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German Pages 322 Year 2017
Hartmut Mayer Mimesis und moderne Architektur
Architekturen | Band 42
Hartmut Mayer (Dr.-Ing.-habil.), geb. 1960, ist Privatdozent am Institut Grundlagen moderner Architektur der Universität Stuttgart. Der Architekt lehrt und forscht im Bereich Architekturtheorie.
Hartmut Mayer
Mimesis und moderne Architektur Eine architekturtheoretische Neubewertung
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung | 9 I. Begriff und Geschichte | 21 Kategorien der Mimesis | 21
1.1 »Ontische Mimesis« | 25 1.2 »Ontische Mimesis« als Nachahmung der »natura naturata« | 26 1.3 »Ontische Mimesis« als Nachahmung von Artefakten | 27 1.4 »Ontologische Mimesis« | 28 1.5 Mimesis als Darstellung und Ausdruck | 31 Die Herkunft des Begriffs Mimesis | 35
2.1 Mimesis als Darstellung des Mythos | 38 2.2 Platon: Ontologische Mimesis als Methexis | 45 2.3 Aristoteles: »ars imitatur naturam« | 51 2.4 Vitruv: Architektur als nachahmende Kunst | 59 Die Mimesis in der Neuzeit | 65
3.1 Mikrokosmos und Makrokosmos | 65 3.2 Ontologische Differenzen: Die »Querelle des anciens et des modernes« | 72 3.3 Wirkungsästhetik und neuer Naturbegriff | 88 3.4 Nachahmungsmodelle im 19. Jahrhundert | 100 II. Ontologische Mimesis und moderne Architektur | 117 Moderne Architektur als »ars imitatur naturam« | 117
1.1 Industrielle Typologie und »Biomimese« | 125 »Platonisch-ontologische Mimesis« | 129
2.1 Platonismus bei Le Corbusier | 130 2.2 Konstruktivismus als »ontologische Mimesis« | 137 Symbolische Formen der frühen modernen Architektur | 145
3.1 Technik als Symbol bei Hannes Meyer und Ivan I. Leonidow | 147 3.2 Die Maschine als Symbol bei Le Corbusier | 151
III. Mimesis der »inneren Natur« des Subjekts | 157 Ausdruck und Empfindung bei Kant | 158 »Mimesis« als »physiologische Einfühlung« bei Vischer, Wölfflin, Lipps und Schmarsow | 165 IV. Nietzsche und Adorno | 175 Nietzsche | 175
1.1 Nietzsches mythologisches Konzept | 176 1.2 Kunsttriebe als Nachahmung des »Apollinischen und Dionysischen« | 181 1.3 Nietzsche und die »Physiologie der Kunst« | 190 1.4 Nietzsches »großer Stil« | 195 1.5 Mimesis als Selbstorganisation und Steigerungsform des Lebens | 204 1.6 Nietzscheanische Mimesis in der Architektur | 207 Adorno | 216
2.1 Rückfall in die Mythologie: Die Dialektik der Aufklärung | 217 2.2 Adornos Konzeption von Kunst | 222 2.3 Die Auseinandersetzung mit der Widerspiegelungstheorie | 227 2.4 Absolute Modernität: Konstruktion und Mimesis | 230 2.5 Mimesis als Ontologie | 240 2.6 Adorno und die Architektur | 244 V. Die »Querelle des anciens et des modernes« im 20. Jahrhundert | 255 Die mimetische Idee des Klassischen | 256
1.1 Anthropomorpher, apollinischer und dionysischer Klassizismus | 260 1.2 Dionysische Architektur | 272 1.3 Dionysischer Zustand und architektonischer Empfindungsraum | 273 Sprachfessel und Sprachferne der Architektur | 279 Das »Ende des Klassischen« und doch kein Ende? | 289 Schluss | 295 Zitierte Literatur | 299 Abbildungsquellen | 319
Vorwort
Diese Arbeit wendet den Begriff der Mimesis auf die Architektur der Moderne an und soll deren mimetisch-ontologische Struktur aufzeigen. In der Theorie der modernen Architektur ist die Mimesis ein Begriff, der mit dem vorgeblichen Scheitern der Architektur des 19. Jahrhunderts zusammenhängt. Dabei wird fälschlicherweise vergessen, dass die Mimesis nicht »Imitation« bedeutet, sondern einen ontologischen Bezug zu Natur und Welt herstellen soll und damit in einer Kontinuität mit der antiken Mimesis steht. Ziel der Arbeit ist es, diesen ontologischen Bezug herauszustellen, um mit dem begriffsgeschichtlichen Nachweis einen ästhetisch-philosophischen Kern der Mimesis für den architekturtheoretischen Diskurs herauszuarbeiten. Die vorliegende, geringfügig überarbeitete Druckfassung wurde 2015 als Habilitationsschrift von der Fakultät für Architektur und Städtebau im Fach Architekturtheorie an der Universität Stuttgart angenommen. Ich danke Gerd de Bruyn vom IGMA, der das Vorhaben immer mit konstruktiver Kritik und wohlwollender Beurteilung förderte. Bei Klaus Jan Philipp bedanke ich mich für seine wertvollen Hinweise und bei Georg Maag für sein Interesse an der interdisziplinären Aufgabenstellung. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau, Gabriele Mayer-Haller, die mich über die Jahre der Arbeit ermutigte und das Lektorat übernahm.
Einleitung
Architektur ist eine mimetische Kunst - dies gilt für die Architektur der Vormoderne wie für die Architektur der Moderne. Mit dem Verständnis der Architektur als mimetischer Kunst eröffnet sich ein Dialog mit der Geschichte der Architekturtheorie, der zu einer Neubewertung der modernen Architektur in veränderter Perspektive führt. Zielrichtung dieser Abhandlung ist es, die moderne Architektur in einen Mimesis-Diskurs mit der antiken Mimesis und deren Wandel zu stellen, um deren grundlegende Bedeutung für die Architekturtheorie der Moderne darzustellen. Für die gegenwärtige Architektur, die sich in eine Vielzahl von Richtungen aufspaltet, bietet dieser Diskurs eine Möglichkeit, die Architektur aus einem »mimetisch-ontologischen Grund« zu betrachten, der ihr ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgibt. Der aus dem Griechischen stammende Begriff Mimesis bezeichnete in der Antike generell das »Wesen der Kunst«1. Im Unterschied zur lateinischen »imitatio«, welche die direkte, abbildhafte Nachahmung meint, ist Mimesis Nachahmung von Natur und Welt in einem zunächst vorbewussten, ontologischen Verhalten. Mimesis basiert hierbei auf der Relation zu einem »Anderen«, das mit dem Werk in Erscheinung tritt. Seit Platon ist mit dem Begriff Mimesis die Fragestellung nach den ontologischen Inhalten eines Werks verbunden. In der Moderne ist dieser ontologische Anspruch der Mimesis ursächlich für ihre problematische Stellung, denn in ihr gibt es das ontologisch Verbindliche nicht mehr. Tatsächlich aber kann die moderne Architektur nicht ohne die Mimesis gedacht werden, auch wenn sie sich einer »schwachen Ontologie« bedient und aus der erkannten Zeitlichkeit ihrer Konzepte ihre Formen generiert.
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A. F Loszev und V. P. Seztakov: Geschichte der ästhetischen Kategorien, S. 207, zitiert bei Miklós Maróth: »Mimesis in der neuplatonischen Philosophie«, S. 411.
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Mimesis in der Architektur hat wenig zu tun mit der Nachahmung von Grundrisskonfigurationen oder Ansichten, deren Wiederholung oder Transformation mit dem Begriff der Imitation oder mit dem des Plagiats verbunden ist. Mimesis bezieht sich auf ein unsichtbar »Anderes«, das in der Rückbindung des Werks auf etwas zielt, was nicht die Architektur selbst ist, sie aber grundlegend bestimmt. Erst mit der Entscheidung über das jeweilige Modell oder die jeweilige Perspektive der mimetischen Aneignung wird es möglich, über ihre formalen Ausprägungen zu sprechen. Andererseits ist es die Verwendung eines formalen Motivs, das auf ein ontologisch Vorrangiges verweist. So war für August Perret, um ein Beispiel zu nennen, das Klassische ein Modell, das als ontologisch Vorrangiges die technische Innovation im Stahlbetonbau bestimmte. Perret ordnete sich zwar als Pionier des Stahlbetonbaus in die szientifische Grundstruktur der Moderne ein, gab jedoch das klassische Empfinden und den architektonischen Rationalismus der französischen Tradition nicht auf. Bei ihm durchdringen sich zwei Modelle der Mimesis, die Angleichung der Architektur an den Szientismus und dessen Darstellung in einem strukturbestimmten Stahlbetongerüst und das Festhalten am klassischen Modell als einem Ausdrucksideal. Perret glaubte wie Schinkel an die Möglichkeit der Transformation und Weiterentwicklung einer humanistischen Architektur durch den Szientismus. Ein Architekt wie Hans Kollhoff dagegen glaubt nur noch eingeschränkt daran und verlangt nicht ausdrücklich nach der Darstellung der tatsächlichen Konstruktion, sondern nur nach ihrem Bild. Seine Architektur verwendet wieder die klassische Ornamentik ohne ironische Brechung, so dass dieser ein ontologischer Status zukommt. Kollhoffs Modell der Mimesis zielt auf das Vorrangige des klassischen Ausdrucks als gültige Formulierung einer »Welt«, die sich zwar perspektivisch verstehen muss, in ihrem Anspruch jedoch in keiner Weise relativ ist. In der Antike wurde die Mimesis als Nachahmung von Natur begriffen, um das Artefakt und die menschliche Gesellschaft an eine »monistisch« verstandene, kosmologische Wirklichkeit zu binden, in der die »naturgesetzliche Sphäre« und die »gesellschaftlich-rechtliche Sphäre«2 ein selbstverständliches Ganzes bildeten. Auch die moderne Architektur kann mit der Mimesis in ein Naturverhältnis gestellt werden, indem sie den Architekturbegriff verwissenschaftlicht und ihm so eine ontologische, wenn auch fehlgeleitete Relevanz gibt. Architektur wird dann Teil einer modernen Technik, die auf einem auf Rationalität und Empirie geschaffenen Szientismus beruht, und als vom Menschen geschaffener Heterokosmos in einem Konkurrenzverhältnis zu der aus sich selbst entstande-
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Sieroka Norman: »Die ›Eigenwüchsigkeit‹ der Natur. Über ein dynamisches Naturverständnis und unser Verhältnis zur Natur«, S. 29.
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nen Natur steht. Blumenberg bezeichnete diesen Heterokosmos als »Konstruktion«, die der neuzeitliche Mensch der Natur schroff entgegengestellt habe3. Die dem Szientismus verpflichtete Architektur ahmt die Natur nicht in ihren Formen nach, sondern öffnet sie den durch Rationalität bestimmten angewandten Wissenschaften. Sie wird zu einer Art »zweiten Natur«, die die Architektur aus ihren zweckhaften Anforderungen herauswachsen lässt und aktuell in der Biomimetik mündet, die versucht, den Heterokosmos der »Konstruktion« zu überwinden, indem sie sich als »organische Technik« an der ontischen Natur orientiert4. Diesem, auf dem aristotelischen Realismus basierenden Nachahmungsmodell der »modernes«, steht in der modernen Architektur eine Nachahmung der Natur gegenüber, die gleichermaßen den Anspruch erhebt, ontologisch zu sein, indem sie die Natur nicht szientifisch weiterdenkt, sondern formale Strukturelemente von Natur postuliert und mit deren Verwendung das Artefakt bestimmt. Um solche Strukturelemente ging es bereits in der Antike mit den platonischen Körpern und solche thematisieren die Ismen der modernen Architektur wie der Purismus, der Suprematismus und der Konstruktivismus. Auch wenn es sich hier um »Grenzfälle der Mimesis« handelt, so verbindet diese Ismen ihr grundsätzlich ontologischer Anspruch mit dem der vormodernen Architektur. Exemplarisch für eine strukturontologische moderne Architektur kann Le Corbusiers Verwendung von primären geometrischen Körpern in der Architektur stehen. Die platonische Strukturontologie seiner Architektur weist ihn als Vertreter eines »monistischen« Naturbegriffs und damit als »ancien« aus. Die »modernes« allerdings denken seit der Aufklärung den Naturbegriff nicht mehr »monistisch«. Mimesis der Natur differenzierte sich in die Mimesis der »inneren Natur« des Subjekts und der Mimesis der »äußeren«, ontischen Natur. Beide Naturbegriffe meinen zwar Natur, müssen aber gesondert betrachtet werden, denn die Prinzipien und Strukturen der »äußeren«, ontischen Natur nachzuahmen und in das architektonische Artefakt zu überführen, unterliegt anderen Kriterien, als die »innere« Natur des Subjekts und dessen Empfindungen zum Urteilsgrund zu erheben. Ursache dieses geteilten Naturbegriffs ist das Zerbrechen der geglaubten kosmischen Ordnung im 17. Jahrhundert in der »Querelle des anciens et des modernes«. Die vormoderne Architektur war ontologisch durch die Verwendung der in den architekturtheoretischen Handbüchern aufgeführten Regeln und symbolischen Inhalten, denn diese postulierten ein »Band der Proportionen« in der
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Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, S. 10. Siehe hierzu Michael Hensel und Achim Menges: »Form- und Materialwerdung. Das Konzept der Materialsysteme«, S. 18-23.
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Natur, das in analoger Weise die Ordnungsstruktur und damit die Schönheit von Natur und Kosmos in die Architektur überführte. Der Verlust dieser tradierten Regeln und ihrer Symbolik, insbesondere der Verlust der mit ihnen verbundenen anthropomorphen Analogie, erzeugte kontrovers formulierte Positionen. Perraults Angriff auf den »monistischen Architekturbegriff«, den er gegen François Blondel in der »Querelle des anciens et des modernes« führte, war hierfür mitverantwortlich. Perrault glaubte nicht mehr an Blondels Proportionslehre und den mit ihr verbundenen Anthropomorphismus. Architektur war für Perrault entweder eindeutig durch »positive Schönheiten« bestimmbar, die sich empirisch bewähren mussten, oder von »arbiträrer Schönheit«, die subjektiven Kriterien zu genügen hatte und auf Gewohnheit beruhte5, dem »bon goût«6. Damit aber war die Teilung des Architekturbegriffs in eine eindeutig verifizierbare, szientifische, »positive« Komponente und eine subjektive Komponente des Geschmacks vollzogen. Die entscheidende Änderung, die Perrault vornahm, bestand in der Verabschiedung der anthropomorphen Analogie. Diese war die Klammer, mit der bereits Vitruv die »naturgesetzliche Sphäre« mit dem Menschlichen zusammenband und dadurch das »Klassische« der Architektur begründete. Perrault verwendete zwar weiterhin die klassische Architektursprache, nahm ihr aber das ontologische Fundament. Das Zerbrechen der geglaubten Ganzheit von Natur und Welt mit der »Querelle des anciens et des modernes« wird in dieser Arbeit als fundamentaler Konflikt verstanden, der die Mimesis in der Folgezeit bestimmte. Die Position der »anciens« in der Moderne vertritt in diesem Diskurs Nietzsche mit seiner folgenreichen, fundamentalen Kritik am Mimesisbegriff der »modernes«, in der er sich auf die Antike, insbesondere auf die aristotelische Mimesis bezog7. Nietzsche transformierte die aristotelische Mimesis in eine Apologie des Scheins, die jede Wirklichkeit, auch die des Szientismus, als perspektivische Wirklichkeiten entlarvt. Nietzsche postulierte den Künstler zum Nachahmer8 von »unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber [...] und zwar entweder zum apollinischen Traumkünstler oder dionysischen Rausch-
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Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, Paris 1675-1683, S. VII. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 56. »Offenbar ist die aristotelische Vorgabe so maßgebend, dass Nietzsche nicht anders kann, als den Begriff der »mímesis« zum Zentralbegriff auch seiner Konzeption der Kunst und damit der Tragödie zu machen.« Günter Figal: »Nietzsche liest Aristoteles. Mimesis und Katharsis«, S. 121. Siehe hierzu den Aufsatz von Günter Figal: »Nietzsche liest Aristoteles. Mimesis und Katharsis«, S. 116-127.
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künstler [...]«9. Aus jenen Kunstzuständen der Natur gegenüber entstehe das mythologische Weltbild, das Nietzsche zur Aussage brachte, dass »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens [...]« zu betrachten sei10. So wurde bei Nietzsche der Künstler und nicht der Wissenschaftler oder Philosoph zur Leitfigur. Philosophie wurde zu einem »Sonderfall der Dichtung« und zwischen Philosophie oder Wissenschaft und Kunst, so Günter Figal, gebe es deshalb keine Grenze mehr, denn wenn das vermeintliche Wissen in Wahrheit Kunst sei, erweise sich jeder Wissende als Künstler11. Für Nietzsche mythologisierten die »modernes« nicht weniger als die »anciens« mit der Folge, dass der »Querelle des anciens et des modernes« eine permanente Aktualität zukommt. Sein Angriff richtete sich gegen das ontologische Fundament der »modernes«, den Szientismus, mit der Folge, dass wenn alles Mythologie sei, das eigentliche Problem darin bestehe, den »richtigen Mythos« zu begründen. Dieser »richtige Mythos« konnte für Nietzsche wiederum nur in der Natur selbst liegen. Nietzsche ging es um Nachahmung der Natur12, aber einer vermenschlichten Natur, die sich durch das Subjekt zeigt. Indem er Kants Ästhetik weiterführte, die sich auf das innere Empfindungsvermögen des Subjekts bezieht, restituierte er eine Mimesis, die wie die vormoderne Mimesis mit dem »physiologischen« Argument den Anthropos und das Naturgesetzliche zusammenbindet. Nietzsches »Physiologie der Kunst« betrachtet Architektur unter dem Aspekt ihrer stimulierenden Wirkung. Sein dionysischer Kunstbegriff, der in der »Physiologie der Kunst« gipfelt, führte zu einer Aufwertung des »Leiblichen« und übte großen Einfluss auf die Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus, auch wenn Nietzsches »Physiologismus« wegen seines experimentellen Charakters nur eine schwache ontologische Basis besitzt. Mit Nietzsche setzten sich Architekten der Avantgarde wie Peter Behrens, Mies van der Rohe, Le Corbusier, aber auch Mendelsohn auseinander. Aktuell wird Nietzsches »Physiologie der Kunst« in ihrer Beziehung zur Architektur wissenschaftlich aufgearbeitet. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Fritz Neumeyer und Jörg H. Gleiter zu nennen13.
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Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 30. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 14. Günter Figal: Erscheinungsdinge, S. 13. Der aristotelische Ausdruck von der »Nachahmung der Natur« würde tiefer verstanden und gewürdigt, so Nietzsche, wenn er als »Kunsttriebe der Natur« interpretiert werde. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KSA, 1, S. 31. Zu Nietzsches Bedeutung für die Architekten der Avantgarde siehe: Alexandre Kostka und Irving Wohlfarth (Hrsg.): Nietzsche and »An Architecture of Our Minds«, S. 285-309.
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Weitergedacht wurde Nietzsches Generalverdacht gegen die Moderne als einer neuen Mythologie von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung. Adorno verstand Nietzsches »Verleiblichung« der Ästhetik aus der Perspektive der »modernes«, indem er sie an eine »innere Natur« des Subjekts mit dem »mimetischen Impuls« band. Dieser war für ihn Ausdruck einer unmittelbaren und unverfälschten Natur, die sich in der Kunst umso reiner artikulierte, je weniger sie begrifflich und damit auch gesellschaftlich konzipiert wurde. Für Adorno erwies sich die »innere Natur« als Mittel gegen eine »instrumentelle Vernunft«, die sich für ihn bereits in der Urgeschichte von Subjektivität im Naturverhältnis als beherrschender und unterwerfender Zugriff ausbildete. Er verwendete, Nietzsche folgend, das physiologische Argument, allerdings mit anderer Konsequenz, denn der »mimetische Impuls« begründete bei ihm keinen neuen Anthropomorphismus. Adornos Ästhetische Theorie fußt zwar auf einer körperlichen Erfahrung, soll aber nicht die affirmative und stimulierende Wirkung hervorrufen, die Nietzsches später Klassizismus intendiert, sondern will durch den Bezug auf eine ursprüngliche Natur die Überwindung von Mythologie erreichen. Kunst und auch Architektur sollen der Natur vergleichbar und durch sie inspiriert werden, um dadurch »frei« und zugleich »radikal modern« zu sein. Für die Architektur führt dies zu Scharouns Philharmonie aber auch zu Günther Behnisch und zu Peter Eisenman. Die wissenschaftliche Aufarbeitung von Adornos Mimesiskonzeption in ihrem Bezug zur Architektur steht noch aus. Das »physiologische« Argument Nietzsches ersetzte die alte anthropomorphe Analogie, während sich für Adorno im »mimetischen Impuls« die Natur selbst artikulierte. Beide Positionen eint die Kritik durch Mimesis an einer Verwissenschaftlichung und einem einseitigen, fehlgeleiteten, positivistischen Weltbild. Mimesis ist bei Nietzsche ein Anknüpfen am »Uralten« der Antike, mit dem er den Mimesis-Diskurs in einen Diskurs um die Gültigkeit des Klassischen überführte. Sein Konzept einer mimetischen Tiefenstruktur des »Klassischen« zeigt sich exemplarisch in der Architektur Le Corbusiers, die in dieser Arbeit als Nachweis für eine Architektur der »anciens« in der modernen Architektur herangezogen wird. Bereits in Vers une architecture sprach Le Corbusiers in der Betrachtung des Parthenon von der »Physiologie der Reize«14 und formulierte
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Zum Einfluss von Nietzsche auf Mies van der Rohe: Fritz Neumeyer: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. Nietzsches frühe Beziehung zur Architektur weist Fritz Neumeyer nach: Fritz Neumeyer: Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen. Zu Nietzsches »Physiologie der Kunst« siehe Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur-Nietzsche und die Architektur. Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S.161.
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damit die stimulierende Wirkung antiker Architektur. Mit Nietzsches Grundbegriffen des Mimetischen, dem »Apollinischen« und dem »Dionysischen« als den Grundtrieben der Natur, werden in Le Corbusiers Architektur Tendenzen einer remythologisierten Architektur erkennbar. So lässt sich Le Corbusiers späte Architektur mit Nietzsches Begriff des »Dionysischen« verstehen, mit dem Nietzsche eine Naturerfahrung verband, die bei Le Corbusier zu einer chthonischen, anthropomorphen Architektur führte. Die Verbindung von antiker Mythologie und ontischer Natur zeigt paradigmatisch eine Mimesis, die eine physiologisch verstandene, neue Klassik intendierte. An diesen erneuerten naturmimetischen, dionysischen Klassizismus glaubte die Kritik an der modernen Architektur in den 60er Jahren nicht mehr und forderte eine neue Verortung in den tradierten Sprachelementen der Architektur, so dass sich der Mimesis-Diskurs zur Frage nach der Möglichkeit der Verwendung des klassischen Formenapparates verlagerte. In der aktuell von den »Berliner Rationalisten« geführten Auseinandersetzung wird mit dem Rückgriff auf Alberti und Vokabeln wie »Schönheit und Anmut«15 eine Erneuerung der modernen Architektur durch das Anknüpfen an der klassischen Tradition16 mit dem Versuch unternommen, ein Form- und Ausdrucksideal zu restituieren. Dieses postuliert Fritz Neumeyer als klassisch-tektonische Mimesis, indem er den »festen Raum« der Renaissance für die Stadt wieder herstellen will und die anthropomorphe Analogie des »Bau-körpers« einfordert17. Peter Eisenman dagegen will die Überwindung des Klassischen und die Architektur dorthin führen, wo die moderne Kunst schon längst für ihn ist. Eisenman entwickelt hierzu Strategien für die Architektur, die sich Adornos Begriff einer selbstreferentiellen, automimetischen Kunst nähern. Trotz ihrer völlig unterschiedlichen Architekturauffassungen eint Neumeyer und Eisenman das »physiologische« Argument, denn Eisenman will den konservativsten Aspekt, den Körper, in einer transformierten Weise wieder für die Architektur der Avantgarde gewinnen18. Wenn das »physiologische Argument« einen gemeinsamen ontologischen »Grund« darstellt, so sind die durch Nietzsche und Adorno geprägten
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Klaus Theo Brenner, Massimo Fagioli (Hrsg): Berliner Rationalisten, S. 7. »[...] Die Kritik an einer zeitgenössischen Design-Architektur, die ganz auf das einzelne Objekt fixiert ist und sich in einem permanenten Formenwahn erschöpft, der zwangsläufig das zerstört, was die europäische Stadt-Architektur immer ausgezeichnet hat: Integrität und Zeitlosigkeit.« Klaus Theo Brenner, Massimo Fagioli (Hrsg): Berliner Rationalisten, S. 7. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 299.
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Begriffsinhalte von Mimesis für eine Klärung des Mimetischen in der modernen Architektur von grundlegender Relevanz. Stand der Forschung Mimesis wird in der aktuellen Forschung wieder von ihrer ontologischen Bedeutung her gedacht. Sie ist nach Birgit Recki nicht von vornherein auf einen Naturalismus im engeren Sinne auf die genaue Abbildung der »Vorderseite der Dinge« festgelegt, sondern es bedeute das Natürliche uns allemal das Ursprüngliche, in letzter Instanz Unverfügbare19, den »Inbegriff der wirkenden Kräfte, in deren Gesetzmäßigkeiten eingelassen wir auch uns selbst noch vorfinden [...].«20 Es gehe um eine Lern- und Imitationsbereitschaft, die auf die unter der Oberfläche wirkenden wesentlichen Kräfte gehe und in der das Band mit der Natur im Bewusstsein der Künstler nur noch dichter geknüpft werde21. Vergleichbar argumentiert Hans Heinz Holz, wenn er einen quasi naturalistischen Mimesisbegriff ablehnt, der in ihm nur die Nachahmung der dinglichen Erscheinungswelt erkennt22. Für ihn besitzt die Mimesis ein ontologisches Verhältnis zur Wirklichkeit23. Thomas Metscher benennt die »ästhetische Mimesis« als Abbildung eines immanenten Weltverhältnisses in höchst unterschiedlichen Modi, welche zwischen den Extremen einer rein strukturellen Isomorphie und einer naturalistischen »imitatio« liegen24. Die Gestaltung in den Künsten bewirke eine ontologische Transformation, so dass der mimetische Akt als ein interpretativer Akt zu werten sei25. Kontinuität und Bedeutung der Mimesis für die Kunst seit der Antike behandeln Gunter Gebauer und Christoph Wulf in Mimesis. Kunst- Kultur- Gesellschaft26. Eine Darstellung zur Bedeutung der Mimesis für die Architektur seit der Antike steht noch aus. 19 20 21 22 23 24 25 26
Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, S. 118. Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, S. 119. Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, S. 122 und 123. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand. Philosophische Theorie der bildenden Künste 1, S. 45. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand. Philosophische Theorie der bildenden Künste 1, S. 46. Thomas Metscher: Mimesis, S. 28. Thomas Metscher: Mimesis, S. 28. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst- Kultur- Gesellschaft.
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Die vorliegende Arbeit soll dies leisten und über den historischen Wandel des Mimesisbegriffs in seiner Verbindung zur Architektur die Bedeutung des Mimetischen bis zur zeitgenössischen Architektur aufzeigen. Dorothea Lehner hat in ihrer Untersuchung zum »Imitatio-Naturae-Ideal« in der französischen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts einen Überblick zur Bedeutung der Naturnachahmung in der Architektur bis ins 19. Jahrhundert gegeben. Lehner macht die Erschütterung des Glaubens im 18. Jahrhundert, in den Maßen der antiken Bauten handle es sich um Naturgesetze, dafür verantwortlich, dass der klassische Formenapparat nur noch als eine mögliche Gestaltungsweise neben vielen anderen gegolten habe27. Seit der Antike habe die Tatsache der Naturnachahmung die Architektur legitimiert, nicht nur zu den nützlichen Künsten gezählt zu werden28. Lehner behandelt allerdings nicht die grundlegende ontologische Bedeutung des Begriffs in der griechischen Antike. Hier ist nach wie vor die Arbeit von Koller von Bedeutung, die die Herkunft des Begriffs aus dem dionysischen Kultdrama annimmt29. Weitere Klärung des antiken Mimesisbegriffs finden sich bei Maria Kardaun und Matthias Steinhart30 und für das Verständnis der aristotelischen Mimesis als Nachahmung der Natur in ihrer Vollkommenheit in der Arbeit von Alexander Aichele31. Ernesto Grassi hat in Die Theorie des Schönen in der Antike nachgewiesen, dass ein Diskurs mit der antiken Mimesis grundlegend für ein Verständnis der modernen Kunst ist, denn deren ontologischer Anspruch finde sich auch bei Vertretern der Kunst des 20. Jahrhunderts32. Weiter bildet Mimesis Wirklichkeit nicht nur ab, sondern erweitert sie, bzw. bringt sie erst hervor. Hier steht der aktuelle Mimesisdiskurs immer noch im Bann oder erst am Anfang von Nietzsches Denken. Jordan verweist bei Nietzsche auf eine Theorie selbstreferentieller Systeme, die in unserer Zeit auf kybernetischer und biologischer Grundlage entwickelt worden seien33. Nietzsches zentrales Argument ist die Begründung der Kunst mit der Physiologie als der
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Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 2. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 2. H. Koller: Die Mimesis in der Antike. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike. Matthias Steinhart: Die Kunst der Nachahmung. Darstellungen mimetischer Vorführungen in der griechischen Bildkunst archaischer und klassischer Zeit. Alexander Aichele: »Finalursache und Vollkommenheit«, in: Moritz Arne (Hrsg): Ars imitator naturam. Transformationen eines Paradigmas menschlicher Kreativität im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, S. 39-60. Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 100-107. Lothar Jordan: »Dekonstruktionist oder Konstruktivist?«, S. 239.
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»grossen Vernunft« des »Leibes«34. Das physiologische Argument führt bei Nietzsche zur Begründung einer neuen Klassik35, die Theo Meyer als Merkmal des Dionysischen beim späten Nietzsche erkennt. Rainer Schäfer verbindet Nietzsches »apollinisch-dionysischen« Naturtrieb mit dem späten »Willen zur Macht«. Es sei die »ewige Wiederkehr des Gleichen«, die das »Dionysische« als »Bejahung des Lebensganzen« zeige36. Der Begriff des »Dionysischen« wurde für Nietzsche zur vitalistischen Produktionsästhetik, die für Markus Breitschmid in den »großen Stil« mündet37. An diese Diskussion knüpft die vorliegende Untersuchung an und zeigt exemplarisch anhand von Le Corbusiers Argumentation und Architektur, dass eine einseitig auf das klassizistische Formenvokabular sich berufende Architektur Nietzsches Gedanken zum »Dionysischen« als Mimesis der Natur nicht gerecht wird. Fritz Neumeyer erkennt in Nietzsches Gedanken zur »Architektur der Erkennenden« die »humanistische Vorstellung«, die den Mensch als Ausgangspunkt sowohl für den Architekturkörper als auch für den architektonischen Raum begreift38. Insofern steht Nietzsches Mimesisbegriff für Neumeyer als Begründung einer erneuerten Klassizität in der Architektur. Jürgen Habermas hat auf die Abhängigkeit von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung von Nietzsches mythologischem Wirklichkeitsbegriff hingewiesen39, welche bei Adorno zu einer aus Natur entsprungenen Freiheit für die Kunst führe40. Adornos Konzept einer mimetischen Kunst muss deshalb für Albrecht Wellner jede lehrbare Regel für die Kunst ausschließen41. Günter Figal erkennt darin die »Unversöhnlichkeit« von Mimesis und Rationalität als den »Inbegriff der Kunst« bei Adorno42 und macht auf eine »Überbietungsdynamik« in ihr aufmerksam43.
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Friedrich Nietzsche: »Von den Verächtern des Leibes«, KSA, Bd. 4, S. 39. Markus Breitschmid: Der bauende Geist. Fritz Neumeyer: Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen. Rainer Schäfer: »Die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche«, S. 198 und 199. Markus Breitschmid: Der bauende Geist, S. 48. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 12. Jürgen Habermas: »Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno«, S. 139. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur «, S. 195. Albrecht Wellmer: »Über Negativität und Autonomie der Kunst«, S. 243 und 244. Günter Figal: Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, S. 59. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 39.
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Die mit dieser Arbeit unternommene Anwendung von Adornos Kunstbegriff auf eine Ästhetik der Architektur führt zur organischen Architektur Scharouns, insbesondere der Berliner Philharmonie, die von Adorno selbst besprochen wurde. Der von Peter Eisenman weitergeführte Diskurs einer automimetischen, künstlerischen Architektur basiert gleichermaßen für Alejandro Zaera-Polo auf einer Methodik ohne Rückgriff auf ein akkumuliertes Wissen44 , die sich mit Adornos Kunstbegriff als »Konstruktion« und »Mimesis« begreifen lässt. Ein weiterführendes Ziel der Arbeit ist es, den modernen Begriff der Mimesis, der für Nietzsche und Adorno Mimesis der Natur war, für eine Ästhetik der Architektur herauszuarbeiten. Mit der Mimesis als »Leiblichkeit« des Menschen erschließt sich, von Nietzsche und Adorno her gedacht, der ontologische Grund der aktuellen Architekturdiskussion aus einer veränderten Perspektive.
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Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro ZaeraPolo«, S. 215.
I. Begriff und Geschichte
K ATEGORIEN
DER
M IMESIS
Aristoteles beschreibt in der Poetik, wie der heranwachsende Mensch Gestik und Mimik seines sozialen Umfeldes durch Mimesis übernimmt: »Denn sowohl das Nachahmen (mimeisthai) selbst ist dem Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude (chairein), die jedermann an Nach1
ahmungen hat.«
Maske und Mimesis seien, so Günter Zehm, die spontan wirkenden Hebel von jeder Ich- und Menschwerdung2. Das »Ich«, das angeblich hinter allen Masken nackt und bloß stecke, gebe es nicht; dies sei eine philosophische und lebenspraktische Fiktion. Was sich jeweils momentan mit sich selbst identisch fühle, sei ohne Maske und Mimesis etwas vollkommen Diffuses, ein Seelenraum, der keine Person sei, sondern sich in tausend Fragmente der immerwährenden Selbstauflösung zersplitterte. Erst Maskierung und Mimesis schafften Strukturen, schafften wirkliches Ich3. Das Werk des Ich sei die Maske, die die Seele verberge, indem sie sie als Einheit erscheinen lasse4. Im lernenden Nachahmen steckten rituelle Vorgänge, über deren Kausalverhältnis zum Ergebnis sich die Beteiligten meist im Dunkel befänden, so Cristin Legare auf einer Tagung einer Forschungsgruppe zur kulturellen Prägung kausa-
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Aristoteles: Poetik, 1448b, S. 44. Günter Zehm: Maske und Mimesis. Eine kleine Philosophie der Medien, S. 13. Günter Zehm: Maske und Mimesis, S. 13. Günter Zehm: Maske und Mimesis, S. 14.
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len Denkens5. Was für rituelles Handeln noch gelten mag, soll nach Anna Bender auch auf »eine der grundlegenden Kategorien unseres Weltbilds zutreffen«, die der Kausalität6. Unser Denken in Kausalitätsstrukturen, das uns überzeitlich erscheint, basiere auf rituellen Vorgängen und weise den Probanden als Mitglied der westlichen Welt aus7. Wenn also bereits Denkstrukturen wie die der »Kausalität« Ausdruck kultureller Prägung sind und auf nachahmenden Verhalten basieren, so ist Nachahmung und Verstehen von Welt ganz eng miteinander verbunden. Mimetisches Verhalten war für Walter Benjamin entscheidend für das Verständnis des Menschlichen überhaupt. »Die allerhöchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten«, so Benjamin, »hat der Mensch. Ja vielleicht gibt es keine seiner höheren Funktionen, die nicht entscheidend durch mimetisches Vermögen mitbestimmt ist.«8 Für Benjamin zeigte sich das Mimetische in der onomatopoetischen, der lautmalenden Eigenschaft der Sprache und im Schriftbild von Wörtern. Sprache habe eine »unsinnliche Ähnlichkeit« zu dem durch sie Bezeichneten9. Diese »unsinnlichen Ähnlichkeiten« stellten einen Kanon dar, so wie in der Urzeit das Herauslesen aus Sternen und Eingeweiden der Menschheit das Lesen schlechthin gewesen sei. Jene mimetische Begabung, welche früher das Fundament der Hellsicht gewesen sei, sei in jahrtausendlangem Gange der Entwicklung ganz allmählich in Sprache und Schrift hineingewandert und habe sich in ihnen das vollkommenste Archiv unsinnlicher Ähnlichkeit geschaffen10. In gleicher Weise wie die Sprache basieren andere Formen der Kommunikation wie Gestik, Mimik oder auch Artefakte in ihren Bezeichnungen auf Mimesis. Sie besitzen eine »unsinnliche Ähnlichkeit« mit den Aussageinhalten und stehen repräsentativ für ein Weltverhältnis. Wenn nachahmendes Verhalten unseren Blick auf die Welt bestimmt, so kehrt notwendig dieser Blick in den Werken wieder, denn sowohl in der Sprache als auch in den Werken der Kunst handelt es sich um Nachahmungen und Symbole, die in Analogien etwas beschreiben und es damit erst vergegenwärtigen. Mimesis meine, so Birgit Recki, nicht nur Nachahmungen oder Imitationen. Ein
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Manuela Lenzen: »Schwierige Kausalität«, S. N4. Manuela Lenzen: »Schwierige Kausalität«, S. N4. »Wer Englisch oder Deutsch spricht, achtet besonders darauf, wer etwas tut, so Bohnemeyer, wer Lao spricht, interessiert sich mehr dafür, welche Situation ein Ereignis ermöglicht hat. Und wer ein Ereignis in Yucate beschreibt, nennt gar keine Ursachen.« Manuela Lenzen: »Schwierige Kausalität«, S. N4. Walter Benjamin: »Die Lehre vom Ähnlichen«, S. 204. Walter Benjamin: »Die Lehre vom Ähnlichen«, S. 207 und 208. Walter Benjamin: »Die Lehre vom Ähnlichen«, S. 209.
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nur imitierendes Verhalten versucht etwas Gegebenes in gleicher oder abgewandelter Form zu wiederholen. Es klebt quasi an einem Vorbild, das es durch Nachahmung wiedergeben möchte. Mimesis dagegen sei von »fruchtbarer Vielfalt und Offenheit«11. Es wäre zu kurz gedacht, den Begriff auf die »Vorderseite der Dinge«, auf eine »Mimesis oder Nachahmung« zu begrenzen12. Mimesis ist also mehr als die Wirklichkeit der Realität, sei »sie nun rein phänomenale Gegebenheit oder ikonographisch angereichert oder symbolisch vertieft. Es geht um den Gegenstand, das Inhaltliche als solches, und zugleich um die sinnliche und spirituelle Aura des Gegenstandes, um seine Transparenz für anderes, um surreale Konnotationen oder Korrespondenzen, die er wachruft.«13 Harald Feldmann verweist wie Recki auf die Vielschichtigkeit von Mimesis und auf Bedeutungsebenen und Wirklichkeiten, die durch Mimesis erkennbar werden. Denn die »verschiedenen Modi der Darstellung von Wirklichkeit sind zugleich verschiedene Weisen, sich Welt anzueignen, auch in kritische Distanz zur Wirklichkeit zu treten, eine Haltung zur Wirklichkeit einzunehmen und Wirklichkeit einem Sinngebilde, wie es ein Kunstwerk ist, anzuverwandeln.«
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Karl-Heinz Ott erkennt deshalb im gewöhnlichen Gebrauch des Begriffs Mimesis, der Mimesis als Abbildung oder Nachahmung übersetzt, von vornherein ein Missverständnis. Es sei absurd davon auszugehen, dass Mimesis und künstlerischer Realismus zusammengehörten und in der Folge die Kategorie des Mimetischen im Namen einer abstrakten Kunst leicht als alter Hut abgetan werde. Mimesis würde verkürzt und falsch verstanden, wenn es sich bei ihr in erster Linie darum handle, die Wirklichkeit abzukupfern15. Mimesis werde aber auch deshalb abgelehnt, weil es überhaupt keine Wirklichkeit mehr gebe, die eindeutig als solche zu identifizieren sei. Spätestens seit Nietzsche gebe es die Überzeugung, dass alles eine Frage der Perspektive sei und der Glaube an eine an-sich-seiende Wirklichkeit etwas Illusorisches besitze16. Dies sei ein postmoderner Polytheismus, der jeder Art von monologisch-monotheistischer Wahrheit den Garaus ma-
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Birgit Recki: »Mimesis. Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines missverstandenen Zeitbegriffs«, S. 118. Birgit Recki: »Mimesis. Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines missverstandenen Zeitbegriffs«, S. 118. Harald Feldmann: Mimesis und Wirklichkeit, S. 24. Harald Feldmann: Mimesis und Wirklichkeit, S. 21. Karl-Heinz Ott: »Die vielen Abschiede der Mimesis«, S. 4. Karl-Heinz Ott: »Die vielen Abschiede der Mimesis«, S. 4.
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chen solle17. Es bliebe dann wie bei Lyotard, für den jede Art von mimetischer Wirklichkeitsannäherung illusionär sei, nur der Blick in den Abgrund des Unerklärlichen und die Verabschiedung davon, das Reale bildlich oder begrifflich zu fassen18. Mimesis sei aber, dies zeige Aristoteles anhand der Musik, eine Kraft sui generis, die Wirklichkeit erst entstehen lasse. Jene Darstellung von Wirklichkeit, wie sie sich im Kunstwerk mimetisch ereigne, habe sowohl repräsentationale als auch seinskonstituierende Funktionen19. Wie Zehm und Ott erkennt Feldmann in den mimetischen Werken nicht nur die nachahmende Funktion von »Abbild und Urbild«, sondern ihre ontologische, seinskonstituierende Bedeutung. Die Eigenart des mimetischen Vorgangs besteht in einem intuitiven, vorbewussten Erfassen und Darstellen von »Etwas«, das als ontologisch Vorrangiges dem mimetisch Agierenden in seiner vollen Umfänglichkeit nicht bewusst ist. Die Nachahmung der Formen beinhaltet noch keine Reflexion darüber, weshalb gerade diese Formen verwendet werden. Was den Prozess lenkt, darüber reflektiert eine Reflexion der Mimesis. »Mimesis widersetzt sich«, so Gunter Gebauer und Christoph Wulf, »der harten Subjekt-Objekt-Spaltung und der Eindeutigkeit des Unterschieds zwischen Sein und Sollen. Zwar enthält sie rationale Elemente, doch diese entziehen sich zweckrationalen Zugriffen und Annäherungen an die Welt. In mimetischen Prozessen gleicht sich der Mensch der Welt an. Mimesis ermöglicht es dem Menschen, aus sich herauszutreten, die Außenwelt in die Innenwelt hineinzuholen und die Innenwelt auszudrücken. Sie stellt eine sonst nicht erreichbare Nähe zu den Objekten her und ist daher auch eine notwendige 20
Bedingung von Verstehen.«
Mimesis sei zudem entgegen dem tradierten Mimesisbegriff als kreativ und schöpferisch zu bezeichnen21. Das, was sich als Vorstellung von Welt zeige, sei in ihrer Erzeugung immer bereits von vorhandenen Welten ausgegangen. Erzeugen von Welt sei ein Wiedererzeugen22. Thomas Metscher verweist auf das Erbe genetischer Mimikri, ihrer Anpassung an ein Gegebenes. Diese sei Bedingung der Reproduktion und des Überlebens, doch zugleich sei sie auch Bedingung der Unterwerfung unter eine herr-
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Karl-Heinz Ott: »Die vielen Abschiede der Mimesis«, S. 4 und S. 5. Karl-Heinz Ott: »Die vielen Abschiede der Mimesis«, S. 5. Harald Feldmann: Mimesis und Wirklichkeit, S. 18. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst-Kultur-Gesellschaft, S. 11. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst-Kultur-Gesellschaft, S. 28. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst-Kultur-Gesellschaft, S. 28. Gebauer und Wulf zitieren N. Goodmann: Ways of wordmaking, Indianapolis 1978.
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schende Macht, sei sie natürlich oder sozial, der Unterwerfung auch unter Konvention, Überlieferung und Sitte23. So hätten im Zuge der antihumanistischen Wende der Kulturtheorie poststrukturalistisch orientierte Theorien einseitig den Zusammenhang von Mimesis und Macht in den Mittelpunkt gestellt. Mimesis erscheine hier ausschließlich als Ausdruck oder Medium im Konstitutionsprozess von Herrschaft und Autorität oder auch als Form und Agens von Gewalt im Kampf der Individuen und Geschlechter und damit sei es unstrittig, dass Mimesis historisch soziale Macht konstituiert habe und konstituieren könne, dass sie als Mittel ihrer Inszenierung dienlich gewesen wäre und sei24. Die Moderne zeichnet dagegen nicht Angleichung, sondern ein linearer, antiautoritärer Prozess von Veränderung, Verbesserung und Überbietung aus. Von daher rührt die Feindschaft, die modernes Denken dem Mimetischen entgegenbringt. Dass die Moderne gleichfalls mimetisch ist, formulierte Walter Benjamin mit dem Begriff einer »sinnlichen« und einer »unsinnlichen Ähnlichkeit«25. Solche »Ähnlichkeiten« verweisen auf Strukturen, an denen sich auch die Moderne orientiert und sich damit dem Bann des Mimetischen nicht zu entziehen vermag. Die Differenzierung des Begriffs Mimesis wird nachfolgend anhand von drei Kategorien durchgeführt: »ontische Mimesis«, »ontologische Mimesis« sowie einer Mimesis als darstellender Ausdrucksfunktion. 1.1 »Ontische Mimesis« Mit »ontischer Mimesis« wird die abbildhafte Nachahmung von Naturformen oder Artefakten bezeichnet. Was sich für die Malerei in der Abbildung von Realien zeigt, gilt auch für die Architektur, denn auch diese verarbeitet abbildhaft die sichtbare Welt. »Ontische Mimesis« orientiert sich an der phänomenalen Erscheinung der Dinge und ist damit eine Form des Naturalismus. Mit der »phänomenal-ontischen Mimesis« als kritischem Begriff ist seit Platon der Topos verbunden, Kunst als wesenlosen Schein einzustufen26. Der Architektur stand über Jahrtausende der griechische Formenkanon zur Verfügung, welcher der Architektur durch »ontische Mimesis« Ausdruck und Bedeutung verlieh. Mit der modernen Architektur des beginnenden 20. Jahrhunderts verloren die griechisch-römischen Formen an Gültigkeit. Dies bedeutete aber nicht, dass die Architektur eine »ontische Mimesis« vermied. Vielmehr ver23 24 25 26
Thomas Metscher: Mimesis, S. 16. Thomas Metscher: Mimesis, S. 16 und S. 17. Walter Benjamin, »Über das mimetische Vermögen«, S. 204 ff. Thomas Metscher: »Widerspiegelung/Spiegel/Abbild. III Spiegel und Imitation in der Neuzeit: Antikes Erbe und neuzeitliche Kunsttheorie«, S. 631.
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lor die phänomenale Nachahmung der Wirklichkeit ihre auf das einzelne Architekturglied bezogene Bedeutung und nahm das ganze Bauwerk in Anspruch. 1.2 »Ontische Mimesis« als Nachahmung der »natura naturata« Nachahmung der »natura naturata« war bereits bei den Griechen nicht nur eine direkte Übertragung der Naturform in ein Bauwerk, sondern bestand aus der Überlagerung von unterschiedlichen Nachahmungsinhalten. Naturformen und anthropomorphe Proportionen verbanden sich mit der konstruktiven Struktur und wurden zu synthetischen Formen, die wiederum formalen Transformationen unterzogen wurden. Archäologisch lassen sich deshalb die Vorbilder der »ontischen Mimesis« nur schwer eindeutig belegen. Sie gleichen in ihrer Erscheinung und in ihren Wirkungsformen Naturformen, ohne sie direkt abzubilden. Die Gliederungs- und Zierleisten der griechischen Ornamentik, die vollplastisch gerundeten Eierstäbe mit den feinen Stegen dazwischen, sind der organischen Natur entliehen, ohne dass sie die natürliche Form widerspiegelten. Offensichtlicher sind Akanthusblätter und Palmettenfriese Nachahmungen vegetabiler Formen und auf einen ursprünglich vegetabilischen Bauschmuck zurückzuführen. Die Nachahmung und Überführung der menschlichen Gestalt in die Architektur ist ein antiker Topos, der bis zu Le Corbusiers Modulor reicht und eine phänomenale mit einer kosmologischen Aussage verbindet. Eine direkte Übertragung der menschlichen »natura naturata« zeigen die Karyatiden des Erechtheion. Die durch Vitruv überlieferte Charakterisierung der dorischen Architektur als männlich, der ionischen als weiblich und der korinthischen als analogem Sinnbild eines jungen Mädchens appelliert an ein Körperempfinden, das durch die anthropomorphe architektonische Form hervorgerufen wird. Die mimetische Transformation der mechanisch-konstruktiven Form in eine der menschlichen Physis phänomenal analoge Architektur war Garant, das »Tote« des Steins, des Holzes und der Metalle, der »empfindungslosen Dinge«27, zu verlebendigen. Sie simulierten dadurch eine Teilhabe am organischen Leben und sollten es zugleich durch ihre Dauerhaftigkeit übertreffen. Die synthetischen griechischen Formen stellten ein Vokabular der Architektur zur Verfügung, das über Jahrhunderte als deren Sprachformen diente. Sie waren ein wesentlicher Teil einer in den Architekturtraktaten formulierten autonomen Wirklichkeit. Der mit der Aufklärung einsetzende Bedeutungsverlust der Ornamentik führte deshalb zu einem Verlust an Artikulationsfähigkeit und löste
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Richard Volkmann und H. Gleditsch: Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, S. 40.
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die ornamentale Form von ihrem konstruktiven Grund. Die Architekturdiskussion des 19. Jahrhunderts war wesentlich von dieser Problematik bestimmt, ohne sie lösen zu können. 1.3 »Ontische Mimesis« als Nachahmung von Artefakten Neben der Naturform waren menschliche Artefakte Teil der überlieferten Architektursprache. Das korinthische Kapitell, über dessen Entstehung Vitruv berichtet, steht für eine phänomenal ontische Mimesis von Naturform und Artefakt. Die lebendige Naturform des Bärenklaus und der mit einer Steinplatte abgedeckte Korb des Kallimachos lassen durch ein Verwachsen der Vegetation mit dem menschlichen Artefakt eine neue, synthetische Form entstehen. Die Nachbildung reiner Artefakte findet sich in den Tauen, Schnüren, Astragalen und Flechtbändern. Sie waren wesentliche Bestandteile der griechischen Ornamentik an den Decken und an den Säulenbasen. Eine weitere Form der Nachahmung besteht in der Nachbildung konstruktiver Formen in anderen Werkstoffen. Bereits bei Vitruv wird die Ornamentik des Tempels aus einem versteinerten Holzbau abgeleitet28. Das 18. und 19. Jahrhundert führte eine intensive Diskussion über die Richtigkeit dieser These Vitruvs29. Schelling interpretierte den versteinerten Holzbau als Teil einer Kunstsprache, derer sich die Architektur bediene, um »das Organische« zur Anschauung zu bringen30. Er entzog damit die Ornamentik der archäologischen Kritik und gab ihr eine eigene, poetische Wirklichkeit. Das ursprünglich Notwendige »potenzierte« sich durch die Mimesis und bewirkte eine Emanzipation von konstruktiven Beschränkungen. Die nachfolgende Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts verteidigte eine poetische Architekturornamentik und das mit dem klassischhumanistischen Erbe verbundene Formenvokabular der griechisch-römischen 28
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»Von diesen Bauteilen (Vitruv bezieht sich auf das Gebälk) und ihrer zimmermannsmäßigen Ausführung in Holz her haben die Künstler beim Bau von Tempeln in Stein und Marmor deren Anordnungen in Steinmetzarbeit nachgeahmt, und sie haben geglaubt, diesen Erfindungen folgen zu müssen.« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, S. 177. »So glaubten sie, dass das, was in Wirklichkeit (am Holzbau) nicht entstehen kann, auch nicht, wenn es an den Nachbildungen (am Steinbau) gemacht ist, seine Berechtigung haben kann.« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, S. 179. Weshalb sollte eine Holzkonstruktion versteinert werden, da doch der Steinbau über völlig andere statische Gesetzmäßigkeiten verfügt als der Holzbau? Die ornamentale Form entzog sich einer rationalen Begründung und wurde angreifbar. Siehe hierzu: Hartmut Mayer: Die Tektonik der Hellenen, S. 74-78. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, S. 224 ff.
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Antike, um es in eine durch den szientifischen Fortschritt sich verändernde Architektur zu überführen. Für die moderne wie für die vormoderne Architektur gilt, dass Artefakte als symbolische Bedeutungsträger in die Architektur transferiert wurden und werden. Das 19. Jahrhundert stellt eine Übergangsperiode dar, in der sich Strukturen des beginnenden 20. Jahrhunderts herauskristallisierten, ohne dass dies mit einem Verlust der überkommenen Architektursprache einherging. Erst das beginnende 20. Jahrhundert etablierte mit der Übernahme von Artefakten aus der technischen Welt eine neue symbolisch-ornamentale Sprache. 1.4 »Ontologische Mimesis« Architektur steht in einer mimetischen Beziehung zu einem »ontologischen Grund«. Sie zeigt das in sinnlich analoger Weise an, was die Philosophie mit dem Begriff des »Seins« bezeichnet. Architektur bringt »Welt« in Form gebauter Wirklichkeit hervor oder sie vernichtet »Welt« im Falle ihres Abrisses. Fritz Neumeyer bezeichnet die Baukunst als »Spiegel der Welt«, die den Status eines paradigmatischen Modells erhalten habe, das den Zugang in die »Architektonik des Seins« eröffne31. Die »ontologische Mimesis« der vormodernen Architektur bezog sich auf die inneren Formgesetze von Natur und Kosmos im Nachvollzug eines in der Physis wirkenden Prinzips32. Sie verlangte eine »ars perfectoria«, denn der Kosmos galt als perfektes Vorbild, welches die Werke mimetisch verkörperten33. Eine »ars perfectoria« steht für die aristotelische, realistische Richtung und für die »idealistische, pythagoreisch-platonisch-neuplatonische Variante, die Kunst und Schönheit als Abbildung der ewigen Schönheiten der Ideen und Ausdruck kosmischer Harmonien versteht.«34 Nachahmung oder Mimesis der Natur in der Architektur gilt seit der Antike den Prinzipien der Natur, nach welchen diese ihre Gestalten hervorbringt35.
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Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 7. Thomas Metscher: Mimesis, S. 19. »Das Wort Mimesis bezeichnet jede Umsetzung aus einem höheren in ein niedriges, das heißt eingeschränktes Medium.« Gerhard Faden: Platons dialektische Phänomenologie, S. 278, Note 62. Thomas Metscher: Mimesis, S. 631 und 632. »Der ontologische Mimesisbegriff begreift Kunst [...] als nachahmende Gestaltung der strukturellen (inneren) Verfassung der physis (des Kosmos) bzw. als Herstellen von Neuem nach Maßgabe der in der physis wirkenden Kräfte (natura naturans) oder des der Natur inhärenten Maßes«. Thomas Metscher: »Widerspiegelung/
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Jean-Luc Nancy erkennt mit dem platonischen Begriffspaar »Mimesis« und »Methexis« in der Betrachtung eines Bildes eine »ontologische Spannung«, die aus einer Lust an der Wahrheit hervorgehe36, wobei die Lust am Bild nicht die Lust des Wiedererkennens sei, es sei denn man suche einen ähnlichen Effekt mimetischer und methexischer Bewegung im Erkennen selbst37. Die Lust am Bild sei jene Lust, die das Begehren trage, durch das Form und Grund in ein gegenseitiges Spannungsverhältnis einträten, wobei der Grund sich in die Form erhebe und die Form im Grund versinke38. Nancy beschreibt das Vorbild-Abbild Verhältnis der Mimesis als Verhältnis von »Grund« und »Form«, für das es wichtig sei, dass der »Grund« dinstikt werde, indem er sich hinter oder jenseits von allen Objekten, Darstellungen und Gestalten abhebe39, denn der »Grund« könne niemals selbst zu einer Form werden noch eine Form annehmen. Zum »Grund« trete deshalb das Artefakt in eine »ontologische Spannung«, denn es sei nicht dieser selbst, sondern dessen Resonanz in den Formen40. Mimesis in der Architektur ist eine Spiegelung des »ontologischen Grundes« als deren äußerer und innerer Wirklichkeit. So stand »Natur« in der Antike für eine ontologische Wirklichkeit und damit für das, was Nancy mit dem Begriff des »Grundes« bezeichnet. Wie diese Wirklichkeit der Natur (der »Naturgrund«) zu interpretieren ist, darin unterscheiden sich die verschiedenen Formen der Mimesis. Jörg Gleiter argumentiert dagegen, dass die Architektur eine Kulturtechnik sei, die ihre Prinzipien nicht mimetisch der Natur entlehne, da die Architektur nicht »fremder Vernunft« nachgebildet sei41. Genau diese Nachahmung der Natur betrieb jedoch die Architektur sowohl in der Vormoderne als auch in der Moderne, indem sie die Architektur auf die Strukturgesetze der Natur bezog. Das Herstellen pythagoreischer Konsonanzen, so Dorothea Lehner, seien bei Vitruv Nachahmungen der Natur, die »jedes direkte, abbildende Nachahmungs-
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Spiegel/Abbild. III Spiegel und Imitation in der Neuzeit: Antikes Erbe und neuzeitliche Kunsttheorie«, S. 631 und S. 632. Jean-Luc Nancy: »Das Bild: Mimesis & Methexis«, S. 175 und S. 176. Jean-Luc Nancy: »Das Bild: Mimesis & Methexis«, S. 177. Jean-Luc Nancy: »Das Bild: Mimesis & Methexis«, S. 177. Jean-Luc Nancy: »Das Bild: Mimesis & Methexis«, S. 177. S. a. Jean-Luc Nancy: »Das Bild: Mimesis & Methexis«, S. 177. Nancy spricht auch vom Ton der Bilder: Der tonos des Bildes sei ein ›Grundgeräusch‹, das letztlich den Inhalt, die Struktur und den Stoff des Grundes bildet. Ebenda, S. 183. Jörg H Gleiter.: »Condicio architectonica: zum Verhältnis von Philosophie und Theorie der Architektur«, S. 39.
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verhältnis zwischen Architektur und Natur«42 ablehnten. Mit der Herstellung gleicher proportionaler Verhältnisse wurde Architektur genetisch zur Natur, ohne dass sie Natur abbildete. Die pythagoreisch-platonische Zahlenharmonik war ein gültiges Regelwerk, das bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts angewandt wurde. In diesen Zusammenhang gehören alle ontologisch-monistischen Proportionstheorien, die einen regelhaften Zusammenhang von Naturformen auf Architekturformen übertragen. Le Corbusiers »Modulor« ist ein exemplarisches Beispiel der klassischen Moderne für eine »ontologische Mimesis« der Architektur. Die »rote und blaue Reihe« zeigen, wenn die entsprechenden Punkte durch eine gekrümmte Linie verbunden werden, eine Spirale, die im »gleichen exponentiellen Rhythmus ansteigt wie die der Seeschnecke.«43 Seine Nachahmung der »natura naturans« in Form proportionaler und geometrischer Entsprechungen von Natur und Architektur begründen sowohl die Gestalt der Naturform als auch die des menschlichen Artefakts, das sich durch die Entsprechungen in die kosmische Harmonik integrieren soll. Einer auf regelhaften Proportionssystemen beruhenden, kosmischen Harmonik in der Architektur steht ein Realismus gegenüber, der auf der aristotelischen Formel »ars imitatur naturam« gründet. Im Unterschied zur platonischen Methexis orientierte sich Aristoteles nicht an überzeitlichen Ideen, an denen die Artefakte partizipieren sollen, sondern am einzelnen Gegenstand, der die Natur vervollkommnet und an der Erfüllung seiner Funktion orientiert ist. Die Formen der Nachahmung für die Architektur entspringen, überträgt man die aristotelische Formel »ars imitatur naturam« auf die moderne Architektur, einer szientifischen Grundtendenz. Eine weitere Variante von »ontologischer Mimesis« wendete sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts dem wahrnehmenden Subjekt zu. Die Naturnachahmung fand nun nicht mehr ihre Regeln in der äußeren Natur, sondern verlagerte sich ins Subjekt und dessen »innerer Natur«. Die entscheidende Wendung formulierte Kant in seiner Kritik der Urteilskraft: »Schöne Kunst« ist bei Kant die »Kunst des Genies« und dieses besitzt eine »angeborene Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt«44. Kant entdeckte eine »Natur« im Subjekt, welche in der Kunst des Genies als Natur nach außen tritt. Der Künstler wurde ihm zum »alter deus«, der gerade darin die Natur imitiert, 42 43 44
Dorothea Lehner: Architektur und Natur. Zur Problematik des »Imitatio-NaturaeIdeals« in der französischen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts, S. 91. Niklas Maak: Der Architekt am Strand. Le Corbusier und das Geheimnis der Seeschnecke, S. 114. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, B181, §46.
