einer praktischen Intelligenz, einem praktischen Denken oder auch mit Kant von praktischer Vernunft zu sprechen. Praktische Vernunft ist nicht nur in Praxis umgesetzte ‚Theorie’, sondern sie stellt den Inbegriff der Denkvollzüge dar, welche zum Aufbau der Handlungswelt, zur Beratung über Zwecke oder Mittel, zur Motivation der Entscheidungen rechnen“, in: Friedrich Kaulbach, wie in Anm. 8, S. 4. – Einen ähnlichen und vergleichbaren Vernunftbegriff verwenden auch W. Kamlah: Philosophische Anthropologie, F. Kambartel: Philosophie der humanen Welt und T. Rentsch: Negativität und praktische Vernunft.

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zu wirken.11 Die praktische Vernunft ist keine kognitive Instanz, die ein an irgendeiner Stelle des Gehirns abgelegtes theoretisches Wissen zum Einsatz bringt. Die praktische Vernunft wird vielmehr als ein Klugheitswissen angesprochen, das den Entwerfer dahin führt, sein jeweiliges Handeln als ein bestimmbares und bestimmtes zu begreifen, als ein Handeln, das Ausdruck einer „Idee“ (z.B. einer Entwurfsidee) und zugleich gefasste Form (konkrete Gestalt) dieser „Idee“ ist. So geht es also um Orientierung im Handeln und schließlich um bewusste Ausgestaltung eines Handelns, dessen Begründung, Rechtfertigung und Beurteilung grundsätzlich möglich sein müssen.12 Erkenntnis ist kein Produkt einer Praxis, das die Handlung und ihr Werk ersetzen könnte. Erkenntnis ist vielmehr ein Handlungs- und Entscheidungsziel, welches z.B. sich in der Erkenntnis der Individualität des Einzelfalles erfüllt. Denn lebensweltlich, das heißt konkret: in Entwurfs-Situationen verstrickt, besteht für den Menschen gar nicht die Möglichkeit, nicht zu handeln. Es ist ihm pragmatisch gar nicht möglich, der Situation „zu entrinnen“, die durch Entscheiden, bei dem es nichts Drittes zwischen Tun oder Lassen gibt, gelöst werden muss. Denn der Handelnde steht im wahrsten Sinne unter Zeitdruck. Dieser Druck der Lebenszeit führt dazu, dass jedes Handeln, einmal geschehen, unwiderruflich und endgültig ist.13 Ich kann das beschriebene Papier später zerknüllen und in den Papierkorb werfen, ich kann es gar verbrennen, dennoch ist der darauf festgehaltene Entwurf geschehen und nun Teil der Geschichte des Entwerfers, möglicherweise seines Scheiterns, geworden. Schauen wir uns ein wenig näher die Wissensgestalt der praktischen Vernunft an, an der sich das Handeln der praktischen Disziplinen orientiert. Dies soll im Folgenden nur darin gezeigt werden, dass diese Wissensgestalt mit den theoretischen Wissenschaften weder in Konkurrenz treten noch mit ihnen hinsichtlich von „Wissenschaftlichkeit“ überhaupt verglichen werden kann. Ich beziehe mich im Folgenden auf die einschlägige Untersuchung von Wolfgang Wieland. Der theoretische Vernunftgebrauch beschränkt sich in der Regel auf die Aufgabe, Allgemeines zu erfassen. Ihm ist es ganz recht, wenn er „Singuläres und Individuelles in seiner Kontingenz auf sich beruhen lassen kann, um ihr In-

11 Diese Wirkung bezieht sich auf Ereignisse der primären, also vorwissenschaftlichen Welt, die wir zu Anfang knapp als architektonisches Verhalten (Bewohnen, Bauen) angerissen haben. 12 Vgl. dazu auch F. Kambartel: Wahrheit und Begründung. 13 Vgl. dazu auch T. Rentsch: Konstitution der Moralität, darin die Ausführungen zur Zeitgliederung der menschlichen Handlung sowie zur Endlichkeit einer menschlichen Welt, dort z.B. S. 108.

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teresse (das der theoretischen Vernunft, A.H.) ungeteilt Gesetzen und Strukturen zukommen zu lassen“14. Die praktische Vernunft dagegen, insofern sie etwa im architektonischen Entwerfen relevant wird, findet ihr Feld allein in der genuin menschlichen Praxis, ihr Ziel ist das Werk des Menschen. Weil der Architekt niemals vom konkreten Ziel, ein singuläres Bauwerk für den Bauherrn zu schaffen, absehen kann, erschöpft sich seine Tätigkeit auch nicht in der Aufstellung allgemeiner Strukturen und Gesetze. Dem Architekten ist mit dem Verweis auf theoretische Sätze nicht gedient, denn es bleibt immer noch erst „von Fall zu Fall“ zu entscheiden, ob eine Theorie und ihre Normen sich auf die besonderen, konkreten und stets wechselnden Situationen anwenden lassen, in denen sich der Handelnde vorfindet. Wieland fasst dieses Problem, das eine simple Applikation theoretischen Wissens auf das konkrete Handeln dem Praktiker bereitet, folgendermaßen zusammen: Es bezeichnet den „Inbegriff der Schwierigkeiten [...], die sich aus der Notwendigkeit ergeben, generelle Normen auf individuelle, konkrete Situationen anzuwenden“15. Denn das praktische Handeln, das Entwerfen, hat es immer mit dem konkreten Einzelfall zu tun, den es niemals derart distanzieren kann, dass eine bloße Anwendung theoretischen Wissens möglich sein wird. Seine wissenschaftliche Kompetenz kann der Praktiker gerade dadurch zeigen, dass er von dieser Unmöglichkeit weiß und darüber hinaus sich methodisch so auf die nicht-hintergehbare Situationalität des Entwerfens einstellt, dass sein Tun dem Lösen des Einzelfalls gerecht wird. Der Gebrauch der praktischen Vernunft wächst sich zu einem Können aus, das darauf abzielt, ihr Werk in der primär-weltlichen Sphäre des Singulären zu realisieren. Dagegen kann der Wissenschaftler in der theoretischen Einstellung völlig vom Individuellen, Kontingenten und Besonderen absehen, in der welt-enthobenen Sphäre des Allgemeinen gibt es keinen konkreten Ort und keine konkrete Zeit. Der hier und jetzt zu entscheidende Fall in seiner singulären Präsenz ist immer so einzigartig und reichhaltig in seinen Merkmalen, dass eine allgemeine Theorie, die ja dem einzelnen Fall logisch vorangehen müsste, niemals erfassen kann.16 Wenn es aber keine Mög-

14 W. Wieland: Aporien der praktischen Vernunft, S.12. 15 A.a.O., S.13. 16 Der Wissenschaftstheoretiker und Mediziner Ludwik Fleck liefert eine ähnliche Beschreibung der ärztlichen Erkenntnis- und Denkleistung, die er von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis unterscheidet: „Aber diese unerhört reiche Vielfalt immerfort anderer und anderer Varianten muß gedanklich bezwungen werden, denn dies ist die Erkenntnisaufgabe der Medizin. Auf welche Weise ist ein Gesetz für nicht gesetzmäßige Phänomene zu finden? – so lautet die grundsätzliche Frage des ärztlichen Den-

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lichkeit gibt, den konkreten Fall ohne wesentlichen Substanzverlust unter ein vorgängiges allgemeines Gesetz und das Befolgen von Verfahrensregeln zu subsumieren, auf der anderen Seite jedoch nicht darauf verzichtet werden soll, im Handeln sich an allgemeinen Normen zu orientieren, dann muss eine dritte Instanz aufgerufen werden, der sich der Praktiker anvertrauen kann. Diese Instanz heißt Urteilskraft. Bevor ich zum Schluss die „konkrete Theorie“ des architektonischen Entwurfs feststelle, möchte ich zuvor noch zwei wesentliche Bestimmungen der praktischen Vernunft, ihre Situationalität und Urteilskraft, an einem Entwurfsbeispiel zusammenführen.

I N S ITUATIONEN ENTWERFEN : V OM DER PRAKTISCHEN U RTEILSKRAFT

G EBRAUCH

Wenn ich die Frage nach dem Entwerfen aufnehme, dann interessieren mich vor allem der Entwurfsprozess, seine Situationalität und das Vermögen der Urteilskraft: Was „passiert“ mit dem Entwerfer, wenn er entwirft? Was geht in ihm vor, was bewegt ihn, wohin bewegt er sich? Dass das Entwerfen eine Bewegung (eine Beschreibung17) ist, die der Entwerfer (z.B. auf dem Entwurfspapier) ausführt, die auch etwas mit ihm macht, dies interessiert hier. Ich entwerfe etwas. Was ist dieses Etwas? Z.B. ein Haus, ein Einfamilienhaus18. Wie kann aus dieser Aufgabenstellung eine Bewegung folgen, die den Entwerfer selbst bewegt? Es gibt da freilich eine fast „automatische“ Bewegung des Architekten: der Griff in die Magazine, zu den Fachzeitschriften. Wie ist diese Aufgabe schon mal gelöst worden? Wie haben die Vorgänger reagiert? Freilich erfährt man so nichts über den Entwurfsprozess. Das Entwerfen als bewusstes Handeln des Architekten bleibt im Dunkel. Der Griff zum Fachblatt suggeriert, dass der Architekt sich überhaupt in einer mit einem anderen Architekten vergleichbaren zeitlichen und räumlichen Situation befinden könnte. Aber dies ist mitnichten der Fall.

kens“. Die ärztliche Erkenntnis ist ein Weg, an dessen Ende etwas gefunden wird. A.a.O., S. 37. 17 Vgl. hier F. Kaulbach: Philosophie der Beschreibung. 18 Damit ist absichtlich ein Sonderfall (Paradigma) gewählt, um besonders anschaulich von Situation sprechen zu können. Dass sich Architekten heute weniger dem Einfamilienhaus zuwenden, als dies früher der Fall war, mag auch ein Beleg dafür sein, dass der Architekt gar nicht mehr versteht, was es heißt, als Entwerfer in Situationen des gebrauchenden Wohnens und Bleibens verstrickt zu sein.

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Ich dachte freilich an eine andere Bewegung. Das Entwerfen muss Menschen und Situationen gerecht werden, die entweder den Entwurf in Auftrag gegeben haben und/oder die das beabsichtigte Werk in Gebrauch nehmen werden.19 Entwerfen besteht deshalb in nicht geringem Maß in der gezielten Herstellung von zwischenmenschlichen Situationen. Dafür wird die praktische Urteilskraft gebraucht, da nur unter ihrem Einsatz die besondere Qualität der individuellen Wirklichkeit erkannt und verstanden werden kann. Der Architekt sieht sich, sobald er das Werk des Entwerfens beginnt, z.B. mit Menschen konfrontiert, deren Wohnen infrage steht. Wie kann er teilhaben an Erfahrungen, worauf es den Menschen, für die er entwirft, bei ihrem Wohnen ankommt? Ein architektonisches Werk entwerfen bedeutet: für Menschen und ihre Wünsche und Überzeugungen entwerfen. Davon sollte der Architekt bewegt und ergriffen werden. Das sollte ihn in Bewegung setzen. Lernen durch Erfahrung – lernen, was Entwerfen bedeutet, lernen, wie man sich darin bewegen und zu einem eigenen Urteil kommen kann. Denn dies wird sich bald zeigen: man bewegt sich nicht nur in seinem eigenen Radius, sondern „plötzlich“ bewegt man sich auch in der „Welt“ des Bauherrn. Sie wird Teil der eigenen Welt. Denn nur wer als Architekt „selbst“ erfahren hat, für welches Wohnen sein Entwurf benötigt wird und eine Lösung sein soll, kann seinen Entwurf verantworten. Wohnen und Entwerfen gehören zusammen wie Frage und Antwort. Der Entwurf ist die Antwort auf die Frage des Bauherrn: Wie wohne ich, damit mein Wohnen gelingt? Und verantwortliches Handeln, das sich diese Frage zur Aufgabe macht, ist eine genuine Herausforderung des Architekten, die sich „seine“ praktische Vernunft und ihr Urteilsvermögen zu stellen haben. Damit wird der Begriff der Situation20 zu einem Schlüsselbegriff des architektonischen Entwurfshandelns und der gekonnte Umgang damit zur zentralen Aufgabe der praktischen Urteilskraft des Architekten. Neben der eigenen unge-

19 Vgl. dazu die einschlägigen Erfahrungen und konstruktiven Schlussfolgerungen des Architekten J. Olfe: Das Einfamilienhaus als Architekturprodukt. Darin wird vor allem auch auf das kommunikative Element im Handeln des Architekten hingewiesen. 20 Mit dem Begriff der Situation soll nicht der eher gängige des Kontextes ersetzt werden. Der Begriff der Situation ist der philosophischen Anthropologie entnommen. Er weist auf die Unhintergehbarkeit dessen hin, dass der handelnde Mensch stets in einer „Lage“ ist, für die er eine „Antwort“ finden, in der er sich entscheiden muss: „Alles Handeln vollzieht sich in Situationen, kommt aus Situationen gar nicht heraus“, so E. Rothacker: Philosophische Anthropologie, S. 147. Unter Kontext wird demgegenüber das „Wissen“ gefasst, dass ich beizubringen habe, um die Situation zu deuten und möglicherweise zu lösen.

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wohnten Situation, in die man mit einem neuen Auftrag plötzlich kommt, hat man sich noch für die Situation des Bauherrn zu interessieren. Wir unterscheiden die Situation der Familie, die Situationen der einzelnen Familienmitglieder und die umweltliche Situation, in der ihr Wohnen in einer bestimmten Landschaft und Siedlung sich finden wird. Unter Situation fassen wir auch die Sicht und das Verständnis eines Menschen bezüglich seiner Wohnangelegenheiten. Welches Verständnis leitet ihn in seinem Wohnen? Die Beschäftigung mit der Wohnsituation zielt darauf ab, die Entwurfsidee durch ein „Bild“, welches sich im Prozess des Entwerfens erst lichtet und schärft, zu fassen. Dieses „Bild“ wird durch eine konkrete Bewegung (oder durch zwei) erzeugt, eine Bewegung zum Bauherrn und seinen Erfahrungen hin und von ihm wieder weg zum Entwerfer, der zu einer architektonisch befriedigenden Gestalt dafür kommen muss. Das „Bild“ von der gefundenen Wohnsituation, das die Entwurfsidee umsetzt, ist dabei möglicherweise weniger eine gezeichnete Hypothese als vielmehr eine bildhaftsprachliche Erkenntnis. Es muss deshalb versucht werden, zunächst eine Nähe und Vertrautheit zu erzeugen, so dass etwas Bildhaft- Metaphorisches überhaupt in Erscheinung treten kann, sodann aber wieder Ferne und Distanz zu generieren, damit das „Bild“ tatsächlich der Architekturentwurf werden kann. Bislang habe ich von der Situation des „Kunden“ des Architekten gesprochen. Aber der Architekt ist natürlich selbst leiblich in Situationen des Entwerfens verstrickt. Das Denken, Sprechen, Zeichnen, Deuten sind leibliche Äußerungen eines Individuums. Im Besprechen, Beraten und Diskutieren werden andere Individuen mit ihren Bekundungen leiblich gespürt. Vielleicht ist es ein erster Entwurf und es fehlt noch an Erfahrung im Umgang mit den konkreten Wohnwünschen. Vielleicht ist der Architekt aber auch in der komfortablen Lage, als Fachmann angesehen zu werden. Er wird als Experte fürs Bauen genommen, darin gründet das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt. Das Entwerfen entbehrt jedoch niemals face-to-face-Situationen der unbedingten Konkretheit, für diese Welt-Situation eine passende architektonische Form zu finden. Aber ist Wohnen-bauen gleich Wohnen-bauen? So wie der Arzt einen Patienten nach seiner Krankheitsgeschichte befragt und danach, welche erblichen Erkrankungen in der Familie bekannt sind, wie er sich in letzter Zeit ernährt hat und ob er regelmäßig Sport treibt, oder der Richter sich vom Angeklagten dessen Lebensgeschichte und Lebensumstände sowie seine Sicht auf den Tathergang erzählen lässt, um sich ein eigenes Bild von dessen Schuld- und Straffähigkeit zu machen, so hat auch der Architekt eine bestimmte Aufmerksamkeitshaltung gegenüber dem Bauherrn aufzubringen und durchzuhalten. Denn wie der Arzt nicht das einzelne Beschwerden kuriert, sondern den „ganzen“ Menschen heilt, der Richter sich die Gesamtpersönlichkeit des Beschuldigten, nicht nur einzelne Tugen-

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den oder Laster, zum Verständnis bringt, so kann der Architekt nicht an einer Fenster- oder Dachform mit dem Entwerfen ansetzen. Vielmehr muss er jedes Detail an dem gewonnenen Verständnis der Wohn-Bedürftigkeit des Bauherrn orientieren und überprüfen.21 Er muss, wie ich schon betont habe, eine Situation der Nähe schaffen, damit er eine sichere „Vorstellung“ davon gewinnt, mit welcher konkreten Art „Wohntyp“ er es in diesem Fall zu tun hat. Statt sich jedoch Krankheitsgeschichten anzuhören, wird der Architekt daran interessiert sein, sich die Wohngeschichten seiner Kunden erzählen zu lassen. Der Architekt ist dann in der Wohngeschichte des Bauherrn selbst „zuhause“ und hat so den direkten Zugang zur Sinngestalt des Einzelfalles. Durch das ständige Ringen mit der Besonderheit der Entwurfsaufgabe kommt der Architekt in eine Situation, die ihn sein Entwerfen in einem immer konkreteren Licht erscheinen lässt. Denn er hat nun die Chance zu erfahren, auf welche spezifische Wohnerfahrung22 sein Entwurf die Antwort sein muss: die Ordnung und Spannung, die sich der Urteilskraft immer deutlicher abzeichnen, resultieren auch daraus, dass der Fall „immer deutlicher“ zu einer architektonischen Lösung drängt. Diese Handhabung der Urteilskraft, also das theoretische Vorwissen in die individuelle Handlungswirklichkeit (des Entwerfens) hier und jetzt zu überführen, kann allerdings nicht unter irgendeine Regel gebracht werden, „sondern (muss) dem Können des Urteilenden anheimgestellt werden“23. Man kann als Architekt von seiner Urteilskraft mehr oder weniger kreativ Gebrauch machen.24 Immer jedoch kommt es auf das spezifische Vermögen an,

21 Jedermanns Wohnen bezieht den Ort und die Umgebung als vertrauten Nah- und Bindungsraum einer Alltagslandschaft selbstverständlich mit ein. 22 Der „rote Faden“ einer jeden Wohnerfahrung wird geknüpft durch Ziele und Richtungen, die man in seinem Leben verfolgt und die immer auch räumlich (als „hier“ und „dort“) aufgefasst werden. Familie, Schule, Einkauf, Beruf und Freizeit sind deshalb selbstverständliche Themen einer jeden Wohngeschichte, da in ihrer erzählerischen Behandlung Bindungen an Orte und Menschen „nacherlebt“ werden. Und der solchen Geschichten aufmerksam zu-hörende Architektur reagiert mit dem nur ihm möglichen Vorverständnis auf das Gehörte. 23 F. Kaulbach: Einführung in die Philosophie des Handelns, S. 159. 24 Vgl. auch H. Joas: Die Kreativität des Handelns. Ludwik Fleck spricht hinsichtlich des ärztlichen Denkstils von einem Faktor, der der Logik nicht fassbar sei: die „spezifische Intuition“, die z.B. beim Stellen der Diagnose eine besondere Rolle spielt: „Gerade die besten Diagnostiker sind am häufigsten nicht imstande, konkret anzugeben, wonach sie sich in der Diagnose gerichtet haben, wenn sie nur erklären, dass das ganze Aussehen typisch für den und den Krankheitsfall ist“, a.a.O., S. 39 f.

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mit einer architektonischen Konzeption das Wirkliche zu treffen. Diese „Kunst“, die im Treffen liegt, kann niemals wie eine gelernte Regel gehandhabt werden, sondern sie muss als eine Kunstfertigkeit unablässig geübt werden. Zumindest besteht eine Beziehung zwischen dem jeweiligen Gebrauch der „architektonischen“ Urteilskraft auf der einen Seite und der Erfahrenheit („Treffsicherheit“) des Architekten auf der anderen Seite. Die praktische Vernunft stellt sich hier als eine unstrittige menschliche Tugend heraus, das eigene Tun und Lassen „nach Gründen“ (für sich und andere ebenso vernünftige Wesen) nachvollziehbar zu gestalten.

E NTWURF

ALS KONKRETE

T HEORIE

Der Entwurf, wie ihn die praktische Vernunft und die Urteilskraft des Architekten hervorbringen, lässt sich durchaus als eine Theorie begreifen.25 Die Tätigkeit des Entwerfens entspräche so der des Findens und Aufstellens einer Theorie. Im Unterschied zu den allgemeinen Theorien, die in den exakten Wissenschaften Verwendung finden, ist die Theorie, die ein Entwurf zum Ausdruck bringt, konkret. Konkret heißt: Ihr „Anwendungsfall“ ist einmalig, da er die besondere Situation, den besonderen Zweck und die besondere Umgebung des Einzelfalls berücksichtigt, die sich nicht wiederholen können.26 Er ist darüber hinaus zukünftig: denn dem Architekten steht die konkrete Theorie für den besonderen Fall noch nicht zur Verfügung, er will sie sich ja erst im Entwerfen erarbeiten. Entwerfen ist demnach kein Ableiten aus einer bereits zur Verfügung stehenden allgemeinen Theorie, denn dazu müsste die passende Theorie schon fertig vorliegen. Der Entwurf beschreibt (und fasst zusammen) vielmehr den Prozess, der zur

25 Jedenfalls in dem Sinne wie Gilbert Ryle das Aufstellen einer Theorie beschreibt. Zum folgenden vgl. G. Ryle: Der Begriff des Geistes. A.a.O. Kap. 9/3: „Theorien aufstellen, haben und anwenden“, S. 391 ff. 26 Für den architektonischen Entwurf bedeutet dies, dass dieser nur in einem Verhältnis der Ähnlichkeit, nicht der Identität zu anderen Entwürfen stehen kann: „Denn jeder Fall liegt anders. Es gibt keine reinen, sondern immer nur irgendwie ausgefallene Fälle“, so H. Lipps: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, S. 55. In diesen Zusammenhang gehört auch das Analogie-Verstehen. Bei jedem neuen Fall erwarten wir eine Ähnlichkeit mit einem schon bekannten, dann aber gerichtet darauf, das Neue und Unvertraute auf das schon Vertraute zu beziehen. Das Besondere dieses Verfahrens liegt darin, dass eine Art von Gleichheit (Analogie) zwischen zwei qualitativen (!) Gestalten gesucht wird.

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Entdeckung der angemessenen konkreten Theorie geführt hat. Dieser Prozess ist der Weg von Bekanntem zu Neuem. Dazu gehören genuin wissenschaftliche Kompetenzen wie Begriffsgebrauch, Erkennen von Kausalbeziehungen, Urteilfällen, Schlüsse-ziehen und Zu-Erkenntnissen-kommen. Der architektonische Entwurf ist dann die gesuchte Theorie! Und der Architekt erwirbt diese Theorie, indem er sie aufstellt. Eine konkrete Theorie, wie die im Entwurf gewonnene, anwenden, heißt nichts anderes, als den Entwurf umsetzen, ihn „bauen“. Damit wird klar, dass das architektonische Handeln nicht lediglich ein von außen zur Verfügung gestelltes, vorgängig verfasstes generelles Wissen bestehend aus allgemeinen Theorien anwendet, sondern dass die gefundene konkrete Theorie des Architekten ihre Anwendung in der Praxis des Bauens findet.27 Der architektonische Entwurfsprozess dient der Generierung und Entdeckung dieser konkreten Theorie. Diese steht nicht am Anfang des architektonischen Entwurfshandelns, sondern an dessen Ende. Die spezifische Leistung des Architekten hinsichtlich der hier betrachteten Typik des Entwurfshandelns setzt den gekonnten Umgang mit naturwissenschaftlichen Theorien der Statik, der Tragwerkskonstruktionen, der Materialität der Baustoffe usw. voraus. Der Entwerfer muss sich also in einem bestimmten architekturspezifischen System von entwurfs- relevanten theoretischen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten (dazu gehören ökonomische ebenso wie psychologische und soziologische Fakten) gut auskennen. Dank der Urteilskraft des Architekten kann der individuelle Fall unter diese gesetzten Regeln „subsumiert“ werden. Aber es besteht eben nicht allein diese Bindung des architektonischen Wissens an vorgängige theoretische Satzungen, sondern der Entwerfer muss immer dafür Sorge tragen, dass dem individuellen Einzelfall die ihm zukommende konkrete Angemessenheit28 widerfährt! Diese durch die praktische Urteilskraft bestimmte Angemessenheit kann selbst nicht durch Rückgriff auf einen „Subsumtionsmechanismus“ (Kaulbach) verwirklicht werden. Es gibt nämlich an diesem ent-

27 An dieser Stelle mag noch einmal die Analogie zum Arzt und Richter nützlich sein. Das Urteil ebenso die Diagnose müssen dem konkreten Einzelfall, der vorliegt, angemessen sein. Sie werden hier und jetzt verkündet bzw. gestellt. Sie sind konkrete Theorien, die in der praktischen Umsetzung und Befolgung der Konsequenzen zur Lösung oder Behandlung des besonderen Falles finden. Ihre Beziehungen zu den allgemeinen Theorien der Gesetzgebung und medizinischen Indikation sind niemals subsumtionslogisch. Vielmehr verhalten sie sich zueinander situationslogisch wie Prinzip und Beispiel. Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen von G. Buck a.a.O. 28 Zur Bedeutungsgeschichte des Worts „Angemessenheit“ vgl. B. Merker/G. Mohr/L. Siep: Angemessenheit.

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scheidenden Punkt des Gebrauchs der Urteilskraft durch den Architekten keine situationsüberlegene Gültigkeit der Theorie. An diesem zentralen Ort des Entwerfens wird Kreativität und die Kunst des „Augenmaßes“ eingefordert, den besonderen Fall in der Gesamtheit seiner architektonisch-relevanten Verflechtungen zu erfassen und die seiner Eigenart zuträgliche architektonische Antwort zu geben. Zu diesen im Entwerfen relevant werdenden Verflechtungen gehören mit an erster Stelle jene Kenntnisse des architektonischen Verhaltens, auf die oben nur kurz hingewiesen werden konnte. Natürlich deutet dieses Verständnis von Entwerfen auf eine wissenschaftliche Bildung des Architekten hin, die sich zuvörderst an einer hermeneutischen Logik des Einzelfalls wird zu orientieren haben. Dabei muss uns aber klar sein, dass etwa der Gebrauch der Urteilskraft nicht gelehrt werden kann, da dieser einer Regel, die ja wieder allgemein gültig sein müsste, gar nicht unterstellt werden kann. Vielmehr muss man z.B. Studenten der Architektur Entwurfs-Situationen aussetzen, in denen nur einsichtig werden kann, dass zur Lösung solcher Situationen eine Kompetenz gehört, die immer wieder geübt und kritisch verfolgt werden muss. Welche weiteren Folgen sich daraus z.B. hinsichtlich der universitären Lehre und Forschung ergeben können, müsste allerdings in einer separaten Untersuchung entwickelt werden. Der architektonische Entwurf ist die konkrete Theorie für eine besondere Situation. Da jeder Praxisfall anders liegt, besteht die wissenschaftliche Aufgabe des Architekten darin, Theorien zu erwerben, die es noch nicht gibt. Das Ziel ist die Umsetzung von etwas, was auf eine systematische Untersuchung dieser besonderen Situation zurückgeht. In der Regel erheben sich in diesem Prozess an verschiedenen Stellen, die jedoch nicht vorhersehbar sind, auch Fragen zu externen Theorien, die gebraucht und herbei gezogen werden können, um ein „spontan“ aufgetretenes Problem in Griff zu bekommen. Aber die Anwendung einer externen Theorie führt niemals zu konkreten Lösungen des bestimmten Entwurfshandelns. Das Lösungskonzept für einen konkreten Fall ist einer allgemeinen Theorie grundsätzlich unverfügbar. Der vorliegende Fall kann nicht in einer allgemeinen Theorie, die ja gerade dem Kontext der Wirklichkeit entrückt ist, schon enthalten oder auch nur vorgesehen sein. Der Entwurf ist die Lösung, zu der die systematische Untersuchung nur dann kommen kann, wenn sie die besondere Situation der Entwurfsaufgabe berücksichtigt.29 Das Besondere einer

29 „Die Handhabung der Urteilskraft [...] weist die spezifische Eigenart auf, dass das unter den allgemeinen Begriff zu Subsummierende die besondere Qualität der individuellen Wirklichkeit hat, die nur von demjenigen auch begrifflich in der rechten Weise behandelt wird, der ein Können im Gebrauch der Urteilskraft besitzt“, Kaulbach a.a.O., S. 160. Hvgh. durch mich.

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konkreten Theorie besteht darin, dass es sie erst dann gibt, wenn sie für den besonderen Einzelfall aufgestellt ist und als solche vorliegt. Insofern erwirbt der Architekt die konkrete Theorie „im Augenblick“ ihrer Entdeckung. Dieser konkreten Theorie geht es nicht darum, als Gesetz etwas bewirken zu wollen30, sondern dem entdeckten „Wesen“ des Einzelfalls31 angemessen zu sein. Sie entsteht erst im Entwurfshandeln des Architekten. Entwerfen und das Aufstellen einer konkreten Theorie sind im Grunde eine Tätigkeit, die das praktische Handeln des Architekten als eine wissenschaftlich-erfindende, d.h. im Fall des Entwerfens: eine konkrete Theorien generierende Tätigkeit ausweist.

30 Zum Terminus „Handeln als Bewirken“ vgl. Kaulbach a.a.O., S. 12 ff. 31 Indem das Unwesentliche vom Besonderen des Falles abgezogen wird, stößt man auf das „hier Wesentliche“. Vgl. dazu auch A. Hahn: Erfahrung und Begriff, S. 188-191.

Sichtbarkeit und Anschaulichkeit

S TIL UND L EBENSFORM Wo hat die Architektur ihren Sitz im Leben? Worin besteht der lebenspraktische Bezug des Entwerfens von sowie des Redens und Schreibens über Architektur? Wir meinen, wir haben dort zu suchen, wo Architektur und Landschaft sichtbar unsere Lebensumwelt prägend gestalten und zugleich Gebrauchs- und Lebensmittel unseres alltäglichen Tuns und Lassens sind. Damit ist Architektur per se in den Verstehenshorizont einer Zeit, ihren Sinnpotentialen und Bedeutungsmöglichkeiten eingegliedert. Dieser Horizont ist primär pragmatisch. Der Schriftsteller Hermann Broch beschreibt diese Einheit von Leben und Architektur als Ausdruck einer Übereinstimmung in den Denk- und Werthaltungen von Architekten und Bewohnern einer Zeitepoche: „Gewiß wird nicht nur der Künstler vom Stil einer Epoche getragen, gewiß durchdringt der Stil alles Tun der Zeitgenossen, gewiß erfährt der Stil seinen Niederschlag nicht nur im Kunstwerk sondern in allen Werten, die die Kultur einer Zeit ausmachen und von denen das Kunstwerk bloß ein geringfügiger Teil ist, und trotzdem steht man ziemlich hilflos vor der konkreten Frage, inwieweit sich der Stil in einem Durchschnittsmenschen, etwa in einem Agenten von der Art Wilhelm Huguenaus, verkörpern sollte. Hat der Mann, der mit Schläuchen und Textilien handelt, ein Gemeinsames mit einem Stilwillen, wie er in den Kaufhausbauten Messels oder der Turbinenhalle Peter Behrens immerhin aufscheint? Sein persönlicher Geschmack wird doch sicherlich zinnenbekrönte Villen mit vielen Nippes darin vorziehen, und selbst wenn er es nicht täte, er bliebe dennoch Teil des Publikums, das, wie immer es sich auch verhält, vom Künstler durch eine Kluft getrennt ist. Wenn man aber so einen Menschen, wie Huguenau einer ist, / näher betrachtet, so sieht man, daß es auf die Kluft zwischen ihm und dem Künstler gar nicht ankommt. [...]

144 | DAS ENTWERFEN DES A RCHITEKTEN (W)ichtig ist allein die Frage, ob sein sonstiges Tun, ob sein sonstiges Denken von den gleichen Gesetzen bewegt wird, die an einer andern Stelle des Lebens einen ornamentlosen Stil erzeugten oder die Relativitätstheorie hervorbrachten oder zu den Gedankengängen des Neukantianismus führten, – mit anderen Worten, ob auch das Denken einer Epoche den Stil in sich trägt, jenem Stil unterworfen ist, der im Kunstwerk faßlich in Erscheinung tritt; ob also die Wahrheit, als Realisat des Denkens, nicht genauso den Stil der Epoche trägt, in der sie gefunden wird und in der sie gilt, gleich allen anderen Werten dieser Epoche.“1

Stil2 und Ornament sind zwei Ausdrücke, die seit Vitruv und Alberti immer wieder mit der Architektur in Verbindung gebracht werden, ihren Ursprung aber offensichtlich in der antiken Rhetorik haben.3 Ornament bedeutete für die vormoderne Rhetorik4 die Art und Weise, wie für ein konkretes Publikum eine Wahrheit zum Ausdruck gebracht werden soll. Das passende Ornament hatte sich danach zu richten, um welche Wahrheit es ging und welchem Publikum diese Wahrheit vermittelt werden sollte. Damit stand das Ornament ganz im Dienst des „Sichtbarmachens“ von Wahrheit. Das 19. Jahrhundert vermerkt eine Abwendung von der zu seinem Beginn noch stilistisch wegweisenden und als Norm verstandenen antiken Architektur. Aber auch die Moderne hat weder den Stil- noch den Ornamentbegriff wieder ins Lot bringen können.5 Ihr war etwas anderes suspekt geworden, insofern sie damit umzugehen hatte, dass Stile verfügbar wurden. Damit hatte der „Begriff“ Stil seine terminologische Eindeutigkeit verloren: „Früher gab es keine Stile, sondern nur eine gerade herrschende Kunstrichtung, der sich mit völliger Selbstverständlichkeit alles unterordnete. Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde die Menschheit aus diesem künstlerischen Paradies vertrieben, nachdem sie vom Baum der historischen Erkenntnis gepflückt hatte“, so zitiert Klaus Döhmer den

1

H. Broch: Die Schlafwandler, S. 461 f.

2

Zum kulturwissenschaftlichen Begriff von „Stil“ vgl. H. U. Gumbrecht und K. L. Pfeiffer: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements.

3

Vgl. W.G. Müller: [Artikel:] Stil. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 150-

4

Vgl. zum Folgenden: G. Raulet: [Artikel:] Das prämoderne Ornament sowie Das Or-

159. nament in der modernen philosophischen Ästhetik, Ästhetische Grundbegriffe, S. 656 ff. 5

Vgl. auch M. Ocón Fernández: Ornament und Moderne sowie A. Pfabigan: Ornament und Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende.

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Architekten Muthesius.6 Der architektonische Historismus konnte sich in dem Moment entfalten, als es nicht mehr darum ging, das Wesen des architektonischen Stils, den noch die Schinkelzeit in der klassischen Antike festgemacht hatte, in die jeweilige Zeit zu übersetzen, sondern sobald Stil (wie es der Historismus praktizierte) eine Frage jeder Zeit und jedes Kulturraums wurde, denen er entsprechen und dessen Ausdruck er sein sollte. Der Zusammenhang von Stil und Historismus wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Diskussionsstoff bei unterschiedlichen Wissenschaftlern.7 Wenn man den Ausführungen Friedrich Vollhardts folgen darf, so war auch der Wiener Schriftsteller Hermann Broch mit den philosophischen Diskussionen seiner Zeit vertraut.8 Und in jüngster Zeit hat Arthur C. Danto die Frage nach dem Stil mit dem Verständnis, was es heißt, in eine Lebensform verstrickt zu sein, zusammengebracht: „Es ist insofern alles möglich, als es keine apriorischen Beschränkungen hinsichtlich des Erscheinungsbilds eines Werks der bildenden Kunst gibt, womit alles Sichtbare ein Werk der bildenden Kunst sein kann. Das ist Teil dessen, was es wirklich bedeutet, am Ende der Kunstgeschichte zu leben. Es bedeutet insbesondere, daß Künstler sich durchaus Formen vergangener Kunst aneignen und Höhlenmalerei, Altarbilder, barockes Portrait, kubistische Landschaft, chinesisches Landschaftsbild im Sung-Stil oder was immer für ihre eigenen Zwecke verwenden können. Was also ist nicht möglich? Nicht möglich ist es, in die gleiche Beziehung zu solchen Werken zu treten wie jene Menschen, in deren Lebensform solche Werke die ihnen jeweils zugewiesenen Rolle spielten: Wir sind keine Höhlenbewohner, auch kein Tiefgläubigen des Mittelalters, weder barocke Fürsten, Pariser Bohemiens an vorderster Front eines neuen Stils noch chinesische Gelehrte. Natürlich kann sich keine Periode auf die Kunst früherer Lebensformen so einlassen, wie diejenigen es konnten, die jene Lebensformen lebten. Doch konnten jene sich dafür nicht solche früheren Formen aneignen, wie es uns möglich ist. Dabei ist allerdings eine Unterscheidung zu treffen zwischen den Formen und unserer Beziehung zu diesen. Möglich ist alles insofern, als wir uns sämtliche Formen zu eigen machen können. Nicht alles aber ist möglich, weil unsere Beziehung zu jenen Formen stets unsere eigene sein muß. Wie wir uns auf jene Formen einlassen, definiert nicht zuletzt unser Zeitalter.“9

6

K. Döhmer: „In welchem Style sollen wir bauen?“, S. 81.

7

Wichtige Positionen nahmen dabei Erich Rothacker, Karl Mannheim, Ludwik Fleck

8

Vgl. F. Vollhardt: Hermann Brochs geschichtliche Stellung.

9

A. C. Danto: Modalitäten der Geschichte: Möglichkeit und Komödie, S. 253 f.

und Hermann Noack ein.

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Dantos Zitat führt den Leser auf den Zusammenhang von Stil und Lebensform, auf den ähnlich auch Broch zielte. Stile beziehen sich im Bereich der bildenden Kunst auf Sichtbares. Lebensformen sind spezifisch gelebte Konkretisierungen des In-der-Welt-seins mit ihren Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten. In Stilen werden solche Lebensformen anschaulich. Sie machen die Art und Weise, wie Menschen sich Dinge aneignen und was sie ihnen bedeuten, sichtbar. Natürlich kann man sich als Künstler auf historische Stile der Kunst beziehen, aber dieser Bezug kann wiederum nur im typischen Zugriff der aktuellen Lebensform, in die der Künstler selbst verstrickt ist, erfolgen. In Stilen drücken sich praktizierte Lebensformen aus. In einer Abwandlung einer weiteren Aussage Dantos ließe sich mit Bezug auf das Thema Architektur sagen: Sich ein architektonisches Werk vorstellen, heißt, sich eine Lebensform vorzustellen, in der dieses Werk die ihm zugewiesene Rolle spielt.10 Und die schreibenden Architekten um die Jahrhundertwende gaben tatsächlich einen Blick in oder auf ihre Lebensform frei, wenn sie sich über Rolle und Bedeutung von Architektur auslassen. Ein Verständnis der Lebensform von Architekten, der die Einheit von Erleben, Denken und Handeln (Entwerfen) selbstverständlich ist, mag man beim Architekten und Architekturschriftsteller Fritz Schumacher (1869-1947) erkennen, der in der folgenden Passage die Welt seines Kollegen Alfred Messel beschreibt: „Wenn Messel diese Eisenbetonmöglichkeiten an einem Bau nicht in Anspruch nahm, dachte er gar nicht daran, die aus ihnen entwickelten formalen Eigentümlichkeiten nun wie eine losgelöste Sprache zu benutzen. Und gerade das war richtunggebend an ihm. Er verfiel nicht jener äußerlichen Modernität, die etwaige `neue` Formen, / die sich an einer Stelle aus Zweck und Material ganz gesund und natürlich erklären, nun ohne inneren Sinn zur Stilmarke stempeln. Diese Gesinnung machte Messel, äußerlich betrachtet zum 'Eklektiker', denn seiner Zeit entsprechend lebte er in historischen Stimmungen, wenn ihn das Wesen seiner Aufgabe nicht in andere Bahnen riß, innerlich betrachtet, rundet sich gerade dadurch das Bild einer selbständigen Persönlichkeit.“11

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STATT

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Zu den während der Proto-moderne wieder interessierenden Zeitfragen gehört auch die nach dem Wesen der Architektur. Den „modernen“ Architekten wird

10 Bei Danto heißt es: „Sich ein Kunstwerk vorstellen, heißt, sich eine Lebensform vorzustellen, in der es eine Rolle spielt.“ A.a.O., S. 258. 11 F. Schumacher: Strömungen in deutscher Baukunst seit 1800, S. 84 f.

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jenes Verkennen oder Vergessen des Wesens von Architektur im auslaufenden Historismus und Eklektizismus sowohl als ästhetisches Problem als auch als emotionaler Widerspruch bewusst. Sie erleben eine Diskrepanz zwischen dem aktuell Seienden und ihren Überzeugungen, was nämlich das Sein oder Wesen der Architektur auszumachen habe. Der von ihnen durchgesetzte radikale Schnitt gegenüber der Vätergeneration kann als ein gelebter Ausdruck dieses Missverhältnisses von Seiendem und Sein, von anschaulicher Architektur und ihren Überzeugungen vom Wesen der Architektur, aufgefasst werden. Van de Velde schrieb 1907: „Meine Generation hat zu Beginn ihres Mannesalters den Alb gekannt, unter Menschen von getrübter Intelligenz geführt zu werden, die mit den organischen Elementen der Architektur spielten wie Kinder mit Bauklötzen [...] Wir empfinden noch heute mit Grauen, in einem Irrenhaus geweilt und der stumpfsinnigen Beschäftigung der Leute zugeschaut zu haben, deren Gehirn gelähmt war, und die eigensinnig, wie nur Irre eigensinnig sein können, darauf bestanden, auf allem, was ihnen unter die Finger kam, eine Fülle und Überfülle von nackten Frauen und Blumen anzubringen. Es war das Grauen vor einem solchen Alb, vor solchen Frauenleibern und Blumen; es war das Grauen vor einer solchen Kunstrichtung und die Angst vor einer solchen Zukunft, der auch wir entgegensahen, die uns dazu trieb, Fenster und Türen aufzureißen und nach Vernunft zu schreien, auf daß sie uns befreie!“12 Die Vertreter der proto-modernen Architektur haben den Historismus und Eklektizismus mit existenzieller Betroffenheit erlebt und interpretiert und sahen sich nicht allein von Angst und Grauen durchstimmt sondern vom „Nichts“, dem „Nichts“ ausgesetzt: „So erwuchs aus der an und für sich sinnlos erscheinenden Stiljagd des neunzehnten Jahrhunderts nur eine höhere künstlerische Forderung an die moderne Architektur […]: Ein unwürdiges Stiltreiben begann, in welchem Spätrenaissance, Barock, Rococo, Zopf und Empire gleichmässig abgeschlachtet und nach kurzer Zeit des Blutsaugens in die Ecke geworfen wurden. Was konnte also einfacher sein, als dass man sich binnen kurzem dem Nichts gegenüber befand?“13 Muthesius, den wir gerade zitierten, geht von der Einheit von Wissenschaftlichkeit, Zweckform und moderner Empfindung aus. Damit ist der Standpunkt der Sachlichkeit gut getroffen.14

12 H. van de Velde: Der neue Stil, S. 156 f. 13 H. Muthesius: Stilarchitektur und Baukunst. 14 Georg Simmel hat darauf aus kulturphilosophischer Sicht aufmerksam gemacht im Zusammenhang mit dem Wandel des Großstadtlebens: „Die moderne Großstadt aber nährt sich fast vollständig von der Produktion für den Markt, d. h. für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskreis des eigentlich Produzenten tretende Arbeitnehmer. Dadurch bekommt das Interesse beider Parteien eine unbarmherzige Sachlichkeit; ihr

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Dieser Standpunkt ist ihm so neu- und einzigartig, dass er die eigene Zeit als geschichtslos und von reiner Gegenwart durchstimmt erlebt. Der architektonische Historismus, insofern er die Gefahr der Relativität und Beliebigkeit der architektonischen Mittel und des architektonischen Ausdrucks heraufbeschwört, verbreitet Sinn- und Halt-losigkeit innerhalb des intersubjektiv vernetzten Denkkollektivs der sog. „modernen Architekten“.15 Dieses reagiert auf die Situation mit Existenz-Fragen: Wie drückt sich eine erlebte Zeit adäquat in der Architektur aus? Wie gewinnen wir das Wesen der Architektur zurück? Wie findet der Architekt wieder Halt in der Welt für das eigene Tun? Das Seiende wird hinsichtlich seines Seins überstiegen, dabei werden Fragen aufgeworfen, die die architektonische Wahrheit, den Zusammenhang von Architektur und Weltanschauung sowie schließlich die Frage nach dem Wesen und Worumwillen der Architektur betreffen. Es geht um Horizontbildung nicht nur des architektonischen Handelns innerhalb der praktizierten Lebensform, sondern ebenso um die Fixierung ethischer Überzeugungen. Solche Fragen können nur gestellt und beantwortet werden, indem die konkreten architektonischen Formen und Gestalten auf eine prinzipielle Wahrheit hin überprüft und hinterfragt werden. Noch einmal Muthesius: „Der Rausch der Begeisterung überdeckte die ganze Unwahrheit, die damals unter der Bezeichnung Architektur verübt wurde.“ Andersherum sind aber die konkreten Formen und Gestalten entworfen und gebaut worden in Hinblick darauf, dass sie Wahrheit und Sein der Architektur grundsätzlich Ausdruck geben können.

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Architektur ist in der Welt, nicht aber ist die Architektur eine Welt für sich. Weil dies so ist, kann Broch eine Übereinstimmung in den Welt-Haltungen des Agenten Huguenau und des Architekten Messel annehmen. Was in der Menschenwelt angetroffen werden kann, hat Sinn und Bedeutung. Sehen und Verstehen setzen die Sichtbarkeit der Kultur voraus. Bedeutungen werden verstanden in Sprachspielen und Lebensformen. Das Sehen und Verstehen gehört unmittelbar zu den Fertigkeiten, die in Redesituationen vermittelt und angeeignet werden. Sie sind

verstandesmäßig rechnender wirtschaftlicher Egoismus hat keine Ablenkung durch die Imponderabilien persönlicher Beziehungen zu fürchten.“ G. Simmel: Die Großstadt und das Geistesleben, S. 194. 15 Vgl. zum Verständnis eines architektonischen Denkkollektivs auch H. Hilbig: „Wege zu einem neuen Baustil...“.

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der nicht hintergehbare Rahmen, überhaupt in Situationen des Beschreibens und Interpretierens von z.B. Architektur verstrickt zu werden. Lebensformen als Ganze prägen unsere Aufmerksamkeitsbereitschaft für das Sichtbare derart, dass unser „Wahrnehmen“ gleichsam dahin ausgerichtet wird, „mit den Augen der Gemeinschaft“ (im Sinne Ludwik Flecks16) zu sehen. Insofern haben wir von Stil in einem doppelten Sinn zu reden. Zum einen gehört jede Architektur in eine Zeit spezifischen Sehens und Verstehens, in deren Lebensform das Entwerfen und Errichten von Gebäuden diese Rolle spielen. Zweitens überdauern Architekturen in der Regel die Lebensformen, aus denen sie herausgewachsen sind, und werden zu Monumenten vergangener Zeiten in fremden und unvertrauten Lebensformen und Welten, in denen sie nun, ohne dass wir wirklich Zugang zu ihren mentalen und emotionalen Entwurfs- und Herstellungsbedingungen haben, allein dank ihrer Sichtbarkeit und Präsenz aufs Neue wirken. Nicht anders ergeht es der frühen Moderne, wenn sie sich vom Historismus ihrer Väter, den sie nicht verstehen, mit Grauen abwenden. Dass alles „Moderne“ zunächst als dogmatischer Stil auftritt, bedeutet, es will als die „Wahrheit schlechthin“ gelten. „Modern“ hat immer auch etwas mit „Krise“ zu tun, insofern das Bewährte („Klassische“) an Autorität einbüßt.17 Auch die wissenschaftstheoretische Diskussion um Historismus und Weltanschauung in den Geisteswissenschaften, an der sich etwa Rothacker, Mannheim und Noack im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts neben anderen beteiligten, kam zu einer Einschätzung von Stil.18 Ist die Moderne dann selbst „klassisch“ geworden, so erscheint sie als eine besondere Haltung und Richtung, eine bestimmte Blickweise, der man aus „historischer“ Distanz ihre Eigenarten kritisch konstatiert.19 Dieser Abstand, der es erst möglich macht, z.B. zwischen modern und

16 „Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs Gestalten [...]“, in, L. Fleck: Schauen, sehen, wissen, S. 157. 17 Vgl. G. Picht: Kunst und Mythos, S. 25 f. 18 Hier spielen dann Begriffe wie Weltanschauung und Lebensstil eine entscheidende Rolle. 19 Einige Vertreter der so genannten Postmoderne schauen auf die Moderne als einen abgeschlossenen architektonischen Stil zurück, indem sie deren Krisen hervorheben, um den eigenen post-modernen Stil dogmatisch in Szene zu setzen. Mit der Identifizierung eines „leitenden Prinzip, das die Architektur der Gegenwart in ihren positiven Ergebnissen bestimmt“, müssen zugleich alle konkurrierenden Prinzipien (oder Stile) rigoros bekämpft werden. „Somit entschwindet zusehends die Möglichkeit, verschiedene Positionen heutigen Bauens als sich gegenseitig ausschließende 'Stilhaltungen'

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klassisch zu unterscheiden, kommt einem Einstellungswechsel gleich.20 Für den Schriftsteller und Essayisten Hermann Broch, von dem wir zu Anfang schon gehört haben und von dem gleich ausführlicher die Rede sein wird, markiert der Einbruch der Moderne einen „Zerfall der Werte“, und er weist unmissverständlich darauf hin, dass der „Übergang von einem Denkstil zu einem anderen“ massive ethische Implikationen mit sich führt.21 Solche „Übergänge“ sind tatsächlich als Revolutionen zu verstehen, wie sie ja später Kuhn für den wissenschaftlichen Paradigmawechsel beschrieben hat.22 Broch: „Es läßt sich mit einigem Recht behaupten, daß eine durchgreifende Revolution des Denkstils – und die Revolutionierung aller Lebensphänomene weist auf solch vollkommenen Umschwung im Denken hin – stets dann erfolgt, wenn das Denken an seine Unendlichkeitsgrenze gestoßen ist, wenn es die Antinomien der Unendlichkeit nicht mehr mit den allen Mitteln zu lösen vermag und von hier aus genötigt ist, seine eigenen Grundlagen zu revidieren.“23 Daran sehen wir, dass, sobald ein alternativer Standpunkt eingenommen werden kann, von diesem aus der frühere als orthodox und absolut sperrig erscheinen muss. Wir haben es dabei mit unterschiedlichen Lebensformen und den jeweils „in ihnen“ praktizierten Denkstilen zu tun. Denn sein Denken und Handeln als einen eigenen Stil zu identifizieren, setzt das Vorhandensein eines anderen Stil voraus.24 Dogma und Stil gehören offensichtlich

zu verstehen“. Das führt dann zwangsläufig dazu, „den Begriff der Moderne in Frage zu stellen“ (ebd.) in, H. Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 17. 20 Thomas S. Kuhn spricht vom Paradigma und versteht darunter einen von den Anhängern einer Theorie bis auf weiteres kritiklos anerkannten Komplex von Gesetzen, Methoden, Werten und Forschungsansätzen. Ein Paradigmenwechsel kommt einer wissenschaftlichen Revolution gleich. In: T. S. Kuhn.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 21 Der Ungeist des modernen Baustils – Broch spricht u.a. von den „komische(n) Gebilde(n) eines Van de Velde“ – machen ihm derart zu schaffen, dass er seinen Anblick kaum mehr erträgt: „Ach, ihn zu sehen, macht mich müde. Wenn ich könnte, ich würde meine Wohnung nicht mehr verlassen“, in, H. Broch: Die Schlafwandler, S. 437. 22 T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 23 H. Broch: Die Schlafwandler, S. 533. 24 Dies hat z.B. Wittgenstein ausgedrückt, in dem er auf seine Weise des Denkens hinweist: Das Denken geschieht auf eine Art, die andere nachvollziehen können oder auch nicht. Nachvollzug bedeutet hier jedoch nicht, sich an einer bestimmten lehr- und lernbaren Methode und an entsprechende Regeln geschult zu haben, sondern etwas Ähnliches selbst zu tun, z.B. zu bemerken, dass mir ein Gedanke des Anderen vertraut ist. Dabei berühren sich die Begriffe Stil und Lebensform aufs Engste. Im Vorwort

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zusammen. Das Neue will das Alte überbieten und schließlich ersetzen, ob in der Kunst oder in der Philosophie oder in den Wissenschaften. Da Stile sich untereinander ausschließen, müssen sie gegenseitig ausgrenzend erlebt und gelitten werden. Mit dem kulturphilosophischen Werk von Hermann Broch kommt nun eine weitere Dimension in unsere Diskussion.25 Der Stil des Sehens und Verstehens, des Nicht-sehens und Nicht-verstehens wird als eine Wertschätzung bestimmter Eigenarten des Sichtbaren aufgefasst. Wenn die Lebensform gleichsam den Stil des Sehens einübt und dogmatisch bestimmt, dann müssen die Lebensformen selbst (Broch spricht von „Lebensstil“) gewisse ethische Perspektiven auf die Welt und ihre Hervorbringungen vorhalten. Diese sind aber dem Sehen nicht zusätzlich aufgegeben, sondern jedes Sehen vollzieht die bestimmte Haltung, die für eine Lebensform prinzipiell möglich ist. Hermann Broch, gebürtig 1886 in Wien, hat in zwei Werken, in dem Essay „Hofmannsthal und seine Zeit“ sowie in der Roman-Trilogie „Die Schlafwandler“, sich intensiv mit Fragen der Sichtbarkeit der Kultur26 und mit dem Zusammenhang von Architektur, Stil und Ornament27 auseinandergesetzt. Erste Aufzeichnungen dieser in manchen Passagen kulturphilosophischen Arbeiten gehen auf seine Wiener Erfahrungen bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. „Die Wesensart einer Periode lässt sich gemeiniglich an ihrer architektonischen Fassade ablesen, und die ist für die zweite Hälfte des 19. Jh. […] wohl eine der erbärmlichsten der Weltgeschichte; es war die Periode des Eklektizismus, die des falsche Barocks, der falschen Renaissance, der falschen Gotik. Wo immer damals der abendländische Mensch den Lebensstil bestimmte, da wurde dieser zur bürgerlichen Einengung und zugleich zum bürgerlichen Pomp, zu einer Solidität, die ebensowohl Stickigkeit wie Sicherheit bedeutete. Wenn je Armut durch Reichtum überdeckt wurde, hier

zum „Tractatus“ führt Wittgenstein aus: „Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.“ In, L. Wittgenstein: Schriften 1, S. 9. Damit weist Wittgenstein auf eine Denkgemeinschaft hin, die sich einig ist hinsichtlich der Art, wie bestimmte Gedanken „richtig“ ausgedrückt werden sollen. Allein der ausgedrückte/ausgesprochene Gedanke kann auf die „Denkart“, der er „entspringt“, verweisen. 25 Vgl. auch A. Stašková, P. M. Lützeler: Hermann Broch und die Künste. 26 Fragen einer Anthropologie der Sichtbarkeit („Visibilität“) diskutiert auch Hans Blumenberg an verschiedenen Stellen seines Werks, z.B. in Höhlenausgänge und in Beschreibung des Menschen. 27 Vgl. auch S. McGaughey: Ornament: Brochs Stil-Konzept und die ArchitekturDiskurse seiner Seit.