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indem er sich von jeder objektbezogenen Regel entfernt und allein seiner »inneren Natur« folgt. Die kopernikanische Wende, die Kant für die Philosophie vollzog, hatte ihre Parallele in der Ästhetik und in der Architekturtheorie, da nun das Subjekt und die Wirklichkeit seiner Empfindungen sowohl beim Hervorbringen eines Werks als auch in der Rezeption zentrale Bedeutung erhielten. Architektonisches Gestalten wurde subjektbezogen zu einer Sache des »Geschmacks« und des »Gefühlsausdrucks«45. So wie in allen anderen Künsten sollte auch in der Architektur, so Dorothea Lehner, vor allem eine Wirkung beim Rezipienten erzielt werden46. Die subjektivistische Moderne zeichnet sich mit durch den Verlust einer objektivierbaren Vorbild-Abbild-Relation der Mimesis aus. Ihre Mimesis verfügt nur über eine »schwache Ontologie«, da ihre Wirklichkeiten perspektivisch geworden sind. Dennoch besitzen Kunst und in besonderer Weise Architektur den Anspruch, Wirklichkeit auszudrücken und darzustellen. Künste sind ontologisch, ob sie dies intendieren oder nicht. Eine schwache oder perspektivische Ontologie, der es nicht mehr um die Darstellung einer alles verpflichtenden Wirklichkeit gehen konnte, führte mit Nietzsches und Adornos Konzeptionen der Mimesis zu zwei unterschiedlichen Modellen. Nietzsche wollte die Mimesis der Antike restituieren, denn diese, so Peter Sloterdijk, sei ihm »eine Art von dauernder Gegenwart, eine Tiefenzeit, eine Naturzeit, eine Zeit des Seins, die unter dem Gedächtnis- und Innovationstheater der Kulturzeit weiterläuft,« gewesen47. Adorno dagegen verlangte eine »radikale Modernität«, die ihr Ideal in der Autonomie des Kunstwerks besitzt. Mimesis war ihm ein »Natürliches«, das die Rationalität einer »naturwüchsigen Gesellschaft« durchbrach und damit zu ihrer Kritik wurde. Dabei bezog sich Adorno wie bereits Kant vor ihm auf ein »Naturschönes«, das für ihn in den Werken der Kunst aufschien und dem er wie Kant einen ontologischen Status beilegte. 1.5 Mimesis als Darstellung und Ausdruck Über Mimik und Gestik artikulieren Menschen semantische Inhalte. Im Pantomimenspiel oder auch im Ballett wenden die Darsteller im bewegten Ausdruck eine Urform menschlicher Mitteilung an. Im frühen Kult waren es in der Antike rituelle Tänze, mit denen die Natur beschworen wurde. Diese ursprüngliche Be-
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Dorothea Lehner: Architektur und Natur. S. 109. Dorothea Lehner: Architektur und Natur. S. 109. Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 56.
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deutung der Mimesis, die im antiken Theater mündete, ist Darstellung und Ausdruck in einem prozessualen Vollzug. Darstellung ziele, so Thomas Metscher, auf das Weltganze und zeige sich vor allem in den bildenden Künsten, im Theater und in der Epik. Ausdruck sei dagegen etwas Inneres, ein Innerpsychisches, eine affektive Modellierung, der in einem anderen Medium eine andere Form von Artikulation und Gestaltung verlange. So seien Musik, Tanz und Lyrik primär Modi des mimetischen Ausdrucks, die bildenden Künste, Theater und Epik primär Modi mimetischer Darstellung48. Nur mit der Triade Nachahmung/Darstellung/Ausdruck sei der Begriff der Mimesis wirkungsgeschichtlich im vollen Umfang rekonstruierbar49. Die eher psychologisierende Deutung des Ausdrucks als individueller Empfindung ab dem 19. Jahrhundert verstelle, so Hans Georg Gadamer, seine rhetorische Tradition, die bei Hölderlin und Hegel noch weit mehr bestimmend gewesen sei50. Gadamer forderte, dass der Begriff des Ausdrucks von seiner modernen subjektivistischen Tönung gereinigt und auf seinen ursprünglichen grammatisch-rhetorischen Sinn zurückbezogen werden müsse. Das Wort »Ausdruck« entspreche dem lateinischen expressio, exprimere, das den geistigen Ursprung von Rede und Schrift bezeichne (verbis exprimere)51. Gadamer erkannte im Begriff »Ausdruck« seine Herkunft aus dem Sprachgebrauch der Mystik, welche auf die neuplatonische Begriffsbildung zurückweise52. Im 18. Jahrhundert habe dagegen der Begriff »Ausdruck« den Begriff der Nachahmung verdrängt. »Beherrschend«, so Gadamer, »ist der Gesichtspunkt der Mitteilung und Mitteilbarkeit, d. h. es geht darum, den Ausdruck zu finden.«53 Ausdruck sei nicht primär als Ausdruck der eigenen Empfindungen zu verstehen, sondern als Ausdruck, der Empfindungen errege54. Gadamer wollte die Bedeutung von »Ausdruck« nicht psychologisierend, sondern ontologisch verstanden wissen. Hegel habe in diesem Sinne im Ausdruck als Darstellung und Äußerung die eigentliche Wirklichkeit des Geistes gesehen55.
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Thomas Metscher: Mimesis, S. 19 und 20. Thomas Metscher: »Widerspiegelung/Spiegel/Abbild. III Spiegel und Imitation in der Neuzeit: Antikes Erbe und neuzeitliche Kunsttheorie«, S. 632. Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Bd. 2, S. 385. Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Bd. 2, S. 384. Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Bd. 2, S. 384. Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Bd. 2, S. 384. Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Bd. 2, S. 385. Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Bd. 2, S. 385.
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Hans Ulrich Gumbrecht weist beim Begriff »Ausdruck« seine frühere, ontologische Bedeutung bei Leibniz und Spinoza nach56. Gumbrecht erkennt bei beiden Autoren, dass das »Ausdrucksverhältnis primär als ein Verhältnis zwischen Wirklichkeit (Substanz) und ihrer Darstellung oder Erscheinung (Attribute) gedacht wird.«57 Leibniz habe den Begriff »Charakter« verwendet, im Sinne einer »Spiegelung des abgebildeten Gegenstandes«58, die dazu diene, »den abgebildeten Gegenstand erst überhaupt zur Erscheinung zu bringen und seine innere Gliederung zu durchschauen und zu überschauen.«59 Der ästhetische Gegenstand wie die Welt im Ganzen wurde so als Ausdruck oder Charakter der »Substanz«60 begriffen. Ist »Ausdruck« noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts Darstellung eines nichtsubjektiven »metaphysischen Grundes«61, so verlagert er sich ab diesem Zeitpunkt ins »Innere der Subjektivität«. Bei Kant ist es auch nur das »Genie«, das es vermag, »zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzufinden, und anderseits zu diesen den Ausdruck zu treffen, durch den die dadurch bewirkte subjektive Gemütsstimmung, als Begleitung eines Begriffs, anderen mitgeteilt werden kann.«62 »Ausdruck« wurde durch die subjektivistische Wende zur Darstellung von »Stimmungen«, welche bei Kant auf transzendente Inhalte verweisen, die das »Innere der Subjektivität« hervorzubringen vermögen. Noch im 19. Jahrhundert, so Hans Ulrich Gumbrecht, habe es »eine wachsende Identifizierung des ›Inneren der Subjektivität‹ mit einem ›metaphysischen Grund‹« gegeben. In Schopenhauers These von der Musik als Medium der Offenbarung des »Weltwillens« über Richard Wagners »Gesamtkunstwerk« bis hin zu Nietzsches Begriff des »Dionysischen« fände sich dessen wirkungsmächtige Fortsetzung63. Das nicht abbildhafte Verständnis von Mimesis erschließt mit dem Begriff »Ausdruck« den eigentlich ontologischen Inhalt des Kunstwerks. So verstanden besitzt der Begriff »Ausdruck« nach wie vor Gültigkeit für seine Verwendung in der Ästhetik. Auch für das Verstehen von Architektur steckt im »Ausdruck« mehr als nur ein Aufzeigen von emotionalen Zuständen des Subjekts. Die Verbissenheit in der Diskussion, mit der im 21. Jahrhundert über »ästhetischen Aus-
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Hans Ulrich Gumbrich: »Ausdruck«, S. 418-419. Hans Ulrich Gumbrich: »Ausdruck«, S. 419. Hans Ulrich Gumbrich: »Ausdruck«, S. 418. Hans Ulrich Gumbrich: »Ausdruck«, S. 418. Zitat von Friedrich Kaulbach. Neuplatonisch kann die sichtbare Welt als Emanation oder »Ausdruck« von Ideen verstanden werden. Hans Ulrich Gumbrich: »Ausdruck«, S. 421. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, §49, B198. Hans Ulrich Gumbrich: »Ausdruck«, S. 421.
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druck« gestritten wird, zeigt, dass es hier um grundsätzliche ontologische Standpunkte geht. Verbunden mit dem Begriff »Ausdruck« ist der der »Darstellung«. »Darstellung« geht auf die lateinische Übersetzung von Mimesis als »repraesentatio« zurück. Der Begriff der Repräsentation zielt zunächst auf abbildhafte Wiedergabe der Natur wie sie oben als Nachahmung der »natura naturata« beschrieben wurde. Er meint aber auch »Repräsentation« im Sinne von »Widerspiegelung von Welt«, wie sie vor allem von Georg Lukács ausgeführt wurde. Mit dieser Form von »repraesentatio« tritt das Darzustellende in Form von Symbolen, Metaphern und Allegorien auf, die ein bereits Gegebenes in das Medium der Kunst übersetzt. Die Begriffe »Ausdruck« und »Darstellung« lassen sich dabei nicht scharf trennen, denn die Darstellungsinhalte besitzen, in welcher Form auch immer sie auftreten mögen, einen Ausdruck. Wie im Theater verwendet die Architektur Masken und Symbole zur Darstellung individueller semantischer Inhalte. Das korinthische Kapitell ist z. Bsp. sowohl symbolischer Ausdrucksträger als auch eine Maskierung des rein mechanischen Konstruktionsproblems des Übergangs der Säule zum Architrav. Es gab, wie Günter Zehm ausführt, in der griechischen und römischen Sprache kein dem heutigen Begriff »Maske« entsprechendes Wort64. Die Römer »sagten stattdessen interessanterweise ›Persona‹. Der Begriff ›Person‹, den wir heute geradezu als die Inkarnation des Ich verstehen, bedeutete bei ihnen das scheinbare Gegenteil, die Verbergung des Ich, seine Reduzierung auf einen allgemeinen Typus, im Grunde seine bewusste Auslöschung.«
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Die Ornamentik in der antiken Architektur zeigt eine vergleichbare typologische Fragestellung und »Maskierung« ihrer konstruktiven Glieder. Neben den symbolischen und allegorischen Repräsentationen der Architektur sind es die rhythmischen Elemente, die ihren Darstellungs- und Ausdrucksgehalt bestimmt. Bereits in der antiken Frühform wurde das Mimetische als rhythmischer Prozess von unterschiedlichen Betonungen und Längen verstanden.66 Die architektonischen Rhythmen entsprechen dabei einer simultanen Bewegung und
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Günter Zehm: Maske und Mimesis, S. 20. Günter Zehm: Maske und Mimesis, S. 20. »[...] wahrnehmbar wird die Gliederung der Zeit erst dadurch, dass in einer Reihe von Zeiteinheiten in regelmäßiger Folge eine vor den anderen stärker hervorgehoben wird.« R. Volkmann und H. Gleditsch: Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, S. 84.
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können in Analogie mit rhythmischen Bewegungen des Menschen gesehen werden. Der Vitruvianismus legte den Grundrhythmus eines Gebäudes in den Abständen der Interkolumnien fest. Weitere rhythmische Elemente sind in allen sich wiederholenden Teilen wie dem Metopen- und Triglyphenfries, dem Zahnschnitt oder auch dem bekrönenden Abschluss der Palmetten an der Traufe des Tempels anzutreffen. Sie sind ein Grundthema der vormodernen und der modernen Architektur. Einen subtil entwickelten Rhythmus in der modernen Architektur besitzen z. Bsp. die »steel-beams« der »curtain wall«, wie sie Mies van der Rohe für seine amerikanischen Hochhäuser verwendete. Eine weitere Form der Mimesis besteht in der »Nachahmung von künstlerischen Vorbildern als Bedingung des Schaffens von Neuem [...].«67 Thomas Metscher bezieht diese Form eines nachahmenden Ausdrucks auf den neuzeitlichen Humanismus und dessen Verhältnis zur griechischen und römischen Antike 68 und damit auf festgelegte Ausdrucks- und Darstellungsinhalte. Imitation eines Vorbildes kann allerdings weiter gefasst werden und generell »die Nachahmung eines Lehrers durch seinen Schüler bzw. die eines klassischen Musters durch einen späteren Künstler [...]«69 bezeichnen. Sie kann sich aber auch nur auf die »Übernahme von Strukturprinzipien«70 beziehen. Für die Architektur ist diese Form von Nachahmung von großer Bedeutung, denn Architekturtraktate und Vorlagenbücher wurden für die direkte praktische Anwendung publiziert und damit ihre struktur- und oft abbildhafte Nachahmung intendiert.
D IE H ERKUNFT
DES
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Das griechische Denken maß bis Aristoteles den mimetischen oder musischen Künsten Musik und Dichtung eine höhere Rangstufe unter den schöpferischen Tätigkeiten bei als den bildenden Künsten. Der bildende Künstler galt als Demiurg, als Handwerker, dessen Kunst als »téchne« bezeichnet wurde. Eine Muse der bildenden Kunst habe es in der griechischen Antike nie gegeben, so Bernhard Schweitzer. Der Dichter sei, wenn er sein Wesen erfülle, Verkünder; Wort 67 68 69 70
Thomas Metscher: »Widerspiegelung/Spiegel/Abbild. III Spiegel und Imitation in der Neuzeit: Antikes Erbe und neuzeitliche Kunsttheorie«, S. 632. Thomas Metscher: »Widerspiegelung/Spiegel/Abbild. III Spiegel und Imitation in der Neuzeit: Antikes Erbe und neuzeitliche Kunsttheorie«, S. 632. Hermann Danuser: »Über Mimesis und Imitation in der Musik«, S. 157. Hermann Danuser: »Über Mimesis und Imitation in der Musik«, S. 157.
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und Ton seien für das wertende Bewusstsein dieser Zeiten edlere Mittler gewesen als Bronze und Marmor71. Der bildende Künstler dagegen sei »der Bewahrer eines ursprünglich göttlichen Erbes von Kenntnissen, nicht anders als der Bauer, der Tischler, der Schmied, der Schiffsbauer, ohne dass man das schöpferische Vermögen in ihm achtet.«72 Er sei in der allgemeinen Anschauung ein »Banausos« gewesen, Plastik und Malerei seien zu den banausischen Künsten gerechnet worden73. Die gewissermaßen horizontale Verknüpfung von Dichtung, Plastik, Malerei und anderen Künsten durch den modernen Begriff der Kunst sei der griechischen Antike bis zum Hellenismus, die auch kein Wort für das Verbindende geschaffen habe, überhaupt fremd gewesen74. Mimesis in der Antike bezog sich nach Schweitzer bis zum Zeitalter des Hellenismus ausschließlich auf die musischen Künste und stellte die bildende Kunst wie die Architektur auf eine Stufe mit dem Handwerk. Die von Schweitzer festgestellte architekturferne Herkunft des Begriffs bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass die Mimesis für die Architektur geringe Relevanz besessen hat. Das Verbum »mimeisthai« und das zugehörige Substantiv Mimesis waren zur Zeit Homers noch unbekannt und wurden erst ab dem 5. Jahrhundert im griechischen Sprachraum verbreitet75. Fuhrmann nennt zwei, von Anbeginn an unterschiedliche Bedeutungen des Wortes: Mimesis bezeichnete zum einen das optische oder akustische, realistische Abbilden und es bezeichnete das Nachahmen von Handlungen76. Steinhart verweist auf den ursprünglichen Begriff von Mimesis als Nachahmung von Personen und Vorbildern sowie von Natur in Form von Gestik, Tanz, Maske und Dichtung, der im Laufe seiner Verwendung eine »ständige Bedeutungserweiterung und zugleich eine zunehmende Abstraktion«77 erhalten habe. Die ontologische Bedeutung der Mimesis ging in die Philosophie und Kunsttheorie von Platon und Aristoteles ein. Daneben erhielt sich seine ursprüngliche Bedeutung, die mit Darstellung und Gestik in Riten und Schauspielen zusammenhing. »In den Bereich der Mimesis gehören nach antiker Auffassung [...] sich deutlich voneinander unterscheidende und überaus vielfältige Erscheinungen.«78 »Die Vielgestaltigkeit des Themas« dürfte, so Matthias Steinhart, eine Ursache sein, dass »eine Gesamtdarstellung des Phänomens, wie
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Bernhard Schweitzer: »Mimesis und Phantasie«, S. 288. Bernhard Schweitzer: »Mimesis und Phantasie«, S. 289. Bernhard Schweitzer: »Mimesis und Phantasie«, S. 288. Bernhard Schweitzer: »Mimesis und Phantasie«, S. 291, Note 7. Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 85. Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 85. Matthias Steinhart: Die Kunst der Nachahmung, S. 3. Matthias Steinhart: Die Kunst der Nachahmung, S. 2.
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sie von philologischer Seite mehrfach unternommen wurde, bisher nicht wirklich gelungen scheint.«79 Maria Kardaun diskutiert in ihrer Studie Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike die philologischen Aspekte des Begriffs. Kardaun unterscheidet hier drei mögliche Übersetzungen von Mimesis80. Als erste Übersetzung nennt sie »widerspiegeln«. Hierbei handle es sich meistens um Fälle, in denen das Subjekt unpersönlich und das Objekt der Mimesis etwas Abstraktes sei81. Als weitere mögliche Übersetzungen von »widerspiegeln« werden »wiedergeben«, »(unwillkürlich) gestalten«, »verkörpern«, »vorstellen«, »vergegenwärtigen«, »ein Ausdruck sein von« und »aufzeigen« genannt82. Als zweite Grundübersetzung nennt Kardaun »nachahmen«. Die zweite Bedeutung entspreche dem tatsächlichen Nachahmen eines Menschen oder eines Tieres83. Als dritte und wichtigste Grundübersetzung nennt sie »darstellen«. Hierbei ginge es darum, etwas absichtlich zum Ausdruck zu bringen. »Darstellen« meine den implizierten Versuch, auf bildhafte Art und Weise Erkenntnisse zu vermitteln, auch dann, wenn das Objekt der Mimesis etwas Abstraktes sei84. Namentlich für das künstlerische »mimeisthai« seien die deutschen Übersetzungswörter »darstellen«, »ausdrücken«, »zum Ausdruck bringen«, »Ausdruck verleihen« und »gestalten« sehr geeignet85. Mimetische Darstellungen, so Kardaun, seien mit den inneren und äußeren Sinnen unmittelbar wahrnehmbar86. Reines »Nachahmen« schließe kein Erkennen ein, wogegen die »Darstellung« ein Verstehen impliziere, wenn auch nur intuitiv. Das, was ein Kunstwerk bereits in der Antike auszeichnete, war die Erfahrung von Evidenz, mit der das Dargestellte erlebt wurde. Die mimische Darstellung setzt die Identität der Darstellung mit dem Dargestellten voraus87. Das mimetische Vermögen führt über das Medium des Kunstwerks der »Darstellung«
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Matthias Steinhart: Die Kunst der Nachahmung, S. 2 und 3. Kardaun verwendet die Verbform von Mimesis (mimeisthai). Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 20. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 20. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 20. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 20 und 21. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 21. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 19. »[...] Dass dort, wo wir von Kunst reden, gerade nicht der Seinsunterschied von Darstellung und Dargestelltem, sondern die volle Identifikation mit dem Dargestellten das Wesen der Darstellung ausmacht [...].« Hans-Georg Gadamer: »Dichtung und Mimesis«, in: Kunst als Aussage, S. 84.
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etwas zu, das auf keine andere Weise möglich ist und das als »Wahrheit des Mythos« bezeichnet werden kann. 2.1 Mimesis als Darstellung des Mythos Antikes Empfinden und Denken war mit den zyklischen Prozessen der Natur verflochten, deren Kräfte als Gottheiten wahrgenommen wurden. Das Verlassen des naturhaften Lebens in eine durch Technik beherrschte Welt verlangte eine neue Versöhnung mit der allumfassend wahrgenommenen Natur, die der Mythos (mýthos) in der Mimesis gewährte. Koller verweist in seiner Studie Die Mimesis in der Antike auf die enge Verknüpfung des antiken Kultes mit der etymologischen Herkunft des Begriffes Mimesis: »Die Beobachtung, dass mimos und alle davon abgeleiteten Begriffe ursprünglich nur in der Sphäre des Kultes, und zwar des orgiastischen Kultes, beheimatet sind, […] führte zur Vermutung, mimos bezeichne den Akteur oder die Maske des dionysischen Kultdramas.«88 Diese spekulativ bleibende These, zeigt die Herkunft und die Verknüpfung der Mimesis mit dem antiken Kult. Mit der ekstatischen Aufführung beim bacchantischen Tanz durch Rhythmus und Gestik in Begleitung von Musik und erzählendem Wort wurde eine Ganzheitserfahrung erzeugt, die den Einzelnen sowohl mit der Gemeinschaft als auch mit den Naturmächten versöhnte89. Die Ursprünge der Mimesis seien von der magischen Seite immer als Zauber, als Ritus gemeint gewesen, so Georg Lukács, und damit stets und streng zeremoniell. Die Tendenz, Töne, Worte, Gebärden rituell zu fixieren, folge zwangsläufig aus dem magischen Vorstellungskreis, in welchem die objektiven Ergebnisse, die durch den Ritus erreicht werden sollten das Beherrschen und Beeinflussen der transzendenten Mächte - an bestimmte
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H. Koller: Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1952, S. 119. Erwin Rohde beschrieb die thrakischen Tänze zu Ehren des Dionysos wie folgt: »Die Feier ging auf Berhöhen vor sich, in dunkler Nacht, beim unsteten Licht der Fackelbrände. Lärmende Musik erscholl, der schmetternde Schall eherner Becken, der dumpfe Donner großer Handpauken, und dazwischen hinein der zum »Wahnsinn lockende Einklang« der tieftönenden Flöten […]. Von dieser wilden Musik erregt, tanzt mit gellendem Jauchzen die Schaar der Feiernden. Wir hören nichts von Gesängen: zu solchen ließ die Gewalt des Tanzes keinen Athem. Denn dies war nicht der gemessen bewegte Tanzschritt, in dem etwa Homers Griechen im Paean sich vorwärts schwingen. Sondern im wüthenden, wirbelnden, stürzenden Rundtanz eilt die Schaar der Begeisterten über die Berghalden hin […].« zitiert nach: Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, S. 365.
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Worte, Gebärden etc. in einer bestimmten Reihenfolge gebunden seien90. Mit dem rituellen Tanz kam der Mythos zur Darstellung91. Der Einzelne vereinigte sich mit einer transzendenten Wirklichkeit, er hörte für eine Zeit lang auf, sich in seiner Einzelheit bewusst zu sein92. Der sakrale Rhythmus stelle eine Einheit her, so Ernesto Grassi, in der der Einzelne einbezogen werde93. Maske und Schmuck, körperliche Gestik und Gesang steigerten sich zu ekstatisch-dionysischen Dithyramben, bei denen der Einzelne im Erleben des Mythos aufging. Die Tanzbewegung, so Matthias Steinhart, habe in der Geschichte des mimischen Rollenspiels eine wesentliche Rolle eingenommen94. Tanzbewegungen hätten unterschiedliche Inhalte dargestellt, im einfachsten Fall seien Buchstaben ausgetanzt worden95. Mimische Tanzweise sei offensichtlich die Umsetzung von Buchstabenbeschreibungen wie sie in der griechischen Lyrik, Komödie und Tragödie wohlbekannt seien96. Steinhart nennt den Platon der Gesetze, der dort die gesamte tänzerische Kunst als eine Nachahmung des gesprochenen Wortes durch
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Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, S. 373. »Im Tanz werden natürliche oder mythische Geschehnisse gestisch nachgestaltet, um ihren Sinn für das Leben der Gesellschaft verfügbar zu machen und in der Wiederholung Erwünschtes zu evozieren oder Unerwünschtes abzuwehren.« Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand. Philosophische Theorie der bildenden Künste 1, S. 145. Die Darstellung des Mythos im Tanz nahm bei den Dionysien ekstatische Formen an. Thassilo von Scheffer beschreibt das die ganze Person Einnehmende des Mythos wie folgt: »Alle Religion wurzelt im Mythos, und der Mythos in seiner Herkunft ist selber ein Mysterium, er ist kosmisch. Alle dunklen Kulte erfordern und erzeugen Leidenschaft, ja Wildheit, sie sind ekstatisch und oft asketisch, jedenfalls streng fordernd, immer aber packen sie den Menschen im Innersten [...].« Thassilo von Scheffer: Hellenische Mysterien und Orakel, S. 17. Jenes Transzendente oder Wirkliche erhielt als Widerspiegelung eine »neue Objektivität«, die »auf den ganzen Menschen bezogen war« und die durch Umarbeitung half, »verborgene Inhalte zu entdecken und auch die bereits entdeckten in neuer Beleuchtung erstrahlen zu lassen.« Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, S. 381 und 382. Ernesto Grassi: Kunst und Mythos, S. 93. Matthias Steinhart: Die Kunst der Nachahmung, S. 6. Matthias Steinhart: Die Kunst der Nachahmung, S. 6. Steinhart verweist auf ein Zitat des Athenaios für den Amphiaraos des Sophokles: »Und in verwandter Weise ließ Sophokles in dem Satyrspiel Amphiaraos einen Mann auftreten, der die Buchstaben tanzte.« Athen. 10, 454f., Ebenda, Note 46. Matthias Steinhart: Die Kunst der Nachahmung, S. 6.
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Gesten bezeichnete97. Der Tanz übersetzte begriffliche Inhalte und ganze Handlungsstränge in ein körperhaft visuelles Ausdrucksmedium. Ernesto Grassi nennt es eine Eigentümlichkeit der antiken, mythischen Welt, die Phänomene zu verwandeln. Sie spiegelten einen Kosmos -eine Ordnung- wider, in dem die Erscheinungen des Alltags völlig verschiedene Geltungen hätten und in dem die diesen zugrunde liegenden Gesetze aufgehoben seien. Die Stiftung der religiösen Welt erweise sich als Heilung und Wiederherstellung einer zerbrochenen Wirklichkeit. Mythos als sakrale Wirklichkeit könne in dieser Hinsicht als ursprünglich gemeinschaftsstiftend gelten98. »Der Mythos, wie wir ihn in den primitiven Gemeinschaften antreffen«, so A. Goldenweiser, »- d. h. in seiner ursprünglichen Form- ist nicht bloße Erzählung, sondern lebendige Wirklichkeit, es geht nicht um Fiktion - ähnlich wie wir in Novellen oder Romanen genießen -, sondern um ein ursprüngliches Geschehen, das ununterbrochen die Welt und das Schick99
sal der Menschen beherrscht und bestimmt [...].«
Walter F. Otto benennt den Sinn des Mythos am Unterschied von Mythos und Logos: »Logos bezeichnet das ›Wort‹ von der subjektiven Seite des Denkenden und Sprechenden her als das Bedachte und Berechnete [...]. In einem ganz anderen, nämlich objektiven Sinn bedeutet Mythos das ›Wort‹. Hier ist nicht ein Bedachtes, Berechnetes, Sinnvolles gemeint, sondern das Wirkliche und Tatsächliche. Der Mythos ist die Sache selbst [...].[...] es ist das ›Wort‹ als unmittelbares Zeugnis dessen, was war, ist und sein wird, als Selb100
stoffenbarung des Seins in dem altehrwürdigen Sinn [...].«
Der Mythos umschließe, so Ernesto Grassi, die ewig bestehenden Elemente des menschlichen Daseins und stelle sie dar: was er offenbare, sei das stets Gegenwärtige101. Hans–Georg Gadamer weist auf die feierliche Bedeutung des Mythos hin, die der Laie mit diesem Wort im allgemeinen zu verbinden pflege und auf
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Matthias Steinhart: Die Kunst der Nachahmung, S. 6 und 7. »So ist denn die gesamte Tanzkunst ihrem Ursprunge nach zurückzuführen auf Nachahmung des Gesprochenen vermittels der Körperbewegung.« Platon: Gesetze, 816 (Übersetzung Otto Apelt). Ernesto Grassi: Kunst und Mythos, S. 90 - 93. Zitiert nach: Ernesto Grassi: Kunst und Mythos, S. 80. Walter F. Otto: Gesetz, Urbild und Mythos, S. 81. Ernesto Grassi: Kunst und Mythos, S. 82.
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seine tiefere, seinsstiftende Bedeutung102 . Im Mythos stecke »eine Art Vorstufe oder Ersatz der philosophischen Darstellung der Wirklichkeit.«103 Er zeigt in den Fabeln der Theogonie und Kosmogonie Kräfte und Mächte, die sowohl das »Natur- als auch das Menschenleben« durchwirken104 . Die Mimen der antiken Tragödie waren Sprachrohr einer anderen, dichteren Wirklichkeitserfahrung. Im mimetischen Vollzug des Geschehens wurde das erlebbar, was die Polisgemeinschaft zusammenhielt. Es seien die Musen, so Hans Heinz Holz105, die die Dichter inspirierten und ihnen den Mythos erzählten. Mit ihrem Erscheinen (Epiphanie) hätten die Kunstform und die Welterschlossenheit in Form des Gleichnisses denselben Ursprung: Die Muse sei selbst der Gesang »und dementsprechend hat das Singen und Sagen eine Bedeutung, wie nur das wahrhaft Göttliche es haben kann: es ist die Offenbarung des Seins der Dinge.«106 In der Architektur erscheinen die mythologischen Inhalte abstrakter, aber auch sie besitzt eine Gestik und Mimik in ihren Formen und sie besitzt symbolische Inhalte. Der Tempelbau besitzt organische Körperlichkeit, seine rhythmische Abfolge der Säulen und seine aus der Vorzeit übernommenen, maskenarti-
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»Mythos soll hier heißen: das was man erzählt, und zwar so erzählt, dass keiner daran auch nur zweifeln mag, so sehr sagt es uns etwas. Mythos ist das, wovon man erzählen kann, ohne dass jemand auf die Frage gerät, ob das auch wahr sei. Es ist die alle verbindende Wahrheit, in der sich alle verstehen.« Hans-Georg Gadamer: »Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute«, S. 209. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 44. Hoffmeister beschrieb den Mythos wie folgt: »Im weiteren Sinne wird unter Mythos jede sich aus Bestandteilen der Wirklichkeit aufbauenden und diese als Symbole für göttliche oder metaphysische Mächte und Kräfte verstehende, das Wesen der Erscheinungen in Bildern statt in Begriffen ausdrückende Darstellung metaphysischer Zusammenhänge des Natur- und Menschenlebens verstanden.« Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 419. Platon hat den Mythos nicht eingeschränkt auf die Fabeln von Gott- und Naturmächten, sondern hat ihn auch auf die Philosophie der Vorsokratiker angewandt: Der »Fremde« im Sophistes bezeichnet nicht nur Homer und Hesiod als Mythendichter, sondern auch die Philosophen Parmenides, Heraklit und Empedokles. Günter Figal: »Über Namen und Begriffe. Mythisches und logisches Denken in Platons Symposion«, S. 232. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand. Philosophische Theorie der bildenden Künste 1, S. 7. Walter F. Otto: Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens, Darmstadt 1954, S. 71, zitiert in: Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand. Philosophische Theorie der bildenden Künste 1, S. 43 und 44.
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gen Elemente, entfalten eine Wirkung und stimmten auf ein Ereignis ein, das jenseits der Alltagserfahrung stand. Architektur als weltschaffende und ontologische Kunst spannte die Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Phänomene in ihre allumfassende Einheit, sie schaffte eine zweite Wirklichkeit, indem sie den Mythos in Bildern zeigte. Wenn Mimesis, wie Bernhard Schweitzer aufzeigte, die bildenden Künste und die Architektur ausklammerte, und diese der »techné« zuordnete, so bedeutet dies nicht, dass die bildenden Künste und die Architektur nicht mimetisch waren. Vielmehr waren die Kunstformen nicht an die Gattungen gebunden, so dass die musikalischen Zahlen und Regeln Anwendung in der Architektur fanden. Wie wichtig die Musik und ihre Rhythmen für die Erfahrung der Welt waren, belegen die von den Pythagoreern aufgestellten Theorien im 5. Jahrhundert. Nach der pythagoreischen Zahlenmystik bestand die Weltordnung in den harmonischen Proportionen. Wer sie durch Musik erklingen ließ, ließ durch ihre Tonfolge den Bau des Weltalls erklingen107. Pythagoras erkannte, dass Saiten, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, eine harmonische Klangfigur ergeben108 . Es waren nach den Pythagoreern die musikalischen Proportionen, die den Lauf der Planeten bestimmten und ihre Sphären zusammenklingen ließen109 . Die musikalische Zahlentheorie stellte Strukturgleichheit mit einer geglaubten Wirklichkeit und den kosmischen Gesetzen her. So sollen die Pythagoreer »die Beziehung zwischen den konkreten Dingen und den Zahlen [...] als Mimesis bezeichnet« haben110. Wie sehr die pythagoreische Vorstellung der Zahl als Grund des Seins das antike Denken zur künstlerischen Form bestimmte, zeigt der Kanon des Polyklet. »Es ist bekannt,« so Hans Rose, »daß Polyklet eine Musterfigur gefertigt hat, die man den »Kanon« nannte. [...] Durch Galen ist bezeugt, dass Polyklet unter dem Titel »Kanon« eine Schrift über die Proportionen
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Platon: Timaios, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Fußnote 63, S. 153ff. So ergibt zum Beispiel eine Saite, die mit einer halb so langen angeschlagen wird, einen um eine Oktave höheren Ton. Die Quarte entsteht, wenn eine Saite, die im Verhältnis 3:4 steht, angeschlagen wird, die Quinte bei einer Teilung von 2:3. Platon: Timaios, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Fußnote 63, S. 153ff. »Aus diesem Grund nannte Platon die Philosophie Musenkunst, und schon vor ihm die Pythagoreer, und sie sagten, dass das ganze Weltall harmonisch eingerichtet sei, indem sie annehmen, dass alles, was mit der Musik zu tun hat, Werk der Götter sei. So sind ja auch die Musen Göttinnen, und der Gott Apollo ist der Anführer der Musen, und die ganze Dichtkunst ist religiöser Gesang. Ebenso weisen sie der Musik die Bildung des Charakters zu, da ja die ganze geistige Erziehung gottnah sei.« Strabon, zitiert in: H. Koller: Die Mimesis in der Antike, S. 176. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 28.
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des menschlichen Körpers verfasst hat, und dass er danach lehrte. [...] Die Schrift selbst ist bis auf geringe Reste verloren. [...] Man typisiert und normiert in der Befürchtung, dass das ›wahre‹ Abbild des Menschen, das man aufgefunden zu haben glaubt, wieder verloren gehen und die Kunst in den Bann des Primitiven zurücksinken könnte.«
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Mit der pythagoreischen Zahlentheorie vollzog sich eine Intellektualisierung des Mythos. Der Mimos, der bei den dionysischen Reigen in einen bacchantischen Taumel geriet und in enthusiastischer Manier eine Versöhnung mit der Natur herstellte, wandte mit den Pythagoreern eine musikalische Technik an. Mimesis im Sinne der Pythagoreer ist »ontologische Mimesis« und kann als »Form- und Fleischwerdung« eines Geistigen bezeichnet werden112. Da für die Pythagoreer alles Zahl war und durch Zahlenmagie beeinflusst werden konnte, konnte der Mensch durch Musik ergriffen und in eine ihr gleiche Schwingung versetzt werden. »Homoiotes ist also nicht Ähnlichkeitsbezeichnung zweier Gegenstände der Außenwelt, sondern die von den Pythagoreern als fundamental erkannte feste Korrelation von Innen und Außen. Mimesis […] ist die Leibwerdung dieses Psychischen, das seinerseits wiede113
rum nur in der Gestaltung erkannt werden kann.«
Ein Nachwirken der Musik als Medium der Mimesis zeigt das pythagoreische Gedankengut bei Platon und Aristoteles. Aristoteles, so Maria Kardaun, habe die Musik als eine höchst mimetische Kunstart aufgefasst114. Musik sei künstlerischer Ausdruck in reinster Form, die wegen ihres rein mimetischen Charakters für den Rezipienten keine Ansatzpunkte für eine rationale Kritik enthalte und daher auf ihn eine sehr direkte und eindringliche Wirkung habe115 . Wegen ihrer Wirkung habe Platon nur die musikalische Begleitung poetischer Texte zugelassen116. Musik und Tanz stellen den Schlüssel für das Verständnis des antiken Mimesisbegriffs dar. Die konsonantischen Schwingungen und Rhythmen des Mimos bewirkten einen »Einklang« sowohl mit dem Äußeren der Gemeinschaft
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Rose argumentiert weiter, dass nicht die pythagoreischen Zahlen Vorbild künstlerischer Nachahmung von Polyklet waren, sondern der goldene Schnitt. Hans Rose: Klassik als künstlerische Denkform, S. 52 und 53. H. Koller: Die Mimesis in der Antike, S. 130. H. Koller: Die Mimesis in der Antike, S. 140. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 40. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 40 und 41. Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, S. 40.
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als auch mit der Natur. Sie vollzogen das »Einswerden« des Subjekts mit dem Objekt der Mimesis117 . Die körperhafte Welt und die des Geistes waren bei den Pythagoreern von denselben Gesetzen bestimmt, weshalb sie wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen konnten. Der Musik kam wegen ihrer engen Beziehung zu diesen Gesetzen die Bedeutung der ersten und wichtigsten Erziehung zu. Sie bildete am reinsten die Zahlenverhältnisse ab und konnte damit unmittelbar beeinflussen, »weil der Mensch als entscheidende Aisthesis den inneren Sinn für die Rhythmen besitzt.«118 Erziehung war musikalische Einstimmung, Ethik eine musikalische Proportion, welche sich mit den Sinnen erfahren ließ119 . Erziehung durch Musik war von großer Wichtigkeit, weil sie am meisten ins Innere der Seele eindringt und sie am stärksten ergreift. Dies zeigt die Bedeutung des Rhythmus und der Bauteilproportionen in der Architektur: »Wir gehen rhythmisch, weil eine unregelmäßige Gangart viel zu anstrengend wäre […].120 Die betonten Glieder der Säulen wechseln sich ab mit den unbetonten Interkolumnien. Ein engerer Abstand der Interkolumnien bedeutet einen schnelleren Rhythmus als ein weiterer Abstand. Der einfache, gleichmäßige Rhythmus der Tempelarchitektur entwickelte sich mit der hellenistischen Architektur zu komplexeren Folgen, die das einfache Gehen in eine Art »Tanz« der architektonischen Elemente überführte121. Die Proportion wiederum basiert auf Zahlenverhältnissen, die sich nach der Musiktheorie darstellen lassen. Der ekstatische Ritus der dionysischen Feste sei zur »theoria« geworden, so Weidlé, zu einer abgeschwächten Form von Mimesis
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Wladimir Weidlé: »Vom Sinn der Mimesis«, S. 260. H. Koller: Die Mimesis in der Antike, S. 141. Aristides: »Gebraucht man die Harmonien in der oben besprochenen Weise, indem man entweder nach dem Gesichtspunkt der Wesensgleichheit die Harmonie an die jeweilige Seele heranbringt, so wird man die schlechte und versteckte sittliche Wesensart enthüllen und heilen, eine bessere hineinlegen und eine feste Überzeugung herbeiführen.« Zitiert nach: H. Koller: Die Mimesis in der Antike, S. 131. Dies galt auch im negativen Sinne: »Die wilderregten pyrrhischen Rhythmen der dionysischen und phyrgischen Tänze waren der adäquate Ausdruck der anomalen Seelenlage der Begeisterten, die getragen-feierlichen Tänze und Lieder des Apollokultes ließen den Gegensatz deutlich hervortreten.« H. Koller: Die Mimesis in der Antike, S. 131 ff. Frederik Adama van Scheltema: Die Kunst der Vorzeit, S. 41. »Metaphorisch betrachtet, kann man die Verhältnisse des Interkolumniums als geordneten Raum zwischen menschlichen Körpern verstehen, oder vielleicht sogar als rhythmische Struktur der Schrittfolge eines Tanzes […].«Alexander Tzonis, Liane Lefaivre: Das Klassische in der Architektur. Die Poetik der Ordnung, S. 98.
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bei den Pythagoreern in der Betrachtung des Kosmos und des geordneten Weltalls. Platon nennt diese Form der Mimesis »méthexis«, Teilhabe der Dinge an den Ideen122. 2.2 Platon: Ontologische Mimesis als Methexis Philosophische Bedeutung erhielt der Begriff Mimesis mit Platon, der mit ihm das wirkende Prinzip von Werden und Vergehen, die nachahmende Tätigkeit alles Seienden, als Teilhabe an einer unveränderlichen Ideenwelt bezeichnete. »Mimesis«, bei Platon, so Christoph Quarch, »heißt Darstellung und zwar Darstellung im Sinne der Epiphanie: etwas tritt in Erscheinung und zwar so, dass dasjenige, woran es in Erscheinung tritt, seine Bestimmtheit und Eigentümlichkeit ganz und gar durch das an ihm Erscheinende erhält.« 123 Das durch Mimesis Erscheinende sind bei Platon die Abbilder eines unveränderlichen Ideenkosmos124, mit denen er für die Kunst eine ethische Funktion einfordert. Platon spricht durch Sokrates in der Politeia vom recht Gemessenen und vom schlecht Gemessenen und bei den Tönen einer Rede von wohlgestimmten und übelgestimmten125. Wohlredenheit und Wohlgestimmtheit seien die Folge der Gutherzigkeit und diese sei das Zeichen einer wahrhaft trefflichen und wohlbeschaffenen sittlichen Gesinnung126 . Um diese zu erreichen, müsse das Umfeld des Menschen entsprechend gestaltet werden. Sokrates verweist auf die Malerei und alle mit ihr verwandten Tätigkeiten, die Weberei und Stickerei, die Baukunst und die Herstellung aller anderen Geräte sowie die Natur des Leibes und alles
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Wladimir Weidlé: »Vom Sinn der Mimesis«, S. 259. Christoph Quarch: Sein und Seele. Platons Ideenphilosophie als Metaphysik der Lebendigkeit; Interpretationen zu PHAIDON und POLITEIA, S. 175. Die Begriffe »idéa« und »eídos« leiten sich von »ideín«, »sehen«, ab und wurden vor Platon im Griechischen zur Bezeichnung der sichtbaren äußeren Form oder Gestalt der Dinge verwendet, das sinnlich »Gesehene«. Daran anknüpfend bezeichneten »idéa« und »eídos« im übertragenen Sinne die innere Form, die spezifische Natur einer Sache, das »Wesen der Dinge.« In jedem weiteren Gebrauch des Begriffs der »Idee« ist seine ursprünglich sinnliche Bedeutung enthalten. »Die Forschung hat häufig darauf hingewiesen, wie die geistige Kultur der Griechen eine Kultur der ›Schau‹ und damit der ›Form‹ als des Objekts der Schau war und wie sie z. B. der hebräischen Kultur, für die das ›Hören‹ oder das ›Horchen‹ – die ›Stimme‹ oder das ›Wort‹ Gottes und der Propheten hören – im Mittelpunkt stand, in vielerlei Hinsicht entgegengesetzt war.« Giovanni Reale: Zu einer neuen Interpretation Platons, S. 243-244. Platon: Der Staat, 400 St., übersetzt und erläutert von Otto Apelt, S. 108. Platon: Der Staat, 400 St., übersetzt und erläutert von Otto Apelt, S. 108.
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Lebendigen, denn alle diese zeigten edle oder unedle Haltung und die unedle Haltung und der Mangel an Maß und Harmonie sei verschwistert mit Übelreden und mit Schlechtherzigkeit127. »Schon bei der Schilderung der musischen Erziehung im 3. Buch der Politeia wird deutlich, dass die künstlerische Nachahmung sich nicht allein auf das Äußere der Dinge beschränken muss; ein Kunstwerk kann in seiner Wohlgemessenheit (tó eúrhythmon) viel128
mehr auch dem besonnenen und guten Gemüt verschwistert sein.«
Mimesis des Schönen werde erreicht, so Birgit Recki, wenn die Dinge und Verhältnisse dem rechten Maß entsprechen, auf das die Ordnung des Kosmos gegründet sei129. Mimesis der kosmischen Ordnung durch rechtes Maß und Rhythmus sind Grundlage jeder gelingenden »poíesis«. Platons Mimesisbegriff bestimmt sein Verdikt über die Kunst130. Das Höhlengleichnis im Staat illustriert die Nachrangigkeit der Kunst in ihrer ontologischen Wertigkeit, denn deren abgeschatteten Formen der Wirklichkeit, die nur das Abbild eines Abbildes nachahmen, waren für Platon negativ besetzt, »da die Kunst in einem doppelten Abstand von der Wahrheit sei.«131 Gadamer bezeichnete dies als bewusste Zuspitzung132. Reine geometrische Formen waren für Platon wahr, weil sie »Ideen« darstellten. Sie besaßen zwingende Evidenz, ihre Richtigkeit schien verbürgt, weshalb ihre Anwendung im Profanen für Platon mit einem Vorbehalt belegt war133. Gadamer bezieht sich auf zwei Begriffe im Politikos, die das Besondere des künstlerischen Empfindens in Hinsicht auf das richtige Maß darstellen. Dieses zeige sich im Begriff des Angemessenen (métrion) als das »Genaue selbst« (autò to akribés)134. Dieses »Genaue selbst« meine das »genaue Treffen«. Das reine Wissen der Mathematik reiche nicht aus, wo es
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Platon: Der Staat, 401 St., übersetzt und erläutert von Otto Apelt, S. 109. Birgit Recki: »Mimesis. Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines missverstandenen Zeitbegriffs«, S. 117. Birgit Recki: »Mimesis. Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines missverstandenen Zeitbegriffs«, S. 117. Berhard Schweitzer: Platon und die Bildende Kunst der Griechen, S. 87 und 88. Hans–Georg Gadamer: »Wort und Bild – so wahr, so seiend«, S. 381. Hans-Georg Gadamer: »Wort und Bild – so wahr, so seiend«, S. 381. »Plutarch erzählt, wie Versuche, die Gesetze auf den Maschinenbau anzuwenden, den heftigsten Widerstand Platons hervorriefen, der eine Entwürdigung der Geometrie darin sah, daß sie auf praktisch–mechanische Probleme angewendet, in die sinnlich–körperliche Welt herabgezogen werde.« Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, S. 132. Hans–Georg Gadamer: »Wort und Bild – so wahr, so seiend«, S. 382.
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auf das genaue Treffen ankomme135 . Für die Praxis des Lebens genüge es nicht, sich auf die göttliche Wissenschaft von den reinen Zahlen, Kreisen und Dreiecken zu beschränken. Zur menschlichen Anwendung gehören durchaus auch der »falsche« Kreis und ebenso das »falsche« Maß. Selbst bei der Musik und der Baukunst, in denen die Zahlen und Maße eine besonders hervorragende Rolle spielen, komme es auf die Kunst des Treffens an136. Wenn nun das Maß diese entscheidende Bedeutung besitzt, so erhält die Architektur ein besonderes Gewicht unter den bildenden Künsten. Keine Kunst arbeitet akribischer mit Maßen als die Architektur. Wie die pythagoreischen Zahlenharmonien vermag die Architektur exakte Verhältnisse zu erzeugen und dadurch eine geglaubte kosmische Harmonik herzustellen. Im Unbegrenzten des Raumes (dem ápeiron) sind die Formen der Dinge durch Begrenzungen (tò péras) bestimmt137. »Mit Hilfe des Prinzips der Begrenzung entstehen im Unbegrenzten feste, zahlenmäßig ausdrückbare Maße und Maßverhältnisse, das émmetron und die symmetría (Philebos 2526c). Symmetrie im ursprünglichen Sinn, also Proportion, ist alles«
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.
Der im platonischen Timaios aufgeführte Demiurgos, der Weltenbaumeister, »errichtet das Weltgebäude mittels der Proportion, welche ›das schönste der Bänder‹ ist, so wie der Architekt und der Bildhauer wohlberechnete Maßverhältnisse ihren Werken zugrunde legen. Demiurgos, so werden der Baumeister und der Bildhauer zu Platons Zeit genannt«
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»So geht es offenkundig bei Harmonie, bei Stimmigkeit, bei Schönheit. In diesen Fällen ist in der Tat die kleinste Abweichung schon schlimm. Ein einziger falscher Ton, in der Musik so gut wie im Umgang der Menschen miteinander, stört bereits die Harmonie wie die Stimmung. Dabei kann man nicht einmal sagen, was das Angemessene eigentlich gewesen wäre, und doch wissen wir mit voller Gewissheit, was das Unangemessene war, das die Harmonie gestört hat.« Hans-Georg Gadamer: »Wort und Bild – so wahr, so seiend«, S. 382. Hans-Georg Gadamer: »Wort und Bild – so wahr, so seiend«, S. 385. Bernhard Schweitzer: Platon und die Bildende Kunst der Griechen, S. 87 und 38. Bernhard Schweitzer: Platon und die Bildende Kunst der Griechen, S. 38. »[...] Sie begründet den Rhythmus der Jahreszeiten, die rechte Mischung der Kräfte im Körper, die Rechtschaffenheit der Seele, Gesundheit des Leibes und des Geistes, Schönheit und Kraft, endlich die Tonkunst. Gesetz und Ordnung halten durch Abgrenzung vom Unbegrenzten, durch Maß im Unmaß, durch Proportion ihren Einzug in die Welt und in die Seele des Menschen.« Ebenda. Bernhard Schweitzer: Platon und die Bildende Kunst der Griechen, S. 39.
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Bei Platon, so Bernhard Schweitzer, werde das Kunstschöne nicht in Verbindung mit einem schöpferischen Vermögen gebracht, sondern dieses sei Abbildung des Naturschönen140. Da dieses Naturschöne in den Proportionen bestand, kam der Baukunst bei Platon eine besondere Bedeutung zu: »Unter allen Künsten ist es dann schließlich die Baukunst, die der späte Platon noch am ehesten gelten lässt. Sie blieb bis in Platons Tage offensichtlich an ihren sakralen Ursprung gebunden und bewahrte über alle innere Wandlungen hinweg, im Großen betrachtet, jene Formenkonstanz, die er an der ägyptischen Kunst bewunderte. Platon selbst suchte ihren Vorrang allerdings anders zu begründen. Sie beruht im wesentlichen auf festen Maßverhältnissen, und die genaue Anwendung zahlreicher Maße und Werkzeuge verleiht ihr eine besondere Exaktheit (Philebos 56b). Im Sophistes (265 c-d) unterscheidet Platon hervorbringende und nachahmende Künste. Als hervorbringende hat aber die Baukunst einen nicht einzuholenden Vorsprung vor der Plastik und der Malerei, die sich in der Nachahmung erschöpfen.«
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Hervorbringende Künste sind bei Platon die poietischen Künste (poietiké), nachahmende oder darstellende Künste die mimetischen (mimetiké)142 . Die Architektur war nach der Definition im Sophistes eindeutig zu den hervorbringenden Künsten zuzuordnen, zu welchen für Platon auch ganz einfache, handwerkliche Tätigkeiten gehörten. Grundsätzlich unterschied Platon bei den hervorbringenden Dingen zwischen den Naturdingen und den menschlichen Artefakten143. Architektur ist »nachahmend«, »bildhaft darstellend« und besitzt wie alles Hervorbringen ihre Herkunft in den platonischen »Ideen«144. Architektur war Platon eine »hervorbringende
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Bernhard Schweitzer: Platon und die Bildende Kunst der Griechen, S. 39. Bernhard Schweitzer: Platon und die Bildende Kunst der Griechen, S. 87 und 88. »[...] und darum gilt es offenbar zunächst die hervorbringende Kunst in zwei Teile zu spalten. Denn die Nachahmung ist eine Art Schaffen (Hervorbringen), wohlgemerkt aber nur von Bildern, nicht von wirklichen Gegenständen.« Platon: Sophistes, 265 St., übersetzt und erläutert von Otto Apelt, S. 122. »Vielmehr setze ich voraus, dass die sogenannten Naturdinge durch göttliche Kunst geschaffen werden, diejenigen dagegen, die aus diesen von Menschen gebildet werden, durch menschliche Kunst hervorgebracht werden und dass es dieser Lehre gemäß zwei Arten der hervorbringenden Kunst gibt, eine menschliche und eine göttliche.« Platon: Sophistes, 265 St., übersetzt und erläutert von Otto Apelt, S. 123. »Die Ideen sind nicht »wirkende« Ursachen, sondern »Endursachen«, nicht schöpferische Mächte, sondern Musterbilder, Zweckursachen paradeígmata, wie sie in der platonischen Schule weiterhin genannt werden.« Otto Apelt, Fußnote 114 zu Platon: Sophistes, 265 St., übersetzt und erläutert von Otto Apelt, S. 122.
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Mimesis« und insofern der »schaffenden Natur«, der »natura naturans«, vergleichbar. Als solche besitzt sie mit der Musik, die gleichermaßen die Natur nicht abbildet, den Vorzug, näher am »Sein« als die anderen Künste zu sein. Beide Künste fertigten Werke nach Prinzipien, nach denen der Demiurg die Welt geschaffen hatte und waren damit ontologisch145. Die Natur als Werk des Demiurgen war das verbindliche Wahre und dieses Wahre musste das Werk des Menschen bestimmen, damit sein Werk sich in das kosmische Gefüge integrierte. Schönheit der Form stand deshalb für Nähe zur Wahrheit, Hässlichkeit für Ferne zu ihr. Schönheit war für Platon fast synonym zum Begriff des Guten, denn alle Bereiche des Seins bezogen sich letztlich auf dieselben Grundprinzipien des Kosmos, in welche sich das menschliche Leben mit seinen Werken einzuordnen hatte146 . Das Ziel eines gelingenden Lebens bestand darin, die Ordnung der »Ideen« zu erkennen und das Leben an ihnen auszurichten. Die Werke des Menschen hatten dies bei Platon zu unterstützen und anzuregen. So war die rechte musikalische Entwicklung wichtig, weil »Zeitmaß und Wohlklang am meisten in das Innere der Seele eindringen und sich ihr auf das kräftigste einprägen.«147 Proportion und Maß liegt der Musik wie der Architektur zugrunde, weshalb beide Künste durch eine entsprechende Ordnung den größten Einfluss auszuüben vermögen und dadurch erzieherisch sind148 . Platon
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»Kunst ist Mimesis (Nachahmung, Darstellung): Das Wesen der Mimesis bestimmt sich aus ihrem Verhältnis zur Wahrheit. Wahrheit meint das Wissen um das wahrhaft Seiende (ONTOS ON), das Wissen um die Ideen.« Günther Pöltner: Philosophische Ästhetik, S. 35. Im Philebos greift Platon die bei Heraklit und Empedokles geführte Klassifizierung des »Schönen als Fügung, als Einigung, als Harmonie von Teilen oder gar von Gegensätzen auf; dort heißt es vom Schönen, dass es begrenzt und ebenmäßig sei, dass seine Teile zueinander in einem proportionierlichen Verhältnis stünden (Philebos 25d-26b). Platon hat hiermit gleichsam das Motto des europäischen Klassizismus formuliert.« Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 84. Platon: Politeia, 401d St., übersetzt von Friedrich Schleiermacher, S. 133 und 134. H. Koller hat in seiner Arbeit über die Mimesis in der Antike den starken Einfluss des Musiktheoretikers Damon auf Platon dargestellt: »Es kann als gesichert gelten, dass Platon den Mimesisbegriff aus der Musiktheorie Damons übernommen hat.« H. Koller: Die Mimesis in der Antike. S. 21. »Damon war der berühmteste Musiklehrer in der Blütezeit Athens, Zeitgenosse des Anaxagoras und Lehrer und Freund Perikles. Er wird von Platon mehrfach wie eine Art musikalisches Orakel zitiert.« In: Platon: Der Staat, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Fußnote 66, S. 457. »Nach 400b (im Staat) hat Damon eine strenge Systematik der Rhythmen aufgestellt, indem er bestimmte báseis den kósmioi und andreíoi zuwies, andere aber als Ausdruck der Unfreiheit (aneleutería), des Übermuts (hýbris) und der Raserei
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gehe es um »Klarheit und Ruhe« im Ausdruck und damit um eine Wirkung auf die »leibliche Verfassung«149 des Rezipienten. Der musikalische Rhythmus »durchstimmt das Leben [...]«150, er ist Erziehung und gibt »die Umrisse eines ästhetischen Ethos« ab151 . »Der Rhythmus sei ein Mittel gegen das hemmungslose Herumspringen; er unterwirft die Bewegung einer Form.«152 In der Politeia stellt Platon einen unmittelbaren Bezug von »Tonarten« und psychischer Verfasstheit her153 . Die Musik soll hier durch die »Ruhe«, die sie bewirke, zum Mittel werden, in der Seele philosophische Tugenden wie Besonnenheit und Tapferkeit hervorrufen. Die wirklich »darstellende Kunst«, so Günter Figal, ist »darin wahr, dass ihre Werke sich im Nachvollzug als immanent stimmig erweisen lassen.«154 Jene Stimmigkeit erreichen sie bei Platon in der »ungemischten Nachahmung der tugendhaften Gesinnung.«155 Künstlerischer Ausdruck und Charakter des Mimen sind bei Platon nicht zu trennen, sondern bedingen sich. Der Mime ist nicht distanziert, sondern geht notwendig vollkommen in der Darstellung auf. In der Politeia unterteilt Platon die Künste in drei Kategorien: »die gebrauchende, die verfertigende und die darstellende« Kunst156 . Den höchsten Rang nimmt die gebrauchende Kunst ein. Die verfertigende Kunst ist in ihrem Gelingen abhängig vom Gebrauch und die darstellende Kunst ist noch weiter vom Gebrauch entfernt, da Platon nur die abbildhafte Nachahmung meinte, wie sie beispielhaft die Malerei hervorbringt. Da die Architektur nicht wie die Malerei abbildet, schätzte sie Platon hoch ein, da er sie wegen ihrer Nähe zu den »Ideen«
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(manía) betrachtete. […] Damon lehrte also, dass Lied- und Tanzformen entstehen, wenn die Seele sich irgendwie bewegt, freie und schöne Seelen bringen sogeartete hervor, die gegensätzlichen aber gegensätzliche.« H. Koller: Die Mimesis in der Antike, S. 22 und 23. Günter Figal: »Rhythmus als Ordnung der Bewegtheit«, S. 96. Günter Figal: »Rhythmus als Ordnung der Bewegtheit«, S. 97. Günter Figal: »Rhythmus als Ordnung der Bewegtheit«, S. 103. Günter Figal: »Rhythmus als Ordnung der Bewegtheit«, S. 102. »Diese zwei Tonarten, eine gewaltsame und eine zwanglose, die am besten die Sprechweise solcher nachahmen, die sich im Unglück oder im Glück befinden und dabei besonnen und tapfer sind, mußt du mir übrig lassen.« Platon: Politeia, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, St 399ff. Günter Figal: »Die Wahrheit und die schöne Täuschung. Zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie im platonischen Denken«, S. 217. Platon: Der Staat, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, 397, S. 103. Günter Figal: »Die Wahrheit und die schöne Täuschung. Zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie im platonischen Denken«, S. 215. Günter Figal übersetzt die nachahmende, die mimetische Kunst als darstellende Kunst.
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geeigneter hielt, sein erzieherisches Ideal zu erfüllen. Die ästhetische Erfahrung öffnete die Sinne in kalkulierter Weise und keine Kunst erreichte höhere Genauigkeit für ihn darin als die Architektur und die Musik. Maß und Grenze waren für ihn die entscheidenden Kriterien guter Architektur, denn mit ihnen zeigte sich die Proportion. Proportion und Rhythmus sind Elemente der Musik und der Architektur und in diesen Künsten wichtige Mittel der Erziehung. 2.3 Aristoteles: »ars imitatur naturam« Mimesis ist der zentrale Begriff in der Poetik des Aristoteles (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.). Obwohl sich der Text von Aristoteles nur am Rande mit der bildenden Kunst beschäftigt und die Architektur ganz ausklammert, lassen sich mit ihm Ableitungen für die Architektur treffen. Aristoteles beschrieb generell künstlerisches Tätigsein als mimetisches Tun: »Da der Dichter ein Nachahmer (mimetés) ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muss er von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, dass sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten.«157
Die Poetik des Aristoteles beschränkt sich auf die Dichtung (poetiké) und ihre Gattungen (eíde)158 . Über seine Beschreibungen zur Dichtkunst lassen sich allerdings Schlüsse für die bildenden Künste herstellen159 . Dichtkunst verstand Aristoteles von ihren semantischen Inhalten, der sprachlichen Technik und ihren musikalischen Ausdrucksmitteln als mimetische Disziplin.160 Bei der Tragödie kam
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Aristoteles: Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, 1460b, S. 104. Aristoteles: Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, 1447a, S. 37. Aristoteles: Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, 1447a, S. 37 und 38. »Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen (mímesis). Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, dass sie je verschiedene Mittel, oder dadurch, dass sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, dass sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen. Denn wie manche mit Farben und mit Formen, indem sie Ähnlichkeiten herstellen, vielerlei nachahmen, die einen auf Grund von Kunstregeln (téchne), die anderen durch Übung, und andere mit ihrer Stimme, ebenso verhält es sich auch bei den genannten Künsten (téchnai): sie alle bewerkstelligen die Nachahmung mit Hilfe bestimmter Mittel, nämlich mit Hilfe des Rhythmus und der Sprache (lógos) und der Melodie (harmonia), und zwar verwenden sie diese Mittel teils einzeln, teils zugleich.« Zu Gegenstand, Mittel und
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die Handlung, welche Aristoteles als Mythos (mýthos) bezeichnete, hinzu. Mit den handelnden Personen erschien allgemeingültig und exemplarisch das menschliche, durch die Mythen bestimmte Schicksal161 . Die Tragödie, das zeigen die überlieferten Texte, kann ohne die begleitende Musik verstanden werden. Ihr eigentlicher Inhalt ist Mimesis als Darstellung des Mythos im Vollzug der Handlung162. Der Mythos war für Aristoteles das Ordnende, das die Handlungen in Bildern gegenwärtig sein lässt und in der Tragödie ein Ganzes entstehen lässt. Dies unterscheidet die mythische Handlung primär von den Handlungen des täglichen Lebens Dieses gleicht einer fließenden Abfolge von Handlungen und Entscheidungen, die sich in ihrem letzten Zusammenhang nicht erschließen. Im Unterschied hierzu zeigt das Schauspiel durch klare Grenzen und Gliederung eine Ganzheit auf163 . »Aristoteles versteht ›mímesis‹ als Darstellung, die das Dargestellte auf Abstand bringt, sodass man es, anders als in einer durch affektive Betroffenheit und Handlungsinteressen geprägten Situation, betrachten kann.«164 Das Erleben der Tragödie geht nicht auf in den Affekten von »Furcht und Mitleid«, sondern
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Modus der Tragödie bei Aristoteles siehe: Bernd Seidensticker: »Aristoteles und die griechische Tragödie«, S. 20. »Allgemeingültig sind aber auch die in die tragische Handlung eingeschriebenen Fragen und Aussagen zum Wesen des Menschen und seiner Existenz: zur gefährlichen Verbindung von Erfolg, Hybris und Sturz; zur Undurchschaubarkeit der Welt und der Beschränktheit menschlichen Wissens und Handelns durch Schicksal und göttliche Mächte;« Bernd Seidensticker: »Aristoteles und die griechische Tragödie«, S. 27. »Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos. An zweiter Stelle stehen die Charaktere. Ähnlich verhält es sich ja auch bei der Malerei. Denn wenn jemand blindlings Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag er nicht ebenso zu gefallen, wie wenn er klare Umrisszeichnungen herstellt.« Aristoteles: Poetik, 1450a, S. 53. »Wir haben festgestellt«, so Aristoteles, »dass die Tragödie die Nachahmung (mímesis) einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung (práxis) ist, die eine bestimmte Größe hat. Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen (mýthoi), wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an diese Grundsätze halten.« Aristoteles: Poetik, 1450b, S. 55. Günter Figal: »Nietzsche liest Aristoteles. Mimesis und Katharsis«, S. 121.
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schließt durch die Distanz des Mythos die Betrachtung mit ein. Aristoteles hat sich in der Poetik zwar nicht zur Architektur geäußert, da er aber die Künste insgesamt als nachahmende Tätigkeiten bezeichnete, kann der Begriff des Mythos, so wie ihn Aristoteles verstand, als Modell für die Architektur dienen. Auch für diese gilt, dass sie nicht nur Fragmente und Episoden der Wirklichkeit zitiert, sondern dass ihre Teile so »zusammengefügt sein müssen, dass sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird.«165 Das Ziel der aristotelischen Tragödie besteht darin, durch Nachahmung Jammer und Schrecken hervorzurufen166 sowie durch Erschütterung eine Katharsis herbeizuführen. Architektur kann zu vergleichbaren Erschütterungen führen, wie sie die Tragödie, die Dichtung oder die Musik im Menschen erreichen. In ihrer Wirkung ist sie mit der Musik der Tragödie am nächsten. Die Erschütterungen der Architektur sind allerdings andere wie die der Tragödie. Der Schrecken der Tragödie basiert im Eintreten eines scheinbar unabwendbaren Schicksals, welches die Architektur offenbar nicht besitzt. Die Erschütterungen, die von ihr ausgehen, haben etwas mit dem Erleben der Elemente und den inneren Gesetzen der Natur zu tun. Architektur scheidet die Naturelemente und macht sie als solche erlebbar; sie erscheinen in ihr in der Lichtführung, der Schwerkraft, den Proportionen und ihren rhythmischen Gliederungen. Neben seiner Bedeutung in der Poetik verwendete Aristoteles den Begriff Mimesis, um die Herstellung von Artefakten durch die »téchne« zu beschreiben. Dieser Bereich menschlichen Handelns wurde von ihm der Naturphilosophie zugeordnet und als Nachahmung der Natur beschrieben. Bei der aristotelischen Mimesis in der Poetik geht es um die Definition der darstellenden Künste, der Musik und der Dichtung sowie der Malerei, also um Künste, die zunächst keinen anderen Zweck verfolgen, als »Kunst« zu sein. Davon ist eine »Kunst« verschieden, die ihr Ziel im Erreichen von Zwecken besitzt. Beide »Künste« waren für Aristoteles »téchne«, wobei die »téchne« der Poetik sich auf den handelnden und darstellenden Menschen bezieht, im Unterschied zur »téchne« der Artefakte, bei der es um das Hervorbringen materiell zweckhafter Gegenstände im Bezug zur Vollkommenheit von Natur und Kosmos geht, und die deshalb der Naturphilosophie zuzuordnen ist. »téchne mimeitai ten physin« (»ars imitatur naturam«) »Kunst ist Nachahmung der Natur«167, mit dieser Formel reduzierte Aristoteles in der Physik menschliches Handeln als nachahmende Tätigkeit in Abhängigkeit
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Aristoteles: Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, 1451a, S. 58. Aristoteles: Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, 1453b, S. 70. Aristoteles: Physik, übersetzt von Hans Günter Zekl, 194a, 21f.
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von der Natur. Dabei ist die »téchne« »denkbar weit« zu verstehen, »nicht nur als handwerkliche Verfertigung, sondern allgemein als Bewerkstelligung von etwas, das als Ziel gegenüber dem Bewerkstelligungsvorgang äußerlich ist.«168 »téchne« ist deshalb unzureichend mit dem neuzeitlichen Begriffen »Kunst« oder »Technik« übersetzt, weil Aristoteles letztlich jedes Hervorbringen in Form von Artefakten und Handeln des Menschen dem Begriff der »téchne« subsumierte. Doch in welcher Weise soll »téchne« die Natur nachahmen und inwiefern besitzt dieses Nachahmungsverhältnis grundsätzlich Relevanz für die Architektur? Das Nachahmungsverhältnis, das der »téchne« zugrunde liegt, bezieht sich auf die Prinzipien der Natur. »Die Natur bringt nach Aristoteles zum einen weder etwas vergebens oder umsonst noch aus Zufall hervor, und sie bringt zum anderen immer und unter allen Umständen, d. h. zu169
gleich auch nach Maßgabe dieser beliebigen Umstände, das beste hervor.«
Die menschliche »téchne«, die sich die Prinzipien der Natur aneignete, hat sich demnach nur an die Teleologie der Natur zu halten, das heißt, sie muss mit ihren Artefakten vergleichbar das Beste erreichen. »Die formale Identität von natürlichen und technischen Prozessen geht nach Aristoteles so weit, dass er glaubte, ein Haus würde, falls es ein Naturprodukt wäre, genauso entstehen wie es tatsächlich mit Hilfe der »téchne« erreicht werde.«
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Technische und natürliche Teleologie gleichen sich also, denn in beiden Prozessen geht es um ein Ziel (»télos«), das es durch Umformung von Materie (»hyle«)
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Günter Figal: Erscheinungsdinge, S.168. Alexander Aichele: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 47. Helmuth Schneider: Das griechische Technikverständnis. Von den Epen Homers bis zu den Anfängen der technologischen Fachliteratur, S. 214. Schneider bezieht sich auf folgenden Passus der Physik: »Wenn z. B. ein Haus zu den Naturgegenständen gehörte, dann entstünde es genau so, wie jetzt auf Grund handwerklicher Fähigkeit; wenn umgekehrt die Naturdinge nicht allein aus Naturanlage, sondern auch aus Kunstfertigkeit entstünden, dann würden sie genau so entstehen, wie sie natürlich zusammengesetzt sind.« Aristoteles: Physik, übersetzt von Hans Günter Zekl, 199a.
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zu erreichen gilt171 . Weiter berücksichtigt Aristoteles den Kontext, der für das Besondere der Form entscheidend ist: »Von einem jeden (Ausgangspunkt) aus ergibt sich für ein jedes nicht dasselbe, und schon gar nicht etwas Beliebiges, allerdings will sich immer (wieder) dasselbe bilden, wenn 172
nicht etwas störend eintritt.«
Da die »téchne« und die »physis« gleichen Prinzipien folgen, versprach sich Aristoteles zudem durch die »téchne« eine bessere Kenntnis der Natur173. Aristoteles scheint damit ganz einem modernen Szientismus das Wort zu reden, allerdings mit entgegengesetzter Perspektive zu diesem, denn, so Hans Blumenberg, für Aristoteles bestehe »Kunst« darin, einerseits zu vollenden, was die Natur nicht zu Ende zu bringen vermag, andererseits (das Naturgegebene) nachzuahmen. Natur und »Kunst« seien bei ihm strukturgleich zu denken: die immanenten Wesenszüge der einen Sphäre könnten für die der anderen eingesetzt werden. Es sei also sachlich begründet, wenn die Tradition die aristotelische Definition auf die Formel »ars imitatur naturam« verkürzt habe174 . Was jedoch Aristoteles als antiken Menschen bestimmte und nicht mehr für ein neuzeitliches Denken gelten kann, »ist die Notwendigkeit, warum ein Werk immer nur Wiederholung der Natur sein kann.« Natur sei bei Aristoteles der Inbegriff des überhaupt Möglichen. Geist könne gar nicht anders bestimmt werden denn als eine Fähigkeit in Bezug auf das All des Schon-Seienden. Der Kosmos sei das All des Wirklichen und des Möglichen zugleich. So sei das immanente Gesetz aller Bewegungen die ewige Selbstwiederholung des Seins175. Die aristotelische »téchne« kann als nachahmende Kunst die Natur nicht verlassen, da sie durch dieselben ontologischen Prinzipien bestimmt ist. Für die »technische Produktion in ihrer notwendi-
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Allerdings gilt für die Natur, dass sie dies aus sich selbst erreichen muss. »Naturgemäß nämlich (verhält sich) alles, was von einem ursprünglichen Antrieb in sich selbst aus in fortlaufender Veränderung zu einem bestimmten Ziel gelangt.« Aristoteles: Physik, übersetzt von Hans Günter Zekl, 199b. Aristoteles: Physik, übersetzt von Hans Günter Zekl, 199b. »[...] wenn hingegen die Kunstfertigkeit der Naturbeschaffenheit nacheifert und es Aufgabe eines und desselben Wissens ist, Form und Stoff bis zu einem gewissen Grade zu kennen [...], so wäre es Aufgabe auch der Natur-Wissenschaft, beide Begriffe von Naturbeschaffenheit zur Erkenntnis zu bringen.« Aristoteles: Physik, übersetzt von Hans Günter Zekl, 194a. Hans Blumenberg: »›Nachahmung der Natur‹ Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, S. 9 und 10. Hans Blumenberg: »›Nachahmung der Natur‹ Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, S. 24 und 25.
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gen relativen Vollkommenheit« ist die »Vorbildhaftigkeit der Entstehung natürlicher Dinge« begründet.«176 »Als Gegenstand der Nachahmung, welche die Kunst anstrebt, bleibt demnach nur noch die Natur, sofern sie als Prinzip des Vorliegens von Einzeldingen begriffen wird.«177 Der entscheidende Unterschied von natürlichen Dingen und menschlichen Artefakten besteht allerdings darin, dass die natürlichen Dinge einem »internen, mithin wesenhaften Prinzip« folgen, dagegen die menschlichen Artefakte »bezüglich ihres Produkts« einem »externen, mithin akzidentiellen Prinzip«178. Aristoteles erkannte im Artefakt als wesentlichen Unterschied zur Natur seine Heterogenität und seine Abhängigkeit vom Zufall, weshalb es, auch wenn dieses die Natur für den Menschen vollkommener macht, die Natur in ihrer Perfektion nicht erreicht. Ursache ist der Zufall und dass das Prinzip des entstehenden Dinges nicht in der Natur selbst liegt, also wesenhaft ist, wie folgender Passus der Nikomachischen Ethik zeigt: »Vorwurf jeder Kunst ist das Entstehen, das regelrechte Herstellen und die Überlegung, wie etwas, was sowohl sein als nicht sein kann und dessen Prinzip im Hervorbringenden, nicht im Hervorgebrachten liegt, zustande kommen mag. Auf das, was aus Notwendigkeit ist oder wird, geht die Kunst so wenig, wie auf das, was von Natur da ist oder entsteht, da derartiges das bewegende Prinzip in sich selber hat. Da nun das Hervorbringen vom Handeln verschieden ist, so muss die Kunst auf das Hervorbringen, nicht auf das Handeln gehen. Und in gewissem Sinne bewegen sich die Kunst und der Zufall um das nämliche Ob179
jekt, wie Agathon sagt: ›Die Kunst den Zufall liebt, der Zufall die Kunst‹.«
Obwohl der Zufall das Hervorbringen begleitet und das externe Prinzip des Hervorbringenden das Artefakt bestimmt, kommt der Vernunft für Aristoteles die entscheidende Rolle zu: »Da aber zum Beispiel ein das Vermögen zu bauen eine Kunst und ein mit Vernunft verbundener Habitus des Hervorbringens ist, und da ferner keine Kunst zu finden ist, die kein mit Vernunft verbundener Habitus des Hervorbringens wäre, und umgekehrt auch kein solcher Habitus, der nicht Kunst wäre, so wird Kunst und mit wahrer Vernunft verbundener Habitus des Hervorbringens ein und dasselbe sein.«
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Aichele Alexander: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 41. Aichele Alexander: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 42. Aichele Alexander: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 42. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt von Eugen Rolfes, 1140a, S. 120. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt von Eugen Rolfes, 1140a, S. 120.
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Aristoteles legte damit rationale Kriterien für das Hervorbringen durch den Menschen zugrunde. Dies unterscheidet wesentlich seinen Begriff der Mimesis im Sinne einer »ars imitatur naturam« von seinem Begriff der Mimesis in der Poetik, in der er auf die Darstellung des Mythos zielt. Das Hervorbringen von Dingen ist sowohl in der Natur als auch bei den Artefakten ein Bewegungsakt. Aristoteles entwickelte zur Bestimmung der Bewegung die »Vier-Ursachen-Lehre«, nach der die Dinge sich durch die »causa materialis«, die »causa formalis«, die »causa finalis« und die »causa efficiens« ableiten lassen. Eine entscheidende Bedeutung kommt dabei der »causa finalis« zu, der eigentlichen Zweckbestimmung eines Gegenstandes, denn die »Bestimmung einer jeden realiter möglichen Sache – sei sie Naturding, sei sie Artefakt – und die letzthinnige Bildung ihres Begriffs erfolgen demnach durch Abstraktion und Verallgemeinerung der je sich zeigenden causa finalis.«
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Das besondere einzelne Ding allerdings lässt sich durch die »causa finalis« nicht vollkommen erfassen, denn alle Dinge sind letztlich verschieden, so »dass weder der Arzt irgendeine abstrakte Gesundheit wiederherstellt noch der Baumeister ein Haus an sich erbaut.«182 Erst das Zusammenwirken der vier Ursachen ergebe ein Bauwerk oder stelle die Gesundheit wieder her. Dies allerdings ist, im Unterschied zu den Naturdingen, wegen des »eingeschränkten Erkenntnisvermögens bezüglich aller den Entstehungsprozess des jeweiligen angezielten Resultates ebenjener Bewegung beeinflussenden Faktoren«183 niemals ganz erkennbar und damit gestaltbar. Einzig der Natur selbst gelingt dies nach Aristoteles. Denn die Natur »bringt weder etwas vergebens oder umsonst noch aus Zufall hervor, und sie bringt zum anderen immer und unter allen Umständen, d. h. zugleich auch nach Maßgabe dieser beliebigen Umstände das beste hervor.«
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Wenn die natürlichen Prozesse derartig perfekt sind, »so kann die Kunst gar nicht umhin, die Natur nachzuahmen, wenn sie ihrem Zweck optimal angemessene, d. h. nach Maßgabe der Umstände vollkommene Gegenstände produzieren will.«185 181 182 183 184 185
Alexander Aichele: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 45. Alexander Aichele: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 45. Alexander Aichele: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 47. Alexander Aichele: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 47. Alexander Aichele: »Finalursache und Vollkommenheit«, S. 60.
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Aristoteles rechnete die Baukunst zu den Artefakten, die der Formel »ars imitatur naturam« zu genügen haben. Die Bestimmungen der Baukunst, insbesondere die Rolle der »causa finalis«, sind scheinbar rein funktionalistisch. Allerdings bestand für Aristoteles noch nicht das Problem, dass die »téchne« Natur nicht nur transformiert und menschlichen Zwecken angleicht, sondern die Natur selbst, wie in der Moderne, durch die menschliche »téchne« bedroht wird. Das aristotelische Verständnis von Mimesis verweist bereits auf die unterschiedlichen Aspekte, die jede angewandte Kunst, die zugleich darstellende oder Ausdruckskunst ist, zusammendenken muss. Denn obwohl Aristoteles die Architektur wohl nur der »téchne« zuordnete, die der Zweckerfüllung zu genügen hat, war sie offensichtlich zugleich eine darstellende Kunst. Sie lässt sich sowohl im Sinne einer »ars imitatur naturam« als auch im Sinne der Kriterien der aristotelischen Poetik verstehen. Hier spricht offensichtlich das künstlerische Werk des griechischen Tempels eine andere Sprache als die philosophische Reflexion, denn eine besondere Verbindung zu einem Transzendenten maßen die Griechen, wie vorne berichtet, den bildenden Künsten und der Architektur bis zum Zeitalter des Hellenismus nicht bei186. Die Veränderung des Mimesis-Begriffs zu einem Begriff, der auch die bildenden Künste umfasste, wurde nach Bernhard Schweitzer in der hellenistischen Phase nicht mehr durch eine weitere Dehnung des Begriffs erreicht, sondern Mimesis sei durch den Begriff der »phantasía« ersetzt worden. Im Weltbild der Stoa sei die Gottheit dem Kosmos immanent und sie sei als Gegenstand der Erkenntnis transzendent. Die gleiche Doppelnatur besitze die »phantasía«. Sie sei zugleich Teil der das All durchströmenden, göttlichen Vernunft, müsse aber, wenn sie die Gottheit erkennen wolle, ihren Weg über die Natur und den Kosmos nehmen187. Es ist offensichtlich, dass bereits die frühe griechische bildende Kunst und die Architektur ein darstellendes mimetisches Moment in einem hohen Maße besaßen. Wladimir Weidlé will dies für die Architektur so belegen, indem er eine Ansichtskarte des Parthenon mit einem Gemälde des Bauwerks vergleicht. Im Gemälde des Parthenon werde der »erkannte oder postulierte Sinn« erfahren, der der Karte fehle. Dieser Sinn wurzle in einem Unsichtbaren, auf das sich die Mimesis beziehe188. Als darstellende Kunst ist die Architektur nicht nur »ars imitatur naturam«, sondern darüber hinaus bezogen auf das Ganze des Menschen. Hier wäre es vordergründig, die Form nur auf ihre archäologische Herkunft zu untersuchen und die Architektur aus ihren konstruktiven Wurzeln mit einer
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Bernhard Schweitzer: »Mimesis und Phantasie«, S. 296 ff. Bernhard Schweitzer: »Mimesis und Phantasie«, S. 298. Wladimir Weidlé: »Vom Sinn der Mimesis«, S. 255.
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handwerklichen Kunst, wie dem Holzbau zu begründen, denn die Metamorphosen zum Tempelbau wurden durch eine Vielzahl von Inhalten überlagert, die keinen Bezug zum Bauen enthielten und nur durch ihre darstellenden Inhalte verstanden werden können. Bildende Kunst, Plastik und Architektur machen den Logos sichtbar, sie sind ein Abbild der Weltvernunft und erreichen damit die Vergegenwärtigung eines Ungegenständlichen. So wenig, wie an einem Götterbild der Athena die einzelne Gewandfalte den Sinn der Mimesis entschlüsselt, so wenig erschließt er sich in der Triglyphe des Parthenon. Sinn zeigt sich im Zusammenklang unterschiedlicher Momente zu einem Ganzen, wie ihn Aristoteles für die Tragödie in der Erfahrung des Mythos aufzeigte. 2.4 Vitruv: Architektur als nachahmende Kunst Vitruv verwendete den Begriff Mimesis in seinen Schriften zur Architektur nicht. Stattdessen finden sich in den Zehn Büchen über Architektur die Begriffe »imitatio« und »decor« sowie griechische Begriffe wie »symmetria« und »eurythmia«, welche, indem sie zusammengedacht werden, annähernd der griechischen Mimesis entsprechen. Vitruvs Zehn Bücher über Architektur sind das einzige überlieferte Werk der Antike zur Architektur, so dass seinem Werk eine besondere Bedeutung für die Architekturtheorie zukommt. Vitruv gliederte seinen Architekturbegriff in drei Kategorien auf, von denen firmitas und utilitas als zweckhafte Kategorien ein direktes Anknüpfen an der Teleologie der Natur bedeuten und die venustas die anmutige Erscheinung des Gegenstandes betrifft189. Die von Vitruv eher beiläufig verwendeten Begriffe sind zu Schlagworten geworden und ließen einen Vitruv in den Hintergrund treten, der versuchte, das gesamte Wissen seiner Zeit mit der Architektur in Verbindung zu bringen. Vitruv hatte sich mit seinen Zehn Büchern über Architektur vorgenommen, »omnes disciplinae rationes« darzulegen, also das gesamte Wissen für die Baukunst aufzuführen190 . Technisches Wissen steht dabei gleichrangig neben philosophischer Kosmologie und einer genealogischen Spekulation über ihre Herkunft191.
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Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 3. Kapitel, 15, 20. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, Vorrede, 2, 15 und 4. Buch, Vorrede, 83, 15. So forderte er neben dem technischen Wissen, dass ein Architekt Philosophen gehört haben, etwas von Musik verstehen, nicht unbewandert in der Heilkunde sein, juristische Entscheidungen kennen und Kenntnisse in der Sternkunde sowie vom
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Im 1. Kapitel des 2. Buches berichtet Vitruv »vom Ursprung der Gebäude«. Er verweist dabei auf den ursprünglich sozialen Grund der Architektur. Die Menschen hätten sich, nachdem die Natur durch Zufall Feuer erzeugt habe, durch mimische Gebärden über dessen Erhalt ausgetauscht, woraus die Sprache entstanden sei. Mit der Sprachfähigkeit und dem aufrechten Gang hätte die eine Gruppe begonnen aus Laub Hütten zu bauen, die andere habe am Fuß der Berge Höhlen gegraben und wieder andere hätten die Nester der Schwalben nachgeahmt, indem sie aus Lehm und Reisig Behausungen herstellten192. Den ersten Behausungen, die direkte Imitationen der Natur waren, folgen dann bei Vitruv verschiedene Varianten primitiver Hüttenbauweisen bis zu dem, was Vitruv mit dem Begriff »architectura« verbindet, zu der die »bestimmten Berechnungen symmetrischer Verhältnisse« gehören, ihr mimetisch-ästhetischer Gegenstand193 . Vitruv ginge es, so Dorothea Lehner, »von verschiedenen Seiten her den Beweis zu erbringen, dass seine Kunst in einem engen Nachahmungsverhältnis zur Natur stehe.«194 Dabei ist die Nachahmung oder »imitatio« der Natur sowohl Nachahmung der »ontischen Natur«, wie im Falle des Nestbaus, als auch »ontologische Mimesis«. »Venustas » entstand für Vitruv durch die »symmetria« der Glieder und deren richtige Berechnung, der »ratiocinatio«195 sowie durch die Verwendung des richtigen »decor«. »symmetria« und »eurythmia« sind aufeinander bezogen und handeln von den Proportionen, während das »decor« sich auf die Angemessenheit der formalen Mittel bezieht, aber auch für das funktional Zweckmäßige steht. Der Begriff »venustas« erscheint deshalb zu schwach mit »Anmut« übersetzt und ist besser mit »Schönheit« wiedergegeben, geht es doch mit der »venustas« um die eigentlich mimetischen Inhalte der Architektur. »venustas« in der Architektur war Vitruv »imitatio« der Natur unter Verwendung eines anthropomorphen Architekturmodells, dessen Proportionierung den Regeln der »symmetria« folgte. Architektur ist für ihn dabei in zweierlei Weise an die Verhältnisse des menschlichen Körperbaus gebunden: Sie ist Übernahme der menschlichen Physiologie in den architektonischen Körper und sie ist zugleich ontologisch, indem sie Zahlen und Zahlverhältnisse verwendet196 ,
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gesetzmäßigen Ablauf der Himmelserscheinungen besitzen sollte. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 1. Kapitel, 2, 15-4, 5, S. 23-25. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 2. Buch, 1. Kapitel, 33-34, 15ff, S. 79-81. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 2. Buch, 1. Kapitel, 36, 10, S. 85. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 7. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 3. Kapitel, 15, 25, S. 45. »Wenn also die Natur den menschlichen Körper so zusammengesetzt hat, daß seine Glieder in den Proportionen seiner Gesamtgestalt entsprechen, scheinen die Alten
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die Vitruv als Grundstruktur von Natur und Kosmos galten. Vitruvs ideal proportionierter Mensch ist in elementargeometrische Formen einbeschrieben und wird dadurch zum Paradigma von Form überhaupt197. Kein Tempel könne ohne Symmetrie und Proportion eine vernünftige Formgebung besitzen, (sine symmetria atque proportione rationem habere) wenn seine Glieder nicht in einem bestimmten Verhältnis (exactam rationem) stünden, wie die Glieder eines wohlgeformten Menschen198. »symmetria« war für Vitruv das innere Organisationsprinzip des Bauwerks, das sich auf die Maßeinheit, das »modulus« (»embater«), bezieht, welches aus dem Bauwerk selbst (ex ipsius operis) stammt199. Alle Glieder sollen sich auf diese Maßeinheit beziehen und so »eurythmia« und »symmetria« erzeugen200 . Die Maßberechnungen seien, so Vitruv, bei allen Bauwerken den Gliedern des Körpers wie Finger (Zoll), Palm (Handfläche), Fuß und Elle entlehnt201. Die wesentlichen Formgrenzen des menschlichen Körpers beruhten dabei auf aliquoten Bruchteilen und deren proportionalen Verflechtungen. Werden diese in der Baukunst entsprechend ausgeführt, so entstehen die »symmetrischen Eurythmien«202 . Vitruv ging es um Zahlenproportionen, mit denen er die aus der griechischen Antike überlieferte Verbindung von anthropomorpher Gestalt und architektonischer Form herstellen konnte. Dabei basiert die Bindung anthropomorpher »symmetrien« auf der »ratiocinatio« und deren Bruchteile. Die Bruchteile wie-
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mit gutem Recht bestimmt zu haben, dass auch bei der Ausführung von Bauwerken diese ein genaues symmetrisches Maßverhältnis der einzelnen Glieder zur Gesamtgestalt haben.« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 1. Kapitel, 66, 5ff, S. 139. »Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur des Quadrates an ihm finden.« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 1. Kapitel, 66, 5ff, S. 139. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 3. Buch, 1. Kapitel, 65, 5ff, S. 137. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 2. Kapitel, 11, 15, S. 37. Rode übersetzt »eurythmia« mit Übereinstimmung, »symmetria« mit »Ebenmaß«: »Übereinstimmung ist die Schönheit, das gefällige Aussehen der Theile in der Zusammensetzung. Sie wird hervorgebracht, wann sich die Höhe der Theile des Gebäudes zur Breite, und die Breite zur Höhe geziemend verhält; und überhaupt alles dem Ebenmaße entspricht. Ebenmaß ist das gute Verhältnis der Theile eines Gebäudes gegen einander und der einzelnen Theile gegen das Ganze, nach Maßgabe eines bestimmten Theils.« August Rode: Des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst, S. 26. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 3. Buch, 1. Kapitel, 66, 15ff, S. 137. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 2. Buch, 2. Kapitel, 12, 15ff, S. 39.
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derum wollte Vitruv an »vollkommene Zahlen« binden, die die Griechen »teleon« genannt hätten und die am menschlichen Körper anzutreffen seien203. Vitruv zeigt eine doppelte Mimesis in der Verwendung der Proportion in der Baukunst: Bindung an absolute Zahlen, die ontologische Bedeutung besaßen, und deren proportionale Beziehungen beim menschlichen Körper. Mit dieser doppelten Mimesis als Grundlage, die die »ontische Mimesis« des menschlichen Körpers mit der »ontologischen Mimesis« der absoluten Zahl verbindet, entwickelte Vitruv die Proportionen der Säulenordnungen. Diese waren für ihn analog zur menschlichen Physiologie eines Mannes im Falle der dorischen Ordnung204 , zur »fraulichen Schlankheit«205 bei der ionischen Ordnung und zur »jungfräulichen Zartheit«206 bei der korinthischen Ordnung. Vitruv leitete die ornamentale Gestalt der Ordnungen von der Erscheinung des gewählten Vorbilds ab, so dass zur proportionalen Analogie die phänomenale trat. Die Griechen hätten, so Vitruv, durch zwei unterschiedliche Entlehnungen (vom menschlichen Körper) zwei Säulen erfunden, eine vom männlichen Körper ohne Schmuck – nackte Schönheit –, die andere mit fraulicher Zierlichkeit, fraulichem Schmuck und fraulichem Ebenmaß207. Die Architektur wird im 2. Kapitel des 4. Buches weiter als Nachahmung ihrer selbst dargestellt, indem die dorische Ornamentik mit dem konstruktiven
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»Wenn aber auf Grund der Finger an beiden Händen 10 von Natur aus vollkommen ist, so glaubte auch Platon, diese Zahl sei deshalb vollkommen, weil die Zehnheit aus Einheiten hervorgeht, die die Griechen ›Monaden‹ nennen. Sobald diese (Einheiten) aber 11 oder 12 geworden sind, können diese Zahlen, weil sie mehr sind (als 10), nicht vollkommen sein, bis sie wieder zur zweiten Zehnzahl kommen.« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 3. Buch, 1. Kapitel, 66, 20ff, S. 139-141. »[...] Als sie dann bemerkt hatten, dass der Fuß beim Manne der sechste Teil der Körperhöhe war, übertrugen sie dies (Maßverhältnis) ebenso auf die Säule, und sie machten die Säule einschließlich des Kapitells sechsmal so hoch, wie sie den Schaft unten dick machten.« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 4. Buch, 1. Kapitel, 85, 20ff, S. 171. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 4. Buch, 1. Kapitel, 85, 25ff, S. 171. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 4. Buch, 1. Kapitel, 86, 15ff, S. 173. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 4. Buch, 1. Kapitel, 86, 5ff, S. 171. Die Ornamentik des ionischen Tempels beschreibt Vitruv wie folgt: »Unter die Basis (hier: das unterste Ende des Säulenschaftes) legten sie an Stelle des Schuhs einen Säulenfuß (spira), am Kopf brachten sie rechts und links Voluten an, die wie gekräuselte Haarlocken bei der Frauenfrisur vorhingen; die Stirnseiten schmückten sie mit Wülsten (cymatiis) und Fruchtgeschnüren (Festons, encarpis) an Stelle der schön gekämmten Haupthaare, und an dem ganzen Säulenschaft ließen sie Streifen (Kannelüren) herabgehen, wie bei Frauengewändern Gewandfalten üblich sind.« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 4. Buch, 1. Kapitel, 86, 5ff, S. 171.
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Holzbau erklärt wird. Damit wird eine weitere Form der Mimesis thematisiert, die Transformation oder der »Stoffwechsel« des Holzbaus in den Steinbau. Vitruv behauptete, dass das, was in Wirklichkeit (am Holzbau) nicht entstehen könne, auch keine Berechtigung bei Nachbildungen (am Steinbau) haben könne208 . Allen Nachahmungen der Ordnungen ginge der konstruktive Holzbau voraus. Auch dieser habe seine festgelegten Symmetrien und Proportionen hinterlassen209. Der Begriff der Nachahmung ist bei Vitruv denkbar weit gespannt210, so dass die »architectura« zur synthetischen Kunst wird, bei der bereits in ihrem Entstehen der Anspruch bestand, unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche miteinander zu verbinden. Grundlegend war Vitruv die anthropomorphe Gestalt der Architektur, welcher der anthropomorphe Charakter der antiken Götterwelt entsprach. Die in der Mythologie beschriebenen Götter und deren charakterlichen Eigenschaften gaben ihr »decor« dem Bauwerk vor, denn das »decor« war mit »probatis rebus«, also mit anerkannten Teilen und mit »auctoritate« herzustellen211 . Es forderte das Schickliche oder das sich Geziemende einer Bauaufgabe und bezog sich sowohl auf die Ornamentik des Tempels als auch auf dessen Lage212. Für Minerva, Mars und Herkules sei es angemessen wegen deren mannhaften Wesens dorische
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Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 4. Buch, 2. Kapitel, 90, 10, S. 179. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 4. Buch, 2. Kapitel, 90, 15, S. 181. Die Nichterwähnung der Mimesis bedeutet nicht, dass Mimesis bei Vitruv eine untergeordnete Bedeutung besessen hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Dorothea Lehner hat in ihrer Dissertation die wesentlichen mimetischen Momente bei Vitruv aufgezeigt: »Vitruv entwickelt also verschiedene Konzepte der Naturnachahmung, bzw. der Mimesis in der Architektur: 1. Nachahmung verstanden als Weiterbildung der Verfahrensweisen der Natur (Höhlenbau, Nester). 2. Nachahmung verstanden als Übernahme der Strukturgesetze der Natur (Proportionsgesetze des Kosmos, bzw. des menschlichen Körpers). 3. Nachahmung als Übertragung der Proportionsverhältnisse des menschlichen Körpers, hier verstanden als Analogie mit der äußeren Erscheinung. 4. Nachahmung verstanden als Abbildung realer (Natur-) Objekte (Säulenbasis, – schaft, und Kapitell als menschlicher Fuß, Leib und Kopf usw.) Der Kernpunkt seiner Nachahmungstheorie liegt zweifelslos in der Entwicklung der Symmetrie oder Proportionsgesetze.« Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 8. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 2. Kapitel, 12, 25, S. 39. »Dekor von der Natur her aber wird so sein, wenn erstlich für alle Tempel die gesündesten Gegenden und an den Orten, an denen Heiligtümer errichtet werden sollen, gesunde Wasserquellen ausgesucht werden, [...].« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 2. Kapitel, 13, 20, S. 41.
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Tempel ohne Schmuck zu errichten, für Venus, Flora, Proserpina und die Quellnymphen wegen ihres zarten Wesens Tempel im korinthischen Stil, da dieser die passenden Eigenschaften verkörpere213. Das »decor« eines Bauwerks war sowohl Symbol als auch morphologische Ähnlichkeit zu seiner Bestimmung und beim Sakralbau Teil der Versinnlichung eines transzendent Göttlichen. »decor« könne, so Georg German, auch als Lehnübersetzung für den griechischen Begriff »to prepon« betrachtet werden214, so dass mit dem Begriff »decor« Vitruvs Architekturtheorie um den Bereich des Ethischen erweitert worden sei, denn »to prepon« bedeute das »Schickliche«. Das »decor« als Bauschmuck basiert auf »consuetudo« (Gewohnheit) und soll der »dignitas« (Würde), die eine Bauaufgabe einfordert, entsprechen215. Eine weitere Bedeutung von »decor« ist das »decor naturalis«, mit dem Vitruv dem Funktionsbegriff nahe kommt. Das griechische »to prepon« verlangt hier, dass »für alle Tempel die gesündesten Gegenden und an den Orten, an denen Heiligtümer errichtet werden sollen, gesunde Wasserquellen ausgesucht werden [...].«216 »decor naturalis« kann darüber hinaus die richtige Orientierung von Räumen zur Sonne bedeuten217 . Auch im 3. Kapitel des 3. Buches geht es in der Darstellung der Interkolumnien um Mimesis. Die ursprünglich griechischen Begriffe wie »pyknostylos«, »systylos«, »diastylos«, »aerostylos« und »eustylos« behandeln das Interkolumnium im Verhältnis zur Säulendicke. Wie vorne gezeigt, stellt der alternierende Rhythmus von Säulen und Interkolumnien eine Taktfolge dar, die mit dem menschlichen Gehen in Analogie steht. Durch Eng- und Weitstellung von Säulen konnten dem Sakralbau weitere charakterliche Kennzeichen verliehen werden. Vitruv nennt zwar exemplarische Beispiele, ordnet allerdings kein Interkolumnium einer bestimmten Gottheit zu. Trotzdem besteht eine Verbindung des Interkolumniums zur jeweiligen Ordnung, denn je schlanker die Säule ausgebildet wird, desto enger muss der Säulenabstand sein. Die korinthische Säule ist des-
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Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 2. Kapitel, 13, 25ff, S. 39 und 41. Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 23. Siehe auch: Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 23. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 2. Kapitel, 13, 20ff, S. 41. »Ebenso wird Decor von Natur her da sein, wenn für Schlafzimmer und Bücherzimmer vom Osten her Licht gewonnen wird, für Badezimmer und Wintergemächer von der Winterabendseite (SSW), für Bildergalerien und Räume, die gleichmäßiges Licht gebrauchen, vom Norden [...].« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 1. Buch, 2. Kapitel, 14, 5ff, S. 41-43.
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halb geeigneter für den »pyknostylos«, während die dorische Säule wegen ihrer gedrungenen Gestalt sich besser für den »diastylos« eignet218. Vitruvs Werk zur Architektur verwendet mehrfach griechische Begriffe, so dass ihm vermutlich griechische Texte vorlagen, aus denen er exzerpierte. Dies erklärte auch die unsystematische Anordnung der einzelnen Kapitel und deren disparate Themen. Griechischen Ursprungs ist Vitruvs Zentralbegriff der »symmetria«, hinter dem sich die Proportionslehre einer »harmonia mundi« verbirgt, welche die Sphären des Himmels und des Menschen durchwirkt
D IE M IMESIS
IN DER
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3.1 Mikrokosmos und Makrokosmos Mit der Renaissance gewann die Mimesis eine andere Qualität, denn nun sollte ein Bauwerk die Formen und Regeln der Antike übernehmen, um die eigene Zeit zu erneuern. Die Auseinandersetzung der Renaissance mit der antiken Architektur führte zu einem neuen Studium von Vitruvs Werk. Leon Battista Alberti (1407-1472), dessen Zehn Bücher über die Baukunst219 wohl das wichtigste Architekturtraktat der Renaissance ist, übernahm Vitruv jedoch nicht vorbehaltlos. Ursächlich hierfür war Vitruvs Verwendung griechischer Termini, die für Alberti in ihrer Bedeutung nicht eindeutig waren und ihn deshalb zu dem Urteil brachte »daß es gleich wäre, er hätte es überhaupt nicht geschrieben [...].«220 Alberti ging es nicht um eine ursprüngliche griechische Architektur, sondern er wollte die Architektur der römischen Antike restituieren221. Er verband das empirische Studium der überlieferten Monumente mit dem Studium antiker Quellen, nicht um eine wörtliche Nachahmung der Antike einzufordern, sondern den Geist der römischen Antike mit der eigenen Zeit zu verbinden. Albertis Konzeption einer erneuerten Antike begründet die Architektur folgerichtig in ihrer Kosmologie als ontologische Mimesis. Die Suche nach dem Ursprung der Baukunst hätte die Griechen dazu geführt wie bei den übrigen Künsten so auch bei der Baukunst »im Schoße der Natur selbst zu suchen«222 . Sie hätten versucht, herauszufinden »was für ein Unterschied sei zwischen den
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Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, 4. Buch, 1. Kapitel, 85, 25ff, S. 171. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. Erstausgabe: Florenz 1485. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 6. Buch, 1. Kapitel, S. 290. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 6. Buch, 1. Kapitel, S. 290. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 6. Buch, 3. Kapitel, S. 296.
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Gebäuden, die gefallen, und denen, die weniger gefallen.«223 Das Naturstudium der Griechen ließe sie »Gleiches mit Ungleichem, Gerades mit Gebogenem, Offenbares unter Dunkles«224 mischen. Albertis phänomenologische Beschreibung von Naturähnlichkeit der griechischen Architektur gibt keine Erklärung zu ihrer formalen Herkunft. Die Säule betrachtete er als ornamentale Form, als »gewöhnliches und übliches Mittel einem Bau Würde zu verleihen«225 , ohne das anthropomorphe Modell als Erklärung ihrer Schönheit zu verwenden226 . Vielmehr zeigt sich bei Alberti eine mittelalterliche Auffassung der Säule darin, dass er sie als Wandstück betrachtete227. Alberti wollte kein archäologisches Modell liefern, das die Nachahmung legitimierte, sondern er wollte seine Theorie durch die »imitatio naturae« auf eine unumstößliche ontologische Grundlage stellen. Er vermied dabei die vitruvianischen Begriffe »symmetria« und »eurythmia« und latinisierte sie mit dem Begriff »concinnitas«, dem »Ebenmaß«228 . »concinnitas« hing mit der Schönheit eines Naturgegenstandes oder eines Artefakts zusammen, denn Schönheit sei eine Art Übereinstimmung und ein Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen, das nach einer bestimmten Zahl, einer besonderen Beziehung und Anordnung ausgeführt werde, wie es das Ebenmaß, das heißt das vollkommenste und oberste Naturgesetz fordere229. Es bestehe nämlich jeder Körper aus bestimmten, ihm zugehörigen Gliedern. Nehme man nun eines davon weg, mache es größer oder kleiner, oder ordne es an einer unrichtigen Stelle ein, so geschehe es natürlich, dass alles, was an diesem Körper in Wohlgestalt der Form übereinstimme, ver-
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Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 6. Buch, 3. Kapitel, S. 296. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 6. Buch, 3. Kapitel, S. 296. Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 55. »Den vorzüglichsten Schmuck der ganzen Baukunst besitzen wir in den Säulen. Denn sowohl mehrere zusammen schmücken den Portikus, die Wand und jede Art Öffnung; und einzeln sind sie durchaus nicht unschön.« Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 6. Buch, 13. Kapitel, S. 333. Deshalb stellte sich Alberti die ionische Säule nicht anthropomorph als Darstellung einer jungen Frau vor. Vielmehr bezeichnet er das ionische Kapitell, dessen Voluten aus einem Schmuckbebedürfnis heraus hinzugefügt wurden, als eingerollte Baumrinden. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 7. Buch, 6. Kapitel, S. 361. Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 55. »[...] da ja die Säulenreihen nichts anders sind als eine Mauer, die an mehreren Stellen durchbrochen und offen ist.« Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 1. Buch, 10. Kapitel, S. 51. Siehe hierzu: Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 35. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 9. Buch, 5. Kapitel, S. 492.
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dorben werde230 . Alles was die Natur hervorbringe, sei nach dem Gesetze der Ebenmäßigkeit geschaffen und das ganze Leben und Denken des Menschen erfülle es231. »concinnitas« steht bei Alberti für die Prinzipien der Natur, die auch die Grundlage der Schönheit der Baukunst bilden. Grundlage der »concinnitas« sind wie bei Vitruv Zahlen und Zahlenverhältnisse. Alberti sprach von der »bestimmten Zahl«, nach der das Ganze ausgeführt werden solle. Die Zahlen besaßen für ihn eine ontologische Bedeutung, wie sie vor allem im Mittelalter galt232 , denn es sei unbestritten, so Georg German, dass eine auf Zahlen gegründete Harmonielehre die Architekturtheorie dieser Epoche beherrschte233. Das »vollkommenste und oberste Naturgesetz« fordere darüber hinaus die »besondere Beziehung und Anordnung«234 . Alberti dachte kosmologisch und bezog sich auf die platonisch-pythagoreischen Zahlenproportionen, welche bewirkten, dass jenes Ebenmaß der Stimmen erreicht werde, das den Ohren so angenehm sei. Diese seien dieselben, welche es zustande brächten, dass unsere Augen und unser Inneres mit wunderbarem Wohlgefühle erfüllt würden235. Es liege nämlich in der Form und Gestalt der Gebäude tatsächlich eine Art ursprünglicher Erhabenheit und Vollendung, die unser Inneres errege und sich sofort bemerkbar mache236 . Hervorgerufen wurde diese Empfindung durch die »concinnitas«, der »imitatio naturae« in der Verwendung musikalischer Proportionen, die der Baukunst ihre ethische Bedeutung verliehe. Auf die Renaissancekünstler übte, so Rudolf Wittkover, die Musik eine besondere Anziehungskraft aus, weil sie immer zu den mathematischen Wissenschaften gerechnet worden sei. Die artes liberales oder das quadrivium bestehend aus Arithmetik, Geometrie, Astronomie und der Musik galten gegenüber den artes mechanicae, zu denen auch die Baukunst zählte, als überlegen. Um die artes mechanicae in den Rang der artes liberales zu erheben, war es notwendig, diesen eine mathematische Grundlage zu geben237. Im 5. Kapitel des 9. Buches nennt
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Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 9. Buch, 5. Kapitel, S. 491. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 9. Buch, 5. Kapitel, S. 492. »Für das Mittelalter war die symbolische Deutung die einzige ontologisch gültige Bestimmung der Wirklichkeit.« Zitat Otto von Simson nach Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 30. Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 32. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 9. Buch, 5. Kapitel, S. 492 Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 9. Buch, 5. Kapitel, S. 496. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 9. Buch, 5. Kapitel, S. 491. Rudolf Wittkover: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, S. 95.
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Alberti die »musikalischen Zahlen«, mit denen sich die Konsonanzen erzeugen lassen238. Alberti empfehle, so Rudolf Wittkower, »die einfachen Verhältnisse 1:1, 1:2, 1:3, 2:3, 3:4, usw. – es sind die Elemente musikalischer Harmonien –, und Alberti hatte sie an klassischen Bauten wiedergefunden.«
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Wittkower bezeichnete es als das zentrale Dogma der Renaissance-Architekten, dass jeder Teil eines Gebäudes, sei er innen oder außen, in ein einheitliches System mathematischer Beziehungen eingeordnet werden müsse240. Architektur wurde durch die exakte maßliche Verknüpfung mit den »musikalischen Zahlen« zur Darstellung der »harmonia mundi« und damit ontologisch. Sie zeigte mit der Verwendung der musikalischen Proportionen einen strukturanalogen Mikrokosmos im Makrokosmos241. Wittkower nennt weiter Francesco Giorgi und dessen 1525 erschienene Schrift De harmonia mundi totius cantica tria. Giorgi stellte in seinem Werk eine ontologische Beziehung von Weltharmonie, menschlicher Seele, Musik und Architektur her242. Entscheidend für die Architektur sei die Entdeckung von Py-
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»Die musikalischen Zahlen selbst schließlich, um sie summarisch zu erwähnen, sind folgende: »eins, zwei, drei, vier. Es gibt auch noch, wie ich sagte, den ›Ton‹, bei welchem die größte Saite, mit der kleineren verglichen, dieselbe um den achten Teil der kleineren überragt.« Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst, 9. Buch, 5. Kapitel, S. 497. Rudolf Wittkover: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, S. 42. »Zum Beispiel entspricht der Kreisdurchmesser des Pantheons genau seiner Höhe, sein Halbmesser der Höhe des zylindrischen Raumes und ebenso der Höhe der Kuppel, und so fort.« Ebenda. Rudolf Wittkover: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, S. 83. Die Korrespondenzen und Ähnlichkeiten von Mikrokosmos und Makrokosmos veranschaulicht Leonardos Anna Selbstdritt. Mikro- und Makrokosmos durchwirken bei ihm dieselben Prinzipien. Alle Personen des Bildes befinden sich in Bewegung, wobei sich die Bewegungsimpulse gegenseitig aufzuheben scheinen. Gesten und Blicke greifen aus und führen in andere Gesten und Blicke zurück, so dass die Figurengruppe eine »bewegte Unbewegtheit« besitzt. Dies stellt ihre Analogie zum Kosmos her, der gleichfalls ständigen Veränderungen unterliegt, zugleich aber in einer kreislaufartigen Bewegung verharrt. Die Szenerie spielt vor einer überzeitlichen Gebirgslandschaft, einer Art »kosmischen Urgrund«. Sie steht in Kongruenz mit der »kosmischen« Ruhe der Gesamtkonfiguration oder anders formuliert, die makrokosmischen Bewegungen sind in den zyklischen Harmonien ihrer mikrokosmischen Akteure gebunden. »Alle Pythagoräer und Platoniker haben sichere Kunde, dass die Welt und die Seele zuerst durch Timaios von Lokri und später durch Plato nach gewissen Gesetzen und
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thagoras, »wonach Töne räumlich gemessen werden können.«243 Erst auf dieser Grundlage ließ sich die platonisch-pythagoreische Entdeckung auf die ontische Natur und damit auch auf die Architektur anwenden244. Das intensive Studium der phänomenalen Welt sollte nachweisen, dass die Naturdinge erst durch die »musikalischen Zahlen« in ihrer Struktur verständlich werden können. Der menschlichen Gestalt kam hierbei eine besondere Bedeutung zu, denn bereits Vitruv hatte deren Proportionen mit denen der Architektur in Verbindung gebracht und ihr dadurch eine anthropomorphe Mimik verliehen, die sie und die Architektur mit einer geglaubten Seinsordnung verband245. Die Architektur war
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musikalischen Verhältnissen erklärt worden sind, entsprechend einem Heptachord aus sieben Saiten, beginnend mit der Einheit, sich verdoppelnd zum Kubus von zwei (d. i. 2*2*2=8) und sich verdreifachend zum Kubus von drei (d. i. 3*3*3=27). Nach den Schriften des Pythagoras glaubte man, dass nach diesen Zahlen und Maßverhältnissen der Aufbau der Seele und der ganzen Welt geordnet sei.« Francesco Giorgi: De harmonia mundi totius cantica tria, Fol. 81 verso, zitiert nach: Rudolf Wittkower: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, S. 85. Rudolf Wittkower: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, S. 84. Eines der wichtigsten Werke der italienischen Renaissance, in dem sich die »musikalischen Zahlen« räumlich erleben lassen, ist San Spirito (1434-1482) von Filippo Brunelleschi in Florenz. Die Kirche besitzt präzise geometrische Durchdringungen und rhythmische Folgen. Ein Würfelmodul mit einer Kantenlänge von 6,45 Meter legt sämtliche Abmessungen des Raumes und der baulichen Glieder fest. Die räumlichen Module, das Mittelschiff, das Seitenschiff und den Kranz aus Apsiden stehen in einfachen musikalischen Proportionen zueinander, die den Rezipienten einen von der geometrischen Ordnung durchdrungenen Gesamtraum erleben lässt. San Spirito zeichnet sich durch Strenge seiner Ordnung und Klarheit der räumlichen Folgen aus. Der einheitlich rhythmische »Gang«, der die Kuppelgewölbe der Seitenschiffe um die mittlere Kuppel führt, besitzt »mathematische Transparenz«. Zur Unterstützung dieses Rhythmus hatte Brunelleschi an den Seitenschiffjochen einen begleitenden Kranz aus nischenförmigen Apsiden vorgesehen. Die gleichartigen räumlichen Elemente des Innenraumes werden von der geglaubten schönsten Konsonanz bestimmt, dem Verhältnis 1:2. Das griechische Kreuz des Grundrisses, mit Altar und Kuppel in der Mitte, wurde mit dem lateinischen Kreuz verbunden, dessen Langhaus die doppelte Länge eines Kreuzarmes aufweist. Architektur wie sie Vitruv verstand und wie sie bis zum Ende der Renaissance verstanden wurde, offenbarte die Prinzipien des Seins als von einer durch mathematisch-göttliche Proportionen bestimmten Wirklichkeit. Zahlen und Zahlenverhältnisse stellten wegen ihres zwingenden Charakters eine Möglichkeit dar, das unsichtbare Wirken der kosmischen Ordnung in einem Bauwerk sichtbar zu machen. »Gleichwie der Mensch das Ebenbild Gottes ist und die Maße seines Körpers durch göttlichen Willen geordnet sind, so müssen auch die Maßverhältnisse in der Bau-
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dadurch auf zweifache Weise mimetisch: Sie war in ihrem kosmologischen Bezug ontologisch und sie inkorporierte die menschliche Physis. Die Wiederaneignung des vitruvianischen »homo ad quadratum« und »homo ad circulum« war eine Wiederaneignung der antiken anthropomorphen Architektur, indem sie das platonisch-pythagoreische Gedankengut wieder mit der menschlichen Physiologie verband. Abbildung 1: Cesare Cesarino: »homo ad circulum« aus der Vitruvedition von 1521.
Cesare Cesarino stellt den »homo ad quadratum« und »homo ad circulum« in seinem 1521 erschienenen Traktat De Architectura als »wilden Mann« dar, dessen »Hände und Füße in die Ecken eines Quadrats reichen«246 (Abb. 1). Sein vitruvianischer Mensch verkörpert in seinem Habitus Natur vor der kulturellen Domestizierung247 und scheint mit seinen Extremitäten unnatürlich gestreckt und gewaltsam in die geometrische Ordnung gezwungen. Filarete dage-
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kunst die Ordnung des Weltalls umfassen und zum Ausdruck bringen.« Rudolf Wittkower: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, S. 83. Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 47. Cesarino stellte den vitruvianischen Mann »mit erigiertem Penis und Laubkranz im wuchernden Haar« dar, ganz so als wolle er zeigen, dass selbst der Wilde den Gesetzen der Geometrie gehorcht. Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 47.
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gen verband in seinem zwischen 1461 bis 1464 geschriebenen Architekturtraktat die Proportionen des ersten Menschen mit der vitruvianischen Urhütte und legitimierte damit den Bezug von anthropomorpher Proportion und Architektur. Adam wird als Prototyp des Menschen dargestellt, nach welchem die Säulen geformt worden seien248 , so dass er als Werk Gottes Gegenstand der Nachahmung für die Architektur werden konnte. Die drei Säulenordnungen sind bei ihm in ihren Proportionen nicht vitruvianisch durch das Geschlecht begründet, sondern durch die des Standes und damit gesellschaftlich motiviert249. Francesco di Giorgio Martini (1439-1501) wendete um 1500 das anthropomorphe Schema nicht nur an der Säule an, sondern bezog es auf alle Architekturteile. Der menschliche, zumal männliche Körper, erscheint bei ihm als Inbegriff der Natur250 . Martini verwendete den menschlichen Körper als Schema für einen Stadtgrundriss, für den Grundriss einer Kirche oder zur Bestimmung einer Kirchenfassade. Weiter verwendete er eine Profilbüste, um deren Verwandtschaft mit dem Gebälk aufzuzeigen251. So verkürzte sich bei Martini die Naturnachahmung auf die Nachahmung der menschlichen Physis selbst in Architekturdetails wie dem Gebälk, mit dem sie vordergründig keine Ähnlichkeit besitzt, so zeigt sich darin das Bestreben, die gesamte Architektur als anthropomorph zu
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»Man darf annehmen, dass die ersten Erfinder dieser Dinge die Maßverhältnisse vom großen Menschen und der schönsten Gestalt nahmen, und deshalb ist es wahrscheinlich, dass man sie von Adam nahm; da Gott diesen selbst erschaffen hat, besteht kein Zweifel, dass er ihn schön formte und dass seine Gestalt besser proportioniert war als jede andere, die es je gegeben hat. Doch die Natur hat später die einen groß, die anderen klein, wieder andere mittelgroß gemacht und mannigfach verändert. [...]« Filarete: Codex Magliabechianus, folio 3 recto, zitiert nach: Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 71. »Es gibt, wie ich sagte, mehrere Säulenarten; drei aber sind die hauptsächlichsten. Das entspricht dem, was ich über den verschiedenen Rang der Menschen gesagt habe: Die Edlen sind bei den Herren zur Stütze und Zierde da, die des mittleren Standes sind ebenfalls zu Nutzen und Zierde, zieren aber weniger als die Edlen, die noch weiter unten Stehenden sind zu Nutzen, Bedarf und Diensten des Herrn; [...].« Filarete: Codex Magliabechianus, folio 56 verso, zitiert nach: Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 70. Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 83. »Am deutlichsten allegorisch ist jener Mann gemeint, der – wie eine ummauerte Stadt ihre schwachen Stellen – seine Füße und Ellbogen mit Rundtürmen schützt, über das Haupt wie einen Helm die Stadtburg stülpt, seinen Bauch mit einem runden Platz bedeckt, dessen Mittelpunkt über dem Nabel liegt, und auf dessen Brust der Grundriss der angrenzenden Hauptkirche eingezeichnet ist.« Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 83.