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geschah es.“28 Broch ist Kenner der Wiener Situation aus eigener Anschauung. Ein Lieblingswort lautet Un-Stil, ein anderes: Wert-Vakuum.29 Wir wollen verstehen, auf welche Weise Architektur an der gesellschaftlichen Realität beteiligt ist und wie sie selbst aus dieser Realität heraus agiert. Die weitere Charakteristik, die Broch liefert, beschreibt den Menschen „des 19. Jh. infolge seines Rationalismus (als) individualistisch und romantisch und demgemäß historisierend“30. Wenn Broch von Un-Stil spricht, dann meint er damit dennoch einen Stil, also die Sichtbarkeit der Dinge und Vorkommnisse, die typisch für diese Epoche sind: „Es gibt kein Erzeugnis, kein Möbelstück dieser stilverlassenen Epoche, von dem sich nicht auf den ersten Blick sagen ließe, welchem Dezennium es angehört –, und demgemäß drückt auch dieser Un-Stil eine spezifische EpocheRealität aus.“31 Für Broch sind es vor allem Bühne und Theater, auf denen dieser Un-Stil selbst zum Stil wurde. Beide stellen nämlich die durch äußerlichen Reichtum überdeckte Armut der Epoche dar. Bürger und Volk agieren und konsumieren hier gemeinsam: Der Bürger habe im Theater „all die dekorative Schönheit gefunden, deren er und nicht nur er, nein, deren die ganze Epoche bedurfte, um ihr Verlangen nach gesichertem, teils pomphaftem, teils unbeschwertem Kunst- und Lebensgenuß befriedigen zu können.“32 Broch spricht auch von „Stil-Gleichgültigkeit“ und meint damit die Unfähigkeit zur eigenen Stilbildung. Es gab nur das eklektizistische Stilkonglomerat, ohne dass eine echte Stiltradition fortwirkte, welche in seiner Heimatstadt Wien nur vom Barock hätte ausgehen können. Was für den Künstler der Barock, war für die Gesellschaft insgesamt die Religion. Auf den Katholizismus trifft Brochs Begriff des Zentralwertes zu. Dieser vereinigte eine gesamte Gesellschaft unter einigen wenigen Selbstverständlichkeiten, die das Weltbild und die Weltanschauung – eben die Lebensform einer Epoche – ausmachten. Dieser Zentralwert betraf alle gesellschaftlichen Gruppen: vom Volk bis zum Adel, vom Tagelöhner, Bauern und Handwerker bis zum Maler und Architekten. „Solange die Gesellschaft noch um einen Zentralwert gruppiert war, da hatte auch die Kunst einen sozusagen natürlichen Platz in ihr; Künstler und Publikum waren von vorneherein miteinander einig, welche Thematik und welche Darstellungsweisen als zulässig und welche als

28 H. Broch: Hofmannsthal und seine Zeit, S. 7. 29 Vgl. zu diesen Aspekten auch O.-P. Obermeier: Hermann Brochs Werttheorie, S. 227245. 30 H. Broch: Hofmannsthal und seine Zeit, S. 8. 31 A.a.O. S. 10 32 A.a.O. S. 14

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unzulässig gelten sollten.“33 Die Situation in Österreich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts34 sah sich aber in einer Wertleere oder einem Werte-Vakuum. So muss auch das größte Kunstwerk, das in dieser Zeit entsteht und darin das Zeitalter seinen Ausdruck findet, das ihr zugehörige Vakuum ausdrücken: „das Kunstwerk wird zum Spiegel des Vakuums“. Dieser Spiegel ist indes „eine unheimliche Sache, insofern er zeigt, dass der Mensch zwar im Vakuum leben kann, nicht jedoch seinen Anblick erträgt“35. Die Bauten des Eklektizismus und Historismus sind für Broch Vakuum-Architekturen, insofern sie den Gesamtausdruck dieser Zeit sichtbar repräsentieren. Broch begreift das Tun und Lassen in einer Zeit stets als ein ethisches Handeln und fragt nach den zentralen Werten, an denen sich eine Epoche orientiert.36 Er versteht das entstandene Vakuum als Folge einer Unterbrechung des Traditionsstroms, sozusagen eine Leerstelle zwischen zwei Epochen-Stilen, die keinen unmittelbaren Ablösungs- bzw. Übergangsmodus gefunden haben. Für ihn entspringen Epochenstile aus dem Schoße des vorhergehenden, insofern gibt es einen Traditionszusammenhang, aber dieser Zusammenhang wird gleichsam explosiv erzeugt: der folgende Stil entsteht „in revolutionärer Auflehnung gegen diesen ‚Mutter-Stil’“37. Tradition und Moderne, um einmal dieses Gegensatzpaar zu bemühen, entwickeln sich „in gegenseitiger Bedingtheit und Beeinflussung weiter“. Diese wechselseitige Abhängigkeit bzw. Überlagerung und dieses Verwiesensein aufeinander sind der Kern von Brochs Theorie der Stilfolge. Jeder neue Stil „benötigt“ einen Vorgängerstil, von dem er sich dogmatisch abgrenzen kann und dabei sein eigenes Können und Potential entdeckt. Motor der Ausdifferenzierung eines neuen Stiles, so Broch, sei jedoch „ein vorzüglich ethisches Phänomen“. Dieses Phänomen erklärt er folgendermaßen: „im 19. Jh. hat das Dahinschwinden der alten europäischen Glaubenshaltungen begonnen, und mit dem Zusammenbruch dieses Zentralwertes hat die Aufsplitterung des umfassenden religiösen Wertsystems in autonome Einzelsysteme […] eingesetzt; mit anderen Worten, es begann die Auflösung der Allgemeingültigkeit der bis dahin in Kraft gestandenen ethischen Handlungen, es begann die Entfesselung der bis da-

33 A.a.O. S. 21. 34 Diese Wiener Zeit von 1890 bis in die 30er Jahre des 20 Jahrhunderts ist ebenfalls Thema des höchst intelligenten Buchs „Wittgensteins Wien“ von A. S. Janik und S. E. Toulmin. 35 A.a.O. S. 40. 36 Es ist dabei sicher zu Recht auf den Einfluss von Karl Kraus auf Broch hingewiesen worden. 37 H. Broch: Hofmannsthal und seine Zeit, S. 44.

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hin durch sie ethisch gebändigten Triebe. Damit aber schließt sich der Kreis: jegliches Wert-Vakuum ist Revolutions-Anlass, aber zur Durchführung von Revolutionen ist Trieb-Entfesselung erforderlich.“38 Broch versucht eine tiefenpsychologische Erklärung für die Wertleere: sie sei ein Zeichen für die nicht gebändigten sexuellen Triebe des Menschen. Er wird später zu einem ausgesprochenen Gegner der Neuen Sachlichkeit und wirft ihr die Vernachlässigung der Wertdimension und der gesamten Epoche den Wertzerfall vor.39

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Unser Weltverstehen beruht auf der Anschaulichkeit der Welt, der die menschlichen Sinne zugeordnet sind – und zwar vor jeder begrifflichen Erkenntnis. Das Wort „anschaulich“ weist in die visuelle Sphäre des Zeigens auf Sichtbares, lässt jedoch offen, „was da zu sehen ist“40. Es wird aber wohl dem Sehenden immer mehr geboten als rein optisch feststellbare Form- und Farbkontraste. Dies darf aber nicht so verstanden werden, als ließen sich „Form“ und „Inhalt“, wie man früher sagte, trennen, um sie dann zu addieren, oder wie „Kern“ und „Hülle“ gegeneinander vereinzeln. Schaut man sich z.B. die Prachtbauten von Heinrich Ferstel, Theophilus Hansen und Friedrich Schmidt an der Wiener Ringstraße an, die Broch vor Augen hatte, dann wird auch ein Ganzes von Stimmung vernehmbar. So macht die Begegnung mit Architektur auch eine Überein-Stimmung an-

38 A.a.O. S. 45. 39 „Broch behauptet – und an den Protagonisten des Romans [„Die Schlafwandler“, A.H.] wird dies exemplifiziert -, daß das Handeln der Menschen im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung immer 'sachlicher' werde, zugleich aber das gesamte historische Geschehen immer 'irrationaler'„, schreibt Friedrich Vollhardt in seiner Studie „Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie 'Die Schlafwandler' (1914-1932)“, S. 47. M. Kundera spricht von Brochs Begriff der Anarchie: „er bezeichnet eine Situation des Menschen gegenüber einer Welt, in der die Werte nicht mehr gelten, in der sie ihre arché verloren haben. Unter diesen Bedingungen kommt das große Paradox von Broch zustande: der Mensch kann sich viel auf seine Vernunft, auf seinen Pragmatismus, ja auf seinen Zynismus einbilden, er ist gefangen im Räderwerk des Irrationalen.“ M.Kundera: Das Vermächtnis von Brochs Schlafwandlern, in: P. M. Lützeler: Hermann Broch, S. 35. 40 H.-G. Gadamer: „Anschauung und Anschaulichkeit“, S. 190.

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schaulich und produktiv, die sich gar nicht begrifflich ausdrücken muss, sondern als Gefühlsübereinstimmung bzw. als Gefühlsdifferenz erlebt wird.41 Broch betont das Ordnungsprinzip der Architektur, begreift dieses aber aus deren Anschaulichkeit heraus. Stil bedeutet nicht allein Sichtbarmachen von etwas Typischem und Allgemeinem am einzelnen Werk, sondern ebenso Sichtbarwerden der Art und Weise, wie eine Gesellschaft und Epoche, um deren Werke es geht, in ihrer Welt stehen. „Sichtbarkeit ist Funktion des physischen Auges und vollzieht sich im physischen Raum – das ‚geistige Auge’ ist bloß eine Metapher –, und so ist zu fragen: wo ist das Symbol wahrhaft sichtbar? Wo manifestiert es seinen ‚Geist’ wahrhaft im Raume? Gewiß in den bildenden Künsten, gewiß in der Architektur, gewiß auf dem Theater: gewiß als Stil. Denn es sind gerade die architektonischen Formen, welche den ‚Geist’ einer Epoche oder eines Landes repräsentieren, und in der Sichtbarkeit ist der Stil der Epoche und des Landes. Wenn auch der Stil im Innersten des Schaffens, im innersten des Denkens seinen Ursprung hat, wenn er auch in jeder Lebens- und Gedankens- und Arbeitsäußerung zutage tritt und daher immerzu Anforderungen an den ihm unterworfenen Menschen stellt, es werden diese am schärfsten, wo durch ihn und in ihm das Symbol wahrhaft zur Sichtbarkeit gebracht werden soll […]“.42

Es geht Broch darum, die Möglichkeiten des Schaffens zu betonen und zugleich die Entscheidung der Auswahl aus diesen Möglichkeiten als ein ethisches Handeln zu deuten. „Wo es Stil gibt, da waltet ein Ordnungs- und Auswahlprinzip in allen Formen des menschlichen Seins und Handelns, und jeder Stilwechsel ist auf eine Änderung in der Art des Auswählens und des Ordnungssetzens zurückzuführen.“43 Broch bestimmt die Wahl der Lebens- und Weltordnung als ein Wertgeschehen: „Die Sittlichkeit des Auswahlprinzips macht den Stil sittlich und bringt in ihm sich selber zur Sichtbarkeit“44. Stil ist für Broch der sichtbare Ausdruck für die Freilegung des sonst verborgenen Prinzipiellen, das sich so in den konkreten Raum einer anschaulich gewordenen Welt gestellt sieht. „Denn durch das im Stil und insbesondere im großen Stil enthaltene Ordnungsprinzip und auf der von ihm geschaffenen höheren Realitätsebene wird das sonst Verborgene, das sonst Unwißbare‚ sichtbar, verknüpfbar, möglich, ja greifbar’, und

41 Wie es Ludwik Fleck z.B. für das Stilverständnis herausgearbeitet hat. Vgl. L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 67. 42 H. Broch: Hofmannsthal und seine Zeit, S. 124. 43 A.a.O. S. 124 f. 44 A.a.O. S. 125.

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es sind […] auch die Inhalte zwischen Architekturform und Architekturform, die solcherart wahrnehmbar werden, die Inhalte zwischen den Inhalten, die sichtbare Unsichtbarkeit als Produkt der dynamischen Spannung, bewirkt durch die Ordnung und Anordnung der Symbole, Statik und Dynamik in einem, so daß in solch zuchtvoller Symbol-Architektonik jede wahre Kunst, nicht nur die der Bühne, das Essentielle aussagt.“45 Ordnung bedeutet primär: Halt und Bindung gewissermaßen als ethische Maxime sinnlich-anschaulich antreffen in der Welt. Die Selbstverständlichkeit, die in dieser Erwartung liegt, ist überhaupt nicht zu trennen von der Befindlichkeit oder Gestimmtheit derjenigen, um deren Welt es geht. Broch unterscheidet zwischen einem Stil, der nachahmt bzw. der willentlich erfunden wird, und Stil, „der frei aus dem Unbewußten aufsteigt“. Erstere Stil-Konstruktionen46 sind Broch Folge des Verlustes des Zentralwertes einer Epoche. Damit hat er auch ein die Moderne der Architektur durchgehendes Thema aufgegriffen. Ein neuer architektonischer Stil erwächst aus einem neuen Lebens- und Denkstil, der auf eine veränderte Lebensstimmung antwortet – der Bereitschaft und Neigung gewissermaßen, sich etwas Neues, Ungewohntes gefallen zu lassen, daran schließlich Gefallen zu finden. Dieser neu ausgerichteten Aufmerksamkeitsbereitschaft für das am Besonderen mit wahrnehmbare Anschauliche-Prinzipielle habe sich, so verlangte es 1902 Hermann Muthesius, die so genannte moderne Architektur zuzuwenden und anzupassen: „[...] Wer möchte den gefälligen Eindruck einer weit geschwungenen Eisenbrücke leugnen, wem gefällt nicht der heutige elegante Landauer, das schmucke Kriegsschiff, das zierliche Zweirad? Da sie aus unserer Zeit heraus so entstanden sind, wie sie heute vor uns stehen, so sehen wir doch offenbar in ihnen einen modernen Empfindungsbestandteil niedergelegt. Sie müssen eine ausgesprochen moderne Gestaltung verkörpern, sie müssen das Empfinden unserer Zeit ebenso widerspiegeln, wie das mit reichem Akanthuswerk überzogene Kanonenrohr das Empfinden des siebzehnten Jahrhunderts oder die mit vergoldeter Schnitzerei verzierte Sänfte das des achtzehnten Jahrhunderts verkörperte.“47

45 A.a.O. S. 125 f. 46 Ähnlich unterscheidet Ludwik Fleck zwischen Gestalten, die wie selbstverständlich zu unserer Lebensform gehören, und Konstruktionen, die in der Regel wissenschaftlich erzeugt werden und z.B. das Weltbild der Physik typisch prägen: „[...] anstelle von durch den Stil des alltäglichen Denkens bedingten Gestalten schafft die Wissenschaft im besten Fall Konstruktionen, die durch den abgesonderten Stil des wissenschaftlichen Denkens bedingt sind.“ In: L. Fleck: Schauen, sehen, wissen, S. 167. 47 H. Muthesius, Stilarchitektur und Baukunst.

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Auch Vernunft und Wahrheit zeigen sich schließlich im stilgemäßen Auflösen eines konkreten Problems. Van de Velde: „Die Gefühle bedingten die Moral der vorangegangenen Periode, - was sie in der Kunst genoß, war das Gefühl! Die Logik und Vernunft bedingen die Moral der modernen Periode. Was sie in der Kunst genießt, beruht auf dem logischen und vernünftigen Gebrauch des Materials und der Mittel, die jeder Kunst eigen sind.“48 Die Architektur aber kann sich nicht verstecken, sie ist sichtbares Zeichen unserer Haltung – aber eben nicht allein zur ästhetisch aufgefassten Zweckform, sondern der Haltung zur Welt als Ganze. Für Broch ist die Architektur aufgrund des öffentlichen Zeigens eines „Stils“ allen anderen Kulturerzeugnissen einer Zeit voraus. Ihr ist geradezu anzuschauen, was es mit einer Zeit auf sich hat: „Die Prävalenz des Baustils innerhalb der Charakteristika einer Epoche ist eine der sonderbarsten Angelegenheiten. […] Es kann nicht nur an der Haltbarkeit des Materials liegen […] Eine Erklärung […] muß in der Wesenheit des Begriffes ‚Stil’ selber gefunden werden. Denn Stil ist sicherlich nicht etwas, das sich auf das Bauen oder auf die bildende Kunst beschränkt, Stil ist etwas, das alle Lebensäußerungen einer Epoche in gleicher Weise durchzieht. […] [W]enn es Stil gibt, so sind alle Lebensäußerungen von ihm durchdrungen, dann ist der Stil einer Periode ebenso wohl in ih/rem Denken vorhanden, als in jeder Handlung, die von den Menschen dieser Periode gesetzt wird.“49

Gegenüber der Sichtbarkeit von Architektur tritt, wie schon mehrfach angeklungen, als weiteres und damit eng verzahntes Merkmal deren Anschaulichkeit.50 Diese wird in der Anschauung51 selbst realisiert. Anschauen heißt nicht bloß sinnlich-optisches Wahrnehmen, sondern Erschließen einer Gestalt.52 Alles, was in der Menschenwelt auf menschliches Tun verweist, wird als motiviert bzw.

48 H. Van de Velde: Der neue Stil, S. 157. 49 H. Broch: Die Schlafwandler, S. 444 f. 50 Vgl. H.-G. Gadamer: Anschauung und Anschaulichkeit, S. 189-205. 51 „Anschauung im philosophischen Sinne erhebt einerseits den Anspruch, nicht Bestimmtes an der Sache, sondern sie selbst und im Ganzen zu sehen; anderseits will sie die Art und Weise sein, wie uns die Sachen erscheinen. In der A.[nschauung] und durch sie wird die Gegenwart der Sache erfahren; diese selbst stellt sich unmittelbar, d.h. ohne Vermittlung durch anderes vor.“ F. Kaulbach: [Artiktel:] Anschauung. 52 Vgl. H. Plessner: „Sie selbst, die sinnliche Wahrnehmung, darf daher mit der gesuchten Anschauungsfunktion im Aufbau menschlicher Lebenserfahrung und der aus ihr gespeisten geisteswissenschaftlichen Erfahrung jedenfalls nicht gleichgesetzt werden.“ In: H. Plessner: Mit anderen Augen, S. 207.

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sinnhaft betrachtet. Man erfasst darin spontan eine Gestalt als die Einheit von Form und Inhalt. Menschliche Erzeugnisse, gleich welcher Art und Herkunft, haben diesen Ausdruckscharakter. Darin liegt ihre Sinnhaftigkeit, Verständlichkeit und Anschaulichkeit. Sie bedeuten nicht nur „etwas“, das sich grundsätzlich „erfassen“ lässt, vielmehr erwarten wir von Gestalten aller Art, dass sie auf das verweisen, worumwillen sie gestaltet wurden.53 Es spricht eigentlich nichts dagegen, solche Spuren menschlicher Tätigkeit, insofern sie mehr als unbeabsichtigt-zufällig sein sollen, sondern eher Freude am gelungenen Menschenwerk zum Ausdruck bringen, als Ornamente zu bezeichnen. Der Schmuck weist über den Zweckcharakter eines Gegenstandes hinaus auf das Ziel oder das Worumwillen des Gebrauchs, den man davon machen kann. Das Telos des Gebrauchs verweist nicht wiederum auf einen weiteren Zweck, sondern auf den Vollzug des Lebens selbst.54 Ich kann mich daran dann mit meinem Verhalten ausrichten, insofern ich zu einer bestimmten Orientierung veranlasst werde. Husserl hat vom anschaulichen Apriori gesprochen55 und Plessner hat auf das „Unanschauliche“ in den „anschaulichen Daten“ hingewiesen: Im Anschaulichen wird NichtGegenständliches mitgegeben. Dieses sei tatsächlich präsent, „trotzdem wir es,

53 Helmuth Plessner weist darauf hin, dass der Mensch (gegenüber dem Tier) die Fähigkeit besitzt, „in dem Verhalten der Lebewesen den Sinn, d.h. das Motiv in der Gestalt wahrzunehmen.“ In: H. Plessner: Die Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 143. 54 „Wer das Ornament als Beiwerk betrachtet, ist sich über die innere Logik eines Baues nicht im klaren. 'Baustil' ist Logik, ist eine Logik, die das Gesamtbauwerk durchdringt, angefangen vom Grundriß bis zur Luftkontur, und innerhalb dieser Logik ist das Ornament bloß das letzte, der differentiale Ausdruck im kleinen für den einheitlichen und einheitsetzenden Grundgedanken des Ganzen“. H. Broch: Die Schlafwandler, S. 437. 55 Vgl. W. Szilasi, Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls. Dort heißt es: „Erst die anschaulich apriorische Sichtbarkeit, wozu etwas dienen kann, was es leisten kann, was es sein kann, das Sehen des Bereichs dieses Könnens erlaubt zu erkennen, was es ist.“ (S. 47). Friedhelm Kaulbach hebt in seinem Lexikonartikel ebenfalls Husserls Begriff der Anschauung heraus, wobei diese in Horizonte der Erfahrung des Anschauenden eingelassen ist: „Nicht nur das ins Auge gefaßte Ding werde angeschaut, sondern ein ganzer Hof von 'Hintergrunds-Anschauung', in welche die Anschauungen des Dinges eingebettet sind. Angeschaut wird der in der Erfahrung begegnende individuelle Gegenstand ('erfahrende' bzw. 'individuelle' Anschauung).“ F. Kaulbach: Anschauung, S. 346.

S ICHTBARKEIT

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wenn wir scharf darauf achten, weder im Objekt noch im Subjekt der Beachtung unterbringen können.“56 Übertragen wir unsere Auslegung von Sichtbarkeit und Anschaulichkeit auf die Gestalt von Werken der Architektur, dann wird in der „Wahrnehmung“ eines Bauwerks stets auch Ungegenständliches vernehmbar, nämlich was jenseits des reinen optischen Abbildes dennoch zur architektonischen Wirklichkeit, zu Welt und praktizierter Lebensform, die diese Architektur hervorgebracht hat, gehört: Der Ausdruck der Gestalt. Sinn-Gestalten sind auf ihre Lesbarkeit und damit auf Sprache hin angelegt. Im Hintergrund all unserer Überlegungen ist nämlich die Sprachlichkeit unserer Welt vorausgesetzt. Nur in einer menschlichen Welt, die über Sprache verfügt, kann es Sinn, Bedeutung und Verstehen geben, können Nicht-verstehen und Miss-verstehen sich ereignen. Anschaulichkeit dringt auf Lesbarkeit und beide lassen erst ein Sinnverstehen (Erfassen von Bedeutungen) als ein erfolgversprechendes Verhalten erscheinen, was es mit einem Gebäude auf sich hat, worumwillen es da ist usw. Auch in solcher anschaulichen Sinngestalt, die mit ihrer Sichtbarkeit auf das „Öffentliche“ von Architektur verweist, mag man deren Bezug auf „Wahrheit“ sehen, nämlich anschaulich zu zeigen, wem die Architektur dient, um wessen Geschichte des Bleibens und räumliche Situation es geht. Ich komme zum Schluss: Die architektonische Moderne hat sich mehr oder weniger erfolgreich mit der These Louis Sullivans zufrieden gegeben, dass sich das Aussehen zeitgemäßer Gebäude dem eingängigen Gesetz, die Form müsse aus der Funktion hervorgehen, zu unterwerfen habe. Die logische Zweckform wurde zum Zauberwort der architektonischen Gestaltung. Aber wir müssen diesen Zusammenhang in den Kontext der Lebenswelt und ihrer Hermeneutik rücken: Architektur sieht nicht nur irgendwie aus, sie wird anschaulich erlebt. Zwar haben wir es bei Ornament und Stil mit einer Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks tun. Aber Gestalt ist hier mehr und etwas anderes als eine abstrakte Form, die zu einem Inhalt tritt.57 In dem Sinne hat auch jede gemeinte

56 H. Plessner: Die Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 144. 57 In einem vergleichbaren Zusammenhang spricht Heinrich Klotz missverständlich von der „Ausdeutung der Form; wir müssen also danach fragen, ob das Wesen der Moderne und die Charakteristik der angeblichen Fluchtbewegungen an den Formen richtig beschrieben wurden. Genauer: Sind die Bedeutungen, die wir den Formen zuschreiben, tatsächlich auf einen bestimmten Ausdrucksgehalt und auf einen bestimmten Wert festgelegt? […] Wie wir sehen, geht der Streit nicht um die Formen selbst, sondern um deren Bedeutung. Dass eine Form für einen bestimmten Inhalt steht, dass sie etwas über ihre eigenen Faktizität Hinausgehendes anzeigt, ist die selbstverständliche

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Zweckform, insofern sie konkret in Erscheinung tritt, eine Gestalt, und erst auf das Erfassen einer Gestalt reagieren wir. Ansonsten „schauten“ wir bloß, erfassten aber nichts Anschauliches. Ich meine, dass Anschauungen nur in praktischen Lebensformen gelingen, insofern eine Lebensform all das umfasst, wie Jemand mit seinen Überzeugungen und Wünschen konkret zur Welt (und damit zur Architektur) ist. Gestalten werden in konkreten Sprachspielen gelernt und angeeignet. Wenn Kambartel sagt: „Der Schmuck der Gebrauchsgegenstände läßt sich als eine Weise verstehen, die nutzenbezogene Wahrnehmung dieser Dinge zu durchbrechen“,58 dann ist der menschliche Gebrauch, den wir von den Dingen machen, nicht ausreichend als deren Nutzen bestimmt. Denn der Gebrauch weist immer über sich hinaus auf das, wofür etwas in Gebrauch genommen wird und auf was der Gebrauch als sein Ziel verweist: das gute Leben. So wird man die Frage nach Stil und Ornament stets in die ganze menschliche Lebenssituation einzupassen und allein innerhalb von Lebensformen zu beantworten haben.

Voraussetzung, die in dem Streit um Moderne und Postmoderne gemacht wird.“ In: H. Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 14. Wir haben aber nicht, wie Klotz unterstellt, auf der einen Seite eine Form und auf der anderen eine Bedeutung. Wir erfassen Sichtbares nur in seiner Anschaulichkeit und Gestalt als Ganzes. Das Erfassen, Sehen oder Blicken ist darüber hinaus nur innerhalb einer Lebensform, eines Denkstils, möglich. 58 F. Kambartel: Zur Philosophie der Kunst, S. 25.

Entwerfen, Planen und Entscheiden1

V ORBEMERKUNG Die nachfolgenden Überlegungen werden sich zunächst an der Unterscheidung von Handeln und Machen abarbeiten. Es soll gezeigt werden, dass das in der Neuzeit aufgekommene Verständnis des Machen-könnens die ethische Dimension des Zur-Welt-seins des Menschen hat undeutlich werden lassen. Die Karriere, die das Machen hingelegt hat, lässt sich allerdings nicht ohne die Entwicklung der Wissenschaften und in erster Linie der Natur- und Ingenieurwissenschaften begreifen. In diesem Zuge scheint auch die Einbettung des beruflichen Tuns des Architekten und der Architektin in eine Praxis, die den „ganzen Menschen“ fordert und betrifft, vergessen worden zu sein. Stattdessen wird viel Argumentationskraft dafür aufgebracht, Entwerfen und Planen als eine „angewandte Wissenschaft“ mit eigenständiger Forschungsperspektive zu etablieren.2 Das Verständnis von Praxis führt mich anschließend zur Frage, inwiefern davon ausgegangen werden kann, dass „sittliche“ Überzeugungen das Entwerfen und Planen von Architektur und Stadt überhaupt „regeln“ können. Meine These lautet: In der Sozialisation und Ausbildung von Architekten/Planern werden auch sittlichnormative Urteile weitergegeben und fließen dann als „sittliches Umgangswissen“ (Irrgang) in die Entwurfs-Praxis mit ein. Abschließend wird auf eine bestimmte Forschungssituation hin argumentiert, die es möglich machen soll, pra-

1

Ich danke Sigrid Anna Friedreich für wertvolle Hinweise, die sie gegenüber einer ers-

2

Vgl. die diversen Versuche, „Entwerfen“ als eine wissenschaftliche Forschungsaktivi-

ten Version des Textes zum Ausdruck brachte. tät bzw. ein wissenschaftliches Tun zu forcieren, die z.B. von S. Ammon, E. M. Froschauer: Wissenschaft Entwerfen, zusammengestellt wurden: „Zu beobachten sind die zunehmenden Bestrebungen, dem Entwerfen den Status des Forschens zu geben und es auf die Ebene der Wissenschaftlichkeit zu heben.“ (S. 15)

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xisnahe Begründungen zu (architektonischen) Entwurfsentscheidungen zu entdecken und nachzuvollziehen. Es stellt sich nämlich das Problem: Wie zeigt sich sittliches Umgangswissen im Entwurfsprozess? Insofern der architektonische Entwurf i.d.R. Anderen gilt, für die entworfen wird, kann einer „vernünftigen“ architektonischen Praxis unterstellt werden, ihre Entwurfsentscheidungen auch begründen zu können. Auch hierzu eine These: Im Entwerfen / Planen / Entscheiden realisieren sich sittliche Verpflichtungen eher intuitiv, „unter der Hand“. Forschung übernimmt deshalb die Aufgabe, Begründungen „nachträglich“ einzuholen, um so – das Implizite explizit machend – den Hintergrundüberzeugungen der „Institution Architektur“ auf die Spur zu kommen. Ich beabsichtige, dem mir gestellten Thema einen pragmatisch-hermeneutischen Zugriff zuzumuten, wobei es primär darum gehen wird, den Nachweis moralischer Orientierung von einem Verständnis von Praxis herzuleiten, nicht darum, bestimmte ethische Inhalte einzufordern oder durchzusetzen.3

P RAKTISCHE

UND INSTRUMENTALE

E RFAHRUNG

Wir müssen heute feststellen, dass zwischen den so genannten angewandten Wissenschaften, zu denen auch die Entwurfs- und Planungswissenschaften wie Architektur, Städtebau, Stadt- und Regionalplanung zählen, und der Praxis des beruflichen Tuns und Lassens „Lücken“ bestehen und Bereiche ausgelassen sind, die nicht wiederum durch Wissenschaft abgedeckt werden können. Die neuzeitliche, am Paradigma naturwissenschaftlicher Erkenntnis ausgerichtete Wissenschaft sieht sich nämlich außerstande, ein „Wissen“ beizubringen, wie sich in Situationen der Praxis zu orientieren ist. Denn sie stellt allein das Wie des Machens heraus und lässt die Antwort auf die Frage nach dem Warum auf sich beruhen. Die griechische Antike hatte für dieses Wissen noch eine eigene Bezeichnung, sie nannte es phronesis, um es von der techne abzugrenzen.4 Man

3

Vgl. auch B. Irrgang: Praktische Ethik aus hermeneutischer Sicht, S. 267-278 sowie ders.: Hermeneutische Ethik. Die von Irrgang entwickelte „Hermeneutische Ethik“ „stellt in das Zentrum einer ethischen Untersuchung den handelnden Menschen in seinem situativen Kontext, also menschliche Praxis“ (Hermeneutische Ethik, S. 9).

4

Die diesen Wissensformen unterliegenden beiden Handlungsbereiche hat Friedrich Kaulbach als „Handeln als Praxis“ und „Handeln als Bewirken“ untersucht und ist dabei zu auch für meinen Zusammenhang bedeutsamen Erkenntnissen gekommen. Wesentlich ist die für die Neuzeit charakteristische Unterscheidung zwischen „freier“ und „gefesselter“ Natur, insofern der Natur eine eigene Zweckmäßigkeit und Selbständig-

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könnte diese beiden Wissensformen einmal als Erfahrungs- bzw. Klugheitswissen und zum anderen als Herstellungs- bzw. Verfügungswissen bezeichnen. Die phronesis ist selbst nicht „empirisch“ im neuzeitlichen Sinne.5 Sie ist deshalb auch nicht „lehrbar“. Sie ist Erfahrungswissen und bezieht sich dabei auf die alltägliche zwischenmenschliche Erfahrung6, im Gegensatz zur techne, die auf vornehmlich im Experiment gewonnene instrumentale (methodische) Erfahrung basiert. Die Griechen dachten und verstanden beide Wissensformen als eine Einheit. Konnte die Moderne, in der wir immer noch leben und arbeiten, mit den nur mehr an den Bedürfnissen des handelnden Subjekts ausgerichteten Entwürfen und Plänen diese Einheit nicht mehr nachvollziehen, so zeigen sich dennoch Restbestände eines „poietisch-technischen Handelns“ und einer entsprechenden „handwerklichen Seinsauffassung“ (Kaulbach).7 Innerhalb des unsere Moderne auszeichnenden Wissenschaftsverständnisses stehen Theorie und Praxis in einem Gegensatz zueinander, insofern seit der Neuzeit unter „Theorie“ „diejenige Erklärung der Vielfältigkeit der Erscheinungen“, „die deren praktische Beherrschung erlaubt“8, verstanden wird. Am gesamten Gegenstandsbereich der herzustellenden Artefakte (Maschinen, Gebäude) interessiert nur mehr deren Sachcharakter. Auch Planung, aufgefasst als angewandte Wissenschaft, steht dann ebenso im Dienst der Sache, nämlich menschliche Angelegenheiten irgendwie beherrschbar zu machen. Sie wird darin nicht als eigen-

keit zugebilligt wird bzw. das moderne naturwissenschaftliche Bewusstsein der Natur gegenüber in der Haltung des Bestimmens, Beherrschens und Verfügens auftritt. Vgl. F. Kaulbach: Einführung in die Philosophie des Handelns, S. 14 f. 5

Zur Bedeutung der phronesis für die Ethik vgl. auch F. Volpi: „‘Das ist das Gewissen!‘ Heidegger interpretiert die Phronesis“, S. 165-180 6 „Die Phronesis als die praktische Urteilskraft beurteilt die einzelne Situation im Hinblick auf das allgemeine Ziel des ganzen Handlungszusammenhangs, d.h. sie beurteilt die konkrete Situation ‚im Licht dessen […], was […] im allgemeinen verlangt wird‘.“ G. Buck: Über die Identifizierung von Beispielen – Bemerkungen zur „Theorie der Praxis“, S. 70.

6

„Die Phronesis als die praktische Urteilskraft beurteilt die einzelne Situation im Hinblick auf das allgemeine Ziel des ganzen Handlungszusammenhangs, d.h. sie beurteilt die konkrete Situation ‚im Licht dessen […], was […] im allgemeinen verlangt wird‘.“ G. Buck: Über die Identifizierung von Beispielen, S. 70.

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Das dieser „Tätigkeit zugrundeliegende Seinsverständnis rechnet mit der Selbständigkeit der physischen Gebilde und damit auch mit den Grenzen, die der technischen Produktion durch die physische Welt, in die sich der Techniker versetzt, gegeben sind“, F. Kaulbach: Einführung in die Philosophie des Handelns, S. 22 f.

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H.-G. Gadamer: Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, S. 176.

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ständige soziale Praxis aufgefasst, und die Moralität als gelebte Orientierung am Guten z.B. als etwas Überkommenem und Bewährtem hätte den Planer durchaus nichts mehr anzugehen. Denn der „moderne Mensch“ gibt sich selbst und aus freien Stücken sein moralisches Gesetz.9 Jenem einheitswissenschaftlichen Versprechen zum Trotz ist dennoch immer wieder der Versuch unternommen worden, sowohl das, was wir heute Erfahrung nennen, als auch das, was heute als Wissen gilt, differenziert zu betrachten. Auch die Architekturtheorie hat den Begriff Wissen, was darunter alles fällt, erneut zu befragen. Auf der einen Seite haben wir die sich im beständigen Fortschritt vermehrenden Resultate der Naturwissenschaften, oder kurz: der Wissenschaft. Dem gegenüber steht das Wissen der Praxis, wie es ein jeder ständig sammelt, der im Leben steht. Dieses lebensweltliche Wissen nennen wir auch Erfahrungswissen oder Umgangs- und Gebrauchswissen. Jeder Lehrer, Arzt, Architekt, Richter, Händler, Angestellte, Student, Soldat macht entsprechende Erfahrungen, natürlich auch im privaten und persönlichen Bereich, indem er sein Leben führt, im Wohnen und Arbeiten, im Verbringen von freier Zeit, im Umgang mit Freude und Leid. Wenn wir dieses Wissen hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit angemessener Orientierungswissen nennen, dann ist dieses Wissen erst Erfahrung, „wenn es in das praktische Bewußtsein des Handelns neu integriert ist“10. Wie kam es zu dem Glauben, allein das wissenschaftlich überprüfbare Wissen führe zu Erkenntnissen? Die Neuzeit etabliert sich durch eine völlig neue Methode des wissenschaftlichen Arbeitens und Generierens von Erkenntnissen. Hatte die Antike Wissen noch um seiner selbst willen hervorgebracht, so kommt es seit dem 16. Jahrhundert zu einer Verschmelzung von wissenschaftlicher Erkenntnis und Werkstatt. Wilhelm Kamlah hat von der Leonardo-Tradition gesprochen und meint damit die uneingeschränkte Anwendung naturwissenschaft-

9

„Für die Situation des in diesem modernen Sinne handelnden Subjekts ist es charakteristisch, daß es die Normen, an denen es sein Handeln ausrichtet, nicht der Form verwirklichter Sitte sucht und findet, sondern in derjenigen eines von der praktischen Vernunft gegebenen Gesetzes, welches sich nicht auf Vorbilder und wirklich gelebte Lebensformen beruft, sondern auf moralische Ideen, welche auch dann gelten, wenn sie noch niemand befolgt hätte oder in Zukunft auch niemand befolgen würde: es sind Ideen des Sollens. Das ‚Sollen‘ ist als ein von der praktischen Vernunft geleisteter freier Entwurf nicht durch Orientierung an gelebten Formen des Denkens und Handelns gebunden […]“, in: F. Kaulbach: Einführung in die Philosophie des Handelns, S. 20.

10 H.-G. Gadamer: Theorie, Technik, Praxis, S. 243.

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licher Erkenntnisse auf technische Probleme, so dass als wesentliche Zukunftsaufgabe nur mehr gesehen wurde, immer effizienter gestellte Probleme als technische Aufgaben zu lösen. „Während die antike Mathematik durch den Platonismus ihre Einstellung auf ‚ewige Wahrheiten’ unverlierbar empfangen und den Kontakt mit der banausischen Technik stets gemieden hatte, entsteht die neuzeitliche mathematische Naturwissenschaft gerade durch die Stiftung dieses Kontaktes […]“11. Welche Folgen hatte diese methodische Neuausrichtung der Wissenschaft für die technischen Aufgabenstellungen? Wir finden als eine Folge dieser Entwicklung zwei Phänomene vor, die uns beschäftigen werden. Zum einen die Neuorientierung der Wissenschaften an einem allein technischen Können, d.h. für Anwendungswissen zu sorgen, wie die Welt zu verändern ist. Damit einher geht zum anderen die „Kaltstellung“ menschlicher Erfahrungen als irgendwie wissenswert und bedeutsam für das Machen-können und den – Dank dieses technischen Könnens – erwarteten Fortschritt für die gesamte Menschheit. Was die sog. wissenschaftliche Erfahrung z.B. im Experiment als ihre Erkenntnis bestimmt, was sich dann auch auf alle so genannten angewandten Wissenschaften auswirkt und was schließlich allein als Objektivität zu gelten hat, muss jetzt bestimmte methodische Kriterien erfüllen: Es ist nämlich „[…] dadurch ausgezeichnet, daß es von jeder Situation des Handelns und jeder Integration in einen Zusammenhang des Handelns (Tuns und Lassens) grundsätzlich unabhängig ist. Diese ‚Objektivität’ besagt zugleich, daß sie jedem möglichen

11 W. Kamlah: Die neue Physik und das Selbstvertrauen der Neuzeit, S. 80. Auch in der gemeinsam mit Paul Lorenzen verfassten Monographie „Logische Propädeutik“ wird die Differenz in der Vorstellung von menschlicher Erfahrung zwischen Antike und Neuzeit deutlich ausgesprochen: „Während der Platonische Sokrates nach dem technikos fragen konnte, der z.B. hinsichtlich der Tapferkeit sachkundig ist, verengt sich seit dem 17. Jahrhundert die Sachkunde auf Technik, wie man sie aus der Mechanik entwickeln kann, auf ‚Fachwissen‘, das jedermann erlernen kann, ‚wie er geht und steht‘. Eine Sachkunde also, die nur durch lebenslange Erfahrung, durch ‚Lebenserfahrung‘ gewonnen wird, durch eine Erfahrung, die sich nicht auf das unbeteiligte Hantieren und Berechnen beschränkt, wird aus dem Bezirk des vernünftigen Forschens und Redens verwiesen, und / die Folge ist, daß diejenigen Fragen, von deren Beantwortung Glück und Unheil der Menschen abhängen, von den Wissenschaften nicht beantwortet werden können, ja auch von der Philosophie nicht, sofern sie sich als szientistische Philosophie der Selbstbeschränkung moderner Wissenschaften unterwirft.“ W. Kamlah, P. Lorenzen: Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens, S. 124 f.

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Handlungszusammenhang zu dienen vermag.“12 Was in diesem neuzeitlichen Sinne „Objektivität“ heißt, wirkt sich auch auf Bereiche des Entwurfs, der Planung, der Konstruktion aus. Diese so ausgezeichnete Erkenntnisweise sagt von sich, sie sei die höchste Form des Wissens, da sie für jedermann nachprüfbar und erwerbbar sei. Damit ist aber zugleich behauptet, dass das Erfahrungs- und Überlieferungswissen der Menschen, also unser alltägliches Orientierungswissen, kein wirklich ernst zu nehmendes Wissen sei, da es nicht der Nachprüfung durch diese wissenschaftliche Methode unterzogen wurde. Mit der Idee der Einheitsmethode der Erkenntnis kann als Erfahrung nur gelten, was kontrollierbar ist. Wie aber soll man persönliche oder intersubjektive Erfahrungen kontrollieren? Man bräuchte wiederum einheitliche Maßstäbe, die aber gerade den menschlichen Maßstab bewusst außer Acht lassen. Unser Augenmerk muss deshalb auf einem heute nicht mehr gebräuchlichen Verständnis von Erfahrung ruhen. Warum? Heute und mit Blick auf die angewandten Wissenschaften haben wir es mit instrumentaler Erfahrung zu tun. Die nach diesem Profil aufgebauten angewandten Wissenschaften haben sich ein theoretisch fundiertes Verfügungswissen verschafft, das dem Anwender sagt, wie die Welt verändert werden kann. Eine allein technisch-instrumentale Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis z.B. auf planungsrelevante Berufsfelder ist aber gerade nicht das, was wir unter einer menschlichen Praxis verstehen. Denn das auf das „Machenkönnen gerichtete Wissen“ (Gadamer) ist keines, das aus der Praxis der Lebenssituation und den Handlungsumständen als sich mehrende Erfahrung der in diese Praxis Verstrickten erworben wird, sondern es ist ein Wissen, „das seinerseits einen spezifisch neuartigen Praxisbezug nämlich den der konstruktiven Anwendung, erst möglich macht.“13 Theoretische Vernunft und technische Erfahrung kommen hierbei zusammen und bilden die moderne Welt des homo faber. Beiden ist heute sowohl eine praktische Vernunft als auch eine lebensweltliche Erfahrung gegenüber zu stellen. Dabei können wir daran anknüpfen, dass praktische Vernunft und persönliche Erfahrung als Vermögen, sich in Situationen der Praxis zu orientieren, im Zuge der Etablierung der modernen Welt nicht gänzlich verschwinden konnten, allerdings wurde und wird beides unterdrückt, nämlich ins Unwissenschaftliche, ins Private abgeschoben. Damit ist unsere Ausgangssituation beschrieben, nämlich dass angewandte Wissenschaften nicht aus sich heraus ein Wissen hervorbringen können, wie in der Praxis begründete Entscheidungen zu treffen sind. Denn die so lapidar daherkommende Denkfigur

12 H.-G. Gadamer: Theorie, Technik, Praxis, S. 243. 13 A.a.O., S. 247.

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der Anwendung kann bei näherer Betrachtung nicht als nachrangiges Sach- und Restproblem erledigt werden14.

M ORALITÄT

UND

E THIK

Mit der „Anwendung“ treten wir aus dem Bereich theoretischer Erkenntnisse heraus und in den der menschlichen Praxis ein. So in die Welt gestellt, müssen wir also versuchen, den praktischen Disziplinen wieder zu einer methodischen Eigenständigkeit zu verhelfen, ohne dabei auf den Erfolgen der neuzeitlichen exakten Wissenschaften aufzubauen. Es scheint hier das Missverständnis zu bestehen, als ob die so genannte angewandten Wissenschaften den Wissenschaften hinterherlaufen. Historisch ist es freilich genau umgekehrt gewesen. In den Werkstätten und auf den Baustellen war immer schon ein mehr oder weniger „theoretisches“ Wissen in das handwerkliche Können integriert, also „angewandt“.15 Erst die Neuzeit hat sich das handwerkliche Können untertan gemacht, indem es nur mehr die Aspekte des überlieferten Könnens als wissenschaftlich anerkennen wollte, die ihrem Methodenideal standhielten. Das allen „angewandten“ Wissenschaften heute gestellte Thema der Ethik wird zeigen, dass der Mensch den Zwiespalt, der sich zwischen Vernunft und Leben, Theorie und Praxis, Wissenschaft und (beruflichem) Handeln auftut, niemals grundsätzlich und ein für alle Male und Zeiten wird lösen können. Helmuth Plessner hat von der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen gesprochen16, um begreiflich zu machen, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich auch von außen betrachten kann. Dafür müssen wir aber eine entsprechende Perspektive einnehmen, die nicht die selbstverständliche und naive Sicht ist, mit der wir uns immer schon distanzlos verstehen. Vielmehr betrachten wir uns dann „mit anderen Augen“17, z.B. mit denen der Vernunft oder der Ethik. Leben aber heißt lebendig sein, aus der eigenen Mitte heraus und auf diese Mitte zentriert das Leben führen. Motivation, Gemütsbewegung, Gefühle, Spontaneität sind leibliche Zustän-

14 Vgl. W. Wieland: Aporien der praktischen Vernunft, S. 6. 15 „Primär ist alles Tun des Menschen schöpferisch auf lebendige Situationen bezogen. Die angewandte Theorie läßt sich in die lebendige Praxis, in welcher man lange vor exakten technischen Materialprüfungen bereits Nägel einschlagen […] konnte, nur einbauen.“ E. Rothacker: Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus, S. 40. 16 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 17 H. Plessner: Mit anderen Augen.

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de, die wir unmittelbar in uns spüren. Dieses Leben findet in der Vertrautheit einer verstandenen Umwelt statt.18 In der Lebenswelt erscheint der Mitmensch nicht als Subjekt, sondern als Teil der je eigenen zentrierten Umwelt, als „angenehmer oder unangenehmer“ Zeitgenosse. Vernunft aber ist die Möglichkeit des Menschen, Unbekanntes und Unvertrautes in der Welt jenseits meiner beschränkten Umweltperspektive zu akzeptieren. Robert Spaemann sagt: „Vernunft beginnt mit dem Wissen, daß etwas existiert, wovon man selbst nichts weiß oder daß man nicht versteht“19. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass es dem Menschen auf Dauer gelingen kann, relative Umwelt, in der er tagtäglich lebt, und universelle Welt, von der er weiß oder wissen könnte, in einem ausgewogenen Gleichgewicht zu halten. Deshalb hat Plessner auch von dem Bruch zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit beim Menschen gesprochen, den wir nicht aufheben, sondern nur „kompensieren“ können. Es gibt Praxisformen, die wir heute „automatisch“ beherrschen, insofern „Theorie“ durch Routine ersetzt (kompensiert) werden konnte. Auch ist jede „Theorie“ auf Praxis angewiesen, weil „eine Theorie aufstellen“ selbst eine Praxisform darstellt.20 Dass wir also der Vernunft das hier und jetzt vernünftige, weil der Situation angemessene Tun des Menschen in seiner Lebenswelt gegenüberstellen, hat nichts mit Vernunftoder Ethikunterwanderung zu tun, sondern versucht zu deren Erneuerung beizutragen. Aus der Perspektive der philosophischen Anthropologie verhalten sich Ethik und Moralität ähnlich zueinander wie Vernunft und vernünftiges Tun. Wenn ich unter Ethik eine (mit generellem Anspruch vorgetragene) Begründung moralischer Standpunkte und Sichtweisen verstehe, dann müssen diesen rhetorischen Absichten doch menschliche Grundsituationen mit ihren Kulturen der moralischen Praxis schon vorgehen. Oder anders ausgedrückt: der tragende Grund der Ethik ist das Ethos, nämlich die aus Gewöhnung entstandene und entstehende Wirklichkeit. Alles Wertbewusstsein und Wertgefühl ist in sozialen Lebensformen fundiert. Wenn in unserem Zusammenhang des entwerfenden und planenden Handelns die Frage nach Moralität und ethischem Bewusstsein gestellt wird, dann unterstellen wir immer schon, dass wir in einer Welt gemeinsam mit anderen klug und vernünftig handeln sollten. Vernünftig handeln meint jedoch nicht,

18 Der frühe Husserl spricht von der „Welt der natürlichen Erfahrung“ und der „Welt des natürlichen Auffassens“. Darin „finden (wir) uns vor als ein Beziehungszentrum zu der übrigen Welt als unsere Umgebung“, in: E. Husserl: Ding und Raum, S. 4. 19 R. Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 111. 20 Vgl. den Abschnitt „Theorien aufstellen, haben und anwenden“ in: G. Ryle: Der Begriff des Geistes, S. 391-399.

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sich an einem festen Begriff von Vernunft, womöglich theoretisch und wissenschaftlich für einschlägig befunden, zu binden, aus dem wir dann ein sicheres konkretes Tun ableiten könnten. Tatsächlich bewegen wir uns doch immer in Situationen und ihren besonderen Umständen, die von uns und wir von uns selbst verlangen, diese praktisch-vernünftig zu bewältigen. Alles Handeln ist Handeln im „Zusammenhang der Welt“, „in welcher der Einzelne lebt und steht“21. Wir sahen aber bereits, dass in der griechischen Antike schon eine Erfahrung mit einer vernünftigen Lebenspraxis vorlag, die Anlass bot, sich mit Bedingungen dieser Praxis eingehend zu beschäftigen. Deshalb stelle ich folgende Frage: Was war denn einst mit dem Klugheits- oder Orientierungswissen gemeint, das ja keine bloße Idee, sondern eine Umgangserfahrung mit Beispielen und Gegenbeispielen darstellte? Offensichtlich ging Aristoteles von einer Selbstorientierungskompetenz des Menschen aus, die sich aus einem bestimmten Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen aufbaute.22 Von ihm stammt der Gedanke, der der gelebten Erfahrung der griechischen polis bzw. schon ihres Niedergangs entnommen ist, dass es eine Entsprechung gebe zwischen dem Handeln des Einzelnen und der Einheitlichkeit eines gelebten Ethos. Beides stützt sich gegenseitig: „Es ergibt sich“, so heißt es in der Nikomachischen Ethik, „daß die aus dem Gewohnten herkommende Tugend uns nicht von Natur zuwächst. Denn keines der von Natur Seienden kann sich anders gewöhnen. Der Stein, der von Natur fällt, wird sich niemals gewöhnen, nach oben zu steigen, auch wenn man es tausend Male versucht, ihn umzugewöhnen […]. Weder von Natur noch gegen die Natur werden daher Tugend und Tüchtigkeit. Es ist uns zwar von Natur die Möglichkeit gegeben, sie anzunehmen, aber zur Verwirklichung kommen sie in der Gewohnheit des Ethischen.“23 Damit ist gemeint: Nur wo Menschen tatsächlich sich ethisch verhalten, werden auch ihre Institutionen auf gute Weise bestehen können. Was kann es uns heute bedeuten, dass Moralität ein Gemeinwesen prägt, insofern die Praxis der in sozialen Institutionen agierenden Menschen von jener Moralität durchwirkt ist?

21 J. Ritter: Moralität und Sittlichkeit, S. 300. 22 Den Begriff der Selbstorientierungskompetenz entnehme ich der Untersuchung „Klugheit“, die Andreas Luckner vorgelegt hat. Er soll u.a. darauf hinweisen, dass ein entsprechendes „moralisches“ Orientierungswissen ein Vermögen ist, das man nur erwerben kann, nicht aber eine Methode, die man wie ein Beweisverfahren nach einer sturen Regel anzuwenden hat. Vgl. A. Luckner: Klugheit. 23 Zitiert bei J. Ritter: Moralität und Sittlichkeit, S. 303 f.

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Auf der einen Seite lassen sich ethische Bestimmungen von Institutionen, worunter ich allgemein sozial-kommunikative Kreise und ihre Denkstile verstehe, deren Normen und Werte man im Zug von Sozialisationsprozessen sowohl übernimmt als auch weiter gestaltet, von außen beschreiben und festlegen. Auf der anderen Seite drückt sich eine ethische Bestimmung gerade darin aus, wie die einzelnen Mitglieder oder Angehörigen diese in ihrem Tun und Lassen tatsächlich handhaben und umsetzen. Mit anderen Worten: in die Wirklichkeit eines gelebten Gemeinwesens treten entsprechende Bestimmungen allein in der Praxis individuellen Handelns auf. Zwei Fragen mögen dazu gestellt sein: Inwiefern ist ein Tun bestimmt und durchwirkt von ethischen Grundsätzen? Und: Lässt sich (so etwas wie) ein ethischer Anteil am Handeln isolieren und dieser zu einer z.B. Architektur-Ethik begrifflich ausbauen? Gewohnheit (Ethos), so meine Antwort, ist kein verfestigter und erstarrter ethischer Wissensvorrat, sondern aufgrund der notwendig situativen Anwendung im praktischen Handeln kontinuierlich einer Umformung und auch Anpassung bestimmter Teile an neue Erfahrungen ausgesetzt. Die Idee „angewandter Theorie“ setzt Situationen und Gelegenheiten voraus.24 Anwenden heißt: auslegen und interpretieren, heißt in Spielräume eindringen, sie nutzen! Insofern ist auch Robert Spaemann zuzustimmen, wenn er vom „realen, in einer Gesellschaft geltenden Ethos“ sagt, es sei „nicht schlechthin selbstverständlich“25. Ethik und praktische Vernunft stehen also in einem Ergänzungsverhältnis. Der den Standpunkt der Ethik als absolutes Vernunftgebot Vertretende sollte sich nicht als Moralist aufschwingen, sondern hat sich selbst auch an die Gewohnheit des Autorität genießenden Überkommenen zu halten, so lange diese lebendig ist. Gegen die individualistische Absonderung vom transsubjektiv26 Anerkannten ist damit gesagt, dass die einzelnen Menschen in ihrem persönlichen Handeln und Leben entsprechend sich verhalten müssen, dass das Ganze des intersubjektiven Lebenszusammenhangs von einer ethischen Haltung durchgriffen ist. Individuum und Institution bzw. Gewohnheit (Ethos) stützen sich gegenseitig. Der Handelnde muss sich als Individuum in einer Welt mit anderen verstehen, so dass jede Entscheidung in den Verhältnissen zu treffen ist, in denen einer steht, arbeitet, lebt, Interessen hat, Verantwortung und Pflichten über-

24 „Jede ‚Anwendung‘ setzt außer dem Besitz einer ausgebauten Theorie: genaue Anschauung einer konkreten Situation voraus.“ E. Rothacker: Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus, S. 38. 25 R. Spaemann: Moralische Grundbegriffe, S. 7 26 Zum Begriff „transsubjektiv“ vgl. F. Kambartel: Strenge und Exaktheit. Über die Methode von Wissenschaft und Philosophie, S. 84.