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betrachten. Eine anthropomorphe Architektur thematisiert die von Alberti noch ganz archäologisch verstandenen Säulenordnungen wieder als Ausdrucksträger. Michelangelo reformierte dann die Architektur im 16. Jahrhunderts, indem er sich nicht um die Richtigkeit der Proportionen und Formen kümmerte, mit denen Vitruv die Säulenordnungen bestimmte, sondern um ihre tiefere Bedeutung, die in der Entsprechung von anthropomorphem und architektonischem Ausdruck lag252 . Michelangelos freie Verwendung der architektonischen Vokabeln und der Syntax der Ordnungen zielte auf Steigerung ihrer formalen Qualität, ohne dass er die Grenzen der Ordnungen zerstörte oder mischte. Sein Manierismus bestätigte die Gültigkeit der drei Ordnungen als Formen architektonischen Ausdrucks253 . Denn selbst wo keine Säulen verwendet werden, könne und müsse der Charakter der »ordini« zum Ausdruck gebracht werden254. Die drei Ordnungen stellten, so Erik Forssmann, eine echte Architektursprache dar, deren darstellende Funktion offenbar viel intensiver erlebt worden sei, als dies heute der Fall sei255. 3.2 Ontologische Differenzen: Die »Querelle des anciens et des modernes« Michel Foucoult beschrieb die epochale Veränderung zu Beginn der Moderne als Wechsel von einem Weltbild, in dem das Ähnliche256 oder das Analoge die fundamentalen Kategorien des Wissens gewesen seien, zu einem Weltbild, welches das Analoge als »Form des Wissens« ausschließe. Wenn Descartes, so Foucault, die Ähnlichkeit ablehne, dann nicht, weil er den Akt des Vergleiches
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»Das ›Dagegensein‹ gehörte ja zum Wesen Michelangelos, und man hätte sich eher zu wundern, wenn er sich als Architekt den allgemeinen Regeln widerstandslos gefügt hätte. [...] Aber die Gegnerschaft bezog sich doch nur auf das Äußerliche, auf den sklavischen Gebrauch der vitruvianischen Regeln, auf die einfältige Nachahmung der Antike. Wenn er wirklich den zeitgenössischen Vitruvianismus in der Gestalt Serlios oder Vignolas verachtete, das Wesen der antiken Architektur im Sinne Vitruvs hatte er sich zutiefst angeeignet. Man erkennt das nicht zuletzt an der Art, wie er von den drei klassischen Ordnungen sinnvollen Gebrauch gemacht hat.« Erik Forssman: Dorisch, Jonisch, Korinthisch, S. 15. »Wenn [...] selbst der eigenwilligste aller Architekten sich der Corinthia und Doria als Ausddrucksmittel bediente, dann müsste der Komplex, den wir gewöhnlich als bloße ›Säulenordnungen‹ abtun, vielleicht doch eine tiefere und umfassendere Bedeutung für die Architektur seit der Renaissance haben, als man demselben gemeinhin zumißt.« Erik Forssman: Dorisch, Jonisch, Korinthisch, S. 13. Erik Forssman: Dorisch, Jonisch, Korinthisch, S. 15. Erik Forssman: Dorisch, Jonisch, Korinthisch, S. 27. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 87
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aus dem rationalen Denken ausschließe oder weil er ihn zu begrenzen versuche, sondern weil er ihn universalisiere und ihm dadurch seine reinste Form gebe257 . Ein kosmisches Weltbild ist nur denkbar, wenn die Teile zur Welt in einer analogen Beziehung stehen. Die Renaissance benutzte die Analogie von Mikro- und Makrokosmos, um ihre Vorstellung von den Dingen und ihrem transzendenten Grund mitzuteilen. »So durchzieht ein Netz der Ähnlichkeiten, ein Netz geheimer Mimesis, die Ordnung der Dinge. Die erkennbaren Signaturen der Ähnlichkeiten weisen dabei auf tiefere, verborgene wesentliche Ähnlichkeiten und Denkstrukturen hin.«
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Der Rationalismus von Descartes kannte als Maß nicht mehr ein göttliches Fluidum, das die Dinge durchwirkt und sie in ein kosmisches Gefüge einbindet, sondern sein Maß war das kritische Subjekt und dessen Gewissheit oder Ungewissheit. Mit dem Zweifel werde die kosmische Ordnung zerbrochen, so Foucault, und es beginne das Zeitalter, das die kreisende Welt der konvergierenden Zeichen durch eine Entfaltung ins Unendliche ersetze259 . Jene Entfaltung ins Unendliche war für Foucault verbunden mit der neuen Stellung des Subjekts, das sich zwar kartesisch als letzten Grund wahrnehme, dessen »Welt« allerdings in ihrer Bestimmtheit als kontingente Ordnung erkannt werde, welche »gänzlich verschieden zur klassischen Ordnung« sei260 . Foucaults Analyse erkannte im Verlust der Mikrokosmos-MakrokosmosAnalogie, welcher sich bereits früh im Aufbrechen der architektonischen Ordnungen der Renaissance zeigte, die Ursache moderner Subjektivität261 . Ein Architekturbeispiel für das Zusammenstürzen des kanonischen Renaissancekosmos ist der Palazzo del Te von Guilio Romano, der die Formen sowohl konstruktiv als auch in ihren Proportionen regelwidrig verwendet.
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Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 85 Stefanie Hüttinger: Der Tod der Mimesis als Ontologie und ihre Verlagerung zur mimetischen Rezeption, S. 79. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 94 Stefanie Hüttinger: Der Tod der Mimesis als Ontologie und ihre Verlagerung zur mimetischen Rezeption, S. 80. Descartes setzte an die Stelle der alten Ordnung seine neue Kosmologie. Diese bestimmte sich nicht durch Ähnlichkeiten, sondern durch die von ihm geprägte Bewusstseinsphilosophie. Seine Vorstellung einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt basierte auf der »universalen Sprache der Mathematik«, die die »Ordnung oder das Maß der Welt« bestimmt. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. KunstKultur- Gesellschaft, S. 206.
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Im Unterschied zur italienischen Architekturtheorie, die lokale Zentren hervorbrachte, deren Konzepte unterschiedlich waren, wurden in Frankreich nach der 1635 begründeten Académie Française durch Richelieu weitere Akademien gegründet, um sämtliche Wissenschaften abzudecken und unter Kontrolle zu bringen262. Die letzte Akademiegründung nahm Colbert 1671 mit der Gründung der ACADÉMIE ROYALE D’ARCHITECTURE vor263. Zuvor hatte Colbert im Jahre 1666 in Rom die Französische Akademie gegründet. Die Wichtigkeit der Akademien ist kaum zu unterschätzen, kam ihnen doch die Aufgabe zu, »allgemeingültige Doktrinen« aufzustellen und die Architekturstudenten zu Staatsdienern heranzuziehen264. Bellori, der sein Hauptwerk Le viti de’Pittori, scultori et architetti moderni Colbert widmete, wendete sich gegen die Auffassung, dass der Künstler direkt die Natur nachahmen solle. Vielmehr ginge es darum, die der Natur zugrunde liegende Idee des Schönen zu verwirklichen, welche von Bellori ganz abstrakt verstanden wurde265 . Bellori glaubte nicht mehr daran, dass aus der »Vielzahl der Naturerscheinungen, an deren Spitze die menschliche Gestalt steht, die eine, wahre, göttliche Norm« herausgefunden werden könne266 . Vielmehr gebe es eine Idee des Schönen, die göttlichen Ursprungs sei und welche von den Alten in ihren Werken in vollkommener Weise verwirklicht worden sei. Diese Proportionen seien von den nachfolgenden Generationen verbindlich festgesetzt und zu Gesetzen erklärt worden267 . Von diesen dürfe man nicht abweichen, »ohne ihre ›wundervolle Idee‹ und ›höchste Schönheit‹ zu zerstören.«268 Den platonisch-pythagoreischen Proportionen kam eine hohe Bedeutung zu, ließ sich doch durch sie ein rationales Regelwerk für die Architektur formulieren. Die geglaubte Annahme, die Schönheit der musikalischen und der räumlichen Harmonie basiere auf den gleichen Maßverhältnissen, wurde durch die Annahme ergänzt, dass die räumlichen Harmonien von einem inneren Ohr wahrnehmbar seien269. Mit den räumlichen Harmonien solle wie bei den musikali-
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Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie, S.144. Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie, S.144. »Nur ihre Mitglieder durften den Titel ›architecte du Roi‹ tragen; um ihre Unabhängigkeit als Gutachter zu wahren, wurden sie vom Unternehmertum ausgeschlossen.« Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 176 und 177. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 47. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 47 und 48. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 48. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 48 und 49. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 50.
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schen Proportionen dasselbe Körpergefühl hervorgerufen werden können270. Das einzige Werk, das sich ausschließlich mit der Analogie von Architekturproportionen und Musikharmonien befasst, ist René Ouvrards 1679 erschienene Schrift Architecture Harmonique, ou Application de la Doctrine des Proportions de la Musique à l’Architecture271. Ouvrards Werk nennt wieder die menschlichen Proportionen, die aus einfachen Zahlenverhältnissen bestehen und darin den musikalischen Akkorden entsprechen. Neu bei ihm ist die Zeit als Kriterium: Ouvrard forderte, dass wie in der Musik so auch in der Architektur »nur diejenigen Formen des Gebäudes nach harmonischen Proportionen bemessen sein müssen, die sich dem Anblick des Betrachters gleichzeitig darbieten.«272 Dies aber bedeutete die Aufgabe der von Alberti geforderten Einheit von Teil und Ganzem in der Architektur und damit ihre Betrachtung analog der Musik als räumlich visuelle Abfolge273 . Die platonisch-pythagoreischen Proportionen galten bis zur »Querelle des anciens et des modernes« als normative Grundlage. Wichtigster Vertreter der »anciens« war François Blondel, dessen im Rahmen seiner Lehrtätigkeit als Direktor der Académie royale d’architecture herausgegebene Cours d'architecture 274 die Verteidigung und Erneuerung des Vitruvianismus durch die Musiktheorie der Renaissance war275. Claude Perraults Vitruvübersetzung276 hatte dann 1673 durch seine Kommentierung des antiken Textes jenen »Federkrieg« entfacht, der als die »Querelle des anciens et des modernes« eine entscheidende Wende in der Architekturtheorie bewirkte. Perraults Kritik bezog sich vor allem auf die Gültigkeit und Übertragbarkeit musikalischer Verhältnisse auf die Architektur. Als ausgebildeter Mediziner und Professor der Pathologie empfand er wohl eine Skepsis gegenüber einer ideellen Ordnung auf Basis der überlieferten Proportionslehre. Perrault vertrat die These, dass es weniger die Proportionen seien, die von der Harmonielehre der Musik ohne weiteres auf die visuellen Phänomene angewendet werden könnten, sondern dass Gewohnheit, der Zufall und die Laune des Baumeisters das Urteil wesentlich bestimmten. Perrault verkörperte ein neues Bild von Wissenschaft, das sich zwangsläufig auch auf die Architekturtheorie auswirkte. Allgemein verbindliche Regeln, die in
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Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 50. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 51. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 52. S. a.: Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 52. François Blondel: Cours d’architecture enseigné dans l’Académie royale d’Architecture, Paris 1675-1683. Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S.176ff. Claude Perrault: Les dix livres d’architecture des Vitruve, Paris 1673.
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einer normativen Theorie Anwendung finden konnten, entsprachen nicht einem auf Empirie ausgerichteten Wissenschaftsideal. Seine Reaktion auf die normative Theorie François Blondels war allerdings überfällig: In Galileo Galilei (15641642) hatte die empirische Wissenschaft einen ihrer stärksten Vertreter. Mit seinem Werk Dialogo sopra idue massimi sistemi del mondo (1632), in dem er das kopernikanische Weltbild gegen das plotemäische Weltbild verteidigte, wurde die empirische Methode zur Grundlage einer neuen Kosmologie. In der Argumentation galt für ihn das Urteil einer anerkannten Autorität nichts, wenn es der »augenscheinlichen Erfahrung« widersprach. Bekanntlich hat Galilei sein Buch 1633 einen Prozess vor der Inquisition eingebracht. Mit der empirischen Forschung und der induktiven Methode war das aristotelische Weltbild dem kopernikanischen gewichen. Der Mensch und die Erde waren vom Mittelpunkt auf eine Kreisbahn gerückt, mit der Folge, dass auch die platonisch-pythagoreischen Sphärenharmonien obsolet wurden. Sie konnten bei einer rein mechanischen Grundauffassung der Welt nicht mehr bestehen277. Mit Galilei verloren die Zahlen ihre qualitativen Eigenschaften und dienten ausschließlich der quantitativen Erfassung der Welt278. Wenn allerdings die Qualität der Zahlen nur noch in ihrer
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»Der aufklärerische Begriff der Wissenschaft, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts scharf artikuliert wird, nimmt endgültig von der interesselosen Schau ewiger Wesenheiten Abschied, welche das Denken der Antike und des Mittelalters weithin geprägt hatten. Nach der Überzeugung der fortgeschrittensten Autoren der Epoche hat alle wissenschaftliche Erkenntnis einen praktisch-politischen Zweck. Ohne ein letzthin materielles Interesse kann es keine Wissenschaft geben, und selbst die Kunst ist nicht Abbild göttlicher Weltharmonie, sondern Objektivation des guten Geschmacks, über den die beteiligten Subjekte, Produzent und Rezipient, verfügen müssen.« Günther Mensching: »Die Enzyklopädie und das Subjekt der Geschichte«, in: Jean Le Rond d’Alembert. Einleitung in die Enzyklopädie, S. XVII und XVIII. »Wir sahen, dass diese (gemeint sind die mathematischen Begriffe) bei Kopernikus und Kepler noch qualitativ-harmonikales Gepräge tragen, seit Galilei dann ein rein quantitatives annehmen. Symptome für diese Umwandlung, welche damals die Mathematik in sich selbst erfährt, sind u. a. die in jener Zeit stattfindende Einführung der Null in die Zahlenreihe und die damit zusammenhängende der negativen Zahlen, ferner die damals entstehende Auffassung der Eins als der kleinsten positiven Einheit sowie die Ableitung der größeren Zahlen aus der Eins im Wege der Addition. […] Im weiteren führt die quantitative Behandlung des Mathematischen zur Erfindung der analytischen Geometrie (durch Descartes) und der Infinitesimalrechnung (durch Newton und Leibniz). Mit dieser Art von Begriffen kann von den Erscheinungen nur erfasst werden, was räumliche, zeitliche und kraftmäßige Quantität ist oder Quantitäten-Beziehungen sind. Alle diese Verhältnisse erscheinen, wie im Fallgesetz zum Ausdruck kommt, vereinigt in dem Phänomen der Bewegung. Und so ist es für das von ihm inaugurierte moderne Erkennen tief bezeichnend, dass, was
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reinen Quantität bestand und die quantitative Vermessung der Welt das Sein der Dinge bestimmte, so konnte die Ästhetik der Architektur davon nicht unbeeinflusst bleiben. Von den damit einhergehenden ästhetischen Konflikten handelte die »Querelle des anciens et des modernes«. Claude Perrault nahm in dieser Auseinandersetzung eine zentrale Rolle ein, in der sein Bruder, Charles Perrault, die Position der »modernes« am deutlichsten vertrat. In Zusammenhang mit einer Konzeption der Mimesis ist die »Querelle des anciens et des modernes« von grundsätzlicher Bedeutung, denn mit dem Zweifel an der Gültigkeit der musikalischen Proportionen ging ein Zweifel an der Gültigkeit des Vitruvianismus und damit der Antike als Vorbild der Mimesis einher. François Blondel hatte in seinem Cours d’architecture den Vitruvianismus als regulative Theorie entwickelt und im 1. Buch die Ordnungen, wie sie Vignola, Palladio, Scamozzi darstellten, vergleichend gegenübergestellt. Im 5. Buch des Cours d’architecture beschäftigte sich Blondel ausführlich mit den Proportionen der Architektur und ihrer Teile, um zu zeigen, woher die Schönheit der Architektur rühre. Was im Lateinischen mit »concinnitas« bezeichnet werde, werde im Französischen mit »harmonie, symmetrie, grace, gentillesse & correspondance« bezeichnet279 . Es gehe um etwas, das völlig unterschiedliche Teile zusammenbringe, durch ein Band der Liebe verbinde und dazu beitrage etwas Vollendetes zu schaffen280. Dies geschehe deshalb, weil das, was in der Symmetrie sei, unbemerkt in unsere Seele durch unsere Sinne eindringe, entweder über die Augen oder die Ohren oder auf andere Art und Weise281. Schönheit der Architektur bestand für François Blondel in ihrer Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur, die sich in deren Symmetrien und in deren perfekten Werken
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seinen Inhalt betrifft, Galilei zum Begründer der Mechanik und Bewegungslehre wird. Hierbei ist hervorzuheben, dass er sich bei seinen Forschungen auf diesem Gebiete noch streng im Bereich des Phänomenalen und dessen rein mathematischquantitativer Durchdringung hält.« Hans Erhard Lauer: Die Wiedergeburt der Erkenntnis, S. 61 und 62. »[...] lesquelles produisent par leur assemblage un je sçay quoy qui fait admirablement éclater la forme de la beauté, & que nous nommerons concinnitatem en Latin, & en François harmonie, grace, gentillesse & correspondance.« François Blondel: Cours d’architecture, cinquieme partie, S. 731. »[...] qui assemble des parties entierement differentes & les joignant ensemble par un lien d’amour, elle fait concourir à la production de quelque chose d’accompli.« François Blondel: Cours d’architecture, cinquieme partie, S. 731. »D’où vient que ce qui est en symmetrie s’insinuant dans nostre ame par nos sens, soit par celuy yeux ou des oreilles, ou en quelqu’autre maniere que ce puisse estre; [...]« François Blondel: Cours d’architecture, cinquieme partie, S. 731.
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zeigten282 und denen er die tradierten platonisch-pythagoreischen Proportionen zugrunde legte. Pythagoras habe das »beau mot« gebraucht, dass die Natur in allen Verhältnissen immer die gleiche sei, weshalb es sich unzweifelhaft so verhalte, dass die Zahlen, welche unterschiedliche Stimmen in einem Konzert überraschend angenehm für unsere Ohren machten, die gleichen seien, die ein vortreffliches Vergnügen durch die Objekte bewirkten, die unsere Augen oder vielmehr unseren Geist füllten283. Claude Perraults kritische Position resultierte aus einem Ansatz, der dem Galileis vergleichbar ist. Es war die Reaktion des empirischen Wissenschaftlers, der auf Grundlage von Beobachtung und Versuch zu Ergebnissen kam, die sich gegen eine Ästhetik wandte, die sich deduktiv auf Autoritäten aus der Antike stützte. Die entscheidenden Argumente waren die Erkenntnisse der Empirie, da Perrault die Erfahrbarkeit der pythagoreisch-platonischen Proportionen zwar für die Musik gelten ließ, sie aber für die Architektur absprach, denn der wesentliche Unterschied von Augen- und Ohrensinn bestehe darin, dass die Augen zwar die Proportionen durch den Geist besser erfassen, dieser diese aber nicht fühlen könne284. Denn da
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»La nature ne produit rien qui ne soit selon les loix de la symmetrie, elle n’a point des soin plus pressant que de faire en sorte que tous ses ouvrages soient parfaits;« François Blondel: Cours d’architecture, cinquieme partie, S. 731. »[...] ce beau mot de Pytagore, qui dit, que la nature est toujours la même en toutes choses; il est indubitabel que les nombres qui font que les voix differentes frappent agreablement nos oreilles dans un Concert, sont les mêmes qui font que les objets remplissent nos yeux ou plutost nostre ame, d’un plaisir merveilleux.« François Blondel: Cours d’architecture, cinquieme partie, S. 733. »[...] c’est due la connoissance que nous avons par le moyen de l óreille de ce qui resulte de la proportion de deux cordes dans laquelle l’harmonie consiste, est tout à fait differente de la connoissance que nous avons, par le moyen de l’òeil de ce qui resulte de la proportion des parties, dont une Colonne est composée: car si l’esprit est touché par l’entremise de l’oreille de ce qui resulte de la proportion de deux cordes, sans qu’il connoisse cette proportion, c’est que l’oreille n’est pas capable de luy donner la connoissance de cette proportion [...]«. Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, S. IV. »[...] Die Kenntnis, die wir mittels des Ohrs von dem haben, das aus der Proportion zweier Saiten resultiert, in der Harmonie besteht, ist vollkommen verschieden von der Kenntnis, die wir mittels des Auges von dem haben, das aus der Proportion der Teile resultiert, aus denen eine Säule besteht: Denn wenn durch den Geist durch die Vermittlung des Ohrs von dem berührt ist, das aus der Proportion zweier Saiten resultiert, ohne dass er diese Proportion kennt, dann ist es deshalb, weil das Ohr nicht fähig ist, ihm die Kenntnis dieser Proportion zu geben. Dagegen ist das Auge zwar fähig, die Proportion erkennen zu lassen, die wohlgefällig wirkt, ohne den Geist je-
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»die Proportionen dem Auge nicht bereits durch rein physiologisch bedingte Perzeptionen gefallen wie die Akkorde dem Ohr, sondern einzig und allein durch eine das Gesehene in seiner Gesetzmäßigkeit durchschauende, es gewissermaßen kontrollierende Apperzeption, besitzen sie eine der unmittelbaren Evidenz musikalischer Harmonien vergleichbare positive Schönheit nur dann, wenn die ihnen zugrunde liegende Gesetzmäßigkeit vom Auge unmittelbar apperziert werden kann.«
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Dies sei aber nur bei ganz einfachen Verhältnissen möglich und nicht bei komplexen Proportionszusammenhängen, wie sie François Blondel verwendete. Claude Perrault bestritt damit nicht die ästhetische Qualität apperzierbarer Proportionen. Entscheidend für einen positiven Begriff von Schönheit war für ihn deren Wahrnehmbarkeit und nicht deren spekulativ-mathematischer Nachweis anhand komplizierter platonisch-pythagorerischer Konsonanzen. Auch die antike Architektur musste sich zur Beurteilung ihrer Schönheit einer empirischen Untersuchung unterziehen. Claude Perrault unterschied zwischen positiven und arbiträren Schönheiten, wobei die arbiträre Schönheit auf Gewohnheit beruhe, die positive Schönheit dagegen Gründe besitze, die der ganzen Welt einsichtig seien286 . Die arbiträren Schönheiten hingen von dem Willen ab, den Dingen eine
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doch irgendeine Wirkung dieser Proportion fühlen zu lassen [...].« Übersetzt von Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 84 und 85. Gerd de Bruyn nennt dies das entscheidende Argument Claude Perraults zu den phytagoreischen-platonischen Proportionen in der Architektur: »[...] die Tatsache nämlich, dass unsere Ohren, ohne uns dessen bewusst sein zu müssen, viel differenzierter Proportionen wahrnehmen als unsere Augen. Wir hören beispielweise den Unterschied von großer und kleiner Terz problemlos auch dann, wenn uns nie jemand beigebracht hat, was eine Terz ist. Werden aber vermittels der von Kayer so bezeichneten Tonzahl die Frequenzverhältnisse dieser beiden charakteristischen Intervalle (5:4 und 6:5) in visuelle Maßverhältnisse übersetzt, würden wir mit dem Auge kaum den Unterschied erkennen, noch wüßten wir dessen ästhetische Qualität zu würdigen. Das ist genau der Grund, weshalb die harmonikale Vielfalt der Musik in der Architektur immer nur zur Freude des Intellekts zitierbar wird.« Gerd de Bruyn: »Was sind anleitende Künste? Essay zur ästhetischen Verwandtschaft von Architektur und Musik«, S. 4. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 85. »Pour bien juger de cela il faut supposer qu’il y a de deux sortes de beautez dans l’Architecture, sçavoir celles qui sont fondées sur des raisons convaincantes, & celles qui ne dépendent que de la prevention, j’appelle des beautez fondées sur des raisons convaincantes, celles par lesquelles les ouvrages doivent plaire à tout le monde, [...].« Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, Paris 1675-1683, S. VII, übersetzt von Walter Kambartel : Symmetrie und Schönheit, S. 20
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bestimmte Proportion, Form und Figur zu geben, die jedoch auch eine andere Gestalt haben könne287. Wenn es im Bereich der Architektur eine sichere Aussage für Claude Perrault geben konnte, so musste sie anhand einer positiven Schönheit nachweisbar sein. Als eine solche apperzipierbare positive Schönheit, die bereits in der Antike bekannt gewesen sein soll, nennt Perrault die »regelmäßige Teilung eines Ganzen in drei gleiche Teile«288 . Ein prominentes Bauwerk, das dieser Regel folgt, ist die von Perrault 1667 begonnene Ostfassade des Louvre289. Perrault behauptete, dass diese einfachen Proportionen bereits in der Antike bekannt waren und Abweichungen von diesen in Bauwerken korrigiert werden müssten290. Als weitere »positive Schönheiten« benennt Claude Perrault im Cours d’Architecture den »Reichtum des Materials, die Größe und Pracht des Gebäudes, die Richtigkeit und Sauberkeit der Ausführung sowie die Symmetrie, unter der im Französischen diejenige Art von Proportion verstanden wird, die eine evidente Schönheit bewirkt.«291 Perrault begriff die französische Symmetrie als Spiegelsymmetrie und nicht als »antike Symmetrie« wie sie als ausgewogene Proportionierung eines Ganzen durch ein modulares Maß François Blondel for-
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Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, S. VII. S. a. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 20 »[...] puisqu’elle est fondée sur une raison positive, telle qu’est la regularité de la division du tout en trois parties égales. Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, S. XVII. S. a. Walter Kambartel : Symmetrie und Schönheit, S. 30. »Das Auge wünscht einfache und klärende Erscheinungsmaße. Die Schattenlinie des Sockelgesimes liegt genau in der Höhe eines Drittels der Gesamthöhe. Diese Teilung nimmt Perrault auf und markiert ebenso die Höhe des zweiten Drittels mit einem durchgezogenen Simsband. Er erreicht so in der Vertikalen eine einfache metrische Reihung 1+1+1. Die Sockel der gekuppelten Säulen und ihr Abstand sind fast gleich breit, der in Zahlen angegebene Rhythmus beruhigt sich also in der Horizontalen zu metrischer Reihung 1+1+1 usw., das gleiche oben in der Kapitellzone.« A. E. Brinckmann: Die Baukunst des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 212. »[...] ceux que je propose se trouveront icy fondez sur des raisons claires & evidentes, telles que sont la facilité de faire les divisions & celle de les retenir: & que ce que j’avance de nouveau, n’est point tant pour corriger l’Antique que pour tascher de le rétablir dans son ancienne perfection [...].« Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, S. XXII. »que sont la richesse de la matiere, la grandeur & la magnificence de l’Edifice, la justesse & la propreté de l’execution, & la symmetrie qui signifie en françois l’espece de Proportion qui produit une beauté evidente & remarquable [...].« Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, S. VI und VII, übersetzt von Walter Kambartel : Symmetrie und Schönheit, S. 19.
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derte. Die Spiegelsymmetrie besitzt wie die ganz einfachen proportionalen Verhältnisse eine »optisch evidente Rationalität«292, die sich empirisch belegen lässt. Walter Kambartel bezeichnet die moderne Spiegelsymmetrie als subjektbezogene »ordre« im Unterschied zur antiken Symmetrie, die eine objektbezogene »ordre« aufweise. Die moderne Symmetrie könne als eine die »desordre« einschließende »ordre«-Struktur verstanden werden293 . Dies sei auch ein Grund für die »Freisetzung des Ornamentalen« gewesen294, denn jedwede Formerscheinung, wie kontingent sie auch immer sei, ließe sich durch Spiegelung, »d. h. durch eine mechanische Operation, in eine symmetrische Struktur verwandeln«.295 Gerade die Spiegelsymmetrie als Ordnungsprinzip konnte eine Unordnung ihrer Teile zulassen und damit die antike Lehre der Proportionen, die objektbezogen vom Ganzen und seiner proportional exakt bestimmten Teile ausging, verabschieden. Claude Perraults auf der Empirie basierende Kritik an den pythagoreischplatonischen Proportionen ging noch weiter, indem er bestritt, dass die Architektur in irgendeiner Form die Natur nachahme. Für Claude Perrault war die Architektur eine »autonome Kunst«, die die Natur gerade bei den »arbiträren Schönheiten«, die ihren künstlerischen Anspruch ausmachten, nicht nachahmte. Vielmehr gebe es keinen anderen Grund für das Gewinnende der Formen als die Gewöhnung296 . Nachahmung der Natur war für Perrault die Nachahmung ihrer »positiven Schönheiten« wie Spiegelsymmetrie, Perfektion der Ausführung, Glanz oder die Verwendung von Farben297 . Die Verneinung der Architektur als »mimetischer, die Natur nachahmende Kunst« stellt die eigentliche Differenz von François Blondel und Claude Perrault dar. François Blondel war ein ontologischer Mimetiker und darin Rationalist. »Imitatio naturae« war für ihn Nachahmung der pythagoreisch-platonischen
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Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 67. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 71. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 24. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 24. »L’imitation de la Nature, ny la raison, ny le bon sens ne sont donc point le fondement de ces beautez, qu’on croit voir dans la proportion, dans la disposition, & dans l’arrangement des parties d’une colonne; & il n’est pas possible de trouver d’autre cause de l’agrément, qu’on y trouve, que l’accoûtumance.« Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, S. X. »Setzt doch die Schönheit der Farben nur intakte Augen, die Schönheit der Proportionen dagegen den ›bon goût‹ voraus, der für Claude Perrault anders als für François Blondel weniger in der rationalen Kenntnis der positiven Schönheiten als vielmehr in der genialen Erfindung arbiträrer Schönheiten besteht.« Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 89.
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Proportionen und der menschlichen Physis298. Allerdings waren für Blondel diese Proportionen »nicht direkt an die Klarheit mathematischer Verhältnisse geknüpft, sondern dem Geschmack der betrachtenden Subjektivität, d. h. dem Kollektiv von Kunstkennern überlassen.«299 Dieses entschied nach dem »bon goût«, dessen Begründung dann nachträglich durch Rationalisierung anhand der Proportionen gegeben wurde300. Die spätere Rationalisierung zeigt bei einem rationalen Mimetiker wie Blondel eine Reaktion auf den in England entstandenen Sensualismus, der der Sinneswahrnehmung eine immer größere Bedeutung beimaß301. Der induktive Nachweis ist deshalb auch ergänzend zu denken, denn die Wirkung der Schönheit bestehe auch in der Architektur unabhängig von der Sichtbarkeit der zugrunde liegenden Proportionen302. Blondel vertrat eine »ideale und daher sozusagen monistische Vorstellung von Natur«303, deren Nachahmung »in indirektem Sinne [...] auf Grund der Annahme einer Analogie zwischen der Struktur der Architektur und der Struktur des menschlichen Körpers«304 verstanden wurde. Diese Art der Nachahmung schloss Claude Perrault aus, denn für ihn bestand der »bon goût« in den »arbiträren Schönheiten«, die sich den Regeln der »positi-
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Blondel berief sich als Vitruvianer auf die menschlichen Proportionen und den Ausdruck der Säulenordnungen: »Les proportions de la hauteur à la grosseur ont esté judicieusement determinées par les anciens Architectes, qui imitant premierement la structure du corps humain, [...]. Et c’est pour cette raison que modernes ont appellé le Toscan Gigantesque, le dorique Herculien, l’Ionique Matronal, le Composé Heroïque, & le Corinthien Virginal.« François Blondel: Cours d’architecture, Premiere partie, S. 9 und S. 10. »[...] Je diray par la même raison que les beautez qui nous ravissent dans l’Architecture, ont aussi quelque fondement réel & naturel en nous, qui fait qu’elles nous plaisent, parce qu’elles sont conformes ou qu’elles sont faites à l’imitation de celles qui se voyent dans les Ouvrages de la Nature.« François Blondel: Cours d’architecture, Quatrieme, cinquieme et derniere partie, S. 766. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 94. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 95. S. a.: Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 55. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 94. »Dem deduktiven, eine a priori vorhandene Identität von ›bon goût‹ und von ›bon sens‹ postulierenden ›bon goût‹ – Begriff stellt François Blondel seinen induktiven, eine a posteriori zu erstellende Identität von ›bon goût‹ und ›bon sens‹ postulierenden ›bon goût‹ – Begriff entgegen.« Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 95. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 114. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 114.
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ven Schönheiten« und damit dem »bon sens« entzogen305. »Arbiträre Schönheit« war für Perrault etwas »schlechthin Inkommensurables«306, da sie letztlich auf dem »Genie« und dessen Erfindungen beruhe307. Claude Perrault berührt damit bereits eine Ästhetik des Subjekts, wie sie hundert Jahre später Kant in seiner Kritik der Urteilskraft formulieren wird308. Dennoch war Claude Perrault nicht der typische Vertreter der Partei der »modernes«. Denn wie François Blondel schätzte Claude Perrault die antike Architektur und erkannte in der »modernen Architektur« keinen eigentlichen Fortschritt. Dies belegt nicht zuletzt die Darstellung der Säulenordnungen anhand der antiken Modultheorie in seinem Cours d’Architecture auf der ersten Tafel des Anhangs. Mit den »arbiträren Schönheiten« stellte Claude Perrault das Künstlerische über die »positiven Schönheiten«309 , die sich über die empirische Forschung bestätigen ließen. Denn auch wenn er die antike Symmetrie als gültigen, überzeitlichen Kanon für die Architektur ablehnte, so verhielt sich Claude Perraults Begriff der »Grazie affirmativ zum Begriff der antiken Symmetrie als positiver Schönheit.«310 Perrault begründete dies anhand der anthropomorphen Analogie nach der es sich bei der Schönheit in der Architektur wie mit der Schönheit des menschlichen Körpers verhielte, die auf »Grazie der Form« bestehe, welche nichts anderes sei als eine »angenehme Modifikation«. Der Unterschied zu François Blondel bestand also nicht in der Akzeptanz der Vorbildlich-
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Die Gedanken Perraults zu einer positiven Schönheit, die der »bon sens« erkenne und die auf dem Sensualismus und Empirismus beruht, zeige eindeutig, so Dorothea Lehner, dass Perrault mit dem Gedankengut John Lockes in Verbindung gekommen sein müsse. Dieser habe sich in Paris 1675-79 aufgehalten und sei durch Henri Justel mit den »Hommes des Lettres« in dessen Salon zusammen gekommen. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 56. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 90. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 83 und 84. Dargestellt im 3. Kapitel dieser Abhandlung. S. a. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 105. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 86. »Ce qui fait voir que la beauté d’un Edifice a encore cela de commun avec celle du corps humain, qu’elle ne consiste pas tant dans l’exactitude d’une certaine proportion, & dans le rapport que les grandeurs des parties ont les unes aux autre, que dans la grace de forme qui n’est rien autre chose que son agreable modification, sur laquelle une beauté parfaite & excellente peut estre fondée, sans que cette sorte de proportion s’y recontre exactement observée.« Claude Perrault: Cours d’Architecture enseigné dans l’Académie Royale d’Architecture, S. 1 und S. 2.
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keit der Antike, sondern in der überzeitlichen Gültigkeit der rationalistischen Grundlage der antiken Symmetrie311. Der Bruder von Claude Perrault, Charles Perrault, gehörte in der »Querelle des anciens et des modernes« eindeutig der Partei der »modernes« an, denn er schätzte die »positiven Schönheiten« höher ein als die »arbiträren« und war der Meinung, »dass die Antike in der Architektur wie in allen anderen Künsten von der Moderne durch eine beträchtliche Vermehrung und Verbesserung der positiven Schönheiten übertroffen worden«312 sei. Diese These wiederum gleicht in einer Hinsicht der von Blondel: Beide betrachteten die Architektur von der »positiven Schönheit« her und wollten diese als Norm etablieren. Allerdings klassifizierte Blondel das als »positive Schönheiten«, was bei Charles Perrault unter die »arbiträren Schönheiten« fiel. Indem Charles Perrault die »positiven Schönheiten technologisch bestimmte, rationalisierte er die Kunst nur in den Bereichen«, die für Claude Perrault als außerkünstlerisch galten313 . Damit aber kam er im Grunde einer szientifischen Auffassung von Architektur schon sehr nahe, denn er glaubte an »den unbegrenzten Fortschritt der positiven Schönheiten im Sinne der durch die unendliche Entwicklungsmöglichkeit der Technik erlaubten Perfektibilität«314 . unternommen wurde, nochmals auf Grundlage der musikalischen Konsonanten eine Regelästhetik für die Architektur zu entwickeln. François Blondels rational ausgerichtete Architekturtheorie verlor im Laufe des 17. Jahrhunderts an Bedeutung. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts erschien das Buch des greisen Charles-Estienne Briseux, in dem nochmals der Versuch unternommen wurde, die musikalischen Proportionen zu rechtfertigen. Briseuxs Traité du Beau essentiel dans les Arts315 knüpfte an die Kritik Perraults an, die dieser ein Jahrhundert zuvor formulierte, und versuchte, sie zu widerlegen. Was veranlasste Briseux ein Modell aufzustellen, das anscheinend nicht mehr zum Zeitgeist passte? Die gleiche Frage könnte an Le Corbusier gestellt werden, der 200 Jahre später mit seinem Modulor einen weiteren Versuch unternahm, eine regulative Proportionstheorie in die Architekturtheorie einzuführen. Die musikalischen Proportionen (Abb. 2) besaßen für Briseux so wie die anthropomorphen Proportionen des goldenen Schnitts für Le Corbusier große
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Für Walter Kambartel steht Claude Perrault »nicht innerhalb der ›Querelle‹ als Parteigänger entweder der ›Anciens‹ oder der ›Modernes‹, sondern außerhalb der ›Querelle‹ als deren Kritiker.” Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 107. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 105. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 111. Walter Kambartel: Symmetrie und Schönheit, S. 111. Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, Paris 1752.
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Bedeutung, weil durch sie eine Struktur gegeben zu sein schien, welche die Natur, den Menschen und die Architektur gleichermaßen bestimmte.
Abbildung 2: Darstellung der musikalischen Proportionen in: Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, Musikalische Proportionen, Paris 1752.
Mathematisierbare Proportionen definieren die einzelnen Glieder durch exakte Grenzen, die normativ formulierbar und deshalb lehrbar sind und die Architektur zu einer Wissenschaft mathematischer und geometrischer Verhältnisse werden lässt. Kontingenz war Theoretikern wie Le Corbusier und Briseux suspekt, denn sie entwertete eine ursprünglich exakte ästhetische Wissenschaft. Die Bemühungen von Briseux und später von Le Corbusier sind deshalb als Strategien zu ver-
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stehen, den dynamischen Systemen des Szientismus eine rationale ästhetische Theorie als normative Struktur entgegenzustellen. Briseux zitiert im Vorspann seines Traité du Beau essentiel dans les Arts ausführlich Perrault, um ihn anschließend zu widerlegen. Perrault bestritte zwar, dass die Konsonanten in der Musik irgend etwas mit den Proportionen der Teile einer Säule zu tun hätten, da die Bewegung in den Ohren, die aus zwei zusammenklingenden Saiten bewirkt werde, etwas anderes sei als die Bewegung der Augen in der Betrachtung der Teile einer Säule316. Das Ohr sei bei musikalischen Harmonien nicht fähig, die Proportionen von zwei zusammenklingenden Saiten anzugeben, im Unterschied zu den Augen, die zwar Proportionen erfassen könnten, aber trotz genauer Kenntnis keine visuellen Konsonanten hervorbrächten. Deshalb habe eine angenehme Wirkung auf das Auge ihre Ursache nicht in den Proportionen, sondern in der Gewohnheit. Ebenso wenig wie bei akustischen Harmonien die Kenntnis der Proportionen eine Rolle spiele, sei dies in der visuellen Wahrnehmung der Fall. Briseux gab Perrault in gewisser Weise recht, indem er ihm zugestand, dass Übung und Ausbildung Auswirkungen darauf hätten, wie präzise vom Gemüt die Einflüsse des Sehvermögens oder des Gehörs aufgenommen werden317. Für Briseux war Perraults Argument, die Unkenntnis der musikalischen Proportionen sei ein Zeichen dafür, dass sie in der Empfindung des Schönen keine Rolle spielten, jedoch kein Beweis für deren Irrelevanz. Vielmehr sei es so, dass der tägliche Umgang mit einer Musikpartie, wie ihn ein Berufsmusiker habe, ein unendlich größeres Vergnügen an guter Musik bewirke,
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Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, S. 5. Briseux zu Perraults Argumentation: »Or ce qui fait qu’on ne peut pas dire que les Proportions de l’Architecture plaisent a la vue par une raison inconnu et qu’elles fassent leur effet par elles mêmes ainsy que les accords de la Musique produisent le leur dans l’oreille nonobstant l’ignorance dans la quelle on est des raison des consonnances, c’est que la connoissance que nous avons par le moyen l’oreille, de ce qui résulte de la proportion de deux cordes dans la quelle l’harmonie consiste, est tout à fait différente de la connoissance que nous avons par le moyen de l’œil, de ce qui résulte de la proportion des parties dont une colonne est composée; car si l’esprit est touché par l’entremise de l’oreille, de ce qui résulte de la proportion de deux cordea sans qu’il connoisse cette proportion, c’est que l’oreille n’est pas capable de lui donner la connoissance de cette proportion; mais l’œil qui est capable de faire connoitre la proportion qu’il fait aimer, ne peut faire sentir à l’esprit aucun effet de cette proportion, que la connoissance qu’il lui donne de cette proportion. D’où il s’en suit que ce qui est agréable à l’œil ne l’est point à cause de sa proportion quand l’œil ne la connoit pas, ainsi qu’il arrive le plus souvent.« Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, S. 5 und S. 6.
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als bei jemandem, der diese Partie nicht kenne318 . Analog gelte dies für den Augensinn. Ein mehr oder weniger geschultes Gehör und ein mehr oder weniger geschulter Augensinn als mehr oder weniger unterschiedene Kenntnis der Proportionen wirke auf die Seele und damit auf die »Lust«, die durch diese Sinne hervorgebracht werden könne319. Die Erklärung, weshalb die Proportionen einen Einfluss auf die Seele ausübten, gab Briseux als physiologisch-mechanistische Theorie. Ein tönender Körper erfasse den Mechanismus des Gehörorgans durch die Übertragung der proportionalen Verhältnisse der Töne. Zur Seele aber gelange dieser Vorgang durch eine Bewegung der Nerven über Impulse der Gehirnfasern320. Als Konsequenz könne eine weniger ausgebildete Seele ihre Lust nur aus einfachen Empfindungen genießen, sei sie aber »erleuchtet« durch die Vorschriften, so habe sie auch Lust an der Untersuchung und Diskussion. Briseux gestand zwar ein, dass durch Übung und Gewohnheit sich das Differenzierungsvermögen und somit auch die Lust des Nichtexperten am Schönen erhöht, den Architekten unterscheide aber vom Laien das Wissen um die Proportionsgesetze, den Wesensgesetzen des Schönen. Architektur war für Briseux wie für alle ontologischen Mimetiker Teil einer natürlichen Ordnung. Die Schönheit der Natur erfreue alle Menschen, da sie die Proportionen, nach denen die Natur ihre Produkte hervorbringe, mit Augen und Ohren wahrnehmen würden321. Briseux argumentierte wie ein moderner Naturwissenschaftler, wenn er in den Zwischenräumen der Regenbogenfarben, dieselben Proportionen entdeckte, wie sie bei den Intervallen der sieben Töne der Musik auftreten. Er sprach von einem »tableau naturel, que le Créateur présente à nos yeux, pour nous initier au sisteme des arts.«322 Die Empfindung von Schönheit ist bei Briseux ein physiologisch-sensueller Vorgang, der mit der Theorie eines essentiell Schönen natürliches Empfinden und wissenschaftliches Denken
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»Un Musicien, par exemple, se plait infiniment plus a une bonne musique, que celui qui ignore cette partie.« Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, S. 6. Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, S. 7 und S. 46 und 47. »[…] que les fibres qui composent le méchanisme de l’ouie sont en proportions rélatives avec les corps sonores. En consequence de cette analogie, voilà déjà l’action de ces corps sonores établie sur l’organe de l’ouie: que cette action soit transmise á l’ame par le moyen du nerf audilif, c’est une vérité de fait; qu’elle affecte l’ame par l’impulsion qu’elle opére sur les fibres du cerveau, ainsy que le fait l’action des autres sens, c’est encore une chose incontestable.« Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, S. 7. Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, S. 50. Charles-Estienne Briseux: Traité du Beau essentiel dans les Arts, S. 36.
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zusammenbindet. Der physiologische Impuls der Sehnerven, welcher von Natur und Kunst gleichermaßen ausgelöst werde, vermittelte dem Gesichtssinn dieselbe ästhetische Fähigkeit, wie sie der Gehörsinn mit den musikalischen Proportionen in der Wahrnehmung von Musik erfahre. Musikalische Konsonanten erfreuten, ohne dass Naturlaute wiedergegeben werden und in gleicher Weise erfreue die Architektur, indem sie die Ordnungsstruktur der Natur in ihren Proportionen dem Auge mitteile. Briseuxs Traktat knüpfte ein Jahrhundert später an die akademische Diskussion zwischen Perrault und Blondel an und versuchte anhand naturwissenschaftlicher Argumente die musikalische Proportionslehre für die Architektur zu retten323 . Was den Zeitgeschmack an Briseuxs Theorie störte, war ihr regulativ ästhetischer Charakter, in dem sich die bestehende gesellschaftliche Ordnung spiegelte und damit als Ausdruck einer Welt galt, die sich im Zustand der Auflösung befand. Da die musikalischen Proportionen Grundlage der doctrine classique waren, waren sie Ausdruck der Kultur und der Gesellschaft des siècle de Louis XIV. Die doctrine classique forderte in den Werken eine antike Vollkommenheit324 , denn »seither habe es in der kulturellen Entwicklung einen Abstieg gegeben, dem man lediglich mit Hilfe der Mimesis der Antike entgegenwirken könne.«325 Perraults Angriff auf die klassische Theorie öffnete dagegen die Architektur für die modernen Naturwissenschaften. Mit Hilfe der Methode Descartes und des Baconschen Experiments sollte ein raumunabhängiges und über Generationen hin gültiges Merkmal »universellen Wissens« entstehen und vermehrt werden, das zu einem Merkmal des »universellen Menschen« wurde326 . War die Mimesis zuvor an der Nachahmung und Vervollkommnung antiker Inhalte orientiert, so ging dieser Bezug durch die szientifische Wende zugunsten eines linearen, offenen Zukunftsmodells verloren. 3.3 Wirkungsästhetik und neuer Naturbegriff Mit der stärkeren Gewichtung der empirischen Forschung gewann der angelsächsische Sensualismus, auf den bereits François Blondel reagiert hatte, für die Ästhetik weitere Bedeutung. Rousseaus Naturbegriff, der das unmittelbare sub323
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»Briseux triumphiert über seinen für die Aufklärung typischen Versuch, den naturwissenschaftlichen Beweis für die Existenz einer göttlichen Seinsordnung zu erbringen.« Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 65. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst- Kultur- Gesellschaft, S. 160. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst- Kultur- Gesellschaft, S. 160. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst- Kultur- Gesellschaft, S. 160.
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jektive Empfinden als wahre Quelle der Natur pries und dieses Empfinden in der direkten Erfahrung der Natur suchte, ließ eine in normativen Vorgaben gefangene Lehre als obsolet erscheinen. Die Inhalte der doctrine classique, ihre künstliche, in Konventionen als erstarrt empfundene Welt, galten als scheinhaft und naturfern327. Die Naturbeschreibungen der doctrine classique schienen in clichés erstarrt, denen Rousseau eine wiederentdeckte »natürliche« Natur entgegenstellte328. Ästhetische Erfahrung sollte unverstellt Empfindungen des spontanen Gefühls wiedergeben. Diese wiederentdeckte Naturerfahrung veränderte die Interpretation der Antike. Die doctrine classique berief sich in ihrem hohen Ton und ihrer Regelhaftigkeit in anderer Weise auf die Vorbildlichkeit der Antike, wie es die Entdecker einer »natürlichen« Natur taten, die sich gleichfalls auf die Antike als Vorbild beriefen. Das neue Hinschauen auf die Natur verabschiedete, was durch Konvention Überdruss erzeugte, indem ein ewiges Wiederholen »derselben Stoffe, Fabeln, Bilder und Vergleiche«329 betrieben wurde und setzte die spontane Empfindung dagegen. Für die Architektur bedeutete dies eine Verlagerung des Urteils ins subjektive Empfinden. Architektonische Richtigkeit begründete sich nicht mehr mit dem Vollzug einer regulativen Theorie und einer durch Konvention entstandenen Dekoration, sondern ergab sich, wenn mit dem Werk das richtige Empfinden angesprochen wurde. Architektur musste unmittelbar überzeugen, so dass die Frage bedeutungslos geworden war, ob die musikalischen Proportionen den Gesichtssinn in gleicher Weise bestimmten wie den Gehörsinn. Im Jahr 1745 erschien von German Boffrand das Livre d’Architecture, in dem er durch die »Charaktertheorie« die »Subjektivierung« der Architektur weiter vorantrieb. Boffrands Architekturbuch wagte einen neuen Ansatz, indem er die Ausführungen des römischen Dichters Horaz auf die Architektur übertrug330. »So wie es in der Poesie, vor allem im Theater, verschiedene Genre-Arten gibt, die bestimmte Stimmungsträger darstellen, so sollen auch die Bauwerke bestimmte Ausdrucks-
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»Rousseau dissoziiert Natur und Schein vor allem im Hinblick auf das Theater, das als gesellschaftliche Kunst par excellence die Illusion par excellence ist. Die Gesellschaft (wie sie existiert, nicht wie sie sein soll) verhüllt die wahre Natur und gibt falschen Schein; der Schauspieler und das Theater sind die Epitome dieser Lüge.« Herbert Dieckmann: »Die Wandlung des Nachahmungsbegriffs«, S. 47. Herbert Dieckmann: »Die Wandlung des Nachahmungsbegriffs«, S. 42. Herbert Dieckmann: »Die Wandlung des Nachahmungsbegriffs«, S. 42. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 103.
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Boffrand verwendete die in der Antike entwickelte Decor-Theorie, um den Ausdrucks- und Stimmungsgehalt der jeweiligen Bauaufgabe zu bestimmen332. Architektur sollte wie die Dichtung vergleichbare Gefühle und Stimmungen evozieren. Die »Grundelemente der Architektur«, die »Profile, Gesimse und Zierleisten«, waren für ihn dazu die »kleinsten ausdruckstragenden Einheiten«333 . In dem von Jaques-François Blondel 1771-77 verfassten Cours d’Architecture waren es wiederum die Begriffe »Stimmung« und »Charakter«, die die Architektur anhand von »Gefühlausdrücken«334 begründen sollten. Damit war »die traditionelle Hierarchie in der Instrumentierung der Architektur durchbrochen, denn man kann einem Leuchtturm oder einem Gefängnis nicht ›weniger‹ Charakter geben als 335
einem Stadttor oder einem Lusthaus, sondern nur einen anderen.«
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Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 103 und Georg German: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, S. 223. »Un homme qui ne connoit pas ces différens caractères, et qui ne les fait pas sentir dans ses ouvrages, n’est pas Architecte.« German Boffrad: Livre d’Architecture, Paris 1745, S. 6. »A much discussed work amongst painters and critics in 17th century discourse. Horace's Ars Poetica (c. 20 BC) would still have been well known in Academic circles during Boffrand’s time. A phrase from that satire, ut pictura poesis, generated much commentary and debate on the relation between word and image as did the admonition on decorum for 18th-eentury history painting. The Livre d'architecture was nonetheless the first application of Horatian ideas of decor to architectural theory.« Lily H. Chi: An arbitrary authorita: Claude Perrault and the idea of charactère in Germain Boffrand Jacques-Francois Blondel, S. 194. »Un Edifice par sa composition exprime comme sur un Théatre, que la scene est Pastorale ou Tragique que c'est un Temple ou un Palais, un Edifice public destiné à certain usage ou une maison particuliere. Ces différents Edifices par leur disposition par leur structure, par la maniere dont ils sont décorés, doivent annoncer au spectateur leur destination; & s’ils ne le font pas, ils pechent contre l’expression, & ne sont pas ce qu’ils doivent être.« German Boffrad: Livre d’Architecture, S. 16 und 17. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 105. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 109. Antonio Hernandez: Grundzüge einer Ideengeschichte der französischen Architekturtheorie von 1560-1800, Basel 1972, S. 116. Zitiert nach Lehner Dorothea: Architektur und Natur, S. 109.
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Die Nachahmung der Natur war nun direkt mit ihrer Wirkung auf das wahrnehmende Subjekt verbunden. Auch Etienne-Louis Boullée (1728-1799), ein Schüler Blondels, nahm die Natur als Vorbild seiner Entwürfe. Ihm ging es um die Wirkungen von Naturbildern und Naturstimmungen, welche auch die Architektur evozieren solle. Boullées neue Sicht einer Imitation der Natur als Bestimmungsgrund der Architektur ist seinem Architecture-Essai sur l’Art vorangestellt: »Ed io anche son pittore«336. Er ordnete damit die Architektur der Malerei zu, was zur Folge hatte, dass sie sich in ihren Nachahmungen an deren Bildern orientierte. Am Anfang stand für Boullée »eine feste bildliche Vorstellung« zu der die »Kunst zu bauen [...] zweitrangig«337 sei. In diesem Punkt sei Vitruv ein grober Fehler unterlaufen, denn er habe Ursache und Wirkung verwechselt338 . Für Boullée war Architektur »reine Kunst mit Wissenschaft vereint«339. Boullée bezieht sich in seinem Essay auf die von François Blondel und Claude Perrault in der »Querelle des anciens et des modernes« formulierten Positionen. Er wendete sich vor allem gegen Perraults Argument, der leugne, dass die Architektur aus der Natur hervorgehe, indem er sie als eine phantastische Kunst und als reine Erfindung bezeichne. Kunst sei alles, was die Natur nachzuahmen versuche und diese Aufgabe habe noch kein Architekt in Angriff genommen340. Boullée ging es um den Fortschritt der Architektur als Kunst, welcher wie in den anderen Künsten in der Nachahmung der Natur liege, der auch der Architekt nicht entkommen könne341 . Ziel von Kunst und Architektur sei es, Gefühle zu erwecken, die wir angesichts der Natur empfänden342. Schön seien »die unserem Organismus ähnlichsten Gegenstände« und abzulehnen seien die, »die diese Ähnlichkeit nicht besitzen und die deshalb unserem Wesen nicht entsprechen.«343 Boullées anthropomorph gedachter Architekturbegriff führte allerdings nicht zu einer wiederholten Begründung der Ordnungen auf Grundlage des Vitruvianismus. Er behauptete vielmehr ganz allgemein, dass 336
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»Auch ich bin ein Maler«. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 44. Siehe hierzu auch den Kommentar von Adolf Max Vogt S. 168. Boullées Zuordnung der Architektur zur Malerei bedeutet, dass die Architektur wie die Malerei als zweckfreie Kunst betrachtet werden muss. Damit aber formuliert sie einen Anspruch auf Autonomie, der sie der Poesie und der Malerei gleichsetzt. Siehe hierzu: Monika Steinhauer: »Boullées Architecture«, S. 11. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 45. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 45. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 45. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 53. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 54 und 55. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 54. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 54.
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in »Regelmäßigkeit, Symmetrie und Vielfalt«344 die wesentliche Ursache für die Wirkung eines Gegenstandes begründet sei. Proportion bestehe in ihrer Wirkung und diese hänge vom Zusammentreffen der Eigenschaften »Regelmäßigkeit, Symmetrie und Vielfalt« ab und hat damit für Boullée nichts mehr mit den platonisch-pythagoreischen Harmonien zu tun345.
Abbildung 3: Etienne-Louis Boullée: Leergrab für Newton, Nachtansicht.
Da die Kugel sowohl die perfekteste Symmetrie als auch eine unendliche Vielfalt bei einfachster Form besitze, übe dieser Körper von Natur aus eine unbegrenzte Macht auf unsere Sinne aus346 (Abb. 3). Boullée begründete die Schön-
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Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 55. Die regelmäßigen Formen sind deshalb für Boullée so wirksam, weil sie leicht apperzierbar sind: »Wie stark die Erscheinung eines Gegenstandes auf uns wirkt, hängt aber von seiner klaren Erfassbarkeit ab; was nun die regelmäßigen Körper für uns besonders hervorhebt, ist die Tatsache, daß ihre Regelmäßigkeit und ihre Symmetrie Inbegriff der Ordnung sind und dass in der Ordnung wiederum die Klarheit selbst liegt.« EtienneLouis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 56. Boullées Argumentation baut vor allem auf seiner théorie des corps auf, die vom englischen Sensualismus beeinflusst ist. Die Kugelform oder andere elementargeometrische Formen sind deshalb in besonderer Weise ästhetisch wirksam, weil die physiologischen Reize, die sie auf Sinne und Nerven ausüben, uns in besonderer Weise berühren. Monika Steinhauer: »Boullées Architecture«, S. 21-25. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 56. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 57.
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heit von Dingen als Nachahmung der Natur durch die Macht ihrer sensuellen Reize und näherte sich dem Begriff der »positiven Schönheit« bei Claude Perrault an. Wie Charles Perrault wollte Boullée »positive Schönheiten« begründen, indem er deren sensualistische Gesetzmäßigkeiten aufzeigte347. Die musikalischen Harmonien seien unserem Organismus analog und nicht anzuzweifeln348 , sie galten allerdings für Boullée nicht für die Architektur, da sie in dieser nicht zweifelsfrei sofort erkennbar seien349 . Boullées rationale, aufklärerische Position fordert die Nachahmung der Natur in ihrem Gesetzescharakter mit seiner »Körpertheorie« für die Kunst ein350 . In der Beschreibung seiner Entwürfe erweitert er diese dann um »objektive« Natureindrücke, die er in die Architektur zu transferieren versucht. »Stimmung« und »Charakter« von Naturbildern sind für Boullée rationalisierbar und gezielt für die Architektur einsetzbar 351. Seine Beschreibungen der Jahreszeiten sind die eines Lyrikers: 347
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Der bekannte Kenotaph für Newton entspricht am meisten von allen Entwürfen Boullées den von ihm genannten Kriterien »Regelmäßigkeit, Symmetrie und Vielfalt«. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 59. »In der Architektur stören fehlerhafte Proportionen gewöhnlich nur das Auge des Kenners. Daran sieht man, daß die Proportion, auch wenn sie eine der hervorragendsten Schönheiten der Architektur darstellt, nicht das Gesetz ist, auf dem die grundlegenden Prinzipien dieser Kunst beruhen.« Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 60. Boullées aufklärerische Position bestand vor allem darin, die Architektur nicht mehr im Sinne der Konvention anhand der Säulenordnungen zu begründen, deren Dekorumlehre eng mit der absolutistischen Gesellschaft verbunden war. Seine Argumentation war sensualistisch und als Rezeptionsästhetik egalitär. Hierfür entwickelte er seine »Körpertheorie«, die auf eine der Natur analoge, die »Empfindung affizierende Architektur« setzte. Für diese »ist die naturmimetische Erklärung der Architektur, die der legendären Entstehungsgeschichte der verschiedenen Säulenordnungen zu Grunde liegt, nicht mehr maßgeblich. Die Ähnlichkeit mit der äußeren Erscheinungsweise von Mensch und Natur entfällt zugunsten einer strukturmimetischen Bestimmung, die sich in der archetypischen Reduktion architektonischer Körper kundtut.« Monika Steinhauer: »Boullées Architecture«, S. 24. »Wenden wir unsere Aufmerksamkeit einem Objekt zu. Das erste Gefühl, das es in uns hervorruft, hängt natürlich damit zusammen, inwiefern uns dieses Objekt etwas angeht. Ich bezeichne demnach als Charakter die Wirkung, die von diesem Objekt ausgeht und die auf uns irgendeinen Eindruck macht. Einem Werk Charakter verleihen heißt also, alle geeigneten Mittel richtig anzuwenden, damit in uns die Empfindungen hervorgerufen werden, die dem Gegenstand angemessen sind. Um zu verstehen, was ich unter Charakter oder unter der Wirkung verschiedener Objekte auf uns meine, so betrachten wir einmal die großartigen Bilder der Natur, dann sehen
94 | M IMESIS UND MODERNE A RCHITEKTUR »[...] der Sommer kündigt sich an und zwingt uns, den Ton zu ändern. Trunken vom Anblick des hellstrahlenden Himmels kennt unsere Begeisterung keine Grenzen mehr. [...] Alles hat feste Form angenommen, ist groß makellos und rein. Klar und deutlich zeichnen sich die Konturen ab. Die volle Entfaltung aller Formen verleiht ihnen eine edle und ma352
jestätische Proportion: die lebhaften Farben haben volle Leuchtkraft erreicht.«
In gleicher Weise wie die Bilder der Jahreszeiten sollte für Boullée die Architektur ihre Zweckbestimmung in der Naturnachahmung der Jahreszeiten ausdrücken. Naturnachahmung war deshalb auch Nachahmung von Dunkelheit in Wäldern oder auch von Lichteffekten, »die in uns verschiedenartige und gegensätzliche Empfindungen auslösen je nachdem ob sie strahlend oder düster sind.«353 Unterschiedliche Bauaufgaben besaßen für Boullée unterschiedliche Naturbilder als Vorbild der Nachahmung. Der Künstler verbringe sein Leben mit der Beobachtung der Natur, in der es für ihn immer etwas zu entdecken gebe354 . Boullée schildert einen im Mondschein liegenden Wald, in dem sein Schatten seine ganze Aufmerksamkeit gefangen genommen und mit größter Schwermut erfüllt habe. Er habe damals die düstersten Seiten der Natur erblickt, da sich ihm die Natur im Trauerkleide darboten habe355. Diesen Eindruck der Natur solle die Architektur bei einem Grabmonument nachahmen, denn es sei nicht möglich, »sich etwas Traurigeres vorzustellen als ein Monument, das aus einer glatten, nackten und kahlen Oberfläche, aus einem lichtabsorbierenden Material ohne jedes Detail besteht und dessen Schmuck nur ein Bild von Schatten ist, entstanden aus noch dunkleren Schatten.«
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Architektur war für Boullée Nachahmung der Natur ohne die tradierten Proportionslehren, da diese für ihn die Natur nicht präzise bestimmten. Stattdessen bezeichnete er die »positive Schönheiten« der Natur mit »Regelmäßigkeit, Symmetrie und Vielfalt« und verwendete die für ihn gleichermaßen positiv bestimm-
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wir, wie die Wirkung auf unsere Sinne den Ton bestimmt, mit welchem wir unseren Gefühlen Ausdruck geben.« Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 66. Der Charakterbegriff bei Boullée ist also ein wesentlich anderer als ihn die Lehre des decorum vorgab. Er gründet sich auf Naturstimmungen und nicht auf den Regeln der Konvention. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 66 und 67. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 79 und S. 80. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 128. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 128 und S. 129. Etienne-Louis Boullée: Abhandlung über die Kunst, S. 129 und S. 130.
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baren Naturbilder als die eigentlichen nachzuahmenden Inhalte für die Architektur. Boullée war der erste, der versuchte, ohne auf Säulenordnungen oder ikonologische Bildprogramme zurückzugreifen mit Hilfe der architektonischen Grundformen ein neues architekturtheoretisches System zu erstellen357 . Die von ihm gefundenen »positiven Schönheiten« waren der Natur nicht immanent, sondern entsprachen seiner sensualistischen Wirkungsästhetik. Charakter und Ausdruck eines Bauwerks entsprachen Naturbildern, die für die jeweilige Bauaufgabe gefunden werden mussten. Sie bezogen sich auf die Apperzeption von Natur und damit auf einen strukturmimetischen Sensualismus, nicht aber auf Struktur der Natur selbst. Eine Nachahmung der inneren Regeln der Natur forderte der Abbé MarcAntoine Laugier (1713-69). Das im Jahr 1765 erschienene Essai sur l’Architecture des Abbé verarbeitete den Kritizismus der Aufklärung, indem er sich auf die vitruvianische Urhütte als konstruktiver Skelettarchitektur bezog. Laugier forderte, dass die Architektur die Natur nachahmen solle, indem sie deren Prinzipien verwendete358. Ihm ging es aber nicht wie Boullée um die bildhafte Evokation der Natur im Medium der Architektur, sondern um die Übernahme von deren strukturimmanenten Prinzipien, die er in den konstruktiven Grundlagen der Architektur der vitruvianischen Urhütte als deren einfachstes und damit naturnahes Modell erkannte. Die Idee der Urhütte war durch die Architekturtraktate bekannt, so dass Laugiers Herleitung der einzelnen Architekturformen aus den jeweiligen »natürlichen Vorbildern der ersten Hütten ganz der traditionellen Überzeugung« entsprach359. François Blondel stellte bereits in seinem 1671 erschienenen Cours D’Architecture eine Urhütte vor, die aus einer mit Mauerwerk ausgefachten Skelettkonstruktion bestand, deren Pfosten roh behauene Bäume waren360. Blondel erklärte allerdings das konstruktive Modell der Urhütte nicht als Bestimmung der Architektur, sondern wollte deren Herkunft aufzeigen. Der
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Lehner Dorothea: Architektur und Natur, S. 112 und S. 113. »Il en est de l’Architecture comme des tous les autre Art: ses princips sont fondées sur la simple nature, et dans les procédés de celle-ci se trouvent clairement marquées les règles de celle-là.« Marc-Antoine Laugier: Essai sur l’Architecture, Paris 1755 (1. Aufl. Paris 1753), S. 8. Dorothea Lehner: Architektur und Natur, S. 96. Blondel beschreibt im 1. Kapitel eine Architektur, die »dans la simplicité de la structure s’approchoit au plus prés du naturel [...].« Ils faisoient premierement porter des poutres sur des troncs d’arbres plantez debout aux quatre cois d’un espace quatré, & aprés avoir rempli les entredeux avec des pietres ou du bois ou toute autre matiere propte à faire corps de clostûre, [...].« François Blondel: Cours d’architecture, Premiere partie, Kapitel 1, S. 2.
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besondere Unterschied zu Laugiers Modell bestand darin, dass dessen Modell in der Konstruktion ihre Bestimmung hatte und »alles durch Zweck und Notwendigkeit geregelt ist und jedes Teil seinen bestimmten Platz einnimmt, der ihm zukommt.«361 Die nach natürlichen Prinzipien entstandene Urform von Architektur war für Laugier das Vorbild für jede Form von Architektur. Sie stellte für ihn einen Nukleus dar, der auch dann noch Gültigkeit besaß, wenn die architektonische Form ins Riesenhafte aufgebläht wurde. Laugiers Theorie ist radikal vereinfachend und zeigt ein Ordnungsprinzip, das die Architektur von scheinbar konstruktiv widersprüchlichen Inkrustierungen reinigt. Zugleich führte seine Simplifizierung zu einer Reduzierung möglicher Bauformen und zur Einengung architektonischer Lösungsmöglichkeiten. Laugiers Kritik des Pilasters oder der Verwendung von Giebeln unterhalb des Hauptdaches folgte einer wichtigen Forderung aufgeklärter Architektur: Architektur sollte nicht imitativ ihre semantischen Glieder nach formalästhetischen Gesichtspunkten einsetzen, sondern entsprechend ihrer konstruktiv richtigen Anwendung. Rein mechanische und konstruktive Aspekte des Bauens nehmen in den Architekturtraktaten von Vitruv und Alberti breiten Raum ein und sind als notwendiges Wissen für die Herstellung von Gebäuden unverzichtbar, zur architektonischen Aussage trugen sie allerdings für beide wenig bei. Architektur entstand für Vitruv erst mit der Anwendung der »symmetria«, des »decor« und der anthropomorphen Proportionen von Säule und Gebälk. Für Laugier waren diese mimetischen Vorgaben nicht mehr bindend. Seine aufklärerische Kritik maß der richtigen und damit wahren Konstruktion den entscheidenden ästhetischen Wert bei. Darstellung der »wahren Konstruktion« galt ihm als »ontologische« Aussage des Bauwerks, da sie die Prinzipien der Natur widerspiegle. Als Modell war Laugiers Theorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr erfolgreich, da ihre Rationalität einem normativen Klassizismus entsprach. Rationalität darf hier nicht mit Zweckrationalität verwechselt werden, denn Architektur wurde von ihm auch als »Darstellung« verstanden, und zwar als Darstellung eines auf Vernunft beruhenden Schauspiels. Laugier verlangte nach der »einfachen Fabel«, deren Wirkung auf der Klarheit und Einfachheit ihres Aufbaus besteht. Laugiers Beispiel zeigt, wie die proklamierte Vernunft die Regeln der vormodernen Architektur, die noch für Briseux galten, bedeutungslos werden ließ. Die architekturtheoretische Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im anschließenden 19. Jahrhundert behielt als Primat die Forderung
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nach der »wahren konstruktiven Lösung« bei. So galt die Architektur des dorischen Tempels als vernünftig, weil sie eine scheinbar wahre Konstruktion darstellte. Streitpunkt war, ob der dorische Tempel, wie Vitruv berichtet, den Holzbau nachahme oder ob er schon immer in Stein konzipiert war. Aloys Hirt hat in seiner Baukunst nach den Grundsätzen der Alten zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhand von Stichen die Holzbauhypothese des dorischen Tempels vertreten, während Genelli und später Heinrich Hübsch für die These einer ursprünglichen Steinkonstruktion des Tempels eintraten362 . Die Diskussion zeigt exemplarisch das Bemühen, dem architektonischen Schaffen ein wissenschaftliches und rational nachvollziehbares Fundament zu verleihen. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Ausdruckswerte der griechischen Klassik von Winckelmann wiederentdeckt. Ziel war es, antikem Denken und Empfinden über die archäologische und philologische Forschung nahe zu kommen und das eigene Werk daran auszurichten. Für Winckelmann verkörperte die Antike in ihren Kunstwerken ein überzeitliches Form- und Ausdrucksideal und wurde selbst zum Gegenstand der Mimesis. Hermann Bauer hat diese »Nachahmung der Antike als Zweck« für die Architektur als Bedeutungsverschiebung des vitruvianischen Begriffs der »utilitas« interpretiert363. »Die Alten«, das war für Winckelmann eine ursprüngliche, naturnahe Antike, aus der die künstlerische Form noch ohne Bruch hervorging. Die besonderen klimatischen Verhältnisse in Griechenland und körperliches Training von frühester Kindheit an waren für ihn die notwendigen Grundlagen der griechischen Kultur364. Winckelmanns naturnahe Antike war auf eine historische Epoche beschränkt, die er zur Grundlage von Kunst erheben wollte365. Für ihn bestand »der
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Siehe hierzu: Hartmut Mayer: Die Tektonik der Hellenen. Kontext und Wirkung der Architekturtheorie von Karl Bötticher, Kapitel 4.3, S. 74ff. Hermann Bauer: »Architektur als Kunst«, in: Kunstgeschichte und Kunsttheorie im 19. Jahrhundert, Probleme der Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 135. »Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels wirkte bei der ersten Bildung der Griechen, die frühzeitigen Leibesübungen aber gaben dieser Bildung die edle Form. Man nehme einen jungen Spartaner, den ein Held mit einer Heldin gezeugt, der in Kindheit niemals in Windeln eingeschränkt gewesen, der von dem siebenten Jahre an auf der Erde geschlafen und im Ringen und Schwimmen von Kindesbeinen an geübt worden war.« Winckelmann Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 4. Siehe hierzu: Ekardt Philipp: »Sensing-Feeling-Imitating. Psycho-Mimeses in Aby Warburg« S. 110 und 111. »Winckelmann thus situates the image in an ideal zone by assigning it to a quasi-mythical time while maintaining that this ideal at one manifested itself in the actuality of historical time, thereby throwing the modern
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einzige Weg« groß, »wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden« in der Nachahmung der Alten366 mit der Folge, dass das Urbild der Mimesis in eine weite historische Ferne gerückt und nur als Fiktion wirksam war. In seiner Historizität war es aber nicht weniger präsent, denn als Fiktion wurde es bei Winckelmann zu einer überzeitlichen Wirklichkeit, die eine umso stärkere Wirksamkeit entfalten sollte. Winckelmann ging es nicht um »die Natur«, sondern um die Idee einer »vollkommenen Natur«367. Jene »vollkommene Natur« war »antike Form« und »Naturideal« in einem. Die Begründung für deren Einheit lieferte Winckelmann, indem er die »Form« an eine hohe Zivilisation und deren »Körperempfinden« band, von dessen Vollkommenheit das Kunstwerk mimetischer Ausdruck war368. Nietzsches Forderung nach einer »Physiologie der Kunst« knüpfte später an dieses überzeitliche Ideal an, denn auch Nietzsches Kunstbegriff beinhaltete nach dem Ablegen aller Masken ein zugleich einfaches und hohes Kulturideal. Insbesondere Winckelmanns Interpretation des Laokoon enthält
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idealist aesthetician / historian into a characteristic bipolar crisis of alternating elation and depressin.« Ebenda, S. 111. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 3. »Die Kenner und Nachahmer der griechischen Werke finden in ihren Meisterstücken nicht allein die schönste Natur, das ist, gewisse idealische Schönheiten derselben, die [...] von Bildern, bloß im Verstande entworfen, gemacht sind.« Johann Joachim Winckelmann: Werksausgabe, hrsg. v. d. Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Berlin und Weimar 1969, S. 3. Zitiert nach Ulrich Hohner: Zur Problematik der Naturnachahmung in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, S. 205. Für Winckelmann schieden Naturstudien grundsätzlich aus, da sie immer defizitär bleiben mussten. »Im Gegensatz zum antiken Künstler, so Winckelmann, fehle dem modernen Künstler die Möglichkeit zur Beobachtung des Schönen in der Natur; beide, Winckelmann wie Herder, sprechen von den ›gedungenen Modellen‹ anhand derer die Modernen den Versuch unternehmen, das Schöne darzustellen; die Alten hätten dazu die unmittelbare Natur gehabt. Ebenda, S. 204 und 205. »Man muß wohl davon ausgehen, daß Winckelmann das Schöne als apodiktische ideelle Größe verstanden hat, die er – zusätzlich – historisch zu beleben und zu erklären sucht. Winckelmanns historische Argumentation bezüglich des griechischen Ideals lässt bei ihm keineswegs die theoretische Position erkennen, wonach die Kunstformen grundsätzlich unter Zugrundelegung der historischen Bedingungen zu erklären sind. Vielmehr klittert Winckelmann historische und normative Bestimmung des Ideals zusammen; die griechischen Verhältnisse verhelfen dem apriorischen Schönen zur Entfaltung, sie sind aber nicht selbst das materielle Konstituens des Ideals.« Ulrich Hohner: Zur Problematik der Naturnachahmung in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, S. 203.
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bereits das Bild einer klassischen Kunst, das auf Nietzsches dionysischapollinisches Kunstideal verweist369. Der Laokoon zeigt trotz äußerster Anspannung »keine Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung«. Nicht die naturalistische, ungehemmte Wiedergabe der Gefühle kennzeichnete für Winckelmann den Laokoon, sondern die durch Stilisierung gehemmte und doch freie und ruhige Anmutung. Dass jene »gebändigte Form« eine hohe kulturelle und zivilisatorische Entwicklung 370 voraussetzt, bedeutet nicht, dass diese Werke weniger »natürlich« wären. Winckelmanns Antike ist keine geglättete, sondern eine Antike, die die Schrecken der Natur kennt, ihr aber durch Rationalität entgegentritt371 . Der tiefere mimetische Reiz jeder klassischen Form und ihr überzeitlicher Inhalt besitzen darin ihr ethisches Ideal.372
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»Mit der Idealisierung der griechischen Statue wandelt Nietzsche auf den Spuren Winckelmanns, für den sich in der griechischen Skulptur die ›sinnliche Schönheit‹ des ›Menschlichen‹ mit der ›idealischen Schönheit‹ des ›Göttlichen‹ verbindet. Freilich, bei Nietzsche ist die Statue im Unterschied zu Winckelmanns klassizistischem Schönheitsbegriff Ausdruck des Willens zur Macht.« Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 106. »Seine Beschreibungen von Kunst und Geschichte beziehen sich vor allem auf das klassische Griechenland; hier siedelt er die schöne Natur und das idealische Kunstschöne an. Die schöne Natur entspricht damit einem ausgesprochenen zivilisierten Stadium der griechischen Geschichte: das Ideal erfüllt die Kriterien des Ebenmaßes, der ›gebändigten‹ Form.« Ulrich Hohner: Zur Problematik der Naturnachahmung in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, S. 203. Mit der Laokoonskulptur entwickelte Winckelmann den Begriff des Erhabenen für die klassizistische Kunst: Die innere Leidenschaft, die Bewegtheit des Gefühls tritt nicht nach außen, sondern findet im Gesicht des Laokoon eine durch Rationalität bestimmte Unterjochung. Die unmittelbare Äußerung wird aufgehoben, um eine andere Kraft darzustellen. Die Vernunft, die sich dem Chaos entgegenstellt und dadurch Größe erreicht. Das Erhabene klassizistischer Kunst ist ein Ideal der Stilisierung, das sich über ein inneres und äußeres Chaos legt. Gerade in der extremen Not des Laokoon zeigt sich trotz äußerster Bewegtheit eine Stille, die dem äußersten Unheil zu begegnen weiß. Mit dem ethischen Ideal verband sich ein politisches Ideal – das des aufsteigenden Bürgertums –. »Während in Frankreich von David eine gewisse Kontinuität in der klassizistischen Tradition hergestellt wird, versagt in anderen Ländern die klassizistische Kunstproduktion, so dass allein die Werke der Antike dem bürgerlichen Klassizisten als vorbindlich erscheinen; auf sie kann er die bürgerlichen Vorstellungen von Geradlinigkeit, Reinheit, Unverdorbenheit, etc. projizieren.« Ulrich Hohner: Zur Problematik der Naturnachahmung in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, S. 213.
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3.4 Nachahmungsmodelle im 19. Jahrhundert Für Jean-Nicolas-Louis Durand, dem Schüler Boullées, war die Architektur keine nachahmende Kunst mehr. Quatremère de Quincy, welcher an der Ecole des Beaux-Arts unterrichtete, verteidigte dagegen die vitruvianische Tradition und Nachahmungslehre. Durand unterrichtete an der Ecole Polytechnique und fasste seine Vorlesungen in dem zweibändigen Werk Précis de Leçons d’Architecture zusammen. Im ersten Band setzte sich Durand intensiv mit Vitruv auseinander, nur um zu zeigen, dass die Architektur nichts imitiere, denn die bei Vitruv angegebenen Proportionen ließen sich bei keinem griechischen Bauwerk nachweisen, weshalb die These falsch sei, die Ordnungen seien anthropomorph bestimmt373 . Durand sprach auch Laugiers Modell der Urhütte für die Architektur keine Gültigkeit mehr zu; den Säulenordnungen wurde letztlich jede Bedeutung abgesprochen, denn sie seien eine reine Schimäre und trügen zur Freude an einem Gebäude nichts bei374. Einzig Angemessenheit und die Wirtschaftlichkeit seien Kriterien, nach denen sich die Architektur zu richten habe, wobei der Begriff der »convenance« Durands den vitruvianischen Begriffen »firmitas« und »utilitas« vergleichbar ist375.
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»D’ailleurs, das tous les édifices grecs, la proportion des colonnes doriques varie infiniment [...]; et dans cette variété infinie, le rapport exact de six à un ne se rencontre pas une seule fois. Sie quelque architecte grec s’est avisé d’assigner cette proportion à l’ordre dorique; il paraît que les Grecs n’en ont fait aucun cas: autrement, on la retrouverait, sinon dans tous leurs édifices, du moins dans ceux qu’ils ont élevés du temps de Périclès, édifices qui passent avec raison, pour des chef-d’œuvres. La même variété se remarque dans les proportions des autres ordres que l’on soutient avoir été imités du corps de la femme et de la jeune fille [...]. Il n’est donc pas vrai que le corps humain ait servi de modèls aux ordres.« Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis de Leçons d’Architecture, Bd. 1, S. 10. 374 »Or si la cabane n’est point un object naturel; si le corps humain n’a pu servir de modèle à l’architecture; si, dans la supposition même du contraire, les ordres ne sont point une imitation de l’un et de l’autre: il faut nécessairement en conclure que ces ordres ne forment point l’essence de l’architecture; le plaisir que l’on attend de leur emploi et de la décoration qui en résulte est nul; cette décoration, elle-même, une chimère; et la dépense dans laquelle elle entraîne, une folie.« Jean-Nicolas-Louis Durand: Précis de Leçons d’Architecture, Bd. 1, S. 13. 375 »Ainsi, la convenance et l’économie; voilà les moyens que doit naturellement empolyer l’architecture, et les sources où elle doit puiser ses principes, les seuls qui puissent nous guider dans l’étude et dans l’exercise de cet art. D’abord, pour qu’un édifice soit convenable; il faut qu’il soit solide, salubre et commode.« Jean-NicolasLouis Durand: Précis de Leçons d’Architecture, Bd. 1, S. 16.
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Durands Ausgrenzung der Mimesis stand ihre Verteidigung bei Quatremère de Quincy gegenüber. De Quincy hatte als »herausragender Vertreter des idealistisch akademischen Klassizismus [...] 1816-1839 als secrétaire perpétuel der Akadémie des Beaux-Arts, aber auch noch in beratender Tätigkeit bis kurz vor seinem Tod 1849 den größten Einfluss auf die Normenbildung in der Akadémie und an der Ecole des Beaux-Arts.«
376
Die »Nachahmung der Alten« wie sie François Blondel in seinem Cours d’architecture beschrieb und wie es Winckelmann als Ausdrucksideal definierte377 waren für ihn Grundlage seines didaktischen Konzepts an der Ecole378 . Quatremère de Quincy kanonisierte die Mimesis für die Architektur auf Grundlage des Vitruvianismus und vertrat entschieden die »imitatio naturae«. Sein Modell der Imitation bezieht sich wie das von François Blondel auf die »natura naturans« und damit auf ein monistisches Modell der Natur, deren Regeln und Gesetze im Werk anzuwenden seien379. Wie für Blondel lagen die Gesetze und Regeln der Natur für ihn in den Proportionen der lebenden Natur, in der sich die Vielfalt der Typen auf evidente Art und Weise zeige. Zusammengefasst sei es die wahre Nachahmung des menschlichen Körpers, welche Theorie und Praxis der Proportionen offenbare380 . Quatremère sah denn auch in den drei Ordnungen 376 377 378 379
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Jörn Garleff: Die Ecole des Beaux Arts in Paris, S. 36. S. a. »Die mimetische Idee des Klassischen« im 5. Kapitel. Jörn Garleff: Die Ecole des Beaux Arts in Paris, S. 38. »Lors donc qu’on dit que la nature est le modèle de tous les beaux-arts, il faut se garder de restreindre l’idée de nature dans ce qu'elle a de sensible et de matériel. La nature existe autant dans ce qu'elle a d’ invisible que dans ce qui saisit les yeux. Ainsi c’est prendre la nature pour modèle, c’est l’ imiter, que de se donner pour règles, dans certains ouvrages de l’art, les règles qu’elle suit elle-même dans les siens; que d’opérer d’après les principes auxquels elle a subor donné son action dans la conformation des êtres ; que d’agir, enfin, dans les œuvres de l’art, en suivant la direction qu’elle donne à ses moyens, en se proposant le même but que celui auquel elle tend. Imiter ne signifie donc pas nécessairement faire l’image ou produire la ressemblance d’une chose, d’un être, d’un corps ou d’un ouvrage donné; car on peut, sans imiter l’ouvrage, imiter l’ouvrier. On imite donc la nature en faisant comme elle, c’est-à-dire non en répétant son ouvrage proprement dit, mais en s’appropriant les principes qui servirent de règle à cet ouvrage, c’est-à-dire son esprit, ses intentions et ses lois.« Quatremère de Quincy: Dictionnaire historique d’architecture, Artikel »Imitation«, Bd.2, S. 5. »Mais disons-le, le secret de ce système ne pouvoit être révélé et appliqué à l’art de bâtir que chez un peuple où l’ imitation des corps organisés et de la nature vivante
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entsprechend der vitruvianischen Tradition die für die Architektur wichtigsten menschlichen Charaktere verkörpert, die die Architektur in analoger Form mit denselben Eigenschaften und Qualitäten in ihren Werken hervorrufe381 . Er nahm die 1765 im Encyclopédie-Artikel »Imitation« vorgenommene Trennung zwischen einer »imitation de la nature« und einer »imitation des anciens« wieder zurück382 , was zeigt, dass für ihn die Natur sich nicht von der Natur, wie sie in der griechischen Kunst erschien, grundsätzlich unterschied, sondern diese deren ideale Verkörperung war. Architektur ist zunächst Trennung von der Natur, weshalb Quatremère de Quincy von ihr forderte, sie müsse diesen Verlust ausgleichen. »Die Architektur kann erst dann einsetzen, wenn die verschiedenen Völker einen bestimmten Entwicklungsstand, eine bestimmte Kultur geschaffen haben.« Denn dann, so argumentierte Quatremère de Quincy entfernten sich die Menschen immer weiter von ihren ländlichen Beschäftigungen, »und indem sie sich in Städten einschließen, suchen sie Freuden (plaisiers) der Natur, die sie aus den Augen verlieren, durch die Freuden (jouissances) der Künste zu ersetzen, die jenen nachempfunden, nachgeahmt sind«383. De Quincy ging es aber nicht primär um eine »ontische Mimesis«, also um die abbildhafte Nachahmung der Flora und Fauna in der Architektur, sondern um eine »imitatio naturae« als »natura naturans«, die er platonisch verstand, denn »man creates nothing in the elementary sense of the word, and that he only finds new combinations of pre-existing elements.«384 Architektur als Kunst müsse sich der Prin-
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382 383 384
avoit familiarisé les yeux avec les modèles, où se trouvent imprimées, de la manière la plus évidente, les lois des proportions, les variétés des types de chaque caractère, et où se manifestent les exemples de toutes les harmonies que l’homme peut appliquer à ses ouvrages. En un mot, c’est l’imitation vraie du corps humain qui devoit révéler la théorie et la pratique des proportions.« Quatremère de Quincy: Dictionnaire historique d’architecture, Artikel »Imitation«, Bd.2, S. 5. »L’étude du corps humain avoit appris aux yeux et habitué l’esprit à y distinguer les variétés de caractère et les différences de formes , d’où résulte l’expression sensible des qualités principales de force, de légè reté, de puissance, etc. L’architecture trouva là une sorte de modèle, d’après lequel elle put affecter à ses ouvrages une correspondance analogique des mêmes propriétés, des mêmes qualités, rendues sensibles et évidentes dans la formation des trois ordres et des nuances qu’ils comportent.« Quatremère de Quincy: Dictionnaire historique d’architecture, Artikel »Imitation«, Bd.2, S. 7. Jörn Garleff: Die Ecole des Beaux Arts in Paris, S. 44. Jan Pieper: »Mimesis und Metamorphosen der Architektur. Exzerpte aus der Typenlehre des Quatremère de Quincy«, S. 272. Samir Younés: The true, the fictive, and the real. The historical dictionary of architecture of Quatremère de Quincy, S. 27.
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zipien und Elemente der Natur bedienen und diese in ihr System überführen, da sie, so Jan Piper zu de Quincy, ein System »metaphorischer Nachahmung« sei, die den Geist der Natur und nicht ihre Erscheinung nachahme. Indem sie sich ständig mit ihr vergleiche, sei sie allmählich jenen Gesetzen auf die Spur gekommen, mit denen die Natur es fertigbringe, uns vorbehaltlos zu erfreuen385 . Diese Gesetze aber hätten ihre Wurzeln in der Psychologie und der Physiologie der Wahrnehmung386 . Die Argumentation nähert sich hier bereits einer Konzeption des »Klassischen«, die Nietzsche später in seiner »Physiologie der Kunst« entwickelt. Besetzte Quatremère de Quincy noch eindeutig die Position der »anciens«, so ergab sich im 19. Jahrhundert durch den »historischen Sinn« eine wesentliche Veränderung. Die »Nachahmung der Alten« in Form eines überzeitlichen Ideals wich einem historischen Verständnis von Kunst und Architektur, mit der Forderung, die eigene Zeit in der Kunst widerzuspiegeln, um damit selbst Teil der Historie zu werden. Der Mimesis wurde nicht mehr zugetraut, als »imitatio naturae« überzeitliche Prinzipien darzustellen, sondern Geschichte wurde mit Hegels idealistischer Philosophie teleologisch-prozessual aufgefasst, mit der Folge, dass sich die Wirklichkeit nur im »Hier und Jetzt« zeigen konnte. Schinkels Anmerkungen zu Hirts Baukunst nach den Grundsätzen der Alten zeigen exemplarisch diesen Unterschied. Hirt argumentierte noch mit der getreuen »Nachahmung der Alten«: »Die Betrachtung dass die Architektur die wir betreiben nicht unsere Erfindung sondern als ein Erbgut auf uns gekommen ist überzeugte mich dass ich vor allem die Geschichte um Rath fragen müssen.«
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Hirt postulierte in der griechischen Architektur den »Mechanismus der Construction«, die »zweckmäßige Anordnung« und das »Wohlgefällige und Schöne« als unverrückbares Vorbild der Nachahmung388 . Schinkel suchte zwar auch nach imitationswürdigen Vorbildern, aber nicht mit der Absicht, diese getreu zu wiederholen oder in deren Systematik weiterzudenken, sondern er wollte in einem
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Jan Pieper: »Mimesis und Metamorphosen der Architektur. Exzerpte aus der Typenlehre des Quatremère de Quincy«, S. 279. Jan Pieper: »Mimesis und Metamorphosen der Architektur. Exzerpte aus der Typenlehre des Quatremère de Quincy«, S. 279. Aloys Hirt: Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten, Vorrede, S. V. Aloys Hirt: Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten, Vorrede, S. 36. Klaus Jan Philipp attestiert Hirt das »System einer mechanistischen Entwicklungslogik der griechischen Architektur«. Klaus Jan Philipp: Um 1800, S. 58.
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historischen Sinne die Kräfte und Stimmungen der Gegenwart erfassen. So notierte er folgenden Passus zu Hirts These: »Die Bekenntniß dass wir in der Architectur nicht eigenthümlich sind sollte uns anregen die unserer Eigenthümlichkeit entsprechende Architectur zu finden. Wer die Geschichte nur mit den Vorurtheilen der Spätzeit fragt, wird Sklave der Nachahmung welches der hohen Bestimmung einer ewigen Fortentwicklung des Menschengeschlechtes höchst unwürdig ist.«
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Hirts Versuch, das hohe Ideal antiker Architektur über eine kenntnisreiche Imitation wieder zu erreichen, nahm seinem Unternehmen aus Schinkels Sicht die lebendige Empfindungskraft, welche immer aus dem Hier und Jetzt erwachse. Schinkel wollte keine Imitationen antiker Architektur, darin erkannte er nur »gemeine Nachahmung«390, sondern er wollte ihre lebendige Aneignung. Dass sein Unterfangen nicht problemlos war, zeigt die Differenz, die sich zwischen der inneren Empfindung, den formalen Möglichkeiten und der stürmischen technischen Entwicklung auftat. Schinkel ist die zentrale Figur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, an der sich die beginnende Vielschichtigkeit und Perspektivität mimetischer Inhalte nachweisen lässt, denn Schinkel betrachtete die historischen Stile sowohl von ihrem Ausdruck her, die auf »Stimmung und Empfindung« im Subjekt zielen, von ihrer politischen Bedeutung wie bei den Kathedralentwürfen während der Freiheitskriege, aber auch als »imitatio naturae«. Eine Architektur, die die Natur imitierte, indem sie deren inneren Kräfte evozierte, war für Schinkel nicht nur eine Darstellung ihrer proportionalen Verhältnisse, sondern ein »Streben, ein Sprossen, ein Crystallisieren, ein Aufschießen, ein Drängen, ein Spalten, ein Fügen, ein Drücken, Biegen, Tragen, Setzen, Schmiegen, Verbinden, Halten, ein Liegen 391
und Ruhn.«
Natur wurde von ihm nicht als Bild gedacht, sondern als dynamischer Form- und Strukturzusammenhang, den er unabhängig vor jeder stilistischen Ausformulierung der Architektur zugrunde legte. Der nicht realisierte Entwurf um 1810 für ein Mausoleum der Königin Luise im gotischen Stil zeigt Schinkels Verflechtung von naturmimetischen Impul-
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Goerd Peschken: Karl Friedrich Schinkel. Das architektonische Lehrbuch, S. 28. Goerd Peschken: Karl Friedrich Schinkel. Das architektonische Lehrbuch, S. 30. Goerd Peschken: Karl Friedrich Schinkel. Das Architektonische Lehrbuch, S. 32.
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sen mit seiner Intention, eine »Stimmung« im Rezipienten hervorzurufen (Abb. 4). Seine gotische Architektur ist keine echte Gotik, sondern das mimetische Nacherleben einer gotischen Stimmung mit zum Teil freien Formerfindungen wie den Aufbauten der Wandvorlagen oder den Basen der Bündelpfeiler. Das Tabernakel des Mausoleums besitzt klassische Proportionen und ist romantisierte Gotik, die im Inneren in der eigentümlichen Ornamentik der Rippen als Palmenblätter einen Palmenhain zur Architektur versteinerte392. Schinkels Inszenierung sollte die Herrschaft des Geistes über die Materie durch die gotische Formensprache symbolisieren393, um im Rezipienten eine ethischmoralische Empfindung zu bewirken. Die Verknüpfung ästhetischer und ethischer Fragestellungen besaß bei Schinkel besondere Bedeutung, denn was er anstrebte, war symbolisiert durch eine Architektur mit »Sinn und Gefühl des Höheren«394 . Mimesis bei Schinkel ging vom ideellen Zweck einer Bauaufgabe aus, zu dessen Erfüllung die Architektur als »Ausdruckskunst« unterschiedliche Möglichkeiten bereitstellte. Ob ein Bauwerk im gotischen oder im griechischen Stil ausgeführt wurde, war für ihn abhängig davon, welche Evokationen ein Bauwerk hervorrufen sollte. Die klassische Antike studierte Schinkel anhand der Bauaufnahmen von Stuart und Revett, nicht um sie zu wiederholen, sondern um ihre
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Das Zentrum des Gebäudes bildet in der Mitte der Vierung der Kenotaph für Königin Luise, welcher durch die Inszenierung der Beleuchtung betont wird. Die Wände der Grabkapelle sind ohne Öffnungen. Licht fällt in den Innenraum über die kleeblattförmigen Apsiden. Dieses Licht strahlt von innen in den Außenraum und lässt die »feierliche Front als Ziel einer Trauer-Allee erscheinen.« Schinkel hat seine Entwurfsabsichten wie folgt dargestellt: »Ein mannigfach gewölbter Raum, dessen Bögen sich auf freistehende Säulen zusammenziehen, so angeordnet, dass die Empfindung eines schönen Palmenhains erregt wird, umschließt das auf Stufen mit vielen sproßenden Blättern, Lilien- und Rosen-Kelchen sich erhebende Ruhelager. [...] Das Licht fällt durch die Fenster von dreien Nischen, die das Ruhelager von drei Seiten umgeben; das Glas ist von rosarother Farbe, wodurch über die ganze Architektur, welche in weißem Marmor ausgeführt ist, ein sanft rothes Dämmerlicht verbreitet wird. Vor dieser Halle ist eine Vorhalle, die von den dunkelsten Bäumen beschattet wird; man steigt Stufen hinan und tritt mit einem sanften Schauer in ihr Dunkel ein, blickt dann durch drei hohe Öffnungen in die liebliche Palmenhalle, wo in hellem morgenrothen Lichte die ruhende, umringt von himmlischen Genien liegt.« Eva Börsch-Supan: Karl Friedrich Schinkel. Arbeiten für König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV.), S. 139 und S. 142. Eva Börsch-Supan: Karl Friedrich Schinkel. Arbeiten für König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV.), S. 157. Alfred Freiherr von Wolzogen, Aus Schinkels Nachlass, Bd. II., S. 361.
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Ornamentik und strukturelle Ordnung durch Kombinationen zu erweitern und sie dem Zweck eines Bauwerks anzugleichen. Eine Einordnung Schinkels innerhalb der »Querelle des anciens et des modernes« ist deshalb auch nicht zielführend, weil er die »Querelle« bereits als überwunden sah, denn Schinkel konnte sowohl die Antike archäologisch präzise rezipieren und sie zugleich modernisieren. Wolfram Hoepfner erkennt Schinkels dialektische Lösung des Konfliktes darin, dass er den Dualismus von Fortschritt und klassischer Antike darin aufgehoben sah, dass das Griechische gleichsam der Garant für die Humanisierung des Fortschritts gewesen sei395 . Erst eine mit der Historie gedachte Architektur konnte für Schinkel eine »wahre Architektur« hervorbringen. Abbildung 4: Karl Friedrich Schinkel: Entwurf zur Grabkapelle der Königin Luise, Innenansicht, 1810, Detail.
Goerd Peschken bezeichnete die nach der Englandreise einsetzende Entwicklung bei Schinkel als »technizistische Phase«. Technik und technische Innovationen waren zeitweise für Schinkel so faszinierend, dass er sie bei bedeutenden, innerstädtischen Bauwerken wie dem Neubau der Bauakademie radikal anwandte und sie damit zum Symbol einer technisch-rationalen Architektur werden ließ. Die quadratische Konstruktionseinheit der Bauakademie, die zu einem gleichförmigen Raster von Ziegelpfeilern und folgerichtig zu einem allseitig gleichartig gestalteten Ziegelbau führte, bildete ein Ordnungsprinzip, mit dem das von Durand
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Wolfram Hoepfner: »Zwischen Klassik und Klassizismus. Karl Friedrich Schinkel und die antike Architektur«, S. 345.
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bekannte Raster mit einer neuen Konstruktionsweise verbunden wurde396 . Schinkel inkorporierte den modernen Szientismus in die Architektur und gab die anthropomorphe Mimesis zugunsten eines rationalen, gleichförmigen Raumgitters auf. Wie die Naturwissenschaften nach der Erkenntnis kleinster Teile streben, so sollte die Architektur ihre »tektonischen Elemente« entdecken. Die von Schinkel mit der Bauakademie angewandte szientifische Tektonik ließ das modulare Prinzip zugleich zur Darstellung einer neuen, egalitären Raumidee werden397 . Schinkel schienen allerdings neue konstruktive Methoden unzureichend, um Werke der »höheren Baukunst« hervorzubringen, denn für diese war für ihn die klassische Ornamentik nach wie vor unverzichtbar. »Sehr bald«, so Schinkel, »gerieth ich in den Fehler der rein radicalen Abstraction, wo ich die ganze Conception für ein bestimmtes Werk der Baukunst aus seinem nächsten trivialen Zweck allein und aus der Konstruktion entwickelte, in diesem Falle entstand etwas Trockenes, starres das der Freiheit ermangelte und zwei wesentliche Elemente: das Historische und das Poetische.«
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Schinkel erschrak wohl vor der Nüchternheit einer rationalen und technischen Architektur, denn mit der Übernahme des neuen »Mythos« einer »technizistischen Zweckrationalität« verschwand das, was Schinkel, der Bühnenbildner und Romantiker, mit der Architektur erreichen wollte: Inszenatorische Qualitäten, die aus der Architektur ein Schauspiel werden ließen. Seine Verteidigung des »Historischen und Poetischen« ist eine Verteidigung der Architektur als künstlerisch-mimetische Disziplin. Schinkel versuchte das zusammen zu denken, was grundsätzlich verschieden war: Eine humanistische anthropozentrische Architektur und eine Architektur der »modernes«, für die die Architektur eine Disziplin im Sinne der positivistischen Wissenschaften darstellt. Die von Schinkel noch unausgesprochen betriebene Synthese überführte Karl Bötticher dann in eine Regelästhetik, die die Berliner Architektur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte. Böttichers
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Als konstruktives System wurde die in England im Fabrikbau entwickelte Technik des Segmentbogens verwendet, die ein Raumgitter aus Pfeilern und Bögen entstehen ließ. »Die Bauakademie ist als Gerüst entworfen, ihre Pfeiler und Säulen sind einem gleichsam in den Weg gestellt, um zu zeigen, dass ein moderner Bau nach seinem eigenen Gesetz aufwächst wie ein Baum. Die Bauschule bietet keinen steigernden Hintergrund mehr für ihre Benutzer. Dafür werden deren Gefühle aber auch nicht mehr manipuliert, wird ihnen der Rhythmus ihrer Schritte oder ihres Atems nicht vorgeschrieben.« Goerd Peschken: »Schinkels Bauakademie in Berlin«, S. 226. Goerd Peschken: Karl Friedrich Schinkel, S. 150.
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Grundgedanke war die Verbindung der »imitatio naturae« des Ornaments mit dem Szientismus. Architektur könne mit der antiken Ornamentik, so Böttichers These, Ausdruck einer idealen Naturnachahmung sein. Bötticher proklamierte eine Ähnlichkeit zwischen den im Bauglied wirkenden statischen Kräften und der äußeren Erscheinung unter Verwendung der griechischen Ornamentik (Abb. 5).
Abbildung 5: Karl Bötticher: Herleitung des dorischen Kapitells mit dem tektonischen Blattornament, 1862, Detail.
Er näherte sich damit wieder einer »monistischen Theorie« an, mit der er die szientifischen Grundkräfte des 19. Jahrhunderts an die ornamentale Sprache der Antike band und zugleich trennte, denn das statisch wirksame Bauglied konnte durch die szientifische Forschung grundsätzlich völlig neu bestimmt werden und damit auch die ornamentale Ausformulierung verändern. Seine Tektonik der Hellenen postulierte die griechischen Formen als Mimesis statisch wirkender Kräfte, um sie aus einer erneuerten Bindung an das Material zu begründen und entsprechend zu verformen. Der architektonische Körper war nicht mehr Nachahmung der idealen Proportionen des vitruvianischen Modells, sondern wurde als ein statischer Organismus verstanden, der in eine ornamentale Architektur übertragen wurde. Es sind deshalb »eher Strukturhomologien zwischen Körper und Bauwerk«, die im 19. Jahrhundert wirksam wurden399 . Bötticher idealisierte den bereits von Schelling400 auf die Architektur angewandten Organismusbegriff, um seinen szientifi-
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Kirsten Wagner: »Architektur mit dem Körper denken«, S. 88. Wagner benennt als »Strukturhomologien« des Körpers, seine Anatomie, seine axiale Ausrichtung und Orientiertheit, aber auch seine Körpergefühle. Die griechische Architektur war für Schelling eine Allegorie der höheren organischen Gestalt. Ihre Teile seien schon darin Nachbildung des Organischen, als ihre
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schen Architekturbegriff mit der griechischen Ornamentik zu verbinden401 . Dass es sich hier um ein idealisiertes Modell handelt, zeigt exemplarisch die Dichotomie von ornamentaler Gestalt und struktureller Ordnung in ihrer programmatischen Verknüpfung in Böttichers Tektonik der Hellenen. Indem die Form in eine kausale Abhängigkeit von den statisch wirksamen Naturkräften in einem Bauglied geknüpft wurde, verwissenschaftlichte sich ihre ornamentale Ausformulierung402. Die Verwendung der antiken Blattornamentik hatte für Bötticher eine zweifache mimetische Bedeutung: Sie war Nachbildung der Naturform, der »natura naturata«, und sie sollte Ausdruck der statisch im Bauwerk wirkenden Kräfte sein, indem sich Tragen und Lasten in der formalen Veränderung der organischen Ornamentik mit den architektonischen Glieder visualisierten403 . Die Pflanzenformen dienten dem Schmuckbedürfnis und sie waren ontologische Mimesis der Naturkräfte. Neue Materialien wie das Eisen wurden architekturfähig, wenn sie sich über die Verwendung der griechischen Ornamentik legitimierten. Das derart die technische Innovation integrierende Pflanzenornament wurde zur erläuternden »Hüllform« und verlor seine angestammte Verbindung mit der materiellen »Kernform«. Mit Böttichers Spaltung der Architektur in die statischstrukturelle Form und die diese anzeigende Ornamentik in der tektonischen Begründung vollzog sich eine grundlegende Veränderung. Böttichers Klassizismus war keine Verteidigung der »anciens«, sondern eine Synthese der griechischen Ornamentik mit einem szientifisch-technischen Architekturbegriff. Das Gegenmodell entwickelte Gottfried Semper. Seine Architekturtheorie besitzt ein anderes Wissenschaftsideal und damit auch eine anderes Nachahmungsmodell. Bei Semper besaßen die konstruktiv-tektonischen Elemente eine
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Teile wieder Glieder seien, die ein Ganzes bildeten. »Die Architektur«, so Schelling, »um schöne Kunst zu seyn, muß von sich selbst als Kunst des Bedürfnisses die Potenz oder Nachahmung sein.« Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, S. 225. Indem die aus der Mechanik abgeleiteten Formen über ihren Zweck hinausgehen und zu selbständigen Kunstformen werden, ahmen sie sich selbst nach und werden damit zur Potenz ihrer selbst. Sie werden zu freien Formen einer allegorischen, architektonischen Kunstsprache. Karl Bötticher: Die Tektonik der Hellen, Vortwort, S. XIV und XV. Siehe hierzu: Hartmut Mayer: Die Tektonik der Hellenen. Das tektonische Ornament, das Bötticher entdeckt zu haben glaubte, bestand aus einer Pflanzenornamentik, die durch ihre Verformung die inneren Kräfte des statischen Systems anzeigen sollte. Bötticher meinte das Echinuskyma an der dorischen Säule aus den Spannungen im Bauglied erklären zu können. Unter der Last des Architravs bog sich ein korbartiges Polster, das mit Blattwerk verziert war, nach außen, wodurch sich für ihn die Form des dorischen Kymas herleitete.
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untergeordnete Bedeutung. Seine Suche nach den Urformen von Architektur führte ihn zu den ursprünglichen Techniken des Kunsthandwerks, insbesondere der textilen Kunst. Damit waren nicht mehr die konstruktiven Strukturen gestaltprägend, sondern die anwendungsbezogenen Methoden der Textiltechnik. Die daraus entstehende Bekleidungstheorie befreite die Architektur aus dem konstruktiven Korsett der Schinkelschule und ließ eine frei gestaltbare Opulenz der Oberflächen zu. Seine im wesentlichen von Bötticher übernommene Hypothese, der griechische Tempel sei die Nachahmung eines Zeltes, war spekulative Architekturarchäologie, in der die Wände und Decken des Tempels zur Darstellung gespannter Teppiche mutierten404. Die im Stil entwickelte »Stoffwechseltheorie« leitete die überlieferten ornamentalen Schmuckformen an den Wänden direkt aus dem Textilhandwerk ab405. Sempers Bekleidungstheorie war eine Antwort auf die durch die Entdeckung einer polychromen antiken Kunst entstandene Situation. Der Nachweis der ursprünglichen Farbigkeit antiker Architektur durch Semper und Hittorf in der ersten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts lieferte die Argumente für ein Verbergen des ursprünglichen Werkstoffes. Formen, so Sempers zentrale These, erklärten sich aus einem »Stoffwechsel« ursprünglich handwerklicher Techniken. Die technischen Prozesse der textilen Kunst entfalteten über das »Mysterium der Transfiguration«406 ihre Wirksamkeit in der Architektur. Damit bestimmte die Nachahmung des Prozesses der Herstellung in der textilen Kunst für Semper die Oberfläche der Bauteile und trennte sie so von ihrem inneren statischen Kern. Dieser konnte sich durch szientifische Erkenntnisse verändern, ohne dass dies einen Einfluss auf die bauliche Erscheinung nehmen musste. Entscheidend war, dass die ursprünglichen Techniken der textilen Kunst, das Weben, die Naht, das Band sowie die flächige, atektonische Struktur des Teppichs grundlegend für die Gestaltung der Wand wurden. Das Strukturgerüst trat völlig zurück und die »far404 405
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Hartmut Mayer: Die Tektonik der Hellenen, S. 20. »Das massive (d. h. durchaus aus Quadern zusammengefügte) Gemäuer und die Steinarchitektur überhaupt hat sich erst schrittweise aus der viel älteren Inkrustation der Erdwälle oder Lehmziegelgemäuer entwickelt, wozu man zuerst bei Terrassenbauwerken sich der Steine bediente. Diese Steinbekleidungen waren stilistisch von der Kunst des Wandbereitens (Textrin) abhängig, einmal in ganz formalen Sinne als Decken, zweitens in technisch-historischem Sinne, weil die Symbolik jeder Decke, nach ältester Tradition, aus Zierformen besteht, die aus den Prozessen des Webens, Flechtens, Stickens, Säumens etc. hervorgingen oder ihnen entsprechen.« Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, Bd. 1, S. 355. Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, S. 215.
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bigen Teppiche« wurden zum Thema des architektonischen Ausdrucks. Sempers Verwissenschaftlichung von Architektur klärte den Ursprung der Formen spekulativ-archäologisch auf. Das Herausstellen kunsthandwerklicher Urtechniken wurde zum Modell der architektonischen Mimesis. Sempers archäologische Thesen gingen weiter von den Urformen sozialer Gemeinschaft und deren architektonischen Organisation aus. Das Feuer war für Semper, darin war er Vitruvianer, von Anbeginn der Ort sozialen Geschehens, »der heilige Brennpunkt, um den sich das Ganze ordnete und gestaltete. Er ist das erste und wichtigste, das moralische Element der Baukunst. Um ihn gruppieren sich drei andere Elemente, gleichsam die schützenden Negationen, die Abwehrer der dem Feuer des Herdes feindlichen drei Naturelemente; nämlich das Dach, die Umfriedung und der Erdauf407
wurf.«
Ursprüngliche Formen sozialer Organisation dienen der Begründung von architektonischen Techniken und wurden damit zum Gegenstand der Mimesis, die sie in transfigurierter und verwandelter Form in die Architektur überführte. Sie wurden zu zeitlosen Ideen, die sich durch den »Stoffwechsel« materiell in immer neuen Variationen formulierten. Die Prinzipien blieben zwar ihrer ursprünglichen Bedeutung verpflichtet, sie konnten aber durch »Transfiguration« und »Stoffwechsel« eine Gestalt annehmen, die nichts mit ihrer tatsächlichen Materialität zu tun hatte. Damit ist Sempers Theorie dem Denken der positivistischen Ingenieurswissenschaften entgegengesetzt, denn diesen geht es nicht um eine archäologische Begründung der architektonischen Form oder um ihre Herleitung über die Kulturwissenschaften, sondern um ihre rationale Bestimmung aus den Gesetzmäßigkeiten des Materials. In keinem anderen Bereich konnte ein positivistischer Szientismus nachhaltiger die Architektur verändern wie in ihrer materiellen Komponente. »Materialgerechtigkeit« bedeutet, die materialeigenen Kräfte und Gesetze erkennbar zu gestalten und sie im Sinne eines evolutionären Funktionalismus fortwährend zu entwickeln. Das 19. Jahrhundert verlangte trotz der umwälzenden technischen Fortschritte nach einer Verankerung der Architektur in der Historie, um die semantischen Inhalte vergangener Epochen als Kunstsprache lebendig zu erhalten. Die Erkenntnisse der Philologie und der historischen Wissenschaften gingen parallel mit den Erkenntnissen in Wissenschaft und Technik, so dass den Entdeckungen im technischen Bereich eine Neuinterpretation historischer Bezüge gegenüber
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Gottfried Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S 179.
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stand. Dieser Prozess der Durchdringung und Verflechtung von historischer Interpretation und technischem Fortschritt bestimmte das gesamte 19. Jahrhundert. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Positionen formuliert, die mit dem struktiven Gerüst und der »nackten Wand« eine neue Wirklichkeit für die Architektur einforderten und sie von ihrer dichotomen Situation befreite, indem das historische Ornament weggelassen wurde. Berlages Amsterdamer Börse ist hierfür typisch. Sie ist das Ergebnis seiner Suche nach Wahrheit in der Architektur im Sinne eines konstruktiven Funktionalismus408 (Abb. 6).
Abbildung 6: Hendrik Petrus Berlage: Amsterdamer Börse, 1862-1903.
Berlage forderte die nackte »Kernform«, das Material in seiner bloßen Tatsächlichkeit und statischen Leistungsfähigkeit als gültige Wirklichkeit ein. Für die Architekturtheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – exemplarisch können hierfür Böttichers Tektonik der Hellenen und Gottfried Sempers Stil stehen – war es ein grundlegendes Axiom, dass das »nackte Material« der Konstruktion
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»Wir wollen also das Wesen der Architektur, d. h. die Wahrheit, und noch einmal Wahrheit, denn auch in der Kunst ist die Lüge Regel, die Wahrheit Ausnahme geworden. Wir Architekten müssen daher versuchen wieder zur Wahrheit zu kommen, d. h. das Wesen der Architektur wieder zu fassen.« Hendrik Petrus Berlage: Gedanken über den Stil in der Baukunst, S. 23.
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noch nicht ausreichend für die Mimik eines Bauwerks sein konnte. Dies galt als »plumper Materialismus«. Das »Wesen« oder die »Wahrheit« der Architektur zeigte sich im Feinstofflichen der traditionellen Architektursemantik. Berlages Konzeption einer Erneuerung der Architektur ersetze dagegen die als Schein empfundene, nicht mehr verstandene Ornamentik durch das »Sein« der Konstruktion: »[…] Also vorläufig das Studium des Skeletts, d. h. die nüchterne Konstruktion in aller Derbheit, um nachher wieder zum vollen Körper zu kommen, aber diese ohne Konfusion mit Kleidern. Sogar die letzte Hülle, auch das Feigenblatt, soll weg, denn die Wahrheit, die wir wollen, ist ganz nackt.«
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Berlages Ästhetik einer »wahren Konstruktion« war ontologische Mimesis der statisch wirksamen Naturkräfte in der Architektur. Sigfried Giedion verband die ontologische Mimesis des »Stofflichen« mit der szientifischen Stoßkraft in der Verwendung neuer Baumaterialien und generierte auf diese Weise in Bauen in Frankreich410 eine neue Traditionslinie der Moderne. Den Wurzeln der Moderne ordnete Giedion zwei grundlegende Ereignisse zu: Die Französische Revolution, die die Zünfte und Stände hinwegfegte und so die Grundlage für eine industrielle Entwicklung schuf und die sprunghaft fortschreitende wissenschaftlich-technische Entwicklung411. Beide Faktoren bildeten für ihn die Voraussetzungen für die Ästhetik des neuen, industriellen, technischen Zeitalters. Er sprach von einem Erfindungsdrang in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der alle Klassen erfasst habe und zu einer Industrialisierung fast jeder menschlichen Beschäftigung geführt habe412. Die entstehenden technischen Erfindungen, welche die Industrie unbewusst schaffe, seien die neuen Ausdruckskräfte und die neuen Erfahrungsmöglichkeiten, welche langsam
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Hendrik Petrus Berlage: Gedanken über den Stil in der Baukunst, S. 24. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton, Originalausgabe 1928. »Die Industrie, die Großindustrie ist eine Folge der französischen Revolution. Mit der ›Proclamation de la Liberté du Travail‹ am 2. März 1791 gab die Assemblée nationale die Vorbedingungen zu ihrer Entfaltung. Mit dieser Verkündigung der freien Konkurrenz wurde das Zunftwesen (les corporations) auf einmal beseitigt. Vor der französischen Revolution wurden die Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens durch die Zünfte ausgeführt. Ihre Mitgliederzahl war ebenso beschränkt wie die Zahl der Arbeiter oder Gehilfen, die jeder einstellen durfte, und die Art der Gegenstände, die jeder zu erzeugen hatte.« Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 4. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 128.
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und allmählich ein Bestandteil des individuellen Lebens würden413 . Die Industrie schuf für Giedion die neuen Symbole und Ausdruckskräfte, welche die Architektur durch Angleichung und Nachahmung verwendete. Es führe eine gewundene Entwicklungslinie von den Industriebauten aller Art wie Bergwerken, Lagerhäusern, Bahnbauten, Fabriken, schließlich zum Wohnhaus und ins persönliche Leben 414 . Innovative Materialien wie Eisen und Eisenbeton traten als Baumaterial zunächst nur an den Bauwerken auf, welche durch die industriellen und gesellschaftlichen Veränderungen neue Lösungen erforderlich machten. Giedion bezeichnete sie als Bauwerke von transitorischen Zwecken: Markthallen, Bahnhöfe, Ausstellungen415. Weitere Innovationspotentiale boten sich für ihn in den Hallenbauten für die Weltausstellungen. Dort, wo die großen wissenschaftlichtechnischen Erfindungen neuer Maschinen präsentiert wurden, entwickelte sich die Ausstellungsarchitektur zu immer gewaltigeren und technisch ausgereifteren Tragwerken. Die Ausstellungsarchitekturen der »Palais des machines« oder »Galerie des machines« erreichten ihren Höhepunkt und ihren Schlusspunkt mit der Weltausstellung 1889, zu der auch der Eifelturm errichtet wurde 416. Die Stahlskelette der »Galerie des machines« und des Eifelturms sind bei Giedion Epiphanien einer zukünftigen, modernen Architektur, denn diese Architektur schuldete ihre Gestalt einzig dem innovativen Potential des Eisens und seiner intelligenten konstruktiven Verwendung417 . Der gläserne Eisenpalast der Weltausstellung bildete eine endlos erweiterbare Welt der technischen Erfindungen. Der nur durch eine dünne Glasmembran abgetrennte künstliche Nukleus der »Galerie des machines« sollte mit einer Vielzahl maschineller Duplikate einen neuen, den technischen Kosmos »paradiesischer Zustände« schaffen. Das Faszinierende der zur temporären Kathedrale der Dinge errichteten Gebäude war eine Konstruktion,
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Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 129. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 129. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 27. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 51. Die »Galerie des machines« aus dem Jahr 1889 hatte gewaltige Ausmaße: Sie überspannte 115m bei einer Höhe von 45m. Ihre Gesamtlänge betrug 420m. »Bei diesen Größenverhältnissen eines Trägers innerhalb eines geschlossenen Raumes musste es zum Bewusstsein kommen, dass auch – im Gegensatz zu Stein oder Holz – die füllende Materie fehlte. Nun waren diese Binder allerdings ungewohnt leicht gehalten, da man zum erstenmal in solchem Umfang stählernes Fachwerk verwendete. Das Auge des Zeitgenossen fühlte sich unsicher und beunruhigt, denn die in der Höhe einstürzenden Lichtmassen verschluckte das dünne Strebewerk. Das Gewölbe geriet optisch in einen ungewohnten Schwebezustand.« Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 55.
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welche als fragile, gläserne Hülle die Dinge, die das Licht einer ingeniösen Vernunft entstehen ließ, im natürlichen Licht unter freiem Himmel zeigte. Ein Sammelsurium präsentierte sich in einer ephemen, rationalen Hülle, die so zum Sinnbild ihres zeitbedingten Inhalts wurde418. Mit den neuen Werkstoffen begann der Siegeszug der positivistischen Wissenschaften in der Architektur, welche durch zweckrationales Denken einen technischen und ökonomischen Entwicklungsprozess in Gang setzten419 . Giedion berichtet von Häusern an der River Front in St. Louis, die, obwohl sie Zeugen der von ihm aufgezeigten neuen Tradition waren, ohne Rücksicht dem Zweckrationalismus geopfert wurden. Er rechnete es der Mentalität des Amerikaners zu, dass Bauten mit gusseisernen Fassaden einem »ungeheuren Parkplatz« für Lastwagen weichen mussten420 und verkannte dabei, dass derselbe Geist, der diese Gebäude schuf, sie auch wieder beseitigte, denn mit dem Verschwinden der ökonomischen oder funktionalen Notwendigkeit eines Bauwerks, erlosch auch dessen Daseinsberechtigung. Giedions Interpretation der modernen Architektur beginnt mit einer Archäologie früher Industriebauten, in welchen er die Vorläufer seiner »neuen Tradition« fand, deren formale Gestaltung ähnlich wie bei Hirt in seiner Baukunst nach den Grundsätzen der Alten einer konstruktiven Wahrheit folgt. Hirt legitimierte die konstruktive Wahrheit des klassizistischen Stils durch die archäologische Hypothese eines ursprünglichen Phänotyps aus Holz und dessen späterer Imitation. Giedion hätte eine solche Imitation bereits als Verfallserscheinung klassifiziert, da sie nicht mehr die konstruktive Wahrheit zeigt. Sein monistischer Architekturbegriff forderte: »Konstruktion wird Ausdruck, Konstruktion wird Gestalt.«421 Giedions Archäologie der Moderne ist eine Archäologie der Grenzverschiebungen. Mit dem radikalen Funktionalismus ergibt sich die Grenze der Formen rein aus funktionalen Überlegungen. Die Grenzen der konstruktiven Elemente sind Grenzen, die sich im Idealfall rechnerisch aus dem System ergeben. Inso-
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»Diese Ausstellungen sind Besinnungspausen, in denen das 19. Jahrhundert einen Augenblick im Produktionstaumel innehielt, um den erreichten Fortschritt zu überblicken.« Sigfried Giedion: Raum Zeit Architektur, S. 176. Giedion verwies auf einen hölzernen Dachstuhl, der mit der Unterbringung einer großen Webmaschine zwangsläufig zu einer stützenfreien Dachkonstruktion mit Eisenbindern führen müsse. Der eiserne Dachbinder war nur so lange von Wert, so lange er technisch und ökonomisch Gültigkeit besaß. Eine übergeordnete kulturelle Bedeutung kam ihm nicht zu. Sigfried Giedion: Raum Zeit Architektur, S. 141. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 151. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 193.