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nimmt. Damit sei der Blick gelenkt auf das, was man ethische Pragmatik nennen könnte. Ethik ist eine kulturelle Angelegenheit, die nicht um ihrer selbst willen als theoretisches Wissen da ist, sondern in ihr sollte bereits der Übergang zur Praxis angelegt sein. Anwendungspraxen sind vielfältig und benötigen zu ihrer Bewältigung gelassene Spielräume. Ich gebe ein Beispiel dafür, wie Architekten auf eine ethische Perspektive aufmerksam gemacht werden können, ohne behaupten zu wollen, Architekten würden ohne dieses oder andere Beispiele in ihrem Handeln ganz auf Moral verzichten. Der Architekturhistoriker Hanno-Walter Kruft stellte in seiner groß angelegten Geschichte der Architekturtheorie folgende These auf: „Die Wirkung der Architekturtheorie auf die gebaute Architektur ist durch Ambiguität [...] gekennzeichnet. Sie kann Normen setzen, deren Erfüllung eine wirklich schlechte Architektur nahezu unmöglich macht. [...] Es muß möglich sein, Architekturtheorie an der gebauten Architektur zu überprüfen. Darf man darüber hinaus folgern, dass gute Architektur immer theoretisch begründbar ist oder sogar begründet werden muß?“27

Kruft spricht von „guter Architektur“ und bringt damit eher beiläufig den Aspekt von „guter“ (wohl im Gegensatz zu „wirklich schlechter“) Architektur ins Gespräch, ohne auf die vielfältigen Verwendungsweisen von „gut“ näher einzugehen. Offensichtlich bemerkt er gar nicht, dass er hier eine lebensweltliche Überzeugung ausspricht – nämlich dass Jedermann am „Guten“ interessiert ist – der nachzuforschen architekturtheoretisch unverzichtbar ist. Umgangssprachlich verwenden wir doch oftmals gut und schön in fast gleichem Sinne. Das Schöne erfreut uns und tut uns gut – gleichermaßen. Der schön geschnittene Anzug steht uns gut und passt obendrein. Wir zeigen das, indem wir ihn oft und gerne tragen. Könnte dieses gewünschte Resultat eine allgemein verbindliche Anwendung vorgeschrieben und damit bewirkt haben? Etwa so: Nimm nur diesen Stoff und diesen Schnitt, dann wird es ein „schöner“ Anzug, der gut sitzt und oft getragen wird. Wohl kaum. Beachtenswert ist in unserem Fall zum einen, dass der Schneidermeister seine Werkzeuge fehlerfrei beherrscht. Dafür benötigt er weder einen strengen Begriff von „Werkzeug“ noch gar eigens eine (ethische) Theorie. Allein die „Hinsicht des Gebrauchs“ zählt. Aber diese Hinsicht kann zweitens durchaus ein Verständnis von „guter Arbeit“ enthalten. Und Moralität, wenn man hier so sagen darf, zeigt sich dann als eine praktische Einstellung. Unser Meister wird nämlich bei seinem Tun sich auf etwas verstanden haben! Der erfahrene Maßschneider wird mehr als nur ein leidlicher Menschenkenner sein und

27 H.-W. Kruft: Geschichte der Architekturtheorie, S. 16.

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die Persönlichkeiten und Vorlieben seiner Kunden kennen. Vielleicht muss er auch einiges von den Gelegenheiten wissen, bei denen dieser Anzug getragen werden soll. Der Kunde soll sich wohlfühlen, wenn er seinen Anzug trägt. Diese lebensweltliche Fundierung des Guten in einem „guten, gelingenden Leben“ hat offensichtlich nichts mit Theorie, wie Kruft sie sich vorstellt, zu tun. Sie hat aber gewiss damit zu tun, dass man die Ausdrücke „gut“ und „schön“ nicht vom Gebrauch und Gefallen derjenigen Dinge abstrahieren kann, die man als gut und schön anspricht. „Gute“ Architektur hingegen, wie Kruft sie auffasst, habe der Anwendung gesetzter Regeln und Vorschriften zu entsprechen. Ist Architektur „gut“ und „gelungen“, weil sie nach festgeschriebenen Prinzipien einer Kunst „gebaut“ wurde? „Gut“ ist aber auch ein moralischer Terminus, mit dem wir angeben, ob ein Tun unseren ethischen Lebensanforderungen entspricht oder nicht. Eine Architektur, wiederum in einem anderen Sinne, als „gut“ zu bezeichnen, setzt Erfahrungen mit ihrem Gebrauch voraus. „Gut“ können dann die Erfahrungen genannt werden, die eine menschliche Gemeinschaft im Umgang mit einer Architektur macht. Dieser Umgang wird dann als angenehm und nützlich bewertet in Bezug auf Angelegenheiten des Lebens, die man „mit“ einem Bauwerk und seinem Gebrauch verbindet.

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ALS MENSCHLICHE

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Es soll nun die Frage geprüft werden, wie sich eine angewandte, methodisch geleitete Wissenschaft zur Praxis des Entwerfens und Planens verhält. Wir alle stehen immer in einer Praxis. Und in der Praxis handeln wir. Wolfgang Wieland sagt: „Niemand hat die Wahl, zu handeln oder nicht zu handeln. Anders als der Erkennende steht der Handelnde deswegen immer unter dem Diktat der Zeit. Im Gegensatz zu jeder Frage, die auf eine Erkenntnis abzielt, duldet es die Frage ‚Was soll ich tun?’ nicht, daß man ihre Antwort suspendiert; notfalls wird sie unmittelbar durch die Tat beantwortet“28. Unser Leben zwingt uns ständig zum Handeln. Denn Handeln heißt, dass wir in konkreten Verständigungszusammenhängen in einer gemeinsam mit anderen gehabten Welt agieren. Nur der Mensch entwirft und plant, das heißt, nur er vollzieht Entschlüsse und trifft Entscheidungen. Und er tut beides „immer schon“. Wir alle entwerfen und planen unser Leben. Wir entwerfen z.B. ein Bild oder einer Vorstellung von uns, wer wir in drei, fünf Jahren sein wollen. In jedem Umzug, den wir für nötig halten, durchdringen sich unentwirrbar gemachte Erfahrung und Zukunftserwar-

28 W. Wieland, Aporien der praktischen Vernunft, S. 10.

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tung. Wir planen unsere berufliche Karriere ebenso wie unseren Sommerurlaub. Hier ist uns sofort klar: ich bin für meine Entscheidungen selbst verantwortlich. Beim professionellen Entwerfen von Gebäuden und Landschaften ist es nicht nur deshalb anders, weil wir für diese Tätigkeitsbereiche eine Ausbildung absolviert haben, sondern auch, weil wir nun nicht mehr für uns und die Unsrigen entwerfen und planen, sondern für Andere. Aber nur bestimmte Aspekte des Handelns lassen sich einfach einüben und routiniert abspulen. Wie es aber gelingen soll, die Anderen nicht in ihrer Passivität als von Planung Betroffene aufzufassen, sondern als „Entwerfer“ ihres eigenen Lebens in unserem planerischen Selbstverständnis ihren Platz finden zu lassen, dafür wurden wir nicht ausgebildet. Die „gelebte“ und im Wohnen angeeignete Gegend einer Landschaft29, um den sich räumlicher Entwurf und Plan bemühen, ist gewiss immer schon Feld und Bühne menschlicher Aktivitäten und Deutungen. In Entwurf und Plan geht es dann um die Uminterpretationen gegebener räumlicher Verfügungen und Sinnbedingungen. Damit komme ich zu einem zweiten Beispiel, von dem ich hoffe, dass es uns zu den Prinzipien situativer Aufmerksamkeit für praktische Moralität zu führen verhilft: Während der Debatte um die „Zwischenstadt“ ist z.B. den Bewohnern dieser Räume mitunter das pikante Angebot unterbreitet worden, ihre von Planerseite festgestellte (behauptete) Desorientierung (im Raum der „Zwischenstadt“) könne, ja müsse durch Planung aufgehoben werden. Man nannte das: Qualifizierung des zwischenstädtischen Raumes. Die Bewohner der so genannten „Stadtregion“ wurden allerdings nicht gefragt, ob sie sich von Planern ihre räumliche „Identität“ stiften lassen wollten. Mit welcher Begründung kam man dazu, auf diese Weise „Gutes“ tun (planen) zu wollen? Thomas Sieverts zitiert in seinem Buch „Zwischenstadt“ an zwei Stellen Karl Ganser, den ehemaligen Leiter der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumkunde, mit folgenden Bemerkungen: „Man muß Orientierung schaffen und Bilder entwerfen, die diese verschlüsselte Landschaft lesbar machen. Daraus könnte sich ein neues Verständnis regionalen Planens entwickeln“30. Und an anderer Stelle: „Man muß Ordnung schaffen und Bilder entwerfen, die diese verschlüsselte Landschaft lesbar machen“31. Sieverts spricht von der „Zwischenstadt“ als von einem „Raum ohne Namen und Anschauung“32. Was bedeutet es, dass ein Raum ohne Anschauung, eine Landschaft unlesbar sind? Die Landschaft erfüllt nicht ihre Aufgabe, die darin

29 Vgl. A. Hahn: Das Wohnen des Menschen im Raum einer landschaftlichen Gegend. 30 T. Sieverts: Zwischenstadt, S. 69. 31 A.a.O., S. 139. 32 A.a.O., S. 13.

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gesehen wird, ohne Hilfe verstanden zu werden. Das gesehene Bild entfaltet keinen Sinn. Das heißt aber auch, dass die Planungswissenschaften immer schon die Lesbarkeit von Landschaft und ihrer Sinngestalt voraussetzen. Dabei meinen sie natürlich die Lesbarkeit, in die sie selbst einmal professionell eingeführt wurden. Erst unter dieser Prämisse kann überhaupt eine Landschaft als (un)lesbar qualifiziert werden. Nur so werden dem Architekten Aufgaben der „Qualifizierung“ von Räumen erkennbar, nämlich gestalterisch in Bestehendes einzugreifen und es zu verändern. Planungen und Eingriffe des Architekten dienen in ihrem Selbstverständnis der Ordnung des mutmaßlich Ungeordneten. Ohne diese „Methode des Lesbarmachens“ (Entwerfen im Stil einer Planergemeinschaft) könnte sich eine Planungswissenschaft nicht orientieren und unter den einzelnen „Gegenständen“ zurechtfinden. Das darin waltende Verfügungswissen von Bild und Gestalt beansprucht den Vorgriff auf die Zukunft. Die „Lesbarkeit“ von Räumen wird mit „Konzepten“ flankiert, die einem vermeintlich sinnfreien Gegend erst eine „Adresse“ verpassen und „innere Bilder“ spenden, die die Bewohner dankbar aufnehmen, um endlich ein glückliches Leben führen zu dürfen. Aber ein räumliches Leben, und jedes Leben ist räumlich, kommt ohne Orientierung gar nicht aus. Die Maßstäbe zur Orientierung, die sich auf die abstrakte Ordnung der Planbarkeit berufen, nehmen ihr Maß dabei nicht am konkreten gelebten Eindruck „räumlicher“ Praxis. Darin liegt offensichtlich die lebensweltliche Ferne dieser raumplanerischen Konstruktionen des Ordnung-schaffens und ihres professionell eingeschränkten Anschauungshorizonts. In diesen und ähnlichen Fällen hätte man sicherlich davon ausgehen dürfen, dass die Menschen in ihren Alltagslandschaften Orientierungswissen besitzen, d.h. begründen können, warum sie dort hingezogen sind und wie es ist und was es ihnen bedeutet, hier zu wohnen.33 Mit anderen Worten: jede durch Wohnen geprägte Gegend ist immer schon räumlich erlebt und unter Hinsichten pragmatischer Bedeutsamkeit angeeignet. Jedes einzelne Wohnen ist eine Auslegung der uns allen gemeinsamen Überzeugung, dass unser Wohnen gelingen soll. Aber welche Erfahrungen im Einzelnen dabei gemacht wurden, dies modifiziert wiederum den transsubjektiven Erwartungshorizont, auf was es „uns allen“ beim Wohnen ankommt.34 Es fehlt also, das sollte das Beispiel „Zwischenstadt“ zeigen, eine gezielte Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für diejenigen Überzeugungen, die Menschen beizubringen imstande sind, um ein gutes und gelingendes

33 Vgl. A. Hahn/M. Steinbusch: Zwischen Möglichkeit und Grenze, sowie A. Hahn: Suburbane Räume „als“ Lebensräume - Das Beispiel eines hermeneutischen Zugangs zum Raumphänomen, in diesem Buch S. 223-240. 34 Vgl. A. Hahn: Übersicht zu einer Philosophie des Wohnens, in diesem Buch S. 45-64.

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Leben (wohnen, arbeiten und frei verfügbare Zeit verbringen) sich zu ermöglichen.

P LANENDE V ERNUNFT

UND VERNÜNFTIGES

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Architekten und Städtebauer machen Angebote, die für die Zukunft versprechen, einem Gebiet und ihren Bewohnern eine erfreuliche Adresse zu verschaffen. Ohne diese Taten, so wird behauptet, könnten sich die Menschen nicht mit ihrer Gegend identifizieren. Wir haben es aber hier mit Orten zu tun, an denen sich menschliches Handeln in gelebter Zeit vollzieht. Gemeinsam ist aller Planung, so sehen wir, nicht allein der gestalterische Ordnungsbezug zum Raum, sondern ebenso die Haltung zum Phänomen „Zeit“. Denn es geht beim Gestalten und Um- bzw. Neuschaffen technischer Gebilde wie Straßen, Gebäude, Kraftwerk, Golfplatz, Erlebnislandschaft oder Siedlungsanlage offensichtlich ferner darum, überlegt für etwas Zukünftiges zu sorgen, was ansonsten nicht eintreten würde. Dafür ist es notwendig, Gegebenheiten und Umstände zu kontrollieren, sie zu beherrschen. Den „ethischen Gehalt“ von Planung sah Hans Freyer vor allem in ihrem Umgang mit einer bestimmten geschichtlichen Lage: der Gegenwart. Er schrieb: „(I)n das Werk der Planung geht diese geschichtliche Lage keineswegs nur als Baustoff ein, sondern als Gegenwart, der eine bestimmte Zukunft entrungen wird.“35 Während die Geschichte bis zum Aufkommen der Planung im 19. Jahrhundert sich planlos, zufällig und absichtslos einstellte, da die jeweils gegenwärtige Ausgangslage stets vielfältige Anknüpfungspunkte lieferte, bringt Planung erstmalig die Idee einer sinnvollen Ordnung hervor. Aber natürlich ist diese Ordnung willkürlich. Durch Planung wird die vorgefundene Lage „geschichtlich verändert“. Für Freyer ist der Plan deshalb Symbol, dass „Geschichte nicht nur geschieht, sondern getan wird“36. Denn dem Plan liegt eine Entscheidung zugrunde. Diese Entscheidung bezieht sich weniger auf die Gegenwart einer Lage als vielmehr auf die Zukunft, die mit dem Plan als machbar vorgestellt wird. Planung ist also immer die Entscheidung für die Zukunft und gegen die Gegenwart, denn dieser wird nicht zugetraut, von sich aus eine vorgestellte Entwicklung zu durchlaufen. „Wer herrscht, macht den Plan. Und wer plant, der gestaltet die Zukunft“37, hat Hans Freyer vor 80 Jahren schon festgestellt. Entwürfe und Planungen neh-

35 H. Freyer: Herrschaft und Planung, S. 22. 36 A.a.O., S. 24. 37 A.a.O., S. 17.

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men eine Zukunft vorweg, so dass die Gegenwart zwangsläufig einen Übergangscharakter annimmt. Gewissermaßen dahinter sind geschichtsphilosophische Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklungstendenzen angesiedelt, die uns in einer ethischen Debatte ebenfalls zu beschäftigen haben. Die planende Vernunft überlässt jedenfalls nichts dem geschichtlichen Zufall, sondern sie greift bewusst korrigierend in den ungeplanten Lauf der Dinge und Zeiten ein.38 Gegenüber jeder planenden Vernunft müssen wir das Ethos der praktischvernünftigen Lösung aktivieren. Wir müssen die Ansprüche eines Verfügungsund Machbarkeitswissen zurechtstutzen, da es uns heute deutlicher als früher vor Augen steht, dass Planen als ein Handeln zu begreifen ist. Ein Verfügungswissen allein kann uns in Situationen, in denen wir als Planer uns entscheiden müssen, nicht helfen. Der moralische Wille und Entschluss zeigen sich in der Handlung (einschließlich der Redehandlung), drücken sich in ihr aus. Was zunächst allein möglich ist, nämlich aus Gewohnheit sich am Guten zu orientieren, wird wirklich erst im Tun oder Unterlassen. Planen als Handeln, nicht als Machen, ist ein interpretierendes Gestalten moralischer Dispositionen.39 Wir können als verantwortlich Handelnde in Staat und Gesellschaft keine Ethik delegieren. Wir sollten aber den selbständig agierenden Individuen die Bereitschaft unterstellen, sich das Allgemeine einer gelebten Moralität zur eigenen Sache machen zu können. Was aber ist das Allgemeine unserer Planungsmoralität? Bei Hegel heißt es an einer Stelle seiner Rechtsphilosophie: „Die Vorstellung meine oft, daß der Staat ‚durch Gewalt’ zusammenhänge, aber das Haltende ist allein das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben’ (§ 268 Z)“40. Gibt es auch im Bereich von Entwurf und Planung ein Grundgefühl, das ethischen Halt verspricht. Und wenn nicht, ließe sich ein entsprechendes Grundgefühl erzeugen? Ich werde im abschließenden Kapitel darauf näher eingehen.

38 Vgl. dazu F. H. Tenbruck: Zur Kritik der planenden Vernunft. 39 „‚Praxis‘ ist allgemein und in dem gleichen Sinne wie ‚Ethos‘ auf Lebewesen überhaupt bezogen. Leben als Lebensvollzug und Lebensweise und so Tätigsein, Handeln als ‚Bewegung‘, die einem Lebendigen je eigentümlich und für es sein Dasein ist. Aristoteles grenzt Praxis deswegen vom ‚Herstellen und Machen‘ (poiesis) ab […]“, J. Ritter: ‚Politik‘ und ‚Ethik‘ in der praktischen Philosophie des Aristoteles, S. 117. „‚Sich-im-Handeln-orientieren‘ heißt letztlich, einen pragmatischen Imperativ (situationsadäquat) formulieren zu können. Leute mit starker Selbstorientierungsfähigkeit wissen also nicht nur, ‚wo`s langgeht‘. Sondern `wissen sich auch zu helfen`, indem sie sich gut beraten bzw., beraten lassen und – last but not least – sie können selbst beratend tätig werden“. In: A. Luckner: Klugheit, S. 46. 40 J. Ritter: Metaphysik und Politik, S. 308.

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Wir haben schon am Beispiel der „Zwischenstadt“ über Ordnung gesprochen. Jede angewandte Wissenschaft und jeder darin Tätige sind in seiner Berufspraxis mit Informationen konfrontiert, die sie verstehen muss, aber nur, indem sie auswählen, ausscheiden, wieder vergessen, Einsichten reifen lassen.41 Bis sie in einem konkreten Fall alle Informationen in eine Ordnung gebracht haben, liegen Prozesse des Auswählens, Interpretierens und Wertens hinter ihnen. Dabei lässt sich kaum unterscheiden zwischen dem Wissen und den Informationen, auf denen der Experte sein Können aufbaut, und den Erkundungen, Schlussfolgerungen und Einsichten, die auf seinem praktischen Urteilsvermögen beruhen.42 Keine Forschung ist in der Lage, entsprechende Verhältnisse auf eine reine Beobachterperspektive hin zu isolieren. Der Zusammenhang von angewandter Wissenschaft und praktischer Moralität stellt sich immer erst konkret im Handeln ein, so dass sich vermeintliche Lücken nicht unter Laborbedingungen identifizieren und mit „richtigem Verhalten“ füllen lassen. Wir müssen immer wieder einsehen, dass praktische Anwendungssituationen, denn nur auf sie kommt es an, sich nicht künstlich herstellen lassen. Moralität ist eine praktische Einstellung, die sich in Handlungszusammenhängen und ihren Lösungen äußert und vollzieht. Das macht es denn auch so schwierig, hier z.B. mit einer expliziten EthikForschung durchzudringen. Moralische Einstellungen verwirklichen sich nur in jeweiligen situativen Äußerungen eines vernünftigen Planens. Solche Ausdrucksformen des moralischen Willens sind aber nicht bloße Anwendungen oder logische Ableitungen einer ethischen Position und ihrer Prinzipien. Es gibt hier kein Rezeptwissen. Denn die konkreten Verstrickungen des moralisch Handelnden in Situationen und Widerfahrnisse43 sowie die dabei anfallenden Verständnisprobleme und Entdeckungen sind unhintergehbar, sind unplanbar. Auf den Punkt gebracht: Wahrnehmen, Betrachten, Nachdenken, Begutachten, Verwerfen, Werten, Schlussfolgern, Entwerfen, Planen, Entscheiden – das alles ist Praxis! Praxis aber ist nicht Anwendung von Wissenschaft. Praxis hat ihre eigenen Quellen und Vollzüge, Einsichten und Überzeugungen.44 Die uns als Gewohnheit überkommene Moralität, die mit anderen geteilten „Werturteile“ müssen in jeder Situation von uns neu überprüft und ausgelegt werden. Dieses Vermögen habe ich situative Selbstorientierungskompetenz genannt. Diese Kompetenz lässt

41 Vgl. H.-G. Gadamer: Theorie, Technik, Praxis, S. 264. 42 Vgl. F. Kambartel: Philosophie der humanen Welt. 43 „Die Praxis als Tun ist immer das Tun des Einzelnen – nicht der Mensch, sondern dieser Mensch handelt […]“, J. Ritter: Metaphysik und Politik, S. 85. 44 Vgl. H.-G. Gadamer: Geschichte des Universums und Geschichtlichkeit des Menschen, S. 280.

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sich üben, am besten, indem man die eigenen Entscheidungen wieder und wieder hinterfragt und zu ihren Folgen Stellung bezieht. Wir können uns beraten und Alternativen durchdenken. Aber entscheiden, was hier und jetzt das Richtige ist, muss schließlich immer der Mensch selbst, nicht ein allgemeines Prinzip, weder eine angelernte Regel noch irgendein abstraktes Gesetz.

E NTWERFEN UND B EGRÜNDEN Es ist nun, unter Berücksichtigung des oben Ausgeführten, zu klären, inwiefern Ethik ebenso wie z.B. Statik und Materiallehre zu den theoretischen Wissenschaftsfeldern zu zählen sind, die Architektur als eine „angewandte Wissenschaft“ aufzubereiten hätte. Werden wir den Anforderungen der Praxis des Entwerfens und Planens gerecht, indem wir eine angewandte Ethik in den lehr- und lernbaren Aufgabenbereich des Architekten unterbringen? Wie immer diese Frage beantwortet wird, so bleibt daneben – als weiteres Problem – eine „moralisch“ relevante Entwurfsforschung. Diese hat nicht die Ethik im Fokus, sondern das Handeln des Architekten. Insofern wir es beim Entwerfen und Planen „immer schon“ mit einer Praxisform45 zu tun haben, liegen auch moralische „Urteile“, nicht unbedingt ethische Aussagen, vor uns. Irrgang weist auf die individuelle Geschichtlichkeit des moralischen Könnens hin, wenn er in seiner „Hermeneutischen Ethik“ davon ausgeht, dass derjenige, der eine konkrete Verpflichtung formulieren und begründen soll können, schon selbst einmal entsprechende Verpflichtungserfahrungen als Handelnder gemacht haben muss: also über zumindest „implizites Umgangswissen“ mit Verpflichtungen verfügt. Er kann dann zumindest wissen, dass von ihm irgendetwas verlangt wird, was sein Handeln beeinflussen soll.46 Unter Rückgriff auf die Spätphilosophie Wittgensteins hat sich für das Verständnis der Möglichkeitsbedingung jeder sprachlich basierten menschlichen Praxis der Begriff der „Lebensform“ etabliert.47 Er ist auch für meine Überlegungen wichtig. Im Zusammenhang einer pragmatisch-holistischen Ethik hat Friedrich Kambartel den Begriff verwendet: „Unter einer ‚Lebensform’ will ich eine Weise der Orientierung verstehen, welche alle unsere Lebenssituationen

45 Zum Begriff „Praxisform“ vgl. P. Stekeler-Weithofer: Was ist eine Praxisform?, besonders S. 188. 46 Vgl. B. Irrgang: Hermeneutik und Ethik, S. 269; Hermeneutische Ethik, S. 34 und S. 45. 47 Vgl. den begriffsgeschichtlichen Überblick bei T. Rentsch: [Artikel] Lebensform.

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und Lebensverhältnisse durchzieht; welche immer zur Anwendung kommt, oder doch immer zur Anwendung kommen kann. So sind etwa Einstellungen zum Leben zu verstehen. Und man kann auch die Ansprüche der Moralität, das Ethische, eine Form des Lebens nennen. Moralisch kann man, das scheint eine angemessene Feststellung, nicht nur in bestimmten Bezirken des Lebens oder der Verhältnisse sein. In diesem Sinne jedenfalls ist das Moralische universal.“48 Damit ist der Begriff des Ethos wieder ins Spiel gekommen, nun ausgedeutet als Lebensform. Entwerfen und Planen sind Leistungen innerhalb einer Lebensform und als solche auch an eine „dogmatische Denkform“49 gebunden. Das jeweils normativ Wirkende kann jedoch nicht einfach wiederholt, sondern muss praktisch ausgeführt und situativ der Besonderheit des vorliegenden Falles angepasst werden. Denn dieser Entwurf soll hier und jetzt gelingen. Er muss vor dem Urteil des Entwerfenden bestehen, indem er gewisse „Form“-kriterien erfüllt. Was macht das Besondere des praktischen Urteilens aus? Woran nimmt der Urteilende, der Entwerfer/Planer, Maß? Er kann es nur der Lebensform selbst entnehmen, in welcher er seine Praxis vollzieht und sein Werk beurteilt.50 Als dieser Mensch, aber auch als dieser Entwerfer und Planer, steht er in Erfahrungs- und Orientierungszusammenhängen, die er in lernender und abgrenzender Auseinan-

48 F. Kambartel, Begründungen und Lebensformen, S. 47. 49 E. Rothacker: Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus. 50 Einen Einblick in die Praxisform „architektonisches Entwerfen“ einschließlich ihrer Redehandlungen unternimmt Henrik Hilbig, indem er versucht, sich über sein Tun klar zu werden. Dafür formuliert er einen Subtext, der seine Entwurfsentscheidungen aus der Perspektive der „Institution“ Architektur nachvollzieht. Dabei hat er seine auf Papier gebrachten Skizzen vor Augen und begründet die im Plan dargestellten Sachverhalte. „Die fokale Aufmerksamkeit ist auf das Erscheinen der Skizze als Ganzheit gerichtet. Und mit dieser taucht für den Architekten im Gegensatz zum Laien nicht nur die Zeichnung als solche auf, sondern eine ganze dreidimensionale Welt. Gleichzeitig besaß der Zeichner Kriterien, Bilder und Begriffe, an denen sich jede noch zu ziehende Linie zu messen hatte.“ H. Hilbig: Was Fahrradfahren, wissenschaftliche Erkenntnis und ein Hotelentwurf miteinander zu tun haben, S. 318 (Hvhg. durch mich). „Architekt“ ist also der, der mit dieser „ganze(n) dreidimensionale(n) Welt“ einmal vertraut gemacht wurde. Dies zeigt er durch den gekonnten Gebrauch von Worten und Gesten („Kriterien, Bilder und Begriffe“), mit denen beim Reden auf das in Skizzen Dargestellte gezeigt wird.

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dersetzung mit Anderen sich erworben hat.51 Sein „Urteilsvermögen“ ist immer schon geschult an den zustimmenden und ablehnenden Kommentaren anderer Mitwissender und Mitentwerfender, wobei das Zustimmen und Ablehnen selbst wiederum eingespielte Praxisformen sind. Was ein Entwurf oder Plan überhaupt bedeuten kann, ist festgelegt in dem sprachlich überlieferten Bedeutungshorizont architektonischer Gestaltungen und ihrer Auslegungen.52 Mit dem Begriff der Lebensform unterstellen wir, dass Menschen auch in praktischen Norm- und Wertzusammenhängen handeln, auf die sie in bestimmten Situationen zurückgreifen (können). Aber Entwerfen und Planen sind Praxisformen, in denen wir trotz des vielen Gewohnten auch wieder „einmalig“ stehen. Wie wir aus Erfahrung wissen, kann jeder zu verhandelnde Fall doch wieder anders liegen, so dass der Rückgriff auf Gelerntes oder sonst wie schon Angeeignetes nicht reflexartig geschehen kann, sondern der Handelnde sich zunächst seiner Situation und Lage und ihrer Umstände bewusst sein muss, die eine bestimmte Reaktion als die hier und jetzt richtige und angemessene Entscheidung aufkommen lässt und begründbar macht. Im Entwerfen und Planen zeigen wir,

51 Stekeler-Weithofer verweist hier auf die nicht zu unterschätzende Bedeutung des durch andere vermittelte und begleitete Vertrautwerdens mit einer Lebensform und ihrem immanenten Denkstil durch Erziehung und Bildung: „Diese praktische Einführung in ethos und praxis wird in jeder entwickelten Kultur enorm erweitert und vertieft durch eine explizite, zunächst verbale, dann auch schriftliche, Lehre oder mathesis.“ Stekeler-Weithofer: Was ist eine Praxisform?, S. 188. 52 An dieser Stelle kann der Vergleich mit der Sprache bzw. mit der Praxis von Sprechhandlungen nützlich sein. Denn alle Orientierungsverhältnisse sind an die Praxis des „Miteinander-Sprechens“ gebunden, wobei Praxis hier die situative Auslegung im Rahmen des überhaupt Ausdrückbaren meint. Erweiterungen des Rahmens sind möglich, seine Sprengung ist nicht vorgesehen und müsste mit dem Austritt/Ausschluss des „Dissidenten“ aus der Sprachgemeinschaft erkauft werden: „Das Sein des Sprechenden bewirkt, daß dieser sich in Unmittelbarkeit und mit einer gewissen Notwendigkeit in seinem Sprechen situationsgemäß verhält. Bei seinen Sprachhandlungen bleibt im Normalfall kein Platz für Reflexionen darüber, wie er eigentlich hätte sprechen ‚sollen‘. Gleichwohl aber ist der Aspekt des Sollens immer gegenwärtig und tritt dann in den Vordergrund, wenn der Sprechende neue sprachliche Möglichkeiten zu erschließen im Begriff ist und sich dabei fragt, wie er den dabei sich stellenden sprach-/lichen Aufgaben gerecht werden ‚soll‘. Dann wird er bei der Beantwortung dieser Frage seine individuelle Auslegung der in der Sprachsitte verwirklichten Normen des Sprechens zur Geltung bringen.“ F. Kaulbach: Einführung in die Philosophie des Handelns, S. 38 f.

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dass wir gewisse Normen praktisch beherrschen. Wir verstehen uns darauf, einer der Lösung der Situation angemessenen Regel zu folgen, und darauf kommt es an, wenn das Tun gelingen soll. Es scheint plausibel, dass jeder Architekt und Planer sich diese „Kompetenz des Regelfolgens“ (Stekeler-Weithofer) angeeignet haben muss, nämlich in unterschiedlichen Situationen damit umgehen kann. Doch woran orientiert sich der Architekt und Planer, wenn er die praktische Beherrschung von Normen und Werten qua situatives Urteilsvermögen zeigt? Was sind die überkommenen und wesentlichen Hintergrundüberzeugungen, die die architektonisch relevanten Praxisformen auszeichnen? Wir werden nicht daran vorbeikommen, uns die Praxisform des Entwerfens selbst vorzunehmen, wenn wir die moralischen Vorschriften und deren Gebrauch untersuchen wollen. Eine entsprechend gestellte Aufgabe lässt sich jedoch nicht allgemein begrifflich lösen, sondern nur als Konfrontation mit einer Praxis und denjenigen, die diese beherrschen. Die uns interessierenden Praxisformen Entwerfen/Begründen sind keine empirischen Größen. Allein der Nachvollzug des fallweisen Umgangs mit moralischen Gebrauchsvorschriften, der wiederum bestimmte Situationen und deren Umstände durchläuft, muss zum Gegenstand einer empirischen (beispielhermeneutischen) Analyse gemacht werden.53 Damit etwas, z.B. ein Entwurf, als gut und gelungen beurteilt werden kann, muss es eine „Form“ erfüllen, die niemand allein festgelegt hat. Insofern liegt dem Entwerfen ein Telos zugrunde, das der Entwerfende und andere Mitentwerfende grundsätzlich im Entwurf (wieder) erkennen (können). Wir sagen: das Ziel des Entwerfens ist die Herbeiführung eines (auch durch andere beurteilbaren) Sachverhaltes. Die „Form“ muss immer auch eine Denkgemeinschaft überzeugen, diese muss sich selbst oder zumindest ihre Anliegen in dieser „Form“ wiederfinden (können). Was ich hier „Form“ nenne, entspricht nicht dem konkreten Bild, das eine Entwurfszeichnung aufweist. Es fällt mir allerdings schwer, exakt die Bedeutung (Funktion) von „Form“ zu fassen. Man kann vielleicht sagen, sie gibt eine (dogmatische) Tendenz vor, „wie man etwas bei uns heutzutage macht bzw. darstellt“.54 Unter „Form“ verstehe ich also etwas Charakteristisches, so

53 Vgl. A. Hahn: Prinzip und Beispiel in der Architekturtheorie. 54 Dies scheint mir auch Henrik Hilbig ausdrücken zu wollen, wenn er seine eigenen Entwurfsentscheidungen nachzuvollziehen versucht: „Im Hotelbeispiel bildeten die Kenntnisse der aktuellen Architekturtendenzen am Ende der 1990er Jahre die Grundlagen für die Entscheidungen. Die ‚Swiss Box‘ hatte ihren Zenit überschritten und / die 1990er Stahl-Glasarchitektur, wie sie an der Uni des Entwerfers damals noch en vogue war, wurde gerade abgelöst von freieren Formen. […] Es war eine all diesen

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dass zwei Entwürfe einschließlich der vom Entwerfer vorgebrachten Beschreibungen/Auslegungen einander ähnlich sein können gerade darin, dass sie etwas Gemeinsames, eine Familienähnlichkeit, zeigen, ohne dass nur ein Entwurfsdetail bei beiden identisch sein muss. Die „Form“ gibt es nur in den konkreten endlichen Konstruktionen und Beschreibungen (Interpretationen, Deutungen) derjenigen, die dieser Lebensform und Sprachgemeinschaft angehören. Jeder Architekt steht aufgrund seiner Erziehung und Ausbildung in mit anderen (Architekten und Architekturkritikern einer Zeit) geteilten Orientierungsverhältnissen, die sein Handeln auch mit normativen Ansprüchen belegen. Insofern gebrauche ich an dieser Stelle den Ausdruck Institution Architektur. Es ist aber nicht zu sehen, wie einzelne ethische Aussagen aus dem intersubjektiven und kommunikativen Kontext einer Denk- und Praxisform zu isolieren wären. Ein moralisches Bedenken, z.B.: „diese Form ist nicht gelungen“, taucht ja nicht ohne Vorgeschichte und Anlass einfach aus dem Nichts auf, um anschließend – wie einmal gelernt – analytisch damit zu verfahren. Vielmehr wird sich der Architekt erneut an die Arbeit machen, um die „Form“ als etwas Ganzes nun besser zu treffen.55 So macht man seine Erfahrungen und erwirbt Selbstorientierungskompetenz. Der unbedingte Appell an jemandes Urteilskraft, der zur Praxis des Entwerfens gehört, ist stets eingebunden in einmalige Anlässe des entwerferischen Umgangs mit einer konkreten Entwurfsaufgabe, also mit dem, was hier und jetzt im Horizont anfallender Bedingungen ansteht.56 Ohne Aufmerksamkeitsbereitschaft für entsprechende Gelegenheiten und drängende Umstände, die den Entwerfer auch stimmungsmäßig berühren, lässt sich eine moralische Situation nicht nachvollziehen. Ich möchte vorschlagen, sich der nicht isolierbaren Praxiselemente des moralischen Tuns und Unterlassens explorativ zu nähern. Dafür lautet meine These: Architektonisches Entwerfen ist eine transsubjektive („objektive“,

Beispielen innewohnende, gemeinsame Gestalttendenz, die dann wirksam werden sollte.“ H. Hilbig, Was Fahrradfahren, wissenschaftliche Erkenntnis und ein Hotelentwurf miteinander zu tun haben, S. 318 f. (Hvhg. durch mich) 55 „Es fehlte irgendwie noch der ‚Schönheitsaspekt‘, die ‚große Geste‘, die ‚gute Form‘, Prägnanz. Der Entwurf stimmte noch nicht. Mit hoher / Wahrscheinlichkeit waren es Zaha Hadid und Ben van Berkel, die mit weisendem Finger im Hintergrund standen.“ H. Hilbig: Was Fahrradfahren, wissenschaftliche Erkenntnis und ein Hotelentwurf miteinander zu tun haben, S. 324 f. 56 Vgl. A. Hahn: Das Entwerfen als wissenschaftliches Handeln der besonderen Art, in diesem Buch S. 127-141.

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nicht universelle) Praxisform57, zu der Behaupten, Urteilen und Begründen gehören. Dass zur Praxis des Entwerfens sicherlich auch die des Redens und Denkens gehört, daran hätte eine explorative wissenschaftliche Einstellung anzusetzen. Wir haben oben schon ausgeschlossen, dass es bei der uns interessierenden Praxis um ein Entwerfen/Planen allein nach gesetzten und so lehr- bzw. lernbaren Vernunftkriterien zugehen kann. Dies widerspricht unserer Vorstellung von einer Praxisform. Ich meine, es sollte uns um das „vernünftige“ Entwerfen gehen, einschließlich des vernünftigen Redens und Denkens. Was heißt es, entsprechend den gültigen Vereinbarungen der Institution Architektur, vernünftig zu entwerfen (zu handeln)? Voraussetzung ist allemal, dass wir Aussagen oder Behauptungen, die wir über einen Gegenstand treffen, als wahr von anderen Behauptungen, die wir als falsch beurteilen, unterscheiden können. Kamlah und Lorenzen gehen dabei folgende Frage näher an: „Wie können wir entscheiden, ob eine Aussage wahr ist oder nicht, wo finden wir das hier erforderliche ‚Kriterium’?“58 Wie wir sehen werden, schlagen sie, statt den Terminus „wahr“ zu definieren, vor, das Verfahren der interpersonalen Verifikation einzuführen. Zunächst einmal ist zu sehen, dass nur derjenige der Wahrheit nachgehen und sie prüfen kann, der selbst sowohl sprachkundig ist, als auch den Sachverhalt versteht. Das ist potentiell derjenige, der ebenfalls der entsprechenden Lebensform und Sprachgemeinschaft angehört.59 In unserem Fall könnte eine Forschergemeinschaft überprüfen, wer in Angelegenheiten des architektonischen Entwerfens über getroffene Aussagen und Behauptungen von wahr oder falsch urteilen kann. „Es soll nicht bei irgend jemandem angefragt werden, der mit uns dieselbe Sprache spricht und der in irgendeiner Weise als Autorität gilt (wie in alter Zeit die Dichter oder die Priester), sondern nur bei einem sachkundigen und vernünftigen Beurteiler. Wenn dieser Urteiler Autorität hat, so soll sich diese aus nichts anderem als seiner bewährten Vernunft und Sachkunde herleiten. Wir normieren die Verwendung der Wörter ‚wahr’ und ‚falsch’ also in der Weise, daß wir einerseits anknüpfen an die Umgangssprache oder an überlieferte vorwissenschaftliche Sprachen und daß wir andererseits kritisch über solche Sprachen hinausgehen zur

57 Den Begriff „transsubjektiv“ entnehme ich einem Aufsatz von F. Kambartel: Moralisches Argumentieren, S. 60. 58 W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens, S. 117. 59 „Der befragte Beurteiler […] soll dieselbe Sprache sprechen wie der Fragende, er soll sachkundig und vernünftig sein.“A.a.O., S. 118.

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Sprache von Wissenschaft und Philosophie.“60 In der Regel kann der architektonische Laie einem Entwurf nicht ansehen, ob er gelungen ist, d.h. der Bauaufgabe gerecht geworden ist. Erst im Gebrauch von Architektur macht er darin seine Erfahrung. Wer kann aber in der Entwurfspraxis selbst als vernünftiger Beurteiler auftreten, wenn es um Fragen des Wahren und Falschen geht? Vielleicht könnten der Entwerfer in selbstkritischer Einstellung, besser noch ein entwerfendes Team genau diese Funktion übernehmen.

ANHANG : S KIZZEN

ZU EINER

F ORSCHUNGSPERSPEKTIVE

Jeder Strich, jede Skizze oder Figur ist eine Behauptung, insofern entsprechende Darstellungen einen Sachverhalt ausdrücken (sollen). Derjenige, der etwa behauptet, die auf dem Papier ausgeführte Darstellung eines (architektonischen oder städtebaulichen) Sachverhaltes sei nicht willkürlich, sondern nachprüfbar vernünftig, sollte dazu in der Lage sein, dies zu begründen. Er muss dann „nachweisen“ können, dass sein Entwurf Anteil hat an der „Form“, die einer Lebensform und Sprachgemeinschaft als paradigmatisch gilt. Deshalb ist jedes „vernünftige Reden“ auch „begründendes“ Reden.61 Damit das begründende Reden nicht in der jeweiligen Praxis als ein begründendes Denken (stilles Reden) oder intuitives Meinen verborgen bleibt, hätte Forschung dieses begründende Reden in praktischen Entscheidungssituationen zu untersuchen. Etwa zu fragen: Worin besteht denn hier die Übereinstimmung von zeichnerischem Entwurf und „Form“? Und: Wie und wodurch wird hier diese Homologie sichergestellt? Usw. Denn dieses „Miteinander-Reden“ (das Sprachspiel) nimmt Bezug sowohl auf das „Bild“ dieser Entwurfszeichnung als zugleich auch auf die „Form“ (als Ausdruck einer „Handlungsvorschrift“ oder dogmatischen Haltung), der der Entwurf ja entsprechen soll, indem er sie mit darstellt, ansonsten könnte er keine Anerkennung durch die Community der Entwerfer finden.62 Denn die Behauptung lautet: dieser Entwurf drückt die

60 A.a.O., S. 122. 61 „Wir nennen einen Menschen vernünftig, der dem Mitmenschen als seinem Gesprächspartner und den besprochenen Gegenständen aufgeschlossen ist, der ferner sein Reden nicht durch bloße Emotionen und nicht durch bloße Traditionen oder Moden, sondern durch Gründe bestimmen läßt.“ A.a.O., S. 127. 62 Sollte sich die „Form“ nicht mehr in den bislang anerkannten Grenzen variieren lassen, dann kann der Entwurf durchaus überraschen. Er kann sogar derart überragend

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„Form“ mit aus. Er bewegt sich eigenständig in „dem Rahmen“, von dem die Institution Architektur überzeugt ist, dass er „gut“ ist und sich bewährt hat. Die „Form als solche“ bekommen wir natürlich nie zu Gesicht, wir haben es immer nur mit konkreten Auslegungen dieser Form zu tun. Es ist deshalb ein Forscher als nicht-am-Entwerfen-teilnehmender Beobachter und Sprechender vorzusehen, der praxisnah in die Rolle des Dialogpartners immer dann (situativ) eintritt, wenn er Begründungen dafür verlangen kann, mit welcher „transsubjektiven Orientierung“ (Kambartel) sich die Übereinstimmung von „Form“ und Entwurfsbild rechtfertigen lassen soll.63 In einem Gespräch findet dann – idealerweise – eine gemeinsame (explizite) Rekonstruktion (Interpretation) des (impliziten) „sittlichen Umgangswissens“ (Irrgang) um sittliche Verpflichtungen im Hinblick auf Handlungsentscheidungen, die beim Entwerfen anfallen, statt.64 Eine entsprechende Forschung wird dann auch auf die typische Verwendungsweise der Sprache stoßen und sehen, wie das Entwerfen vom spezifischen Gebrauch bestimmter Wörter („das passt“, „passt nicht“; „hier harmoniert es“, „dort nicht“ usw.) begleitet wird.65 In diesem kreativen Können, die „Formvorgabe“ situativ zu modifizieren, sehe ich die Selbstorientierungskompetenz des Architekten als Entwerfer „prak-

(überzeugend) sein, dass er zum Prototyp oder Musterbeispiel für eine „neue Form“ mit „neuen“ entwerfenden Mitstreitern wird. 63 Wenn wir unter „Form“ den von der Institution Architektur anerkannten Denk-Stil und unter konkretem „Bild“ einen individuellen Denk-Stil einer Person, die gleichwohl „Mitglied“ dieser Institution ist, verstehen, dann haben wir es mit zwei Konzepten, Sachverhalte „richtig“ darzustellen und zu begründen, zu tun, die miteinander in Einklang stehen sollen. Im architektonischen Entwurf stellen Stile sich selbstverständlich auf eine architektur-spezifische Weise dar. Es stehen sich Entwerfer und Kritiker gegenüber. I.d.R. kann jedes Mitglied sowohl Entwerfer als auch Kritiker sein. Der Entwerfer verteidigt sein Bild, der Kritiker die Form. 64 Dem entspricht auch eine methodische Vorgabe von Irrgangs hermeneutischer Ethik. Er spricht davon, dass „die Hin- und Herbewegung zwischen Einzelfall und faktisch (sozial) geltenden Normen“ „grundlegend für eine hermeneutische Verfahrensweise ist“, B. Irrgang: Hermeneutik und Ethik, S. 272. Nur stellen sich die „Normen“ im Entwurf auf eine architektur-spezifische Weise dar. 65 Dieser Zusammenhang von Plan-lesen und Plan-kommentieren durch den Entwerfer hat Stefan Nothnagel untersucht. Dabei fällt auf, dass Worte wie „Passen“ und „Nichtpassen“ ein Gefühl („Gestaltungsgefühl“) zum Ausdruck bringen, das der Gesamtgestalt eines Entwurfs entgegen gebracht wird. Siehe: S. Nothnagel: „Zwischen Klischee und Möglichkeit. Die Gestalter im Vergleich, S. 264.

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tisch in Aktion“. Selbstorientierungskompetenz heißt in den Orientierungsverhältnissen einer Lebensform gekonnt-pragmatisch sich bewegen. Und über die Begründungen erlangen wir (die an der Institution Architektur Interessierten) einen Zugang auch zu den Hintergrundüberzeugungen, die der Lebensform (Institution) zugewachsen sind, aber normalerweise unthematisch bleiben. Es geht dieser hier nur knapp skizzierten Forschung allein um das mögliche Explizitmachen dieser „Wahrheit der Form“. Das soll nicht unterstellen, dass jeder Entwurf, der Anteil an der „Wahrheit der Form“ hat, auch im späteren Gebrauch des nach diesem Entwurf gebauten Gebäudes „wahr“ ist. Diese Wahrheit erschließt allein die Praxisform Wohnen.

Atmosphären entwerfen? Zur Hermeneutik des Erlebnisses von Landschaftlichkeit

Bei jeglicher Auseinandersetzung mit den Themen Mensch und Raum, Stimmung und (räumliche) Stimmigkeit kann deutlich gemacht werden, wie sich die Architekturtheorie dabei ausrichten muss. Nicht die Architektur oder die gemachte Landschaft, ob als Artefakt, Gebäude, Kunstwerk oder Gegenstand, steht im Mittelpunkt der Disziplin, sondern der Mensch in seinem Verhalten und Verhältnis zu sich und zu den Dingen seiner Welt. Gebäude und Landschaften sind in der Welt und nicht etwa sind Architektur und Landschaftsarchitektur eine Wirklichkeit und Welt für sich. Diese Welt- oder besser: Lebensweltthese bedeutet, dass die Wirksamkeit des architektonischen Raums in seiner unmittelbar vernehmbaren Wirklichkeit den Menschen betrifft. Die Wirksamkeit des Wirklichen, nämlich dass Wirkliches mich um-stimmen kann, lässt sich durchaus nicht als schlicht „empirisch-vorkommend“ greifen und manipulieren. In der Wirklichkeit z.B. einer besonderen „Stimmung“ zeigt sich der Mensch abhängig und angreifbar von Weltlichem wie z.B. der „dicken Luft“, die unter den Versammelten eines Planungsteams herrscht, wie von „Natürlichem“ wie dem „strahlenden Blau“ des Himmels, das der Mensch auch nicht beherrscht. Der faktische Bezug des Menschen in der ganzen (emotionalen wie reflexiven) Vielfältigkeit seiner Welt zur Architektur beschreibt die Aufgaben der Architekturtheorie. Und das „Erleben von Atmosphären“ bzw. das Erlebnis von Landschaftlichkeit ist eine bestimmte Weise, wie der Mensch zu sich, zur MitWelt und zu den Dingen seiner Welt ist. Erlebend begegnen wir den baulichen Gestaltungen, ob sie nun in der Stadt, auf dem Dorf oder auch in Landschaften vorzufinden sind. Wie wir jeweils sind und uns fühlen, das macht die Situation aus, so wie sie uns widerfährt, wie wir mit ihr umgehen. In unseren Alltagslandschaften finden wir uns dabei umgeben von Häusern, Bäumen, Straßen und anderen Menschen. Erlebend bei den Dingen sein heißt mitten unter ihnen sein, heißt in ihrer Umgebung anwesend sein.

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Was soll im Nachfolgenden unter erleben und Erlebnis verstanden werden? Erleben als das gestimmte, affektive Verhalten ist ein Betroffen-werden und ein Mitgehen zugleich. Es schließt mir meine (räumliche) Umwelt auf bezüglich der Lage in der Welt, in der ich mich befinde. Etwas erleben und von etwas in bestimmter Weise bewegt werden ist dasselbe. Ich zitiere Hans Lipps: „‚Erlebnis’ meint das, wo man dabei ist. Nur in der Welt kann etwas erlebt werden. Gefühle, Affekte usw. können nur daraufhin als Erlebnisse benannt werden, als man sich ‚unangenehm berührt’, ‚bedrückt’, ‚erheitert’ usw. fühlt durch dasjenige, was man insofern ‚erfährt’. Nur sofern man sich ‚irgendwie’ ‚be-findet’, gibt es so etwas wie das Sich-erschließen oder Sich-verschließenlassen der Welt.“1 Erlebnisse setzen also das Sich-befinden-in der Welt voraus. Gefühle und Affekte sind „verständlich“ auf dem Grunde dieser spezifischen Befindlichkeit. Nur deshalb kann man weinen über etwas, was einen traurig macht, und über das lachen, was einem komisch vorkommt. Erlebnissen, Stimmungen, Atmosphären des Landschaftlichen wohnen stets ein Lebensbezug, eine Bedeutsamkeit inne, die individuell, nämlich im einzelnen Fall, zum Ausdruck kommen können. Wir betreten ein Lokal, in dem eine heitere Atmosphäre herrscht. Damit ist der Ort im Orientierungsraum eindeutig begrenzt. Anders ist es, wenn wir von einer Atmosphäre sprechen, die auf einem Markt- oder Spielplatz gespürt werden kann. Unweigerlich spielt hier die räumliche Offenheit, insbesondere das Spüren von Tages- und Jahreszeit, von Wind und Wetter, hinein. Die Offenheit wird empfunden als die Anwesenheit von Erde, Himmel und Horizont. Man ist in einem offenen Raum anders als in einem geschlossenen. Ich möchte deshalb vorschlagen, insofern unsere Stimmung und unsere Gefühle auf eine nicht-geschlossene Umgebung zwischen Himmel, Erde und Horizont gerichtet sind, von einem landschaftlichen Erleben oder von einem Erlebnis von Landschaftlichkeit bzw. des Landschaftlichen zu sprechen. Landschaftlichkeit erleben heißt sich anwesend spüren im Bann einer himmel-offenen Umgebung. Dieses Verständnis von landschaftlich-gestimmt setzt voraus, selbst leibhaft in der himmel-offenen Landschaft bei dieser Anmutung von Landschaftlichkeit dabei zu sein. Verlässliche vorwissenschaftliche Zeugnisse des Landschaftserlebnisses sind z.B. literarische Beschreibungen, die eine Erfahrung preisgeben, nämlich die, dass und was ein Wissen um ein Erleben des Landschaftlichen überhaupt sein kann. Schaut man sich entsprechende Zeugnisse an, so treffen wir in der Regel auf einen Helden oder Ich-Erzähler, der in reflexiver Haltung (s)ein Landschaftserleben aus einer bestimmten Perspektive darstellt. Die Einheit von Hal-

1

H. Lipps: Die Wirklichkeit des Menschen, S. 32.

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tung in einer Welt und Betroffensein des Helden von einer räumlichen Umgebung, in deren Mitte er sich vorfindet, ist für den Leser evident. Der „Erlebende“ ist immer schon in seine Lebenswelt verstrickt, wenn er bereit ist, von den Anmutungen einer Umgebung landschaftlich sich wecken zu lassen. Der alltägliche Handlungsraum, in dem er eben noch seine Angelegenheiten, Besorgungen und Beschäftigungen erledigt hat, rückt mit einem Mal in den Hintergrund, weil er sich einem Erleben zuwendet, das nur ihn betrifft. Was nur ihn ergreift, macht das Bestimmte dieses Eindrucks des Landschaftlichen aus. „Er meinte leibhaft durch eine Einöde zu gehen, wo es weder Ziel noch Antwort gab. Ein Gefühl der Verlorenheit überkam sein Herz, eine Ahnung von dem Ausweglosen aus dieser Landschaft, die das eiserne Blau des Himmels zudeckte. Nirgends am Wege saftete ein Baum, die Blumen in den Gärten trugen steife Blüten wie aus Wachs, die Blätter raschelten wie Papier, die kurzgehaltenen Rasenstücke breiteten sich aus wie gefärbte staubige Wollteppiche. Mehr denn je ward sich Robert der Verwahrlosung inne, die aus aller Umgebung sprach.“2

In unserem Beispiel findet sich der Held Robert in einer räumlichen Umwelt wieder, die ihm diese plötzlich und auf eine überraschende Weise erlebbar macht. Er spürt sich inmitten eines „Milieus“, vielleicht traumähnlich oder ekstatisch.3 Er „sieht“, „hört“ usw. Dinge nicht mit seinen Augen, Ohren, sondern „leibhaftig“. Sein Empfinden ist hochgradig gestimmt. Der Eindruck und sein Inhalt sind identisch. Das Wovon des Eindrucks zählt nicht irgendwelche Eigenschaften einer jedermann beschreibbaren Landschaft auf. Vielmehr liegt in der Wirkung eine bestimmte Modifizierung, wovon es überhaupt einen Eindruck geben kann. Robert hat die bestimmte Anmutung von Verlorenheit und von Verwahrlosung. Im „Gefühl“ und in der „Ahnung“ meldet sich ein „leibhaftemotionales“ Wissen um das in bestimmter Weise Anmutende. Ein „meinendes“ Gefühl sagt Robert, wie die Dinge jetzt und hier wirklich sind. Die Dinge sind auf eine gegenwärtige und sprechende Weise wirklich, so dass in diesem Gegenwartsraum des Erlebnisses beides: Wirken und Wirklichkeit, zu einer Einheit verschmelzen. Mit dem Phänomenologen Hermann Schmitz ließe sich dieses Ereignis der landschaftlichen Anmutung als „Atmosphäre“ deuten, insofern man mit Schmitz

2

H. Kasack: Die Stadt hinter dem Strom.

3

Zu Traum und Landschaft vgl. M. Foucault: Einleitung, zu Ekstase und Landschaft vgl. L. Klages: Vom kosmogonischen Ethos.

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darin übereinstimmen möchte, dass „im affektiven Betroffensein sich leiblich zu fühlen“ genau dies bedeutet: von „Atmosphären“ ergriffen zu sein.4 Ein beachtenswertes Zitat des Psychologen Rudolf Hippius, das Schmitz in seinem „System der Philosophie“ zustimmend anführt, stellt den Zusammenhang von Erleben und Raum dar: Gefühle haben Raumcharakter „in dem Sinne, daß die gemeinten Zustände Züge aufweisen, die ganz entsprechend dem Erleben konkreter Räume zukommen: ein seelisches Offensein oder Weitsein, ein Erfülltsein oder Leersein ist eben dadurch gekennzeichnet, daß hier ganz entsprechende Erlebnismomente wirksam sind wie beim Erleben von weiten, offenen, leeren oder erfüllten Räumen, Landschaften oder architektonischen Innenräumen […]“5. Für Schmitz erhellt sich an solchen Beispielen das bis zur Paradoxie reichende Phänomen, dass Gefühle „in einem“ und zugleich „um einen herum“ empfunden werden können. Bei Stimmungen und Gefühlen wird der Mensch unmittelbar und aufdringlich angegangen von etwas als Atmosphäre, „in die das ganze Erleben nebst der Umgebung getaucht ist“6. Wir können davon ausgehen, dass auch der in der Geschichte der Raumtheorie behandelte sog genannte „gestimmte Raum“ Schmitz dazu inspiriert hat, seine Theorie des Gefühls- oder Weiteraums auszuarbeiten. Der Terminus „gestimmter Raum“ wurde von dem Psychopathologen Ludwig Binswanger in seiner „Studie über Ideenflucht“ von 1933 eingeführt. Damit ist der „Raum unserer jeweiligen Stimmung oder Gestimmtheit“ gemeint. Es ist der Raum, der jeweils verschieden anmutet. Er lässt sich nicht messen, vielmehr wird er erlebt in seiner Qualität, seinem Ausdruckscharakter, seiner Atmosphäre. In solcher Befindlichkeit oder Betroffenheit ist mir die Welt auf eine ursprüngliche Weise erschlossen. Gefühle beispielsweise drücken eine vorreflexive Verbundenheit des Menschen mit seiner Welt aus. Gestimmtheit bzw. Atmosphäre sind Wesensmerkmale jeden Raumes, Befindlichkeit der Grundmodus des menschlichen In-der-Welt-seins. Sprechen wir nun im Kontext von Atmosphären von Dingen, dann sind immer Dinge im gestimmten Raum gemeint. Ich zitiere Lenelis Kruse: „Die Dinge werden von uns aber nicht in ihren objektiven Dingeigenschaften wahrgenommen, sondern sprechen uns an in ihren 'Charakteren', ihren 'Anmutungsqualitäten', ihren 'Ausdrucksgehalten', ihrer 'Physiognomie'“7. Während ich im Handlungsraum aktiv

4

Z.B. H. Schmitz: Der Leib, der Raum, die Gefühle, S. 51.

5

Rudolf Hippius zitiert bei H. Schmitz: Der Gefühlsraum, S. 185.

6

A.a.O., S. 239.

7

Vgl. L. Kruse: Räumliche Umwelt, S. 65.