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fern sind sie Ausdruck ihrer rein quantitativen Bestimmung. Der Entwicklungslinie eines konstruktiven Funktionalismus in der Tradition von Viollet-le-Duc stehen Architekturen gegenüber, die bildhaft-symbolisch die Moderne verarbeiten. Diese Darstellungen der modernen Architektur sind jedoch nicht das Ergebnis eines zu Ende geführten Prozesses, sondern sie sind, solange sie der Aufklärung und Kritik zugänglich sind, notwendig instabil und in Veränderung begriffen. Die »neue Tradition« Giedions schloss sich dem an, was im Vollzug eines einseitigen, allein dem »instrumentellen Gebrauch der Vernunft«422 gelenkten Prozess der Aufklärung noch als verbindlich gelten konnte. Es sind die technologischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die dem Mythos von Rationalität entsprachen und deshalb allgemeinverbindlich Zustimmung finden konnten. Das moderne, subjektzentrierte Denken arbeitete seit Beginn der Neuzeit an der Aufhebung jeder tradierten Form, da mit dem Verschwinden metaphysischer Wahrheiten auch die Formen verschwinden mussten, mit denen sie sich darstellten.
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Adorno und Horkheimer
II. Ontologische Mimesis und moderne Architektur
Im zweiten Kapitel wird die moderne Architektur mit Hilfe der aristotelischen Formel einer »ars imitatur naturam« und der platonischen Mimesistheorie aus einer ontologischen Fragestellung begriffen. Dabei ergeben sich Möglichkeiten, das Konzept der modernen Architektur aus einer genuin neuen Perspektive zu betrachten, denn obwohl sich die Moderne feindlich gegenüber der Mimesis zeigte, da diese immer im Verdacht steht, antiaufklärerisch zu sein, ist die klassische Moderne der Mimesis nicht entkommen. Gerade der antike Begriff der Mimesis formuliert Inhalte, die für die Moderne von größter Relevanz sind. Die moderne Architektur besitzt mit ihrer Forderung nach »Wahrheit« einen ontologischen Anspruch, der sie in eine Linie mit der platonischen und aristotelischen Ontologie stellt.
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ALS
» ARS
IMITATUR NATURAM «
In den 20er Jahren bildete die moderne Architektur, die sich als »wissenschaftlich« verstand, zwei Formen einer »Mimesis der Natur« aus, die sich diametral gegenüber stehen und letztlich auf das aristotelische Konzept der Mimesis in der Herstellung von Artefakten zurückgehen. »Nachahmung der Natur« betraf sowohl die Erfüllung des jeweiligen Zwecks durch das Artefakt als auch dessen Wiederholung im seriellen Produkt. Die zweite Form einer »Nachahmung der Natur« ließ sich mit einem industriellen Zeitalter verbinden, das mit dem Szientismus die Hoffnung entstehen ließ, es könnten vergleichbare evolutionäre Prozesse, wie sie die Natur bestimmen, für die Architektur generiert werden. Der von Aristoteles in der Poetik formulierte darstellende Aspekt der Architektur wurde mit dem Konzept einer »ars imitatatur naturam« ersetzt und sollte die Architektur in ihrer Nachahmung der Perfektion der Natur zu einer erweiterten Na-
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tur werden lassen. Natur lag als ontologisch vorrangige Wirklichkeit der Nachahmung zugrunde, die das architektonische Artefakt durch Mimesis perfektionierte. Die auf diese Weise enstandene »Konstruktion« der architektonischen Wirklichkeit, war jedoch nicht Fortsetzung der Natur, sondern wesentlich eine »zweite Natur«, die sich parallel zur ersten stellte. Der »organische Funktionalismus« entwickelte seine Produkte aus der vollen Entsprechung an die Funktion und das Zweckhafte. Die Form des Hauses wurde zum Abbild der inneren, aus den Bewegungs- und Organisationsprozessen der Nutzer sowie den Untersuchungen zur Raumgeometrie entstandenen Zusammenhänge. Formale Fragen und konstruktive Aspekte waren für den »organischen Funktionalismus« keine begründenden Bestimmungen. Wenn beim »organischen Funktionalismus« von Mimesis gesprochen werden kann, dann im Sinne von Mimikri einer mimetischen »Anverwandlung« an prozessuale Vorgänge und deren Abbildung in einer einmaligen, individuellen Form. Das Gut Garkau (1922-26) von Hugo Häring ist ein Paradigma des »organischen Funktionalismus«. Häring ließ aus dem mimischen Nacherleben von Bewegungsabläufen eine Hüllform entstehen, die er mit dem Bauwerk einfror. Julius Posener nennt dies eine »Leistungsform« bei Häring, die das dialektische Verhältnis von Form und Inhalt bezeichne und von dem amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stamme. Dieser habe ihn von Gegenständen abgeleitet, »welche ihre Form extremen physikalischen Bedingungen verdanken: von der Form einer Fregatte etwa, welche den Einwirkungen des Windes und der Wellen zu genügen hat. Er behauptete, dass Gebäude in Wahrheit nicht weniger strengen Bedingungen zu genügen hätten: man müsse sie nur finden.«1
»ars imitatatur naturam« bedeutet beim »organischen Funktionalismus« eine unabhängig von formalen Beziehungen angenommene Funktionalität durch technisches Wissen einer Materialisierung zuführen. Diese beschränkt sich nicht auf das einzelne Bauwerk, sondern bezieht sich auch auf seine Vernetzung mit der Umgebung. Architektur verstanden als materialisierte Zweckbeziehung ist Nachahmung – Mimikri – dieser Zwecke. Zweckbeziehungen sind durch Zwecke bestimmt und deshalb zunächst unabhängig von der Form. Ein Bauwerk, das sich aus der Realisierung von Zwecken ergibt, ist letztlich eine Apparatur oder ein Gerät, das sich von technischen Geräten nicht prinzipiell unterscheidet. Die Welt der Zwe-
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Julius Posener: »Kritik der Kritik des Funktionalismus«, S. 19.
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cke ist eine Welt der funktionalen Beziehungen und deren prozessualer Zusammenhänge. Trotz der Angleichung an eine Teleologie der »Zwecke« bleibt allerdings eine Dichotomie des Artefakts mit der »natura naturans« bestehen. Erst eine Technik, die die Architektur ganz in die Prozesse der Natur aufgehen ließe, könnte ihre konfliktfreie Integration leisten. Das Bauernhaus stellt den Urtyp eines aus dem Verweben menschlicher Prozesse mit der Natur hervorgegangenen Bauens dar. Es entspricht der aristotelischen »ars imitatur naturam«, denn es lässt das Bauwerk als Fortsetzung der Natur verstehen. Martin Heidegger beschrieb das Bauernhaus in »Bauen Wohnen Denken« als Werk, dessen Gestalt seinen Zweckbegriff abbilde, indem es das dialektische Verhältnis von Menschenwelt und Natur repräsentiere2. Die organische Ganzheit des Bauernhauses besitzt damit über seine Zweckhaftigkeit hinaus ideelle Bedingungen bäuerlichen Lebensvollzugs, die sich in einem langen Wechselspiel herausgebildet haben. Wie in der Natur Materialität und Funktionalität sich nicht trennen lassen, so stehen beim Bauernhaus Gestalt und Konstruktion in einem Bezug von Mensch und Natur. Mit keinem anderen Gebäudetyp ist das menschliche Leben eine engere Verbindung mit der Natur eingegangen. Das Bauernhaus transzendiert die Zwecke zu einer Gesamtgestalt, ähnlich wie natürliche Organismen, die in der Betrachtung als eine Gestalt erscheinen und sich erst in der nachträglichen Reflexion und Analyse aus einzelnen, zweckhaften Gliedern erklären3.
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»Denken wir für eine Weile an einen Schwarzwaldhof, den vor zwei Jahrhunderten noch bäuerliches Wohnen baute. Hier hat die Inständigkeit des Vermögens, Erde und Himmel, die Götter und die Sterblichen einfältig in die Dinge einzulassen, das Haus gerichtet. Es hat den Hof an die windgeschützte Berglehne gegen Mittag zwischen die Matten in die Nähe der Quelle gestellt. Es hat ihm das ausladende Schindeldach gegeben, das in geeigneter Schräge die Schneelasten trägt und tief herabreichend die Stuben gegen Stürme der langen Winternächte schützt. Es hat den Herrgottswinkel hinter dem gemeinsamen Tisch nicht vergessen, es hat die geheiligten Plätze für Kinderbett und Totenbaum, so heißt dort der Sarg, in die Stuben eingeräumt und so den verschiedenen Lebensaltern unter einem Dach das Gepräge ihres Ganges durch die Zeit vorgezeichnet.« Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, S. 155. Adolf Loos sagte, Bauernhäuser und Dorfkirchen sähen aus »als seien sie nicht von Menschenhand, sondern von Gott selbst erbaut. Zu diesen unverdorbenen Werken rechnete er auch die Schöpfungen von Ingenieuren – Schiffe und Eisenbahnen –, beklagte sich aber über die Architektur im engeren Sinne, die die Landschaft entweihe, selbst wenn die Bauten von ›guten‹ Architekten stammten.« Rudolf Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form, S. 220.
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Berlage sah allerdings bereits in der Frühphase der Moderne keine Möglichkeit mehr, zu einem »naiven Bauen« zurückzukehren: »[…] eine Rückkehr zum Bauernhaus ist schon darum unmöglich, weil das Bauernhaus kein Kunstwerk ist, so wie die Architektur das meint; denn das Bauernhaus ist unbewusst entstanden, d. h. entstanden wie die Natur fortwährend arbeitet, unbewusst, aber wie gesagt innerhalb fester Gesetze. […] Es ist schön, so wie noch die Bauerntracht schön ist (sogar der Anzug des Arbeiters ist das), die unbewusst, also nicht mit der Absicht etwas Schönes zu machen, entstanden ist, und daher auch in die Natur passt.«
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Berlage beschreibt eine mimetische, unbewusst hervorgebrachte »zweite Natur«, die bruchlos aus der »ersten Natur« hervorging. Das Bauernhaus und die Bauerntracht aber auch der Anzug des Arbeiters seien schön, weil sie in ihrer Zweckhaftigkeit noch mit der »ersten Natur« verwoben seien. Sie benötigen keine ästhetischen Regeln, weil sie den immanenten Regeln der Natur folgen. Von der Nachahmung der Natur wie sie das Bauernhaus darstellt, unterscheidet sich ihre Nachahmung, wie sie der szientifische Prozess hervorbringt. Die fortschreitende Dienstbarmachung der Natur durch die menschliche Technik und damit die Nachahmung ihrer dynamischen Momente in der »Konstruktion« einer »zweiten Natur« der menschlichen Artefakte forderte der radikale Funktionalismus der 20er Jahre. Einer ihrer wichtigsten Vertreter war Hannes Meyer, Direktor des Bauhauses von 1928 bis 1930. Meyers Funktionalismusbegriff war antikünstlerisch und technologisch bestimmt: »Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer Prozess, und der zweckmäßigen Funktion eines Hauses widerspricht je und je die künstlerische Komposition. Idealerweise und elementar gestaltet wird unser Wohnhaus eine Wohnmaschine.«
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»Architektur als Weiterbildung der Tradition und als Affektleistung«, so Meyer, »hat aufgehört. Einzelform und Gesamtkörper, Materialfarbe und Oberflächenstruktur erstehen automatisch, und diese funktionelle Auffassung des Bauens jeder Art führt zur reinen Konstruktion. Reine Konstruktion ist das Kennzeichen der neuen Formenwelt.«6
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Hendrik Petrus Berlage: Gedanken über den Stil in der Baukunst, S. 35. Hannes Meyer: »Die Neue Welt«, S. 71. Hannes Meyer: »Die Neue Welt«, S. 72.
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Im Erläuterungsbericht zu seinem bekanntesten Projekt, dem Wettbewerbsentwurf zum »Völkerbundpalast« in Genf aus dem Jahr 1927, schreibt Meyer in den Leitgedanken: »voraussetzung jeder baulichen verwirklichung ist der willensdrang zur wahrheit […] unser völkerbundsgebäude symbolisiert nichts. – seine größe liegt zwangsläufig in den abmessungen und gegebenheiten des bauprogramms. […] dieses gebäude ist nicht schön und ist nicht hässlich. Es will als konstruktive erfindung gewertet werden.«
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Der wissenschaftlich-technische Funktionalismus von Hannes Meyer war Mimikri des »Zwecks« und von seiner Intention her an Gestaltungsfragen nicht interessiert8. Seine ortlose, technische Welt des 20. Jahrhunderts ersetzte die agrarisch, zyklische Welt Heideggers. Trotz der grundsätzlichen Differenzen einer dynamisch-modernen Welt und einem zyklisch geprägten Weltbild gibt es eine gemeinsame Grundhaltung: Beide, Heidegger und Meyer, suchten nach einer nichtästhetischen Definition des Bauens. Architektur sollte einer »natürlichen Gestalt« zugeführt werden und von jeder stilistischen Maske befreit werden. Damit erkannten die radikalen Funktionalisten in der radikalen Erfüllung des Zwecks das Prinzip einer neuen Ontologie, die nach der Befreiung der Dinge den Menschen gleichermaßen befreien sollte. Diese Haltung vertraten die Herausgeber der Zeitschrift ABC, der junge Mart Stam und Hans Schmidt. Sie forderten eine »kollektive Gestaltung« ein und verkündeten sie als epochale Wende, mit der das mit der Renaissance begonnene Zeitalter des Individualismus sich seinem Ende neigen sollte9. Mit dem Ziel nach
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Hannes Meyer und Hans Wittwer: »Ein Völkerbundgebäude für Genf. 1927«, S.110. »Für Meyer war Komposition ein subjektiver und diffuser Gestaltungsakt der ›gefühlten Nachahmung‹ mit ›Stimmung, Valeur, Grat und Schmelz‹. Kompositionen waren ›Affektleistungen‹ und solche ›individualistischen Ausschreitungen‹ mussten bekämpft werden. Im Gegensatz dazu war Funktion für Meyer zuerst ein ›technischer Prozess‹ und später ein ›biologischer Vorgang‹ der Zusammenstellung der Bauelemente nach nachvollziehbaren Gesetzmäßigkeiten, ›dem Zweck und ökonomischen Grundsätzen entsprechend‹.« Ute Poerschke: Funktionen und Formen. Architekturtheorie der Moderne, S. 124. »Was wir heute erleben, ist das Durchbrechen eines der Renaissance entgegengerichteten Geistes, das erste Lebenszeichen einer Erneuerung. Das Italien der Renaissance brachte uns den Sieg des Persönlichkeitsgefühls, die Befreiung des Individuums. Was wir heute sehen, ist dasselbe Ringen, das sich nach fünf Jahrhunderten wiederholt, jedoch in umgekehrter Richtung. Heute sehen wir, wie die architektoni-
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einer »kollektiven Gestaltung« verband sich ein ontologisches Ziel, denn mit der modernen Lebensauffassung räume das Individualistische, so Mart Stam, den Platz vor dem Allgemeinen. Der Künstler müsse Kenntnisse erwerben, um sich der wissenschaftlichen Tatsachen zu bemächtigen, aber danach habe er die Materialien zu begreifen, er habe den großen organischen Zusammenhang zu verstehen, der alle Dinge aus ihrem Zustand als Einzelobjekte erlöse und sie in jene Gesamtheit von Gesetzen ein- und unterordne, die das Weltall beherrsche10. Stam begründet hier seinen szientifischen Funktionalismus kosmologisch aus dem Gesichtspunkt einer allumfassenden Teleologie. Der Holländers R. N. Holst verglich Naturformen mit der »zweiten Natur« der modernen Technik und forderte eine Architektur im Sinne der aristotelischen »ars imitatatur naturam«. Wie Naturformen vollkommen ihren Zweck erfüllen und nach dessen Erfüllung zugrunde gehen, so solle das Bauen die gegebenen funktionalen Prozesse abbilden. Als eine »ars imitatur naturam« solle sich das Bauen vollkommen den evolutionären Prozessen der Natur angleichen. Abbildung 7 und 8: ABC. Beiträge zum Bauen, 1927. Der Löwenzahn als Beispiel einer vollkommenen Zweckerfüllung und das architektonische Pendant in Form einer Betonieranlage des Kraftwerks im Waggital.
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sche Idee, anders als im Mittelalter, jedoch nicht weniger absolut, nach Verwirklichung drängt.« R. N. Roland Holst: »Die neue Welt«, S. 2. Mart Stam: »Kollektive Gestaltung«, S. 1 und 2.
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Als Beispiel verwendet Holst die morphologische Verwandlung des Löwenzahns. Von der Kugelgestalt der Samen, dem Flug des »Korns am federleichten Schirm« und dem Entstehen einer neuen Löwenzahnpflanze sei die Form, so der Autor, »Ausdruck erfüllter Aufgabe, nur Stufe: pietätlos, grausam preisgegeben dem Zerfall, der Umwandlung nach erfüllter Aufgabe.«11 Holst forderte diese Eigenschaften von der Architektur ein: »Erfüllung ist Ziel, nicht Form, Form nur der Maßstab, Erfüllung zu messen.« Um dies zu illustrieren wird die temporäre Kugelgestalt des Löwenzahns dem Seilgespinst einer Betonieranlage für ein Kraftwerk im Waggital gegenübergestellt (Abb. 7 und 8). Eine ästhetische Betrachtung des strukturellen Gebildes findet nicht statt, denn ausschließlich reine Funktionalität und ökonomische Rationalität sollen das Gebilde bestimmen. Dieses nicht abbildhafte, funktional-ökonomische Bauen bezeichnete Emil Roth als »reine Gestaltung«12. Die Negation ästhetischer Kategorien bedeutete allerdings nicht, dass sie in der Betrachtung eines Bauwerks keine Gültigkeit mehr besaßen. Entscheidend war, dass sie im Entwurfsprozess komplett ausgeklammert wurden. Mimikri der Zwecke ist Erkennen und Koordinieren von Prozessen und deren funktionaler Verflechtungen. Nach der kritischen Analyse dieser Prozesse, der modellhaft nachvollzogenen Abläufe, gerinnen diese zu einem sowohl prozessualen als auch simultanen Ereignis13. Als besonders geeignet für die Analyse solcher Prozesse erschien die Organisation der Küche. Hier ließen sich die Ganglinien und Arbeitsprozesse systematisch aufzeigen und optimieren14. Exemplarisch stehen hierfür die Untersuchungen von Erna Meyer, die sie in ihrem Buch Der neue Haushalt publizierte und die als »Frankfurter Küche« bekannt wurde. Wie die Küche sollten auch die anderen Bereiche des Wohnens räumlich effizient genutzt werden 15.
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R. N. Holst: »Die neue Welt«, S. 2 und 3. Emil Roth: »Gelände und Bebauung am Zürichsee«, S. 1. »Wohnen wird auf diese Weise den gleichen Gesetzen unterworfen wie das Arbeiten, um die entsprechenden Tätigkeiten mit dem geringsten Aufwand zu ermöglichen.« Martin Steinmann: »Die Wohnung als ›machine à habiter‹«, S. 4. »Das zwischen 1926 und 1928 in 32 Auflagen erschienene Buch von Erna Meyer Der neue Haushalt enthält die Darstellung einer Küche mit Ganglinien, die »einen klaren Weg von einem Gegenstand zum anderen« beschreiben. Daraus folgte, was als Vorstellung auf die ganze Wohnung übertragen wurde: wenn man über die täglichen Arbeitsgänge nachdenke, so ergebe sich eine bestimmte Anordnung der Gegenstände »als richtig, und zwar als einzig richtig«. Martin Steinmann: »Die Wohnung als ›machine à habiter‹«, S. 5. Durch Überlagerung von Funktionsbereichen entstand die Idee des multifunktionalen, dynamischen Raumes. Le Corbusier und Pierre Jeanneret realisierten ausklapp-
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Überlieferte Formen und die mit ihnen verbundene Entwurfsmethodik verglich Bruno Taut mit einer Condottiererüstung, die Beweglichkeit vermissen lasse16. Er beschrieb ein analoges Verhältnis von gesellschaftlichen und architektonischen Strukturen und sah in den überkommenen Entwurfsprinzipien einen Widerspruch zu einer der Natur entsprechenden Organisation17. »Mit der Erfüllung einer »bestmöglichen Benutzbarkeit«, welche schön sei, werde zugleich ein ethischer und sozialer Zweck verfolgt: »die Leute, die ein solches für irgendeinen Zweck gebrauchen, werden durch die Anlage des Hauses zu einer besseren Haltung in ihrem gegenseitigen Umgang und ihren gegensei18
tigen Beziehungen geführt.«
Die überlieferten architektonischen »Vokabeln« und deren Semantik wurden von Taut als Maskerade bezeichnet, welche in dem Wort »Fassade« zum Ausdruck geworden sei für die Bemäntelung von Machenschaften und zweifelhaften Charakterzügen, mag es sich um Einzelpersonen, Firmen oder politische Parteien handeln19.
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bare Betten und Schiebetüren, um räumliche Konzepte zu erreichen, die durch Mehrfachbelegungen den Raum effizienter nutzen. Die Tageszyklen erfassen das Mobiliar und die Raumzuschnitte und verändern die räumliche Bühne stetig. Ob dies bei der Vielzahl von Gegenständen, die mit dem Wohnen verbunden sind, zu gestaltbaren Innenräumen führt, kann bezweifelt werden. S. hierzu: Le Corbusier und Pierre Jeanneret: »Arbeiterwohnungen mit verschiebbaren Wänden, Nachtstellung und Tagstellung«, in: Martin Steinmann: »Die Wohnung als ›machine à habiter‹«, S. 5. Mit der neuen Baukunst dagegen würden die Elemente des Bauens zur wahren Freiheit geführt. Das spitze Dach als mehr oder weniger schwere Mütze verhindere die Elastizität der Raumanlage gemäß ihren inneren Bedingtheiten. Weiterhin sei der Zwang der Achse im ganzen wie in den Einzelheiten, die unbedingte Forderung der Symmetrie im gleichen Sinne hinderlich. Dies alles gleiche dem Tragen eines Korsetts, von solchen Einengungen aber mache sich die Architektur frei und stelle die Gesundheit ihres Organismus allem anderen voran. Freiheit der Einzelteile bedeute deren Heranziehung zur gleichberechtigten und vollen Mitarbeit, derart, dass es ein Über- und Unterordnen nicht mehr gebe, weil die Unentbehrlichkeit des einzelnen Teiles augenscheinlich werde. Bruno Taut: Die neue Baukunst, S. 53. Die alte Ordnung der architektonischen Dinge war für ihn das Spiegelbild einer Gesellschaft, die Zweckerfüllung durch Umkleidung mit dekorativen Zutaten, durch Verkleidung und Verschleierung erreiche und damit den Arbeiter aus ihrem Kulturbilde ausschlösse. Bruno Taut: Die neue Baukunst, S. 57. Bruno Taut: Die neue Baukunst, S. 6 und 7. Bruno Taut: Die neue Baukunst, S. 6.
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Adolf Behne stigmatisierte das Ornament in Zusammenhang mit Krieg und Militarismus. Die Gebrauchsgegenstände, so Behne, würden gepanzert durch die ornamentale Überformung, alle dekorative Kunst stehe unter einer Art AngstPsychose20. Es findet sich bei allen Apologeten des radikalen Funktionalismus eine fast klischeehafte Betonung zweckhafter Funktionalität und Materialgerechtigkeit, wie sie bereits im 18. Jahrhundert von Lodoli oder Algarotti gefordert wurde. Das Dilemma des 19. Jahrhunderts, das sich ganz dem Fortschritt öffnete und zugleich die überlieferte Tradition retten wollte, sollte mit der wiederholten Forderung nach der Mimikri des »Zweckes« radikal beendet werden. Mit dem Ablegen der traditionellen Hüllen sollten Artefakte entstehen, ähnlich wie sie die schaffende Natur hervorbringt. In der Zeitschrift ABC aus dem Jahr 1926 werden drei exemplarische Gebäude mit dicken schwarzen Balken durchgestrichen, um sie als falsch zu kennzeichnen: Das Rathaus von Stockholm, der Stuttgarter Hauptbahnhof und ein im Stil von De Stijl entworfenes Haus. Dies zeigt, dass sich die radikalen Funktionalisten gegen jede stilistische Ambition zur Wehr setzten, um dem Ideal der reinen Zweckerfüllung näher zu kommen. »Komposition von Kuben, von Farben, von Materialien«, so ein anonymer Autor, »bleibt ein Hülfsmittel und eine Schwäche. Wichtig sind die Funktionen, und diese werden die Form bestimmen.«21 Den ontologischen Anspruch einer »ars imitatatur naturam« konnte der moderne Funktionalismus dennoch nicht einlösen. Seine formalen Paradigmen fand er in der technischen Welt 22. 1.1 Industrielle Typologie und »Biomimese« Wie lässt sich die Mimikri des »radikalen Funktionalismus« mit der für die moderne Architektur wichtigen industriellen Fertigung verbinden und kann diese auch unter dem Aspekt einer Mimesis der »Natur« betrachtet werden? Grundsätzlich steht die Architektur als »Konstruktion« in einer problematischen Stellung zur Natur, denn in ihrem artifiziellen Zusammengesetztsein formuliert sie
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»In dem Moment, da unsere Arbeit die Diskrepanz zwischen Sache und Form überwindet, überwindet sie auch die Isolierung, wird sie universale und elementare Gestaltung im Ganzen«. Adolf Behne: »Warum nicht schön?« S. 6-8. Anonymus: »Komposition ist Starrheit – Lebensfähig ist das Fortschreitende«, S. 1. »Der Rennwagen, die Lokomotive, das Motorboot und mit ihnen alle Dinge, die strenge Anforderungen zu erfüllen haben, weisen uns, weil sie dem formalästhetischen Streben einer falsch erzogenen Künstlerschaft entgangen sind, bereits den Weg, der zur Deutlichkeit und Klarheit führt.« Anonymus: »Komposition ist Starrheit – Lebensfähig ist das Fortschreitende«, S. 1.
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einen Widerspruch zu gewachsenen, organischen Gebilden. Sie geht nicht wie die Natur durch Zeugung aus sich selbst hervor, sondern aus einem mechanischen Fertigungsprozess, in dem Teile zusammengefügt werden. Architektur kann also nicht Natur sein, sondern nur wie die Natur schaffen, indem sie ihre Prinzipien nachahmt. Sie ist im Sinne der aristotelischen »ars imitatur naturam« eine Form der Mimesis, die sich kosmologisch als Teil einer umfassenden Natur begreift, indem sie deren Strukturprinzipien nachahmt. Davon verschieden ist ein Nachahmungsmodell, das auf identischen Vervielfältigungen beruht. Die zweite Form, die nur die Wiederholung des Gleichen bedeutet, stellt einen Grenzfall von Mimesis in der Architektur dar. Ihr Problem besteht darin, dass sie den individuellen Zweck nicht adäquat abbilden kann, da sie diesen erst nachgeordnet betrachtet. Die Entwicklung einer industriellen Typologie versucht diesen Widerspruch zu lösen, indem sie ein möglichst kleines, modulares, stabiles Element annimmt, das Veränderungen zulässt, ohne selbst in seiner Formstabilität gefährdet zu sein. Das formstabile Element ist der Modulbaustein, der Umbauten und Transformationen unverändert übersteht und damit eine Art unveränderliches platonisches Element, das sich in seiner konkreten Gestalt heterogenen, zeitlichen Einflüssen wie Materialität und Technik verdankt. Abbildung 9: Konrad Wachsmann: Das vertikal und horizontal identische Standardprofil des General Panel Systems; die Position der Metallteile in den Standardschlitzen und der Moment des Zusammenfügens der Verbindung durch das von oben sich nähernde Teil; der ausgestanzte universelle Metallhakenverschluss des General Panel Systems, 1951.
Programmatisch wurde der Ansatz formstabiler Elemente, die einer stetigen Veränderung und Wandlung im Zuge sich verändernder Bedürfnisse unterliegen, von Konrad Wachsmann eingeführt. Wachsmanns kristalline Gitterstrukturen
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besitzen modulare Elemente, die ständige Veränderung und damit funktionale Varianz und Entwicklung erlauben23. In Wendepunkt im Bauen nennt Wachsmann modulare Ordnungen, die ein industrielles Bauwerk bestimmen. Er unterteilt sie nach Kategorien wie »Materialmodul«, »Leistungsmodul«, »Geometriemodul«, »Bewegungsmodul«, »Konstruktionsmodul«, »Elementmodul«, »Verbindungsmodul«, etc. Formgebung war für Wachsmann eine Folge szientifisch-technischer Formbestimmung24. Konsequent klammerte er den überkommenen Architekturbegriff aus und forcierte einen industriellen Konstruktivismus, der der äußeren Gestalt nur noch eine sekundäre Bedeutung zukommen ließ 25. Als notwendige Folge änderte sich für Wachsmann auch das Berufsbild des Architekten zum Produktdesigner26. Die primären »platonischen Konstruktionsbausteine« modularer Systeme stellen die eigentliche architektonische Wirklichkeit dar und dienen der Funktion als kleinstes, zellenartiges Element. Mit deren reversibler Fügung zu einem der Funktion dienenden Gebilde wird Zweckerfüllung erreicht. Besondere Aufmerksamkeit verlangte deshalb die Ausbildung der Verbindungsmittel (Abb. 9). »Ich
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»Zum Unterschied von handwerklich hergestellten Objekten«, so Wachsmann, » muss das Massenprodukt abstrakten modularen Koordinationssystemen entsprechen, um in fast unbegrenzten Kombinationsmöglichkeiten, in denen die Elemente und Teile eines Bauwerks an jedem Punkt sich harmonisch zusammenfügen, in einer Verfeinerung zu resultieren, die bisher unbekannt und unmöglich zu erreichen war.« Konrad Wachsmann, Wendepunkt im Bauen, S. 10 und 11. »Probleme der Formgebung spielen nur noch eine sekundäre Rolle, denn es beginnen sich Kräfte auf wissenschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher und soziologischer Ebene zu entfalten, die bereits das notwendigerweise sich Ergebende wesentlich mitbestimmen.« Konrad Wachsmann, Wendepunkt im Bauen, S. 26. »Die tragenden Bauteile werden sich immer mehr in das Innere des Bauvolumens verlagern. Begriffe von Masse, Fassade oder Monumentalität, nichts mehr als nur zusammenhanglose visuelle Effekte, werden sich von selbst aufheben. An den glänzenden Außenflächen des Baues wird man nicht mehr das strukturelle System des Bauwerks ablesen können im Sinne von ›Form folgt der Funktion‹. Denn diese Flächen sind keine Fassaden mehr, da sie ganz unabhängig von der Konstruktion nur als abschirmende Funktionen über den Bau gehängt sind, mit dessen Konstruktion sie nichts mehr direkt zu tun haben.« Konrad Wachsmann, Wendepunkt im Bauen, S. 112. »Es wird der universelle Designer sein, der mit der Industrie als komplexem Instrument, ähnlich dem Produktdesigner, für die Aufgaben seiner Zeit arbeitet. Die Grenzlinien zwischen Produkt, Bauelement und Konstruktion werden sich immer mehr verwischen, bis sie sich völlig aufheben.« Konrad Wachsmann, Wendepunkt im Bauen, S. 113.
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erinnere mich noch an die schweißtreibende Gedächtnisarbeit in der Schule,« so Dietmar Steiner, »um den Hakenverschluss des General-Panel-Systems von Gropius und Wachsmann auswendig zu lernen. Heute noch habe ich diese sonderbar gekröpften Aluminium-Gebilde vor Augen. Niemals machten wir uns darüber Gedanken, wie denn ein mit diesem System gebautes Haus aussehen könnte. Es war und ist auch weitgehend gleichgültig. Das Anschlussdetail der Elemente beinhaltet die gesamte Geschichte der Idee, es war die Erklärung der Methode, die Tendenz und der eigentliche Kern des Entwurfs.«27
Einen wesentlichen Unterschied zur »ersten Natur« stellen die »stabilen Elemente« der modularen Bauweisen dar, die sich nicht entwickeln dürfen, ohne die »Konstruktion« zu gefährden. Deren Evolution verlangte eine weitere Annäherung an die »erste Natur«, welche den Austausch und die Veränderung der »formstabilen Elemente« bedeutet28. Mit den Begriffen »Bionik« und »Biomimetik« änderten sich grundsätzlich auch die modularen Elemente. Nun sollte die »zweite Natur« der industriellen Produktion die Natur selbst imitieren, indem ihre Gestalt naturähnlich, besser naturgleich wurde. Wie das Wort »Biomimetik« bereits aussagt, handelt es sich um Technologien, die durch »Anverwandlung« an biologische Systeme gewonnen werden. Sie formulieren das letzte Ziel der funktionalistischen Moderne mit Hilfe einer organischen Technik, welche im Idealfall eine vollständig nach den Bedürfnissen des Menschen geschaffene »neue Natur« hervorbringt. Eine solche »neue Natur« wäre eine in eine »technische Natur« überführte Natur, die sich vollkommen den strukturimmanenten Prinzipien der ersten Natur angliche. Die Welt der »technischen Natur« würde sich der Architektur derart bemächtigen und sie in einem ständigen Prozess revolutionieren, um sie in einem letzten
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Dietmar Steiner: »Jedes Detail eine Geschichte«, S. 4. Was ein Stab in Verbindung mit Knotenelementen in einer unbegrenzten morphologischen Variation und Kombination leistete, das konnte auf konglomeratartige Zellenstrukturen übertragen werden. Raumgitter stapelten sich bei Takara Beautilion auf der Expo 1970 in Osaka zu einem endlos erweiterbaren Großgerät, dessen Gitterstruktur mit individuell verschieden ausgebildeten Raumzellen aufgefüllt war. Die Zellen oder Kapseln im Trag- und Versorgungssystem des Gitters sollten wie organisches Leben wachsen oder schrumpfen. Veraltete oder defekte Zellen sollten ohne größeren Aufwand ausgetauscht werden können, um sie geänderten funktionalen oder technischen Anforderungen anzupassen. Das von den »Metabolisten« thematisierte naturmimetische zellenartige Entwickeln von Gebäuden besaß das Ziel, ganze Städte mit gleichartigen Gitter- und Kapselstrukturen zu überwuchern.
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Schritt nicht mehr als Technik, sondern selbst als Natur erscheinen zu lassen und das Bauen wieder dort ankommen lassen, von wo es sich am Beginn entfernte29. Die entstehenden Gebilde sind dynamische, transformierbare Elemente, die sich durch äußere Einflussfaktoren zu einem komplexen System diversifizieren. Das Gesamtbauwerk bestimmt sich dann durch das vollkommen integrierte konstruktive Detail und ist organischen Strukturen vergleichbar.30
»P LATONISCH - ONTOLOGISCHE M IMESIS « Dem aristotelischen Teleologiegedanken entspricht eine Architektur, die als Fortsetzung und Vollendung der Natur verstanden werden kann. Dieser Form der Mimesis steht eine Mimesis gegenüber, die Architektur als Darstellung von for-
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Der zentrale Ansatz der »Biomimetik« für die Architektur besteht darin, sich der Natur nicht durch Rationalität entgegenzustellen. Naturähnlichkeit soll erreicht werden, indem ein »Genotyp« entwickelt wird, dessen »Phänotyp« sich »in Wechselwirkung mit der Umwelt« herausbildet und damit veränderlich ist. Die entstehenden architektonischen Gebilde sollen durch ihre naturaffinen Eigenschaften Architektur mit der Natur vernetzen, um sie interagierend in die natürliche Umwelt zu integrieren. Bereits in der Wahl der Begriffe wie Systeme und Prozesse in der Entwicklung von Architektur und Biologie beschrieben werden, ist identisch. Dem »Genotyp« kommt als dem »Systemindividuum« zentrale Bedeutung bei der Genese einer Struktur zu. Das »Systemindividuum« soll in seinem »morphogenetischen Prozess« wachsen und sich in seiner »evolutionären Entwicklung« zu einer »Population erwachsener Individuen« ausbilden. »Der gemeinsame und übergeordnete Aspekt besteht darin, dass ein größeres System aus der Vermehrung der Elemente über mehrere Wachstumsschritte erfolgt. Während dieser schrittweisen ›Aussprossung‹ passt sich jedes Element individuell den lokalen Bedingungen, Kräften und Umwelteinflüssen an.« Michael Hensel und Achim Menges: »Form- und Materialwerdung. Das Konzept der Materialsysteme«, S. 20. und S. 22. Dass es sich bei den »biomimetischen Strukturen« nur um Annäherungen an die Natur handelt, diese aber nie erreicht werden kann, hat bereits Leibniz formuliert: »So ist jeder organische Körper eines Lebewesens eine Art von göttlicher Maschine oder natürlichem Automaten, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft. Denn eine durch Menschenkunst gebaute Maschine ist nicht auch Maschine in jedem ihrer Teile. So hat z. Bsp. der Zahn eines Messingrades Teile oder Stücke, die für uns nichts Künstliches mehr sind und die nichts mehr von der Maschine merken lassen, zu deren Betrieb das Rad bestimmt war. Aber die Maschinen der Natur, d. h. die lebendigen Körper, sind noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche hinein, Maschinen. [...]« Gottfried Wilhelm Leibniz: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie, S. 57.
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malen, strukturimmanenten Prinzipien der Natur begreift und darin völlig anderen Kriterien unterliegt. Die Architektur weist wie keine andere künstlerische Disziplin eine Dichotomie auf, die sich einerseits in der Erfüllung ihres Zwecks und andererseits in ihrer ästhetischen Bedeutung zeigt. Der radikale Funktionalismus hegte die Absicht, mit der Mimikri an die Funktion zugleich das ästhetische Problem zu lösen. Der Grund für sein Scheitern besteht mit darin, die Bedeutung der ästhetischen Fragestellung vernachlässigt zu haben. Die Moderne naturalisierte die Architektur, indem sie als »ars imitatur naturam« Perfektionierung der Natur sein wollte. Dagegen positionierte sich eine neoplatonische Strömung, die einen gleichermaßen »ontologischen« Anspruch formulierte. Die »Wahrheit« der Architektur sollte nicht im »Zweckhaften« liegen, sondern in ihrer Beziehung zu formalen Strukturelementen der Wirklichkeit, vergleichbar den von François Blondel verteidigten platonischpythagoreischen Proportionen. Ernesto Grassi hat in Die Theorie des Schönen in der Antike eine analoge ontologische Fragestellung in der Kunst bei Platon und Vertretern der Kunst des 20. Jahrhunderts thematisiert31. Mondrian habe sich von allen subjektiven und ästhetischen Bedingungen abwenden wollen, da das Zeitlos-Unveränderliche, das er mit dem ursprünglich Schönen gleichsetzte, jenseits aller besonderen Formen liege32. Die abstrakte Kunst, die verwirkliche, was Mondrian universelle Schönheit nenne, bedürfe einfachster, elementarer Mittel33. Grassi bezeichnete dies als »ontologische Mimesis« der modernen Kunst. »Ontologisch« deshalb, weil die Kunst nicht die Wirklichkeit nur abbilde, sondern die Strukturprinzipien der Natur zum Darstellungsinhalt erkläre. Darin besitze Platons Konzeption der Kunst eine Nähe zu radikal abstrakten Konzepten der »klassischen Moderne«34. Die im platonischen Philebos entdeckten »einfachen geometrischen Formen Gerade, Kreis, Dreieck, Kugel«35 seien »Schönheit an sich«36, welche bei Piet Mondrian in vergleichbarer, elementarer Einfachheit in Form von vertikalen und horizontalen Linien wiederkehrten37. Folgt man der Interpretation von Grassi, so wurde von den Suprematisten, Puristen oder der De Stijl- Bewegung der Versuch unternommen, Urbilder im platonischen Sinne zu formulieren. Die gewählten Invarianten und Konstanten
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Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 100-107. Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 105. Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 105. Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 120 ff. Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 120. Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, S. 120. Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike,, S. 121.
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der Architektur begründeten sich als Darstellungen von Strukturprinzipien der Wirklichkeit. 2.1 Platonismus bei Le Corbusier Reyner Banham verwies in seinem Buch Die Revolution der Architektur38 auf den latenten Platonismus und Klassizismus im Werk der Avantgarde der 20iger Jahre, der sich in der Vorliebe für einfache geometrische Körper, den »Philebosschen Formen«, zeige. Platon begründet im Philebos die lustvolle Betrachtung geometrischer Formen mit ihrem ontologischen Status39. Ihre Nähe zur Wahrheit ließ Platon eine kontemplativen »Lust« beim Rezipienten während ihrer Betrachtung annehmen. In Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts besaß bei CharlesEdouard Jeanneret, dem späteren Le Corbusier, und Amedée Ozenfant diese Form platonischer Mimesis große Bedeutung in der Bestimmung einer erneuerten klassischen Kunst40. Charles L’Epattenier beeinflusste als Lehrer an der Ecole d’Art Le Corbusier schon früh mit seinem Naturstudium, indem er die Natur unter geometrischen, rhythmischen und strukturellen Ordnungsprinzipien betrachtete.41 L’Epatteniers Poetik »war ihrem Wesen nach von jenem akademischen Strukturalismus ge-
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Reyner Banham: Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, Hamburg 1964, Originalausgabe 1960. »[…] Unter der Schönheit der Gestalten nämlich will ich hier nicht das verstanden wissen, was sich die große Menge dabei denkt, wie z. B. die von lebenden Wesen oder von Gemälden, sondern ich verstehe darunter ein gewisses Gerades – so fordert es die Untersuchung – und ein Kreisförmiges und auf Grund dessen die durch Rundhobel hergestellten Flächen und Körper, wie auch durch Richtschnur und Winkelmaß, wenn du mich verstehst. Denn diese sind, wie ich behaupte, nicht beziehungsweise schön, wie andere Dinge, sondern immerdar an und für sich schön, und sie führen bestimmte, ihnen eigentümliche Lustgefühle mit sich, […]. Platon: Philebos, 51b. »[…] By the end of 1916 we see in Paris a literary and artistic style marked by both Cubism and Futurism which was rapidly moving towards a Neo-Platonically motivated classicim, a classical revival. Ozenfant was not yet affected as a painter, and only beginning to be embroiled in theoretical discussions, but he was nevertheless, in the middle of his milieu, for as he rightly observed, L’Elan ›opend doors for me‹.« Susan L. Ball: Ozenfant and Purism. The Evolution of a Style 1915-1930, S. 22. Corbusier äußerte sich über seinen Lehrer wie folgt: »Mon maitre m’avait dit [...] ne faites pas à la manière des paysagistes qui n’en montrent que l’aspect. Scrutez-en la cause, la forme, et faites en la synthèse en créant des ornaments.« Luisa Martina Colli: »Jeanneret und die Ecole d’Art«, S. 18.
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prägt, der in den Schriften von Choisy, von Charles Blanc und von Guadet zum Ausdruck kommt.«42 Besonders Charles Blanc übte mit seinem Grammaire des Arts du Dessin43 Einfluss auf L’Epattenier und später auf Le Corbusier aus. Von Blanc stammt beispielsweise die in Vers une architecture wiederkehrende Aussage, Architekturen seien reine Schöpfungen des Geistes44 – pures créations de l’esprit 45. Entscheidend für Jeanneret war die Begegnung mit dem Maler Amedée Ozenfant, der bereits Ideen zu einem neuen Platonismus in der Kunst entwickelt hatte46. Ozenfant suchte nach den Konstanten und Invarianten in der Kunst, darin war er ein »ancien«, und er knüpfte bei der vorkubistischen Kunst, vor allem bei Poussin, Chardin, Ingres, Signat und anderen an47. Der geschlossene geometrische Körper wird nach der kubistischen Zerlegung und Mehrdimensionalität re-
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Luisa Martina Colli: »Jeanneret und die Ecole d’Art«, S. 18. Charles Blanc: Grammaire des Arts du Dessin. Architecture, Sculpture, Peinture, Paris 1867. Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 149. »Blanc vertritt hier ein dreistufiges Modell der Epochenabfolge des sich verändernden Verhältnisses von Natur und Kunst, das gleichzeitig den Fortschritt der Erkenntnis beschreibt: Auf die Imitation der Naturformen folge deren auswählende Interpretation und daraus schließlich die Idealisierung, in der die wirkenden Gesetze der Schönheit vernunftgemäß erkannt seien. Das ideale Kunstwerk stellt somit eine Synthese des Intelligiblen mit der sinnlich wahrnehmbaren Materie dar. [...] Wichtig ist dabei aber, dass für Blanc die Architektur als Darstellung des Geistes nicht eine entwicklungsgeschichtlich primitive Stufe darstellt, sondern vielmehr eine dauerhafte Qualität gewinnt: Die Architekturen stehen von Anfang an in ihrer Eigenschaft als reine Schöpfungen des Geistes – pures créations de l’esprit – am weitesten von aller Naturnachahmung entfernt. Der Architekt kreiert also nicht durch eine stufenweise verbesserte Nachahmung der Schöpfung Gottes, sondern parallel zu dieser, indem er deren Gesetze freilegt.« Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900–1930, S. 169. »In response to this growing need for order, Ozenfant published in the ninth issue of L’Elan the first item that truly prefigured Purism – the text of Philibus or pleasure from Platos’s Dialogues. In publishing Plato’s eulogy to geometrical form, Ozenfant placed himself in an ongoing critical debate on pure form and abstraction, and at the same time, he laid the foundation for the Purist theory of types and standards, a theory which like the debate on Abstraction had roots in early twentieth-century Germany.« Susan L. Ball: Ozenfant and Purism. The Evolution of a Style 1915 - 1930, S. 21. »Le Purisme exprime non les variations, mais l’invariant. L’oeuvre ne doit pas être accidentelle, exceptionnelle, impressionniste, inorganique, pittoresque, mais contraire générale, statique, expressive de l’invariant.« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Apres le cubisme, S. 59.
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stituiert, um eine primäre platonische Form zu gewinnen48. Diese purifizierte Form war für Charles-Edouard Jeanneret und Amedée Ozenfant eine ideelle Wirklichkeit, die für sie zugleich den Geist der Wissenschaften verkörperte49. Die gemeinsam entwickelte Idee einer puristischen Kunst50 war grundlegend für die spätere Entwicklung Le Corbusiers, in der das Kunstwerk auf einfache, unveränderliche Grundlagen wie Zahlen und elementargeometrische Formen gestellt wird. Après le cubisme verweist mit den apodiktischen Sentenzen zu einer puristischen Malerei auf die späteren grundlegenden Qualitäten von Le Corbusiers Architektur der 20er Jahre. Der neue Gedanke von Après le cubisme war die Annahme eines gemeinsamen Ideals von Technik und Kunst, dem «l’ideal commun de generalizer«. Dieses stelle, so Jeanneret und Ozenfant, die höchste Stufe des Geistes dar und stimme überein mit den natürlichen Gesetzen, die den Zufall verachteten. Die Analyse, die die Basis darstelle, sei nichts anders als ein Mittel, um die Invarianten kennen zu lernen und ausgewählte Materialien der »menschlichen Stimmgabel« gemäß zusammenzutragen51. Überzeitliche Invariante der Kunst berührten in besonderer Weise das mimische Vermögen52. Die gewählte Analogie der
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»Le Purisme veut concevoir clairement, exécuter loyalement, exactement, sans déchets; il se détourne des conceptions troubles, des exécutions sommaires, hérissées.« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Apres le cubisme, S. 59 und 60. »Es ist das Ziel der reinen Wissenschaft, die Naturgesetze durch die Suche nach Konstanten auszudrücken. Das Ziel ernsthafter Kunst ist ebenfalls das ZumAusdruck-bringen von unveränderlichen Faktoren.« Reyner Banham: Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, S. 176. Ozenfant und Jeanneret besaßen einen ähnlichen Lebenslauf. Beide besuchten eine Kunstschule bereits im frühen Alter und waren offen für die avantgardistische Kunst in Paris. Beide waren weit gereist und betrieben ihre Studien mit Passion, besuchten Bibliotheken, forschten nach den Ursprüngen in den primitiven Kulturen und besaßen eine besondere Affinität zur mediterranen Kultur des Mittelmeeres. Susan L. Ball: Ozenfant and Purism. The Evolution of a Style 1915-1930, S. 32. »La science et le grand Art ont l’ideal commun de généraliser, ce qui est la plus haute fin de l’esprit. D’accord avec les lois naturelles, ils méprisent le hasard. L’analyse qui est à la base n’est qu’un moyen pour prendre connaissance des INVARIANTS, pour rassembler des matériaux choisis suivant le diapason humain; […] l’art doit généraliser pour atteindre la beauté. […] De l’œuvre doit dégager une loi.« Charles- Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Apres le cubisme, S. 39 und S. 40. Vergleichbar wurden Thesen von Le Corbusiers in Vers une Architecture formuliert: »Man sagt von einem Gesicht, es sei schön, wenn die Feinheit der Modellierung und die Gliederung der Züge Proportionen haben, die man als harmonisch empfindet, weil sie in unserem Inneren über die sinnliche Wirkung hinaus Wider-
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Stimmgabel lässt an die platonisch-pythagoreischen Proportionen der vormodernen Architektur denken, die in François Blondels Cours d’Architecture als rationale Grundlagen der Architektur dargestellt werden53. Tatsächlich nennen dann Le Corbusier und Amedée Ozenfant am Ende des Abschnittes zu »Les Lois« explizit Blondel und stellen sich damit unmissverständlich auf die Seite der »anciens«. Antike Kanons, so Jeanneret und Ozenfant, die als Schablonen generell für künstliche Codes gehalten wurden, basierten auf nichts anderem als auf der richtigen Kenntnis der Universalität natürlicher Gesetze, die die äußere Welt beherrschten und ein Kunstwerk konditionierten. Nicht die Codes, sondern die richtigen und geschmeidigen Gesetze erlaubten ein Band vom Werk des Menschen zu dem der Natur54. Der Begriff des Bandes, das die Dinge gesetzmäßig bestimme, verwendete bereits Platon, um die Tätigkeit des Demiurgen zu beschreiben und findet sich wieder in François Blondels Cours d’architecture55.
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hall erwecken, gleichsam einen Resonanzboden in uns zum Schwingen bringen. Spuren eines undefinierbaren Absoluten, das im Grunde unseres Wesens seit jeher lebt.« Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 151. Als Titel für das Kapitel über die »MASS- REGLER« in Vers une architecture verwendete Le Corbusier die Porte Saint-Denis, mit der François Blondel exemplarisch seine Lehre von den platonisch-pythagoreischen Proportionen umsetzte. Die Abbildung der Porte Saint-Denis ist auch insofern interessant, als François Blondel sie als Titelblatt des ersten Bandes seines Cours d’Architecture verwendete. Le Corbusier betont in Vers une architecture ausdrücklich die Wichtigkeit regulativer Proportionsstrukturen für die Architektur: »Der Maß-Regler ist Versicherung gegen die Willkür. […] Der Maß-Regler dient einer Befriedigung geistiger Ordnung, er fördet die Suche nach sinnvollen und harmonischen Beziehungen.« Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 67. »Les canons antiques qu’on croit généralement être des codes artificiels, des calibres, n’étaient basés que sur la juste connaissance de l’universalité des lois naturelles qui gouvernent le monde extérieur et conditionnent l’œuvre d’art. C’etait, non des codes, mais des lois justes et souples qui permettaient de lier l’œuvre humaine à celle de la nature (Euclide, Pythagore, Archimède). […] on en avait conservé quelques souvenirs jusque sous Louis XIV (Blondel).« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Après le cubisme, S. 47 und S. 48. Das Bild des »Bandes«, das die Natur wie das Werk des Menschen gleichermaßen bestimme, geht möglicherweise auf Ozenfants Kenntnis des Timaios zurück (s. hierzu das Kapitel »Platon: Ontologische Mimesis als Methexis«). François Blondel spricht im Cours d’architecture von einem »Band der Liebe«, das mitwirke, etwas Vollkommenes zu schaffen. François Blondel: Cours d’architecture, cinquieme partie, S. 731.
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Dies zeigt, dass Jeanneret während seiner puristischen Zeit wie Blondel eine »monistische« Auffassung der Natur vertrat. Natur war für Jeanneret und Ozenfant eine »komplizierte Maschine« mit einem »sehr komplexen Gewebe«, das auf einem »geometrischen Rahmen« gewebt worden sei56. Gesetzescharakter gaben diesem Gewebe der Natur die »großen Zahlen«57. Den platonisch-pythagoreischen Grundgedanken und damit auch die Bedeutung der »großen Zahlen« in Après le cubisme zeigt der Abschnitt »Mécanisme de l’émotion«, in dem die Emotion des Künstlers vor der Natur mit den Vibrationen eines Resonanzkörpers in Verbindung gebracht wird58. Es gebe eine Konkordanz und eine Symmetrie zwischen den konstitutiven Zahlen des Objekts, das schön scheine, und dem Kunstwerk, das diese Schönheit genau übersetze59. Das Schöne des Künstlers seien die Expressionen einer zwangsläufigen Ordnung, welche in uns klinge und deren Übereinstimmung perfekt sei60. Jeanneret und Ozenfant argumentieren auch hier wie François Blondel im 17. Jahrhundert argumentierte, dessen Architekturtheorie auf die Bedeutung und Wirksamkeit exakt definierter Zahlenproportionen basiert und sie bezogen sich offensichtlich auf die Theorie einer »positiven Schönheit« der platonischpythagoreischen Proportionen. Das Neue in Après le cubisme besteht in der Verbindung dieser Proportionen mit dem Geist des Szientismus. Jeanneret und Ozenfant dachten die proklamierten Invarianten als vergleichbare ontologische Bestimmung von Natur, Kunst und Wissenschaft. Reine Kunst und reine Wis56
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»Les lois nous permettent de considérer que la nature agit à la manière d’une machine. Il sort de cette machine très compliquée un tissu très complexe, mais tissé sur trame géometrique.« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Apres le cubisme, S. 41. »la loi des grands nombres« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Apres le cubisme, S. 42. »Le choix et l’emotion de l’artist devant la nature sont tout à fait analogues à la mise en vibration d’un résonnateur par des ondes accordées avec lui; […].« CharlesEdouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Après le cubisme, S. 43. In Vers une Architecture kehrt derselbe Gedanke in der Betrachtung des Parthenon wieder: »Wenn man vor dem Parthenon stehen bleibt, so deshalb, weil sein Anblick eine innere Saite in uns zum Klingen bringt; die Achse wird berührt. […].« Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 153. »Il est permis de croire qu’il y a concordance pour ainsi dire symétrique entre les nombres constitutifs de l’objet qui semble beau et l’œuvre qui traduit exactement la beauté de cet objet […].« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Après le cubisme, S. 43. »Le vrai du savant, le beau de l’artiste, sont les expressions de cet ordre fatal qui sonne en nous l’accord parfait.« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Après le cubisme, S. 43.
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senschaft seien keine verschlossenen Bereiche, sondern besäßen einen gemeinsamen Geist. Es gebe keine Scheidewand zwischen einem Leben für die Wissenschaft und einer vergleichbaren Kunst zu dieser Wissenschaft: Kunst und Wissenschaft hingen von der Zahl ab61, sie kollaborierten miteinander62. Die Formen in der Welt der Maschinen gleichen für Jeanneret und Ozenfant den puristischen Formen in der Malerei und verweisen damit auf ihren gemeinsamen Ursprung, den Platonismus der Form. Die von Le Corbusier dann mit primären geometrischen Körpern ausformulierte Architektur verkörpert wie die Maschinenform Autonomie und Bindungslosigkeit gegenüber dem Ort. Sie ist, wie Le Corbusier es in Vers une Architecture ausdrückte, eine »reine Form des Geistes«, deren Autonomie sich mit deren Immaterialität verbindet63. Le Corbusier forderte »platonische Größe, mathematische Größe, Wissenschaftlichkeit« und »klare, reine Gebilde«64. Jede Störung der reinen Geometrie bedeutete für Corbusier eine Schwächung ihrer ästhetischen Wirkung65. Giedion verglich den Effekt, den Corbusiers kubische Häuser hervorriefen, mit der Wirkung von Flaschen und Gläsern in Corbusiers Malerei. Diese wirkten als schwebend-durchsichtige Dinge, deren Konturen ohne Schwere ineinander übergingen. Ähnlich sei es in der Architektur Corbusiers, deren Häuserkanten verschwimmen würden, wodurch ein Effekt wie bei gewissem Licht in Schneelandschaften entstünde: Eine Entmaterialisierung des Festumgrenzten, die weder
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»On va prouver que l’art pur et la science pure ne sont pas des domaines étanger; ils ont un esprit commun. Il n’y a pas non plus de cloison entre une vie conditionnée par la science et un art parallèle à cette science: l’art et la science dépendent du nombre.« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Après le cubisme, S. 40. »La science et l’art collaborent.« Charles-Edouard Jeanneret und Amédée Ozenfant: Après le cubisme, 49. »Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper. Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen: Lichter und Schatten enthüllen die Formen: die Würfel, Kegel, Kugeln, Zylinder oder Pyramiden sind die großen primären Formen, die das Licht klar offenbart; ihr Bild erscheint uns rein und greifbar, eindeutig. Deshalb sind sie schöne Formen, die allerschönsten.« Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 38. Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 90. »Die Außenhaut des Tempels oder der Fabrik ist meistens eine von Türen und Fenstern durchlöcherte Mauer; diese Löcher zerstören oft die Form; man muß ihnen formanzeigende Qualitäten beigeben. Wenn das Wesentliche der Baukunst aus Kugeln, Kegeln und Zylindern besteht, dann beruhen die formerzeugenden und formanzeigenden Elemente auf reiner Geometrie.« Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 43.
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Steigung noch Gefälle unterscheiden ließe und im Schreitenden das Gefühl erzeuge, als ginge er auf Wolken66. Hans Sedlmayr erkannte in der modernen Architektur eine Anbetung der Geometrie; im Streben nach Reinheit in den Künsten stecke unbemerkt etwas vom Geist der modernen Wissenschaft. Diese habe die »reinen Elemente« der Chemie, die »reinen Linien« der Entwicklungsgeschichte, die »reine Logik« als einige der konkreten Manifestationen dieses Geistes67. Es bestand eine eigentümliche Affinität von progressiver, moderner Haltung und einem »modernisierten Klassizismus«, der platonisch-pythagoreisch idealisierend geometrische Elementarkörper und strukturelle Ordnungsprinzipien als Gestaltungselemente verwendete68. Klassizistisches Ordnungsdenken und platonischer Idealismus kondensierte zu einer Apotheose der Geometrie, in der »nicht nur das Kennzeichen der modernen Technologie, sondern auch die Manifestation der zeitlosen Gesetze, die die Kunst beherrschen, gerechtfertigt nicht durch die Gegenwart, sondern durch die Vergangenheit«69 sich darstellten. 2.2 Konstruktivismus als »ontologische Mimesis« In vergleichbarer Weise wie Ozenfant und Jeanneret wollten Mondrian und van Doesburg mit De Stijl die strukturimmanenten Prinzipien der Natur in eine universelle konstruktivistische Kunst übersetzen. Diese stelle einen »Grenzfall von Mimesis« dar, so Hans Heinz Holz, da sie
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Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, S. 85. Als einen Ursprung dieses Strebens nach »Reinheit« nannte Sedlmayr den calvinistischen Purismus. Hans Seldmayr: Die Revolution der modernen Kunst, S. 100. Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson beschrieben die geometrische Erscheinung dieser Bauten im Buch zur Ausstellung zum International Style wie folgt: »Volume is felt as immaterial and weightless, a geometrically bounded space.[…] Thus as a corollary of the principle of surface of volume there is the further requirement that the surface shall be unbroken in effect, like a skin thightly stretched over the supporting skeleton. The apparent tensions of a masonry wall are directly gravitational, although they are actually modified more or less by the use of lintels and arches. The apparent tensions of screen walls are thus polarized in a vertical direction, but are felt to exist in all directions, as in a stretched textile. Hence the breaking of the wall surface by placing windows at the inner instead of the outer edge of the wall is a serious fault of design.” Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson, The International Style, S. 44 und 45. Reyner Banham: Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, S. 179.
138 | M IMESIS UND MODERNE A RCHITEKTUR »an den Gegenständen deren quasi geometrisches oder kristallines Skelett herauszuarbeiten versuche, um sich dann in einer weiteren Entwicklungsstufe auf die Ausdrucksmöglichkeiten und Kombinatorik reiner Formelemente als der ›konkreten‹ Materialien der Kunst zu reduzieren.«
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Für Hans Heinz Holz war diese »Formvereinfachung und Gegenstandslosigkeit« »ontologische Mimesis«71, die nicht ein imitatives Abbild der Wirklichkeit zeige, sondern eine »Darstellung des geistigen Wesensgehalts«, dessen Inhalt jenseits der visuellen Mitteilbarkeit stehe72. Die bildhafte Evokation von Transzendenz erzeuge den Schein von Mimesis, weil das Transzendente prinzipiell nicht abbildbar sei73. Konstruktivistische Kunst gleiche, so Hans Heinz Holz, der Methodik wissenschaftlichen Arbeitens, die Elemente folgerichtig aus den angenommenen Prämissen zu bestimmen: »Die ästhetische Eigenart des konstruktivistischen Kunstwerks besteht nicht in der Singularität eines Aperçus, sondern in der Stringenz einer Idee; […] Mit anderen Worten: Die Konstruktivität des ästhetischen Gegenstands reflektiert im Medium der reinen Anschauung die Produktionsweise der modernen Technik.«
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Dies bedeutet, dass »die Entwicklung der Form in allen ihren Momenten gesetzlich erfolgt [...].«75 Konstruktivistische Kunst sei damit strukturgleich im Prozess ihrer Entstehung mit den Prozessen, wie sie sich im »wissenschaftlichen Zeitalter«76 ereignen, ohne dass der Konstruktivismus identisch wäre mit dem konstruktiv rationalen Denken des Homo Faber77. Das konstruktivistische Werk ist jedoch kein wissenschaftliches Werk, sondern spiegelt Wissenschaft in analoger, bildhafter Weise wider. Konstruktivistische Künstler ähnelten »in gewisser Weise den Angehörigen der scientific community; sie bilden idealiter über alle Entfernungen und Differenzen hinweg ein Kollektiv, das seinen Sachgrund [...] in dem
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Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 161. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 157. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 153. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 163. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 161. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 161. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 162. Renate Genth: Über Maschinisierung und Mimesis, S. 25 und 26.
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ontologischen Status ihrer Untersuchungsgegenstände besitzt: Sie haben es alle mit dem Real-Allgemeinen zu tun, das den Oberflächenerscheinungen unserer Welt innewohnt.«
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Holz postulierte den Konstruktivismus als folgerichtigen Ausdruck von Kunst, denn je komplexer die technische und gesellschaftliche Wirklichkeit sei, um so abstrakter sei ihr allgemeiner Charakter noch formulierbar, umso weniger lasse sich ihr Wesen am sinnlichen Einzeleindruck gleichnishaft ablesen79. Ein konstruktivistisches Gemälde oder eine konstruktivistische Architektur sind Ausdruck von Wirklichkeit, obwohl sie kein unmittelbares sinnliches Vorbild nachahmen, sondern im Sinne einer »unsinnlichen Ähnlichkeit«80 die konstruktivistische Idee selbst die Gestalt herbeiführt. Walter Benjamin hat die Entwicklung des Entwurfs aus der konstruktivistischen Idee als unerbittliches Vorgehen beschrieben und in ihr eine Verbindung mit der philosophischen Methode von Descartes erkannt81. Diese Konstruktion beschrieb Hans Heinz Holz für die Kunst wie folgt: »Im strengeren Sinne wird man also nur dann von Konstruktion sprechen dürfen, wenn die Entwicklung der Form in allen ihren Momenten gesetzlich erfolgt, so dass jedes Element in seiner Lage und in seiner qualitativen Besonderheit logisch eindeutig bestimmt ist.«
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Indem Kunst diese radikale Form von Rationalität annimmt, wird sie im Sinne der Widerspiegelungstheorie repräsentativ. Die von Hans Heinz Holz thematisierte Widerspiegelung in Form von Zeichen und Strukturen bezieht sich auf eine kosmische Ordnung, deren strukturimmanenten Prinzipien dargestellt werden, und auf die menschliche Lebenswelt83. Diese Form der Mimesis als Schöpfung oder Reflexion, so Roland Barthes, sei nicht Abdruck der Welt, die der ersten ähnle, sie aber nicht kopieren, sondern nur verständlich machen wolle84.
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Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 162. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 162. Walter Benjamin: »Die Lehre vom Ähnlichen«, S. 204 ff. »Unter den großen Schöpfern hat es immer die unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten. Sie wollten nämlich einen Zeichentisch haben, sie sind Konstrukteure gewesen. So ein Konstrukteur war Descartes, der zunächst einmal für seine ganze Philosophie nichts haben wollte als die eine einzige Gewißheit: »Ich denke, also bin ich« und von der ging er aus.« Walter Benjamin: »Erfahrung und Armut«, S. 215. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 161. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand, S. 162. Roland Barthes: »Die strukturalistische Tätigkeit«, S. 243.
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Ontologische Mimesis formulierten die Konstruktivisten und die Suprematisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kasimir Malewitsch entwickelte bereits vor dem ersten Weltkrieg eine Malerei vom Nullpunkt aus, um eine neue malerische Realität aufzubauen: »Die Dinge und Gegenstände der realen Welt sind wie Rauch für die Natur der Kunst verschwunden«85. Aus dem Nichts der Nacht imaginierte Malewitsch die Elemente einer neuen malerischen Welt86. Malewitschs Konstruktivismus war Neu- oder Urschöpfung der Elemente. Die Schöpfung aus dem Nichts markierte einen radikalen Neuanfang, einen »neuen Realismus«87 der Malerei, wie Malewitsch sich ausdrückte. Der Genese der konstruktivistischen Idee entsprach für ihn die innere Empfindung des Subjekts, denn in der Darstellung der »reinen Empfindung« vollzog sich nichts anderes als das, was Kunst implizit immer schon bestimmte. Hinter den Realien in der Kunst verberge sich eine »Empfindung«, die von der Gesellschaft und den Kunstkritikern übersehen worden sei, für ihn aber das zentrale Moment von Kunst darstellte88. Malewitsch dachte kosmologisch, indem er eine Kongruenz von reiner Empfindung als »innerer Wirklichkeit« mit der »äußeren Wirklichkeit« annahm und forderte eine Kongruenz von »rein malerischen Formen« und »reiner Empfindung«. Sein »Suprematismus« war »die Suprematie der reinen Empfindung in der bildenden Kunst.«89 »Für den Suprematisten«, so Malewitsch, »ist demnach immer jenes Mittel der Darstellung das gegebene, das die Empfindung – als solche möglichst voll zum Ausdruck bringt und das Gewohnte der Gegenständlichkeit ignoriert.«90 Malewitschs suprematistische Malerei sollte eine äußere Wirklichkeit der Formen mit einer inneren Wirklichkeit der Empfindungen zur Deckung bringen. Den Menschen verglich er mit einem kombinierten »Radio-Empfangsapparat [...], in dem eine ganze Reihe verschiedener Empfindungswellen aufgefangen und realisiert werden, deren Gesamtheit die
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Kasimir Malewitsch: Betrachtungen 1914-1919, S. 98. »Ich habe nichts empfunden, nur die Nacht habe ich empfunden und in ihr habe ich das Neue erblickt, das Neue, das ich Suprematismus nannte. Durch die schwarze Fläche hat es sich in mir ausgedrückt, die ein Quadrat gebildet hat und dann einen Kreis. In ihnen habe ich die neue farbige Welt erblickt.« Kasimir Malewitsch: Betrachtungen 1914-1919, S. 98. Kasimir Malewitsch: Betrachtungen 1914-1919, S. 99. »Mir scheint, dass die Malerei Raffaels, Rubens, Rembrandts usw. für die Kritik und die Gesellschaft nichts als eine Konkretion von unzähligen ›Dingen‹ geworden ist, die den eigentlichen Wert – die veranlassende Empfindung – unsichtbar macht. Bewundert wird ausschließlich die Viortuosität der gegenständlichen Darstellung.« Kasimir Malewitsch: Die gegenstandslose Welt, S. 72. Kasimir Malewitsch: Die gegenstandslose Welt, S. 65. Kasimir Malewitsch: Die gegenstandslose Welt, S. 65.
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[...] Weltanschauung bestimmen«.91 »Die neue Kunst des Suprematismus« war denn auch für ihn nicht auf die Malerei beschränkt, sondern sollte durch Übertragung der Formen und der Formverhältnisse zu einer neuen Baukunst führen92. Die Konstruktivisten der frühen Moderne verwendeten einfachste geometrische Elemente. Diese primären Elemente waren für EL Lissitzky etwas »selbständig Gegebenes«93 und darin strukturgleich den Elementen der Natur. Malerische Elemente, El Lissitzky nannte sie »plastische Elemente«94, waren für ihn analog den chemischen Elementen der Natur, dem Wasserstoff, dem Sauerstoff oder dem Schwefel95. Indem die plastischen malerischen Elemente zu einer bildnerischen Aussage zusammengeführt wurden, entstanden die »Prounen«, vergleichbar mit dem Zusammengehen chemischer Elemente zu Molekülen. Abbildung 10: El Lissitzky: Proun-Raum, gestaltet für die Große Berliner Kunstausstellung, 1923, Rekonstruktion.
Wie eine »Säure« sollten die »Prounen« alles anätzen, was sie berührten und damit auf das Leben einwirken, um es zu verändern96. Ihre angenommene Struk-
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Kasimir Malewitsch: Die gegenstandslose Welt, S. 86. Kasimir Malewitsch: Die gegenstandslose Welt, S. 98. El Lissitzky: »Aus einem Briefe«, S. 3. El Lissitzky: »Aus einem Briefe«, S. 3. El Lissitzky: »Aus einem Briefe«, S. 3. El Lissitzky: »Aus einem Briefe«, S. 3.
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turgleichheit mit der Natur verlieh ihnen eine ontologische Bedeutung, die sie für ihre Verwendung zur Umgestaltung der Wirklichkeit legitimierte97. El Lissitzkys »Prounen« bildeten Spannungsverhältnisse im Raum aus, indem sie ihn als ein »selbstständig Gegebenes« aktivierten98 (Abb. 10). Sie galten ihm als »Vorprojekte« zukünftiger Raum-Körper-Bauten. »Einige Prounen erhielten nicht zufällig die Bezeichnung Stadt, Brücke, usw.«99 In ihrer geschichtslosen »Selbstbegründung« verfolgten die malerischen und architektonischen Versuche von Malewitsch und El Lissitzky das Ziel, durch einen Schöpfungsakt eine neue Wirklichkeit entstehen zu lassen100. Eine den russischen Konstruktivismus vergleichbare »ontologische Mimesis« formulierte die De Stijl-Bewegung. Die De Stijl-Kunst sollte eine innere und äußere Wirklichkeit zusammenbringen und zeigt darin eine Nähe zu den Ideen von Malewitsch. Für Mondrian war das Abstrakte »der gestaltete Ausdruck in Funktion des Universellen, die tiefste Verinnerlichung des Äußerlichen und die reinste Veräußerlichung des Innerlichen.«101 Um dies zu erreichen, wird mit Mondrians Neo-Plastizismus der rationale Raum zu einem Beziehungsgefüge zweidimensionaler Elemente mit der Begründung, der Gegenstand werde aufgewertet wie bei mittelalterlichen Raumvorstellungen. Die Grenzen im Unbegrenzten sind bei De Stijl lineare und flächige »immaterielle Elemente«. Piet Mondrian wollte mit dem Kunstwerk zum »Ausdruck des Universellen in uns«102 vordringen103 . Erst der zweidimensional gedachte 97
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»Der Prounengestalter konzentriert in sich alle Elemente des modernen Wissens und alle Systeme und Methoden, und er gestaltet damit plastische Elemente […].« El Lissitzky: »Aus einem Briefe«, S. 3. Die »Prounen«, auch »Projekte zur Bestätigung des Neuen« genannt, waren »axonometrische Darstellungen verschiedenartiger geometrischer Körper im Gleichgewicht, die auf einer festen Unterlage ruhen oder im kosmischen Raum zu schweben scheinen.« S.O.Chan-Magomedow: Pioniere der sowjetischen Architektur, S. 63. S.O.Chan-Magomedow: Pioniere der sowjetischen Architektur, S. 63. Die formalen Experimente entstanden zu einer Zeit, als in Russland mit dem Aufbau eines kommunistischen Staates ein gesellschaftliches Experiment betrieben wurde. Die herrschende Klasse, die über Jahrhunderte ein Leben in festgelegten Bahnen vorgab, war durch die Revolution hinweggefegt worden. Mit dem Verschwinden der gesellschaftlichen Gliederung verloren die überlieferten semantischen Mittel in Malerei und in Architektur ihre Gültigkeit. Auf die Nacht, die »mimetisch« im Sinne der Widerspiegelungstheorie das Nichts nach dem Auflösen der Aristokratie beschreibt, sollte ein Tag folgen, der in eine noch nicht strukturierte Zukunft wies. Piet Mondrian: »Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung«, S. 13. Piet Mondrian: »Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung«, S. 5.
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Raum eröffnete für ihn eine Möglichkeit, eine »reine Beziehung« darzustellen.104 Die Malerei erreiche dies in der »Komposition farbiger Rechtecke«, welche die tiefste Realität ausdrückten105 , die mit der Verwendung der Farbe immateriell sei106. Beeinflusst war Mondrian von dem Theosophen Schoenmaekers, der mit seiner »geradlinigen mystischen Kosmogonie [...] eine ebenso einfache Formel zu finden«107 suchte. Mondrians Bildwerke bilden ein universelles Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte ab, die er als grundlegende Merkmale einer »reinen Realität« beschreibt. Das Individuelle eines gleichwohl ontologisch zu verstehenden Kunstwerks ergab sich für ihn mit dem Anlegen der einzelnen Farbflächen und den variablen Maßverhältnissen und Formgrenzen, die durch die sich rechtwinklig kreuzenden Vertikalen und Horizontalen entstanden. Die »neue Gestaltung« als Darstellung einer »reinen Realität« destruierte die Formen einer abbildenden Kunst zugunsten der »Konstruktion eines Rhythmus von reinen Wechselbeziehungen«108. Diese Wechselbeziehungen – die Horizontalen und Vertikalen, die Farbflächen und nichtfarbenen Flächen – bewirkten für Mondrian ein »dynamisches Gleichgewicht«109, eine ständige Bewegung, mit der
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»Die neue Anschauungsart geht [...] von keinem bestimmten Punkt aus, sie hat das Blickfeld überall. Schrankenlos, ungehemmt von Raum und Zeit, gemäß der Relativitätstheorie. In der Praxis stellt die neue Anschauungsart das Blickfeld vor die Fläche (die äußerste Möglichkeit der Gestaltungsvertiefung). So sieht sie die Architektur als Vielheit von Flächen, – wieder flach. Diese Vielheit komponiert sich also (abstrakt) zu einem flachen (ebenen) Bild.« Piet Mondrian: »Die Verwirklichung der neuen Gestaltung in weiter Zukunft und in der heutigen Architektur«, S. 62. Piet Mondrian: »Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung«, S. 13. Piet Mondrian: »Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung«, S. 11. »Um dieserart Flächengestaltung zu sein, verlangt die Architektur der neuen Gestaltung Farbe, ohne welche die Fläche keine lebende Wirklichkeit für uns ist. Auch um die Natur der Materie aufzuheben ist Farbe vonnöten, die reine, flache, zur Bestimmtheit gebrachte (scharf begrenzte, unverschwommene) Primärfarbe - die Grundfarbe der neuen Gestaltung, mit ihrer Gegenüberstellung von Nichtfarbe (weiß, schwarz oder grau).« Piet Mondrian: »Die Verwirklichung der neuen Gestaltung in weiter Zukunft und in der heutigen Architektur«, S. 62. Reyner Banham: Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, S. 127. Piet Mondrian : Exzerpt aus: Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, S. 102. Piet Mondrian : Exzerpt aus: Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, S. 102.
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er den Begriff »konstruktivistische Kunst« definierte als »fortgesetzte Dynamik im Gleichgewicht«110. Die in Architektur übersetzte De Stijl-Kunst bildete Wände als flächige Elemente aus, die miteinander in einer freien Gleichgewichtsbeziehung standen; der Baukörper wurde dekomponiert, um ihn in kleine langgezogene Platten zu zerlegen111. Julius Posener sah im dynamischen Gleichgewicht der architektonischen Elemente eine Art Weltformel, eine kosmologische Idee, die sich besonders in den Entwürfen von Mies van der Rohe zeige, exemplarisch im Entwurf für ein Landhaus aus Backstein aus dem Jahr 1921 und später mit dem Entwurf des Deutschen Pavillons für die Weltausstellung in Barcelona im Jahr 1929112 . Das abstrahierende Vorgehen der De Stijl Gruppe kann als Wiederaufnahme platonisch-pythagoreischen Mimesis interpretiert werden113 . Für die Pythagoreer waren die seienden Dinge Ausdruck und Wirkung von Zahlen, für Mondrian bestanden sie in Linien und Flächen und deren dynamische Beziehungen zueinander. De Stijl Architekten sprachen von einer Vergeistigung des Lebens, welche sie in der Technik und der Naturferne der Stadt sahen. Theo van Doesburg erkannte ein neues, vergeistigtes Kunstgefühl des 20. Jahrhunderts, das nicht nur die Schönheit der Maschine empfunden, sondern auch ihre unbegrenzten Ausdrucksmöglichkeiten für die Kunst erkannt habe114 . Die Maschine, so van Does110 111 112
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Piet Mondrian : Exzerpt aus: Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, S. 102. Julius Posener: Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur, S. 22. Die graphischen Balken und Farbflächen der De Stijl-Kunst wurden beim Barcelona-Pavillon zu »architektonischen Subjekten«, die zueinander ein »dynamisches Gleichgewicht« ausbildeten. Der Pavillon zeigte sowohl die von De Stijl geforderte, »reine Realität« eines nichtmateriellen Flächengefüges und thematisierte das Ornament des Materials mit dem hochwertigen Onyx doré. Der »Künstler«, so Mondrian, »geht dann im ›Vollmenschen‹ auf. Der ›NichtKünstler‹ gleicht ihm, ist ebenso von Schönheit erfüllt wie er. Die natürliche Veranlagung wird den einen zur Tätigkeit auf ästhetischem Gebiet treiben, den anderen zum Wissenschaftlichen weisen, den dritten mit etwas anderem beschäftigen, – wie ein ›Fach‹, das dann gleichberechtigter Teil des Ganzen ist. Bau-, Bildner- und Malkunst, sowie Kunstgewerbe sind dann zur Architektur geworden, das heißt zu unserer Umgebung. Die minder ›materiellen‹ Künste realisieren sich im ›Leben‹. Mit der Musik als ›Kunst‹ ist es dann zu Ende, die Schönheit des Klanges und der Geräusche um uns – geläutert, geregelt, zu neuer Harmonie gebracht – wird dann befriedigen.« Piet Mondrian: »Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung«, S. 56. Reyner Banham: Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, S. 129.
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burg, habe die Menschen von der Herrschaft des Materialismus, dem Handwerklichen, befreit115. Noch radikaler als van Doesburg entwickelte Mondrian die Vorstellung einer artifiziellen Umwelt in Form einer konstruktivistischen, »zweiten Natur« des Menschen116. Mondrian wollte die »ontische Natur« ausschließen, um eine Welt der »reinen Formen« zu generieren. Diese sollten die als heterogen empfundene Umwelt in eine reinere, konstruktive Wirklichkeit überführen. Die vorgenommene Abstraktion sollte nicht weniger, sondern mehr Wirklichkeit entstehen lassen. Platons Methexis-Theorie, die den Dingen einen höheren Seinsstatus zuspricht je näher sie der Ideenwelt sind, kam damit eine neue Bedeutung bei den Vertretern der Avantgarde zu. Puristen, Suprematisten und Konstruktivisten versuchten aber letztlich vergeblich, die platonische Ontologie mit dem Geist der modernen Wissenschaft zu versöhnen. Die Intention einer Analogiebildung von avantgardistischer Kunst und Wissenschaft musste trotz einer Affinität von reduktiver Abstraktion und mathematisierter Welt scheitern, da die statische platonische Ontologie in Widerspruch zur Dynamik des Szientismus steht.
S YMBOLISCHE F ORMEN DER MODERNEN A RCHITEKTUR
FRÜHEN
Symbole können als bildhaft-mimetische Darstellung interpretiert werden. Der Begriff ist griechischen Ursprungs und bedeutet ursprünglich das »Zusammengeworfene«117.Das Symbol ist »das aus zwei Teilen bestehende Zeichen, an deren Zusammenpassen sich die Besitzer der beiden Teile erkennen, das Kenn-, Merk- und Wahrzeichen [...]«, die Kongruenz von »Bedeutung und Erscheinung«118. Ein Beispiel für den Begriff des Symbols gibt Kant in der Kritik der 115 116
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Reyner Banham: Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, S. 129. »Der wahrhaft moderne Künstler sieht die Metropole als in feste Formen verwandeltes, abstraktes Leben; sie steht ihm näher als die Natur, und mehr als dies kann sie in ihm den Sinn für das Schöne zum klingen bringen [...]; aus diesem Grunde ist auch die Metropole der Ort, wo das kommende mathematisch-künstlerische Temperament sich entfalten und wo der neue Stil geboren werden wird.« Reyner Banham: Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, S. 129. Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 594. Das Symbol ist »dasjenige Zeichen oder Bild, dem die Bedeutung so innewohnt, dass zwischen sinnlicher Erscheinung und abstrakter Bedeutung nicht unterschieden, ja dass der Sinn allein in dem Bild sichtbar und anderweitig überhaupt nicht, insbesondere nicht verstandesmäßig mitgeteilt werden kann, also das Sinn-Bild, die
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Urteilskraft: Die Urteilskraft, so Kant, verrichte beim Symbol ein doppeltes Geschäft, denn sie müsse den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung anwenden, um »dann zweitens [...] jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.«119 Bei der »symbolischen Hypotypose« handle es sich um eine [...] »Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann.«120 Der Symbolgehalt, so Hans Heinz Holz, sei im Falle der Architektur nicht ablösbar von ihrem Gebrauchszweck, Stätte seines Aufenthalts zu sein, Haus für den Bewohner, für die Statue des Gottes, Sitz des Gerichts121. Zweckerfüllung, Repräsentationsleistung und Symbolisierung griffen im Architekturverständnis ineinander122. Mit seiner physischen Zweckmäßigkeit erlange das Bauen einen metaphysischen Sinn, der sich an ihm selbst als ein uns je und je historisch gegebener in Repräsentations- und Symbolfunktionen des Bauwerks zeige123. Ernst Cassirer hat in den symbolischen Formen eine »echte geistige Grundfunktion« erkannt, in der eine ursprünglich bildende und nicht bloß nachbildende Kraft innewohne, die eine selbstständige Energie des Geistes in sich schließe, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte Bedeutung, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfange124 . Von größter Wirkung seien, so Rudolf Arnheim, die Symbole, die »auf die elementarsten Wahrnehmungsempfin-
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vollkommene Durchdringung von Sinn und Bild [...].« Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 594. »So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.« Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 59, S. 254. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 59, S. 255. Hans Heinz Holz: »Realismus: ein architektonischer Stilbegriff?«, S. 37. Hans Heinz Holz: »Realismus: ein architektonischer Stilbegriff?«, S. 38. Hans Heinz Holz: »Realismus: ein architektonischer Stilbegriff?«, S. 41. »Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbstständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigne symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind.« Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 7.
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dungen« zurückgehen125. In der Architektur sind dies Licht, Raum, Schwere und Materialität. Wie sich diese Elemente in der Architektur zeigen, ist an die Vorstellungen von Wirklichkeit und deren Ausprägungen in der Architektur gebunden126. Die veränderten Repräsentationen symbolischer Formen zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten zu neuen Ornamentformen. Wurden im 19. Jahrhundert die Maschinen in ihrer dämonischen Kraft durch Säule und Architrav gebändigt und in die Fesseln eines heterogenen Regelsystems gelegt, so zeigte sich im 20. Jahrhundert eine gegenläufige Tendenz. Der Architektur widerfuhr vergleichbares: Sie übernahm die Elemente der technischen Welt, indem sie sich dem anglich, was ihr einst opponierte und fremd war. Architektur reagierte damit auf die technologischen Veränderungen, die immer tiefer das »moderne Leben« prägten und sie spiegelte diese Veränderungen an sich wider. Indem ihr dies gelang, konnte sie an einer veränderten Welt partizipieren und sie in ihren Räumen und Formen symbolisch repräsentieren. 3.1 Technik als Symbol bei Hannes Meyer und Ivan I. Leonidow Die Formen, mit denen die moderne Architektur eine neue Ikonographie ausbildete, waren technische Apparate und Formen, die als synthetisierte Formen eine technisch anmutende Architektur entstehen ließ127. 125 126
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Rudolf Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form, S. 215. Ein Beispiel für die enge Verbindung von »Wirklichkeit« und ihrer symbolischen Darstellung in der Architektur gibt Wilhelm Worringer mit der gotischen Architektur: »Wenn wir einen Blick auf die gotische Kathedrale werfen, sehen wir nur eine gleichsam versteinerte Vertikalbewegung, [...]. Keine Mauer, keine Masse gibt es, die uns den Eindruck eines festen materiellen Seins vermittelt, nur tausend Einzelkräfte sprechen zu uns, deren Materialität uns kaum zum Bewusstsein kommt, sondern die nur als Träger eines immateriellen Ausdrucks wirken, als Träger einer ungehemmten Höhenbewegung. [...] Diese gotische Entmaterialisation des Steins zugunsten eines rein geistigen Ausdruckswesens entspricht der Entgeometrisierung der abstrakten Linie, wie wir sie zugunsten desselben Ausdruckszweckes in der Ornamentik konstatieren.« Wilhelm Worringer: Formproblem der Gotik, S. 68 und 69. Giedion beschreibt die Vorbilder einer neuen symbolischen Ornamentik in Verbindung mit einem neuen Raumbegriff: »[...] In den luftumspülten Stiegen des Eifelturms, besser noch in den Stahlschenkeln eines Pont Transbordeur, stößt man auf das ästhetische Grunderlebnis des Bauens: Durch das dünne Eisennetz, das in den Luftraum gespannt bleibt, strömen die Dinge, Schiffe, Meer, Häuser, Maste, Landschaft, Hafen. Verlieren ihre abgegrenzte Gestalt: kreisen im Abwärtsschreiten ineinander, vermischen sich simultan. Man wird dieses absolute Erlebnis, das keine Zeit vorher gekannt hat, nicht auf Häuser übertragen wollen. Keimhaft aber liegt in jeder
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Die Verankerung der neuen Architektur in der szientifisch-technischen Welt und ihre mimetische Überhöhung im Symbol zeigen sich paradigmatisch in der Architektur von Hannes Meyer in den 20er Jahren. Meyer vertritt eine szientifische Modernität, die als Entwurfsparameter nur mathematisierbare, wissenschaftliche Faktoren zulässt, um die Architektur zu einer »modernen Wissenschaft« werden zu lassen. Mit dem Traktat »Die neue Welt«128 vollzog Meyer den erforderlichen radikalen Schnitt von moderner Welt und Tradition: Die architektonische Gestalt resultiert programmatisch aus der Erfüllung der Zwecke mit Hilfe der wissenschaftlich-technischen Hilfsmittel und nicht anhand ästhetischer Kriterien129. Die Verwendung industriell hergestellter, neuer Baumaterialien wie zum Beispiel Aluminiumwellblech ist folgerichtig und lässt dem Technischen eine neue ästhetische Qualität zukommen. Das Technische wird selbst zur ornamentalen Form und übernimmt eine bildhaft-darstellende Funktion; es wird zum symbolischen Ornament der wissenschaftlich-technischen Welt. Wie wichtig Meyer die symbolische Funktion der Architektur war, zeigt er mit einem Stimmungsbild des Großstadtlebens, das die Architektur analog in ihre Sprache übernehmen soll, um auf diese Weise den neuen »Mythos« einer durch Technik bestimmten Welt zu verkörpern130 . Diese neue, technische Welt
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Gestaltung des neuen Bauens: Es gibt nur einen großen, unteilbaren Raum, in dem Beziehungen und Durchdringungen herrschen, an Stelle von Abgrenzungen.« Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton, S.7 und 8. Hannes Meyer: »Die Neue Welt«, Das Werk, Nr. 7, Jg. 13 (1926). »Kunst ist Komposition. Zweck ist Funktion. Die Idee der Komposition eines Seehafens erscheint uns unsinnig, jedoch die Komposition eines Stadtplanes, eines Wohnhauses [...]?? Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer Prozess, und der zweckmässigen Funktion eines Hauses widerspricht je und je die künstlerische Komposition.« Hannes Meyer: »Die Neue Welt«, S. 71. »Unsere Straßen stürmen die Autos: Von 18-20 Uhr umspielt uns die Trottoirinsel der Pariser Avenue des Champs Elysées das grösstmögliche Fortissimo großstädtischer Dynamik. ›Ford‹ und ›Rolls-Royce‹ sprengen den Stadtkern und verwischen Entfernung und Grenzen von Stadt und Land. Im Luftraum gleiten Flugzeuge: ›Fokker‹ und ›Farman‹ vergrößern unsere Bewegungsmöglichkeiten und die Distanz zur Erde; sie missachten die Landesgrenzen und verringern den Abstand von Volk zu Volk. Lichtreklamen funkeln, Lautsprecher kreischen, Claxons rasseln, Plakate werben, Schaufenster leuchten auf: Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse erweitert maßlos unseren Begriff von ›Zeit und Raum‹ sie bereichert unser Leben. Wir leben schneller und daher länger.« Hannes Meyer: »Die Neue Welt«, S. 70.
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besitzt einen anderen Rhythmus und ein neues Bildprogramm als sie dem traditionellen Repertoire der Architektur zur Verfügung standen131. Der Entwurf für die Petersschule in Basel von Hannes Meyer und Hans Wittwer formuliert diesen neuen Symbolgehalt beispielhaft (Abb. 11). Die Wichtigkeit des Projekts für die Architekten zeigt sich darin, dass sie den Entwurf für eine Publikation aufbereiteten132. Abbildung 11: Hannes Meyer und Hans Wittwer: Entwurf Petersschule, 1927.
Der postulierte mathematisch-szientifische Formfindungsprozess wird mit der Petersschule einer verschwiegenen Symbolfunktion untergeordnet. Meyer und Wittwer haben eine Konstruktion vorgeschlagen, die äußerst unzweckmäßig ist, da sie in der Realisierung einen gewaltigen konstruktiven Aufwand erforderlich gemacht hätte133. Dies zeigt, dass es ihnen nicht primär um die funktionale Frage ging, sondern um das Beschwören des Mythos »Technik« in der Architektur.
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Meyer spricht von den »Domen des Zeitgeistes«, die ihre Eindrücklichkeit durch die Formen, Lichter und Farben neuzeitlicher Elemente erhalten: der Radioantenne, der Talsperre, der Gitterträger, der Parabel des Luftschiffes, dem Dreieck der Autowarnungstafel, dem Kreis des Eisenbahnsignals und dem Rechteck der Plakatwand sowie den Linienelementen der Kraftlinien wie Telephondrähte, Fahrdrahtgestelle und Starkstromleitungen. Hannes Meyer: »Die Neue Welt«, S. 71. Hannes Meyer, Hans Wittwer: »Entwurf Petersschule«, S. 5. Die Gebäudekonstruktion und den Grundriss haben Meyer und Wittwer so verändert, dass das Neue programmatisch sichtbar werden konnte. Die Tragkonstruktion des Gebäudes hätte 8 Stützen erhalten und ein Fachwerk aus Eisen, an dem 4 Stahlseile abgespannt worden wären, um die auskragenden Plattformen der Schulhöfe zu tragen. Für diese Plattformen war ein Eisenfachwerk als Haupttragwerk vorgesehen, dessen äußeres Auflager die Lasten über 4 Stahlseile in den Schulbaukörper abgeleitet hätte. Die zweite Plattform wäre als Kragträger an die Hauptträger der unteren
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Die Verwendung von glänzendem Aluminium als Fassadenmaterial erhält seine Begründung nicht nur durch seine besonderen technischen Vorzüge, sondern mit der Assoziation der technischen Welt, die es verkörpert. Die der organischen Natur fernstehende Oberflächenqualität des glänzenden Metalls ist Teil einer Welt technischer Apparate und soll nun die Architektur auch zum technischen Apparat werden lassen134. Beim Innenausbau und der Möblierung des Hauses sollten »moderne Materialien« wie »eiserne Kippfenster, Aluminiumblechtüren, Stahlmöbel, Flure und Treppen mit Gummibodenbelag«135 verwendet werden. Meyers Ikonographie war die des technischen Zeitalters, das seine Formen aus den technischen Innovationen bezog und damit eine Angleichung an die in der »neuen Welt« beschriebenen technischen Rationalität einforderte136. Bei dem zeitgleichen Entwurf des Russen Ivan I. Leonidow für das Lenininstitut besitzt der symbolisch-repräsentative Aspekt eine noch höhere Relevanz. Sein Entwurf zeigt exemplarisch, wie sich die neuen Werte des Szientismus mit
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Ebene angefügt worden. Die Konstruktion der weit auskragenden Plattformen und der entsprechend hohen Zugkräfte in den Stahlseilen hätte gewaltige Kräfte ergeben, die das Skelett des Klassenbaus umlenken und in die Fundamente hätte abführen müssen. Der Einbau von 4 Stützen unter den »Decks« hätte diese Lastumlenkungen, die große Torsionskräfte verursacht und im Bereich der Aussteifung des Gebäudes möglicherweise nur mit einem sehr hohen Aufwand lösbar gewesen wäre, auf einfachste Weise vermieden. Meyer und Wittwer regten zwar an, die Freifläche, die durch das Verlegen des Pausenhofs auf schwebende Decks entstehen würde, dem öffentlichen Verkehr und als Parkplatzfläche zur Verfügung zu stellen. Eine Beeinträchtigung durch weitere vier Stützen wäre hier allerdings nicht zu befürchten gewesen. Die Wahl dieser umständlichen Konstruktion ist deshalb nicht mit Zweckmäßigkeitserwägungen, sondern nur aus gestalterischen Aspekten zu begründen. S. a. Hans-Jakob Wittwer, »Überlegungen zur Petersschule in Basel«, S. 85. Die Moderne hat die Innovationskraft neuer Baumaterialien immer genutzt, um daraus neue gestalterische Möglichkeiten zu entwickeln. Otto Wagner hatte bereits 1906 mit der Postsparkasse Aluminium als Baumaterial in die Architektur eingeführt. Bei Wagner wurde das Aluminium allerdings nicht als flächiges Fassadenmaterial eingesetzt, sondern als Material für architektonische Schmuckelemente. Aluminium galt in der Zeit der Jahrhundertwende »als außerordentlich wertvoll, nur mit Titan oder feinen Silberlegierungen zu vergleichen.« Ausstellungsprospekt: Aluminium. Der Glanz der Moderne, Museum Postsparkasse, vom 03. 07.- 01. 09. 2007. Hannes Meyer, Hans Wittwer: »Entwurf Petersschule«, S. 5. Die Erschließungstreppe der 5-geschossigen Petersschule wäre an die östliche Außenwand als vorgehängte einläufige Treppe gelegt worden und als plastisches, technisches Bauteil in Erscheinung getreten. Mit der sich an der Fassade hochwindenden, verglasten Innentreppe korrespondierte eine das Dach bildende Freitreppe, welche zur Dachterrasse hochgeführt hätte. Die Treppenelemente wurden als technische Bauwerke entworfen, ähnlich den Freitreppen auf einem Ozeandampfer.
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dem Konstruktivismus in der Sowjetunion zu einem symbolischen Bild verbanden. In einem Schauspiel technoider Körper, die durch Seile und Stangen in einem labil erscheinenden Gleichgewicht gehalten werden, offenbart sich ein fast grenzenloses Vertrauen in den technischen Fortschritt. Leonidows Diplomarbeit zum Lenininstitut wurde auf der »Ersten Ausstellung moderner Architektur« 1927 in Moskau gezeigt137. Der Entwurf führte Strömungen des Konstruktivismus wie die dynamische Beziehung der »Prounen« von El Lissitzkys mit einer Ästhetisierung technischer Strukturen zusammen. Was Leonidow jedoch darüber hinaus erreichte, war die fast magische Beschwörung einer technologischen Zukunft: Eine schwebend wirkende Glaskugel, welche die Forschenden wie in einer Blase einschließen sollte, präsentierte sich auf einem runden Sockelbauwerk im Dialog mit der »Stele« des Wissens, ausgebildet als Bücherturm. Der Mikrokosmos des geplanten Lenininstituts besitzt in Form und Anordnung eine morphologische Ähnlichkeit zur Versuchsanordnung für chemisch-physikalische Vorgänge im Labor. Er kann als Symbol des konstruktivistischen Gesellschaftsexperiments der Sowjetunion betrachtet werden. 3.2 Die Maschine als Symbol bei Le Corbusier War bei Meyer und Leonidow Symbolisierung verbunden mit einem Anknüpfen und Überhöhen der technischen Form, so verwendete Le Corbusier eine andere Strategie. Seine puristische Architektur der frühen 20er Jahre sucht die Annäherung zum Symbolischen, indem »Rationalität«, »Präzision« und »Dynamik« als wesentliche geistige Voraussetzung der Technisierung in die Formensprache der Architektur übernommen werden. Die Forderung des Purismus nach der »reinen«, geometrischen Form symbolisiert die Rationalität der Technisierung, sie lässt sich aber auch, wie oben dargestellt, mit dem statischen Modell der platonischen Ideenlehre in Verbindung bringen. Sigfried Giedion verwies auf die phänomenologische Immaterialität von Le Corbusiers Architekturen138 . Dadurch,
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Chan-Magomedow O.: Pioniere der sowjetischen Architektur, S. 234. Alle architektonischen Lösungen Le Corbusiers ließen sich für Giedion auf »Luftkuben« zurückführen: »die schwebenden Häuser, die nach unten immer leichter zu werden scheinen, die Luftkuben, die überquellend in seine Mietshäuser dringen, die Gärten auf dem Dache und zur Seite. Luftkuben im Inneren, Luftkuben im Äußeren, Luftkuben bis in die kleinsten Wohntypen von Pessac und bis zu den Einzelzellen einer Cité universitaire. Ein Höchstmaß an Luft, ein Mindestmaß an Mauer! Dieses Durchspültsein des Hauses von Luft: Innen, Außen, Unten, Oben: dies ist es, was wir vom neuen Haus verlangen! Die Umdeutung der hageren Konstruktion aus Eisenbeton in die durch Zeit und Willen geforderte Neugestaltung der Wohnung nen-
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dass Corbusiers Architektur »reines Produkt des Geistes« sein sollte139, wurde sie zur symbolischen Widerspiegelung einer Moderne in der Architektur, die gleichermaßen »unsinnlich« auf die Mathematisierbarkeit der Welt und den kartesianischen Rationalismus setzte. Deren Exaktheit spiegeln die präzisen, puristischen Körper und die Präzision der Maschinenwelt, die in ihrem symbolischen Gehalt identisch waren mit ihrem ontologischen Anspruch. Julius Posener beschrieb die besondere Charakteristik maschineller Herstellung als Arbeit für den »nackten Zweck«. Wie die Maschine arbeitet, »die Knappheit, Glätte, Präzision, mit der sie ihre in Serie herausgeworfenen Erzeugnisse ausstattet, gab einen Hinweis darauf, wie Formen zu gewinnen seien, die dem Zeitalter der Industrie adäquat sein konnten: es waren die reinen stereometrischen Körper.«140 Aber, so Posener, »die geometrische Form war symbolisch mehr als tatsächlich die der Maschine angemessene Form, und wir tun gut daran, zwischen Maschinenform und den Formen der Maschinenästhetik zu unterscheiden.«141 Die symbolischen Bezüge liegen in der Rationalität, die Le Corbusiers Formen zeigen und in der Präzision, die sie als Ausdruck einer szientifischen Kultur auszeichnen. Le Corbusier suchte nach Formen einer »modernen Welt«, um sie in seine symbolisch-ornamentale Sprache der Architektur zu inkorporieren. Dabei imitierte er Formen der technischen Kultur wie Schiffe, Flugzeuge und Autos, ohne in einen zunächst naheliegenden Widerspruch zu den platonischen Formen zu geraten. Das Thema »Serienhaus« sollte die Produktionsprinzipien der Autoindustrie auf das Baugewerbe übertragen142 . Mit dem »maison Citrohan« sei ein Haus wie ein Auto durchkonstruiert und wie ein Omnibus oder eine Schiffskabine entworfen worden143. Man müsse, so Le Corbusiers bekannte These, das Haus als
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nen wir das Produktive an der Corbusierschen Leistung.« Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton, S. 85. Der kartesianische Rationalismus, der sich in den reinen Formen der Geometrie, in der »platonischen Größe einer mathematischen Ordnung« zeigt, verschweigt das konstruktive Detail. Die »weiße Wand« ist »befreit« von jedem materiellen Bezug. Julius Posener: »Kritik der Kritik des Funktionalismus«, S. 19. Julius Posener: »Kritik der Kritik des Funktionalismus«, S. 19. Corbusiers Idee zu seriellen Haustypen entstammte einer frühen Phase, in der er sich als Unternehmer betätigte. Stanislaus von Moos: »Standard und Elite. Le Corbusier, die Industrie und der »Esprit Nouveau«, S. 307. Das Gebäude besitzt eine dem Fahrzeug vergleichbare Gestaltung: Die Fahrzeugkabine hat eine morphologische Verwandtschaft mit der Kubatur des Hauses. Die exakten, präzise begrenzten Karosserieformen spiegeln sich in dem kantigen Hauskörper. Wie das Auto öffnet sich das Haus nur in eine Richtung und wie dieses ist
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»Wohnmaschine« oder als »Werkzeug« betrachten144. Für ihn leistete das Auto die bildhafte Verbindung von Rationalität und Präzision und diese Ideenverbindung sollte in Städtebau und Architektur übertragen werden. Zugleich berief sich Le Corbusier auf die Architektur des Parthenon und proklamierte damit eine historische Permanenz in seiner Architektur, die den grundsätzlichen Unterschied von anthropomorpher, organischer Architektur und Maschinenästhetik verdeckt145. Le Corbusiers Rationalismus konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich mit dem Bezug zur Formenwelt der Technik eine neue Ornamentik ausbildete. Bruno Taut hat dies bereits 1929 als neuen Nachahmungsstil kritisiert146 , den Giedion in der Bauweise der Industrie vorgebildet sah147 .
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es in der Höhe gestaffelt. Architektur, so ist Le Corbusier zu interpretieren, soll die Präzision und die in ihr verborgene Rationalität der technischen Form abbilden. Le Corbusier, 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 179. »Diese Sauberkeit der Ausführung schmeicheln nicht nur einem neuentstandenen Gefühl für die Mechanik«, so Le Corbusier, Phidias habe ebenso empfunden, das Gebälk des Parthenon beweise es. Le Corbusier, 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 103. »Man übernahm die Formen der Verkehrsmittel, der Eisenbahnwaggons, der Autobusse, der Autos, selbst der Aeroplane, der Schiffe und Dampfer und behandelte ein feststehendes Haus mit solchen Dingen, wie wenn es sich auf Rädern bewegen oder auf dem Wasser schwimmen sollte.« Bruno Taut: Die neue Baukunst, Stuttgart 1929, S. 4 und 5. Taut führt dann weiter aus: »Man kann auch heute noch bei guten Architekten ›Motive‹ an ihren Häusern entdecken, die auf dieser Verkehrs- und Maschinenromantik beruhen; immer noch haben die Balkons jene 2 oder 3 Haltestangen zum Geländer, so, als wenn die Sturzwellen des Ozeans möglichst leicht von diesen Balkons abgespült werden sollten; immer noch gibt es Kommandobrücken, Promenadendecks auf Häusern, oft bis zur völligen Genauigkeit denen der Dampfer nachgeahmt. Man könnte die Photographie eines Ozeandampfers so überdecken, dass nur die weißen Decks mit ihren Bullaugen, mit den langgezogenen Fensterreihen, den oberen Promenadendecks der ersten Klasse und der Kommandobrücke übrig bleiben, während der Schiffsrumpf, die Masten und Schornsteine mit weißem Papier zugedeckt sind. Wenn man dann auf dieses weiße Papier eine Landschaft im Stile Corbusiers zeichnen würde, so würde man ohne weiteres ein ›modernes‹ Gebäude vor sich sehen glauben.« »Die Pfosten, auf denen er seine Häuser schweben läßt, kann man an vielen französischen Lagerhäusern sehen, die durchgehende Fensterreihe – Fénetres en longueur – ist allgemein bei Fabriken und Holzbarraken zu finden als Resultat der Konstruktion und die frei durch die Geschosse gehende Betonsäule ist gleichen Ursprungs.« Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton, S. 102.
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Eine die Rationalität der szientifisch-industriellen Kultur abbildende Architektur musste deren Dynamik auch in die räumliche Konfiguration übernehmen. Le Corbusiers Innenräume scheinen wie die symbolischen Formen der technischen Kultur seinem Platonismus zu widersprechen, denn sie höhlen dessen primäre Körper im Inneren aus und verwandeln sie in ein räumliches Kontinuum. Erschließungselemente wie Rampen und Wendeltreppen und die weiter verweisenden Raumgrenzen führen zu dynamischen, räumlichen Verflechtungen (Abb. 12). Colin Rowe hat mit seinem Essay »Die Mathematik der idealen Villa« für Le Corbusiers Villa in Garches Strukturähnlichkeiten mit Palladios Villa Malcontenta aufgezeigt, deren »strenge Ordnung« allerdings mit Le Corbusiers Konzept des dynamischen Innenraumes kollidiere148 . Abbildung 12: Le Corbusier: Villa Stein in Garches, 1927.
Im Unterschied zur statischen »Ruhe« der palladianischen Räume evozieren Le Corbusiers Grundrisse beim Nutzer eine ununterbrochene Bewegung durch die Räume des Hauses. Um dies zu erreichen, verformte Le Corbusier gezielt die horizontalen und vertikalen Raumbegrenzungen. Die Grundrisse der Villa Stein in
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»So existiert in Garches eine permanente Spannung zwischen dem streng Geordneten und dem offensichtlich Zufälligen. [...] Colin Rowe: »Die Mathematik der idealen Villa«, S. 26. Die von Rowe als zufällig klassifizierte Anordnung resultiert m. E. aus dem Bestreben, den Raum zu dynamisieren.
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Garches zeigen die Wände des Hauses als aktive Protagonisten, die ihre Nutzer durch gewölbte und gekippte Wandschirme weiter verweisen und auf diese Weise in Bewegung halten. Die raumbegrenzenden Elemente stehen dabei in keinem statischen Beziehungsgeflecht zueinander, sondern sind Teil einer Architekturmaschine, die sich als fortwährende, evokative Bildproduktion zeigt. Architektur war für Le Corbusier weniger eine »Maschine des Wohnens« als ein Ort, an den die Idee der Maschine transferiert wurde, um derart zum architektonischen Symbol zu werden149 .
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Peter Eisenman analysierte die Architektur Le Corbusiers in seiner Dissertation Die formale Grundlegung der modernen Architektur mit einem vergleichbaren Ansatz. Für ihn sind die Formen der architektonischen Elemente wesentlich aus der verweisenden Funktion architektonischer »Vektoren« entstanden. Eisenman nimmt »Vektoren« zur Evokation von Bewegungen eines potentiellen Nutzers an. Als solche nennt er »Volumen, Masse, Oberfläche und Bewegung«. Die Bewegung sei eine Eigenschaft der »generischen Form« und sei für das Verständnis jeder architektonischen Situation wesentlich. Eisenman spricht zwar nicht von Mimesis, unternimmt es aber mit Hilfe von »Vektorkräften« das Mimetische in Le Corbusiers Architektur zu verstehen. Peter Eisenman: Die formale Grundlegung der modernen Architektur, S. 86.
III. Mimesis der »inneren Natur« des Subjekts
Im zweiten Kapitel wurde die Bedeutung einer ontologischen Mimesis in der modernen Architektur nachgewiesen, die sich auf strukturimmanente Prinzipien der Natur bezieht. Nachahmung der Natur wurde in ihrer realistischen Variante verstanden als Nachahmung und Perfektionierung der Natur in ihrer Zweckhaftigkeit und in ihrer idealistischen Variante wie beim Konstruktivismus und bei De Stijl als Nachahmung ihrer überzeitlich-strukturellen Elemente. Ob es allerdings überzeitlich-strukturelle Elemente der Natur gibt, die in der Kunst nachgeahmt werden können, darüber wurde bereits in der »Querelle des anciens et des modernes« im 17. Jahrhundert gestritten. François Blondel verteidigte die Gültigkeit einer rationalen Bestimmung von »Schönheit« mit dem Band der platonisch-pythagoreischen Proportionen, die Natur und das architektonische Artefakt als »monistische Wirklichkeit« gleichermaßen bestimmen. Mit dem Zweifel an deren Gültigkeit verlor die Mimesis ihr Modell und orientierte sich an einer »inneren Natur«, dem Empfindungsvermögen des Subjekts, ohne dass der Streit entschieden war, wie die Erscheinungen des Purismus und De Stijl im 20. Jahrhundert exemplarisch zeigen. Die Anhänger einer Mimesis strukturimmanenter Prinzipien der Natur glaubten auch an keine Trennung von »äußerer« und »innerer Natur«, sondern waren davon überzeugt, dass die Herstellung und die spätere Rezeption des Artefakts in der postulierten, »monistischen Wirklichkeit« begründet liege. Wenn die »Querelle des anciens et des modernes« auch die Grundstruktur der Moderne bestimmt, so hat Kant die philosophische Begründung für die Partei der Modernen geliefert, denn seit Kant gilt Wirklichkeit und Natur als »Ding an sich«, das sich der Erkenntnis entzieht1. Kants »kopernikanische Wende« ließ 1
Kant verabschiedete sich vom Rationalismus und versuchte mit den menschlichen »Anschauungsformen« gültige Kategorien der Erkenntnis zu formulieren. Damit verlagerte sich die Erkenntnisperspektive ins Subjekt. Kants »Metaphysik der Erscheinungen« benennt die »Anschauungsformen« »Raum«, »Zeit« und »Kausali-
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die »äußere Natur« zur Wirklichkeit des Menschen werden2, so dass das künstlerische Artefakt keine Nachahmung von Strukturen einer objektiven Wirklichkeit mehr sein konnte, die es in einem vollkommenen Kunstwerk darzustellen galt, sondern subjektive Kriterien wie »Gefühl«, »Empfindung« und »Geschmack« wichtig wurden. Diese »innere Wirklichkeit« soll das Natur- und Kunsterlebnis durch Empfindungen evozieren3. Kants Ästhetik ist eine mimetische Ästhetik, die ihr Ziel darin besitzt, das Schöne selbst zu bestimmen, indem sie es mit dem Zweckbegriff zusammen denkt. Dabei ging es Kant nicht um das Nachweisen eines besonderen »Zweckhaften« in Natur und Kunst als Bestimmungsgrund des Schönen, sondern um das Erfahren »universeller Zweckhaftigkeit«, die für ihn in der Betrachtung von Natur und Kunst durch das rezipierende Subjekt im Gefühlsurteil erfahrbar wurde. Kants Ästhetik ist eine Ästhetik der »modernes«, weil sie keine vorbestimmte Regel und auch keine Inhalte vorgibt.
A USDRUCK
UND
E MPFINDUNG
BEI
K ANT
Kants Kritik der Urteilskraft4, so Günther Pöltner, übernehme die subjektzentrierte Grundstellung der Metaphysik und die Dualität von Geist und Sinnlichkeit. Sie ordne das Schöne der Sinnlichkeit zu und bestimme es vom SichFühlen her, so dass der Gefühlszustand des Subjekts über die Schönheit des Schönen befinde5. Das ästhetische Urteil in Form von Empfindungen oder Stimmungen6 bedeutet bei Kant für den Urteilenden keine Unschärfe, sondern vielmehr eine »Belebung der Erkenntniskräfte« des Subjekts durch die Erfahrung einer »inneren Kausalität« 7. Kant dachte das ästhetische Urteil als Gefühls-
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tät«. Diese von ihm als transzendental bezeichnete Erkenntnis von Gegenständen meint nicht Gegenstände an sich, sondern unsere Erkenntnisart der Gegenstände. »Wie es im Rahmen einer kritischen Transzendentalphilosophie naheliegt, sucht Kant auch dieses Problem dort auf, wo nach seiner Einsicht alle Wirklichkeit ihren Ursprung nimmt: im erlebenden und begreifenden, handelnden und erkennenden Menschen, der immer auch das Subjekt philosophischer Spekulation über seine Zusammenhänge – innen wie außen – ist.« Birgit Recki: Ästhetik der Sitten, S. 156. »[…] Natur wird als etwas vorgestellt, das man ›im Inneren kennen‹ kann; das heißt: Natur wird in Analogie mit dem menschlichen Subjekt mit einem Inneren bedacht (KUV, 188).« Birgit Recki: Ästhetik der Sitten, S. 74, Fußnote 9. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 45 ff. Günther Pöltner: Philosophische Ästhetik, S. 227. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 21, B 66, S. 97. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 12, B 37, S. 73 und 74.
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urteil von zwingender Evidenz8, deren Ursache sich nicht in Regeln fassen oder durch Begriffe bezeichnen lasse9. Da ästhetische Phänomene für Kant auf einem Naturbezug gründen, konnte Kunst nur von Menschen hervorgebracht werden, die eine besondere Naturgabe besitzen. Es ist »bloß die Natur des Subjekts«10, so Kant, dem das Genie folge, um jene proportionierte Stimmung zu erzeugen, die in Analogie zur »Gesetzlichkeit des Verstandes«11 steht. Das »Genie« galt Kant für die Artikulation von etwas Naturhaftem, das sich im Erleben des Schönen zeigt. Die Kritik der Urteilskraft formuliert einen nicht ausgesprochenen »Doppelcharakter« der Mimesis, einerseits unmittelbarer »Naturausdruck« des Genies und andererseits Widerspiegelung von Welt und gesellschaftlicher Verhältnisse zu sein. Den zweiten Aspekt der Mimesis beinhaltet bei Kant der Begriff des »Geschmacks«12, dem sich das Genie als seiner »Zucht«13 zu fügen habe. Das Schöne der Kunst muss bei Kant von der Konvention her gedacht werden. Die Dinge gefallen, weil es so etwas wie ein intersubjektives Ideal gebe, einen »sensus communis« des Geschmacks14, welcher keine begriffliche Bestimmung erlaube. Der »bon goût«, den François Blondel bereits im 17. Jahrhundert als grundlegende Bestimmung für die Architektur heranzog und der die höfische Kultur in ihren Umgangsformen bestimmte, gibt dem »Geschmacksurteil« in der Kritik der Urteilskraft eine zeitliche Komponente. Kant dachte im »Geschmacksurteil« noch zusammen, was Adorno später trennen wird: Den »mimetischen Impuls«, der ein Naturhaftes im Subjekt zeigt, und eine »naturwüchsige Gesellschaft« und deren Konventionen, die für Kant im »Geschmacksurteil« ihre Gültigkeit besitzen.
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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 21, B 66, S. 97. In § 21 äußert sich Kant kritisch gegenüber allem »Steif- Regelmäßigen«. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, B 200, S. 207. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, B 200, S. 207. Zum Geschmacksbegriff bei Kant, siehe Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Bd. 1, S. 40ff. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 50, B 203, S. 210. »[…] der Geschmack mit mehrerem Rechte sensus communis genannt werden könne, […] und daß die ästhetische Urteilskraft eher als die intellektuelle den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes führen könne, wenn man ja das Wort Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt brauchen will; denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust.« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 40, B 160, S. 176 und 177.
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Die Urteilskraft urteilt deshalb auch nicht, weil sie das Schöne in irgendeiner Weise formal bestimmt, sondern sie gründet sich als Gefühlsurteil ganz auf der »Lust« und der »Unlust« 15. Künstlerische Darstellungen bezeichnete Kant als »körperlichen Ausdruck« des Künstlergeistes, der damit die Sache selbst, gleichsam mimisch sprechen mache16. »Ausdruck« ist »Ausprägung oder Darstellung eines Inneren«17 und zugleich des Weltganzen. In den Künsten zeigte sich Kant »Ausdruck« in dem »schönen Spiel der Empfindungen«, die in »verschiedenem Grade der Stimmung des Sinnes, dem die Empfindung angehört, d. i. den Ton desselben betreffen.«18 Die Kritik der Urteilskraft beruft sich auf einen »ästhetischen Zustand« im Subjekt, der sich nicht in einem ästhetischen Ideal objektivieren lässt. In der kontemplativen Betrachtung von Kunst, die wie Natur erscheine und doch von ihr verschieden sei, zeige sich ein »Spiel der Erkenntniskräfte«, das ausschließlich auf dem Empfinden von »Lust« und »Unlust« in der freien Reflexion gründet und damit auf einer »Stimmung« des Subjekts19. Kants Kernargument ist die postulierte Erfahrung von Teleologie im »ästhetischen Zustand« des Subjekts, welche auf eine Teleologie der ganzen Natur verweist. Um diese transzendentale Erkenntnisleistung zu vollziehen, darf gegenüber dem Objekt kein Interesse irgendwelcher Art bestehen. Der ästhetische Gegenstand ist deshalb als zweckfrei zu denken und besitzt doch Zweckhaftigkeit in der Form20. Kant bezeichnet dies paradox als die »Zweckmäßigkeit oh15 16 17
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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 260, S. 257. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 51, B 210, S. 216. Armin Regenbogen und Uwe Meyer: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 81. »Der Begriff wurde im 18. Jh. von Chr. Wolff für das ältere Wort ›Ausdrückung‹ in die deutsche philosophische Terminologie eingeführt. Der Sache nach geht der Begriff auf die Individualmetaphysik von G. W. Leibniz zurück: Jede einzelne Substanz drückt auf ihre Weise das ganze Universum aus. [...] Wie in einem lebendigen Spiegel drückt sich in der Seele das Weltganze individuell und komplex aus: die Seele ist Ausdruck ihrer vorrationalen Individuation.« Ebenda. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 51, B 211, S. 216. »Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint. An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei. Auf diesem Gefühle der Freiheit im Spiele unserer Erkenntnisvermögen, welches doch zugleich zweckmäßig sein muß, beruht diejenige Lust, welche allein allgemein mittelbar ist, ohne sich doch auf Begriffe zu gründen.« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 45, B179, S. 191. »An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewusst werden, dass es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form dessel-
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ne Zweck« des ästhetischen Gegenstandes21 und bestimmt Zweckhaftigkeit im intuitiven Erfassen, einem vorbewussten Urteil im mimischen Erleben. Das Subjekt solle sich kontemplativ im Gegenstand versenken um, ohne an »Zwecke« denken zu müssen, den eigentlichen Inhalt des Kunstwerkes zu erfahren. Da es sich um ein rein ästhetisches Urteil handelt, musste für Kant das begrifflich eindeutig Bestimmte wie eine »geometrische Ordnung« ausgeschlossen werden. Geometrische Figuren waren für ihn nicht rein ästhetisch, sondern Voraussetzung zweckhafter Organisation erkenntnistheoretisch motiviert22. Diese Faktoren wollte Kant aber aus dem Gegenstandsbereich der Ästhetik ausgeschlossen wissen. Sein ästhetischer Gegenstand sollte der Einbildungskraft mit dem Ziel »beständig Nahrung« geben, den »ästhetischen Zustand« aufrecht zu erhalten; dies schloss für ihn »alles Steif-Regelmäßige« als geschmackswidrig aus23. »Selbst der Gesang der Vögel, den wir unter keine musikalische Regel bringen können, scheint mehr Freiheit und darum mehr für den Geschmack zu enthalten als selbst ein menschlicher Gesang, der nach allen Regeln der Tonkunst geführt wird; weil man des 24
letzteren, wenn er oft und lange Zeit wiederholt wird, weit eher überdrüssig wird.«
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ben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 45, B 179, S. 191. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2001, § 17, B 61, S. 93. Niemand denkt bei der Betrachtung des Doryphorus zuerst an einen »Zweck«. Der Doryphorus des Polyklet regt zwar an, durch seine ausgeprägte Muskulatur den Zweck der einzelnen Muskeln zu reflektieren, es käme jedoch keinem Betrachter in den Sinn, darin das ästhetische Erlebnis zu begründen. Die Richtigkeit der Anatomie, ihre »Zweckdienlichkeit«, ist Voraussetzung und nicht Inhalt der Darstellung. Auf die Architektur übertragen wäre dann der ästhetische Inhalt nicht die Thematisierung des »Zweckes« oder der »materiellen Faktoren«. Diese sind entweder begrifflich bestimmbar oder sie unterliegen, wie im Falle der Tektonik, zweckgebundenem Denken. Der Parthenon besitzt ein tektonisches Thema, das des Tragen und Lastens, in gleicher Weise wie der Doryphorus seine Muskulatur darstellt. Der Rezipient des Parthenon spürt dessen physische Präsenz in dem straffen sich Entgegenstemmen der Säulen zum Gebälk, er denkt aber nicht über dessen statische Probleme nach. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, B 70, S. 100 ff. »Wo eine Absicht, z. B. die Größe eines Platzes zu beurteilen, oder das Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen in einer Einteilung fasslich zu machen, wahrgenommen wird, da sind regelmäßige Gestalten, und zwar die von der einfachsten Art, nötig. Und das Wohlgefallen ruht nicht unmittelbar auf dem Anblicke der Gestalt, sondern der Brauchbarkeit derselben zu allerlei möglicher Absicht.« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, B 72, S. 102. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, B 72, S. 103.