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auf eine Aufgabe konzentriert bin, überwältigt mich im gestimmten Raum eine bestimmte Anmutung. Obwohl Schmitz mit dem Ausdruck „Atmosphäre“ einer alltagsweltlichen Auffassung nahekommen mag, die in einer räumlichen Situation, in der Freude herrscht, vor lauter Hingabe das eigene Vermögen, an dieser Freude überhaupt teilnehmen zu können und wollen, vergisst, so bildet diese Metapher der Atmosphäre doch vor allem die Nichtbeherrschbarkeit und Unausweichlichkeit von Wetterphänomenen ab. Damit ist für Schmitz verbunden die Möglichkeit, dass sich Atmosphären (Gefühle) vom Menschen im Raum abheben lassen und eine gewisse Selbständigkeit gegenüber diesen behaupten können. Die aktuelle Debatte um eine „Philosophie der Gefühle“ hat deshalb den Einwand erhoben, dass seine Auslegung von Gefühlen als Atmosphären Schmitz zu der Auffassung geführt hätte, „dass Gefühle im Grunde genommen als überpersönliche Phänomene von ihren Trägern ablösbar sind“.8 Wenn Schmitz „Gefühle als Mächte“ charakterisiert, dann geht es nicht mehr nur um dieses Erleben eines Gefühl als mein leibliches Sich-so-und-so-fühlen, sondern zusätzlich oder allein um das Erleben einer objektiven Macht jenseits des leiblich Gefühlten. Schmitz, so urteilen etwa die Philosophen Blume und Demmerling, neige „zu Hypostasierungen [...], die es dann so aussehen lassen, als würden beispielsweise Leib und Gefühl ganz unabhängig von ihren Trägern bestehen“.9 „Sich leiblich fühlen“ meint, mitten in einem umweltlichen Erleben zu stehen. Insofern berühren solche räumlichen Phänomene wie Atmosphären, Stimmungen und Erlebnisse das architekturtheoretische Interesse. Dieser Kontext erfährt noch dadurch eine neue Qualität, wenn behauptet wird, solche Atmosphären oder Ausdruckscharaktere lassen sich im architektonischen oder landschaftsarchitektonischen Entwurf und seiner baulichen Umsetzung erzeugen. Der anfangs zitierte literarische Text von Hermann Kasack sagt nichts über ein mögliches Erzeugen aus, dass z.B. die konkrete Absicht eines Landschaftsarchitekten vorgelegen habe, mit seinem Landschaftsentwurf genau diese Anmutung bei Robert erzeugt haben zu wollen. Die Textpassage stellt aber in Aussicht, dass das, wovon ein Eindruck im Erfahren eines Wirkens gewonnen wird, sprachlich ausdrückbar ist.

8

A. Blume/C. Demmerling: Gefühle als Atmosphären?, S. 122. Beide Autoren geben auch zu bedenken, ob Schmitz nicht einer Unabhängigkeit von Gefühlsakt (Fühlen) und Gefühlsinhalt (Gefühl) untereinander und damit einer „Verdinglichung der Gefühle“ das Wort rede (a.a.O., S. 123).

9

A.a.O., S. 128.

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Im kritischen Anschluss an Schmitz denkt Gernot Böhme Atmosphären als „Räume, insofern sie durch Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, ‚tingiert’ [getönt, A.H.] sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas“10. Böhme will den Dingen ihre eigene Wirklichkeit und ihren eigenen Raum sichern. Er spricht von der „Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit“. Was Heidegger, Schmitz, Ströker, Kruse und andere angesichts des Phänomens des Gestimmtseins zwischen Subjekt und Objekt in der Schwebe lassen, zieht Böhme nun ganz auf die Ebene des Objekts, denn dessen Atmosphäre, genauer: dessen „Aura“ sei es, was der Mensch spürt und dem er sich nicht entziehen kann. Hier strahlt das Ding etwas aus, was den wahrnehmenden Menschen gleichsam zwingt, sich auf eine bestimme Weise zu fühlen. Die vom Ding ausgehende Atmosphäre ist eine aktive Energie, deren Qualität z.B. „heiter“ (oder schrecklich, ernst, bedrückend usw.) genannt werden kann, die daraufhin den Menschen in eben diese heitere Stimmung versetzt. Wenn den Dingen als Dinge diese Kompetenz bescheinigt wird, Atmosphären auszustrahlen, dann kann es auch einen bewussten Umgang mit dieser Macht der Dinge geben. Böhme vermutet ein Wissen von Atmosphären bei denjenigen, die sich beruflich damit auseinandersetzen. Designer, Bühnenbildner, Werbefachleute11 müssten Erfahrungen mit den Eigenschaften der Gegenstände, die Atmosphären ausstrahlen, besitzen. So ist das „Machen von Atmosphären“ eine Tätigkeit, die zum Beispiel auch Gartenkünstler ausüben und in die implizites wie explizites Wissen sowie handwerkliches Können eingehen.12 Die ästhetische Arbeit, darauf will Böhme schließlich hinaus, besteht im Erzeugen von Atmosphären. Es kann heute davon ausgegangen werden, dass innerhalb des Denkstils der Architektur das „Machen“ oder „Herstellen“ von Atmosphären möglich erscheint. Dies bedeutet, dass auch die Wirkung des Erzeugten (z.B. der Architektur) im Entwurf vorweggenommen werden kann, wenn beispielsweise Gernot Böhme von der erzeugbaren „Aura“ der Dinge ausgeht und die Architektur in einen architektonischen Raum auflöst, der ästhetisch-charakteristisch erfahren

10 G. Böhme: Atmosphäre, S. 33. 11 In späteren Publikationen nimmt Böhme explizit auch den Architekten in diese Reihe auf, vgl. etwa G. Böhme: A.a.O. 12 Auch im Buch „Aisthesis“ behauptet Böhme, „daß die Atmosphären von ihrem dinglichen Pol her Konstituentien haben, die sich objektiv identifizieren lassen“. Dies ist Voraussetzung, dass es „ästhetische Arbeiter“ gibt, die Atmosphären gezielt erzeugen können. Vgl. G. Böhme: Aisthetik, S. 52.

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werden kann. Diese Erfahrung im architektonischen Raum ist nach Böhme der affektive Nachvollzug dessen, was im Raumentwurf des Architekten erzeugt wurde. Der Subjektseite, und damit der Interaktion von Erlebendem, Raum und Welt, wird bei Böhme weiter keine Aufmerksamkeit zuteil. Würde Böhme eine Situation des In-der-Welt-seins ansetzen, dann müsste er das Subjekt, das einen bestimmten, konkreten Eindruck von der Wirkung hat, in seiner Haltung zu einer „subjektiv“ und „intersubjektiv“ bedeutsamen Welt als Ganze anerkennen. Das Erlebnis von Landschaftlichkeit oder die Stimmung des Landschaftlichen bestehen in der Gleichzeitigkeit von Eindruck und Wirken. Damit meine ich, dass es sinnvollerweise nicht möglich ist zu unterscheiden zwischen dem, was auf mich wirkt, und dem, wovon ich einen bestimmten Eindruck habe. Was mir als dem Erlebnissubjekt im Erlebnis gegenüber steht, das ist mir zugleich anschaulich gegenwärtig. Was gerade hier und jetzt so wirkt, macht meine Gegenwart und meine Wirklichkeit aus. Wirklich ist im Erlebnis, was auf mich diese bestimmte Wirkung ausübt. Eine Atmosphäre als Einheit von Erlebnis und Gefühl drückt eine bestimmte Stimmung aus, insofern sie der Eindruck von einem bestimmten Wirken ist. Wenn es möglich sein soll, dass sich Erlebnisse oder Atmosphären erzeugen lassen, dann muss der Erzeuger im Voraus wissen, welche konkrete Anmutung oder welches Wirken im Eindruck sich einstellen soll. Er muss voraussetzen und entwerfend vorwegnehmen, welche Wirkung ein bestimmter Eindruck auslösen soll. Das gewisse Wirken einer Atmosphäre ist gleichzusetzen mit dem bestimmten Eindruck, den im gestimmten Raum ein Ding auf mich macht.13 Auch ein Tier macht (bewirkt) im weichen Boden einen bestimmten Eindruck. Aber diese Weise, einen bestimmten Eindruck zu machen (eine sichtbare Spur zu hinterlassen), ist nicht gemeint. Sondern: dem Eindruck von einer Atmosphäre ist immanent, wovon er ein Eindruck ist, z.B. von Lebendigkeit, von Geborgenheit, von Erhabenheit, von räumlicher Tiefe usw. Dieses „von“ ist aber nicht gleichzusetzen dem „von“ in der Aussage: diese Spur im Schnee ist „von“ einem Hasen verursacht, so dass ich es hier tatsächlich mit zwei Dingen zu tun habe: einmal mit diesem Eindruck einer Spur und dann noch mit diesem konkreten Hasen, der den Eindruck bewirkte. Stattdessen haben wir im „gestimmten Raum“ die Einheit von Eindruck und Wirken. Die „Eigenschaft“, die mit Lebendigkeit angezeigt ist, ist keine, die ein Ding in seiner oberflächlichen Erscheinung determi-

13 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Untersuchungen zum Verhältnis von „Eindruck-von“ und „so-Wirken“, die Josef König vorgelegt hat, in: J. König: Sein und Denken.

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niert, sondern sie bezeichnet allein diesen bestimmten Eindruck als den entsprechenden Eindruck von einem Bestimmten. Lebendigkeit oder Geborgenheit wohnt dem Eindruck in echter Weise inne. Man könnte sagen: Dieser Raum vermittelt mir das Gefühl von Geborgenheit. Und dieses konkrete Gefühl ist eine einmalige Modifizierung dessen, was Räumliches mir überhaupt an Geborgenheit vermitteln kann. Das anschaulich Gegenständliche des baulich Hergestellten in einer offenen Umgebung kann als dieser bestimmte Eindruck von Landschaftlichkeit erlebt werden. Die Atmosphäre als der Eindruck-von einem so-Anmutenden ist immer eine bestimmte. Als Atmosphäre wird erlebt, wie z.B. ein Zimmer hier und jetzt da ist, nämlich erlebt wird. Ein Zimmer z.B. ist niemals nur vorhanden oder sobeschaffen mit seinen Wänden, Möbeln und Ausmaßen. Die Wirklichkeit des Eindrucks konstatiert tatsächlich so etwas wie ein „Tun“ der Dinge, nämlich ihr Wirken. Man darf allerdings den Eindruck nicht von dem Erlebnis trennen und als Aura oder überindividuelle Macht hypostasieren, das jenen erst hervorbringt. Beispielsweise wirkt ein Zimmer leer, öde, triste, kahl. „Das leer-Wirken ist die Weise, in der das Zimmer da ist [...]“.14 Damit ist das ausgedrückt, was man sinnvoller Weise als Atmosphäre ansprechen sollte. Sie ist nur in ihrer erlebten Wirkung eine Atmosphäre. Eine Atmosphäre (ein Gefühl, ein Erlebnis) ist weder irgendwie beschaffen aufgrund angebbarer Eigenschaften noch vorhanden in einem determinierenden Sinne. Eine Wirkung (z.B. die von Geborgenheit) ist immer nur als eine aktuelle in der Flüchtigkeit des Erlebens vernehmbar.15 Hermann Schmitz spricht bekanntlich von Atmosphären als von einem Gefühlsraum. Warum? Weil er darin recht hat, dass sich der Eindruck als Gefühl kundtut, insofern Jemand dieses bestimmte Gefühl hat. Er geht aber möglicherweise zu weit, wenn er diese Atmosphären zu etwas Überpersönlichem verdinglicht. Ich spüre mich, so lässt sich anknüpfen, als mein Gefühl, nämlich wie es ist, mitten unter und bei diesen Dingen im Raum zu sein. Aber als mein Gefühl, so möchte ich in Erweiterung von Schmitz behaupten, denke ich gewissermaßen schon den Inhalt des Gefühls. Hier liegt der Schlüssel, der helfen kann zu beantworten, wie das erlebende Subjekt von seinem Erleben wissen kann. Damit haben wir dann auch eine Antwort, warum es niemanden geben kann, der auf dieses Wissen von Erlebnissen im Voraus einen Zugriff hat. Denn zweifellos ist das Erlebnis ein „Wissen“ des Erlebnisses: „Ein Gefühl sagt mir“, heißt hier so

14 J. König: Sein und Denken 1937, S. 28. 15 „Nur als z.B. ein einen aktuellen Eindruck-von-Leere hervorbringendes Zimmer ist ein l e e r w i r k e n d e s Zimmer ein leer-wirkendes Z i m m e r.“ J. König: Sein und Denken, S. 36.

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viel wie: „Ich bin der Auffassung, dass...“. Da wir es bei diesem „Wissen“ nicht mit einer sinnlichen Wahrnehmungsleistung (ich sehe, höre usw.) zu tun haben, fällt auch der Einwand weg, es könnte sich bei diesem Wissen um eine Sinnestäuschung handeln. Das Haben eines Gefühls unterliegt keinem Irrtumsvorbehalt. Es sind hier weder Täuschung noch Zweifel möglich, dass ich etwa darin unsicher sein könnte, ob es tatsächlich ein Gefühl ist. Das bestimmt Fühlen, um das es allein geht, ist identisch dem Fühlen eines Bestimmten (z.B. des bestimmten Eindrucks von Geborgenheit). Das Erleben eines Eindrucks-von offenbart mir das, wovon ich einen Eindruck habe oder anders ausgedrückt: in diesem Offenbaren erlebe ich ein Zu-mir-sprechen von selten eines Gefühls.16 Eine Atmosphäre ist immer eine z.B. von Geborgenheit. Sie ist von diesem bestimmten Eindruck nicht zu trennen. Der bestimmte Eindruck ist stets Jemandes Eindruck hier und jetzt, insofern dieser Jemand plötzlich von einem bestimmten Wirken betroffen wird. Wenn man sagt, die Landschaft/das Zimmer wirke erhaben/leer, dann muss man dennoch beachten, dass das so-Wirken (dieser „Dinge“ wie Landschaft, Zimmer) im gestimmten Raum stets im Modus der Gegenwart sich ereignet. Eine Atmosphäre ist „vorhanden“17, aber präsentisch. Im Präsentischen ist das Vorhanden-sein an den gehabten Eindruck selbst, sein Hier und Jetzt, sein Wirken gebunden. Das Vorhandensein von Atmosphären im Raum der unmittelbaren Gegenwart oder im präsentischen Raum (Erwin Straus) lässt sich nicht „methodisch“ überprüfen, wir können uns unserer Stimmungen und Gefühle nicht methodisch vergewissern, wie wir nachsehen können, ob der Baum vorm Haus noch steht oder schon gefällt wurde. Mit dem Gegenwärtighaben einer atmosphärischen Anmutung hat es dann auch zu tun, dass ein ununterbrochenes Fühlen dieses Wirkens ebenso unwahrscheinlich ist wie ein permanentes Geweckt-werden. „Allein daß wir die Landschaft nicht mehr so finden

16 Vgl. J. König: Sein und Denken, S. 138. 17 „Daß ein vorhanden-Wirkendes vorhanden ist, ist weder mehr noch minder gewiß und sinnlich gewiß, wie z.B. daß dieses Zimmer leer (öde) ist. Der Himmel über mir, der vorhanden wirkt, ist vorhanden, obgleich er z.B. nicht zu Solchem gehört, von dessen Vorhandensein wir uns durch Tasten überzeugen können. Daß wir ihn sehen, ist freilich die Vorbedingung seines Vorhanden-wirkens [...]. Aber das besagt nicht, daß wir uns durch das Sehen und überhaupt durch das Empfinden seiner als eines solchen vergewisserten [...]. Ob der Kamm in der Schublade oder Karl beim Appell ist, dessen vergewissern wir uns mit Hilfe der sinnlichen Anschauung. [...] Aber entweder überhaupt nicht oder nur in einem radikal anderen Sinne ist es möglich, zu sagen, daß 'laut Zeugnisses der Sinne' ein vorhanden-Wirkendes vorhanden und überhaupt ein soWirkendes modifizierend so- beschaffen ist.“ A.a.O., S. 181.

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oder daß uns nicht mehr so ist, als ob ..., ist dies, daß der entsprechende Gedanke [...] sozusagen nicht mehr in uns ist. Es besteht keine Einheit mehr zwischen uns und dem einen Gefühl-von. Wir erinnern uns dann sehr wohl noch, daß wir zuvor actu solches dachten. Allein wenn wir fest im Auge behalten, daß wir solches zu denken nur imstande sind, wenn das Gefühl selber denkt, so werden wir uns auch hier nicht verführen lassen, das Denken des Denkens und das heißt das aktuelle Sein-Denken der Vergangenheit anheimzugeben.“18 Wenn dieses Gefühl nicht mehr gefühlt wird, dann schweigt es eben. Was der Schriftsteller Kasack tut und was die empirische Forschung leisten kann, sind ein auf die von mir dargestellte Wirklichkeit des Erlebens abgestimmter Zugang zu Erlebnissen. Dies wird geleistet, indem man von einem Eindruckvon einem so-Wirken redet. Maß und Angemessen-sein der Rede sind nur in Maß und Angemessenheit des Erlebnisses selbst zu suchen. Beide stehen deshalb außerhalb jeglicher kritisch-wissenschaftlichen Interpretationsansprüche. Wenn wir sagen, das Zimmer wirkt leer, so drücken wir damit dieses Leerwirken des Zimmers aus.19 Die Leistung der Sprache liegt darin, dass sie das Erlebte als ein anschaulich Gegebenes zu einem echt Ausdrückbaren macht.20 Leider stehen Beispiele der modifizierenden Rede, wie wir sie in unserem Forschungsprojekt zu Erlebnislandschaften gesammelt haben, noch nicht zur Verfügung.21 In solchen Beschreibungen wird notwendig bildhaft (nicht begrifflich) das ursprünglich Vergegenwärtigte als Nachtrag erzeugt. Sie sind der nachgetragene sprachliche Ausdruck eines Wissens vom Berührt-werden. Dieses Wissen vom Erwirken ist etwas „Primäres“, es gehört dem Erleben an. Der

18 A.a.O., S. 168. 19 Dieses ist als ein Ausdrückbares „und als solches das Maß oder die Norm der entsprechenden Reden; und generell gilt, daß Reden ein solches Maß besitzen, mit dem gemessen sie entweder angemessen sind und stimmen oder nicht.“ A.a.O., S. 195. 20 Etwas Ähnliches formuliert König auch Jahre später, als er einen Nachruf auf Georg Misch hält. Darin heißt es: „Daß die Vergegenständlichung der Erlebnisse diese zugleich gewissermaßen hervorbringt, stimmt damit überein, daß das Wissen von den Erlebnissen mit ihnen selber unmittelbar eins ist; denn nach dieser Auffassung entspringt das Wissen von den Erlebnissen im Vollzug jenes Grund-/aktes der rückwendig-produktiven Vergegenständlichung; infolgedessen ist es doch wohl sogar logisch unmöglich, daß das Wissen von den Erlebnissen zu diesen erst noch hinzukommt.“ J. König: Georg Misch als Philosoph, S. 228 f. 21 Vgl. jetzt A. Hahn (Hg.): Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?

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sprachliche Erlebnisausdruck spiegelt gleichsam, was als Wissen im Eindruck schon gefühlt wurde.22 Versuchen wir eine Zusammenfassung: Die Sinne werden „gerührt“ durch Dinge wie Artefakte. Diese sind die Ursache unserer Empfindungen, was aber nicht mit deren Wirkung verwechselt werden darf. Das Entscheidende ist das passende Verständnis, was es heißt, dass die Dinge auf mich wirken. Dies kann nicht so aufgefasst werden, als ob die Dinge an mir einen Eindruck hinterlassen, wie sich der Hasenfuß z.B. im Schnee eindrückt und eine definitive Spur hinterlässt. Wir dürfen nicht der Logik aufsitzen, wie Hase und Hasenspur sich voneinander trennen lassen, so auch Eindruck und Wirken. Dass im Sehen und Hören usw. sich eine Wirkung der Dinge auf mich zeigt, hat nichts mit deren determinierenden Eigenschaften zu tun. Nicht wie die Dinge im Handlungsraum objektiv mess- und abbildbar beschaffen sind, spielt bei der Wirkung im gestimmten Raum eine Rolle, vielmehr liegt meiner Aufgeschlossenheit für das, was ich empfinde, ein Vermögen zugrunde.23. Ich erfahre die Wirkung der Dinge an mir als ein Gefühl. In dieser Aktivität oder Bewegung zeigt sich etwas Entscheidendes: „Daß ich etwas als eine Wirkung der Dinge an mir erfahre, weist vielmehr darauf, wie nur, sofern ich mich einlasse mit den Dingen, mich ihnen aussetze, ich auch von den Dingen affiziert werden, eine Empfindung in mir rege werden kann. Ein Vermögen ist in der Sinnlichkeit umrissen.“24 Der bestimmte Eindruck ist etwas, was von mir aufgenommen wird, um mich „frei“ (z.B. im leiblichen wie sprachlichen Ausdruck) dazu verhalten zu können. Im Eindruck liegt ein Erfassen des Empfundenen oder Wirkenden – ohne Erkenntnisabsicht gegenüber einem Sachverhalt. Was in mir als Gefühl und Gedanke geweckt wird, was im Eindruck selbst liegt, muss erst im Ausdruck gefunden und festgestellt werden. Besinne ich mich auf den gehabten Eindruck, dann versuche ich, ihn selbstbewusst als meinen Ausdruck zu fassen. Der Eindruck dringt aufs Wort: „Es sieht aus wie…“; „es fühlt sich an als ob…“ Eine „Atmosphäre“, die der Architekt als eine bestimmte entwerfen sollte, müsste im Sinne ihrer determinierenden Eigenschaften wesentlich vorausgesetzt sein, sonst könnte man sie weder entwerfen noch bauen noch erzeugen. Der Architekt müsste also schon ein Wissen voraussetzen, wie es sich für einen Men-

22 König spricht davon, „daß der Erlebnisausdruck dieses Wissen vom Erwirken reflektiert oder spiegelt“, J. König: Georg Misch als Philosoph, S. 231. Weiter heißt es: „Erlebnisse (gibt) es nur in der Gestalt von Zurückgespiegeltem“, a.a.O. 23 Vgl. H. Lipps: Die menschliche Natur, S. 88. 24 H. Lipps: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, S. 98, Anm. 2 (Hvhg. im Original).

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schen anfühlt, diesen bestimmten Eindruck zu empfangen. Der bestimmte, aber ungesuchte, weil spontane Eindruck ist stets an eine konkrete, nicht wiederholbare Situation gebunden. Da das Erlebnis nur im Modus einer unmittelbaren Gegenwart des Eindrucks von tatsächlich Wirkendem auftreten kann, der Entwurf aber eine fiktionale Zukunft antizipieren muss, lässt sich auch unter den lebensweltlichen Bedingungen des Entwerfens keine Atmosphäre, kein Gefühl, kein Erlebnis vorwegnehmend konkretisieren. Das Wissen um Erlebnisse, die Jemand erst nach haben soll, kann nicht im Architekturentwurf schon vorausgesetzt und gewusst werden. Und ein Wissen vom landschaftlichen Erlebnis ist logisch gebunden an das Erleben im Raum des Landschaftlichen selbst, genauer an dessen nachgetragene sprachliche Vergegenständlichung. Darin liegt, wie ich meine, eine zentrale hermeneutische Wahrheit: Wenn überhaupt im Zusammenhang mit Erlebnissen von einem „Erzeugen“ oder „Machen“ die Rede sein soll, dann im Sinne eines echten Wissens um diesen Eindruck, um dieses Gefühl. Die evozierende oder modifizierende Rede erst erzeugt nachträglich zum architektonischen Entwurf das ursprünglich Vergegenwärtigte des Eindrucks von Landschaftlichkeit in einer Umgebung konkreter Artefakte.

C Landschaft als Umwelt des Bauens

Aspekte neuer Lebensformen im „regionalen“ Raum

Die folgende Argumentation wird sich im phänomenologisch-hermeneutischen Denkstil bewegen.1 Mensch und Gesellschaft erschließen sich diesem soziologischen Denken durch anthropologische Grundeinsichten. Dazu zählt: Alle Menschen sind in Lebensformen verstrickt.2 Unter einer Lebensform verstehe ich interpersonale Orientierungsverhältnisse, in denen sich Menschen selbstverständlich „aufhalten“. Zu einer Lebensform gehören eine Sprachpraxis bzw. begrifflich-praktische Verhältnisse, in denen ihre Mitglieder sich ausdrücken und innerhalb derer überhaupt etwas bedeutsam sein kann. Insofern Worte wie „Umziehen“, „Wohnen“ bzw. Handlungen wie „eine Wohnung suchen“ oder „ein Haus bauen“ Bestandteile einer praktischen Lebensform sind, lassen sich Beschreibungen von Verhaltensweisen einschließlich ihrer Argumente für das Gelingen oder Misslingen in Gesprächen rekonstruieren bzw. lässt sich ihre Bedeutung für die Lebensform in einem Gespräch erst hervorbringen. Die soziologische Beispielhermeneutik3 erweist sich darin radikal, dass sie die wesentliche Lebenserfahrung als ein praktisches Wissen in ihr Recht setzt, nämlich welche Bedeutung der Umzug an den „Rand“ von Stadtregionen für jemanden hat bzw. welche Bedürfnisse ein entsprechendes Wohnen befriedigen oder weiterhin begehrenswert erscheinen lassen. Im Folgenden werden aus empirischen Untersuchungen am nördlichen Rand Berlins sowie im Großraum

1

Zum Begriff „Denkstil“ vgl. L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.

2

Vgl. dazu und zum Folgenden W. Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik; F. Kambartel: Philosophie der humanen Welt; T. Rentsch: Die Konstitution der Moralität.

3

Vgl. A. Hahn: Erfahrung und Begriff.

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Rhein-Main einige Beispiele angeführt, die interessante Lebens- und Wohnentwürfe beschreiben.

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UND

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Was sind räumliche Lebensformen? Es ist eine der großen Leistungen der Soziologie, dass sie räumliche Gestalten mit einer Lebensform in Verbindung bringt. Schon Ferdinand Tönnies hat 1887 Dorf und Stadt, Gemeinschaft und Gesellschaft als verschiedene, sogar konträre Lebensformen charakterisiert.4 Tönnies entwickelt einen soziologischen Deutungsansatz, indem er von Beziehungen ausgeht, in denen wir zum Mitmenschen stehen: Kennen und Nichtkennen, Sympathie und Antipathie, Vertrauen und Misstrauen sind noch ganz einfache Merkmale zwischenmenschlicher Verbundenheiten. Auf einer viel differenzierteren und komplexeren Ebene treffen wir bei Tönnies dann auf den Begriff Gesellschaft, dem soziale Wesenheiten entsprechen, die als von den verbundenen Individuen nur als Mittel zu bestimmten Zwecken gewollt gedacht werden können. Dem gegenüber stellt Tönnies den Begriff der Gemeinschaft. Diesem entsprechen gewollte soziale Verbindungen, die aus Neigung, Gewohnheit oder Überzeugung eingegangen werden. Gemeinschaft und Gesellschaft stellen nicht nur idealtypisch soziale Zusammengehörigkeiten vor, Tönnies beabsichtigte damit auch, Stufen bzw. Phasen der historischsozialen Entwicklung zu bezeichnen. So sieht er in der bürgerlichen Gesellschaft gewohnheitsmäßiges gemeinschaftliches Verbundensein zwischen den Menschen tendenziell verschwinden. Georg Simmel unternimmt 1903 in seinem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ den Versuch, die Lebensform des Großstädters zu verstehen. Auf Seiten des Subjekts, hier des Großstädters, nimmt Simmel die „seelische Erscheinung“ der Blasiertheit wahr. „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit die Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.“5 Damit ist eindrucksvoll die Blasiertheit als leiblich-seelische Befindlichkeit und

4

F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft.

5

G. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 196.

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Grundstimmung einer Lebensform benannt, die ihren Gefühlsraum im gesellschaftlichen Bereich der Großstadt findet. Simmel versucht auch in dem 1913 veröffentlichten Text „Philosophie der Landschaft“, Befindlichkeiten des ImRaum-seins zu fassen. Dabei tritt das Problem auf, „inwieweit die Stimmung der Landschaft in ihr selbst, objektiv, begründet sei, da sie doch ein seelischer Zustand sei und deshalb nur dem Gefühlsreflex des Beschauers, nicht aber in den bewußtlos äußeren Dingen wohnen könne?“6 Diese Frage nach dem Innen und Außen einer Stimmung wird später von Martin Heidegger im § 29 von Sein und Zeit aufgenommen: „Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt.“7 Ähnlich wie Simmel und Heidegger argumentieren Bollnow8 und Binswanger9 hinsichtlich des Verhältnisses von „Ich“ und „Welt“ beim Erleben von Stimmungen. Interessanterweise hat sich in jüngster Zeit auch Thomas Sieverts in einem Essay ausführlich mit Simmels Aufsatz zum „Großstadtleben“ beschäftigt, wobei er mit aller gebotenen Vorsicht die Anästhetik früherer Großstädte mit heutigen Stadtagglomerationen vergleicht. Während Simmel und Heidegger eine Struktur des In-der-Welt-seins und Bollnow und Binswanger eine Anthropologie von Mensch und Raum vorlegen, argumentiert der Stadtplaner Sieverts bei seinem Versuch der Aktualisierung wahrnehmungsästhetisch: „Anästhetisierung und emotionale Distanz erleichtern zwar die selbstbezügliche Entwicklung autonomer Funktionssysteme und die emotionale Verfügbarkeit der Menschen. Ab einer bestimmten Dichte autonomer Funktionssysteme und ausschließlich selbstbezüglicher Bauwerke aber“ – das ist seine These – „schlägt die Effizienz um: Ohne Ästhetik des ‚sorgenden Blicks’ werden weite Bereiche der Stadt der Selbstzerstörung überlassen.“10 Denn das zumindest unterschwellige soziale Nichtzurkenntnisnehmen und die aggressive Gleichgültigkeit führten zu einer wachsenden Verwahrlosung, die auf die Gesellschaft zurückschlage. Diejenigen, die es sich leisten könnten, verließen ab einer gewissen „Härte der ästhetischen Verwahrlosung die anästhetischen Wüsten“, um sich in „ästhetischen Stadtlandschaften“ niederzulassen. Nicht nur Tönnies und Simmel, beides Gründergestalten der Soziologie, haben das Begriffsrepertoire der Profession nachhaltig beeinflusst. So erinnert Jür-

6

G. Simmel: Das Individuum und die Freiheit, S. 136 f.

7

M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 137.

8

O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 38.

9

L. Binswanger: Das Raumproblem in der Psychopathologie, S. 199.

10 T. Sieverts: G. Simmels ‚Die Großstädte und das Geistesleben’, S. 13 f.

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gen Habermas an die Begriffsarbeit, die Max Weber allein der Stadt hat zukommen lassen: „Aber nach einem Jahrhundert der Kritik an der Großstadt, nach einem Jahrhundert zahlloser, immer wieder enttäuschter Versuche, die Städte im Gleichgewicht zu halten, Citys zu retten, den städtischen Raum in Wohnquartiere und Geschäftsviertel, Industrieanlagen und Grünviertel, private und öffentliche Bereiche zu gliedern, bewohnbare Satellitenstädte zu bauen, Slumgebiete zu sanieren, den Verkehr sinnvoll zu kanalisieren usw., drängt sich die Frage auf, ob nicht der Begriff der Stadt selber überholt ist. [...] Er gehört zu der Sorte von Begriffen, die Wittgenstein in den Gewohnheiten und dem Selbstverständnis der eingespielten Lebenspraxis aufspürt: mit unserem Begriff von Stadt verbindet sich eine Lebensform. Diese hat sich unterdessen aber so verwandelt, daß ihr der angestammte Begriff nicht mehr nachzuwachsen vermag.“11 Damit wirft Habermas die Frage auf, wie sich ein angemessenes Verständnis für räumlich-soziale Phänomene gewinnen lässt, ohne in eine überholte soziologisch-philosophische Begrifflichkeit zurückzufallen. Meine Ausgangsthese hierzu wäre, auf das Auftauchen von sprachlichen Beschreibungen zu achten, die der untersuchten Lebens- und Wohnform selbst ihre Plausibilität und Wahrhaftigkeit geben. Radikaler noch als Habermas stellt Rainer Mackensen fest, dass die gegenwärtigen Erscheinungen von Stadt und Landschaft nur dann „begrifflich“ sinnvoll gefasst werden können, wenn wir die jeweiligen Raumbilder durch die sie (aus-)füllenden Akteure und Bewohner selbst zum Sprechen bringen.12 Wenn ich ihn recht verstehe, verlangt Mackensen eine Neuvermessung des Verhältnisses von Soziologie und Geographie. Er betont die Unbrauchbarkeit räumlicher Ordnungsbilder, zu denen ja wohl Stadt, Land, Dorf usw. zu rechnen sind, wenn es um ein Verstehen der gegenwärtigen Prozesse eines sozialen Wandels geht. Denn es sind vor allem die überkommenen Vergemeinschaftungsformen, bestehend aus Institutionen, Werten und Normen, deren Schwinden auch die alten Raumbilder als obsolet erscheinen lassen, insofern diese Raumbilder doch stets aus dem Verhältnis der kontrastierenden Typen von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ im Tönniesschen Sinne übernommen waren. Stattdessen schieben sich lokale Verbindungen in den Vordergrund. Durch das Zurückdrängen der Bedeutung eines einzigen Zentrums rückt das Phänomen des Randes in den Blickpunkt: „Die Städter brauchen das Zentrum kaum noch. Sie leben anderswo. Sie leben in Mietshäusern und Wohntürmen, in den Vor-

11 J. Habermas: Moderne und postmoderne Architektur, S. 24 f. 12 Vgl. R. Mackensen: Ist Stadtentwicklung planbar? und ders.: Wie sozial kann Siedlungsplanung sein?

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städten und Siedlungen. Am ‘Rand’, wie die Städtebauer sagen [...]“.13 Anstatt in einem Mittelpunkt erlebt sich der Bewohner dieser Stadtlandschaften an den Rändern - gleichsam zwischen den vielen möglichen Übergängen, die sowohl räumlich (zwischen den Wohnvierteln) als auch sozial (zwischen sozialen Gruppen und Ethnien) als auch biographisch (zwischen einzelnen Lebensphasen) für ihn in Betracht kommen können: Statt der einen festen Mitte, viele locker gefügte Ränder. Die Lebensformen, die ich im Folgenden als „regionale“ fassen möchte, bewegen sich dann in entsprechenden Spielräumen für Orientierungen. Pragmatik von Lebensformen: Orientierung und Selbstbestimmung Kommen wir an dieser Stelle auf die Frage zurück, wie wir eine unbrauchbar gewordene Begrifflichkeit loswerden können, ohne dadurch selbst begrifflich uninteressant oder belanglos zu werden. Das heißt zuerst: Wir suchen nach Beschreibungen von Lebensformen, die das Phänomen des Hier-Seins treffen. Ich denke in meinem Zusammenhang der räumlichen Beschreibung praktischer Lebensformen vor allem an Verhaltensweisen, die mit „Bleiben“ oder „Wandern“ in Verbindung stehen. Ich halte eine dies bedenkende handlungstheoretische Position für sehr fruchtbar und will zeigen, was es bringt, wenn wir so das räumliche Verhalten der Menschen beschreiben. Unter räumlichem Verhalten oder Raum gebrauchendem Verhalten verstehe ich soziale Handlungsweisen wie wohnen, sich niederlassen, Häuser bauen, eine Wohnung einrichten, Gegenständen ihren Platz geben, sein Zimmer aufräumen, spazieren gehen, joggen, wandern oder Fahrrad fahren. Aber auch: Pendeln, aufs Land ziehen, in die Stadt fahren, verreisen, eine Landschaft besuchen usw. Das Überwinden der Distanz, die zwischen dem Handelnden und seinem Ziel liegt, wird indes allemal als Widerfahrnis begriffen, auf das jeder sich so oder so in seinem räumlichen Verhalten einlassen muss, in der Regel so aber, dass die eigenen Zwecke weiter verfolgt werden können. Oft ist es so, dass Menschen sozusagen an sich selbst erst ausprobieren müssen, was sie sich oder ggf. anderen zumuten wollen und was nicht, was passt und was nicht passt. Damit soll angedeutet werden, dass Räumliches in einem lebensweltlich-pragmatischen Sinne immer schon bezogen auf die eigene Lebensführung verstanden und bedeutsam ist. Wir können gar nicht anders, wenn wir uns über unsere Ziele verständigen, als das Widerfahrnis Raum zur Sprache bringen und uns dazu verhalten.

13 R. Mackensen: Auf der Suche nach einer Stadt, die den Menschen gerecht wird, S. 80.

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Sobald wir die entwickelten alltagsweltlichen Zusammenhänge einer Lebensform spezifisch „räumlich“ bedenken, kommen wir nicht an dem Ausdruck Orientierung vorbei. Orientierung heißt für mich wissen, wo man ist. „Mitglieder“ regionaler Lebensformen haben sich besondere Aufmerksamkeitsbereitschaften erworben, die bestimmte Weisen der Lebensführung anderen Möglichkeiten, von denen man ebenfalls weiß, vorziehen. So bilden sich Gewohnheiten und Interessen, das Leben zu führen, heraus, die sich von anderen, traditionellen Formen abheben lassen. Was bedeutet Selbstbestimmung in Kontexten des Wohnens und der Lebensführung? Die Einsicht in diejenige Orientierung des Lebens, der zu folgen man sich entschlossen hat, auch weil man von ihrer Angemessenheit für das zu führende Leben überzeugt ist, bezeichnet Friedrich Kambartel als „Selbstverwirklichung“.14 Er ist nicht der Meinung, dass Selbstverwirklichung als Vollzug der Selbstbestimmung eine stets sichere Angelegenheit und sein Gelingen gleichsam vorprogrammiert sei. Widerfahrnisse lassen sich grundsätzlich nicht vorhersehen. Selbstbestimmung und das Leben aus eigener Orientierung zu führen benennen einen Möglichkeitsraum, in dem der Mensch steht. Unsere Erfahrung zeigt uns, dass wir stets von neuem, z.B. nach jedem Umzug, versuchen müssen, jene Lebensvollzüge, in denen unser Wohnen sich bewegt, gelingen zu lassen.15 Auf den Zusammenhang von Selbstbestimmung und lokaler Identität geht der kanadische Philosoph Charles Taylor ein. Orientierung in der Welt und Orientierung im Raum hängen untrennbar zusammen. „Wissen, wer ich bin, ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde.“16 Orientierung über mich und Orientierung über meinen Aufenthaltsraum beziehen sich wechselseitig aufeinander. Innerhalb dieses Umkreises bestimmt der Mensch seinen Standort, der dann in jenen konkreten Entschlüssen und Entscheidungen zum Ausdruck gebracht wird, die z.B. das Bleiben oder das Wegziehen betreffen. Ohne diese Übereinstimmung unserer Entschlüsse mit unseren Überzeugungen wüssten wir weder zu sagen, was die Dinge bedeuten, noch was für uns wertvoll ist und was nicht. Wenn indes Taylor davon spricht, dass unsere Identität den Raum der qualitativen Unterscheidungen definiere und darunter den Gebrauch von „gut“ und „schlecht“ versteht, dann kann diese Kompetenz durchaus erweitert werden: Wir vermögen ebenso die räumlichen Qualitäten derjenigen Orte zu unterscheiden, an denen wir wohnen wollen und an denen wir nicht wohnen wollen. Unsere Unterscheidungskompetenz kann nur als Vorgriff und Antizipation wirken, denn ob

14 F. Kambartel: Philosophie der humanen Welt, S. 15-26. 15 Vgl. M. Seel: Glück, S. 145-163; und ders.: Sich bestimmen lassen, S. 279-298. 16 C. Taylor: Quellen des Selbst, S. 55.

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unser Tun und Lassen als gelungen oder misslungen erlebt und erfahren wird, muss sich immer erst noch zeigen. Welche Kriterien wir im Einzelnen für eine solche Wohn-Entscheidung beiziehen, lässt sich wohl nur als praktische „Anwendung“ von Klugheits- und Erfahrungswissen nachträglich beschreiben.17 Aber der Mensch gibt mit dem „Finden“ einer Orientierung nicht eine Antwort auf ein Erleben. Hier folgt nicht das Eine auf das Andere. Die Frage nach unserer Orientierung im Raum stellt sich gar nicht auf eine Weise, dass eine Antwort erst noch ausstehen oder auch nur warten könnte. Mensch-sein und im Raum orientiert-sein sind gleich ursprünglich.

ASPEKTE VON REKONSTRUKTIVEN T YPEN NEUERER „ REGIONALER “ L EBENSFORMEN Der Rand als „gefühlter“ Raum Die Haltung des Wissenschaftlers gegenüber den Konzeptionen der Menschen, für deren regionale Lebensform er sich interessiert, wird sich auch in seiner Methodenpräferenz niederschlagen. Die Existenz eines neutralen, an Handlungen nicht gebundenen Zuschauers, der gleichsam ohne Rückgriff auf eigene Denkstilgewohnheiten „etwas als etwas“ verstehen können soll, was dem Wohnenden verborgen bleibt, ist ein bewährtes Konstrukt wissenschaftlichen Erkennens und Erklärens. Es schneidet allerdings den lebensweltlichen Erlebens- und Erfahrungsprozess von der analytischen Erkenntnis und ihrem Resultat, dem wissenschaftlichen Begriff, ab. Bislang wurden z.B. Wohn- und Wanderungsprozesse unter dem Leitbegriff „Suburbanisierung“ als Folge bestimmter, der empirischen Untersuchung im Vorfeld schon unterstellter ökonomisch-rationaler Interessenkonstellationen der beteiligten Menschen vorgestellt und forschungspraktisch antizipiert. Man setzt in dieser Forschung ein theoretisches, räumliche Prozesse verursachendes System von Determinanten, Kategorien und Merkmalen voraus, dem zu Folge Suburbanisierung „gesetzmäßig“ funktioniere und sich zweifelsfrei erklären ließe. Oder Wanderungen in suburbane Räume werden auch einfach als Folge der Nachfragesituation auf dem regionalen Immobilien- und Wohnungsmarkt begriffen.18 Mit meinem Beitrag beabsichtigte ich dagegen nicht, „Gesetze der Suburbanisierung“ anzuwenden, sondern ich will eine Wanderungs- und Wohnkultur

17 Vgl. auch die anregende Studie von A. Luckner: Klugheit. 18 Vgl. dazu M. Steinbusch: Akteure der Stadt-Umland-Wanderung, S. 40 f.

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entdecken. Bei gängigen Stadt-Umland-Wanderungsuntersuchungen besteht die Gefahr, dass das Handeln der Menschen (Umziehen, Haus kaufen) als eine rationale Reaktion auf äußere Zwangslagen beurteilt wird, wobei der Forscher nie Einsichten in Gefühlslagen und Entscheidungsprozesse erlangt und damit auch nichts von konkreten Beispielen für die „guten Gründe“ eines Tuns erfährt, von denen die Menschen durchaus zu berichten wissen. Deswegen macht es Sinn, sich zunächst auf die lebensweltlichen Konzeptionen der Bewohner regionaler Orte einzulassen, und zu schauen, was tatsächlich deren Ziele und Zwecke sind, was sie gewollt, was sie nicht gewollt haben. Der regionale Raum, den Bernhard Waldenfels einmal treffend „einen Lebensraum mittlerer Reichweite“ genannt hat19, liegt zwischen der naiv hingenommenen Heimwelt, mit der wir allein stimmungsmäßig verknüpft sind, und der Fremdwelt, die wir heutzutage stets gegenwärtig haben müssen. Aber für einen gesellschaftlichen Aktionsraum mit Mobiltelefon, Satellitenschüssel, Internet und Autobahnanschluss gibt es fast keine Peripherie im alten Sinne mehr. Vielmehr definiert sich ein regionaler Raum soziologisch auf der einen Seite durch die generelle Erreichbarkeit von Möglichkeiten, auf der anderen Seite durch die Grenzen, die sich individuell (leiblich und kognitiv) jedem Bewohner des regionalen Raums hinsichtlich seiner Situation und Lage auftun. Raum in einem geographischen oder soziologischen Sinne, der sich entsprechenden denkstiltypischen Kriterien beugt, ist aber keine „gelebte“ alltägliche Größe. Vielmehr konstituiert sich Räumliches, wie es die alte und neue Phänomenologie sagt, vor allem als gefühlter oder gestimmter Raum.20 Solche Anmutungsqualitäten werden einem Raum zugeschrieben, insofern er unser Orientierungsbedürfnis befriedigt. In diesem Zusammenhang fällt es auf, dass sich die Menschen, aus deren Geschichten ich Aspekte einer Lebensform zusammentrage, sich „am Rand“ emotional verorten, ohne dass dies allerdings geographisch abbildbar wäre.21 Von besonderer Bedeutung ist die Gestalt des Randes hinsichtlich der Gestalt der Mitte. Nicht „mittendrin” wohnen zu wollen, bedeutet ja wohl auch, auf eine be-

19 B. Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 206. 20 Zum Raumverständnis der „alten Phänomenologie“ hat v. a. M. Merleau-Ponty (Phänomenologie der Wahrnehmung) Wesentliches beigetragen. Dem Raumphänomen innerhalb der „neuen Phänomenologie“ hat sich insbes. H. Schmitz u.a. in: Der Leib, der Raum und die Gefühle, angenommen. 21 Stadtplaner und Regionalwissenschaftler nennen den entsprechenden geographischen Raum reichlich unpräzise „suburban“, „zwischenstädtisch“ oder „regionalstädtisch“. Vgl. zur Übersicht: K. Brake/J. Dankschat/G. Herfert: Suburbanisierung in Deutschland.

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stimmte mitweltliche Nähe und Vertrautheit bewusst zu verzichten. Die Menschen entscheiden sich für die Randlage, sie wohnen heute vorzugsweise „am Wendehammer“. Man wohnt nicht innerhalb einer Nachbarschaft, sondern der „schönen“ Landschaft gegenüber. Die Lage „am Rand” ist eine Lage abseits historischer sozialer Institutionen wie z.B. der Dorfgemeinschaft und der städtischen Nachbarschaft und deren gemeinschaftlicher Wertvermittlung. Wenn man sich in Neubaugebieten niederlässt, dann bevorzugt man den Blick in die, wie man meint, „freie Natur“. Das oftmalige Wandern (Umziehen) hat verhindert, dass sich Nachbarschaften mit entsprechenden Verbindlichkeiten und Wertschätzungen bilden konnten, wobei fraglich ist, ob sie heute überhaupt erwünscht sind. Der „Rand” ist der Ort, an dem man landet, wenn ein Leben und Wohnen aus der Mitte einer Gemeinschaft nicht mehr gewünscht wird oder praktiziert werden kann. Möglicherweise wird es auch deswegen nicht mehr gewünscht, weil jene sozial zentrierten Wohnkonzepte ein Selbst an sozialweltliche Grenzen bindet, innerhalb derer nur es sich persönlich entfalten soll. Die Fälle, von denen jetzt berichtet wird, wurden an den „suburbanen“ oder „semiländlichen“ Rändern der Städte Berlin und Frankfurt am Main aufgesammelt. Der Rand des Agglomerationsfeldes Rhein-Main22 Der „Rand” ist kultureller Ausdruck eines Strebens nach einem Leben und Wohnen, das zu einem passen soll. Der „Rand” mag gar die Haltung des Suchens und Findens solcher Lebens- und Wohnorte auf einen vorläufigen Begriff bringen. Zum gewollten Leben am Rand gehört offensichtlich eine Perspektive der Offenheit: Frau Lagerfeld, um ein erstes konkretes Beispiel aufzurufen, bezeichnet ihre Lage als eine “offene”, insofern sie z.B. von sich sagt, sie müsse beruflich offen sein. Offen ist ihre Lage auch hinsichtlich ihres Reihenhauses: “Jetzt ist alles noch so offen”, noch nicht so eingewachsen23. Die “Feldrandlage”, von der sie auch spricht, weist keine “eingewachsene Struktur” auf, wie sie bemerkt, im Gegensatz zu klassischen Einfamilien- und Doppelhausquartieren mit ihren eingelebten Nachbarschaften, in denen sie aufgewachsen ist. Ferner spricht sie sich

22 Vgl. A. Hahn/M. Steinbusch: Zwischen Möglichkeit und Grenze. Die nachfolgenden Zitate und Interviewpassagen entstammen dieser Veröffentlichung und sind durch Anund Abführungen sowie kursiven Schriftschnitt gekennzeichnet. Die Forschungsarbeit ist im Rahmen des Ladenburger Kollegs, gefördert von der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung, zwischen 2002 und 2005 entstanden. 23 A.a.O., S. 170.

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aber noch für eine „habituelle“ Möglichkeit aus, „offen zu sein”: „Wir sind da auch offen, also wenn da irgendwie n Angebot mal wäre, könnten wir uns auch durchaus vorstellen, hier wieder weg zu ziehen”24. Wir müssen davon ausgehen, dass der Ausdruck „Rand“ als offensichtlich treffende Metapher für die Lage der „regionalen” Lebensform in Gebrauch gekommen ist. Wovon der „Rand” aber Rand ist, ist noch ungeklärt. Die Konzeption der Familie Schubert hält noch an einer Mitte fest, diese heißt „Nordwestzentrum” und ist ein Einkaufszentrum. Familie Schubert hat vor ihrem Umzug innerhalb des Frankfurter Stadtteils Nordweststadt schon dieses Zentrum regelmäßig besucht, da es unmittelbar in ihrer Nachbarschaft lag. Heute wohnt sie am Rand dieser Mitte, nicht mehr mittendrin. Das Zentrum ist jedoch „nicht weit von hier”25. „Nicht weit” ist der Ort, der in Gebrauch ist. Weiter weg gezogen als dorthin, wo es ihr „noch gefällt”, würde sie vermutlich genau diesen Ort nicht mehr benutzt haben. Den Ort nicht mehr zu benutzen, bedeutet aber, nicht mehr dazu zu gehören, und aus der Mitte, aus dem Wir, heraus zu treten. Das ist ihre Lösung für den „Spagat“, an den Rand gezogen zu sein, ohne die Mitte verlassen zu müssen. Wenn wir aber die „lokale“ Verwendung der Wörter Rand und Zentrum gelernt haben, wird uns das dazugehörige Verhalten nicht mehr wie ein Spagat vorkommen. Das neu erbaute Haus der Schuberts weist eine besondere Attraktion auf: „Wenn ich aufm Klo sitze” und hier lachen Herr und Frau Schubert los, „dann guck ich aufn Altkönig” (Berg im Taunus). Herr Schubert fährt fort und veranschaulicht weiter die Lage: „Von hier gehts – also da hinten ist der Feldberg”. Damit beginnt er den Radius seines Hauses mit einem sichtbaren Bezug zu umschreiben. Und wenn er gleich im Anschluss sagt: „Also man hat klar äh, quasi alles”, dann verweist Herr Schubert in die andere Richtung, in der man etwas nicht sieht: „Und wenn Sie jetzt nen Kilometer nach unten gehen, dann sind Se an der U-Bahn, und dann zwanzig Minuten später am Hauptbahnhof. Dann sind Sie am ICE, es ist alles da, was Sie ham wolln”26. Wie die Berge des Taunus auf das Haus und seine Bewohner bezogen sind, so liegt auf der anderen Seite der Hauptbahnhof und der Flughafen, der den gesamten Horizont dieser WohnRand-Lage wie ein Versprechen in Sachen „Erreichbarkeit” umschreibt. Dieses überwältigende Spektrum schließt den Kreis zum Umkreis eines Lebens, das einer Lage entspricht, in der sich einzurichten, zum Problem werden kann. So wird eine gewisse Maßlosigkeit dieses modernen Lebens und seiner „Lage” deutlich:

24 A.a.O., S. 173. 25 A.a.O., S. 144. 26 A.a.O., S. 147.

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Um zu beschreiben, in welcher „Lage” man sich selbst wohnen sieht, greifen die Gesprächspartner weit über das hinaus, was man an Zielen und Richtungen alltäglich eigentlich bewältigen kann. Dieser moderne „Überschuss” an Erreichbarkeit („ICE” usw.), der charakterisieren soll, was die eigene „Lage” ist, steht in merkwürdigem Kontrast zum Hier des „Hauses” mit seinen konkreten Plätzen. Der Raum der Fülle entsteht nach der Auflösung der sozialweltlichen Mitte mitsamt ihren selbstverständlich hingenommenen Bindungen und ihrer Ablösung durch den Rand, von dem aus man sich jetzt mit verstreuten Orten vernetzt. Wenn örtlich konzentrierte soziale Bindungen obsolet werden, muss Erreichbarkeit zum Qualitätssiegel sozialer Aktivitäten und ihrer jeweiligen Stätten werden. Mit der zentralörtlichen Entbindung der Akteure strukturiert sich nun der Raum für das Subjekt potentiell durch Raumpunkte, die sich am Ende von Strecken befinden. Ein Dahinter gibt es dann nicht mehr. Wenn sich damit, was die „Mitte der Welt” bedeutet, immer weiter (möglicherweise bis zur Unkenntlichkeit) relativiert, das Selbst potentiell „alles” zur flüchtigen Mitte seiner Welt machen kann, dann ist gleichsam die Mitte durch den Rand schon ersetzt. Zwischen den zu bewältigenden Strecken, die jetzt Rand und Raumpunkte verbinden, wird nun ein räumliches Feld sichtbar, das durch seine schiere Fülle erstaunt und überwältigt. Frau Schubert spricht ebenfalls von „Radius”: „Wir haben eigentlich nen richtigen Radius so”. Sie sagt dies gegen Ende einer Sequenz, die der Interviewer mit einer Frage eröffnet hat, die sich auf den „Raum dazwischen”, zwischen den Gesprächspartnern am Wohnzimmertisch und dem Feldberg im Taunus bezieht, den man von dort aus sieht: „Was ist mit diesem Raum, taucht der in Ihrem Leben irgendwie auf?”. Frau Schubert: „Ja.” Interviewer: “Und wenn ja, wie?” – „Also wir fahren mit dem Fahrrad gelegentlich dort hin, wir bewandern ihn, von hier aus kann man wunderschön wandern. Also über Weißkirchen, Steinbach, was man quasi alles so Kronberg, [Oberhöch]stadt, was da also alles dazwischen liegt”. Herr Schubert fügt hinzu: „Also ich jogge dann auch ab und zu halt durch diesen Raum. Des sind Streuobstwiesen, des is Gartenwirtschaft und hier is alles eigentlich, ja. Also ich vermisse nichts”; „wenn es uns einfällt, dann setzen wir uns aufs Rad, dann da unten gibts ein FlughafenCafé, in Bonames gibts n Eiscafé. Sie können hier sich durch die Stadt schlängeln, zum Hauptbahnhof, in n Stadtwald also des is alles machbar”27. Weil damit der Kreis gewissermaßen geschlossen ist, ist „alles da”, „hat man alles”, „ist alles machbar”. Der „Radius” tritt hier hervor als Raum der Fülle, in dem „alles” ist und man nichts „vermissen” muss.

27 A.a.O., S. 147.

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Von der Maßlosigkeit der Lage möchte ich insofern sprechen, als die Menschen sich gerade angesichts der erstaunlichen Fülle Gelegenheiten gegenüber sehen, die sie gar nicht ausschöpfen können oder auch nur wollen. Frau Lagerfeld sagt dazu: „Ich kann auch nicht jeden Tag bei Feinkost Berger einkaufen”, um hinzuzufügen, „aber man hat die Möglichkeit”. Und weiter: „Man hat auch Freizeitmöglichkeiten ohne Ende”28. Welches Maß legt man an, um die Fülle an Angebote hinsichtlich der eigenen Bedürftigkeit zu bewerten? Ohne dies abschließend beurteilen zu wollen, fällt doch dieser fast ohnmächtige Versuch auf, etwas hinein ins eigene Wohnen und damit ins Nahe und Vertraute ziehen zu wollen, um es gleich wieder als das Ferne und Unerreichbare von sich zu stoßen. „Also man hat die Möglichkeit, alles Mögliche zu machen. ... Man hat natürlich auch die Einkaufsmöglichkeiten, die ich allerdings, jetzt muss ich sagen, persönlich nicht ausnutze”29. Einen Möglichkeitsraum kann man nicht bewohnen. Dass es sich bei den von mir herausgestellten Wohnkonzeptionen und Konzepten (Rand, Mitte usw.) tatsächlich auch um „offene” Orientierungssituationen handelt, mag man bei Frau Lagerfeld nachvollziehen. Sie spricht an einer Stelle von einer „irgendwie komischen Lage”. Nachdem sie ihre berufliche und familiäre Orientierungskrise beschrieben hat, erscheint die daraufhin von ihr so benannte „Feldrandlage” als Überschrift des Bemeisterns jener Krise. Es gibt indes kein bewährtes Maß, sich die eigene Lage als beschäftigungslose Diplomdesignerin mit zwei kleinen Kindern in einem Reihenhaus am Rande Bad Homburgs, deren Mann in Mainz arbeitet, verständlich zu machen: „Das Angebot war einfach sehr schlecht, muss ich sagen, es wurde fast nichts angeboten. Es war halt alles total überteuert. Das Haus hier ist auch voll überteuert ... aber es ist halt die Lage. Es ist die Lage, die Lage”, sagt Frau Lagerfeld30. Nur kurze Zeit später, nachdem sie findet, es sei aber traumhaft für die Kinder, führt sie aus: „Wenn man raus ist, ist das Feldrandlage. Das war für mich auch das Thema. Also das war, wo ich gesagt hab, das ist genial. Die haben auch gesagt, die nächsten zehn Jahre wird das nicht bebaut”31. Das Bild von einer Lage, der man sich bewusst wird, taucht immer wieder auf. Es kommt auf die Perspektive an, in der man für sich eine Lösung der Wohnsituation sieht. Jedenfalls scheint plausibel zu sein, dass die „Feldrandlage” keine geographische Eigenschaft des von Frau Lagerfeld bewohnten Raums bestimmt. Denn die „Feldrandlage” ist immer auch ihre, Frau Lagerfelds „Lage”.

28 A.a.O., S. 167. 29 Ebd. 30 A.a.O., S. 166. 31 A.a.O., S. 168.

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Das regionale Wohnen am nördlichen Rand von Berlin32 Die Menschen betonen stets, dass ihnen ihr Wohnen bewusst ist. So wie sie jetzt wohnen, dafür haben sie sich entschieden. Niemand ist blind irgendwo hingezogen! Dies gilt ebenso für die Menschen, mit denen ich am nördlichen Rand der Großstadtregion Berlin Gespräche geführt habe. Diese Haltung einer selbstbestimmten Lebensführung lässt sich aber ebenso zeigen an Interviewaufzeichnungen, die einem „dörflichen Wohnen“ nachsinnen.33 Suburbanisierung erzeugt suburbane Standorte, Randwanderung erzeugt viele Lebensorte am „Rand“ der großen Städte. Der Ausdruck „Rand“ kann nur eine Überschrift sein für die Kennzeichnung eines Lebensfeldes, das sich Menschen im Rückgriff auf ihre Wohnerfahrungen und im Vorblick auf das Erfüllen ihrer Wohnerwartungen zu gestalten versuchen. Es ermöglicht ein Leben des Sowohl-als auch. Vom Rand aus, so der Eindruck, lässt sich alles erreichen: Das regionale Lebens-Feld ist weder Stadt noch Land, es ist wohl etwas Neues, eine Insel, ein Hybrid, etwas Geschichtsloses, oft aus dem Boden gestampft, weder Fisch noch Fleisch, eben bloß Rand. Sein Charakter wird als „dörflich“, als „kleinstädtisch“, als „heile Welt“ usw. betitelt, was wohl weniger auf eigene Erfahrungen zurückgeht, als ein Staunen begleitet, in der Welt und für ihr Leben etwas entdeckt zu haben, was es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Kein Beobachter würde angesichts der oft einfallslosen und stupiden Neubaugebiete auf die Idee kommen, jenen Charakter zu vermuten. Offensichtlich haben wir es bei den Aussagen über gefühlte oder gestimmte Räume mit Befindlichkeiten zu tun, was uns zeigt, dass die Menschen ihre Lebensräume in erster Linie emotional oder stimmungsmäßig verstehen. Der Hintergrund, vor dem das aktuelle Leben spielt und beurteilt wird, ist die eigene Lebensgeschichte mit ihren ganz besonderen Erfahrungen und Zielen. Aber, was das Wesentliche ist, es verspricht sowohl die Landschaft als auch die Stadt in erreichbarer Nähe zu haben. Und genau dies scheint das moderne Wohnen zu wünschen, damit es gelingt. Dabei müssen wir jedoch damit rechnen, dass die Konzeptionen „Landschaft“ und „Stadt“ keinem professionellen Denkstil entstammen, sondern Blicke und Wege in die Welt sind, die das

32 Vgl. A. Hahn: Lebenswelten am Rand, S. 223-233. Alle nachfolgenden Zitate und Interviewpassagen entstammen dieser Veröffentlichung und sind durch An- und Abführungen sowie kursiven Schriftschnitt gekennzeichnet. Der Ortsname Wiesthal ist frei erfunden. Das Forschungsprojekt ist auf meine Initiative zurückgegangen und basierte auf meinen Beobachtungen an der Peripherie von Berlin und Gesprächen mit „Randbewohnern“. 33 Vgl. A. Hahn: Die Praxis des „guten Lebens“ auf dem Land, S. 52-64.

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Leben hier zu führen erst interessant und lohnend machen. Die Menschen erleben sich an einem Rand wohnend. So wohnend, steht einem das Feld der Landschaft ebenso offen wie das Feld der Großstadt. Das Feld des Randes wird von den von mir „interviewten“ Menschen gefüllt mit Lebensangelegenheiten, die mit Wohnen und Organisation der privaten Lebensführung zu tun haben. Es geht nicht darum, überhaupt zu wohnen und Eigentum zu besitzen. Der Ort ist gesucht und gefunden! Man will angenehmer, bequemer und hübscher – also irgendwie besser als bisher wohnen. Das setzt aber voraus, dass man sich über sein Wohnen Gedanken gemacht hat. Dies geht nur, wenn man sich auch über die eigenen Lebensziele Gewissheit zu verschaffen bemüht. Auf dem Fleckchen Erde am Rand soll es zwar ähnlich zugehen, wie man es gewohnt ist, es rücken indes andere Dinge in den Vordergrund. Die relevante Mitte, die der Rand aufweist, ist das Haus, die Immobilie, der Ort, an dem man Eigentum hat und wo sich das privat-intime Leben abspielt. In ihrer Umgebung ist alles eher verstreut. Diese möblierte Mitte des „Selbst“ oder der „Selbste“ ist das gemeinsame räumliche Ziel, wenn man von den übrigen, vereinzelt aufgesuchten und verstreut umher liegenden Lebensfeldern „heim“kommt. Die Arbeit findet in der Regel außerhalb des Randes statt, wichtig ist jedoch, dass sie einfach und bequem erreicht werden kann. (Genauer müsste man sagen: einfacher und bequemer als von anderswoher). Und auch das Lebensfeld Freizeit, der Wald, die Heide, die „schöne Landschaft“ und das „idyllische Dorf“, liegt – gut und schnell betretbar – jenseits des Randes. Die Qualität des Randes besteht in seiner Lage als Rand. Der Rand ist wie ein Sprungbrett, von dem aus die Welt jenseits der Privatheit und Intimität erobert werden kann, ein Tor, das Eintritt verschafft, sowohl in Richtung urbanes Feld als auch in Richtung landschaftliches Feld. Eine An- und Entbindung, die zugleich sporadisch, gewählt, nicht-verpflichtend und anonym sein soll, bedarf eines Verkehrssystems, das jeden, wann immer er will, vom Rand wieder wegführt. Der Rand soll Verbindlichkeit zulassen und gleichzeitig das Individuum auf Wunsch entlassen können, je wie es gebraucht wird. Je mehr Verkehrssysteme zur Verfügung stehen desto besser. Man möchte schnell zum Rand kommen, aber ebenso schnell die Stadt erreichen können. Dabei markieren der U- oder S-Bahnanschluss, der Autobahnzubringer, die Bushaltestelle, der ausgebaute Fahrradweg den wichtigsten praktischen Unterschied, das beinahe täglich gespürte Bedürfnis nach Mobilität zu befriedigen, zwischen dem Hier, für das man sich entschieden hat, und den vielen anderen Irgendwo. Für meine Gesprächspartner sind der private PKW wie die S-Bahn (mitunter auch das Fahrrad) Garanten ihrer Mobilität und damit ihrer persönli-

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chen Lebensqualität. Das Leben am „Rand“, das Wiesthal heißt, baut auf Selbstinitiative und Beweglichkeit, denn am Rand ist im Grunde „nichts los“. Das eigene Leben zu führen, wird zu einem Projekt, bei dem es darauf ankommt, das Richtige zu tun. Man hat sich fest entschlossen, das Leben am Rand fortzusetzen, ohne ausschließen zu können, dass es nicht woanders noch besser gehen könnte. Was nicht ist, kann ja noch werden – so der Pragmatismus eines Wohnens am Rand. Aber alle, die ich sprechen konnte, sind ihren Bedürfnissen auf der Spur, suchen „Selbstverwirklichung“ für ihre mehr oder weniger bescheidenen Wünsche. Sie wissen, was sie wollen, und passen ihr Wollen ständig an die Umstände an. Irene beispielsweise wäre gewiss viel lieber im Berliner Bezirk Reinickendorf geblieben, besonders ihrer Kinder wegen, die dort weiter zur Schule gehen und ihre Freunde haben. Doch auch für sie hat sich letztlich alles zum Guten gewendet. Büchners sind sich sicher, ihr Traumhaus noch nicht gefunden zu haben, deshalb bewohnen sie ihr Reihenhaus zur Miete. Dennoch kommt es ihrem Wunschwohnen schon sehr nahe. Familie Flottmann wäre lieber in den Berliner Osten gezogen, irgendwo hinter Hellersdorf, wo sie sich auch als erstes umgeschaut hatten, aber die Wohnparks dort waren zu teuer und so gar nicht nach ihrem Geschmack. Es fehlte vor allem die Anbindung an ein altes Dorf. Und Olga hätte sehr gern einen 100 Quadratmeter großen Garten gehabt und, wenn es nach ihr gegangen wäre, lieber irgendwo im Süden Berlins gebaut. Und niemand hätte etwas dagegen einzuwenden, wenn ihre Häuser ein wenig mehr Wohnraum aufwiesen. Alle haben sie Abstriche machen müssen, für alle war und ist der Rand im Allgemeinen und Wiesthal im Besonderen ein Widerfahrnis, auf das man sich einlassen musste und dessen Brauchbarkeit sich aber „dann herausgestellt hat“, wie Irene sagt. Sie schätzen an Wiesthal vor allem das, was sie sonst am Rand nicht gefunden haben: der Unterschied macht es! So sind sich alle im Moment einig, dass es hier am besten ist. Das Leben am Rand, so meine Vermutung, hat einen eigenen Blick geschärft, den kein Stadt- oder Regionalplaner ohne weiteres nachvollziehen kann. Schon der Charakter der Siedlung ist stimmungsmäßig erlebt: Sigi spricht von einem „Zwischending“, weder Stadt noch Land. Alfred erkennt einen dörflichen Charakter, Irene findet es hier „niedlich und hübsch“ und „eher dörflich“. Olga erzählt davon, dass die Siedlung auf sie wie ein „Urlaubsort“ wirke, wobei es ihr insbesondere auf das Erlebnis der Heimfahrt vom Arbeitsort Berlin nach Wiesthal ankomme.34 Die Siedlung ist durch ein Industriegebiet und einen Wald deutlich von Berlin geschieden. Diesen Eindruck hat man insbesondere, wenn man mit der S-Bahn nach Wiesthal fährt. Wiesthals Umgebung wird als ländlich

34 Vgl. A. Hahn: Lebenswelten am Rand, S. 228.

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empfunden, vor allem wegen des Waldes in der Nähe und den Heidegebieten ringsherum. Alfred und Sigi betonen mehr oder weniger erleichtert, dass es hier jedoch keine Landwirtschaft gibt, und man sich deshalb auch nicht eigentlich auf dem Land befindet. Charakteristisch für den Rand erscheint den Menschen auch die moderne Architektur – bunt, viele Fenster, auffallend unterschiedlich gestaltete Fassaden, die sehr kleinen Grundstücke, die enge Bebauung und die Größe der Siedlung, die auf nicht absehbares Wachstum ausgerichtet zu sein scheint. Insbesondere letzteres stellt man nicht ohne eine gewisse Hilflosigkeit fest. Der Rand im Sinne eines erlebten Grenzgebiets zwischen dem ausgefransten Ende einer Stadt und einer diffus-offenen Landschaft ist für unsere Gesprächspartner überhaupt nicht attraktiv. Wiesthal indes zeichnet vielerlei aus. Doch seine Vorteile sind solche immer nur im Vergleich zu anderen Standorten, die man sich angeschaut hat. Auch für dieses Schauen war schon ein besonderer Blick leitend und verantwortlich, der das Interesse der Menschen an ihrer Lebensform spiegelt. Folgende Unterscheidung, die Irene trifft, und die in Kurzschrift lautet: schlechter, besser, schneller, ist typisch aufgrund ähnlicher erfahrungsgemäßer Bezüge: In Birkenwerder (bei Berlin) zum Beispiel „war der Weg ungünstig, das war, naja, wenig beleuchtete Straßen und so, das war da noch schlechter, das war auch mit ein Grund, dass ich gesagt habe, das ist ja hier viel besser, denn hier zur S-Bahn zu kommen, ging zum einen schneller, zum anderen sind die Straßen beleuchtet, also, die [gemeint sind ihre Kinder, A.H.] können dann auch mal abends dann, halt, im Dunkeln nach Hause kommen und man muss dann nicht Sorge haben“. Oder Alfred, der „ rund um Berlin gesucht“ hat, erklärt die Vorzüge des Berliner Nordens mit Blick auf gewisse Unterschiede: „Der Süden ist nicht so mein Ding. Ich finde die Leute sind da anders. Die sind engstirniger. Die sind nicht so ein bisschen großzügig irgendwie, und die Landschaft ist auch hier im Norden schöner. Wälder, Seen großzügiger und im Süden sind auch Wälder aber viel Landwirtschaft.“ Sigi Flottmann, der als eingesessener Brandenburger weiß, dass es „sehr hässliche Vororte Berlins gibt“ und der von sich berichtet, er kenne „fast ganz Rand-Berlin“, hat ebenfalls Vergleiche angestellt und große Unterschiede festgestellt: „Also irgendwo auf weiter Flur wo nichts weiter ist, wo vielleicht eine Straße denn hinführt und wo man denken, naja, wenn die hier aufhören zu bauen, dann kannste hier Gute-Nacht-sagen und [...] zum Beispiel in Rüdersdorf hab ich gesehen also erst mal ach viel zu weit weg vom Ort und denn hab ich gesehen, wie sie die Platten da abladen, da dachte ich: Ach nee! Weg hier! Nicht wieder [amüsiert] Platte!“. Auch Olga und ihr Mann „kennen fast keinen Wohnpark um Berlin, den wir nicht kennen“, sie weiß deshalb, wovon sie spricht: „Dann hat uns nicht gefallen an vielen Wohnparks,

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wenn die so am Ortsrand liegen und so, eigentlich zum alten Ort eigentlich noch so anderthalb Kilometer haben“.35 „Ausschlaggebend war der Ort“, versichert mir dann Olga. Er ist die Stätte, von wo aus die praktische Bewältigung des Lebens organisiert wird: die Kinder großziehen, zur Arbeit kommen, Freizeitaktivitäten planen, angenehme Nachbarn finden, sich rundum gut fühlen – und all dies hier, wo es auch noch „schön“ ist, wie man von allen hören kann. Der gewählte Lebensort ermöglicht eine Lebensführung, die zu ihren gegenwärtigen Vorstellungen und Wünschen am besten passt. Der Ort ist der nach manchem Hin und Her endlich akzeptierte Lebensmittelpunkt, an dem vieles zusammen kommt, was man als Qualität zu schätzen lernt. Sigi beteuert, dass „das Umfeld ganz entscheidend ist“. Er spricht von einem „idyllischen Ort“, „wo man angenehm leben kann“. Dieser Ort selbst ist geographisch nicht exakt zu fassen. Er reicht so weit wie das Gefühl, dass man es hier „gut“ getroffen hat. Sigi bringt es auf den Punkt, was alle anderen auch dem Zuhörer ihrer Geschichten nahelegen: „Das Haus in dem Sinne ist eigentlich die Voraussetzung, und dann die Entscheidung ist irgendwo das Umfeld“. Häuser in vergleichbarer baulicher Qualität, Ausstattung und Preisklasse bekommt man auch anderswo. Entschieden haben sich alle für ein regionales Umfeld, das viele individuelle Wünsche berührt. Auch Alfred, der seine Sicht von Selbstbestimmung auf den Punkt bringt: „Ich bin Herr im Haus und ich entscheide“ und eindringlich versichert, er habe alles „ganz bewusst so gemacht“, ging es gewiss nicht um das Haus allein. Sein Entscheidungshandeln greift weiter und bezieht mehr Beachtenswertes mit ein: „Das war natürlich ganz wichtig immer, jetzt nicht ein wunderschönes Haus irgendwo zu haben, sondern es musste sein in einem Gesamtkonzept, ja, und das ist hier eben. Ist ne große Fläche neuer Häuser und das ist okay [...] das würde mir nun nicht gefallen, sagen wir mal, ein schönes Haus zu haben und links und rechts sind denn noch Ruinengrundstücke“. Erst die Gegend hebt das „schöne Haus“ als solches heraus, macht aus einem beliebigen randständigen Irgendwo an einer beliebigen Raum-Stelle den für alle richtigen oder eben „schönen“ Ort. Er bereut natürlich die Entscheidung für Wiesthal keineswegs: „Hier sind die Leute freundlicher, die sind menschlicher und freundlicher“. Es folgt dann noch ein typisches Beispiel für das praktizierte Sprachspiel, das dieser regionalen Lebensform eigen ist: „Es ist keine Landwirtschaft, es sind keine Fabriken, es ist nur Wald eventuell Brachland [...] es ist schöne Luft, da hat ja der Wald ganz entscheidend Einfluss drauf und ist doch wunderschön, wenn man die würzige Waldluft riecht zu jeder Jah-

35 A.a.O., S. 229.

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reszeit, ja, [...] ist doch schön anzuschauen und schöne Luft und wenn man Glück hat menschenleer, da blüht man doch auf. Ist doch wunderbar.“36

D ER „ REGIONALE R AUM “ Die Welt des Randes Der Rand ist kultureller Ausdruck eines Strebens nach einem bestimmten Leben und Wohnen, das zu einem passt. Die Menschen begreifen und bewältigen den biographischen Einschnitt, welcher der Wanderung vorausgegangen ist und vieles daraufhin Folgende begleitet, als Chance und Aufforderung, nach Sinn und Inhalt ihres Lebens zu fragen: Worauf kommt es mir/uns an? Wem soll der Umzug nutzen? Womit darf es auf keinen Fall schlechter werden? Wie können wir es in Zukunft (noch) besser machen? Was ist der für uns richtige Lebensort? Die Wiesthaler sind davon überzeugt, dass die Randwanderung auf einige Fragen, die sich in ihrem Leben aufgetan haben, die richtige Antwort ist. Sie gewinnen ihr Urteilsmaß nicht durch Rekurs auf etwas Absolutes, z.B. zeitlose Regeln zweckrationalen Handelns oder Invarianten des Wohnens, sondern in erster Linie durch Vergleiche, die sich an den eigenen Erfahrungen orientieren. Insofern sind sich die Wiesthaler auch ziemlich sicher, dass es einen praktischen Unterschied macht, ob man hier oder anderswo am Rand wohnt. Wir haben keinen Hinweis darauf bekommen, dass es irgendwo in der Welt eine Wirklichkeit gibt, die man Suburbanisierung nennt und die die Menschen, wie durch eine unsichtbare Hand gesteuert, zu diesem Leben am Rand bringt. Der Ausdruck „Rand“ gewinnt für die Wiesthaler eine Bedeutung, die sich allein territorial nicht verstehen lässt. Der „Rand“ zeigt sich als Metapher für eine moderne ex-zentrische Lebensform37, offensichtlich jenseits bekannter Vergesellschaftungen in homogenen sozialen Gruppen. Der Rand ist – in dem von mir untersuchten Beispielen – kultureller Ausdruck eines angestrebten Lebens zwischen „Stadt“ und „Landschaft“, das viele aktuelle Wünsche seiner Bewohner vorläufig befriedigt. Die Menschen sind so selbständig in ihrem Tun und Den-

36 A.a.O., S. 229 f. 37 Ex-zentrische Lebensform wird in Anlehnung Helmuth Plessners Ausdruck „exzentrische Positionalität“ verwendet, der mit seinem Begriff auf die sozial-räumliche Stellung des Menschen in der Welt („Umfeld“ als Gegenüber) hingewiesen hat (vgl. H. Plessner: Mit anderen Augen). Plessner unterscheidet dabei noch zwischen Außen-, Innen- und Mitwelt.

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ken, wie man es in einer Welt sein kann, die als offen und widerständig zugleich erlebt wird. Der hermeneutische Ansatz bietet die Möglichkeit, das Siedeln und Wandern als ein soziales Verhalten zu verstehen. Wohnsuburbanisierung als soziales Handeln zu untersuchen, erschließt uns die Seiten der räumlichen Phänomene, die untrennbar mit den Lebensführungen der Menschen verknüpft sind. Wiesthal erhält seine Bedeutung durch das Tun und Lassen, das damit verbunden ist. Es gibt für sie immer beschreibbare Gründe, warum die Wiesthaler gerade an diesen Ort gekommen sind. Diese Gründe sind nicht von ihren Biographien zu trennen, noch gehen sie völlig in ihnen auf. Eher ist die Wohnsuburbanisierung als ein Prozess zu verstehen, der aus der Wechselwirkung zwischen gewissen Wohnerfahrungen und Wohnwünschen und der jeweiligen sozialen und räumlichen Umwelt gedeutet werden kann. Wie lassen sich spezifische, sinnhafte Einsichten in diese („nachtraditionellen“) Lebens- und Raumformen38 aufweisen, die die besondere Aufmerksamkeit beantwortet, die ihnen der regionale Raum abfordert? Das Moment der Wanderung, das unseren Beispielen zueigen ist, lässt vermuten, dass sich nachtraditionelle Lebensformen durch den Ortswechsel in einer kontinuierlichen Koexistenz oder Konfrontation mit anderen, die eher eine sesshafte Lebensführung praktizieren, sehen, insofern man die Mobilität durchaus als Verlust einer „ursprünglichen“ Verortung versteht. Die Rede von „Dorf“ und „Kleinstadt“ zeigt auch, dass man nicht davon überzeugt ist, dass die „regionale“ die einzig sinnvolle Lebensform ist. Insofern man nämlich selbst nur „am Rand“ solcher Dörfer und Kleinstädte wohnt, gibt es eben auch die anderen, die mittendrin wohnen. Lebensführung und Raumgebrauch, so konnten wir den alltagspraktischen Erfahrungen entnehmen, sind weder voneinander isolierbar, noch lassen sie sich begrifflich jeweils vereinseitigen. Ihre Bedeutung gewinnen sie erst in Geschichten, in denen sie dann freilich auf vielfältige Weise auftauchen. Die Bedeutungsgestalt der „Stadtregion/Region“, so können wir nun zusammenfassen, ist ein „Bild“ desjenigen „Geschichtenraumes“, in welches sich die sozialräumlichen Lagen und Situationen der Menschen hinsichtlich ihres eigenen lokalen Selbstverständnisses entfalten und identifizierbar werden. Und zu diesen WohnSituationen gehören dann: zur Arbeit kommen, einkaufen, Kinder zum Arzt bringen, „durch die Landschaft“ joggen, im „nahen Wald“ spazieren gehen. Das neue regionale Phänomen lässt sich nicht in einzelne kategoriale Bestandteile (wie Haushalt, Akteur, Wohnungsgröße, Mietpreis usw.) zerlegen, um sie anschließend zu einer vom Wohnungsmarkt abhängigen Synthese zu „verkitten“.

38 Vgl. auch M. Seel: Ethik und Lebensformen, S. 244-257.

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Die Bedeutungsgestalt, die sich hermeneutisch erschließen lässt, „bildet“ die Wirklichkeit des Geschichtenraumes nicht „ab“, sie ist selber eine Wirklichkeit, in die die Bewohner verstrickt sind. Grenze und Maß des Offenen Fragen wir nach der Angemessenheit des nun gefundenen Wohnens (und Bleibens), so tauchen in den Beschreibungen jeweils Hinweise auf, worauf es dem Menschen bei seinem Wohnen ankommt ebenso wie Belege bezüglich der Maßstäblichkeit oder erlebten Richtigkeit der Lösungen, in denen man sich nun eingerichtet hat. Wonach man jedoch anfänglich gesucht hat, entdeckt man erst, wenn man das Neue gefunden hat, insofern es sich im Wohnen bewähren konnte. Was und wie sich etwas aber bewährt, das erfährt man allerdings erst noch. Es sind „gefundene“ Maßstäbe einer erlebten (gefühlten, empfundenen) Grenze, innerhalb derer ein Leben zu führen den Menschen vernünftig erscheint. Aber das Leben wird geführt aus einer „Mitte“ heraus, die die Menschen selbst mit ihren Überzeugungen und Wünschen sind. Mitte und Grenze sind deshalb stets aufeinander bezogen. Dies belegen schon das beobachtbare Missbehagen und der spürbare Unwillen, das Bleiben, da es sich doch auch bewährt hatte, aufzugeben. „Schluss, jetzt gehe ich nach Hause“39, sagte Herr Burg in einer Situation des fast Verzweifelns an der Welt da draußen. Das Bleiben ist stets das Bleiben des Leibes an einem Ort, den man „Zuhause“ („Haus“) nennt. So wollten Lagerfelds eigentlich lieber in Mainz bleiben, Familie Landau in ihrer Villa, und auch Familie Burg war mit ihrem Reihenhaus in Frankfurt „sehr zufrieden“. Ganz zu schweigen von Frau Schubert, die ihr Zuhause zwar am Ende aufgegeben hat, dennoch es schaffte, „hier“ zu bleiben.40 Auch mancher Wiesthaler wäre gerne geblieben, wenn sich seine Umstände nicht gewandelt hätten. Die Einsicht, dass man nicht mehr bleiben kann, ist tatsächlich die Entscheidung mit dem Suchen zu beginnen, die nicht leicht vollzogen wird. Denn, und dies wird den Menschen schnell klar, wegziehen bedeutet in der Regel Bindungen aufgeben. Da solche Bindungen als etwas Starkes erlebt werden, scheinen sie auch bei der Suche nach einer neuen Bleibe gegenwärtig. Unklar ist man sich aber doch, an was man sich denn genau am neuen Ort binden will, was es dort zu finden geben wird. Da die Menschen sich für Randlagen entscheiden, die man grundsätzlich auch wieder verlassen kann, lässt man sich auf keine Gepflogenheiten ein, sondern geht, wenn überhaupt, ganz bewusst lokale Verpflichtungen ein. Irgendwie beginnt

39 A. Hahn/M. Steinbusch: Möglichkeit und Grenze, S. 219. 40 A.a.O., S. 135 ff.

A SPEKTE

NEUER

L EBENSFORMEN

IM „ REGIONALEN “

RAUM

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man „wieder von vorn“. Durchgehend verhält man sich doch skeptisch gegenüber traditionellen Bindungsinstitutionen, wenn man davon am neuen Ort erfährt. Auf welche besondere Weise wird in der regionalen Lebensform dem eigenen, gefundenen Wohnen die Bedeutung von Mitte und Grenze auferlegt angesichts eines „Angebots-Raumes“, von dem Frau Lagerfeld behauptet, er biete die Chance, alles Mögliche zu machen? Der Leib ist die Mitte (der Angelpunkt) der sozialen Bindungen und (freiwilligen) Verpflichtungen, die der Mensch eingegangen ist und die sein soziales, mitweltliches Leben bestimmen. Das HierWohnen „aus der Mitte heraus“ lässt dann auch für die Menschen mit der Zeit das Maß erkennbar werden, das sie veranlasst, eigene Grenzen des Wohnens „nach außen“ in die Umgebung des Wohnens zu ziehen. Dass es überhaupt solche Grenzen gibt und geben „muss“, weiß man freilich aus der eigenen Wohngeschichte, die ja am neuen Ort vor allem fortgesetzt werden soll. Es ist hier nämlich das oft als strukturlos wahrgenommene Weite und Offene des Randes, das durch Grenzen und Richtungen erst geordnet werden muss. Wird die Mitte, wie für alle unsere Beispiele typisch, an den Rand gelegt, so besonders eindrucksvoll von Frau Lagerfeld als „Feldrandlage“ bezeichnet, dann befinden wir uns zwischen den „alten“ sozialräumlichen Mitten (wie Nachbarschaft, Dorf, Kleinstadtzentrum, Vereinshaus) und der Weite der offen-diffusen Landschaft, nur unterbrochen durch urbane Knotenpunkten (City, Flughafen, U- oder S-Bahnhof, Zubringerstaßen, Autobahnanschlussstelle), freizeitlich zugerichtete Landschaftsräume und agrikulturräumliche Enklaven wie Wälder, Heiden und Steppen. Wir können von „alten“ Mitten insofern sprechen, als unsere Gesprächspartner ihrem Raum eine Ordnung der Nähe geben wollen, diese Nähe aber nicht durch Integration in bestehende sozialräumliche Institutionen wie Dorfgemeinschaften, Nachbarschaften und kleinstädtische Vereine mit ihren eingeschliffenen Übereinkünften geschehen soll, sondern durch selbstbestimmte Aktivitäten erst gewonnen werden will. Die Siedlungsflächen, auf denen man sich niederlässt, weisen ja städtebaulich durchaus nachbarschaftliche Möglichkeiten auf, die jedoch nicht oder kaum aufgegriffen werden. Vielmehr werden „private“ Freundschaften den „traditionellen“ Konzepten der Erzeugung sozialräumlicher Gemeinschaften vorgezogen. Bei aller vermeintlicher Ähnlichkeit der regionalen Wohn- und Lebenskonzepte bleibt allerdings ein typisches Differenzierungsmerkmal unverkennbar: nämlich die eigene Lebensgeschichte mit ihren spezifischen Wohnerfahrungen. So macht es einen wesentlichen Unterschied bei der Suche und Beschreibung des gefundenen Lebensortes, ob man in einem ländlichen Raum oder in einer verstädterten Agglomeration aufgewachsen ist. Gefunden haben nämlich „alle“

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etwas anderes. Entsprechend unterschiedlich gestalten sich die persönlichen Erwartungen an ein gelingendes landschaftliches Wohnen. Eine andere biographische Besonderheit betrifft die jeweilige Lebensphase, in der die Wohnenden von der Forschung aufgesucht werden. Ein Wohnen mit Kindern, so die Ergebnisse, orientiert sich an Bildern eines „dörflichen“ oder „kleinstädtischen“ Lebensraumes, während bei Paaren, deren Kinder „aus dem Haus“ sind, eher Freizeitaspekte und bequeme Erreichbarkeit kultureller Einrichtungen den Horizont ihres Wohnens prägen. Letztere erwarten in der Regel auch nicht von sich, noch einmal umzuziehen. Bei Menschen mit kleinen und schulpflichtigen Kindern ergeben sich am ehesten überschaubare soziale Bindungen untereinander; sie entdecken gemeinsame Wege, Orte und Interessen und ihnen fällt ein Umzug am schwersten. Unter anhaltenden Mobilitätserwartungen stehen indessen vor allem die Menschen, die in Berufen arbeiten, die zu ihrer Ausübung kaum mehr eine lokale Basis benötigen, sondern eher in einem überregionalen oder gar internationalen Raum agieren. Sie hoffen, dass ihnen die Nähe zu Autobahnzubringer, ICE-Bahnhof und Flughafen einen weiteren Umzug ersparen könnte.

Suburbane Räume „als“ Lebensräume

E INSTIMMUNG Der Titel dieses Aufsatzes suggeriert, dass es möglich sei, ohne große Verluste regionalwissenschaftliche Kategorien in lebensweltliche zu überführen. Ist ein kontinuierlicher Übergang von Suburbanität zum lokalen Lebensraum denkbar? Um zu prüfen, inwiefern dies möglich sein könnte, müsste man vermutlich als erstes klären, in welchem Abhängigkeitsverhältnis wissenschaftliche Begriffe zu lebensweltlichen Konzeptionen stehen. Man würde dann rasch zu der Einsicht gelangen, dass unsere Alltagssprache und deren Wortschatz sehr viel älter ist als wissenschaftliche Definitionen, die sich z. B. in einer Institution wie der Stadtund Regionalplanung und ihren eigenen Denkstilen durchsetzen konnten und dort mehr oder weniger definitive Bedeutung erlangten. Bereits ein flüchtiger Blick ins Wörterbuch der Deutschen Sprache zeigt uns, dass das Substantiv „Raum“ von der adjektivischen Form „geräumt“ abstammt, und dieses Adjektiv bedeutet urbar gemacht bzw. freigemacht für menschliche Aktivitäten.1 Besinnen wir uns also darauf, dass das lebensweltliche und umgangssprachliche Bezugnehmen auf Räume, Orte und Plätze vorgängig jeder wissenschaftlichen Definition ist, dann hätten wir eigentlich zu fragen: Wie verändert sich unser wissenschaftliches Verständnis von „Lebensräumen“, wenn wir es unter der Hinsicht suburbaner Klassifikationen auslegen? Oder anders gefragt: Worin unterscheiden sich unsere alltagsweltlichen Denkstile und Überzeugungen von den wissenschaftlichen Weltbildern eines Denkkollektivs?2 Obwohl diese Fragen möglicherweise essentiell sind, um unterschiedliche Raumbegriffe auf ihren Kern zurück zu führen, will ich sie nicht weiter verfolgen, sondern ankündigen, dass ich die Geschichte einer Familie nacherzählen werde, deren „Wanderungs-

1

Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.

2

Vgl. L. Fleck: Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache.

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verhalten“, wie die Stadt- und Regionalsoziologen sagen würden, sich in einem geographischen Raum abgespielt hat, den die Regionalplanung durchaus als suburbanen Raum definieren würde.3 Ich möchte an dieser kommentierten Nacherzählung demonstrieren, inwiefern sie alle Elemente oder zumindest die wichtigsten Elemente erhält, die uns zu einem Verständnis hinführen können, was es heißt, einen Raum „hier und jetzt“ zu bewohnen. Damit interpretiere ich den Lebensraum als den bewohnbaren bzw. bewohnten Raum und bin durchaus der Meinung, dass man einen suburbanen Raum nicht bewohnen kann.4 Schließlich sei noch angemerkt, dass der Fall der Familie Ritter zwar „nur“ ein Einzelbeispiel ist, aber jedes Beispiel, das gegeben wird, verweist auf etwas Prinzipielles, wofür es als Beispiel steht.5 Das Faszinierende an unserem Thema liegt für mich darin, dass die „suburbane“ und die „lebensräumliche“ Perspektive sich dogmatisch gegeneinander verhalten. Sie haben jeweils ihre eigene Logik, die ausschließend wirken muss. Dies kann man am Begriff der Empirie verdeutlichen. Wenn z. B. Brake et al. von der „Empirie der Zwischenstadt“ sprechen6, dann interpretieren sie Beobachtungen und sich zahlenmäßig niedergeschlagene Befunde auf der Basis von zur Verfügung gestellten Daten, die unter bestimmten Voraussetzungen gesammelt und kategorisiert wurden. Für einen lebensräumlichen Ansatz liegt die Grundlage der Wissenschaft in der vorwissenschaftlichen Lebenspraxis gegeben und ist dort zu entdecken, deren pragmatische Ordnung in den Erfahrungen der beteiligten Menschen selbst zu suchen ist. Kritisieren kann man die jeweiligen Sichten nur immanent, indem der eine Regionalwissenschaftler dem anderen nachweist, einer eingespielten Logik des Fachs nicht gefolgt zu sein. Oder auch,

3

Vgl. T. Sieverts/M. Koch/U. Stein/M. Steinbusch: Zwischenstadt – inzwischen Stadt?

4

Will man einen suburbane Raum veranschaulichen, dann wird man Pläne und Karten vorlegen, um z.B. den Flächenanspruch bzw. -verbrauch gegenüber einem urbanen Raum bzw. einem ländlichen Raum abzugrenzen. Entsprechend plan und flächig stellt man sich diesen zweidimensionalen Raum vor. Aber ebenso wie man nicht auf der Wasseroberfläche schwimmen kann, so wenig lässt sich ein zweidimensionaler Raum von Menschen bewohnen.

5

Ich werde mich auf ein Beispiel konzentrieren, um zu zeigen, welche immanente „Rationalität“ einer sog. Kernstadt-Umland-Wanderung eignet. Ich will allein für die beispielhermeneutische Logik werben, nicht aber diesem Fall eine normative Bedeutung beimessen, von dem sich irgendwelche Gesetzmäßigkeiten ableiten ließen. Vgl. Achim Hahn: Zur Methodologie der beispielhermeneutischen Wohnforschung.

6

Vgl für diesen Denkstil bzw. diese Perspektive auf den Raum: K. Brake/I. Einacker/H. Mäding: Kräfte, Prozesse, Akteure.

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dass Frau Ritter ihrem Mann vorhält, dass er mit seiner Erzählung ihre damalige Befindlichkeit nicht richtig wiedergegeben hätte. Jenseits der denkstiltypischen Unterschiede scheint jedoch Einigkeit darüber zu herrschen, dass niemand „als Mensch“ sich einer lebensräumlichen Perspektive überhaupt verschließen kann, z. B. wenn er mit seinen eigenen Emotionen und Erfahrungen als Wohnender konfrontiert wird. Einer suburbanen Sichtweise muss sich dagegen der anschließen, der im entsprechenden professionellen Denkstil seine Arbeit verrichten will.7 Der Denkstil scheint dann das Resultat fest eingespielter und systematisch gebrauchter Inhalte zu sein. Aber es ist doch wohl nicht so, dass wir alle das Gleiche wahrnehmen, nur dies Wahrgenommene unterschiedlich deuten. Vielmehr greift der Denkstil selbst auf das Sehen vor, indem er uns für eine entsprechende Aufmerksamkeitsbereitschaft motiviert. Was wir überhaupt in unseren Blick nehmen können, diese Disposition ist nicht zufällig, sondern erworben. Das Blicken ist selbst aktiv. Was hat es also mit einem lebensräumlichen Denkstil auf sich? Dabei sind wir darauf gerichtet, wie wir „im Raum“ sind. Z. B. wollen wir uns in unserem Viertel, in unserem Haus, in unserer Wohnung usw. wohl fühlen. Das Wohlgefühl ist ein bestimmtes Leibgefühl von einer räumlichen Umgebung.8 Diese Leiberfahrung gehört zum folgenden Verständnis von Lebensraum ebenso wie eine bestimmte Erfahrung der Räumlichkeit als Ausdruck unserer Gebundenheit an eine vertraute Welt. Zu dieser Weise des Im-Raum-seins kommt das Wissen um die Möglichkeiten, die mir dieser Raum bietet, in den ich mich „entwerfe“. Mein Möglichkeitsraum – daran ermisst sich mir, wie ich meine Lebensführung offen an ihm ausrichten und mich in ihm einrichten kann.9 Mit diesen einleitenden Vorbemerkungen ist mein Interesse hoffentlich ausreichend bekundet, mich einer solchen lebensräumlichen Perspektive zu stellen, für die alles Räumliche immer schon auf die eigene Lebensführung und deren Möglichkeiten hin verstanden ist. Dabei gilt meine Aufmerksamkeit nicht allein

7

Vgl. Achim Hahn, Zur „stilgemäßen“ Konstruktion postsuburbaner Landschaften.

8

Vgl. H. Schmitz: Gefühle als Atmosphären.

9

Es gibt eine phänomenologisch-hermeneutische Tradition, das Räumliche nicht vom Lebensweltlichen und Biographischen zu trennen. Dies habe ich zuletzt mit folgender empirischer Studie versucht aufzuzeigen und durchzuführen: A. Hahn, Zur Praxis der explorativen Quartiersforschung. Vgl. aber auch die Bestimmungen des Lebensraums bei B. Waldenfels, der diesen in einen Stimmungsraum, einen Handlungsraum und einen Anschauungsraum gliedert (in: B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, S. 182).

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der krisenhaften Situation, in der sich eine Familie befindet, z. B. wenn sie spürt und weiß, dass sie umziehen muss. Ebenso will ich der Sinnfälligkeit ihrer Entscheidungen nachgehen. Jeder versucht, sein Leben vernünftig zu organisieren und sich darin als „er selbst“ (Kant würde sagen: als Person) zu orientieren. Und genau diese Logik einer lebensweltlichen Vernünftigkeit ist der Fokus der folgenden Untersuchung. Diese Logik des Lebens ist hintergründig mit verantwortlich für das, was wir denkstiltypisch als „suburbanen Raum“ zu identifizieren uns bemühen.10

D IE „G ESCHICHTE “

DER

F AMILIE R ITTER 11

Herr und Frau Ritter, er ist etwa 50, sie etwa 45 Jahre alt, besitzen heute einen Laden im hessischen Oberursel, einer Stadt, die mit ihrem „Taunusblick“ wirbt. Dort sind nun beide tätig. Im benachbarten Steinbach hatten sie sich im Jahr 2000 ein Einfamilienhaus gekauft. Zuvor haben sie 19 Jahre in einem Reihenhaus am Frankfurter Berg in der Stadt Frankfurt gelebt. Sie haben zwei Töchter, 11 und 14 Jahre alt. Frau Ritter war bis zum Jahreswechsel 1989/90 in Oberursel als Beamtin beim Zoll beschäftigt. Sie kündigte, um „was anderes (zu) machen“, was ihr zunächst nicht gelang. Seit der Geburt der ersten Tochter ist sie nicht mehr berufstätig gewesen. Sie spricht davon, sie habe dann „erst mal ein bisschen still gehalten“. Dieses Stillhalten hat dann 13 Jahre angedauert. Heute ist sie in dem eigenen kleinen Laden in Oberursel wieder berufstätig, wo sie Sachen verkauft, die „jetzt auch ankommen“. Herr Ritter arbeitete insgesamt 15 Jahre als Unternehmensberater in verschiedenen europäischen Städten. Diese Tätigkeit brachte ihm u.a. einen Parisaufenthalt von 14 Monaten ein. Bis zur Einschulung

10 Ich verzichte ganz auf den Begriff der Kulturlandschaft, weil dieser aufgrund seiner momentanen Popularität noch intensiver auf die denkstiltypischen Überzeugungen der jeweiligen Anwender zurückgeführt werden müsste, wobei beide Wortteile, Kultur und Landschaft, für sich zu untersuchen wären, was ich hier und heute nicht leisten kann. 11 Diese „Geschichte“ geht zurück auf qualitative empirische Erhebungen während meiner Mitgliedschaft beim Ladenburger Kolleg. Im Zuge lokaler Recherchen haben wir einige Gesprächspartner ausgesucht, sie interviewt, die Gespräche verschriftlicht und anschließend die Texte beispielhermeneutisch interpretiert (vgl. A. Hahn/M. Steinbusch: Zwischen Möglichkeit und Grenze). Das Gespräch mit Herrn und Frau Ritter wurde also schon einmal untersucht. Ich werde ihre Geschichte aber ein wenig anders nacherzählen als Michael Steinbusch.

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der ältesten Tochter reiste die ganze Familie nach Möglichkeit gemeinsam. Die Entscheidung für den Laden und für das Haus in Steinbach fiel auch deshalb, weil beide sich noch einmal beruflich verändern wollten. Im Folgenden wird es mir um die Wohngeschichte der Ritters gehen, an deren vorläufigem Ende das Haus in Steinbach steht. Lebensräume, so meine These, werden „in“ Geschichten nacherlebt und erinnert. „Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt“12, einschließlich der Menschen, Orte und Dinge, die darin auftauchen.

I N G ESCHICHTEN VERSTRICKT Warum aber Geschichten? „Geschichten“ sind die Art und Weise, wie im vortheoretischen Verstehen die Welt als Sinn- und Interpretationsganzes greifbar und begreifbar wird. Wilhelm Schapp, dem wir eine ausgearbeitete „Philosophie der Geschichten“ verdanken13, behauptet in seiner Kernthese, dass wir ohne Geschichten nichts von einem Menschen erfassen können. Was und wer wir jeweils sind, sind wir durch die Geschichten, in die wir verstrickt sind. Geschichten sind „meine“, insofern sie mir passiert sind. Darin, dass sie mir widerfahren sind, liegt meine Verstrickung. Indem ich meine Umzugsgeschichte erzähle, beziehe ich mich niemals nur auf Daten. Vielmehr tauche ich selbst gleichsam als „Held“ in der Geschichte auf, teile das darin Erlebte und Erfahrene mit, was mir nur gelingt, indem ich die mir begegnende Wirklichkeit als das mir Widerfahrene verstanden und als meine Geschichte aufgefasst habe. Darin liegt eine weitere Bedeutung von Geschichten, dass sie nämlich als erlebte und dann erzählte eine bedeutende Funktion für den Erwerb einer individuellen und sozialen Identität besitzen.14 In Geschichten schlägt sich so letztlich auch immer die Erfahrung der Verstrickung in die Welt und den Lebensraum nieder.

12 W. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 1. 13 W. Schapp: Philosophie der Geschichten. 14 Auch Hannah Arendt hat davon gesprochen, „daß wir also zeit unseres Lebens in eine Geschichte verstrickt sind, deren Ausgang wir nicht kennen.“ (S. 184) Nicht der Handelnde selbst, denn sein Handeln ist vergangen, sondern der Erzähler sorgt für die Sinnfälligkeit der Geschichte: „So sind erzählbare Geschichten zwar die einzig eindeutig-handgreiflichen Resultate menschlichen Handelns, aber es ist nicht der Handelnde, der die von ihm verursachte Geschichte als Geschichte erkennt und erzählt, sondern der am Handeln ganz unbeteiligte Erzähler“ (S. 185, in: Vita activa oder Vom tätigen Leben). In unserem Fall sind Handelnder und Erzähler dieselbe Person, und

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Kommt es zu Erzählungen, d. h. zu kommunikativen Situationen, in denen man sich seines Im-Raum-seins sprachlich vergewissert, dann konkretisieren sich leibliche Befindlichkeiten und Orientierungen in der gesprochenen Sprache. Herr Ritter stellt sich als einen vernünftigen Menschen vor. Vernünftig heißt lebensweltlich: Er tut das, was er für angebracht, richtig und darum vertretbar hält. Bestes Beispiel ist seine Begründung, die er gibt, warum die Familie nach 19 Jahren ihr Reihenhaus in Frankfurt aufgeben musste: „Wir auch wussten, das muss geändert werden“. Diese Einsicht, die dann dazu geführt hat, dass sie tatsächlich ins Frankfurter Umland gezogen sind, können wir lebensweltliche Klugheit nennen, denn die Zusammenhänge, die Herr Ritter aufzeigt, und die Folgerungen, die er daraus zieht, lassen auf keine Regel schließen, die man wie automatisch anwenden könnte. Klugsein heißt über die eigenen Bedürfnisse orientiert sein und entsprechend handeln. Familie Ritter hat mit dem Umzug auf eine einmalige lebensgeschichtliche Situation reagiert, mit dessen Folgen sie zufrieden ist. Die Vernünftigkeit ihres Handelns macht sie auch daran fest, dass sie eine bestimmte Wohnsituation als nicht mehr akzeptabel deutete: In ihrem alten Haus, „dass wir uns schön für zwei Personen ausgebaut hatten“, befand sich nur „ein einziges großes Zimmer“, das die Eltern ihren beiden Kindern nicht mehr zumuten wollten. Fürs Haus selber konnte keine (Umbau-)Lösung gefunden werden, „also war dann die logische Konsequenz“, sich nach einem anderen Haus umzusehen. Diese Logik des Lebens, der Familien wie die Ritter folgen, schafft lokale und regionale Tatsächlichkeiten, die schließlich auch raumwissenschaftlich an- und auffallen. Dabei scheint indes eine marktökonomische Logik, der der Homo oeconomicus „blind“ folgt, zu kurz zu greifen. Aber ebenso wird ein regionalwissenschaftliches Denken, das v.a. an weiche Standortfaktoren denkt, jener lebensweltlichen Klugheit nicht gerecht. Ziel des Wohnens ist das Bleiben, nicht mehr bleiben zu können, verursacht eine Krise, der man sich stellen muss. Unser jeweiliges Wohnen passt zu uns immer nur bis auf weiteres. Das Leben selbst entwickelt sich, neue Wünsche und Interessen treten in den Vordergrund und werden als erstrebenswert erkannt. Verändern sich die Lebensumstände, möchte man neue Möglichkeiten für sich ausprobieren und verfolgen, dann trifft das gewohnte Wohnen nicht mehr die veränderte Lebenslage. Die Orientierungskrise ist bewältigt, wenn das Wohnen wieder zu uns passt, damit es überhaupt ein „gutes“ Wohnen sein kann.

der Erzähler interpretiert rückblickend die Sinnfälligkeit seines damaligen Handelns für seine gegenwärtige Situation.

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G EFÜHLE

UND

B EFINDLICHKEITEN

ALS

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W IDERFAHRNISSE

Worin besteht nun aber die Krise, die zu einer neuen „räumlichen“ Orientierung die Menschen führen wird? Stets ist es ein persönliches Betroffensein, der „Widerfahrnischarakter des Lebens“15 wie es Wilhelm Kamlah ausgedrückt hat, zu dem man sich nicht distanziert verhalten kann, der den Impuls „zum Wandern“ weckt und dann verstärkt. Zwar widerfährt uns allen ein Konjunktureinbruch oder eine Schlechtwetterperiode. Dennoch muss jeder selbst mit solchen Geschehnissen fertig werden. Der Familie Ritter widerfuhr u.a. mit der Geburt der zweiten Tochter die Einsicht, dass nun das Haus zu klein für vier Personen sei, was sie daraufhin motivierte, ihr Wohnen im Frankfurter Reihenhaus aufzugeben. Hätte aber irgendjemand wissen können, wohin sich Familie Ritter bewegen, wie ihre Entscheidung ausfallen würde? Hätte es eine Möglichkeit gegeben, vorauszusagen und entsprechend zu planen, was schließlich passiert ist? – Herr Ritter bewältigt die Krise durch Vernünftigkeit. Er bekennt, dass es ihm damals leichter als seiner Frau gefallen sei, das Frankfurter Haus aufzugeben: „ [...] weil ich einfach der Rationalere bin“. Wie gehen wir mit unseren Emotionen um? Vernünftig sein bedeutet Herrn Ritter „Gefühle“ in den Griff bekommen, sich von ihnen nicht zu einem Verhalten verleiten zu lassen, welches man dann später doch bereuen würde. Gefühle sind sowohl geistige als auch leibliche Zustände. Man kann nicht ein Gefühl haben, ohne es zu fühlen. Wo liegen die Grenzen zwischen planender Vernunft und einer klugen und vernünftigen Lebensführung, die auch Gefühle und Befindlichkeiten berücksichtigt? Der Umgang der Familie Ritter ist ein Beispiel dafür, wie man klug auf den Widerfahrnischarakter des Lebens reagiert. Dabei hätte niemand der Familie im Vorfeld sagen können, wohin es sie am Ende ihrer Suche verschlagen wird. Niemand weiß zu Beginn der Suche, was er an seinem Ende finden wird. Denn erst im Finden wird uns klar, wonach wir eigentlich gesucht haben. So verlief ihre Suche unter Berücksichtigung vieler Aspekte und Befindlichkeiten. Dass das gewünschte Haus „auch finanzierbar sein musste“, war für Herrn Ritter eine Selbstverständlichkeit. Blicken wir uns um unter den „guten Gründen“, die er angibt, so spielt selbstverständlich der Preis eine Rolle, da man nur ein begrenztes Budget zur Verfügung hat. Darüber gibt es nichts zu streiten. Aber viel weniger konkret sind die Vorstellungen, was man denn eigentlich für das Geld erhalten möchte. Mit dem Stichwort Odenwald wird nun eine Landschaft, aber kein konkreter Ort, ins Spiel gebracht. Herr Ritter versucht, seiner Frau ein Wohnen dort schmackhaft zu ma-

15 W. Kamlah: Philosophische Anthropologie.

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chen. Dort hätten sie „schon sehr viel Haus und Grundstück kaufen können, sag ich mal, für relativ wenig Geld“. Am Ende war es die Tochter, „die da eigentlich nicht hin wollte“, da es für sie „ein(en) ganz großer Schnitt“ bedeutet hätte. Aber auch Frau Ritter nennt Argumente und vor allem Befindlichkeiten, deren man erst in konkreten Situationen bewusst wird. „Wir sind hingefahren. Die Gegend war eigentlich auch herrlich ländlich. Aber letztendlich – als wir reinkamen, das Haus war’s auch nicht.“ Es war der sinnliche Eindruck, den sie vor Ort hatten, der alle positiven Kriterien dennoch nicht zum Tragen kommen ließ. Die Familie spürte, dass dieses Haus nicht zu ihnen passen würde: „Das Grundstück war toll gewesen. Das war Feldrand, das war irgendwie klasse. Da war ne Koppel gleich hinten dran. Aber das Haus war’s an sich nicht. Und letztendlich hab ich dann auch Bedenken bekommen, weil wir wären dann wohin gezogen, wo keiner von uns im Grunde genommen hin wollte und eigentlich auch keine Beziehung hin hat.“ Nicht Herr Ritter sondern seine Frau nennt die Bedenklichkeiten. Da er „der Rationalere“ ist, führt er das günstige Preis-Leistungs-Verhältnis im Raum Odenwald an. Aber seine Familie wollte eigentlich nicht ausziehen. Hier nun hat das ökonomische Prinzip überhaupt nicht gezogen. Dies wäre aber zweckrational gewesen. Offensichtlich entscheiden sich Menschen gar nicht idealtypisch rational in einem allgemeinen Sinne. Frau Ritter war auch diejenige, so erfahren wir, die mehr als ihr Mann von Freunden und Bekannten im lokalen Kontext abhing. Sie wollte nicht durch einen Wegzug riskieren, dass „der ganze Bekanntenkreis, den wir aufgebaut hatten“, verloren ginge. Ein Lebensraum ist als solcher stets „aufgebaut“. In diesen Aufbau ist sozial-kulturelle Arbeit eingegangen. Es sind Bekanntschaften und Freundschaften entstanden, die uns diesen Lebensraum wertschätzen lassen. Ihn durchzieht nun ein Netz von besonderen Orten, die ein Gesicht, einen Namen und eine Geschichte bekommen haben. Ist das Haus der Ort der Familie, dann wird es von einem Raum umgeben, den die Familie ebenfalls in Gebrauch hat. Im Umgebungsraum des Hauses liegen die Orte und wohnen die Menschen, die z. B. den Kindern etwas bedeuten. So hatte Frau Ritter auch die Interessen ihrer Kinder wahrzunehmen, wenn sie immer wieder deren Situation nach einem erfolgten Umzug anspricht. Gleichwohl bestimmt sie ihre eigene Situation anders, sie bewertet ihre eigene Betroffenheit durch den Verlust von Bindung als tiefer liegend: „[...] den ganze Bekanntenkreis, den wir aufgebaut hatten, den hätten wir verloren [...]“ Sie sieht sich selbst in der Mitte dieses Kreises (aus Bekannten), der nicht mehr von jedem Rand aus erreichbar ist. Natürlich ist das Bild vom Kreis eine Metapher. Würden wir auf einem Plan die Häuser ihrer Bekannten einzeichnen, so würde sich sicher eine merkwürdige zeichnerische Figur er-

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geben, gewiss aber kein Kreis. Vor allem würde das eigene Haus sich nicht in irgendeiner Mitte auf dem Plan wiederfinden. Ebenso ist der Rand eine Metapher. „Mitte“ ist eine soziale und emotionale Figur, die Frau Ritters Rolle im Kreis ihrer Freunde und Bekannten bezeichnet. Was aber bedeutet Rand?16 Der Odenwald, der anfangs als Umzugsziel im Gespräch war, „ist einfach zu weit, um zu fahren, und da fährt niemand mehr für ‘n Kaffeeklatsch irgendwo hin“. Es gibt Grenzen der Mitte, innerhalb derer man sich im Kreis der Bekannten noch „einfach“ bewegen kann. Jenseits dieser Grenze ist es dann „zu weit“ für ein bestimmtes Anliegen, das man auszuführen ansonsten gewillt ist. Was nun hier unter „Weite“ zu verstehen ist, was ihr Maßstab ist, lässt sich wohl nur aus der Innen- bzw. Wertperspektive des bewohnten Lebensraums ersehen. Zumindest besteht die lebensweltliche Beziehung zwischen „Kaffeeklatsch“ und „zu weit“, und Frau Ritter wird dann von Fall zu Fall entscheiden müssen, was es ihr wert ist bzw. was sie dafür in kauf nehmen will. Jeder Umzug führt die Menschen in eine Orientierungskrise. Orientieren heißt wissen, wer und wo man ist. So ist man z. B. innerhalb eines Kreises von Bekannten orientiert, insofern man darin eine bestimmte Rolle spielt. Zum anderen besteht auch die räumliche Orientierung, insofern man einen Platz im Raum der anderen Plätze besetzt und sich „räumlich“ dazu in Beziehung („hier“ und „dort“; „nicht weit weg“; „zu weit“) setzt. Wird dies aufgegeben, so bedeutet ein solcher Verlust auch den Verlust einer entsprechenden Identität. Es war für die Familie ein langer und schmerzhafter Prozess, sich von ihrem Haus, das zu klein geworden war, zu lösen. Immer wieder wurde probiert, ob es nicht doch irgendwie gehen könnte, dass sie blieben, „weil eigentlich wollte ich da sowieso nie weg“, sagt Frau Ritter. Um doch zustimmen zu können, hilft ihr vor allem die Einsicht, dass Steinbach „nicht weit weg“ ist. Ihr war wichtig, zunächst den Kindern die wieder aufgenommene Suche nach einem passenden Haus zu verheimlichen, womöglich um sie nicht zu beunruhigen. Nachdem sich die Eltern für das Haus in Steinbach entschieden hatten, wurde es notwendig, auch die Kinder zu überzeugen. Der Tag, an dem Frau Ritter dann das erste Mal allein mit den Kindern das Haus aufsuchte, wird mit Eis-Essen begonnen. Wie lassen sich Kinder überraschen? Frau Ritter glaubt, dass es vor allem das Atmosphärische und die Stimmung waren, die ihre Kinder, und sie selbst wohl auch, sicher machten, dass dieses Haus das richtige ist: „Also der Garten war toll. Und an dem Tag schien die Sonne ins Haus überall. Es ist auch ganz hell gewesen und die Kinder waren eigentlich auch begeistert, die fanden es gut“. Atmosphären ergreifen uns hin-

16 Vgl. zum Phänomen „Rand“: M. Steinbusch: Die Schneegrenze. und A. Hahn: Lebenswelten am Rand, S. 223-233.

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sichtlich unserer eigenen Befindlichkeit. Für eine gute Ausgangsstimmung war aufgrund des Eis-Essens zwar gesorgt. Was aber anschließend passiert ist, lässt sich nicht automatisch hervorbringen. „Ob und welche Atmosphäre jemanden ergreift, hängt dann von seinem jeweiligen leiblichen Befinden als dem Boden seiner spezifischen Resonanz für Atmosphären ab, und dieses Befinden wiederum von seiner persönlichen Situation, deren augenblicklicher Zustand ebenso vom Leiblichen her mitbestimmt wird wie auf dieses zurückwirkt.“17 Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber die Bedeutung der Gefühle zu erfassen, die für Umzug und Entscheidung zentral ist. Unser Lebensraum ist immer auch emotional angeeignet. Er mutet uns an. Zwar hat Herr Ritter das Budget sachlich festgelegt und ebenso festgestellt, dass das alte Haus zu klein ist, aber in der Regel gibt es alternative Angebote und Standorte, auf die das zur Verfügung stehende Budget und die gesuchte Größe passen. Was aber letztlich den Entschluss herbeiführt, sind „gute Gefühle“, nämlich das affektive Betroffensein von Gefühlen, das uns angesichts eines Hauses, eines Gartens, einer Straße usw. widerfährt. Solche Gefühle und Affekte sind stets eingebettet in „ganze“ Situationen, hier der Hausbesichtigung (Interessen), des Eis-Essens (Leibliches) und des Sonnenscheins (Klimatisches) usw.

N ÄHE

ALS

S UCHBILD

Wonach hat man eigentlich gesucht, wenn man von der Stadt Frankfurt aus in den suburbanen Raum des Rhein-Main-Gebiets gezogen ist? Da kann es viele Kriterien geben, die ich hier gar nicht im Einzelnen aufzählen will. Die kann man alle nachlesen, wenn man sich die diversen statistischen Untersuchungen zu Stadt-Umland-Wanderungen anschaut.18 In der Regel werden dort zwei IstZustände miteinander verglichen: vor und nach einer „Wanderung“. Mich interessiert aber weniger ein ausgeglichener Wert als vielmehr das Verhalten der Menschen sozusagen im Bannkreis ihres Wanderns. Das Verb wandern bedeutet: hin und her ziehen, einen Weg zurücklegen, sich wohin begeben.19 Dabei lässt sich ein Phänomen beobachten, dass Familien, darunter auch die Ritter, erst im Finden bewusst wird, wonach sie „eigentlich“ gesucht haben, d.h. wovon sie überzeugt sind, dass es zu ihnen passt. Dies ist ein merkwürdiges Phänomen.

17 H. Schmitz: Gefühle als Atmosphären, S. 41. 18 Vgl. A. Hahn/M. Steinbusch: Zwischen Möglichkeiten und Grenze, a.a.O. 19 Dabei mag es offen bleiben, ob der übernommene Ausdruck „Wanderung“ dem Geschehen überhaupt angemessen ist.

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Wissen die Menschen denn nicht, was sie wollen? Ja und nein. Diese Schwierigkeit lässt sich mit der Doppelbedeutung des Wortes Richtung in Verbindung bringen. Richtung kann man räumlich, aber auch inhaltlich-motivational verstehen. Desorientiert-sein bedeutet weder Richtung noch Ziel wissen. Ein erster Schritt heraus ist geschafft, wenn wir die Richtung unserer Suche wissen: da, wo wir hinwollen, soll es z. B. „ländlich“ sein. Und wo es in dieser Region ländlich ist, das weiß man schon. Aber allein eine Richtung zu wissen, reicht nicht aus, um ans Ziel zu kommen. Unser Ziel ist zwar ein konkreter Ort, aber am Ziel sind wir erst, wenn unsere Motivation, die im Suchen aufgeht, durch diejenige des Bleibens ersetzt ist. Suchen und Finden sind unterschiedliche Situationen. Im Finden ergreift uns eine Überzeugung: dass wir tatsächlich angekommen sind. Dieses Prinzipielle, dass uns Überzeugungen nur in konkreten Situationen bewusst werden, gilt es im Folgenden zu veranschaulichen. Dafür scheint mir das Beispiel der Familie Ritter geeignet. Das Interview lässt den Leser spüren, dass sich die Familie in einer Orientierungsnot befand: bleiben oder wegziehen. Was ist man bereit durch einen Wegzug aufzugeben? Für beide Optionen wurden vernünftige Gründe vorgebracht. Schließlich wurde der Beschluss gefasst, der bezeichnender Weise als Negation formuliert wird: „Wir wollen nicht im Keller leben!“ Man weiß also eher, was man nicht will, denn was man konkret erwarten darf. Bezogen auf das alte Haus ist ihnen klar, was es ihnen nicht bieten kann, aber hier und jetzt benötigt wird: Sie wollen zwei Kinderzimmer und ein Arbeitszimmer für Herrn Ritter. Familie Ritter fand zunächst keinen Weg, von ihrem alten Haus würdig Abschied zu nehmen. Vor allem Frau Ritter und die Kinder wollten von zuhause nicht weg. Bei der Suche hat sich dann aber herausgestellt, dass es ein Kriterium gibt, an dem man sich orientieren kann. Während Frau Ritter die lebensräumliche Lage einiger besuchter Objekte mit „am Ende der Welt“ charakterisierte, wusste man plötzlich, in welcher Richtung man zu suchen hatte: „War auch ein tolles Haus, aber das war irgendwie noch weiter weg, diese ganze Geschichte. Und dann war klar: ‚Okay, wir wollen irgendwo in der Nähe bleiben’ und deswegen haben wir dann [in diese] Richtung geguckt [...]“. Damit war zunächst wieder eine Orientierung gefunden: in der Nähe bleiben. Insofern lautet die Antwort auf die Frage, warum sie dort angelangt sind, wo sie jetzt wohnen, so: „weil wir einfach nicht so weit weg wollten, aber in ne Gegend wollten, die wir bezahlen konnten“. Diese Einsicht, was sie lebensräumlich bedürfen, kam ihnen während des Suchens. Damit, so könnte man meinen, haben sich Herr und Frau Ritter mit ihren Vorstellungen durchgesetzt, die sie im Suchen jedoch erst selbst begreifen mussten, sonst hätte man ja nicht zunächst im Odenwald „am Ende der Welt“ suchen müssen. Jetzt wissen wir auch eine Antwort darauf, wessen Welt am Odenwald ihr Ende findet. Gewiss ist nun

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ebenfalls, dass wir es hier mit „gelebten“ Welten und Räumen zu tun haben, die wir nicht unabhängig von den Lebensgeschichten derjenigen verstehen können, die diese Welten „bewohnen“. Das Glück, dass im Finden gefühlt wird, ist ihnen gewissermaßen zugefallen: „[...] dann lesen wir durch Zufall halt die Anzeige in Steinbach“. Wären sie jedoch überhaupt nicht in der Stimmung von Suchenden gewesen, hätte ihnen die Anzeige nicht zufallen können. Steinbach ist also nicht die logische Vollendung eines rationalen Plans, den man ganz zu Anfang gefasst hatte. In Steinbach war es dann zum ersten Mal, dass die ganze Familie ein besichtigtes Haus „mit nem positiven Gefühl“ zurückließ. Die Familie ist in eine bemerkenswerte Befindlichkeit „gefallen“, was sie selbst als ein positives Gefühl charakterisiert.20 Hätte irgendjemand im Vorfeld vorhersehen können, dass sich etwas Entsprechendes ereignen würde? Dann hätte man vermutlich auch wissen müssen, wie es sich für Familie Ritter anfühlt, dieses positive Gefühl zu haben.

D AS „ SELBSTBESTIMMTE “ L EBEN Ich habe bislang das „Wanderungsverhalten“ der Familie aus ihrer misslichen Wohnsituation heraus interpretiert. Das alte Reihenhaus wurde der Familie zu eng. Ich habe weiter argumentiert, dass sie an einen Punkt angelangt sei, an dem das Wohnen nicht mehr angemessen ist und gelingt. Das „gute“ und „gelingende“ Leben, das die Familie als ganze und jedes Mitglied für sich erhofft, ist das „letzte“ oder „höchste“ Strebeziel des Menschen, wenn man den Philosophen glauben darf.21 Was das „gute“ Leben für einen selbst ist, das muss man erkunden. Für die Lebensführung des Alltags wird es darauf ankommen, sein Leben so zu gestalten, dass man auf Dauer mit den Folgen zufrieden sein kann. Wenn wir selbst es sein wollen, die die weltlichen Ziele unseres Lebens bewusst bestimmen und gestalten (und nicht Traditionen oder Vorbilder, denen man blind folgt) so können wir von „Selbstbestimmung“ reden. Damit Selbstbestimmung wieder und wieder gelingen kann, müssen wir uns eine gewisse Offenheit gegenüber den wechselnden Situation des Daseins sowie den Möglichkeiten unseres Lebensraums bewahren. Sowohl Frau als auch Herr Ritter haben ihren erlernten Beruf aufgegeben. Frau Ritter hat schon vor 14 Jahren versucht, „noch mal was anderes zu machen“. Sie war Zollbeamtin in Oberursel und hatte somit einen Bezug zur neuen Wohnumgebung und auch zum Laden, den sie inzwischen im Ort be-

20 Vgl. dazu C. Demmerling/H. Landweer: Philosophie der Gefühle. 21 Vgl. z. B. J. Ritter: [Artikel] „Glück“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie; M. Seel: Glück.

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treiben. Nach langer, möglicherweise unfreiwillig berufslos verlebter Zeit als Hausfrau und Mutter („Stillhalten“) kommen beide zu dem Schluss, dass es keinen Zweck habe, „dass ich [Frau Ritter] was anderes [als er, Herr Ritter] mache“, vielmehr entscheidet man sich dafür: „Das machen wir zusammen“. Herr Ritter spricht ebenfalls davon, „dass irgendwann gab’s die Situation, nachdem ich 15 Jahre Unternehmensberater war, dass wir auch mal was anderes machen wollten“. Er spricht von einem „Konzept für so einen Laden“, welches man „schon Jahre“ mit sich getragen habe, und eines Tages steht man vor der Entscheidung: jetzt oder nie. Das Projekt „Laden“ hat sie dann in den HochtaunusKreis geführt, da dort die entsprechende kaufkräftige Kundschaft vermutet wurde. Wichtig sei ein gewisser Spaßfaktor, der mit dem Laden und seinen Sachen verbunden wird. „Wir verkaufen keine Sachen, die der Mensch braucht, sondern wir verkaufen eigentlich Sachen, die Spaß machen“. Als ehemaliger Unternehmensberater versteht Herr Ritter etwas von rationaler Unternehmensführung: „Wo finden wir Leute, die Spaß an solchen Sachen haben?“, so fragt er. Frau Ritter bekennt sich zu ihrer neuen Berufstätigkeit („was anderes machen“) durch ein hedonistisches Motiv: „aber es macht Spaß“. Wahrscheinlich erfüllt man sich mit dem Laden einen Traum, verwirklicht sich damit endlich ein gemeinsames Lebenskonzept. Möglich wurde die Verwirklichung dadurch, so Frau Ritter, „weil mein Mann eben den Schnitt gemacht hat mit seinem vorigen Leben“. Dass sich nun alles um „Spaß“ zu drehen scheint, geht auf keine rationale Entscheidung zurück. Vielmehr entdeckte man bei sich eine bestimmte Richtung der Selbstbestimmung, die nun mit einem Laden in Oberursel auch räumlich Gestalt genommen und seinen Ort gefunden hat. Etwas zusammen und gemeinsam machen zu wollen und dafür einen „Schnitt“ mit einem vorigen Leben zu riskieren, deutet auf ein bestimmtes Lebenskonzept. Das gemeinsame Projekt besteht darin, dass beide nun in einem „ganz anderen Bereich“ als früher berufstätig sind. Offensichtlich bestand ein gewisses Risiko bei ihrer Hinwendung, da auch Herr Ritter seinen angestammten Beruf aufgab, sodass es durchaus nachvollziehbar ist, wenn Frau Ritter mit Erleichterung feststellt: „[...] [wir] freuen uns jetzt eigentlich, dass die Sachen jetzt auch ankommen, dass also die wenigsten Sachen Ladenhüter bleiben“. Dass ihnen ihr jetziges Leben „Spaß macht“, wird an entscheidenden Stellen wiederholt. Oben schon in Bezug auf die Berufstätigkeit, dann auch hinsichtlich der gemeinsam verbrachten Familien-Freizeit, die sie vom Haus aus in die Region unternehmen. Der regionale Raum erweist sich als offen in seinen Möglichkeiten für die Lebensführung der Familie. Freude und Spaß, die ihr derzeitiges Tun und Lassen begleiten, sind sowohl leiblich gespürt als auch gerichtet auf den Lebensraum und seine konkreten Möglichkeiten. Man habe sich Wanderführer gekauft,

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um „mal was anderes [zu] sehen“. „Und das macht denen [den Kindern] dann auch Spaß ... und dass macht eigentlich allen Spaß“. Zur erfolgreichen Lebensführung gehört nun auch, dass man sich seine Wohnwelt wieder passend macht. Dabei ist man stets auf Lokales und Regionales gerichtet. Ausgangssituation war bekanntlich die Orientierungsnot im alten Haus, an dem man zwar hing, das aber den später entdeckten Anforderungen an ein gutes Leben nicht mehr entsprach. Das anschließend erworbene Haus in Steinbach wurde bald auf die eigenen Wünsche hin umgestaltet. Nun scheint es angemessen: „Und nachdem wir es jetzt umgebaut haben, ist es ja auch so, wie wir es haben wollten, also exakt so für uns“, verrät Herr Ritter seine Zufriedenheit. Auch Frau Ritter, der ja nach ihren eigenen Worten der Umzug am schwersten gefallen war, ist mit dem Ergebnis zufrieden: Haus und Garten seien so, „wie wir uns das halt vorstellen. ... So, das passt also so, wie wir das wollen“. Wir sehen nun, dass das Maß des angemessenen Wohnens ebenfalls entdeckt wurde, z. B. im Umbau von Haus und Garten sich konkretisierte und eine konkrete Gestalt angenommen hat. Zufriedenheit ist ein mentaler und ein leiblicher Zustand. Er ist tatsächlich als Gefühl gespürt, wie er auch gerichtet ist auf das Wohnen und Arbeiten in Steinbach bzw. Oberursel. Da Zufriedenheit eine zentrale Befindlichkeit fürs Bleiben bedeutet, ist der Zustand essentiell für weitere Wanderungsmotivationen der Familie.

Z UM S TIL DES L EBENSRAUMS Korrespondiert der Lebensführung ein bestimmter Stil des Raums? Wir wissen inzwischen einiges über Wanderungen und Wanderungsverhalten und deren Folgen für die betroffenen Räume.22 Könnte es aber sein, dass Menschen eine Affinität zwischen ihrer eigenen Lebensführung und dem Stil bzw. Charakter eines Raums bemerken? Wie blicken wir etwa auf die Landschaft unserer Wohnumgebung? Worin sind Haus und Ort „gelegen“, wie sind wir selbst im Lebensraums positioniert? Der „Stil“, der in unserem Blick auf den Raum liegt, wirkt zurück oder voraus auf das, was überhaupt nur für unsere Aufmerksamkeit in Betracht kommt. Das Gefühl für einen Lebensraum lässt sich vielleicht auch als die Empfindung des einmaligen Stils einer Stadt oder einer Landschaft beschreiben. Man spürt darin ein gewisses Eigenwesen, eine unverwechselbare Stimmung, die einen ergreift. Maurice Merleau-Ponty hat so seine Raum- bzw. Stilerfahrung von Paris beschrieben: „Paris ist für mich nicht ein Gegenstand mit tau-

22 Vgl. A. Hahn/M. Steinbusch: Zwischen Möglichkeit und Grenze, S. 29-73.

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send Facetten, eine Summe von Wahrnehmungen, noch übrigens das all diese beherrschende Gesetz. Wie ein Mensch ein und dasselbe affektive Wesen in den Gesten seiner Hände, in seinem Gang und im Ton seiner Stimme bekundet, so ist auch jede im Laufe meiner Durchquerung der Stadt gemachte ausdrückliche Wahrnehmung – die Cafés, die Gesichter der Leute, der Pappeln der Quais, die Windungen der Seine – nur herausgeschnitten aus dem ganzen Sein von Paris und bestätigt nur einen bestimmten Stil, einen bestimmten Sinne dieser Stadt. […] Durch die Landschaft oder die Stadt hin ist auf diffuse Weise ein latenter Sinn gegenwärtig, den wir in einer spezifischen Evidenz zu erfahren vermögen, ohne seiner Definition zu bedürfen.“23 Dabei entsprechen unser Blick auf den Raum und der Ausdruck dieses Raums einander auf eine durchaus rätselhafte Weise. Zu einem vergleichbaren Ergebnis war bereits Georg Simmel gekommen, der in Großstadt und Landschaft eine bestimmte Stimmung erlebbar sieht, die er ein „echtes“ Gefühl nennt. Obwohl das Gefühl etwas Leibliches ist, so „ist doch dies Gefühl in seiner wirklichen Bestimmtheit ausschließlich an grade und genau diese Landschaft unvertauschbar gebunden.“24 Ebenso fassen wir lebensweltlich die Lage unseres Hauses in seiner ganzen Bedeutsamkeit auf. Die Lage, wie man nämlich wohnt, spielt für die Familie Ritter eine große, vielleicht entscheidende Rolle, will man ihre Lebensführung verstehen. Gleich zu Beginn des Interviews spricht Herr Ritter die alte Wohnlage der Frankfurter Reihenhaussiedlung an, die sie aus den bekannten Gründen dann aufgeben mussten. Da es der ganzen Familie schwer gefallen ist, wegzuziehen, darf man annehmen, dass es vor allem der Lage wegen schmerzte, sie aufzugeben. Zugleich mag aber auch in der Beschreibung jener Lage der Lebensstil in Erscheinung treten, den zu verwirklichen man sich dann ja aufzumachen hatte: „Wir waren da sehr zufrieden in der bidirektionalen Siedlung ... Bidirektional, weil wir im Prinzip da so zwischen Land und Stadt wohnten und fast einen dörflichen Charakter hatten direkt am Feld“. Hier ist nun schon an der alten „Wohnlage“ das stilistisch Besondere und Auszubauende benannt. Auffallend ist unter diesen Gesichtspunkten auch die ähnliche Darstellung der Lage des Hauses, das sie sich im Odenwald anguckten. Herr Ritter beschreibt sie zunächst so: „ein ganz schönes Haus... auch am Feld mit allem drum und dran“; und später: „Es

23 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 327. Ähnlich auch A. Mitscherlich: „Wo immer wir uns durch die Gassen von Paris bewegen, wir behalten ein Gefühl für das Ganze dieses Körpers, für seine Topographie. Wien, das alte Köln, Gent, sie sind mehr als die Summe der Straßen und Häuser.“ (Die Unwirtlichkeit der Städte, S. 32). 24 G. Simmel: Philosophie der Landschaft, S. 139.

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[das Haus] war ziemlich groß, es war direkt am Feld“. Der Blick der Familie, der ihnen eine bestimmte Aufmerksamkeit abfordert, entspricht dem Lebens-Stil, den sie an anderer Stelle fortsetzen wollen. Ähnlich gibt Frau Ritter die Lage eines Hauses in der Nähe von Darmstadt an: „Die Gegend war eigentlich auch herrlich ländlich. [...] Das Grundstück war toll gewesen. Das war Feldrand, das war irgendwie klasse“. Aber das Haus gefiel ihr nicht und überhaupt entdeckte sie, dass sie irgendwo hin wollte, wohin sie eine „Beziehung“ hat. Ausschlaggebend wird dann aber, dass Bindung und Beziehung, die Frau Ritter suchte, von ihrem Mann als „Nähe“ und „einfach nicht so weit weg“ gedeutet werden. Entsprechend wird nun der dann gefundene Standort in Steinbach beschrieben, nämlich als ein Ort, von dem aus man ein Leben in Reichweite führen kann, z. B.: „Ich kann einfach zu Fuß losgehen und Einkaufen gehen ... ich brauche überhaupt kein Auto, es ist alles zu Fuß zu erreichen“. Herr Ritter bestätigt diese Auslegung auf seine Weise: „Es ist ländlich, denk ich mal. Es ist geschlossen“. „Aber es ist einfach schön“, bekennt sich Frau Ritter zur Lage. Und in der folgenden Beschreibung taucht dann wieder die Bestimmung auf, mit der schon die letztlich doch nicht gewollten Standorte positiv gewertet wurden: „Man ist gleich im Feld draußen“ – und das bedeutet: man kann den Hund laufen lassen, von Ort zu Ort gehen, in die Schule mit dem Fahrrad durchs Feld in zehn Minuten fahren. Auch zwischen Steinbach und Oberursel, also zwischen Haus und Laden, „liegt freies Feld“. Was hier „Lage“ noch bedeutet, wird nun auch in Beziehung zu Frankfurt, ihrem alten Standort, gebracht. Das Stichwort heißt nun „überschaubar“. Dieser Ausdruck korrespondiert der „Reichweite“, von der Herr Ritter spricht. Beide Begriffe weisen auf die je eigenen Ziele der Orientierung innerhalb der neuen Lage hin. Nun bezieht sich Frau Ritters Aussage auf den Ort für die Kinder: „Es ist [hier] nicht so wie ja wie jetzt in Frankfurt, wo es dann doch langsam los ging: ‚Oh, der in der 4. Klasse, der darf schon in die Innenstadt fahren’, und das war für mich halt ein rotes Tuch. Und da von dieser Sache sind wir jetzt im Moment weg“. Der Bewegungsraum, den die Kinder in Steinbach zur Verfügung haben, ist gleichsam in Reichweite für Frau Ritters Überblick. Er ist so angemessen: „Die Kinder bewegen sich in Steinbach, und das ist auch in Ordnung so. Die können mit dem Rad fahren“. Während sie früher ihren Alltag (z. B. das Einkaufen) mehr nach der Frankfurter Innenstadt ausgerichtet hatten, beschreiben sie ihr derzeitiges Wohnen als „ländlich“, was deswegen eine Änderung der Lebensführung nach sich zog: „wir haben uns aber auch ziemlich umorientiert“. Zur Lage gehört so auch, dass man von hier aus andere Sachen unternimmt als noch von Frankfurt aus. In Steinbach sieht man das Leben eher unter dem Aspekt des „Ländlichen“, „des Dörflichen“,

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was sich für die Ritters auch darin zeigt, dass sie nun „auf Märkte“ gehen, was sie in Frankfurt „nie gemacht“ hatten. Voller Bewunderung stellen sie fest, dass sie in Steinbach Leute kennen gelernt hätten, die „in dem Haus, in dem sie wohnen, auch schon geboren wurden. Das ist ein ganz anderer Schlag Leute als wir zum Beispiel“. Steinbach nehmen sie unterschiedlich wahr zu den Frankfurter Neubaugebieten, wo es mehr „Fluktuation“ gebe: „Steinbach ist halt ländlich“. „Ländlich“, das haben sie inzwischen erfahren, heißt hier auch, dass in Steinbach noch Großfamilien, Eltern mit ihren erwachsenen Kindern, gemeinsam wohnen. Die Menschen auf dem Land, so haben es Ritters aus Gesprächen mitbekommen, sind „aus dem näheren Umkreis des Dorfes noch nie rausgekommen“, allenfalls bis zur nächsten Kreisstadt. Obwohl in diesem Zusammenhang der Ausdruck „Rand“ nicht auftaucht, würde er dennoch ihre neue Wohnlage im „Ländlichen“ recht gut treffen.25 Herr Ritter weist auf weitere Aspekte dieser Lage hin. Er spricht nicht von der Reichweite, in der Kinder oder Erwachsene sich zu Fuß bewegen, sondern von „Anbindung“. Damit weist er auf die minutiös ausgerechnete Erreichbarkeit von regionalen Punkten hin, die für ihn eine vorteilhafte Lage kennzeichnen: „Man hat also die Anbindung an die Großstadt sowohl fürs Auto wie [für] öffentliche Verkehrsmittel. Es ist toll! Also wir haben ne S-Bahn-Station. Wir sind in der Innenstadt innerhalb von – am Bahnhof sind wir innerhalb von 13 Minuten mit der S-Bahn. ... Also ist ne tolle Anbindung. Ich bin auch mit – innerhalb von 20 Minuten – mit dem Auto in der Innenstadt, wenn ich das will, oder an der Autobahn. Im Flughafen bin ich innerhalb einer viertel Stunde von uns aus“. In all den verschiedenen Charakteristiken, den Lebensraum betreffend, lässt sich eine gewisse Stimmung vernehmen, die den Stil der Gegend ebenso wie die Weise des Im-Raum-seins umschreibt. Ein wichtiger Aspekt dieser ganzen Aufzählung liegt im beigefügten: „wenn ich das will“. Dies bedeutet, es ist eine Option, die man sich nehmen, aber es auch bleiben lassen kann, denn „(wir) orientieren uns eigentlich hier“. Es ist nur ein Gedanke, der aber besonders deshalb so begeistert vorgetragen wird, weil „andererseits aber ist es total ländlich“. Dieses Einerseits-andererseits mit den dargestellten Auslegungen macht das Besondere und Einmalige der Orientierung der Ritters in dieser „ländlichen“ Lage aus. Im Finden, so können wir an dieser Stelle zusammenfassen und präzisieren, hat die Familie eine kreative Entdeckung gemacht. Kreative Entdeckungen stoßen zu einer neuen Orientierung vor, die zwar als Möglichkeit schon „prinzipiell“ vorhanden war, aber sich eben noch nicht im Umgang in der neuen Umgebung als bestimmte zeigte und bewusst

25 Vgl. FN 16.

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wurde. Mit Hubert Dreyfus können wir sagen: „Angesichts dieser kreativen Entdeckung enthüllt die Welt eine neue Ordnung der Bedeutungen, die weder einfach entdeckt noch willkürlich gewählt wird“.26 Es ist genau diese Perspektive, von der aus die Ritters ihre Wohn- und Umzugsgeschichte erzählen. Da wir in der Regel an einem bruchlosen erzählerischen Verlauf unserer Biographie trotz Umorientierungen interessiert sind, ähneln sich möglicherweise die Beschreibungen der „Lagen“ vor und nach dem Umzug. Im Suchen waren die Ritters für die Stimmung des „Ländlichen“ prinzipiell aufgeschlossen, im Finden liegt sie ihnen dann „auf der Hand“.

F AZIT „Wenn ich das will“ – darin fokussiert sich wesentlich die Selbstbestimmung der Ritters angesichts der neuen Lebenslage und der Möglichkeiten und Chancen dieses Lebensraums. Damit ist auch schon mein Resümee eingeleitet: Wollen wir einen Lebensraum verstehen, d. h. wollen wir ihn „mit den Augen“ seiner Bewohner als lebensweltlichen Orientierungsraum begreifen, dann müssen wir uns jenen Verstrickungen stellen und annähern, die wir oben kennen gelernt haben. Ferner müssen wir das Phänomen des „gestimmten Raums“ (Ludwig Binswanger) als eine anthropologische Gewissheit oder als „Existenzial der Befindlichkeit“ (Heidegger) akzeptieren. Lebensgeschichte und Gestimmtheit deuten direkt auf die Grenzen der Planbarkeit menschlichen Raumverhaltens hin. Dennoch lassen sich in der Hinwendung auf das, was im Suchen schließlich gefunden wurde, gewisse Lebensstile erkennen. Bei Familie Ritter mag dies im Ausdruck des Ländlichen wie im Zugleich von Einerseits-andererseits („wenn ich das will“) erkennbar werden. Beides jedoch vollzieht sich schon im „Wahrnehmen“ der „suburbanen“ Welt. Insofern sind das Ländliche und das Willentliche Interpretationen eines „guten“ Wohnens aus einem lebensräumlichen Blickwinkel. Und der Raum erschließt sich diesem Lebensstil hinsichtlich seiner Möglichkeiten für diese Weise des Im-Raum-Seins.

26 H. Dreyfus: Was Computer nicht können.

Landschaft als Umwelt des Wohnens Über Konstruktion, Lebenswelt und Erfahrung

1. L ANDSCHAFT

UND IHRE

K ONSTRUKTION

Ruth und Dieter Groh, die der Entstehung der ästhetischen Naturerfahrung nachgegangen sind, behaupten, dass einem Gegenstand jeglicher Wahrnehmung und Erfahrung durch verbreitete Ideen und Vorstellungen bereits vorgesorgt werden müsse. „Ohne vorgängige Lektüre von Texten oder vorgängige Aneignung von Sichtweisen, die durch Bilder vermittelt werden, kann also Natur als Landschaft gar nicht wahrgenommen werden“1. Jedes wahrnehmbare Vorkommnis in unserer Welt setzt eine gerichtete Wahrnehmung, den interessierenden Blick voraus. Rolf Peter Sieferle schreibt: „'Landschaft' als das erscheinende Ganze räumlich ausgedehnter Wirklichkeit bietet sich nicht von selbst dem Betrachter an, sondern ist auf ein Vorab-Verständnis angewiesen, das auf historischen Voraussetzungen beruht. Der synthetisierende Blick des Betrachters ist eine konstruktive Leistung, die sich ästhetischer Schulung und lebensweltlicher Distanzierung verdankt.“2 Die Praxis des Landschaftsbetrachtens ist so alt, wie auch der Gebrauch der Worte Landschaft und betrachten es ist. Man kann nur das betrachten, wofür man ein Wort hat bzw. man kann nur das einer Betrachtung unterziehen, was in einer Welt überhaupt „vorkommt“. Damit sei die Aufmerksamkeit auf verschiedene Praxen gelenkt, die der Mensch vollzieht, wenn er sich bewusst auf seine räumliche Umgebung bezieht, sie zu einem „geistigen Gebilde“ (Georg Simmel) macht. Dass wir in unserer Überschrift auch den Ausdruck „Umwelt“ und nicht den der „Landschaft“ benutzen, soll als nächstes erläutert werden. Der Ausdruck „Umwelt“ hat gegenüber dem der Landschaft einen viel nüchternen und be1

R. Groh/D. Groh: Weltbild und Naturaneignung. S. 95 [Hvhg. durch mich].

2

R. P. Sieferle: Rückblick auf die Natur, S. 156 f. [kursiv durch mich].

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scheideneren Hof. Der Begründer der von ihm so genannten (biologischen) Umweltlehre, Jakob von Uexküll, hat diese so beschrieben: „Umweltlehre ist eine Art nach außen verlegter Seelenkunde, die vom Standpunkt des Beobachters aus betrieben wird. Sie ist keine Analyse des Ich. Dies gilt auch für den Fall, daß der Autor seine eigene Umwelt zur Darstellung bringen will. Dementsprechend wird er sich damit begnügen, einige charakteristische Erlebnisse zu erzählen, die dem Leser als Leitfaden dienen können, um die Umwelt des Autors zu erkunden.“3 Auffallend mögen an dieser Beschreibung zwei Ausdrücke sein: „charakteristische Erlebnisse“ und „erzählen“. Schaut man sich dann die Beispiele an, die von Uexküll anführt, dann scheint es darum zu gehen, den Menschen, deren Umwelt man erfahren will, in die Lage zu versetzen bzw. zu ermuntern, solche „Erlebnisse“ zu „erzählen“, die eine bestimmte Charakteristik aufweisen. Charakteristisch wofür? Offensichtlich für den Menschen, um dessen Umwelt es gehen soll, und zugleich für die Umwelt, deren Zentrum der Erzähler ist. Dann meint Um-Welt wohl die Welt, die unverwechselbar zu einem Menschen gehört bzw. deren Mitte der Mensch selbst ist. Mensch und seine Umwelt sind innerhalb dieser Umweltlehre nicht voneinander zu trennen. Gerhard Müller hat in seinem Lexikonartikel eine gewisse Nähe von Umwelt und Landschaft konstatiert. So „[…] bündelt das Wort ‹U.(mwelt)› die Gesamtheit der Aspekte einer in quasi-natürlicher Unmittelbarkeit erfahrenen Umgebung (zunächst: Landschaft); innerhalb des als Einheit erlebten Ganzen muß aber zwischen Natur- und Kulturmomenten gerade nicht mehr unterschieden werden.“4 Ist hier bereits eine gemeinsame Reichweite der Begriffe Umwelt und Landschaft gesehen, so wird diese Übereinstimmung unter dem Ausdruck der „in […] Unmittelbarkeit erfahrenen Umgebung“ weiter zu überprüfen sein. Nach Sieferle ist die „totale Landschaft“ das Produkt einer bewussten Herstellung, nämlich die „totale Erfassung nutzbarer Flächen“5. Aber es ist zu fragen, was war die Landschaft „vor“ ihrer totalen Erfassung? Oder anders gefragt: was war die „räumliche“ Erfahrung, auf welche der Ausdruck „Landschaft“ die passende Antwort wurde? Wenn von Konstruktion und „konstruktiver Leistung“ (Sieferle) gesprochen wird, dann muss dieser irgendetwas schon vorausliegen, z.B. ein Konstrukteur, dem „in seiner Welt“ eine Fähigkeit und diverse Mittel bereits zur Verfügung stehen, um sein Können umzusetzen. Wenn etwa Groh/Groh von Naturerfahrung sprechen, meinen sie nicht, Erfahrung sei eine Konstruktion. Gemeint ist auch nicht, dass die Bauern und Landleute, die die

3

J. v. Uexküll: Nie geschaute Welten, S. 15.

4

G. H. Müller: [Artikel] Umwelt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 99 ff.

5

R. P. Sieferle: Rückblick auf die Natur, S. 209.

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Natur bearbeiten, in Wirklichkeit die Natur als Landschaft konstruieren. Von Konstruktion könnte man erst dann sprechen, wenn so etwas wie ein Landschaftsentwurf vorliegt, der dann „nachgebaut“ wird. In diesem Sinne sind Erlebnislandschaften „konstruiert“, nämlich „gemacht“ oder „hergestellt“6. Dennoch würde ich bestreiten, dass Erfahrungen, die man in entsprechenden Landschaften, auch in der „totalen“ macht, Konstruktionen sind7. Was also sind Landschaftserfahrungen, welche Rolle spielen Konstruktionen? Sieferle spricht von Konstruktion auch als von einer „lebensweltlichen Distanzierung“ und gibt damit einen Hinweis auf das Vor-konstruktive, wie ich es nennen möchte. Von was musste sich der Konstrukteur distanzieren, wenn nicht von einer lebensweltlichen Erfahrung! Meine These ist: die planerischen wie ästhetischen als auch die wissenschaftlichen Konstruktionen gehören Sonderwelten an.8 Alle Sonderwelten beruhen aber auf nicht-hintergehbaren Einstellungen zur Lebenswelt.9 Wenn im Folgenden von Landschaft „als“ Umwelt des Wohnens, d.h. des in der Zeit verlaufenden Bleibens an einem Ort, die Rede sein soll, dann unterstelle ich eine menschliche Primärsituation der Unhintergehbarkeit des Sich-findens-in Umgebungen.10 Dann meint das Zusammen von „Landschaft und Wohnen“ ein dauerhaft Gegenwärtig-haben einer „landschaftlichen“ Situation. Und diese Situation einer vertrauten Weise des Sich-befindens-in ist jedem Menschen als seine Erfahrung konkret erinnerbar. Ludwig Landgrebe hat vom „Erfahrungshorizont“, den Begriff hat er von Husserl übernommen, als von einem Urphänomen gesprochen: „Es haftet an dieser Landschaft keine bestimmte Erinnerung an unsere Vergangenheit und kann es gar nicht; wir sind ja noch nicht hier und noch nie überhaupt in einer Landschaft dieser Art gewesen – man denke an einen Binnenländer, der zum ersten Male an das Meer kommt und bisher überhaupt noch nichts von einem Meer gewusst hat. Wir seien also in einer Umgebung, die uns noch an nichts erinnern kann, was mit uns gewesen ist; und doch ist sie uns nicht ganz fremde, weil es eben eine Landschaft, oder allgemeiner überhaupt irgendeine Art von Umgebung für uns ist, in der wir uns befinden. Sie ist uns vertraut, weil dieses Sich-Befinden in irgendeiner Umgebung, dieses Uns-Finden inmitten

6

Vgl. A. Hahn: Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?

7

Vgl. auch Sieferle: Rückblick auf die Natur, S. 221.

8

Vgl. auch A. Hahn: Zur „stilgemäßen“ Konstruktion postsuburbaner Landschaften.

9

Vgl. auch H. Blumenberg: Theorie der Lebenswelt, S. 66.

10 Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das Phänomen des Sich-findens-in

Umgebungen ebenso städtische „Landschaften“ betrifft, weswegen ich zur Beschreibung urbaner Beispiele den Begriff der „Alltagslandschaft“ vorgeschlagen habe, zuerst in: A. Hahn: Alltagslandschaft als Wohn- und Aufenthaltsort, S. 29-44.

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des Seienden verschiedenster Art, inmitten einer Umgebung und von Seiendem, das uns immer schon mit irgendeiner Stimmung berührt, zu den selbstverständlichen Voraussetzungen dafür gehört, dass wir überhaupt von uns wissen können als Seienden in der Weise des Be/wusst-Seins und dass wir dabei sein können bei etwas, in unserem Tun es betrachten, eine Landschaft durchwandernd, einen Gegenstand zur Hand nehmend usw. Sobald wir bei Bewusstsein sind, finden wir uns dort und dort, haben diese und jene Dinge um uns herum, die uns bekannt oder unbekannt sind, die uns gleichgültig sind oder die wir gebrauchen können für das, was wir tun, die uns erinnern an das, was gewesen ist – aber nicht immer so erinnern, dass wir uns an Bestimmtes erinnern können.“11 Der vor-konstruktivistische Umgang mit Landschaft ist immer schon durch Antizipationen irgendeiner räumlichen Erfahrung („Erinnerung“) eines Inmitten-seins von Umgebungen be- und gestimmt. Diese leibliche Grundsituation12 hat auch der Rothacker-Schüler Hermann Schmitz im Auge, wenn er sagt, Philosophie sei „nur im Ganzen möglich, weil sie ein Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichbefinden in seiner Umgebung ist und mit dem ganzen Menschen, der als er selbst unteilbar ist, auch die ganze Umgebung in Anspruch nehmen muß […]“13. Was von Landgrebe als „Erfahrungshorizont“ erfasst wird, bezieht sich auf ein unmittelbares „Wissen“ des Menschen davon, wie es ist, in einer Umgebung sich zu finden. Wir werden es also immer dann mit einem Problem zu tun bekommen, wenn wir unter „Wissen“ allein das Wissen verstehen wollen, das wir zum Machen und Herstellen von Artefakten aller Art benötigen. Dieses Wissen, wie etwas planmäßig hervorzubringen ist, haben die Griechen mit dem Ausdruck techne bezeichnet. Helmuth Plessner hat in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Berger/Luckmanns Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ davon gesprochen, dass es den beiden Autoren um das „werktätige Wissen“ gehe14. Wenn es indes ersichtlich nicht darum geht, etwas Werkmäßiges herzustellen, sondern sich selbst in der Mitte seiner Umwelt zu verstehen, was können hier „Rezeptwissen“, was Konstruktionen helfen? Auch Plessner stellt den Autoren die Frage: „Wer konstruiert hier? Die gesellschaftliche Realität selber oder der Soziologe? Vorausgesetzt wird natürlich das erste.“15 Uns sollen

11 Vgl. L. Landgrebe: Der Begriff des Erlebens, S. 103 f. 12 Thomas Rentsch spricht vom „Leibapriori“. Vgl. T. Rentsch: Leibapriori und Praxis, in B. Irrgang/T. Rentsch (Hg.): „Leib“ in der neueren deutschen Philosophie, S.105123. 13 H. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 15. 14 H. Plessner: Zur deutschen Ausgabe, S. 25. 15 Ebd.

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aber vor allem die Praxisformen interessieren, in denen das Handeln umweltlich eingebunden ist. Wilhelm Kamlah hat hier den Ausdruck des „hinnehmenden Handelns“ geprägt.16 Darin drückt sich eine „lebensweltliche“ Orientierung oder Gerichtetheit aus, insofern der Mensch um seine Bedürftigkeit nach Gütern ebenso weiß wie um die Möglichkeiten, dieser drängenden Lage zu entsprechen. Im Handeln verstehen wir uns, dank der Vorgriffe unserer Sinne, auf die Möglichkeiten, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Dieses Sich-verstehen-auf und Umgehen-können-mit bindet das menschliche Selbstverständnis an seine Umwelt, insofern diese in jenem unmittelbaren Sinn aufgefasst wird. Der Mensch muss sich mit dem Brauchbaren oder Unbrauchbaren der Güterwelt, so wie es sich in seiner Umwelt ihm darbietet, abfinden, und die Möglichkeiten, die ihm z.B. die Artefakte seiner Umwelt bieten, hinnehmen. Kamlah spricht auch von „brauchender Bedürftigkeit“17. Zusammengefasst: ich bin wahrnehmend darauf gerichtet, ob die Güter ermöglichend sind oder nicht. Ob und was Güter mir bieten können, habe ich einmal erfahren. Es wird mithin eine Unterscheidung deutlich, insofern auf der einen Seite eine technische Praxis sich der Landschaft bemächtigt, aber auf der anderen Seite mit lebenspraktischen Orientierungen von Landschaftsbewohnern zu rechnen ist. Will sich aber irgendeine Landschaftstheorie konstituieren, dann kann sie nicht mit einem technischen Verfügungswissen beginnen, das sich nur naturwissenschaftlich „begründen“ lässt. Vielmehr benötigen wir vortheoretische und vorwissenschaftliche Orientierungen, wie Menschen ihr Leben führen und weiterhin führen wollen.

2. L ANDSCHAFT

UND

L EBENSGESCHICHTE

„[…] Kurz diese Gegend bietet eine lebhafte Einsamkeit, ein fröhliches Alleinsein mit der Natur, wie wir es anderwärts noch nicht angetroffen. […] So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahren nimmer sein. – Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisse und Industrie. Die kleinen malerischen Heiden werden geteilt; die Kultur des langsam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen schnellen Ertrag zu sichern, und bald werden auch die Fichtenwälder und endlose Getreidseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auch ihre Bewohner von den uralten Sitten und Gebräuchen mehr und mehr

16 Vgl vor allem das Kapitel „9. Sehen und Handeln“ seiner Schrift: Der Mensch in der Profanität, S 115 ff. 17 W. Kamlah: Der Mensch in der Profanität, S. 122.

246 | L ANDSCHAFT ALS U MWELT DES B AUENS ablassen; fassen wir deshalb das Vorhandene noch / zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt, auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.“18

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus „Westfälische Schilderungen“, in denen die Autorin, die im Jahr 1797 auf Schloss Hülshoff bei Münster geborene Annette von Droste-Hülshoff, das Einmalige ihrer Heimatlandschaft beschreibt. Die von mir unterstrichenen Ausdrücke versuchen eine Landschaftserfahrung wiederzugeben, die geeignet ist, das Charakteristische oder die Physiognomie der Landschaft zu treffen. Gewiss ist, dass die Autorin die Landschaft nicht mit lebensweltlichem Abstand betrachtet. Der Germanist und Droste-Biograph Dieter Borchmeyer schreibt: „Der Lebensrhythmus Annettes wäre wohl immer von ihrem Wechsel zwischen Münsterland und Paderborner Landschaft sowie gelegentlichen Reisen ins Rheinland geprägt geblieben, hätte ihre Schwester Jenny nicht 1834 den Privatgelehrten Josef Freiherr von Laßberg geheiratet, der in Eppishausen im / Schweizer Kanton Thurgau lebte und 1834 nach Schloß Meersburg am Bodensee übersiedelte. […] Bezeichnenderweise ist es die Folge der räumlichen Distanz zu ihrer Heimat, daß ihr nun, in einer vollkommen anderen Welt, die bedeutendste poetische Beschwörung der westfälischen Landschaft gelingt […] So wohl Annette die Meersburger Aufenthalte in vielfacher Hinsicht getan haben, ihre Imagination blieb doch geprägt durch die Eindrücke der heimatlichen Landschaft.“19 Annettes Beschreibungs-„Kunst“ darf nicht mit einer Ästhetisierung von Landschaft verwechselt werden. Ihr Können liegt in der gekonnten Differenzierung des Vertrauten vom Unvertrauten und des Wirkens des Besonderen. In der räumlichen Distanz erst, durch die Konfrontation mit der „neuen“ Perspektive einer „vollkommen anderen Welt“ (Borchmeyer), wird man des Charakteristischen der Heimat ansichtig und sich dessen Einmaligkeit bewusst. Diese Unterscheidung, die hier möglich wird und schließlich zur Sprache drängt, ist ein lebensweltliches Können, nicht das bewusste Einnehmen einer theoretischen Distanz. Dass der Mensch Logos hat, wie Aristoteles feststellt, heißt zunächst einmal, dass er „vernünftig“ reden kann. Wer sprechen kann, weiß zu unterscheiden. Einfache Unterscheidungen betreffen das Wahrgenommene. Aristoteles weist darauf hin, dass Kinder erst lernen müssen, zwischen Vater und Mann zu unterscheiden. Es ist der Unterschied zwischen dem Besonderen, das der Vater für sein Kind bedeutet, und dem Allgemeinen, der den Vater auch als „einen“

18 A. v. Droste-Hülshoff: Westfälische Schilderungen I, S. 487 f. (Hvhg. durch mich). 19 A. v. Droste-Hülshoff: Des Grauens Süße, S. 17 f.

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Mann begreifen lässt. Man könnte hier von einem beispielhermeneutischen Apriori sprechen. Erst wenn ich verschiedene Landschaften „erfahren“ habe, bin ich in der Lage, (m)eine Heimatlandschaft zu unterscheiden. Wenn ich angesichts des Wirkens einer Gegend sage: „Das ist eine Landschaft“, dann ist „diese“ Landschaft ein Beispiel für etwas Prinzipielles: gewissermaßen „Landschaft schlechthin“. Das Wort Landschaft ist dann nicht länger ein Eigennamen, sondern eine Überschrift für ähnliche Phänomene, die für den Erfahrenen alle Anteil am Landschaftlichen haben bzw. für ein Prinzip, auf welches das Beispiel denjenigen führen kann, dem es gegeben wird. Prinzipien sind Verallgemeinerungen von Erfahrung. Das Gewicht, das ich innerhalb der „Beispielhermeneutik“ dem Prinzip ge20 be , ähnelt demjenigen, das Kamlah/Lorenzen der Prädikation beimessen. Ein anderes Beispiel: Ich habe einmal auf einer Zugfahrt durch die Sächsische Schweiz beobachtet, wie eine etwa 30-jährige Frau zu ihrer dreijährigen Tochter sagte, da sie trotz Bitten der Kleinen nicht mit dieser Karten spielen wollte: „Ich möchte mir jetzt die Landschaft ansehen!“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass die kleine Tochter begriffen hat, was die Mutter mit dem Ausdruck „Landschaft ansehen“ meinte. Dennoch hat das Kind etwas verstanden, da anschließend die Mutter eine Weile „Ruhe“ hatte. Bei dieser ist mir allerdings ein besonderes Verhalten aufgefallen, da sie sich umgehend und mit aufmerksamem Blick und ganzer Körpersprache interessiert dem Fenster zuwandte, um – sozusagen am Kind vorbei – „in die Ferne zu schauen“. Von diesem Handeln der Mutter einschließlich den dazu gebrauchten Worten „Landschaft ansehen“ wird das Kind lernen können. Dem Kind, so lässt sich vielleicht sagen, ist situativ Redehandlung und Verhalten der Mutter widerfahren. Gleichzeitig wurden ihr vorgemacht, das Prinzipielle einer Gestalt (ein-)zu-sehen und das passende Wort zu gebrauchen. Wilhelm Kamlah sagt in seiner Philosophischen Anthropologie: „Unser Handeln wird durch Reden geleitet.“21 Widerfahrnisse22, ein zentraler Ausdruck Kamlahs, sind nichts anderes als „Erfahrungen“. „Mit“ was „macht“ man aber seine Erfahrung? Schon das Wort „Widerfahrnis“ deutet darauf, dass Erfahrungen nicht gemacht oder „konstruiert“ werden können. Sie stoßen uns zu und sind uns unverfügbar. Zu jeder Erfahrung gehören die Person, die etwas „am eigenen Leib“ erfährt, sowie ein „Gegenstand“ oder eine andere Person, über den sie etwas erfährt. In der Erfahrung erschließt sich uns der „Gegenstand“, unter den ebenso Personen als Landschaften gehören können, auf eine neue, überraschende

20 Vgl. A. Hahn: Erfahrung und Begriff. 21 W. Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. 22 A.a.O., S. 34 ff.

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Weise. „Indem uns Gutes und Schlimmes widerfährt, indem unser Handeln gelingt und mißlingt, machen wir ‚Erfahrungen’, lernen wir für unser künftiges Verhalten.“23 Was ich oben das „Landschaftliche“ genannt habe, ist kein Begriff und keine Konstruktion von Landschaft, die man dann allerdings unterstellen muss, wenn man etwa eine vergleichende „Geschichte der Landschaft“ verfassen und das „Erscheinungsbild der heutigen Kulturlandschaft“ „erklären“ will24. Das Landschaftliche steht für das Charakteristische und die Physiognomie einer Gegend hinsichtlich deren Bedeutsamkeit für einen Menschen. Bedeutsamkeit widerfährt uns als das Wirken eines Eindrucks. Georg Misch betonte einmal das Vortheoretische selbstverständlicher Bedeutsamkeiten: „Bedeutsamkeit wird den Gegenständen überall da einwohnen, wo wir mit ihnen durch einen Lebensbezug verbunden sind, durch einen Lebensbezug im Unterschied zu einem bloß theoretischen Verhalten“.25 Das Beispiel der Annette von Droste-Hülshoff ist deshalb aber auch als der Hinweis auf eine Lebensgeschichte zu verstehen, in der das Landschaftliche als besondere weil biographisch vertraute Landschaft erst dann zur Sprache kommen konnte, nachdem zum Eindruck die Worte gestoßen sind, die ihn bedeutsam unterscheiden von anderen Eindrücken von Landschaftlichkeit. Ein uns zeitgenössischer Dichter, Peter Handke, hat diesen Prozess, wie biographische Bedeutsamkeiten erst mit der Beschreibung des Erlebten („Erinnerung“) erwachen, am eigenen Schreiben erfahren und dargestellt: „Was ich bisher vom Haus meines Vaters, vom Dorf Rinkenberg, von der Jaunfeld-Ebene erzählt habe, das war mir vor einem Vierteljahrhundert im Bahnhof von Jenenice wohl ganz gegenwärtig, aber ich hätte es niemandem erzählen können. Ich spürte in mir nur Ansätze ohne Laut, Rhythmen ohne Ton, Kürzen und Längen, Hebungen und Senkungen, ohne die entsprechenden Silben, ein mächtiges Schwingen von Perioden, ohne die dazu passenden Wörter, den langsamen, weitausholenden, ergreifenden, stetigen Takt eines Versmaßes, ohne die zugehörigen Verse, ein allgemeines Anheben, das keinen Anfang fand, Rucke im Leeren, ein wirres Epos, ohne Namen, ohne die innerste Stimme, ohne den Zusammenhang einer Schrift. Was der Zwanzigjährige erlebt hatte, war noch keine Erinnerung. Und Erinnerung hieß nicht: Was gewesen war, kehrt wieder; sondern: Was gewesen war, zeigte, indem es wiederkehrte, seinen Platz. Wenn ich mich erinnerte, erfuhr ich: So war das Erlebnis, genau so!, und damit wurde mir dieses erst bewußt, benennbar, stimmhaft und spruchreif, und deshalb

23 A.a.O., S. 33. 24 Z.B. H. Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa, S. 366. 25 G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, S. 577.

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ist mir die Erinnerung kein beliebiges Zurückdenken, sondern ein Am-WerkSein, und das Werk der Erinnerung schreibt dem Erlebten seinen Platz zu, in der es am Leben haltenden Folge, der Erzählung, die immer wieder übergehen kann ins offene Erzählen, ins größere Leben, in die Erfindung.“26 Das Erleben oder gegenwärtige Spüren wird man schwerlich als eine Konstruktion begreifen können. Auch das Unternehmen, dieses Wirken eines Eindrucks in seiner Bedeutsamkeit für das eigene Erinnern sich bewusst zu machen, bedient sich des „feinen und reichen Instrumentariums der Umgangssprache“ (Kamlah) und verzichtet auf begriffliches Einordnen. Schließlich ist das Erinnern selbst ein Erfahren, insofern „was gewesen war, zeigte, indem es wiederkehrte, seinen Platz“. Genau besehen widerfährt dem Autor die Bedeutsamkeit seiner Erlebnisse, indem das Gewesene in einer Erzählung seinen „Platz“ schon gefunden hat. Die Sprache trägt lediglich etwas nach, über dessen Relevanz schon entschieden ist. Auf die Frage, was denn eine Landschaft gewesen war, bevor sie als Konstruktion aufgefasst werden kann, lässt sich also folgendermaßen beantworten. Sie war das Wirken eines Eindrucks. Und der Schritt, dieses Wirken eines Eindrucks in einen sprachlichen Ausdruck zu überführen, dient „elementar“ der Orientierung und dem Zurechtfinden des Menschen in seiner Welt. Erst das Sprechen, das Lernen und Treffen von Unterscheidungen, die die gebräuchliche Sprache ermöglicht, bringt die Erfahrung dem davon Berührten zu Bewusstsein. Dabei haben wir zu vergegenwärtigen, dass es einen Unterschied zwischen Erfahrung und „Empirie“ gibt, der methodologisch von größtem Belang ist. Diese Bedeutung von Differenz wird aber nur demjenigen einleuchten, der nicht den Begriff „Empirie“ zur Herstellung von Realität aufgrund von Daten, die nach einem mathematischen Messverfahren produziert werden, verwendet, sondern „Empirie“ im Sinne des aristotelischen Ausdrucks „empeiria“ benutzt27. Auf diesen Unterschied hat neben anderen (z.B. Günther Buck in seiner Abhandlung Lernen und Erfahrung von 1967) auch Friedrich Kambartel verschiedentlich aufmerksam gemacht: „Der heute übliche wissenschaftstheoretische Gebrauch des Terminus ‚Erfahrung’ stellt in der Regel auf Erfahrungssätze und eine Erfahrungspraxis, vor allem experimentelle physikalische Forschung und statistische Erhebungen ab. Dem steht jedoch ein umgangssprachliches Vorverständnis von ‚Erfahrung’ (im Sinne von ‚Erfahrenheit’, ‚Erfahrensein’) gegenüber, dem es auf Fähigkeiten des Menschen ankommt, die ein Geübtsein in, ein Vertrautsein mit gewissen

26 P. Handke: Die Wiederholung, S.101 f. 27 Vgl. A. Hahn: Erfahrung und Begriff.

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Handlungen (und dann auch Dingen) voraussetzen.“28 Auch Kamlah trifft einen für uns wesentlichen Unterschied, wenn er (lebensweltliche) Erfahrung ausdrücklich nicht als Konstruktion versteht. Demnach gibt es Wissenschaften, die sich tatsächlich auf (Lebens-)Erfahrung stützen, die aber nicht im obigen Sinne „empirisch“ ist. Er nennt jene Wissenschaften und die darin gewonnenen Ausdrücke, zu der er z.B. die philosophische Anthropologie zählt, einerseits „vorempirisch“. „Andererseits sind sie keineswegs nichtempirisch wie die Termini a priori konstruierender Wissenschaften“.29 Man könnte den Eindruck gewinnen, das Konstruieren von deduktiven (Landschafts-)Beschreibungen sei dadurch zu einer wissenschaftstheoretischen Pflichtaufgabe geworden, indem man das eigene Wahrnehmen kontrolliert beobachtet und darauf achtet, dass es richtig arbeitet. Auch Sieferle sprach von einem „Betrachter“. – Kann dieser auch die eigenen Selbstverständlichkeiten und seine basalen Orientierungen betrachten? Dann müsste man es in den apriori konstruierenden Wissenschaften so eingerichtet haben, dass alles Reden logisches Schlussfolgern ist. Dagegen ist allerdings schon früh Widerstand erhoben worden. Wittgenstein, auf den wir noch ausführlich zu sprechen kommen, hat zwischen Sprachspielen unterschieden, in denen Sätze gebraucht werden, die nichts behaupten oder beweisen, die dennoch ein nicht-deduktives Wissen zum Ausdruck bringen. So konnte er z.B. die Praxisform „glauben“ gewissermaßen rehabilitieren, indem er diesem Sprachspiel einen eigenen Bereich des „Wissens“ reserviert hat. Glauben ist dann ein Für-wahr-halten des Selbstverständlichen und von Gewissheiten.30 Hat nicht jede Wissenschaft auf ihrem Grund mit unbeweisbaren Gewissheiten zu tun?

3. Z UR L OGIK

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V OREMPIRISCHEN

Edmund Husserl hat als erster Denker im 20. Jahrhundert den Zusammenhang von „Welt“ und „Erfahrung“ gesehen und thematisiert. Zur begrifflichen Fassung dieses Phänomens hat er verhältnismäßig spät nämlich erst ab den 1930er Jahren den Begriff „Lebenswelt“ benutzt, um damit auf ein Phänomen aufmerksam zu machen, auf das er bereits 1907 in der Einleitung zur Vorlesung „Ding und Raum“ gestoßen war: „Alle Wirklichkeitsurteile, die der Naturwissenschaftler begründet, gehen zurück auf schlichte Wahrnehmungen Erinnerungen,

28 F. Kambartel: Wie abhängig ist die Physik von Erfahrung und Geschichte? S. 154. 29 W. Kamlah Philosophische Anthropologie, S. 19. 30 Vgl. L. Wittgenstein: Über Gewißheit.

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und beziehen sich auf die Welt, die in dieser schlichten Erfahrung zu einer ersten Gegebenheit kommt.“31 Nimmt man sich §§ 27 und 28 der 1913 erschienenen „Ideen I“, die mit der Überschrift „Die Welt der natürlichen Einstellung: Ich und meine Umwelt“ sowie „Das Cogito. Meine natürliche Umwelt und die idealen Umwelten“ betitelt sind, dazu, dann entdeckt man weitere für die Entwicklung der Phänomenologie zentrale Ausführungen und Präzisierungen. U.a. ist hier zu lesen: „Auf diese Welt, die Welt, in der ich mich finde und die zugleich meine Umwelt ist, beziehen sich denn die Komplexe meines mannigfach wechselnden Spontaneitäten des Bewußtseins: des forschenden Betrachtens, des Explizierens und / Auf-Begriffe-bringens in der Beschreibung, des Vergleichens und Unterscheidens, des Kolligierens und Zählens, des Voraussetzens und Folgerns, kurzum des theoretisierenden Bewußtseins in seinen verschiedenen Formen und Stufen.“32 Wir sehen, dass Husserl in diesen Passagen einen Begriff von „Umwelt“ benutzt, der die räumlich-zeitliche Wirklichkeit des Menschen als fraglos gegebener Weltinhalt versteht, auf dem alles Theoretisieren aufbaut. Deshalb kann er auch zwischen einer nicht-hintergehbaren „Umwelt“ und anderen „idealen Umwelten“ oder „Sonderwelten“ unterscheiden. Derjenige, der sich gerade mit Arithmetik beschäftigt, macht diese sich zum Objektfeld seiner Tätigkeit. Er taucht für gewisse Zeit in diese Zahlenwelt ein, kann sie auch wieder im Gegensatz zu der von Husserl so bezeichneten „natürlichen Welt“ verlassen. „Die arithmetische Welt ist für mich nur da, wenn und solange ich arithmetisch eingestellt bin. Die natürliche Welt aber, die Welt im gewöhnlichen Wortsinn, ist immerfort für mich da, solange ich natürlich dahinlebe.“33 Diese „natürliche“ Welt, die ich nie verlassen kann und die später den Titel „Lebenswelt“ erhält, lässt sich nicht in neutraler Einstellung als „Sachenwelt“ betrachten und feststellen. Vielmehr ist sie ständig „vorhanden“ „in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt“34. Husserl spricht – diesen Zusammenhang prägnant ausdrückend – von der „Generalthesis der natürlichen Einstellung“35. Diese Grundform des Lebens steht auch demjenigen nicht zur Disposition, der „reflektiert“. Unmittelbarkeit heißt nämlich: die Dinge meiner natürlichen Umwelt und Lebenspraxis sind immer schon unter Gebrauchsaspekten und Wertcharakteren erlebt und erfahren: „Dasselbe gilt […] für Menschen und Tiere meiner Umge-

31 E. Husserl: Ding und Raum, S. 7. 32 E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenlogie und phänomenlogischen Philosophie, S. 58 f. 33 A.a.O., S. 59. 34 A.a.O., S. 58. 35 A.a.O., S. 61.

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bung. Sie sind meine ‚Freunde’ oder ‚Feinde’, meine ‚Diener’ oder ‚Vorgesetzte’, ‚Fremde’ oder ‚Verwandte’ usw.“36. Welche Rolle spielt die „Generalthesis der natürlichen Einstellung“ für unsere Redehandlungen? Im Folgenden soll es deshalb insbesondere darum gehen, auf die Unterscheidung zu achten, die zwischen dem Wirken des Eindrucks der „natürlichen Welt“ oder „meiner Umwelt“ und seinem sprachlichen Ausdruck zu treffen ist. Wir gehen davon aus, dass (Um-)Welt und (Umgangs-)Sprache nicht zu trennen sind, vielmehr der (umgangs-)sprachliche Ausdruck als die „evozierende“ Ausdrucksform (Georg Misch) des Bedeutsamen des Erfahrenen zu fassen ist. Über die von Husserl erstmals entdeckten intentionalen Bewusstseinsleistungen hinausgehend, finden wir also nun eine enge Verknüpfung von Tun und Redehandlung vor, so dass wir behaupten dürfen, dass nicht nur das „Denken“ sondern unser lautes und leises Sprechen insgesamt die Welt „immer schon“ erschließt – primär ohne theoretisch-konstruierende Absicht. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, wenn sie sich nicht völlig von der Lebenspraxis des Menschen distanzieren kann und isolieren will, diese „Erschließung“ unter methodischer Kontrolle fortzusetzen, statt sich davon zu distanzieren. Annette erkannte in ihrer Erfahrung der Bodenseegegend etwas wieder, was sie schon von ihrer westfälischen Heimat wusste, dass die Landschaftlichkeit von Gegenden berühren kann. Damit verstand sie zugleich auch etwas Besonderes und Einmaliges: das unverwechselbar Heimatliche der westfälischen Landschaft. Denn diese Landschaft konnte sie nun als vertraute Umwelt ihres Wohnens beschreiben, insofern die Praxisform Wohnen eng mit dem Bleiben an einem Ort über einen längeren Zeitraum verbunden ist. Und wenn dieser Zeit-Raum vor allen die Kinder- und Jugendjahre eines Menschen einschließt, dann entstehen leidenschaftliche Abhängigkeiten und Bindungen, die sich theoretisch und methodisch nicht kontrollieren lassen. Zeit und Raum, jetzt und hier, durchdringen sich derart, dass in der vertrauten Landschaft alles immer erwartbarer und gewohnter wird. So weiß Annette, hier alle Einzelheiten auch bei ihren Eigennamen zu nennen. Dies muss ihr am Bodensee erst einmal fremd und unvertraut bleiben, vielleicht auf Dauer befremdlich. Kamlah und Lorenzen sagen: „Vertraut wird uns eine fremde Stadt oder Landschaft insbesondere wieder dadurch, daß wir Straßen, Plätze, Berge mit ihren Eigennamen zu benennen lernen“37. Ein hübsches Beispiel dafür, dass wir bei der Wiederkehr von Heimatlichem begrüßt werden können, gibt der Schriftsteller Bernhard Schlink: „Im Ort, in der Landschaft steckt Heimat. Je älter ich werde, desto stärker empfinde ich, dass diese Landschaft

36 A.a.O., S. 58. 37 W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik (2.Aufl.), S. 46.

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meine Heimat ist: Wenn der Zug auf dem Weg nach Heidelberg aus dem Rheintal in die Ebene kommt und dann von Mannheim auf die Berge mit den roten Sandsteinbrüchen zufährt, rührt es mich stark und tief an“.38 Unverkennbar treten uns Landschaft, Anmutung und Bedeutungsgestalt entgegen. Die Landschaft wird in ihrer Bedeutsamkeit als Besonderes und Einmaliges wahrgenommen und es widerfährt dem Schriftsteller so etwas wie sein leibliches Gebundensein an diese Landschaft. Dass etwas mich anrührt und begrüßt, heißt nichts anderes, als dass Dinge mich treffen, sich mir aufdrängen können. Die starke und tiefe Rührung ist dann die leibliche Antwort auf ein Betroffen-sein. Bei unserer Beispielen, Annette, Peter Handke, Bernhard Schlink, musste die Frage gestellt werden, was der Weg von der Anmutung zum Wort, zur Rede eigentlich bedeutet. Welche Rolle soll der „Sprachlichkeit der Welt“ bzw. der „sprachlichen Erschließung der Welt“ zugebilligt werden? Dabei wollen wir insbesondere darauf achten, dass Anmutungen, Stimmungen, Erlebnisse, Empfindungen, Erfahrungen usw. primär sich vor-sprachlich aufführen als leiblich Gespürtes bzw. von nichtsprachlichem Verhalten begleitet sein können. Zweifellos ist das Empfinden z.B. von Geborgenheit oder von Bindung eine deutlich spürbare Befindlichkeit. Aber liegt mit diesem vernehmenden Erfahren eines leiblichen Zustands bereits eine intelligente Objektivierung vor? Und hieße das, wenn es so wäre, nicht, wir seien stets in der Lage, was uns im Zu-tun-haben mit den Dingen widerfährt, absichtslos zu beobachten!

4. G EOGRAPHISCHER R AUM IM S PRACHSPIEL

UND

E MPFINDEN

Einen bemerkenswerten Vorschlag, Konstruktion und leibliches Spüren aufeinander zu beziehen, hat der Psychopathologe Erwin Straus vorgelegt. Er meint, dass die Thematik des Empfindens und Erlebens in den universellen Zusammenhang des menschlichen Erkenntnisvermögens (Vernunft) gestellt werden müsse. Insofern lasse sich erstere als eine primitive erste „tierische“ Stufe eines vormenschlichen Erkenntnisvermögens betrachten. Drastisch ausgedrückt: „Das Empfinden verhält sich zum Erkennen, wie ein Schrei zu dem Wort.“39 Dieses Zitat lässt schon durchblicken, wie Straus seine These entwickeln möchte. Er unternimmt es folgerichtig, schon die primitivsten Formen der menschlichen Welthabe (das Empfinden) als einen möglichen Beitrag für das wissenschaftliche

38 DER TAGESSPIEGEL vom 05.01.2000. 39 E. Straus: Vom Sinn der Sinne, S. 329.

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Können (als ein kontrolliertes Zu-Erkenntnissen-kommen) zu untersuchen. Das Empfinden wird in dieser Analyse als ein „naives Dahinleben“ gefasst, das von sich aus keinen Anlass verspürt, sich einer Reflexion und Objektivierung zu öffnen. Wichtig für eine wissenschaftliche Sonderwelt wird der dann tatsächlich zu vollziehende Übergang vom Empfinden zum Wahrnehmen. Erst mit der totalen Überwindung des Empfindens ist nach Straus die „erste Stufe der Erkenntnis“ erreicht: „das Innewerden des Nicht-Wissens“40. Das „wissenschaftliche“ Wissen setzt ein mit Verallgemeinerungen und weiteren Erkenntnissen, die erst empirisch belastbare Antworten bereitstellen können auf die Frage, wie ein Ding „an sich beschaffen ist“41. Die Welt, in die Straus seine Theorie des Empfindens stellt, ist die des wissenden Verstandes. Der souveräne und autonome Betrachter stellt die Dinge der Welt sich gegenüber. Mit der Einnahme eines entsprechenden exzentrischen Standorts erst kann objektive Wahrheit angepeilt werden. Erich Rothacker hat darin bei Straus eine „Querstellung zum Erleben“ ausgemacht, die dadurch möglich wird, dass eine „(egozentrische) Perspektive durch einen Punkt außerhalb des Zentrum des Erlebens“ überwunden wird.42 Straus traut dem unmittelbaren Empfinden keine eigene Wahrheit zu und verhält sich stets in strikter Distanz zu dem, was Jemanden sinnlich betreffen mag. Vor diesem Hintergrund werden (Landschafts-)Räume oder räumliches Verhalten rein antagonistisch betrachtet, insofern sie entweder subjektiv und egozentrisch oder objektiv und verallgemeinerungsfähig sind.43 Denn im Zentrum der Behandlung des Raumthemas bei Erwin Straus steht die Unterscheidung von Empfindung und Wahrnehmung (Erkenntnis). Während das Empfinden eine räumliche Mitte besitzt, diese ist der Ort des Empfindenden, geht die Wahrnehmung zwangsläufig über die perspektivische Bindung an einen konkreten (räumlichen) Standpunkt hinaus. Die Wahrnehmung, da sie eine objektive Perspektive bedeutet, steht hier ganz im Dienst der wissenschaftlichen Aufklärung: „Die Wahrnehmung bedarf wie alle Erkenntnis eines allgemeinen objektiven Mediums. Die Wahrnehmungswelt ist eine Welt von Dingen mit festen und unverän-

40 A.a.O., S. 332. 41 A.a.O., S. 333. 42 E. Rothacker: Philosophische Anthropologie, S. 159. 43 Einen ganz anderen, zwar auch mit objektivierendem Anspruch unternommenen gesellschaftsgeschichtlichen Zugang zur Wahrnehmungswelt der Landbevölkerung hat der Soziologe und Sozialforscher G. Vonderach gewählt, ohne allerdings die in der Lebenswelt der Landbewohner verankerte und sich nur langsam wandelnde Mentalität empirisch zu unterschlagen und wissenschaftlich gering zu schätzen, vgl. G. Vonderach: Die Erforschung ländlicher Lebenswelten.

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derlichen Eigenschaften in einem allgemeinen, objektiven Raum und einer allgemeinen, objektiven Zeit.“44 Erwin Straus differenziert den physikalischen Raum, den Wahrnehmungsraum, der auch der Raum der Geographie ist, und den Raum der Landschaft. „Der geographische Raum ist seiner Struktur nach keineswegs identisch mit dem physikalischen Raum. [...] Aber der geographische Raum hat eine Affinität zum physikalischen Raum. Darin zeigt sich eben, daß der geographische Raum der Raum der menschlichen Wahrnehmungswelt ist, denn als Menschen des Alltags leben wir zwischen reiner Physik und reiner Landschaft.“45 Die Grenzen zwischen den „Räumen“ schwimmen und können nur unscharf gezogen werden. Straus unterscheidet das Tier vom Menschen, indem er das Tier dem Empfinden zuordnet, den Menschen dem Wahrnehmen. Die Welt des Tieres wird empfunden, die des Menschen ist wahrgenommen, so seine These. Der Mensch habe sich selbst einmal auf dieser Stufe des Empfindens (und damit innerhalb der Landschaft) befunden, sie aber auf seiner kulturgeschichtlichen Entwicklung hinter sich gelassen und überwunden. Seine Welt nur mehr motivationslos wahrzunehmen, dies scheint aber ein Idealzustand zu sein, den nur der aufgeklärte Wissenschaftler permanent einnimmt. Schauen wir nämlich uns die weitere Ausgestaltung dieser These an, dann bemerken wir, dass Straus eine Gegenüberstellung von Landschaftserleben und geographischem Verhalten durchführt. Überall, wo rein empfunden wird, ist landschaftlicher Raum. Oder etwas drastisch ausgesagt: „Die Kneipe ist stimmungsvoller Raum und die Mitte des Lebens des Trinkers.“46 Landschaftliche Räume gehören für Straus nicht (mehr) zur menschlichen Welt, denn in dieser lebt man von der Distanz und vom Gegenüber-haben von Raum und Zeit. Dem Trinker z.B. gelingt es nicht, „die Grenzen zur Landschaft endgültig zu überschreiten“. Diesen Schritt hätten auch Kinder noch vor sich: „Noch leben sie in einer kindlichen Welt, nahe der Landschaft, aber weil sie Menschen, weil sie Männer werden sollen, weil sie 'des Geistes Kinder' sind, beginnen sie noch mitten im Spiel die Abkehr vom landschaftlichen Dasein“47. Wir wollen es dabei belassen und nun danach fragen, was es mit einem reinen Wahrnehmen in den Wissenschaften und was es mit der Welt des „Trinkers“ oder der des „Kindes“ auf sich haben könnte. Der Welt des Empfindens wurde von Straus am Beispiel der Nah-Um-Welt „Landschaft“ vorgeführt und radikal antagonistisch einer auf das Paradigma der

44 E. Straus: Vom Sinne der Sinne, S. 334. 45 A.a.O., S. 335. 46 A.a.O., S. 343. 47 A.a.O., S. 345.

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Erkenntnis eingestellten Welt der Wahrnehmung gegenüber gestellt. In der Überwindung des (tierischen) Empfindens sollte ein Fortschritt in der allgemeinen Erkenntnisleistung angezeigt sein, den die Menschheit zweifelsfrei anzustreben habe. Auch andere Denker haben sich diesem Thema gestellt, indem sie etwa danach gefragt haben, was der Mensch überhaupt ausdrückt, wenn er Empfindungen in die Sprache bringt. Tiere jedenfalls, so müssten wir Straus fortschreiben, haben keine Möglichkeiten, ihre Empfindungen und Gefühle sprachlich mitzuteilen. Lehnt es Straus überhaupt ab, von Empfindungen etwas für die Menschheit Wissenswertes erwarten zu wollen, interessiert sich Ludwig Wittgenstein gerade für die Möglichkeiten, über Empfindungen zu reden. Ein Großteil von Wittgensteins so genannter Spät-Philosophie gilt dem Nachweis, dass es keine Basis- oder private Sprachen geben kann. Gäbe es sie, wie ihre Befürworter behaupten, dann könnten sie dafür eingesetzt werden, Ereignisse oder Vorgänge zu beschreiben, von denen, wie bei Wahrnehmungen und Empfindungen, niemand anderer etwas wissen kann als der Inhaber einer solchen Sprache. In seiner Ablehnung eines entsprechenden Ansinnens wendet sich Wittgenstein sowohl gegen Bemühungen, physikalistische Basissprachen einzuführen, als er es auch wiederholt unternimmt, die Möglichkeit einer privaten phänomenologischen Sprache zu widerlegen. An immer wieder neuen Beispielen macht er deutlich, dass eine tatsächliche Anwendung von sprachlichen Ausdrücken, die private Erlebnisse bzw. eigene Empfindungen betreffen, die Verbindung von Sprache und Welt voraussetzt. Wittgenstein nennt diese öffentlichen Instanzen „Lebensformen“ und „Sprachspiele“. Wittgensteins Untersuchungen drehen sich oftmals um die Fragen nach den eigenen bzw. den Gefühlen (Schmerzen) von Anderen. Ihm geht es darum, die Unterschiede herauszuarbeiten, die er darin sieht, dass wir anders über die eigenen Gefühle reden als über „deine“ oder die Gefühle von Dritten. Wie können wir aber sicher sein, dass wir über dasselbe reden, wenn wir über Schmerzen reden, da Jeder doch nur von seinen Schmerzen „wissen“ kann? Ich spreche über mich selbst auf eine andere Weise als über einen anderen Menschen. Dazu kommt, dass Gefühle (am deutlichsten beim Schmerz) stets mit einem mimischen und lautlichen Ausdruck verbunden sind: Jemand verzieht sein Gesicht vor Schmerzen und stöhnt dabei laut auf. Indem Wittgenstein immer wieder andere Möglichkeiten der Personidentität mit denen bestimmter Verhaltensweisen verknüpft, weist er darauf hin, dass es letztlich auf die intersubjektiv eingespielten Situationsbewältigungen ankommt, aus denen wir erschließen können, wie Gefühle bestimmten Personen zugeschrieben werden können. Wittgenstein geht von sprachlichen Konventionen aus, in die Jedermann eingeübt ist und aus denen sich ergibt, wie etwas verstan-

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den werden soll. Er spricht von „Zügen des Sprachspiels“, die es dann erlauben anzunehmen, dass der Andere seine Gefühle z.B. nur heuchelt. Heuchelei gehört zur menschlichen Welt, ebenso wie wir davon überzeugt sind, dass Tiere Gefühle nicht heucheln können. Sprachspiele legen die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung fest. Wittgenstein sieht seine Aufgabe u.a. gerade darin, die Vielfalt von Möglichkeiten aufzuzeigen, über Erlebnisse zu sprechen, und damit auf die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele zu verweisen, die von Menschen praktiziert werden. Jedoch hinter Lebensformen und Sprachspiele zurückzugehen, um über Erlebnisse in einer privaten Sprache, die nur dem Erlebenden zugänglich ist, zu reden, hält er für unmöglich. Eine zentrale Stelle in den Philosophischen Untersuchungen, an der Wittgenstein zu verstehen gibt, wie einer von seinen privaten Empfindungen sprechen kann bzw. inwiefern sich Empfindungswörter auf Empfindungen beziehen, ist die folgende: Wenn ich von mir selbst sage, ich wisse nur vom eigenen Fall, was das Wort ‚Schmerz’ bedeutet, – muß ich das nicht auch von Anderen sagen? Und wie kann ich denn den einen Fall in so unverantwortlicher Weise verallgemeinern? Nun, ein Jeder sagt es mir von sich, er wisse nur von sich selbst, was Schmerzen seien! – Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ‚Käfer’ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort ‚Käfer’ dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ‚gekürzt werden’; es hebt sich weg, was immer es ist. Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von ‚Gegenstand und Bezeichnung’ konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus.48 An diesem Beispiel steht der Käfer für eine private Empfindung. Das Problem ist, dass Empfindungen nicht öffentlich zugänglich sind. Wittgenstein legt zwei Beziehungen vor, die sich zwischen Empfindung und Benennung der Empfindung bilden können. Einmal haben wir den Vorgang des Anblickens, zum ande-

48 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 293.

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ren die Beziehung von Anblick und Wortgebrauch. Jeder Schachtelbesitzer tut eigentlich das Gleiche, indem er für den Anblick seines Käfers ein bestimmtes Wort benutzt. Mit seinem Beispiel will Wittgenstein zeigen, dass das InAugenschein-nehmen des Schachtelinhalts tatsächlich etwas Privates ist. Überhaupt nicht privat ist jedoch die Beziehung zwischen Anblick (Empfindung) und Wortgebrauch (Empfindungssprache). Niemand kann diese Empfindung (der Freude) des Anderen selbst empfinden, insofern sind Empfindungen und Erlebnisse durchaus etwas Privates. Die Empfindung der Freude aber sprachlich zum Ausdruck bringen und benennen, d.h. den anderen seine Empfindung mitteilen, dafür muss sich jeder an Konventionen halten: „Empfindungen sind privat; die Empfindungssprache kann es nicht sein.“49 Eine für möglich gehaltene interne Beziehung zwischen privatem Gegenstand und privater Bezeichnung schließt Wittgenstein indes aus, da diese auf kein Sprachspiel Bezug nähme. Wittgensteins Interesse gilt der Sprache, in der wir uns über Empfindungen austauschen, und den öffentlichen Regeln, denen wir uns dabei bedienen müssen. Im obigen Beispiel ist das Wort „Käfer“ ja keine persönliche Erfindung einer der Beteiligten, sondern das Wort ist bei allen Beteiligten in Gebrauch; insofern können alle Teilnehmer des Sprachspiels ihre Empfindung mit etwas Drittem (dem gewöhnlichen Gebrauch des Wortes „Käfer“) vergleichen! Das Sprachspiel räumt den notwendigen intersubjektiven Rahmen ein, damit Menschen sich über ihre privaten Erlebnisse überhaupt verständigen können. Der Hinweis auf den intersubjektiven Charakter von Sprachspielen und auf die Mannigfaltigkeit der möglichen Sprachspiele zeigt sich methodisch in der Notwendigkeit, auf Beispiele zu verweisen, wie Empfindungen und entsprechende Namen gelernt werden können. Es gibt nicht das absolute Sprachspiel, von dem alle anderen Sprachspiele, den Bezug von Erlebnis und Bezeichnung betreffend, abgeleitet werden können. Gefühle und Empfindungen sind insofern etwas Privates, als von ihnen allein der etwas wissen kann, der in sich blickt. Sie sind aber etwas „Öffentliches“, da wir sie in Sätzen auch an andere richten können, die darin etwas verstehen. Gefühle und Stimmungen sind in der Welt. Stimmungen sind nicht innere Erlebnisse, von denen niemand etwas erfahren kann, vielmehr ereignen sich Stimmungen in spezifischen „öffentlichen“ Situationen, ohne die die Stimmung selbst gar nicht erinnert werden könnte. Wenn z.B. die Dämmerung die Menschen in eine andere Stimmung „versetzt“, dann macht es immer noch einen gewaltigen Unterschied, ob sie sich in einem Landschaftspark aufhalten oder in ih-

49 Wittgenstein zitiert bei Merrill B. Hintika und J. Hintikka: Untersuchungen zu Wittgenstein, S. 320.

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rem eigenen Garten werkeln. Stimmungen, in die man gerät, sind an Verhalten gebunden, die sich beobachten und beschreiben lassen. Wer zufrieden ist, der verweilt. Unzufriedenheit zeigt sich mitunter darin, dass man rascher als sonst an etwas vorüber geht. Das Faszinierende lässt uns unvermittelt stehen bleiben und aufmerksam werden. Der Fremde fragt vielleicht einen Einheimischen, was etwas bedeutet, das in beider Gesichtsfeld liegt.50 Wir müssen in der Welt handeln können, um Freude oder Trauer zu empfinden. Gefühle lassen sich nicht unabhängig von Verhalten und Benehmen feststellen. Immer muss eine bestimmte Orientierung vorliegen, für die ein unerwartetes Empfinden dies oder das bedeutet. Das Lernen der Worte, mit denen wir Bedeutungen benennen, ist eingebettet in einen fraglos gegebenen Lebenszusammenhang, den Wittgenstein „bestimmte Umstände“ genannt hat: „Man lernt das Wort ‚denken’, d. i. seinen Gebrauch, unter gewissen Umständen, die man aber nicht zu beschreiben lernt. Aber ich kann einen Menschen den Gebrauch des Wortes lehren! Denn dazu ist ein Beschreiben jener Umstände nicht nötig. Ich lehre ihn eben das Wort unter bestimmten Umständen“51. Zu diesen Umständen hat jedermann Zugang, der den Lebenszusammenhang, das Sprachspiel teilt, in denen Begriffe wie Erlebnis und Stimmung intersubjektiv gebraucht werden. Die biographischen Umstände, die hinter Annettes Landschaftsbeschreibung liegen, sowie die situativen Umstände, in die die Empfindung des Reisenden Bernhard Schlink eingelagert ist, müssen berücksichtigt werden, will man das Charakteristische ihrer Aussagen verstehen. „D.h. die Sprache funktioniert als Sprache nur durch die Regeln nach denen wir uns in ihrem Gebrauch richten.“52 Dabei gibt es eine gewisse eingespielte Regelmäßigkeit bzw. Wiederholung zwischen der Handlung und der Situation, die ebenfalls gelernt wurde. Was Langeweile oder Spaß ist, haben wir in verschiedenen Handlungssituationen erlebt. Wie uns dabei ist, identifizieren wir als leere oder gefüllte Zeit immer besser. „Eine Erwartung ist in einer Situation eingebettet, aus der sie entspringt. Die Erwartung einer Explosion kann z. B. aus einer Situation entspringen, in der eine Explosion zu erwarten ist“.53

50 Viele Beispiele, die uns die verschiedenen Kontexte von Sprechhandlungen aufzeigen, in denen die Rede von Gefühlen nur aus den entsprechenden Rede-Situationen heraus verstanden werden können, finden sich bei G. Ryle: Der Begriff des Geistes. 51 Wittgenstein zitiert bei H. J. Giegel: Die Logik der seelischen Ereignisse, S. 87. 52 Wittgenstein zitiert bei M. B. Hintika und J. Hintikka: Untersuchungen zu Wittgenstein, S. 310, Anm. 3. 53 Wittgenstein zitiert bei Giegel: Die Logik der seelischen Ereignisse, S. 83.

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5. G ILBERT R YLE : „N UR DER T RÄGER WEISS , WO DER S CHUH DRÜCKT .“ – Z UR L OGIK VON E MPFINDUNG UND B EOBACHTUNG Der englische Logiker Gilbert Ryle untersucht Sinn und Bedeutung von Begriffen, indem er ihre Verwendungsweisen in der Sprache bloßlegt. Er verfolgt dabei nicht die befremdenden und abweichenden Deutungen, die Wörter wie „fühlen“ und „Gefühl“ oftmals in bestimmten philosophischen oder psychologischen Zusammenhängen erfahren. Ihn interessiert die gewöhnliche ungekünstelte Verwendung im alltäglichen („normalen“) Sprachgebrauch.54 Er kritisiert ein bestimmtes wissenschaftliches Verständnis von mentalen Zuständen, indem er seinen Vertretern Kategorienfehler nachweist. Zu logischen Unvereinbarkeiten muss es unweigerlich kommen, wenn es keinen differenzierten wissenschaftlichen Zugang gibt zu dem Faktum, dass, wie Landgrebe sich ausdrückt, das „Sich-Befinden in irgendeiner Umgebung […] von Seiendem […] uns immer schon mit irgendeiner Stimmung berührt“55. Ryle gelingt es, den etwas groben Begriff von Wahrnehmung bei Straus deutlich lebensnaher und d.h. an der Praxis des Redens orientiert zu entwickeln, so dass dem von Misch eingeforderten faktischen Lebensbezug unserer umweltlichen Situationen besser gerecht werden kann. Ein von Ryle so genannter Kategorienfehler liegt z.B. dann vor, wenn behauptet wird, dass sich der menschliche Geist beim Denken, Fühlen und Wünschen zusehe. Die Verwirrung entsteht nach Ryle dadurch, dass man aus einer Tätigkeit wie sorgfältig rechnen zwei Vorgänge macht: einmal Kopfrechnen und dann noch das Kopfrechnen beobachten. Ein anderes Beispiel, welches Ryle nicht verwendet, könnte lauten: mit Rührung in eine Landschaft blicken. Es würde der Logik der Wörter (und damit ihrer Grammatik) widersprechen, würde man daraus zwei Dinge konstruieren: das Blicken in eine Landschaft und das Wahrnehmen einer Rührung. Wenn sich jemand in einer gewissen glücklichen oder deprimierten Stimmung befindet, dann kann dieser Zustand unterschiedlich lange andauern oder auch beständig sein. Bezogen auf ein Verhalten, das mit einer Stimmung verknüpft ist, sagen wir nicht, dass jemand „die ganze Zeit oder häufig eine einzige Sache tut oder nur ein einziges Gefühl hat, sondern daß er dazu aufgelegt ist, eine Reihe verschiedener lose zusammenhängender Dinge zu sagen, zu tun oder zu

54 Vgl. zur Übersicht E. v. Savigny: Die Philosophie der normalen Sprache. 55 Vgl. Anm. 10.

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empfinden“56. Freude ist etwas anderes als Ehrgeiz. Ehrgeiz ist ein Motiv, in bestimmten Situationen etwas Bestimmtes zu tun. Jemand neigt dann dazu, seinem eigenen beruflichen Vorwärtskommen entsprechend sich zu verhalten. In der Regel haben wir mehrere Neigungen, denen wir entsprechen wollen. So neigen wir auch dazu, unserer Fußballmannschaft, wenn sie zuhause antritt, ins Stadion zu folgen und zu unterstützen. Liegen nun mehrere Motive vor, etwas Bestimmtes zu tun, so kann dies dazu führen, dass wir uns für ein Verhalten entscheiden müssen, obwohl wir am liebsten allen Neigungen nachgekommen wären. „Jemandes Stimmung ist etwas ganz anderes als die Motive, die ihn beseelen. […] Stimmungen dagegen üben ein Monopol aus.“57 In einer bestimmten Stimmung sein heißt nicht in einer anderen bestimmten Stimmung sein. Es heißt darüber hinaus, nur auf eine bestimmte Art zu handeln oder zu reagieren. Können wir einer Situation verschiedene Motive und Neigungen, sie zu lösen, abtrotzen, so stehen wir einer Stimmung alternativlos gegenüber. Es ist wie mit dem Wetter. Entweder es ist ein heiterer oder ein trüber Tag. Hier und jetzt ist unsere Stimmung (wie auch das Wetter) immer nur von einer Art. „Ferner färbt jemandes Stimmung während einer gewissen Zeit auf alle oder fast alle seine Handlungen und Reaktionen zu dieser Zeit ab, ähnlich wie das Wetter heute morgen in einer gewissen Zone jeden Abschnitt dieses Gebietes in derselben Weise beeinflusst. Sein Arbeiten und Sich-Entspannen, seine Reden und Grimassen, sein Appetit und seine Wachträume, sie alle spiegeln seine Gereiztheit, seine Aufgeräumtheit oder seinen Missmut wider.“58 Gegenüber den situativ-kurzfristig aufscheinenden Motiven und Neigungen sind Stimmungen anhaltend und betreffen die Gesamtpersönlichkeit. Stimmungen färben unsere gesamte Weltwahrnehmung. Im Folgenden wird es Ryle darum gehen, Stimmungswörter von Ausdrücken für Gefühle abzugrenzen. Man begeht einen Kategorienfehler, wenn man die Stimmungen unter die Gefühle einreiht. In einer bestimmten Stimmung sein heißt nicht, andauernd ein bestimmtes Gefühl zu haben oder dauerhaft ein gewisses Nagen oder Kribbeln zu verspüren. Auch bei diesen Vergleichen ist die Stimmung dadurch gekennzeichnet, dass diese eher ein Gesamtgefühl auszeichnet, es aber unmöglich ist, dabei ein ununterbrochenes Glücks- oder Trauergefühl zu spüren bzw. sich gleichmäßig glücklich und unzufrieden zu fühlen. „Wenn jemand zu fröhlich ist, um über einen Rückschlag zu brüten, so heißt das nicht, er erleide ein so heftiges Gefühl, daß er an nichts anderes denken könne und daher auch nicht an den Rückschlag; im Gegenteil, er genießt mehr denn je

56 G. Ryle: Der Begriff des Geistes, S. 128. 57 A.a.O., S. 129. 58 A.a.O., S. 129 f.

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alles, was er tut und denkt, einschließlich der Gedanken an den Rückschlag. Es macht ihm weniger aus, dran zu denken, als sonst.“59 Stimmungen und Gefühle gehorchen nicht derselben Logik. „Ich fühle mich niedergeschlagen“ besagt einen anderen menschlichen Zustand als „ich fühle einen Kopfschmerz“. Das Wort „fühlen“ wird je auf eine unterschiedliche Weise verwendet. Worin liegt der grammatische Unterschied zwischen „ich fühle mich krank“ und „ich fühle einen Kitzel“? Es wird je auf eine andere Situation des Sprechenden Bezug genommen. „Ich fühle einen Kitzel“ besagt soviel viel wie: „ich habe einen Kitzel“. Und wenn er ihn hat, dann fühlt er ihn auch. Wenn sich einer jedoch krank fühlt, dann muss er nicht krank sein bzw. irgendeine Krankheit haben. Hat er indes eine Krankheit, dann muss er nicht unbedingt diese spüren. „Ohne Zweifel ist die Tatsache, daß sich jemand krank fühlt, ein Anhaltspunkt dafür, daß er tatsächlich krank ist; aber einen Kitzel fühlen ist nicht ein Anhaltspunkt dafür, daß man einen Kitzel hat“60, genauso wenig wie die Aussage „ich habe geträumt“ ein Anhaltspunkt dafür sein kann, dass ich einen Traum hatte. „Krank“ bedeutet logisch-grammatisch so viel wie „imstande, den Baum zu erklettern“, nämlich den Umstand für eine Disposition abzugeben. Beide sind jedoch nicht innere Objekte des Zeitworts „fühlen“. „Ich bin imstande, den Baum zu erklettern“, kann nicht ersetzt werden durch: „ich fühle mich imstande […]“. Es hat aber denselben Tatsachenwert, egal ob ich sage „ich fühle einen Kitzel“ oder „ich habe einen Kitzel“. Aber es kann „ich fühle mich krank“ nicht durch „ich habe[…]“, noch „ich fühle mich glücklich“ oder „[…] mich unzufrieden“ durch „ich habe […]“ vervollständigt werden. Neben diesen Besonderheiten und Unterschieden zwischen den Verwendungsweisen von Stimmung und Gefühl gibt es aber auch Ähnlichkeiten des Sprachgebrauchs. Wenn jemand sagt, er habe Kopfweh, dann verlangen wir von ihm keine Belege dafür, noch fordern wir ihn auf, sich dessen genau und eingehend zu vergewissern. Für Kopfweh gibt es nicht gewisse Anhaltspunkte oder Indizien, aus denen dann jemand schlüssig folgert, dass er tatsächlich Kopfweh hat. Das Gefühl von Schauer oder Kitzel geht nicht auf eine sorgfältige Beobachtung zurück, so dass wir dessen Genauigkeit durch eine noch schärfere Beobachtung erhöhen könnten. Dasselbe gilt für die Feststellung von Stimmungen. „Wenn jemand sagt ‚Ich fühle mich gelangweilt’ oder ‚Ich fühle mich niedergeschlagen’, so ersuchen wir ihn nicht um sein Beweismaterial oder verlangen, daß er sich vergewissere. Wir mögen ihn der Täuschung oder Selbsttäuschung beschuldigen, aber wir beschuldigen ihn nicht, bei seinen Beobachtungen achtlos

59 A.a.O., S. 131. 60 A.a.O., S. 132.

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oder bei seinen Schlussfolgerungen vorschnell gewesen zu sein […]“61. Solche Mitteilungen, die eigene Stimmung betreffend, sind in Tonfall und Wirkung auf einen Zuhörer selbst Zeugnisse derjenigen Stimmung, in welcher der Sprecher sich fühlt. Man wird dann denjenigen, der uns seine Stimmung mitteilt, nicht der wissenschaftlichen Exaktheit seiner Beobachtung wegen angehen, sondern allenfalls sich fragen, ob sein Verhalten „echt“ oder „gespielt“ ist. Ryle gibt immer wieder zu bedenken, dass unser Reden über Stimmungen gelernt wurde. Dass das Haben eines bestimmten Gefühls oder das Fühlen einer bestimmten Stimmung mit einem bestimmten Begriff oder Ausdruck mitgeteilt werden kann, ist in vielen alltäglichen Redesituationen eingeübt worden. Jemandem die eigene Stimmung anzuvertrauen, setzt nicht Scharfsinn, sondern Offenheit voraus. „Es ist nicht Entdeckung, sondern freiwilliges Nichtverbergen.“62 Würden wir erst herausfinden müssen, in welcher Stimmung wir sind, dann reagierten wir auf diese Entdeckung mit dem Seufzer: „Ich langweile mich.“ Dies ist ebenso absurd, wie wenn ein Schläfriger erst herausfinden müsste, dass er müde ist, um anschließend zu gähnen. Ryle betont, dass wir immer auf die reale Sprechsituation achten müssen, um entscheiden zu können, ob es sich um Gefühle oder um Stimmungen handelt. Es ist absurd zu sagen, „Ich fühle Kopfweh, aber vielleicht habe ich keins.“ Ebenso sinnlos ist zu sagen: „Ich fühle mich traurig, aber vielleicht bin ich es nicht.“ Dagegen ist es durchaus sinnvoll zu sagen: „Ich fühle mich besser, aber vielleicht geht es mir schlechter.“ An diesen Beispielen wird einem der Kategorienfehler bewusst, den man begeht, wenn man den Ausdruck „fühlen“ nicht aus der konkreten Gebrauchssituation heraus versteht, sondern ihn aus einer allgemeinen Wissenschaftslogik, die sich für „reine“ Begriffskontexte einsetzt, ableitet. Vielmehr gilt es darauf zu achten, dass Ausdrücke, die Stimmungen betreffen, keine Ausdrücke sind, die Gefühle betreffen. „Aber in einer bestimmten Stimmung sein heißt: in der Stimmung sein, unter anderem in gewissen Umständen gewisse Gefühle zu fühlen. In träger Stimmung sein heißt: unter anderem dazu zu neigen, in allen Gliedern Mattigkeit zu empfinden, wenn gewisse Pflichten erfüllt werden sollen.“63 Inwiefern bedingen Empfindungen und Wahrnehmungen einander? Sind Empfindungen im Begriff der Wahrnehmung enthalten? Zunächst geht Ryle davon aus, dass Empfindung keinen Bestandteil von Wahrnehmung bezeichnet, sondern dass es eine Art von Wahrnehmung ist. Zweifellos sind Empfindungen mit besonderen Sinnesorganen verbunden. Wenn wir von einem „flüchtigen An-

61 A.a.O., S. 133. 62 A.a.O., S. 134. 63 A.a.O., S. 136.

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blick“ reden, dann beziehen wir uns sowohl aufs Sehen als auch darauf, wovon wir den Anblick haben. Wenn es sich dabei um den Anblick eines Heuschobers (Ryles Beispiel) handelt, dann meinen wir einen ganz gewöhnlichen Heuschober, den die meisten Menschen beobachten und auch beschreiben könnten. In der Regel hätten wir keinen Zweifel daran, wie sich gewöhnliche Heuschober dem menschlichen Gesichts-, Tast- und Geruchssinn normalerweise, d.h. bei guten Wetter- und Lichtbedingungen, darbieten würden. Wenn jemand sagt, die Suppe sei versalzen, dann bezieht er sich auf seinen Geschmackssinn, dem es gerade jetzt so vorkommt, wie es jedem anderen Menschen, der Salz schmecken könnte, auch angesichts einer versalzten Suppe vorkommen würde. An dieser Stelle argumentiert Ryle ähnlich wie Wittgenstein, der von einer gemeinsamen Lebensform und ihrem typischen Sprachgebrauch ausgeht. Der Hintergrund der Äußerungen zum Heuschober wie zur Suppe betrifft eine intersubjektive Mitteilung, wo der eine dem anderen seine Seh- bzw. Geschmackempfindungen schildert: „Wir beschreiben das, was unserer Person eigentümlich ist, mit neutralen oder unpersönlichen Ausdrücken. Ja, unsere Beschreibungen würden nichts mitteilen, wenn sie nicht in solchen Ausdrücken abgefasst wären. Das sind schließlich und endlich die Begriffe, die wir im Unterricht von anderen gelernt haben. Wir beschreiben Heuschober nicht mit Begriffen von dieser oder jener Gruppe von Empfindungen und können sie so nicht beschreiben. Wir beschreiben unsere Empfindungen durch bestimmte Arten der Bezugnahme auf Beobachter und Gegenstände wie Heuschober.“64 Das Besondere am sprachlichen Umgang mit Empfindungen ist, dass wir keinen „reinen“ Empfindungswortschatz kennen. In der Regel behelfen wir uns mit Metaphern: der „bohrende Schmerz“ verweist drastisch darauf, wie wohl ein Schmerz sein könnte, wenn tatsächlich an einer Körperstelle ein Bohrer angesetzt würde. Jeder versteht sofort, welche Art von Schmerz gemeint ist. Ein „Flimmern vor den Augen“ und ein „bohrender Schmerz“ sind Beschreibungen, die wir anführen, wenn wir eine bestimmte Situation, in der wir uns fühlen, konkretisieren wollen. In der Regel sind solche Mitteilungen mit Gesten verbunden, indem wir mit den Händen vor unserem Gesicht herumfuhrwerken oder mit einem verkrampften Gesichtsausdruck auf eine bestimmte Körperstelle weisen. „Nicht nur erhalten die meisten dieser Wörter [wie ‚Schmerzen‘, ‚Jucken‘, ‚Stechen‘, ‚Glühen‘, ‚Schwindel‘, A.H.] ihre Bedeutung aus Situationen, […] sondern sie bedeuten außerdem, daß der, welcher die Empfindung hat, sie gern oder ungern hat, oder sie jedenfalls sehr wohl gern oder ungern haben könnte. Ein Schmerz in meinem Knie ist eine unangenehme Empfindung; also ist ‚unbe-

64 A.a.O., S. 275.

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merkter Schmerz’ ein absurder Ausdruck, wogegen ‚unbemerkte Empfindung’ nicht absurd ist.“65 Ryle geht es offensichtlich um die richtige Beschreibung von Empfindungen, die man hat. Beschreibungen, die wir auf das Haben von Gesichts-, Gehörs- und Geschmacksempfindungen anwenden, lassen sich indes nicht für die Kennzeichnung von Beobachtungen gebrauchen. Wir können zwar Motive angeben, warum wir etwas beobachten, z.B. aus Neugierde oder aus Interesse. Aber Schwindel oder Schmerzen haben wir nicht aus Interesse. Und das Flimmern vor unseren Augen haben wir eben so wenig aus diesem Grunde; es ist überhaupt nicht motiviert. „Wir beobachten oft aus Neugierde oder aus Gehorsam, aber ein Kitzel haben wir nicht aus diesem oder irgendeinem anderen Motiv. Wir beobachten absichtlich, aber wir haben nicht absichtliche Empfindungen. […] Empfindungen können weder richtig noch unrichtig, wahrheitsgetreu noch -ungetreu sein. Sie sind weder Erkenntnisse noch Irrtümer.“66 Was jemand fühlt, wenn er etwas beobachtet, lässt sich nicht messen, auch wenn der Augenarzt richtige Aussagen über die Sehstärke des an der Beobachtung beteiligten unbebrillten Auges weiß. Hier kann niemand etwas ausrichten, ohne den Betroffenen anzuhören. Physiologen „müssen sich auf sein Zeugnis verlasen, wenn sie etwas über das wissen wollen, was er sieht und fühlt. Nur der Träger weiß, wo der Schuh drückt.“ Lässt sich daraus aber der Schluss ziehen, dass ein Außenstehender niemals etwas von meinen Empfindungen wissen kann, da allein ich sie in meinem Innern „beobachten“ kann? Ist daraus weiter zu folgern, dass wir „innere“ Vorgänge konstruieren müssen. Konstruieren bedeutet: sein Tun anhaltend kontrollieren, indem man es beobachtet. Ryle behauptet, dass kein Gegensatz zwischen beobachten und fühlen vorliegen kann, nicht deshalb, weil einem Außenstehenden etwas zu beobachten, das sich in meinem Innern befindet, aufgrund der Verborgenheit des Ereignisses nicht möglich ist, sondern weil es überhaupt unsinnig ist zu sagen, dass man Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen beobachten könnte. Das heißt, auch ich kann meine Empfindungen nicht beobachten. „Ich spüre oder habe dieses Zwacken, aber ich entdecke es nicht und sehe es nicht an; es ist nicht etwas, was ich dadurch herausfinde, daß ich es überwache, belausche oder koste. In dem Sinn, in dem jemand ein Rotkehlchen unter Beobachtung haben kann, wäre es Unsinn zu sagen, er habe ein Zwacken unter Beobachtung gehabt. Bei einem Autounfall kann es einen oder mehrere Zeugen geben; beim Brechreiz kann es nicht mehrere oder auch nur einen einzigen Zeugen geben.“67 Dass wir unser

65 A.a.O., S. 276. 66 A.a.O., S. 277. 67 A.a.O., S. 279.

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Empfinden nicht beobachten können, hat nichts mit unzureichender Technik zu tun. Vielmehr begingen wir erneut einen Kategorienfehler, wenn wir „fühlen“ und „beobachten“ in dieselbe Reihe von Tätigkeiten einreihten. „So wie Buchstaben weder schwer noch leicht zu buchstabieren sind, so, behaupte ich, sind Empfindungen weder beobachtbar noch unbeobachtbar.“68 Damit lässt sich nicht eine öffentliche Außenwelt, in der ich tatsächlich Rotkehlchen ungehindert und aufmerksam beobachten kann, einer privaten Innenwelt, in der ich entsprechend ungehindert und aufmerksam meine Empfindungen nur allein beobachten soll können, gegenüberstellen.

6. F AZIT Ich habe versucht, die Behauptung, jegliches Wissen, das sich auf Landschaft bezieht, sei (immer) nichts anderes als eine Konstruktion, abzuschwächen, indem ich es unternommen habe, Landschaft als „Umwelt“ zu verstehen. Die Rede von Landschaft als Konstruktion eignet durchaus den homo faber, dem alles zum Objekt eines herstellenden Wissens wird. Aber unser Verständnis von Landschaft als Umwelt erwägt, dass der Mensch in einer bedeutsamen Welt lebt, die seine Umwelt ist, in deren Mitte „wohnend“ er sein Leben führt. Was wäre der Fisch ohne Wasser, was der Vogel ohne Luft, was der Mensch ohne das ihm vertraute Milieu, das er niemals sich vollständig zum Objekt machen kann? Dazu müsste er das, was ich seine Umwelt genannt habe, verlassen können. Auch der Forscher verlässt nicht wirklich seine „Umwelt“, wenn er morgens sein Labor betritt. Er wechselt nur das Milieu und damit das Sprachspiel, indem er nun in die (ebenfalls vertraute) Umgebung seiner „Forschungslandschaft“ (inmitten ihm vertrauter Mit-Forschender, Artefakte und Umstände) bleibend eintaucht. Die Rede von der Landschaft als „Umwelt des Wohnens“ sollte darauf hinweisen, dass „umweltliche Landschaft“ als in die Sprache gebrachte Anmutung von vertrauter Landschaftlichkeit keine Konstruktion sein kann. Wir haben deshalb mehr davon, wenn wir lebensweltliches Vernehmen und wissenschaftliches Konstruieren unterscheiden. Ich sehe keinen Gewinn darin, Wirklichkeit mit Konstruktion gleichzusetzen69. Konstruktionen werden erst dann gebraucht und vollzogen, wenn wir Wissenschaften und ihre Methoden begründen und anwenden sollen. Haben wir Methodologien entwickelt und arbeiten mit ihnen, dann lassen sie sich doch nicht rechtfertigen durch weitere Konstruktionen, was an

68 A.a.O., S. 280. 69 Vgl. auch F. Kambartel: Die Aktualität des philosophischen Konstruktivismus, S. 26.

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keine Ende käme, sondern nur durch Einsichten, die wir für unser Leben erfahren und gewonnen haben, insofern uns Einsichten, die je als Grundnorm wirken, widerfahren sind. Interessanter als Wirklichkeit und Konstruktion unterschiedslos in eins laufen zu lassen, ist es, das Vor-wissenschaftliche oder auch Lebensweltliche und das Theoretisch-wissenschaftliche zu unterscheiden, aber gleichzeitig ihren Zusammenhang aufzuklären. Konstruktionen gehören also zur Methodologie und nicht zur Empirie (als unverfügbare Basis des Erfahrens von Welt) von „Erfahrungswissenschaften“. Der methodische Konstruktivismus der Erlanger/Konstanzer Schule ist damit angetreten, zurückzugehen auf die indisponible Elementarsituation des lebensweltlichen Erfahrens, auf „nicht mehr zirkelfrei hintergehbare […] Einsichten also, auf denen Wissenschaften und andere Kulturleistungen letztlich aufbauen“70. Nur da das vortheoretische Orientierungswissen, die Einsicht in die „ursprüngliche Bestimmung und Einordnung des menschlichen Daseins in die Welt“ (Hans Blumenberg) keine Konstruktionen sondern „apriori“ sind, entfällt jede Notwendigkeit ihres Begründens und Rechtfertigens71. Mit der Rede von z.B. „Heimat“ entspricht der Mensch redend der Praxis des unverfügbaren Eingeordnet-seins in die Welt oder mit Hans Lipps: der Geistigkeit seiner Natur.72 Im Empfinden von z.B. Nähe (Angerührtsein) liegt ein Finden: man erfasst etwas unmittelbar, ohne dass dazu noch eigens eine Auffassung treten muss, damit die Empfindung nicht „blind“ bleibt. Denn was in der Empfindung erfasst wird, ist nichts Begriffliches. Anders als das Tier kann und muss der Mensch das Empfundene sich verdeutlichen. Dem entspricht vollkommen das Aufgeschlossen-sein seiner Sinnlichkeit für das „umweltlich“ Begegnende. „Der Welterschließung durch die Sprache geht diejenige Anpassung der Lebewesen schon voraus, von der wir in der Biologie erfahren. Auch der Mensch steht keineswegs als vorerst weltloses Bewußtsein der ‚Realität’ gegenüber, sondern ist durch den gegliederten Bau seines Leibes und durch ererbte Instinkte auf eine gegliederte Umwelt eingerichtet, ‚immer schon’ eingerichtet, die er sprechend in seine unendlich reicher gegliederte und ihn doch fernerhin ‚umschließende’ Welt verwandelt.“73 An dieser Stelle scheint sich der Kreis vom „vernünftigen Reden“ zur „Umweltlehre“ des Biologen von Uexküll zu schließen: „Jeder Mensch, der in der freien Natur um sich schaut, befindet sich in der Mitte

70 C. Thiel: [Artikel] Konstruktivismus, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, S. 316. 71 Vgl. auch J. Mittelstraß: Das lebensweltliche Apriori. 72 Vgl. zum Folgenden H. Lipps: Die Wirklichkeit des Menschen. 73 W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik, S. 51.

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eines runden Eilandes, das von der blauen Himmelskuppel überdacht ist. Das ist die ihm zugewiesene anschauliche Welt, die alles für ihn sichtbare enthält. Und dieses Sichtbare ist entsprechend der Bedeutung, die es für sein Leben hat, angeordnet. Alles, was nah ist und unmittelbar auf den Menschen einwirken kann, steht in voller größer da; das Ferne und daher Ungefährliche ist klein. […] Dinge die sich dem Menschen unsichtbar nähern, weil sie durch andere Dinge verdeckt sind, verraten sich seinem Ohr durch Geräusche oder seiner Nase als Geruch und, wenn sie ganz nahe herangekommen sind, durch den Tastsinn. […] Diese Sinnesinsel, die jeden Menschen wie ein Gewand umgibt, nennen wir seine Umwelt.“74

74 J. v. Uexküll: Nie geschaute Welten, S. 8.

Schluss ‒ Architekturtheorie Eine Positionsbestimmung

„Nicht das Leben möglich, sondern es glücklich zu machen, sollte seit der Antike der Ertrag der Theorie sein.“1 Dabei können wir es offen lassen, ob das menschliche Theoriestreben dem Naturbedürfnis der puren Lebenserhaltung oder dem ungenötigten Impuls frei gewählter Neugierde folgt. Theorie bezieht ihre Beweggründe und Fragehaltung nicht aus dem akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb, sondern empfängt sie von außerwissenschaftlichen Anregungen. Deshalb ist eine problematische Situation von Theoriebildung und ihrer gesellschaftlichen bzw. lebenspraktischen Relevanz erreicht, so Hans Blumenberg, „wenn die motorischen Impulse der Theorie nicht mehr unmittelbar aus der ‚Lebenswelt’ kommen, nicht mehr aus dem menschlichen Interesse der Orientierung in der Welt, nicht mehr aus dem Willen zur Erweiterung der Wirklichkeit oder dem Bedürfnis nach Integration des Unbekannten.“2 Inwiefern kann die Architekturtheorie in ihrer gegenwärtigen Ausrichtung dieser Maxime, Theorie habe sich lebensweltlich zu verorten, gerecht werden? Bei einer, wie ich es empfinde, „unsicheren“ Disziplin wie der Architekturtheorie darf man getrost danach fragen, auf welchem Weg sie zu einem Einverständnis über ihre kanonischen Begriffe, Texte und Themen kommen will. In ihren eigenen Reihen führt sie keine autoritativen Wissenschaftler, die in beispielgebender Virtuosität die Themen, Aufgaben, zentralen Unterscheidungen und Grundbegriffe der Disziplin festlegen konnten. Von konsistenter Methodologie und Methode ganz zu schweigen! Stattdessen scheint man sich unter Architekten damit zufrieden zu geben, so hat es Eduard Führ im Rundgespräch zur Architekturtheorie treffend ausgedrückt, unter Architekturtheorie das verstehen zu wollen, „was von Architekten zu ihren Werken geäußert wird. Das hat natürlich große Tradition, ist teilweise ganz 1

H. Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 266.

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A.a.O., S. 265.

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spannend, kommt aber heute oft sowohl als Pseudophilosophie daher, von der man meint, dass ihre Tiefe in der Unverstehbarkeit liege, als auch als Legitimations- und Marketinggeschwätz, bei dem jeder Mist durch eine Reihe beliebiger, aber sprachgewichtiger Satzmodule übertüncht wird.“3 So kann Architekturtheorie freilich nicht grundlegend gesichert werden. Sie muss mit ihren Möglichkeiten in dem außerwissenschaftlichen Umkreis verankert sein, aus dem ihre zentralen oder prinzipiellen Fragestellungen und Bedeutungen erst zu gewinnen sind. Damit bleibt sie zum einen gebunden an das menschliche Erfahrungsleben, zum anderen an die Wissenschaften, die kompetent dieses lebensweltliche Feld bereits bearbeiten. Ein auch methodologisch anspruchsvolles Verständnis vom bauenden und wohnenden Menschen und seiner Welt lässt sich weder intern aus einer (Selbst-) Beobachtung der herstellenden Tätigkeit des „Bauens“ noch extern im Horizont einer als Ästhetik missverstandenen Architekturbetrachtung erzielen.

ARCHITEKTURTHEORIE

ALS

ARCHITEKTURWISSENSCHAFT

Angesichts dieser Situation, heute keine ernstzunehmende Architekturtheorie vorzufinden, bemüht Eduard Führ einen Ausweg in einer Historisierung der Architekturtheorie. Er sucht nach dem Anfang der Disziplin und findet ihn, wenig überraschend, in dem römischen Heeresbediensteten Vitruv (etwa 75-10 v. Chr.), dessen Zehn Bücher über Architektur als Initialisierung der Architekturtheorie gelten. Führ rekurriert zunächst auf das mit der (römischen) Antike und selbstverständlich mit Vitruv verbundene Ordnungssystem und verknüpft dies mit dem Inhalt jeglicher Architekturtheorie. Interessanterweise nennt Führ diese Ordnung eine „Ordnung des Handelns“. Leider bleibt, soweit ich sehe, unberücksichtigt, wie denn dieses Handeln (und sein implizites Wissen) differenziert werden könnte, gerade wenn, wie Führ es glänzend vorführt, die vitruvschen Begriffe architectura und aedificatio unbedingt zu unterscheiden sind. Wenn nun allein architectura Wissenschaft (scientia) ist, wie Führ herausstellt, warum soll sich dann die Architekturtheorie überhaupt mit einem Herstellungswissen, das mit der aedificatio (nach Führ mit „Bauwesen“ zu übersetzen) verbunden ist, herumschlagen? Ohne Frage ist die Konsequenz, die gezogen wird, nachvollziehbar: „architectura ist also als Architekturwissenschaft verstandene Architekturtheo-

3

E. Führ: Zur Theorie der Architektur als Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis.

S CHLUSS – A RCHITEKTURTHEORIE

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rie.“4 Offensichtlich sind wir einem Missverständnis aufgesessen, als wir Architektur mit Baukunst gleichgesetzt und auf diese Weise Vitruv modernisiert und unserem gängigen Sprachgebrauch angepasst haben. Aber welche Art „Folgen“ praktizieren wir, wenn wir Vitruv „neu“ übersetzen? Ist er uns noch Vorbild darin, architectura oder Architekturtheorie als „ein wahrheitssichtendes (d.h. theoretisches) praktisch werdendes System von Ordnung“5 aufzufassen? Führ bejaht die Möglichkeit, Vitruvs Verständnis von Ordnung als „System“ zu modernisieren, und macht Vorschläge, wie eine moderne Wissenschaftstheorie damit umgehen könnte. Er setzt sich für die Nutzerperspektive ein und weist auf den „heute weitgehend verloren“ gegangenen Zusammenhang von „bauen, wohnen und denken“ hin, den die Antike noch gekannt habe.6 Das „Machen von Wissenschaft“ deutet Führ als einen Vorgang, der von Erfahrung zu Erkenntnis führt. Erkenntnisse müssen aber stets verbalisiert werden, in der Regel als Beschreibung dessen, was man nicht sieht, da man dem Denken bei seiner Arbeit ja nicht zuschauen kann. Wissenschaftliches Beschreiben und Argumentieren zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie Begriffsarbeit sind. Der Begriff muss dem Gegenstand, dessen Begriff er ist, adäquat sein. Damit sind Anforderungen formuliert, die heute vom Architekten verlangt werden dürfen: „Architekturtheorie als Theoretisieren von Architekten und als Bildung einer Theorie ist unabdingbar für das entwerfende und planende Handeln von Architekten“.7 Aber am Ende frage ich mich, was mit „Theoretisieren von Architekten“ und „Bildung einer Theorie“ eigentlich erreicht ist, wenn eine Architekturtheorie nicht ausdrücklich bedenkt, wie das Entwerfen und Planen zu einer Orientierung kommen können, die selbst wiederum nicht aus Inhalten eines „technischen“ Entwerfer- oder Planerwissens abgeleitet ist? Dass Studenten der Architektur lernen müssen, ihre Entwürfe und Planungen zu erläutern und in ihren Konsequenzen zu bedenken, sollte selbstverständlich sein. Aber ist mit dieser Fähigkeit der eigenen Leistungsbeschreibung schon der überhaupt mögliche Theoriegehalt gefasst? Ist eine plausible Erklärung einer Entwurfsidee vergleichbar der „Bildung einer Theorie“? Die Ausrichtung des Entwerfens und Planens auf nicht-technische Ziele

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A.a.O.

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A.a.O. Während Eduard Führ, wie ich von ihm weiß, durchaus in Vitruvs Begriff der ratiocinatio das Vorbild Aristoteles erkennt, bin ich eher skeptisch, ob Vitruvs Verständnis von „Können des Architekten“ Anklänge an die Nikomachische Ethik aufweist.

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Vgl. a.a.O.

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A.a.O.

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könnte indes ein sinnvolles Terrain der Architekturtheorie und ihrer wissenschaftlichen Forschung sein. Dies möchte ich kurz erläutern. Hierbei kommt einer phänomenologisch-hermeneutisch orientierten Architektur-Wissenschaft ein besonderer Rang zu. Darin wird nämlich immer wieder danach gefragt, was es konkret bedeutet, dass der Mensch „in-der-Welt“ ist. Eduard Führ hat in seinem Beitrag zur Festschrift für Karsten Harries diesen Zusammenhang am Beispiel der Wahrnehmung aufgezeigt.8 Es ist alles andere als selbstverständlich, dass wir Dinge der Welt als Häuser, als Gärten, als Städte wahrnehmen und ansprechen. Vielmehr haben wir es mit „Phänomenen“ zu tun, die zu lesen einen komplizierten körperlich-leiblichen Prozess aktiviert. Es ist sinnvoll und nicht spitzfindig, zwischen Realität und Wirklichkeit zu unterscheiden. Bei Führ ist auch nachzulesen, dass das, was wir „unsere Welt“ nennen, ein Entwurf ist. Dies ist nicht nur so „hingesagt“. Das Entwerfen wird gemeinhin als ein typisches Handeln des Architekten verstanden. Das, was wir Entwerfen nennen, konstituiert aber jede menschliche Praxis.9 Führ schreibt: „Welt muss entworfen werden, um Welt sein zu können.“ Unser Tun, insofern wir es mit einer Absicht verbinden, antizipiert seinen Erfolg, der in einer Wirkung vorliegen wird. Entwurf und Intention sind begrenzt in ihren Möglichkeiten, da niemand aus den Beschränkungen seiner Welt austreten kann, sondern nur das zu verwirklichen anstreben kann, was er sich als seine Aufgabe überhaupt vorzunehmen imstande ist. Darin begreifen wir eine grundsätzliche Berufung des zur Selbstbestimmung fähigen, weltoffenen Menschen, die Kant als Grundlage der menschlichen Vernunfterkenntnis fixiert hat: „die Vernunft (sieht) nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“.10 Auf das praktische Tun bezogen, schließt der Entwurf immer den Entwerfenden, sein Selbst- und Weltverständnis, mit ein. Deshalb gehören Entwurf und Horizontbildung zusammen. Der Horizont oder Sinn- bzw. Auffassungsrahmen, in welchem ich mich im Entwerfen bewege, ist mir grundsätzlich sprachlich erschlossen.11 Ich kann und muss über Absichten meines Entwurfs sprechen und kommunizieren, so schon im „leisen Sprechen“ des Denkens. Denn der Entwurf führt ja zu einer konkreten Umsetzungsabsicht, der ich nachzukommen habe. Doch in den seltensten Fällen sind wir uns der Herkunft und Geltung unserer Überzeugungen bewusst, die den Horizont unserer Lebensform inhaltlich füllen

8 9

E. Führ: Feld und Welt. Vgl. B. Biella: Entwerfen im Entwurf, der darin ausführt, dass der „architektonische Entwurf teil (hat) am Existenzentwurf des Architekten“.

10 I. Kant: Werke in sechs Bänden. 11 Vgl. T. Rentsch: Entwurf und Horizontbildung aus philosophischer Sicht.

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und ihn gegenüber anderen Überzeugungen abstützen. Vielmehr ist unsere Weltperspektive uns selbstverständlich und fraglos gegeben. Sie bedeutet aber eine Vor-Meinung, ein Vor-Urteil.

T HEORIE

UND

P RAXIS

Zusammenfassend lässt sich so viel schon zur Architekturtheorie sagen: Sie müsste noch viel konsequenter ihr Bild vom Menschen, um dessen Wohnen, Entwerfen und Bauen es geht, stärken. Das dies nicht ausreichend geschieht, so meine These, liegt daran, dass sie nicht radikal genug nach dem forscht, was Theorie ist. Offensichtlich geht es doch jeder Theorie um das Beibringen eines Wissens. Hans Jonas unterscheidet beispielsweise das „theoretische“ vom „praktischen“ Wissen.12 Die theoretischen Wissenschaften im klassischen Sinn befassen sich mit den unveränderlichen und ewigen Dingen. Solche Dinge können nur „angeschaut“, nicht indes einem Tun oder einer Bearbeitung unterworfen werden. Dem gegenüber zielen die praktischen Wissenschaften nicht auf „Theorie“, vielmehr sind sie „Kunst“. Dieser heute nur mehr dem philosophisch - philologischen Gespräch vertraute Begriff von „Kunst“ (techné) meint das Wissen, wie etwas Veränderliches planvoll verändert werden kann, nämlich im Sinne der Künste eines Handwerks, zu denen Aristoteles beispielsweise auch die Künste des Arztes, Flötenspielers und des Baumeisters zählte. Alles praktische Wissen basiert auf Erfahrung. Welche Verbindungen bestehen nun zwischen beiden Wissensformen, der theoretischen und der praktischen? „Die Leitung, welche die Theorie hinsichtlich der Künste übernehmen kann, besteht nicht im Fördern ihrer Erfindung und Ersinnen ihrer Methoden, sondern im Erleuchten ihres Benutzers [...] mit der Weisheit, jene Künste weislich, d.h. im richtigen Maße und zu richtigen Zwecken zu benutzen.“13 Derjenige, der für die Herstellung von etwas zu sorgen hat, wird also auf Erwartungen und Ziele aufmerksam gemacht, die zunächst außerhalb seines „praktischen“ Horizonts liegen. „Theorie“ in diesem Verständnis, so stellen wir mit Jonas fest, wird von den Künsten in Gebrauch genommen, damit deren eigenes Werk überhaupt gelingen kann. Welchen Spielraum, der ja offensichtlich zwischen Gelingen und Scheitern liegt, legt der Einsatz von Theorie nahe? Er rückt die Frage des Gebrauchs der hergestellten Dinge entschieden ins Licht. Jonas fragt: „Wozu findet Gebrauch statt? Der letzte Zweck allen Gebrauchs ist derselbe wie der Zweck aller Tätig-

12 H. Jonas: Das Prinzip Leben, S. 314. 13 A.a.O.

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keit, und dieser ist zweifach: Erhaltung des Lebens und Verbesserung des Lebens, d.h. Förderung des guten Lebens.“14 Das Wissen, auf welches bei der Klärung des Gebrauchs verwiesen wird, ist also nicht ein technologisches oder Herstellungs-Wissen, und das Gebiet, von dem Erkenntnisse dieser Art erwartet werden dürfen, ist nicht eine Ingenieurwissenschaft. Technik und Ingenieurwissenschaften können (und wollen) die Frage nach dem Wozu ihrer Hervorbringen nicht selbst beantworten. Denn die Frage nach dem Wozu ist eine Frage nach dem „Wert“ einer Leistung für ein Gemeinwesen bzw. seine Mitglieder. Insofern und so lange sich die Technik selbst als „wertfrei“ begreift, bleibt ihr diese Dimension des „Guten“, des „Glücken“ des Lebens, überhaupt des Welthaften, verschlossen. Diese Dimension des menschlichen Handelns, so darf ich behaupten, hat weder Vitruv gekannt, noch diskutiert sie die zeitgenössische Architekturtheorie. Unsere Aufgabe als Lehrende der Architekturtheorie wird es sein, den Architekten in den Mittelpunkt dieses Welt-Verhältnis zu stellen: er ist darin verstrickt. Denn er muss um die Zwecke des Gebrauchs von Architektur ebenso wissen wie um die fachgerechten Regeln der Herstellung eines Gebäudes. Seine Berufspraxis besteht nämlich nicht allein im technischen Verfügen über Naturprozesse und in der Anwendung von empirisch erzeugten Wissensformen, sondern ebenso in deren praktisch-situativen Bezügen und Interpretationen. Wahrnehmen, Deuten, Interpretieren verstehen sich leider nicht „von selbst“. Der Architekt hat mit bedeutenden architekturrelevanten Wissensbeständen zu tun, die selbst nichts darüber aussagen, wie ihr Inhalt kritisch bezüglich des Umsetzens in die Praxis zu beurteilen ist. Zwar geht etwa das ingenieurwissenschaftlich erzeugte Wissen auf regelrechte Kenntnisse einer Disziplin zurück, jedoch „ein reflektiertes Bewusstsein von dem praktisch Notwendigen“15 liegt nicht in Selbstverständnis und Horizont dieses Wissens.

14 A.a.O., S. 316. 15 J. Habermas: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, S. 111. Habermas hat diese Anforderungen an das Können des Praktikers „Orientierung im Handeln“ genannt. Er schreibt: „Das Verfügenkönnen, das die empirischen Wissenschaften ermöglichen, ist mit der Potenz aufgeklärten Handelns nicht zu verwechseln. Ist aber deshalb Wissenschaft überhaupt von dieser Aufgabe einer Orientierung im Handeln dispensiert?“

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Z UR AKTUALITÄT

DER

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ARCHITEKTURTHEORIE

Architektur-Theorie findet heute ihre Motivation gerade darin, dass sich inzwischen eine empirische „Wissenschaft von der Architektur“ vor allem in technologischer Hinsicht etabliert hat, die sich in ihrem wissenschaftlichen Treiben ungebunden an lebensweltliche Bedeutsamkeiten und Verpflichtungen begreift. Es ist nicht unsere Aufgabe, diesen historischen Prozess der Autonomisierung einer technisierten Baufachwissenschaft zu rekonstruieren. Statt dessen will ich darauf hinweisen, dass Theorie und Wissenschaft nicht schon immer zusammen gehörten, denn „Wissenschaft“ im Sinne des Verfügens über ein entsprechendes Fachwissen lässt sich sehr wohl als Einsicht, über die ein Meister verfügt, der sich auf die Dinge seines Handwerks versteht, begreifen. So lange ein „technisches Können“ lebensweltlich integriert bleibt, liegt eigentlich kein Grund vor, warum Wissenschaft nicht mit der praktischen Welt des Notwendigen und Wünschenswerten verbunden bleiben könnte. Darauf zielt wohl auch Heideggers vormodernes Beispiel vom Schwarzwaldhof, als die Welt des Bauens und Wohnens noch „in Ordnung“ schien. Erst wenn Wissenschaft und Technisierung sich in lebensweltlich abgeschottete Sektoren ausdifferenzieren, sich vom unmittelbaren situativen Anwenden und von der praxisnahen Beobachtung ihrer Folgen emanzipieren, wird Theorie benötigt, um den Übergang der unabhängig gewonnenen allgemeinen Kenntnisse und Wissensbestände in die besondere Welt des praktischen und schaffenden Lebens kritisch zu begleiten. Als Theorie bleibt sie sich selbst und ihren eigenen Ansprüchen an Redlichkeit und Wahrheitsfindung verpflichtet. Indem aber Theorie bewusst und gezielt ihrerseits zum Beispiel als methodisch kontrollierte hermeneutische Wissenschaft vom Wohnen oder von der pragmatischen Ästhetik des Ausdrucks ausgestaltet wird, nimmt sie die Form der auch das praktische Dasein leitenden Einsicht an: Sie ist Wissen der Gründe, Ursachen und Folgen der Dinge. Da sie aber zum Beispiel als Wohnwissenschaft und Ausdrucksforschung mit den Prinzipien der Architekturtheorie vertraut ist, kann sie immer über die Vermehrung und Verwertbarkeit des wissenschaftlich erzeugten Wissens hinausfragen: Welches pragmatische (Lebens-)Ziel soll dessen Anwendung fördern? Das Vermögen, entsprechende Fragen stellen und beantworten zu können, werde ich Orientierungswissen nennen. Jürgen Mittelstraß hat zwischen einem Verfügungs- und einem Orientierungswissen unterschieden. Während ersteres das technische Können des Menschen und ebendiesen Zugriff auf unsere Welt steigert und auf immer weitere Bereiche ausdehnt, stellt das Orientierungswissen dem Menschen die dazu notwendigen Begründungen und Zielperspektiven bereit. Keine Frage: das Verfügungswissen ist am Fortschritt ausgerichtet und darin positiv; aus diesem Grund

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benötigt es einen Orientierungsrahmen an seiner Seite, damit die Einwirkungen auf unsere Lebensformen mit ihren pragmatischen Sinnhorizonten bedacht werden: „Es [das Verfügungswissen, A.H.] beantwortet Fragen nach dem, was wir tun können, aber nicht Fragen nach dem, was wir tun sollen. Also muss zum positiven Wissen ein handlungsorientierendes Wissen, eben das Orientierungswissen hinzutreten, das diese Aufgabe übernimmt.“16 Der zentrale Schritt ist schon gemacht, wenn wir ganz selbstverständlich dazu kommen, beide Wissensformen zu unterscheiden und deren jeweilige, weil unterschiedliche Bedeutung uns klar machen. Wissensformen liegen ja nicht in oder an den Dingen, mit denen wir umgehen, selbst vor. Vielmehr müssen wir diese Unterscheidung schon in unserer Sicht auf die Dinge praktizieren. Konsequenterweise muss also schon in unserem Umgangskönnen jene Orientierung an wünschenswerten, vernünftigen und begründbaren Zwecken und Zielen verankert sein, damit unser Tun verantwortbar ist. Orientierungen vollziehen sich praktisch als bestimmtes Orientierungskönnen im Einzelfall. Nur zu wissen, um was es je geht, reicht nicht aus. „Orientierung ist allemal etwas Konkretes, nichts Abstraktes, etwas, das man kann, das man tut, nicht etwas, das man weiß […].“17 Dabei bleibt jedoch auch festzustellen, dass ein belehrendes Beibringen von Orientierungswissen kaum von Erfolg begleitet sein wird. Insofern Orientierungen immer SelbstOrientierungen sind, beinhalten sie das Vermögen einer Person, ihren Aktivitäten eine Richtung zu geben.18 Es ist aber nicht möglich, jemand anderen zum Beispiel durch eine Belehrung zu orientieren. Man kann andere Menschen nicht mit Mitteln der Expertenberatung oder durch wissensbasierte Vermittlung von einschlägigen Kenntnissen so in seinem Handeln orientieren, wie man ein Kirchengebäude nach Osten ausrichtet. Jeder erwachsene Mensch muss selbst entscheiden, welchen Weg sein Leben nehmen soll, muss sich selbst orientieren. Man kann so viel Orientierungswissen in die Welt setzen, wie man will, worauf es aber allein ankommt, ist, dass die Adressaten dieses Wissens die genannten Ziele auch als ihre eigenen Zwecke setzen. Nur wer diese Orientierungen für sein Handeln auch als maßgeblich einsieht, verfügt über das entsprechende Wissen. Es ist nur dann effektiv, wenn Menschen es als für ihre Handlungsleitung anerkennen. Der Zusammenhang von Verfügungs- und Orientierungswissen präzisiert sich nun folgendermaßen: Damit ein Verfügungswissen über Richtungen tatsächlich in einer bestimmten Situation den Handelnden orientiert, muss es in die konkrete Perspektive des Orientierungssubjekts überführt sein. Architektur-

16 J. Mittelstraß: Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, S. 41. 17 A.a.O., S. 42. 18 Vgl. A. Luckner: Klugheit.

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theorie darf darauf hoffen, dass sie ihre Adressaten zu Einsichten führt, die sie bei ihrem Handeln richtunggebend leiten. Die „theoretische“ Frage nach der Architektur lässt sich allgemein als Frage nach dem Werden von künstlich Hergestelltem auffassen. Wie aber, so lautet am Ende meine Kernfrage, muss dieses Werden von künstlich Hergestelltem untersucht werden, damit in der Antwort auch das „Wozu“ und „Worumwillen“ dieses Werdens thematisiert ist? Denn gerade das Ansprechen von Zwecken und Zielen unseres Tuns zeichnet unsere „Orientierung im Handeln“ aus. 19

19 Vgl. dazu ausführlich: A. Hahn: Architekturtheorie.

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Hahn, Achim: Zur "stilgemäßen" Konstruktion postsuburbaner Landschaften, in: Klein, Bruno/Sigel, Paul (Hg.): Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, Berlin: Lukas Verl. für Kunst- und Geistesgeschichte 2006 Hahn, Achim: Architektonische Erfahrung und praktische Ästhetik, in: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 6. Jg., Heft 1: 2001 Hahn, Achim: Die Praxis des „guten Lebens“ auf dem Land, in: Land-Berichte 6, 2001 Hahn, Achim: Lebenswelten am Rand. Interpretationen zum kulturellen Ausdruck von Wohnsuburbanisierung, in: Brake, Klaus/Dangschat, Jens/Herfert, Günter (Hg.): Suburbanisierung in Deutschland – aktuelle Tendenzen, Opladen: Leske + Budrich 2001 Hahn, Achim: Wohnen als Erfahrung. Reflexionen und empirisch-soziologische Untersuchungen zur Pragmatik des Wohnens, Münster: Lit-Verl. 1997 Hahn, Achim: Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption einer soziologischen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994 Hahn, Achim/Steinbusch, Michael: Zwischen Möglichkeit und Grenze. Zur Bedeutungsgestalt der Zwischenstadt. Wuppertal: Müller + Busmann 2006 Halbfass, W.: [Artikel] Einsicht, einsichtig, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.2, Basel: Schwabe 1972, Sp. 414 Handke, Peter: Die Wiederholung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986 Hasse, Jürgen: Wohnen als Prozess der Umfriedung und das Problem der Transformation des Urbanen, in: Ausdruck und Gebrauch, 6.Heft: 2005 Heidegger, Martin: Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), GA II. Abteilung: Vorlesungen 1919- 1944. Bd. 58, Frankfurt/Main: Klostermann 2004 Heidegger, Martin: Hebel – der Hausfreund (1957), in: ders.: Aus der Erfahrung des Denkens (2.Aufl.) Frankfurt/Main: Klostermann 2002 Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken.,in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Neske 1990 Heidegger, Martin: „...dichterisch wohnet der Mensch...“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze (6.Aufl.), Pfullingen: Neske 1990 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 1984 Heidegger, Martin: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Bd. 26. Frankfurt/Main: Klostermann 1978 Heidegger, Martin: Brief über den ‚Humanismus’, in: ders.: Wegmarken (GA, Bd.9), Frankfurt/Main: Klostermann 1976

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Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (2.Aufl.), Frankfurt/Main: Klostermann 1951 Hemingway, Ernest: Der alte Mann und das Meer, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd.3, Reinbek: Rowohlt 1977 Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart: Reclam 1966 Hilbig, Henrik: Was Fahrradfahren, wissenschaftliche Erkenntnis und ein Hotelentwurf miteinander zu tun haben. Ein Versuch mit Michael Polanyi., in: Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München: Wilhelm Fink Verlag 2013 Hilbig, Henrik: „Wege zu einem neuen Baustil...“ Interpretation zwischen Deutung und Handeln am Beispiel anthroposophischer Architekten zwischen 1925 und 1939, in: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur: Zum Interpretieren von Architektur. Konkrete Interpretationen. 13. Jg., Heft 1 2009 Hintika, Merrill B./Hintika, Jaakko: Untersuchungen zu Wittgenstein, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996 Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1, hg. von Michael Knaupp, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998 Horn-Oncken, Alste: Über das Schickliche. Studien zur Geschichte der Architekturtheorie, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1967 Husserl, Edmund: Ding und Raum. Vorlesungen 1907; Text nach Husserliana, Bd. 16, Hamburg: Meiner 1991 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenlogie und phänomenlogischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Husserliana III, Den Haag: .Nijhoff 1976 Illies, Christian: Architektur als Philosophie – Philosophie der Architektur, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, 25/2009 Irrgang, Bernhard: Von der technischen Konstruktion zum technologischen Design. Philosophische Versuche zur Theorie der Ingenieurpraxis, Berlin: LITVerlag 2010 Irrgang, Bernhard: Philosophie der Technik, Darmstadt: Wiss. Buchges. 2008 Irrgang, Bernhard: Hermeneutische Ethik. Pragmatisch-ethische Orientierung in technologischen Gesellschaften, Darmstadt: Wiss. Buchges. 2007 Irrgang, Bernhard: Hermeneutik und Ethik, in: Ethica, Heft 8: 2000 Irrgang, Bernhard: Praktische Ethik aus hermeneutischer Sicht, Paderborn u.a.: Schöningh 1998

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Irrgang, Bernhard/Rentsch, Thomas (Hg.): „Leib“ in der neueren deutschen Philosophie, Würzburg: Königshausen und Neumann 2015 Irscher, Hans Dietrich: Nachwort, in: Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart: Reclam 1966 Janich, Peter: Handwerk und Mundwerk. Über das Herstellen von Wissen, München: Beck 2015 Janik, Allan/Toulmin, Stephen: Wittgensteins Wien. (engl. 1972), Wien: Döcker 1998 Jauss, Hans Robert: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: Hans Steffen (Hg.): Aspekte der Modernität, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965 Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt: Suhrkamp 1996 Jonas, Hans: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt/Main: Insel Verlag 1994 Jonas, Hans: Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1. Die mythologische Gnosis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964 Kambartel, Friedrich: Strenge und Exaktheit. Über die Methode von Wissenschaft und Philosophie, in: G.-L. Lueken (Hg.): Formen der Argumentation. Leipziger Schriften zur Philosophie Heft 11 2000 Kambartel, Friedrich: Die Aktualität des philosophischen Konstruktivismus, in: Christian Thiel (Hg.): Akademische Gedenkfeier für Paul Lorenzen. Erlangen/Nürnberg 1998 Kambartel, Friedrich: Wahrheit und Begründung. Jenaer Philosophische Vorträge und Studien. Bd. 20. hrsg. von Wolfram Hogrebe, Erlangen/Jena: Palm & Enke 1997 Kambartel, Friedrich: Zur Philosophie der Kunst. Thesen über zu einfach gedachte begriffliche Verhältnisse, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991 Kambartel, Friedrich: Begründungen und Lebensformen. Zur Kritik des ethischen Pluralismus, in: ders.: Philosophie der humanen Welt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989 Kambartel, Friedrich: Philosophie der humanen Welt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989 Kambartel, Friedrich: Moralisches Argumentieren. Methodische Analysen zur Ethik, in: ders. (Hg.): Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974 Kambartel, Friedrich: Wie abhängig ist die Physik von Erfahrung und Geschichte? Zur methodischen Ordnung apriorischer und empirischer Elemente in der

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Naturwissenschaft, in: Kurt Hübner/Albert Menne (Hg.): Natur und Geschichte, Hamburg: Meiner 1973 Kamlah, Wilhelm: Von der Sprache zur Vernunft. Philosophie und Wissenschaft in der neuzeitlichen Profanität, Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut 1975 Kamlah, Wilhelm: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim: Bibliographisches Institut 1972 Kamlah, Wilhelm: Die neue Physik und das Selbstvertrauen der Neuzeit, in: ders.: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie, Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut 1960 Kamlah, Wilhelm: Der Mensch in der Profanität. Versuch einer Kritik der profanen durch vernehmende Vernunft, Stuttgart: Kohlhammer 1949 Kamlah, Wilhelm/Lorenzen, Paul: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens (2. verbess. u. erweit. Aufl.), Mannheim: Bibliographisches Institut 1973 Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden, hgg. von Wilhelm Weinschedel, Bd. 2, 6. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2005 Kasack, Hermann: Die Stadt hinter dem Strom, Berlin: Suhrkamp 1947 Kaulbach, Friedrich: Einführung in die Philosophie des Handelns, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1982 Kaulbach, Friedrich: [Artiktel:] Anschauung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1, Basel: Schwabe 1971 Kaulbach, Friedrich: Phänomenologie der Wahrnehmung, in: Theologische Revue. 64. Jg., Heft 2, Münster 1968 Kaulbach, Friedrich: Philosophie der Beschreibung, Köln/Graz: Böhlau 1968 Kittel, Gerhard (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (Bd. 7), Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1990 Klages, Ludwig: Vom kosmogonischen Ethos (3.Aufl.), Jena: 1930 Kleger, Heinz: Common Sense als Argument. Zu einem Schlüsselbegriff der Weltorientierung und politischen Ökonomie. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Band 33 1990 Kleger, Heinz: Common Sense als Argument. Zu einem Schlüsselbegriff der Weltorientierung und politischen Ökonomie. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Band 30 1986/87 Klotz, Heinrich: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 19601980 (3.Aufl.), Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1987 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (23.Aufl.), Berlin: DeGruyter 1999

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König, Josef: Die Natur der ästhetischen Erfahrung (1957), in: Günther Patzig (Hg.), Josef König: Vorträge und Aufsätze, Freiburg/München: Alber 1978 König, Josef: Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie (2.Aufl.), Tübingen: Niemeyer 1969 König, Josef: Georg Misch als Philosoph, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse Nr. 7, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967 König, Josef: Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie (1.Aufl.), Halle: Niemeyer 1937 Konersmann, Ralf: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt: wiss. Buchges. 2007 Krüger, Gerhard: Religiöse und profane Welterfahrung, Frankfurt/Main: Klostermann 1973 Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart (4. Aufl.), München: Beck 1995 Kruse, Lenelis: Räumliche Umwelt, Berlin/New York: DeGruyter 1974 Kümmel, Friedrich: Vom beherrschenden Raum des Sehens zum gelebten Raum des Hörens, in: Ertle, Christoph (Hg.)/Flechsi, Hertmut (Hg.): Ganz Ohr, ganz Auge. Zugangswege zu musikalischen Bezugsfeldern in Schule und Lebenswelt, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 1997 Küster, Hansjörg: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, München: Beck 1999 Kuhn, Helmut: Roman Guardini. Der Mensch und das Werk, München: Kösel 1961 Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1976 Kundera, Milan: Das Vermächtnis von Brochs Schlafwandlern, in: Paul Michael Lützeler (Hg.): Hermann Broch, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986 Lampugnani, Vittorio: Die Geschichte der Geschichte der „Modernen Bewegung“ in der Architektur 1925-1941: eine kritische Übersicht, in: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit (Ausstellungskatalog: Frankfurt, Deutsches Architekturmuseum), Stuttgart: Hatje 1994, S. 273- 296 Landgrebe, Ludwig: Der Begriff des Erlebens (1929-1932), Würzburg: Königshausen & Neumann 2010 Landgrebe, Ludwig: Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie, in: ders.: Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh: Mohn 1967 Landgrebe, Ludwig: Phänomenologie und Geschichte. Gütersloh: Mohn 1967

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Lau, Victor: Erzählen und Verstehen. Historische Perspektiven der Hermeneutik, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2000 Le Corbusier: “Vers une architecture. 1923.“, in: Fritz Neumeyer: Quellentexte zur Architekturtheorie, München u.a.: Prestel 2002 Lefébvre, Henri: Einführung in die Modernität. 12 Präludien (frz. 1962), Frankfurt/Main.: Suhrkamp 1978 Lersch, Philipp: Der Aufbau des Charakters, Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1938 Lerup, Lars: Das Unfertige bauen. Architektur und menschliches Handeln, Braunschweig: Vieweg 1986 Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, München: Alber 1987 Lipps, Hans: Die menschliche Natur. Werke Bd.3, Frankfurt/Main: Klostermann 1977 Lipps, Hans: Die Wirklichkeit des Menschen. Werke Bd.5, Frankfurt/Main: Klostermann 1977 Lipps, Hans: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, Frankfurt/Main: Klostermann 1938 Lorenzen, Paul: Methodisches Denken, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968 Luckner, Andreas: Heidegger und das Denken der Technik, Bielefeld: transcriptVerlag 2008 Luckner, Andreas: Klugheit, Berlin, New York: DeGruyter 2005 Mach, Ernst: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena: Fischer 1886 Mackensen, Rainer: Auf der Suche nach einer Stadt, die den Menschen gerecht wird, in: Gerechtigkeit in Neu-Babylon? Stadtlandschaft und Quartiere, in: Hans Werner Dannowski (Hg.): Gott in der Stadt - Analysen – Konkretionen – Träume, Kirche in der Stadt 9, Hamburg: EB-Verlag 1999 Mackensen, Rainer: Ist Stadtentwicklung planbar? Manuskript, Falkensee 1996 Mackensen, Rainer: Wie sozial kann Siedlungsplanung sein? Für Reinhard Breit, in: Eleni Grammatokopoulou/Klaus Künkel (Hg.), Humane Raumplanung ‒ Festschrift für Reinhard Breit zum 65. Geburtstag, Berlin: VWB-Verlag 1996 Marlé, R: [Artikel] Mythos, in: Handbuch Theologischer Grundbegriffe, Bd. 2. München: Kösel 1963 Marquard, Odo: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (4.Aufl.), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997 Marx, Werner: Gibt es auf Erden ein Maß?, Frankfurt/Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1986

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McGaughey, Sarah: Ornament: Brochs Stil-Konzept und die ArchitekturDiskurse seiner Zeit, in: Alice Stašková/Paul Michael Lützeler (Hg.): Hermann Broch und die Künste, Berlin/New York: DeGruyter 2009 Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980 Merker, Barbara/Mohr, Georg/Siep, Ludwig (Hg.): Angemessenheit. Zur Rehabilitierung einer philosophischen Metapher, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966 Michel-Fabian, Petra: Architektur und Ethik – eine Skizze, in: Sabrina Lampe, Johannes N. Müller (Hg.): Architektur und Baukultur. Reflexionen aus Wissenschaft und Praxis, Berlin: DOM publishers 2010 Minkowski, Eugéne: Espace, intimité, habitat, in: Situation, Beiträge zur phänomenologischen Psychologie und Psychopathologie, Utrecht/Antwerpen: 1954 Misch, Georg: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, Freiburg/München: Alber 1994 Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit der Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972 Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke, Leipzig: S. Hirzel 1854-1866 [http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/ woerterbuecher/bmz/wbgui?lemid=BA00001] Mittelstraß, Jürgen: Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, in: Gudrun Kühne-Bertram (Hg.), Hans-Ulrich Lessing (Hg.), Volker Steenblock (Hg.): Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003 Mittelstraß, Jürgen: Bauen als Kulturleistung, in: Beton- und Stahlbau, Heft 1/2001 Mittelstraß, Jürgen: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992 Mittelstraß, Jürgen: Das lebensweltliche Apriori. Paul Lorenzen zum 70. Geburtstag, in: Carl Friedrich Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie, Bonn: Bouvier 1991 Mittelstraß, Jürgen: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989

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Mittelstraß, Jürgen: Aneignung und Verlust der Natur, in: ders.: Wissenschaft als Lebensform, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982 Müller, Gerhard H.: [Artikel] Umwelt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.11, Basel: Schwabe 2001 Müller, W.G.: [Artikel:] Stil, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.10, Basel/Stuttgart: Schwabe 1998 Muthesius, Hermann: Stilarchitektur und Baukunst, in: ders.: Wandlungen der Architektur im 19. Jahrhundert und ihr heutiger Standpunkt, Mühlheim/Ruhr: Schimmelpfennig 1902 [zitiert nach http://www.tu-cottbus.de/ theoriederarchitektur/Archiv/] Naumann, Friedrich: Im Reich der Arbeit. Ausstellungsbriefe (neue unveränd. Aufl.), Berlin: Reimer 1913 Neumeyer, Fritz: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, Berlin: Siedler 1986 Nothnagel, Stefan: Zwischen Klischee und Möglichkeit. Die Gestalter im Vergleich, in: Achim Hahn (Hg.): Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Atmosphären im architektonischen Vergleich, Bielefeld: transcript 2012 Obermeier, Otto-Peter: Hermann Brochs Werttheorie, in: Paul Michael Lützeler (Hg.): Hermann Broch. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986 Ocón Fernández, Maria: Ornament und Moderne. Theoriebildung und Ornamentdebatte im deutschen Architekturdiskurs (1850-1930), Berlin: Reimer 2004 Olfe, Jonas: Das Einfamilienhaus als Architekturprodukt. Entwerfen zwischen Ästhetik und Pragmatismus, in: Ausdruck und Gebrauch, 3. Heft II/2003 Perpeet, Wilhelm: Antike Ästhetik. (2.Aufl.), Freiburg: Alber 1988 Perpeet, Wilhelm: Das Sein der Kunst und die kunstphilosophische Methode, Freiburg/München: Alber 1970 Pevsner, Nikolaus: Wegbereiter moderner Formgebung. Von Morris zu Gropius (zuerst englisch 1936). Mit einem Nachwort von Wolfgang Pehnt. Klassiker der Kunstgeschichte, Köln: DuMont 1996 Pfabigan, Alfred (Hg.): Ornament und Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende, Wien: Brandstätter 1985 Picht, Georg: Kunst und Mythos Vorlesungen und Schriften, (5.Aufl.), Stuttgart: Klett-Cotta 1996 Plessner, Helmuth: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart: Reclam 1982 Plessner, Helmuth: Zur deutschen Ausgabe, in: Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/Main: Fischer 1980

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Plessner, Helmuth: Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925/26), in, ders., Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. (3.Aufl.), Berlin/New York: de Gruyter 1975 Plessner, Helmuth: Mit anderen Augen (Über die Rolle der ‚Anschauung’ im Verstehen) Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Bern: Francke 1953 Pöggeler, Otto: Gibt es auf Erden ein Maß?, in: Walter Brüstle (Hg.): Sterblichkeitserfahrung und Ethikbegründung, Essen: Verl. Die Blaue Eule 1988 Poser, Hans: Entwerfen als Lebensform. Elemente technischer Modalität, in: Kornwachs, Klaus (Hg.): Technik – System – Verantwortung, Münster: LitVerlag 2004 Radkau Joachim: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989 Raulet, Gérard: [Artikel:] Das prämoderne Ornament [sowie] Das Ornament in der modernen philosophischen Ästhetik, Ästhetische Grundbegriffe, Bd 4. Stuttgart, Weimar Rentsch, Thomas: [Artikel] Lebensform, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd 4. (2.Aufl.), Stuttgart, Weimar: Metzler 2010 Rentsch, Thomas: Entwurf und Horizontbildung aus philosophischer Sicht, in: Achim Hahn (Hg.), Wohnen, Entwerfen und Bauen in der urbanen Landschaft. Ausdruck und Gebrauch, Heft 6/2005 Rentsch, Thomas: Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000 Rentsch, Thomas: Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Ludwig Siep (Hg.): Angemessenheit. Zur Rehabilitierung einer philosophischen Metapher. Würzburg: Königshausen und Neumann 1998 Rentsch, Thomas: [Artikel] Schöne, das, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie Bd. 3, Mannheim/Wien/Zürich: Metzler 1995 Rentsch, Thomas: Konstitution der Moralität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990 Ritter, Joachim: [Artikel] „Glück“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges. 1972

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Ritter, Joachim: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969 Ritter, Joachim: Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik, in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969 Ritter, Joachim: ‚Politik’ und ‚Ethik’ in der praktischen Philosophie des Aristoteles, in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969 Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9, Basel: Schwabe 1995 Rolf, Thomas: Der dichtende Gegenstand. Wilhelm Schapps Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 Rothacker, Erich: Philosophische Anthropologie, Bonn: Bouvier 1982 Rothacker, Erich: Die Wirkung des Kunstwerks (1954), in: ders., Zur Genealogie des menschlichen Bewusstseins, hrsg. von Wilhelm Perpeet, Bonn: Bouvier 1966 Rothacker, Erich: Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Mainz: Verl. der Akad. der Wissenschaften und der Literatur 1954 Ryle, Gilbert: Der Begriff des Geistes, Stuttgart: Reclam 1969 Schaeffler, Richard: Vorwort des Herausgebers, in Gerhard Krüger: Religiöse und profane Welterfahrung, Frankfurt/Main: Klostermann 1973 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (3.Aufl.), Frankfurt/Main: Klostermann 1985 Schapp, Wilhelm: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung (3.Aufl.), Wiesbaden: Heymann 1976 Schapp, Wilhelm: Wissen in Geschichten. Zur Metaphysik der Naturwissenschaft (2.Aufl.), Wiesbaden: B. Heymann 1976 Schapp, Wilhelm: Erinnerungen an Husserl, in: Edmund Husserl: Phaenomenologica 4, Den Haag 1959 Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, Rautenberg: Leer 1959 Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn: Bouvier 2007 Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum, die Gefühle, Ostfildern: Ed. Tertium 1998

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Schmitz, Hermann: Gefühle als Atmosphären, in ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn: Bouvier 1990 Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum, in: ders.: System der Philosophie. 3.Bd. 2.Teil (2.Aufl.), Bonn: Bouvier 1981 Schmitz, Hermann: Das Göttliche und der Raum, in: ders.: System der Philosophie Bd.3, Bonn: Bouvier 1977 Schnabel, Franz: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert Bd. 3. Erfahrungswissenschaften und Technik, München: dtv 1987 Schubert, Otto: Architektur und Weltanschauung, Berlin: Neff 1931 Schumacher, Fritz: Strömungen in deutscher Baukunst seit 1800, Braunschweig: Vieweg 1982 Schwarz, Rudolf: Was dennoch besprochen werden muß, in: Baukunst und Werkform 6 (1953) 4, wieder abgedruckt in: Conrads, Ulrich (Hg.): Die Bauhaus-Debatte, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1994 Schwarz, Rudolf: Wegweisung der Technik und andere Schriften zum Neuen Bauen 1926-1961, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1979 Schwarz, Rudolf: Vom Bau der Kirche (2.Aufl.), Heidelberg: Schneider 1947 Schwarz, Rudolf: Gottesland, in: Betendes Werk. Ein Zeitbuch hrsg. von Rudolf Schwarz, Würzburg: Werkbundverl. 1938 Schwarz, Rudolf (Hg.): Gottesdienst. Ein Zeitbuch, Würzburg: Werkbundverl. 1937 Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit (5. Aufl.), Salzburg: Müller 1951 Seel, Martin: Sich bestimmen lassen. Ein revidierter Begriff von Selbstbestimmung, in: ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002 Seel, Martin: Glück, in: Hastedt, Heiner/Martens, Ekkehard (Hg.): Ethik. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996 Seel, Martin: Ethik und Lebensformen, in: Michael Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/Main: Fischer 1993 Sieferle, Rolf Peter: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München: Luchterhand 1997 Sieverts, Thomas: Georg Simmels „Die Großstädte und das Geistesleben.“ Ein Versuch, den Klassiker für ein Verständnis und für eine Kritik der Zwischenstadt fruchtbar zu machen, in: Ausdruck und Gebrauch, 4. Heft 2004 Sieverts, Thomas: Zwischenstadt zwischen Ort und Welt Raum und Zeit Stadt und Land (2.Aufl.), Braunschweig: Vieweg 1998 Sieverts, Thomas et al.: Zwischenstadt – inzwischen Stadt? Entdecken, Begreifen, verändern, Wuppertal: Müller + Busmann 2005

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Simmel, Georg: Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch, in: ders.: GA Bd.7, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995 Simmel, Georg: Das Problem des Stiles, in: ders.: GA Bd. 8, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993 Simmel, Georg: Soziologie der Sinne, in: ders.: GA. Band 8 Aufsätze und Abhandlungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993 Simmel, Georg: Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin: Wagenbach 1984 Simmel, Georg: Die Großstadt und das Geistesleben, in: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin: Wagenbach 1984 Simmel, Georg: Philosophie der Landschaft (1913), in: Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin: Wagenbach 1984 Simmel, Georg: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1918 Smolian, Alexander H.: Weltanschauung und Planung am Beispiel des Architekten und Stadtplaners Rudolf Schwarz. Schriftenreihe Architekturtheorie und empirische Wohnforschung hgg. Von Prof. Dr. Achim Hahn Technische Universität Dresden, Bd. 6, Aachen: Shaker 2014 Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe, München: Beck 1994 Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart: KlettCotta 1989 Stašková, Alice/Lützeler, Paul Michael (Hg.): Hermann Broch und die Künste, Berlin/New York: DeGruyter 2009 Steinbusch, Michael: Akteure der Stadt-Umland-Wanderung. Zum Stand der Forschung, in: Achim Hahn/Michael Steinbusch: Zwischen Möglichkeit und Grenze. Zur Bedeutungsgestalt der Zwischenstadt. Wuppertal: Müller + Busmann 2006 Steinbusch, Michael: Die Schneegrenze. Wohnen zwischen Stadt und Land, Münster u.a.: Lit-Verl. 2001 Stekeler-Weithofer, Pirmin: Was ist eine Praxisform? Bemerkungen zur Normativität begrifflicher Inhalte, in: Thomas Rentsch (Hg.): Einheit der Vernunft? Normativität zwischen Theorie und Praxis, Paderborn: mentis 2005 Straus, Erwin: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin u.a.: Springer 1956 Szilasi, Wilhelm: Phantasie und Erkenntnis, Bern: Francke Verlag 1969 Szilasi, Wilhelm: Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1959 Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996

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Tenbruck, Friedrich H.: Zur Kritik der planenden Vernunft, München: Alber 1972 Thiel, Christian: [Artikel] Konstruktivismus, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd 4, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010 Tillich, Paul: Die technische Stadt als Symbol, in: ders.: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur. Bd. 9 (GW), Stuttgart: Evangel. Verl.-Werk 1967 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1979 Ulmer, Karl: Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles. Ein Beitrag zur Aufklärung der metaphysischen Herkunft der modernen Technik, Tübingen: Niemeyer 1953 van de Velde, Henry: Der neue Stil (1907), in: ders.: Zum neuen Stil. hg. von Hans Curjel, München: Piper 1955 Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Curt Fensterbusch (5. Aufl.), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991 Vollhardt, Friedrich: Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie 'Die Schlafwandler' (19141932), Tübingen: Niemeyer 1986 Volpi, Franco: „‘Das ist das Gewissen!’ Heidegger interpretiert die Phronesis“, in: Michael Steinmann (Hg.): Heidegger und die Griechen, Frankfurt/Main: Klostermann 2007 Vonderach, Gerd: Die Erforschung ländlicher Lebenswelten. Streifzüge durch die Geschichte der ländlichen Sozialforschung, Aachen: Shaker 2015 von Droste-Hülshoff, Anette: Des Grauens Süße. Ein Lesebuch von Dieter Borchmeyer, München/Wien: Carl Hanser 1997 von Droste-Hülshoff, Anette: Westfälische Schilderungen I, in: H.J. Schneider: Deutsche Landschaften, Frankfurt/Main: Insel 1981 von Engelhardt, Dietrich: Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, München: Alber 1979 von Savigny, Eike: Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die „Ordinary Language Philosophy“, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969 von Uexküll, Jakob: Nie geschaute Welten, Frankfurt/Main: List 1957 Waldenfels, Bernhard: Heimat in der Fremde, in: ders.: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985 Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985

300 | A RCHITEKTUR UND L EBENSPRAXIS

Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen. Bd. 1, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1971 Wernecke, Jörg: Dinglers ‚Prinzip der pragmatischen Ordnung’ in einem handlungstheoretischen Kontext, in, Peter Janich (Hg.): Wissenschaft und Leben. Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler, Bielefeld: transcript 2006 Werner, Sylwia/Zittel, Claus: Ludwik Fleck – Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2011 Wetz, Franz Josef: Hans Jonas. Eine Einführung, Wiesbaden: Panorama Verlag 1997 Wieland, Wolfgang: Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles (3. Aufl.), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992 Wieland, Wolfgang: Aporien der praktischen Vernunft, Frankfurt/Main: Klostermann 1989 Wieland, Wolfgang: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982 Wiesing, Lambert: Merleau-Pontys Entdeckung der Wahrnehmung, in: ders./Merleau-Ponty, Maurice – Das Primat der Wahrnehmung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003 Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit. Bd.8, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Schriften 1, Frankfurt: Suhrkamp 1969 Wittgenstein, Ludwig: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. hrsg. von Cyrill Barrett, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968 Wunberg, Gotthart (Hg.): Die Wiener Moderne, Stuttgart: Reclam 1981

Register

Alberti

144 Aristoteles 8f., 25, 53, 86, 102, 169, 246

Dilthey, Wilhelm 28 Dingler, Hugo 11, 13 Döhmer, Klaus 144 Dreyfus, Hubert 240

Baudelaire, Charles

73f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 103 Behrens, Peter 143 Berger/Luckmann 244 Biemel, Walter 55f. Binswanger, Ludwig 190, 203, 240 Bloch, Ernst 33 Blume, Anna 191 Blumenberg, Hans 66, 267, 269 Böhme, Gernot 192f. Bollnow, Otto Friedrich 15, 60, 203 Borchmeyer, Dieter 246 Brake, Klaus 224 Broch, Hermann 143, 145f., 148, 150-157 Buck, Günther 249

Carnap, Rudolf

79, 82 Cassirer, Ernst 25

Danto, Arthur C.

145f. Demmerling, Christoph 191

Fensterbusch, Curt

97 Ferstel, Heinrich 154 Fleck, Ludwik 82, 149 Freyer, Hans 88, 175 Führ, Eduard 270-272

Gadamer, Hans-Georg

29-31, 42,

57f., 166 Ganser, Karl 173 Gehlen, Arnold 90 Georges, Karl Ernst 97 Giedion, Sigfried 80 Goethe 122 Groh, Dieter 241f. Groh, Ruth 241f. Guardini, Romano 75 Guys, Constantin 73

Habermas, Jürgen

204 Handke, Peter 248, 253 Hansen, Theophilus 154 Harries, Karsten 272

302 | A RCHITEKTUR UND L EBENSPRAXIS

Heidegger, Martin 28, 45f., 50-57, 59, 66f., 69f., 75, 88f., 192, 203, 240, 275 Hemingway, Ernest 103 Herder, Johann Gottfried 103, 122f. Hippius, Rudolf 190 Hölderlin, Friedrich 45, 50-54, 56f. Hugenau, Wilhelm 143, 148 Husserl, Edmund 14, 75, 104, 114, 122, 158, 243, 250-252

Irrgang, Bernhard

85f., 96, 100,

178, 185

Jauss, Hans Robert

73 Jonas, Hans 48-50, 59, 273

Kambartel, Friedrich

Mackensen, Rainer

204 Mannheim, Karl 149 Marlé, R. 71 Marquardt, Odo 32 Marx, Werner 55-57 Merleau-Ponty, Maurice 101, 103, 114-123, 136 Messel, Alfred 146, 148 Meyer, Hannes 79 Mies van der Rohe, Ludwig 75 Minkowski, Eugéne 60 Misch, Georg 28-31, 248, 252, 260 Mittelstraß, Jürgen 275 Müller, Gerhard 242 Muthesius, Hermann 45, 147f., 156

37, 160,

178, 185, 206, 249 Kamlah, Wilhelm 12, 90, 127, 164, 183, 229, 244f., 247, 249, 252 Kant, Immanuel 226, 272 Kasack, Hermann 191, 196 Kaulbach, Friedrich 122, 139, 163 Keller, Gottfried 101, 122 Klotz, Heinrich 37 Kruft, Hanno-Walter 171f. Kruse, Lenelis 190, 192

Lampugnani, Vittorio

Lipps, Hans 59, 188, 267 Lorenzen, Paul 9, 183, 247, 252

80 Landgrebe, Ludwig 243 Lassen, H. 60 Le Corbusier 93-95 Leitl, Alfons 77 Lersch, Philipp 45 Lévinas, Emmanuel 54 Lidzbarski, Mark 48

Naumann, Friedrich

93

Noak, Hermann 149

Ocón-Fernandez, Maria

80

Perpeet, Wilhelm

36 Pevsner, Nikolaus 80 Platon 8, 70, 86f. Plessner, Helmuth 26f., 31f., 158, 167f., 244 Pöggeler, Otto 56-58 Poelzig, Hans 74 Pytheos 97f.

Rentsch, Thomas

34, 67 Rothacker, Erich 37, 45, 149, 254 Ryle, Gilbert 98, 260f., 264f.

Schapp, Wilhelm

80, 101-107, 109-111, 113, 122, 227

R EGISTER

Scheler, Max 75 Schlink, Bernhard 252f., 259 Schmidt, Friedrich 154 Schmitz, Hermann 60f., 189-192, 194, 244 Schubert, Otto 67, 70-73, 75, 81f. Schumacher, Fritz 146 Schwarz, Rudolf 67, 70, 74-82, 93-96, 98, 100 Sieferle, Rolf Peter 241-243, 250 Sieverts, Thomas 173, 203 Simmel, Georg 60, 62-64, 67-70, 83, 202f., 237, 241 Spaemann, Robert 168, 170 Stekeler-Weithofer, Pirmin 181 Stendhal 74 Storm, Theodor 101, 122 Straus, Erwin 195, 253-256, 260 Ströker, Elisabeth 192 Sullivan, Luis 159

Taylor, Charles

206 Tillich, Paul 59 Tönnies, Ferdinand 202f.

Ulmer, Karl

87

van de Velde, Henry

147, 157 Venturi, Robert 27 Vitruv 7f., 34, 53, 65, 97f., 127f., 144, 270f., 274 von Droste-Hülshoff, Annette 246, 248, 253, 259 von Dürckheim, K. 60 von Laßberg, Josef (Freiherr) 246 von Uexküll, Jakob 242 Vollhardt, Friedrich 145 Voltaire 91

Waldenfels, Bernhard

| 303

208 Weber, Max 23, 204 Wieland, Wolfgang 87, 131-133, 172 Wittgenstein, Ludwig 39-41, 83, 178, 204, 250, 256-259, 264

Zumthor, Peter

30

Design bei transcript Claudia Banz (Hg.)

Social Design Gestalten für die Transformation der Gesellschaft

August 2016, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 E, ISBN 978-3-8376-3068-8, E-Book: 26,99 E Kann man Gesellschaft durch Gestaltung transformieren? Welche Optionen besitzen die Designer und welche Verantwortung tragen sie? Welche Diskurse werden um die Erweiterung des Designbegriffs geführt und wie sieht die Zukunft des Designs aus? Designer, Design- und Kulturwissenschaftler, Kuratoren und Hochschullehrer fokussieren und hinterfragen das aktuelle Phänomen des Social Design. Die Beiträge untersuchen aus transdisziplinärer Perspektive die soziokulturelle Relevanz sowie das transformative Potenzial von Social Design und formulieren eine Agenda für die Designer von morgen. »Lesenswert nicht nur für Designer und Agenturmitarbeiter [...], sondern auch für jene Stiftungen, die eng mit externen Graphikern und Agenturen zusammenarbeiten.« Ulrich Brömmling, StiftungsManager, 48 (2017)

www.transcript-verlag.de

Architektur und Kulturgeschichte bei transcript Eduard Heinrich Führ

Identitätspolitik »Architect Professor Cesar Pinnau« als Entwurf und Entwerfer

September 2016, 212 Seiten, kart., 24,99 E, ISBN 978-3-8376-3696-7 E-Book: 21, 99 E Der Architekt Cäsar Pinnau (1906 – 1988) ist bis heute heftig umstritten: War er ein wichtiger Vertreter nationalsozialistischer Architektur? Hat sich seine Haltung in sein Wirken nach 1945 übertragen? Oder fühlte er sich zeitlebens dem überhistorischen Klassizismus verpflichtet? Eduard Führ untersucht, wie die Identität eines Architekten entworfen wird – durch selektive Zusammenstellung seiner Werke und durch unscharfe Datierungen, durch Konstruktion einer Biografie und durch Publikationen. Die Studie zeigt, wie Pinnau selbst in seinen Werken für Staat, Unternehmen und Eliten Identitäten gestaltet, und diskutiert, wie die Ansätze einer Analyse Pinnaus zu kontroversen Identitätsbestimmungen der Disziplin Architektur genutzt werden.

www.transcript-verlag.de