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»Zweckmäßigkeit ohne Zweck« ist Kants paradox klingende Bestimmung des Ästhetischen, dessen Erläuterung er mit dem Naturschönen, aber auch mit »Zeichnungen à la greque« und dem »Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten«25 gibt. Gadamer schlug vor, dass die »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« als »begriffs- und bedeutungsfreie Schönheiten«26 vorzustellen seien. Damit bliebe allerdings der Inhalt der kontemplativen Reflexion in ihrem »freien Spiel« völlig unbestimmt. Günter Figal bezeichnet das Schöne Kants als eine »dezentrale Ordnung«27, die eher wie ein Gewebe als ein fest gefügter Bau gedacht werden müsse28. Figals Argument würde zwar erklären, weshalb Kant die einfache Geometrie aus dem Bereich der Ästhetik ausschließen wollte, ist aber als Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils nicht zureichend. Kant hat Schönheit eindeutig auf eine Form der Zweckmäßigkeit bezogen und nicht auf ein bestimmtes Ordnungsgefüge. Dies zeigt der im § 17 formulierte Schluss zur Bestimmung des Schönen: »Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes an ihm wahrgenommen wird.«29 Der Satz ist insofern zentral, als Kant zuvor regelhafte Modelle zur Fixierung des Schönen als unzureichend ausgeschlossen hat30. In der Erläuterung verdeutlicht Kant seine These: »[…] Eine Blume hingegen, z. B. eine Tulpe, wird für schön gehalten, weil eine gewisse Zweckmäßigkeit, die so, wie wir sie beurteilen, auf gar keinen Zweck bezogen wird, in ihrer Wahrnehmung angetroffen wird.«
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Die Blume oder auch »der Papagei, der Kolibri, der Paradiesvogel« und »eine Menge Schaltiere des Meeres sind« Kant »für sich Schönheiten«,32 weil sie in
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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 16, B 49, S 84. »[...] sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten. Man kann auch das, was man in der Musik Phantasien (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text zu derselben Art zählen.« Ebenda. Hans Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen«, S. 111. Günter Figal: Erscheinungsdinge, § 4 Freies Spiel, S. 72. Günter Figal: Erscheinungsdinge, § 4 Freies Spiel, S. 72. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 17, B 61, S. 93. Kant nennt eine Schönheit, »zu welcher ein Ideal gesucht werden soll, keine vage, sondern durch einen Begriff von objektiver Zweckmäßigkeit fixierte Schönheit [...].« Diese bezeichnet er im Folgenden als »ästhetische Normalidee« und verwendet als Beispiel Polyklets Doryphorus. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 17, B 55, S 88. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, , § 17, B 61, S. 93, Note 1. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 16, B 49, S. 83.
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der kontemplativen Betrachtung den Zweck vollkommen ausschließen, tatsächlich aber in allen ihren Teilen als zweckhaft angenommen werden dürfen. Kant thematisierte in der Ästhetik nicht die Erfahrung eines besonderen Zwecks, sondern ein transzendent Zweckhaftes. Das körperliche Gefühl von »Lust« und »Unlust« in der Betrachtung des Naturschönen oder eines Artefakts ließ für ihn den teleologischen Schluss zu, dass der »Mensch in die Welt passe«. Erfahrung des Schönen zeigt eine Teleologie in der Natur an, wenn die Zweckmäßigkeit der Organisation eines Gebildes nicht als solche thematisiert wird, sondern als ein allgemeines, transzendent Zweckhaftes erscheint. Beim Geschmacksurteil nennt Kant dies auch »die Form der Zweckmäßigkeit« 33. Kants Kritik der Urteilskraft verwies mit ihrem Subjektbezug in die Moderne und besitzt nach wie vor Relevanz, weil sie keine positiven Bestimmungsgründe von Schönheit setzen will und damit gegen die Nachahmungstheorie der »ancien« opponierte. Auch wenn sie keine Regel für das Schöne gibt, so formuliert sie dennoch eine ontologische Aussage mit dem Postulat eines Transzendenten im ästhetischen Urteil, für das der Zweckbegriff nur die »Form« oder die »Idee« des Zweckhaften darstellt. Mit dem ästhetischen Erleben verbindet sich ein Intelligibles, das im Schönen erfahren wird und das auf den »Endzweck« der Natur verweist, die Sittlichkeit des Menschen34. Kant »moralisierte« damit das unmittelbare ästhetische Erleben des mimetischen Vermögens im körperlichen Gefühl von »Lust und Unlust«35 und sprach ihm einen hohen Erkenntniswert zu. Das Gefühl stellt die Brücke zwischen begrifflicher Vernunfterkenntnis und Ästhetik
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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 161 B 34, S. 71. »Der Freiheitsbegriff soll, wie Kant sagt, den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und die Natur müsse ›folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.‹ Diese Zusammenstimmung sieht Kant in der eigentümlichen Schwebe ästhetischer Erfahrung verwirklicht. In Ansehung der schönen Dinge sehe man sich auf etwas ›bezogen‹, ›was nicht Natur, auch nicht Freiheit‹, aber doch ›mit dem Grunde‹ der Freiheit, nämlich mit ›dem Übersinnlichen verknüpft‹ sei.« Günter Figal: Erscheinungsdinge, S. 34 und S. 35. Denn »das Schöne ist das Symbol des Sittlich-guten; und auch nur in dieser Rücksicht [...] gefällt es mit einem Anspruche auf jedes anderen Bestimmung, wobei sich das Gemüt zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewusst ist […].« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 258, S. 255. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, BXXII, S. 16, BXLIII ff, S. 32 ff.
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dar36 und bezieht sich auf eine Wirklichkeit im Menschen, die für Kant mit dem Begriff der »Freiheit« und damit mit der Bestimmung des Menschen zusammenhing37. Diese »Freiheit« ist der eigentliche Grund und das Telos des »ästhetischen Zustands«, denn die durch das Ästhetische evozierte »Empfindung« stand für ihn in Analogie zum moralischen Urteil38. Im mimischen Vermögen zeigt sich damit »in Abgrenzung von jeglicher Nachahmung [...] die ›Freiheit‹ [...] als Grundprinzip aller Kunst.«39 Die »Freiheit der Einbildungskraft [...] wird in der Beurteilung des Schönen mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes als einstimmig vorgestellt [...]«40 und von Kant mit der »Freiheit des Willens« im moralischen Urteil zusammen gedacht41.
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Denn »wir nennen Gebäude oder Bäume majestätisch und prächtig […] weil sie Empfindungen erregen, die etwas mit dem Bewusstsein eines durch moralische Urteile bewirkten Gemütszustand Analogisches enthalten. Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, […].« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 260, S. 257. Dies bezeichnet auch zugleich das eigentlich Revolutionäre und philosophische Ziel in Kants Kritik der Urteilskraft: »1. Das Schöne gefällt unmittelbar (aber nur in der reflektierenden Anschauung, nicht, wie Sittlichkeit im Begriffe). 2. Es gefällt ohne alles Interesse (das Sittlichgute zwar notwendig mit einem Interesse, aber nicht einem solchen, was vor dem Urteile über das Wohlgefallen vorhergeht, verbunden, sondern was dadurch allererst bewirkt wird). 3. Die Freiheit der Einbildungskraft (also der Sinnlichkeit unseres Vermögens) wird in der Beurteilung des Schönen mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes als einstimmig vorgestellt (im moralischen Urteile wird die Freiheit des Willens als Zusammenstimmung des letzteren mit sich selbst nach allgemeinen Vernunftgesetzen gedacht.) 4. Das subjektive Prinzip der Beurteilung des Schönen wird als allgemein, d. i. für jedermann gültig, aber durch keinen allgemeinen Begriff kenntlich vorgestellt. [...]« Da das Seelenvermögen des Menschen eines ist, musste die reflektierende ästhetische Urteilskraft von der gleichen »Freiheit« im Urteil bestimmt sein wie das moralische Urteil. Dabei unterlag das reflektierende Urteil derselben Gesetzmäßigkeit des Verstandes wie bei einem bestimmenden Urteil in der Erkenntnis der Natur. Entscheidend ist, dass Kant von einem Seelenvermögen oder einer Wirklichkeit des Subjekts ausging, zu der auch die Urteilskraft gehört. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 259, S. 256 und 257. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Einleitung VII, S. 31-36. Andreas Kablitz: »Die Unvermeidlichkeit der Natur«, S. 193. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 259, S. 256. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 259, S. 256 und S. 260.
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M IMESIS ALS » PHYSIOLOGISCHE E INFÜHLUNG BEI V ISCHER , W ÖLFFLIN , L IPPS UND S CHMARSOW Kants »freies Spiel der Einbildungskraft« in der Betrachtung des ästhetischen Gegenstand ist eine kontemplative Reflexion, die auf die »ästhetische Erfahrung« des Rezipienten zielt. Das auf diese Weise von Kant bestimmte Mimetische wurde von Robert Vischer der Empirie zugeführt, indem er das ästhetische Empfinden kausal an die körperlichen Verfasstheiten des rezipierenden Subjekts band. In Robert Vischers Schrift Das optische Formgefühl42 wird hierfür der Begriff »Einfühlung«43 verwendet, welcher ein »unbewusstes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektform« bezeichnet44. Was Kant bereits andeutete, wurde bei Vischer zum Programm45. Das als »Vitalempfinden« bezeichnete Gefühl war für Vischer eine Reaktion auf die es steigernden
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Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig 1873. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl, S. VII. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl, S. VII. Vischer unterschied grundlegend zwischen sensitiven und motorischen Reizen, welche er als »sensitive und motorische Einfühlung« bezeichnete.Robert Vischer: Über das optische Formgefühl, S. VII. Weiter nannte er es sein Hauptbestreben »die geistige Erregung immer genau an und mit der leiblichen zu erklären.« Ebenda. Dabei unterschied er zwischen einem kontemplativen, verweilenden »Einfühlen in die ruhige Form« und die mit diesem im Gegensatz stehende »mimische, agierende oder affectvolle Einfühlung von einem wirklich oder scheinbar bewegten Gegenstand«. Ebenda, S. 21. »Einfühlung« und innerliches Nacherleben zeigten ihm »Baumgezweige«, die sehnsüchtig die Arme ausbreiten und deren »anklingende Mimik« beim Weitergehen von der »ruhigen Gestalt« in eine offen bewegte eingefühlt werde. Ebenda, S. 22. Vergleichbar bezog Vischer seine Untersuchungen auch auf das Gebiet der Architektur. »Alterskrumme Mauern können die Grundempfindung unserer leiblichen Statik beleidigen. Die Anschauung der äusseren Grenzen der Form kann sich in dunkler Weise mit der Empfindung der eigenen Körpergrenzen combiniren, welche ich an oder vielmehr mit meiner allgemeinen Hauthülle spüre. Auch die Muskelbewegungen des Augapfels (resp. Kopfes) haben Bewegungsreize in anderen Organen zur Folge, besonders in den Tastorganen; sie können aber auch sensitive Nervenreize hervorrufen, wie diese umgekehrt motorische. Ebenso können Denkreize sensitive, wie motorische Reize in den niedrigen Organen erzeugen und umgekehrt. Es handelt sich überhaupt um den ganzen Körper; der ganze Leibmensch wird ergriffen. Denn in Wahrheit gibt es ja keine strikte Lokalisierung in demselben. Jede betonte Empfindung führt daher schliesslich entweder zu einer Steigerung oder Schwächung der allgemeinen Vitalempfindung.« Ebenda, S. 11.
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oder schwächenden Perzeptionen, die er als »Imitationen« bezeichnete46. Die dem Reize entsprechenden Perzeptionsbewegungen seien als »Imitationen« Vermittlungen zwischen Subjekt und Objekt47. Es sei wesentlich, dass die Formen des Objekts immer mit anderen Formen und Mitteln des Subjekts wiederholt würden.48 Die durch Gestik und Mimik ausgedrückten »Imitationen« seien Perzeptionen in die »anderen Formen und Mittel des Subjekts« übersetzt, »ein durch die Bedingungen des eigenen Körperbaus verdunkeltes Nachbilden von Eindrucksformen«49. Als Beispiele nennt er das Ausbreiten der Arme als Zeichen für Größe und Erhabenheit oder das Kopfschütteln als Ausdruck des Wägens und Zweifelns oder der Unwahrheit50. Sein Verständnis von »Imitation« bedeutet nicht abbildhafte Wiedergabe, sondern Transformation in die Körpersprache des Subjekts, was für ihn ein entscheidender Punkt für das Verständnis jeden »Bildens« war51. Vischer nennt hier bereits Gedanken, die auf Wölfflin und auf Nietzsches »Physiologie der Kunst« verweisen. Vischers »Einfühlungsästhetik« wurde mehrfach rezipiert. So verwendete sie Aby Warburg laut Philipp Ekardt als Theorie der Mimesis für das Verstehen von Kunstwerken52. Dabei macht Ekardt darauf aufmerksam, dass sich »Einfühlung«
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»Vischer defines the basic forms of art not as the imitation of independent third phenomena that exist prior to the perceptual link between subject and object; rather, he describes all sorts of symbolic practices such as music, language, facial miming, physiognomy and gesture as »imitations of forms of expression« (Nachbilden von Eindrucksformen) If perceiving is imitating, the first object of imitation is then, the imitative activity engendered in the perceiving subject.« Philipp Ekardt: »SensingFeeling-Imitating. Psycho-Mimeses in Aby Warburg«, S. 109. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, S. 37. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, S. 37. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, S. 37. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, S. 37. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, S. 38. »Einfühlung« bei Vischer ist »Perception as Imitation«, so dass »Warburg’s association of mimesis and movement is not limited to the realm of accurate and convincing pictorial representations of physically and psychically agitated figures. Rather, he complements his description oft he pictorial rendering of movement with a psychological speculation about the perceptual processing [...].« Philipp Ekardt: »Sensing-Feeling-Imitating. Psycho-Mimeses in Aby Warburg«, S. 105. Der Begriff »Nachahmung« wurde von Warburg kontrovers benutzt. So zeigt Ekardt, dass mit künstlerischer Nachahmung »der Name für das Schwerkraftverhältnis in der Ebene zwischen S (Subjekt) und O (Objekt) ohne reale Annäherung« von Warburg gemeint war. »Der ›künstlerische‹ Act ist ein auf das Object bezüglicher ›Entfernungsversuch‹« und diente, so ist Ekardts Warburg-Interpretation zu deuten, in der magischen Praxis der Selbstkonstitution des Menschen. Ebenda, S. 117-120.
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nicht nur in einer Richtung, vom Objekt zum Subjekt bewege53, sondern auch das Subjekt durch das Objekt sich verändere, da es Mimikri im Umgang mit Objekten der Außenwelt betreibe. Wir »supponieren«54 uns der Außenwelt, so Vischer, und unterlegen der »leblosen Form« unser »individuelles Leben« 55. Heinrich Wölfflin war Robert Vischers Dissertation Über das optische Formgefühl beim Verfassen seiner dreizehn Jahre später erstellten Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur56 bekannt. Wölfflin Betonung einer psychologisierenden Betrachtung der Architektur und seine Verwendung physiologischer Argumente zur Interpretation ästhetischer Phänomene denken Vischers Ideen zu einer mimetischen Ästhetik weiter. Architektur wird bei ihm zum mimetischen Abbild von Körperlichkeit, da der Rezipient seine physiologische Wahrnehmung in den architektonischen Körper überträgt57. »Und so behaupte ich,« so Wölfflin, »dass alle die Bestimmungen, die die formale Ästhetik über die schöne Form gibt, nichts anderes sind, als Bedingungen organischen Lebens.«58 Wölfflin postuliert einen »Zusammenhang zwischen den Proportionen und dem Tempo des Atmens«59. Uns führe die Betrachtung der Gleichgewichtszustände auf das, was man in der Architektur Regelmäßigkeit der Folge oder Eurhythmie genannt habe60. Das ästhetische Erleben sei eine Art mechanistischer Vorgang, bei dem ein optischer Nervenreiz zu ganz bestimmten
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»Vischer reverses the mimetic vector«, so Ekardt, indem er auf folgenden Passus hinweist: »Wir haben also das wunderbare Vermögen, unsere eigene Form einer objektiven Form zu unterschieben, ungefähr wie die Moosjäger sich in einen Jagdschirm verkriechen, um den Wildenten ungesehen beizukommen.« Philipp Ekardt: »Sensing-Feeling-Imitating. Psycho-Mimeses in Aby Warburg«, S. 113 und Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, S. 20. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, S. 20. Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, S. 20. Frank Büttner: »Das Paradigma ›Einfühlung‹ bei Robert Vischer«, S. 85. »Unsere leibliche Organisation ist die Form, unter der wir alles Körperliche auffassen. Ich werde nun zeigen, dass die Grundelemente der Architektur: Stoff und Form, Schwere und Kraft sich bestimmen nach den Erfahrungen, die wir an uns gemacht haben; dass die Gesetze der formalen Ästhetik nichts anderes sind als die Bedingungen, unter denen uns allein ein organisches Wohlbefinden möglich scheint, dass endlich der Ausdruck, der in der horizontalen und vertikalen Gliederung liegt, nach menschlichen (organischen) Prinzipien gegeben ist.« Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 15. Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 17. »Es ist kein Zweifel, sehr schmale Proportionen machen den Eindruck eines fast atemlos hastigen Aufwärtsstrebens.« Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 27. Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 31.
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Kontraktionen der Muskeln führe. Das Verständnis menschlichen Ausdrucks ereigne sich durch ein Nacherleben. Eine körperliche Erscheinung sei Ausdruck eines geistigen Vorgangs. Der Ausdruck von Affekten führe dazu, dass fast unwillkürlich ein anderer eine Übertragung dieser Gemütsbewegungen über ein entsprechendes Objekt erfahre61. Eine Fortsetzung fand Vischers und Wölfflins Ästhetik mit Theodor Lipps »Einfühlungsästhetik«, mit der den Formen »ästhetische Kräfte« beigelegt werden, die für deren psychologische Wirkung verantwortlich sind. Lipps Ästhetik unternimmt es, die ästhetischen Gesetzmäßigkeiten der reinen Formen mit wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Charakteristisch für sein Modell sei, so Norbert Schneider, der formorientierte Ansatz. Lipps interessierten an der bildenden Kunst und der Musik weniger die Themen, Stoffe und Sujets als die Formverläufe. Formen seien für ihn, so Schneider, das Korrelat von Gefühlen. Dies sei schon die Prämisse in Fechners experimenteller Ästhetik gewesen, und auch Wilhelm Wundt habe in seinen zahlreichen psychologischen Handbüchern immer wieder diese Entsprechung von Elementarformen (als dem ästhetischen Reiz) und Elementargefühlen (als Reaktion darauf) betont62. Lipps ging analytisch vor, indem er den ganzheitlichen Sinneseindruck in geometrische Elementarformen zerlegte, um sich anhand einfacher geometrischer Elemente den psychischen Abhängigkeiten in der Wahrnehmung der Form empirisch zu nähern. Die Form, so Lipps, könne uns nur unmittelbar Kunde geben von einer in ihr selbst wirkenden Kraft63. Das Phänomen der optischen Täuschung belege, dass anhand ästhetischer Objekte wie Linien, Kreise oder Rechtecke eine wechselseitige Beeinflussung durch die »einheitlich ästhetischmechanische Interpretation« stattfinde64. Form an sich gab es für Lipps nicht, denn jede Form hatte für ihn einen unmittelbaren Bezug zum Raum und zu anderen Formen im Raum65. Ästhetik als »Wissenschaft« wurde so eine Art Mechanik der Formen, ohne dass die wirkenden Gesetze der Formen sich für ihn mathematisch-naturwissenschaftlich aufweisen ließen. Das »Gefühl« sei hier der wahre Maßstab, denn das Gefühl leite uns sicherer, als die exakteste formulierte
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Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 13. Norbert Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne, S. 136. Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, S. 23. Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, S. 70. Lipps betrieb elementare Ästhetik, indem er das »schwarze Quadrat« in weißem Rahmen und das »weiße Quadrat« vor schwarzem Hintergrund untersuchte. Er analysierte Punkte und Linien, ordnete sie in immer neuen Zusammenstellungen an, um die wechselseitig verändernden Kräfte und Tendenzen der Formen aufzuzeigen.
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Regel uns leiten könne66. Ästhetik soll »zweckfrei« und »reine Betrachtung«67 sein, darin folgte er Kant, welche sich ohne assoziative Inhalte und ohne jede stoffliche Komponente den formalen Phänomenen zuzuwenden habe. Jede Form sei für die ästhetische Betrachtung lediglich Ergebnis einer in der Form selbst liegenden oder einer ihrer Tätigkeit. Sei aber diese Tätigkeit wirkliche Tätigkeit, so sei sie menschlicher Tätigkeit vergleichbar und damit im Ergebnis einem Zweck unterliegend. Dieser Zweck allerdings bestehe, sofern die Form für sich betrachtet werde, in nichts anderem, als dem eigenen Dasein der Form, d. h. dem ruhigen, sicheren, kraftvollen, oder freien, leichten, spielenden Sichausleben der in ihr wirksamen Kräfte68. Dieses freie Sichauswirken der Kräfte gelte für geometrische Formen wie für Naturformen69. Denn das, was das ästhetische Phänomen ausmache, sei das, was das Subjekt analog als Tätigkeit an sich erfahre. Tätigkeit sei fortstrebende Bewegung und diese Bewegung bewirke das ästhetische Objekt im Subjekt. Für Lipps besteht wie für Kant der Maßstab von Kunst in dem von ihr evozierten Lustgefühl. Um »Lust« entstehen zu lassen, müsse sich das Subjekt innerlich dem Gegenstand zuwenden und diese Zuwendung müsse mit Leichtigkeit geschehen70. Die Leichtigkeit der Apperzeption ergebe sich durch das Prinzip der Einheit, der Regelmäßigkeit, welche Übereinstimmung von Teilen, Elementen und Zügen eines Ganzen sei71. Lipps sprach von einer Teleologie der ästhetischen Form, von Tendenzen, die als solche erfahren werden, weil sie den menschlichen Tätigkeiten vergleichbar seien72. Eine vertikale Linie bedeute das »Sichaufrichten« gegen die überall
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Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, S. 37. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, S. 36. Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, S. 23. Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, S. 24. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 17 und 18. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 18. Mit dem Prinzip der Einheit ahme die Kunst die Einheit der Seele nach, so dass die geometrisch regelmäßigen Gebilde Gegenstände der Lust seien, weil die Auffassung derselben, als eines Ganzen, der Seele »natürlich« sei. Ebenda. »Ich meine mit einem Worte den ganzen in sich zusammenhängenden Fluß der unmittelbar erlebten Bewegung, der von allem bloßen, einfach tatsächlichen Geschehen eben dadurch sich auszeichnet, dass in ihm überall das Moment der Tätigkeit sich findet, das Moment des strebende Fortgehens […]. Kurz, ich meine das, was wir mit den Worten »innere Bewegung« jederzeit eigentlich bezeichnen wollen. Ich
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im Raume wirkende Schwere. Das »freie Sichaufrichten« geschehe durch einen spontanen Impuls73. Damit übertrug er, Vischer und Wölfflin folgend, die physiologische Erfahrung in die Erfahrung der ästhetischen Außenwelt74. So wie die vertikale Linie gegen die im Raume wirkende Kraft der Schwere wirke, so wirke die horizontale Linie gegen die »Kraft des Zusammenhaltes oder der Begrenzung«75. Exemplarisch hatte Lipps die inneren Kräfte einfacher linearer Strukturen aus den analogen körperlichen Erfahrungen des Menschen entwickelt76, indem er die eigene Körpererfahrung in räumliche Strukturen übertrug. Lipps »vitalisierte« die Geometrie da für ihn die geometrischen Gebilde immanente Kräfte des »Lebens« darstellten. Für den ästhetischen Eindruck existiere das technische Kunstwerk erst, wenn es »lebendig« sei. Es sei »existenzfähig«, wenn es ein Organismus sei, d. h. ein in sich geschlossener Lebenszusammenhang, der im Gleichgewicht seiner Kräfte sich selbst sicher im Dasein hielte77. Ein Bauwerk war für ihn deshalb nicht primär die Darstellung der tatsächlichen statischen Verhältnisse, sondern eine Darstellung wirkender »ästhetischer Kräfte«, die er als das »Leben« der Architektur bezeichnete. Die Beurteilung der Kräfte in den geometrischen Elementen lag für ihn im »Gefühl«. Das ästhetische Empfinden folge den Gesetzen der »ästhetischen Mechanik«, die für ihn in gleicher Weise strengen Gesetzen unterlagen wie die mechanischen Kräfte der Massenanziehung. Um ästhetisches Erleben auszubilden, müssen wir uns nach Lipps
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meine alles dasjenige, dessen wir in unserem Lebensgefühl inne werden. Alles Leben ist ja doch eben Tätigkeit.« Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, S. 8. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, S. 259. »Ein Analogon dieses meines eigenen Aufgerichtetseins nun ist, wie gesagt, das Aufgerichtetsein eines räumlichen Gebildes für meine ästhetische Betrachtung. Auch in ihm also findet für eben diese Betrachtung ein solches beständiges Sichaufrichten statt. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, S. 261. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, S. 265. Diese einfachen mechanischen Kräfte seien bei dreidimensionalen wie bei räumlichen Hohlkörpern in gleicher Weise wirksam. Denn der »Innenraum eines Domes« entstand für Lipps »wie die Linie. Er entsteht ihm von einem Punkt aus, nämlich demjenigen, von dem aus ich ihn in seiner Beschaffenheit naturgemäß betrachte. Er breitet sich nach den verschiedenen Richtungen aus. Alles dies in jedem Moment von neuem.« Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, S. 258. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, S. 488.
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die Regeln erarbeiten, indem wir unser Gefühl trainieren, ähnlich wie sich uns das Schlittschuhlaufen oder das Radfahren erschließt, indem wir dem Gesetz oder der Regel vergangener Erfahrungen folgen, »speziell dem Gesetz oder der Regel des Gleichgewichtes«78. Doch »von dieser Regel haben wir erst recht kein Bewusstsein, wir würden in Verlegenheit kommen, wenn wir sie formulieren sollten. Wir haben die Regel, wie wir sagen im ›Gefühl‹. Dies Gefühl leite uns sicherer, als die exakteste Regel uns leiten könnte.«79 Obwohl der Begriff der »Einfühlung« sich aus der Romantik herleitet, die in ihr das ästhetische Empfinden in der »Wesensübereinstimmung zwischen allem Lebendigen«80 erkannte, begriff Lipps seine »Einfühlungsästhetik« ohne sentimentalen Beiklang. »Einfühlung« in den ästhetischen Gegenstand bedeutete Lipps die Wahrnehmung von Gesetzmäßigkeiten der Form, die für ihn zugleich psychische Gesetzmäßigkeiten darstellten, denn was formal nicht stimmte oder unbefriedigend wirke, besitze seine Ursache in uns und den psychischen Bedingungen der Apperzeption. Indem wir uns apperzeptiv den ästhetischen Objekten zuwenden, entäußern wir uns und gleichen uns den äußeren Objekten und diese uns an, das heißt wir apperzipieren mimetisch in der Angleichung. Mit dem apperzipierten Gegenstand zeigten sich Lipps allgemein psychische Gesetzmäßigkeiten, was für ihn eine Verbindung von Ästhetik und Ethik annehmen ließ. Der Zentralbegriff der Ethik, die »Freiheit«, ist denn auch wie bei Kant für Lipps der Zentralbegriff seiner Ästhetik81. In der Ethik wie in der Ästhetik solle es keine Hemmung, sondern zwanglose, freie Entfaltung geben. Einer frei entfalteten Form entsprach, so Lipps, »die von mir in die Form eingefühlte Freiheit eines Individuums«82. Betrachtet man Lipps Ansätze unter den Aspekten einer Theorie der Mimesis, so ist »Einfühlung« ein anderer Begriff für mimetisches Erleben oder mimetische Anverwandlung. Einfühlung ist die »innere Nachahmung«83, gegen die
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Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, S. 37. Theodor Lipps: Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, S. 37. Christian G. Allesch: Einführung in die psychologische Ästhetik, S. 39. Er nennt ihn den für die »Raumästhetik wichtigsten Begriff«. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 246. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 247. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 121.
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sich der Rezipient nicht frei verhalten kann84. Ein Schauspiel oder ein ästhetisches Phänomen verlange die mimetische Anverwandlung des Zuschauers an den Gegenstand.85 Dies sei der volle Sinn der »Einfühlung« 86. Ästhetische Rezeption erzeugte für Lipps vitalisierende Kräfte. Die freie Entfaltung von Formen oder ihre unfreie Einschränkung bewirken durch psychologische Übertragung einen vergleichbaren Effekt im Rezipienten und waren dadurch für Lipps ethisch, da in der mimetischen Einfühlung das »Äußere« mit einem »Inneren« zusammenging87. Der Rhythmus und die Stimmlage architektonischer Elemente, ihr freies, kraftvolles Stehen oder ihre schwächliche Zerbrechlichkeit bewirken durch die »Einfühlung« Empfindungen, die stimulieren oder niederdrücken. Dieses Schauspiel durchwirkt die »Stimmung« als etwas Allge-
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Lipps beschrieb beispielhaft diesen Einfluss, die »innere Nachahmung«, indem er schilderte, was sich in einem Zuschauer ereignet, der die »halsbrecherische Leistungen« eines Akrobaten betrachtet. Die äußeren Bewegungen des Akrobaten, so Lipps, hätten ihre Innenseite und diese sei das Wesentliche der Sache: »Sie ist es im Akte der Nachahmung für den Nachahmenden so sehr, dass dieser, je zwingender und demnach unwillkürlicher die Nachahmung sich vollzieht, umso weniger von seiner »Nachahmung«, d. h. von dem tatsächlichen, äußeren Vollzug der körperlichen Bewegungen ein Bewusstsein hat.« Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 121. Denn, so Lipps, »ich vollziehe unmittelbar, nämlich innerlich, oder ›in meinen Gedanken‹, die Bewegungen des Akrobaten. Ich vollziehe die Bewegungen, soweit dieser ›Vollzug der Bewegungen‹ nicht ein äußerliches, sondern ein inneres Tun ist, in dem Akrobaten selbst. Ich bin nach Aussage meines unmittelbaren Bewußtseins in ihm; […] Nicht neben den Akrobaten, sondern genau dahin, wo er sich befindet.« Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 122. »Dass ich mich da oben stehend unmittelbar erlebe, und mit dem Akrobaten identisch fühle, dies heißt eben gar nichts Anderes, als das oben Gesagte: Ich fühle mich in der optisch wahrgenommenen Bewegung des Akrobaten, also im Akrobaten, so wie ich ihn wahrnehme, ich fühle mich darin strebend innerlich tätig. Dieses Gefühl ist für mich unmittelbar an die Wahrnehmungen gebunden, haftet für mich an dem optisch Wahrgenommenen.« Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 123. Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 122. »Ich muß überhaupt bitten, dass meine ästhetischen Anschauungen in den Gesamtzusammenhang meiner psychologischen und vor allem psychologisch-ethischen Anschauungen hineingestellt werden. […] Ästhetik und Ethik hängen bei aller Verschiedenheit aufs Innigste zusammen.« Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 223.
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meines, »[…] im wahrgenommenen Ganzen Waltendes, aber eben Unsagbares, nicht Bestimmbares […].«88 Lipps Rezeptionsästhetik bestimmt die psychologischen Momente in der Wahrnehmung, indem sie das von Kant ganz der Vernunft zugeordnete »freie Spiel der Einbildungskraft« im ästhetischen Erleben als Affinität von körperlicher Empfindung und phänomenaler Erscheinung deutet. Als Theorie der Mimesis soll Lipps Einfühlungsästhetik das bestimmen und einer begrifflichen Klärung zuführen, was für Kant im »freien Spiel« stattfindet und auf eine »innere Natur« des Subjekts rekurriert, die in der »Freiheit der Formen« ihr Ziel besitzt. Lipps verstand seine »Einfühlungsästhetik« als Wirkungsästhetik, da er einen unmittelbaren Zusammenhang von subjektiv-ästhetischem Eindruck und psychisch-physiologischer Wirkung annahm. August Schmarsow dachte diese subjektiv-physiologische Ästhetik weiter, indem er sie auf das Wahrnehmen des Architekturraumes anwandte. Die psychologische Tatsache, dass der Gesichtssinn und andere leibliche Erfahrungen die Anschauungsform des dreidimensionalen Raumes zustande bringen, zeige Ursprung und Wesen dieser Kunst89. Aus den Residuen der sinnlichen Erfahrung, so Schmarsow, zu denen auch »die Muskelgefühle unseres Leibes, die Empfindlichkeit unserer Haut wie der Bau unseres ganzen Körpers ihre Beiträge liefern«, schieße das Resultat der »räumlichen Anschauung« zusammen90. Der Raum, der uns umgebe, sei notwendiger als die Form unseres Leibes, »sobald wir uns selbst und uns allein als Centrum dieses Raumes fühlen gelernt, dessen Richtungsachsen sich in uns schneiden, [...]«91. Die Architektur als Raumgestalterin schaffe als ihr Eigenstes, was keine andere Kunst zu leisten vermöge, Umschließungen unserer selbst; das Raumgebilde sei eine Projektion aus dem Innersten des Subjekts92. Mit Schmarsow kann man von einer »Physiologie des Raumes« sprechen, denn Begriffe wie »Ausdehnung«, »Erstreckung«, »Richtung« deuteten auf eine fortwirkende Tätigkeit des Subjekts, das sofort sein eigenes Gefühl der Bewegung auf die ruhende Raumform übertrage93. Diese anthropozentrische Betrachtung des Raumes führte Schmarsow zu der These, dass der Begriff des Rhythmus auf den Gang des Menschen zurückgehe, auf die Rhythmik seiner
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Theodor Lipps: Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil. Grundlegung der Ästhetik, S. 223. August Schmarsow: »Das Wesen der architektonischen Schöpfung«, S. 10 und 11. August Schmarsow: »Das Wesen der architektonischen Schöpfung«, S. 11. August Schmarsow: »Das Wesen der architektonischen Schöpfung«, S. 11. August Schmarsow: »Das Wesen der architektonischen Schöpfung«, S. 15. August Schmarsow: »Das Wesen der architektonischen Schöpfung«, S. 19.
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Schritt-, Tast- und seiner Blickbewegungen94. Damit aber wurde die Physiologie des Subjekts zum ontologischen Inhalt der Architektur, auf den sie sich mimetisch bezog. Der Körper des Subjekts wird zum normativen Maßstab, denn seine anatomischen und physiologischen Voraussetzungen bedingen die Formen und ihre ästhetische Wirkung95. Die Physiologie der Kunst, wie sie von Vischer, Wölfflin, Lipps und Schmarsow betrieben wurde, kann damit als Weiterdenken der Ästhetik Kants zu einer Ontologie des Körpers bezeichnet werden, wie sie dann Nietzsche vertreten hat.
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Beatrix Zug: Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts, S. 48. Kirsten Wagner: »Architektur mit dem Körper denken«, S. 87 und 88.
IV. Nietzsche und Adorno
N IETZSCHE Nietzsche formulierte mit einer »Physiologie der Kunst« die ontologischen Inhalte, die zu Adorno führen und bereits in Kants Kritik der Urteilskraft implizit enthalten sind. Kant bezog sich auf die Empfindung von »Lust und Unlust« im Rezipienten als »Grund« des ästhetischen Urteils und nicht mehr auf eine objektive, begrifflich formulierbare Ästhetik. Er verlegte den Urteilsgrund ins Subjekt, das in der kontemplativen Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Phänomen sein Urteil im »freien Spiel der Erkenntniskräfte« gewinnt. Dass dieses »freie Spiel« auch physiologisch gedeutet werden kann und Formen eine physische Reaktion auslösen und dadurch das ästhetische Urteil bestimmen, war eine Erkenntnis der Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Mit Nietzsche wurde diese insofern radikalisiert, als er die Wirklichkeit insgesamt als ästhetische Leistung betrachtete und deshalb der Ästhetik eine ontologische Bedeutung beimaß. Nietzsches Kunst ist Mimesis der Natur und darin Darstellung von deren innersten, tragischen Verfassung. Seine »Physiologie der Kunst« stellt den Versuch dar, das ästhetische Phänomen als zugleich tragisch und stimulierend an die leibliche Natur des Menschen zu binden. Mit der von ihm als »dionysisch« bezeichneten Kunstform überwand Nietzsche Kants Forderung nach der »Interessenlosigkeit« am ästhetischen Objekt, welche bei Kant die Reflexion anregen sollte und letztlich im Gefühlsurteil der »Lust« die Kunst als Form der Erfahrung von »Freiheit« ausweist. Gegen Kants Teleologie im ästhetischen Gefühl opponiert Nietzsches Konzept einer neuen Mythologie und eines ontologisch gedachten »Willens zur Macht«, zu einer »tragisch-dionysischen Kunst«, die gerade nicht interessenlos und kontemplativ sein soll. Die von Nietzsche postulierte Wirklichkeit einer »Physiologie der Kunst« ist eine neu gedachte Ontologie des Leiblichen und kulminiert in der Idee des »großen Stils« und einer mit diesem intendierten Reformulierung antiken Kunstemp-
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findens. Nietzsches »denkendem Körper« kommt besondere Bedeutung für ein Verständnis des modernen Mimesisbegriffs in der Architektur zu, da die Diskussion um eine Wiedergewinnung von architektonischer Körperlichkeit aktuell große Relevanz besitzt. Seine Reflexionen zu einer »Physiologie der Kunst« können deshalb als Grundlegung einer neuen Definition der Mimesis in der Architektur verstanden werden. 1.1 Nietzsches mythologisches Konzept Nietzsches »tragisch-dionysische Kunst« ist fundamentale Wissenschaftskritik und stellt die szientifische Moderne und die positivistischen Wissenschaften radikal in Frage, denn das wissenschaftliche Denken war für Nietzsche selbst mythologisch bestimmt und stellte nur eine Möglichkeit von Wirklichkeit dar. Nietzsche hielt es für einen »Grundirrtum der Tradition«, »dass die Wirklichkeit an ihr selbst durch Vernunft bestimmt sei, und dass diese Vernünftigkeit sich eindeutig erschließen lasse [...].«1 Mit Nietzsches Eintritt in den Diskurs der Moderne hat sich für Jürgen Habermas die Argumentation von Grund auf verändert2. Die Konzeption einer Vernunft als »Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion« sei misslungen und Nietzsche habe auf eine erneute Revision des Vernunftbegriffs verzichtet und habe damit die »Dialektik der Aufklärung« verabschiedet3. Habermas macht »insbesondere die historistische Verformung des modernen Bewusstseins, die Überflutung mit beliebigen Inhalten und die Entleerung von allem Wesentlichen«4 dafür verantwortlich, dass Nietzsche es der Moderne nicht mehr zutraute, »ihre Maßstäbe noch aus sich selbst«5 zu schöpfen. Auch »die in Gestalt einer Bildungsreligion auftretende Vernunft entfaltet keine synthetische Kraft mehr, welche die vereinigende Macht der überlieferten Religion erneuern könnte.«6 Eine Rettung versprach Nietzsche nicht die Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung, sondern der Mythos, der von ihm als das »Andere der Vernunft«7 begriffen wurde. Nietzsche erhoffte sich, so Habermas, indem er an die »altgriechische Urwelt des Großen, Natürlichen und Menschlichen« anknüpfte, dass die antiquarisch denkenden »Spätlinge« der Moderne sich in die
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Walter Schulz: »Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie«, S. 1. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 106. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 106 und 107. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 107. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 107. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 107. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 107.
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»Erstlinge« einer postmodernen Zeit verwandelten8. Dabei kommt der Kunst die entscheidende Bedeutung zu, denn »allein die moderne Kunst kann mit den archaischen Quellen sozialer Integration, die in der Moderne versiegt sind, kommunizieren.«9 Nietzsches Ansatz einer Restituierung des Mythos »dionysischer und apollinischer Kunsttriebe« sollte das erreichen, was Koller dem antiken Ritus zusprach und was sich auf die ursprüngliche Bedeutung von Mimesis bezieht: Transzendenz und Herstellung eines kosmischen »Ureinen«. Erst der nietzscheanische Begriff des »Dionysos«, dessen Wesen identisch mit dem Begriff des Lebendigen sein für ihn soll, enthielt das Versprechen eine letztlich »leere Bildung« zu überwinden. Walter Schulz spricht von einer »Umkehrung der leitenden Grundbegriffe«10, welche nicht »Vernunft und Geist«, sondern das Leben als dunklen und machtvollen Willen als Wesensmerkmal der Wirklichkeit annehme11. Hinter allen Äußerungen stehe ein unerschöpflich zeugender Lebenswille, der sich als »Wille zur Macht« zeige12. Mit diesem in seiner Spätphilosophie positiv besetzten »Willen zur Macht« sollten für Nietzsche die für ihn negativ wahrgenommen Erscheinungen der bürgerlichen Kultur – er bezeichnet sie als »décadence« – überwunden werden. Nietzsches Ausführungen zur Kunst basieren auf einer Diagnose der Moderne und ihrer Ausdruckssysteme13 sowie deren Überwindung durch eine erneuerte Kunst. Von dieser erhoffte sich Nietzsche die Heilung von einer »pessimistischen Weltauffassung und dem Optimismus dialektischer Wissenschaft« gleichermaßen14. Deren »Gegensatz wertet er nun selbst als ein Symptom des Nihilismus, welcher wiederum in der physischen und psychischen décadence der Moderne zur Vollendung kommt.«15 Die pessimistische Weltauffassung fordert zum Rückzug aus der »Welt« auf, während die Wissenschaft ihre rationale Durchdringung betreibt. Diesem Antagonismus von beherrschender Rationalität ohne Empathie und Negation von »Welt« stellte Nietzsche eine Mythologie entgegen, die bei der Urgeschichte des Menschen ansetzt. Nietzsche konnte hier an die bereits von Schelling geführte Diskussion anknüpfen, die der Kunst eine ontologische Bedeutung zusprach. Habermas beschreibt das Paradigma einer erneuerten Kunst bei Schelling als eine »unter den
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Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 107. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 112 und 113. Walter Schulz: »Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie«, S. 1. Walter Schulz: »Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie«, S. 1. Walter Schulz: »Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie«, S. 5. Bernhard Lypp: »Apollinisch- Dionysisch: Ein unhaltbarer Gegensatz«, S. 357. Bernhard Lypp: »Apollinisch- Dionysisch: Ein unhaltbarer Gegensatz«, S. 357. Bernhard Lypp: »Apollinisch- Dionysisch: Ein unhaltbarer Gegensatz«, S. 357.
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modernen Bedingungen einer ins Extrem getriebenen Reflexion«16 die das restituiert, was »sich einst in den festlichen Kulten von religiösen Glaubensgemeinschaften entzündet hatte«.17 Das, was Rationalität »leer« werden ließ, solle die Kunst »in Gestalt einer neuen Mythologie« zurückgewinnen. Sie sei nicht mehr nur Organ, sondern Ziel und Zukunft der Philosophie18. Nietzsches mythologisches Konzept knüpft bei der Romantik an, der es um eine »Verjüngung« und nicht um eine »Verabschiedung des Abendlandes« ging19. Diese »verjüngende Mythologie« sollte die Emanzipation des Subjekts beibehalten und eine verloren gegangene Solidarität zurückbringen20. Doch lassen sich Mythologien durch die Kunst restituieren? Können einer von archaischen Mythen emanzipierten Gesellschaft diese wieder glaubhaft werden? Nietzsches Antwort ging einen Schritt weiter und überführte die »aufgeklärte Rationalität« selbst ihrer mythologischen Struktur. Damit ist nicht die Restitution eines bereits überwundenen Zustands gefordert, sondern nur ein möglicher Perspektivwechsel. Der »neue Mythos« der Moderne ist dem alten bei Nietzsche entgegengesetzt, da dieser in seinem Verhältnis zur Natur die Wundergläubigkeit durch die Gesetzesgläubigkeit vertauscht habe21. Beherrschung der Natur geschehe in der Moderne nicht durch angleichende Beschwörung, sondern durch Angleichung an Gesetze, die der Natur Ordnung und Berechenbarkeit verleihen. Für Nietzsche war dies ein »menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel mythologischer Träumerei.«22 Die Naturwissenschaften sind bei 16 17 18 19 20 21
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Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 111. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 111. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 111. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 114. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 114. Vgl. hierzu: Volker Caysa: »Natur, das Natürliche«, S. 291. Nietzsche hat diese Differenz der neuen und der alten Mythen in Menschliches, Allzumenschliches I beschrieben: »Das Nachdenken der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, der Natur ein Gesetz aufzulegen [...] während in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu schicken.« Friedrich Nitzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 115, in: KSA, Bd. 2, S. 113-115. »›Naturgesetz‹ ein Wort des Aberglaubens. – Wenn ihr so entzückt von der Gesetzmässigkeit in der Natur redet, so müsst ihr doch entweder annehmen, dass aus freiem, sich selbst unterwerfendem Gehorsam alle natürlichen Dinge ihrem Gesetz folgen – in welchem Falle ihr also die Moralität der Natur bewundert – ; oder euch entzückt die Vorstellung eines schaffenden Mechanikers, der die kunstvolle Uhr, mit lebenden Wesen als Zierrath daran, gemacht hat. – Die Nothwendigkeit in der Natur wird durch den Ausdruck ›Gesetzmässigkeit‹ menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei.« Menschliches, Allzumenschliches I, KSA, Bd. 2, S. 384.
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Nietzsche gleichermaßen ästhetisierend wie der vormoderne, mythologische Zugang zur »Welt«23. Die implizite Gleichwertigkeit mythologischer und szientifischer Weltbilder universalisierte Nietzsches Konzept von Mythologie24. Wenn aber immer Mythologie im Spiel ist, dann ist ein wesentlicher Fortschritt durch Mythologie nicht möglich. Diese Kritik Nietzsches an der Aufklärung als Kritik ihrer szientifischen Rationalität werden später Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung wieder aufgreifen. Das Vordingen aufklärerischen Gedankenguts ab der Mitte des 17. Jahrhunderts brachte Nietzsche in eine negative Verbindung mit dem platonischen Sokrates. Sokrates sei die Figur der Antike, mit der sich eine epochale Wende abgezeichnet habe. Nur dem, so der sokratisch-aufklärerische Gedanke, was gegenüber der intellektuellen Kritik Bestand habe, könne Vertrauen entgegengebracht werden. Dieser sokratische Intellektualismus bedeutete Nietzsche Zersetzung und Hemmnis produktiver schöpferischer Kräfte, denn bei »allen produktiven Menschen« sei »der Instinkt die schöpferisch-affirmative Kraft« und das Bewusstsein gebärde sich kritisch und abmahnend25. Beim Sokratismus dagegen sei der Instinkt Kritiker und das Bewusstsein Schöpfer. Sokrates sei als der »spezifische Nicht-Mystiker« zu bezeichnen, bei dem »die logische Natur durch eine Superfötation ebenso exzessiv entwickelt« sei »wie im Mystiker jene instinktive Weisheit.«26 In der Tragödie zeige sich dies in der schrittweisen Vernichtung des Chores27. Die »optimistische Dialektik« treibe »mit der Geisel ihrer Syllogismen die Musik aus der Tragödie« und damit das dionysische Medium28. Nietzsches Kritik an Sokrates als dem »Wendepunkt der [...] Weltgeschichte«29 war zugleich Kritik an einem Denken, das am »Leitfaden der Kausalität bis in die tiefs-
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»Die Darstellung des Übergangs von der Mythologie zur Naturphilosophie und zur Wissenschaft gerät damit selbst zur mythischen Stilisierung.« Pfotenhauer Helmut: Die Kunst als Physiologie, S. 38. Nietzsche »macht sich ein Bild zurecht, in dem gerade die endgültige Entmythisierung der Wissenschaft als die mythischübermenschliche Anstrengung des Wissenschaftlers erscheint.« Pfotenhauer Helmut: Die Kunst als Physiologie, S. 40. »Für Nietzsche besteht das Fortschreiten der kritischen Vernunft nicht in sozialisierter Forschungspraxis, sondern in der Einsicht des fiktionalen Charakters aller menschlichen Geistestätigkeit.« Pfotenhauer Helmut: Die Kunst als Physiologie, S. 40 und 41. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 90. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 90. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 95. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 95. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 100.
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ten Abgründe des Seins« zu reichen glaubte30. Sokrates war für ihn der »Mystagoge der Wissenschaft«31, jener »Wahn« von Wissenschaft aber bedürfe der »Kunst als Schutz und Heilmittel« 32.Denn dieses Bedürfnis entstehe mit der Erkenntnis der Grenzen der Wissenschaft, dort wo der Mensch »in das Unaufhellbare starrt.«33 Nietzsche macht am sokratischen Intellektualismus beispielhaft deutlich, dass eine Wissenschaft, wie sie seit der Aufklärung das abendländische Denken bestimmte und zur »erstaunlich hohen Wissenspyramide«34 führte, letztlich an ihre Grenzen stößt, wenn es um Grundfragen menschlicher Existenz geht. Der Optimismus der Aufklärung, der den Mythos zerstörte, benötigte ihn wieder, um das Leben erträglich zu machen. Jetzt sind es nicht mehr die »titanischen Mächte der Natur«, wie sie der antike Mensch als Bedrohung wahrnahm, sondern eine durch Aufklärung und empirische Wissenschaft »erkaltete Natur«, die das Bedürfnis nach neuen Mythen entstehen ließ. Mythisches Denken gilt als vorrationale Auseinandersetzung mit der »Welt«. Dies bedeutet allerdings nicht, dass mythisches Denken der Rationalität entbehrt. Die Aussagen des Mythos sind mehrdeutig, deshalb aber nicht zwangsläufig irrational. Die Rationalität des Mythos wird im interpretierenden Ansatz des Logos erkennbar, welcher die Struktur und die Ordnung einer Sache beschreibt35. Der Logos erschließt erst den Text des Mythos, welcher immer wieder neue Interpretationen eröffnen kann. Insofern ist der Logos dem Mythos inhärent, denn er lässt etwas erkennen, was bereits mit dem Aufnehmen der Fabel erkannt, aber nicht geäußert werden konnte. Nietzsches Verteidigung des Mythos ist eine Verteidigung von dessen dichterischer Darstellung. Erst die künstlerische Freiheit vermag den »Bann«, den Optimismus der »neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit«, zu durchbrechen und einer »tragischen Erkenntnis« Raum zu verschaffen. Insofern war der Mythos der griechischen Tragödie Nietzsche ein »metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit [...] zu deren Überwindung neben sie gestellt«.36
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Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 99. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 99. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 101. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 101. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 100. Günter Figal: »Über Namen und Begriffe. Mythisches und logisches Denken in Platons Symposion«, S. 240. »Das lateinische Wort für Logos [...] ist textus. In der rhetorischen Tradition ist textus, wörtlich ›Gewebe‹, die Ordnung der Rede und also auch die Ordnung der Sache.« Ebenda. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 151.
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Sein Ansinnen, das szientifische 19. Jahrhundert zu mythologisieren, ist nur ein Beispiel seiner Intention »Mythen, Götzen, Ideologien oder ewige Wahrheiten in jedweder Gestalt« zu destruieren und selbst die Wissenschaft ihrer unaufgeklärten mythischen Setzungen zu überführen37. Damit aber zeichnet sich seine Fragestellung als Fortsetzung einer Dialektik der Aufklärung aus, auch wenn der nihilistische Horizont keine gesicherten neuen Mythen begründen kann. 1.2 Kunsttriebe als Nachahmung des »Apollinischen und Dionysischen« Bereits in der frühen Schrift Die dionysische Weltanschauung thematisierte Nietzsche das »Gefühl« als einen »Komplex von unbewußten Vorstellungen und Willenszuständen.«38 Er band in der Schopenhauernachfolge die Empfindung von »Lust« und »Unlust« nicht an das »freie Spiel der Anschauungskräfte« Kants, sondern an eine Willensmetaphysik, die »Lust« mit der Befriedigung eines Willens und »Unlust« mit dessen Nichtbefriedigung verknüpfte.39 »Lust« und »Unlust« würden ohne Bewusstsein kommuniziert durch eine instinktive und doch zweckmäßig wirkende Gebärden- und Tonsprache40, bei der die Gebärde die das Gefühl begleitenden vorbewusst wahrgenommenen Vorstellungen symbolisiere41. Im Ton zeige sich die Darstellung der »verschiedenen Weisen der Lust und der Unlust«42. Eine Steigerung der »Lust« ließe sich auf den »Ton« zurückführen, der einen gesteigerten Willen ausdrücke. Dieser zeige »Harmonie«, die Nietzsche als »Symbol der reinen Essenz des Willens« und damit als »Weltsymbolik« galt43. Das »dionysische Kunstwerk« erschloss sich für Nietzsche in der Figur des Satyrs, der als »Naturwesen unter Naturwesen in Geberden redet und zwar in der gesteigerten Geberdensprache, in der Tanzgeberde. Durch den Ton aber spricht er die innersten Gedanken der Natur aus [...].«44 Nietzsche postulierte eine »Nachahmung der Natur« und zwar als vorbewusste, mimisch-ontologische Tätigkeit, die sich dualistisch in den »apollinischen« und »dionysischen« »Kunst-
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Claus Zittel: »Mythos/ Mythologie«, S. 289. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA, Bd. 1, S. 572. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA, Bd. 1, S. 572. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA, Bd. 1, S. 572. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA, Bd. 1, S. 574. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA, Bd. 1, S. 574. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA, Bd. 1, S. 574 und 575. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA, Bd. 1, S. 575.
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trieben« zeigt. Diesen entsprechen in der Sprache des Mythos das Verlangen nach Form und Maß und das gleichstarke Verlangen nach deren Auflösung im »Ureinen«. Diese von ihm postulierten künstlerischen Mächte, »die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf direktem Wege befriedigen [...]«45 sind der tiefere Grund seiner Metaphysik der Kunst. Im Falle des Apollinischen ist es die »Bilderwelt des Traumes«, im Falle des Dionysischen eine »rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitserfahrung zu erlösen sucht.«46 Diesen »unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber« sei jeder Künstler »Nachahmer«47. Nietzsche zitiert hier Aristoteles, der die künstlerischen Gattungen den Nachahmungen (mimésis) zuordnete48. Sein Nachahmungsbegriff zielt wie die aristotelische Mimesis auf die »natura naturans«, die schöpferische Natur selbst49. In diesem Sinne sei, so Theo Meyer, die »mimésis« die höchste Form der »poiesis«, sie sei ein »›Abbild‹ des schöpferischen Lebens selbst«50. Als Mutter des mythologischen Dionysos gilt die sterbliche Semele, als sein Vater Zeus, weshalb der mythologische Dionysos das Sterbliche mit dem Unsterblichen verbindet. Wie Christus stirbt Dionysos – er wird aus Eifersucht zerrissen – und wie dieser wird er wiedergeboren; er ist der antike Gott, der im Wahnsinn umherirrt und dessen Zeit erst noch bevorsteht51. Apollon sei dagegen »der Gott aller bildnerischen Kräfte« und zugleich ein »wahrsagender Gott«. »Er, der seiner Wurzel nach der ›Scheinende‹, die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der inneren Phantasiewelt. Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann
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Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 30. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 30. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 30. »Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten– und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen (miméseis).« Aristoteles: Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, S. 37. Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 29. Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 29. »Dionysos soll einst, durch die Mysterien wiedergeboren und vom Wahnsinn befreit, zurückkehren.« Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 113.
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das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und überhaupt der Künste, 52
durch die das Leben möglich und lebenswert gemacht wird.«
Adolf Greifenhagen benennt Apollon den »reinigenden und sühnenden Gott«, »der alles Unreine fern hält« und dessen »Wesen Licht und Klarheit, Maß und Ordnung ist«. Als solcher wirke er im Bereich des Geistes und der Künste, der Religion und des Ethos, des persönlichen und staatlichen Lebens53. Die Griechen hätten, so Nietzsche, die »apollinischen Träume« benötigt, um das Schreckliche der »Philosophie des Waldgottes« zu überwinden oder doch wenigstens zu verhüllen und dem Anblick zu entziehen54. Jener »Philosophie des Waldgottes«, welche die tragische Erkenntnis formuliert, das »Nichtsein« sei das »Ersprießlichste«55 für den Menschen. Angesichts der »erbarmungslos thronenden Moira« und der »titanischen Mächten der Natur« hielten die Griechen die »Traumgeburt der Olympischen« entgegen56. Die von Nietzsche durchgeführte Trennung in »apollinische und dionysische Kunsttriebe« stellt allerdings mehr eine mythologische Polarisierung dar, als dass sie dem Stand der philologischen Forschung entsprochen hätte, denn bereits Aristoteles wie Aischylos und Euripides hätten Apollon und Dionysos als einen, als Bacchischen Gott verstanden. Dies sei zu Nietzsches Zeit und Nietzsche selbst bekannt gewesen57. Holger Schmid erkennt in der Dichotomie des »apollinischen« und »dionysischen« Kunsttriebes einen dualistischen Schematismus, wie ihn bereits Schopenhauer formulierte, als er die Welt in »Wille und Vorstellung« aufspaltete. Diese Dichotomie sei sowohl bei dem frühen als auch dem späten Nietzsche eine Ursache, die das Verstehen der griechischen Kunst verdunkle58. Das Verderbnis bestehe darin, dass Nietzsche sich das Verhältnis des Dionysischen und des Apollinischen nach dem Denkschema von Wille und Vorstellung (d. h. auch: von Ding
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Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 27 und 28. Adolf Greifenhagen: Griechische Götter, S. 15. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 36. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 35. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 35. Zeugnis für die »Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins« waren für Nietzsche der »Geier des menschenfreundlichen Prometheus«, das »Schreckenslos des weisen Oedipus«, »jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermode zwingt.« Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 35 und S. 36. Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, S. 35. Holger Schmid: »Homo natura und homo artista im Reich der zwiefachen Interpretation«, S. 193.
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an sich und Schein) zurecht gelegt habe59. Tatsächlich sei es z. Bsp. Perikles aber nicht darum gegangen »ein Objekt als Welt-Auge zu betrachten oder hämmernd zu bearbeiten, [...] sondern das Werk selbst zu sein.«60 Es ginge um den Begriff der »Transfiguration«, so Schmid, der im Falle des Periklesbeispiels ihn sich als »Mitglied des tanzenden Chores« vorstellen lasse61. Kunst inauguriere eine »höhere Daseinsform« 62. Nietzsche ging es also nicht um eine philologisch abgesicherte Position, sondern um etwas anderes. Die von ihm mythologisierten »Kunsttriebe« wurden ästhetisiert, um über die Ästhetik eine neue Ontologie zu begründen. Sein »Dionysos« greift in mythologischer Form das wieder auf, was ursprünglich mit Mimesis gemeint war: Ein ekstatischer Darstellungstanz, in dem die ursprüngliche Einheit von Individuum, Sozietät und Natur wieder hergestellt wird. »Der Prozess der Individuation, das Aufbegehren des einzelnen gegen sein Schicksal, kommen in der ekstatischen Versöhnung mit der Natur zur Ruhe.«63 Die »Kunsttriebe« Nietzsches sind Ausdrucksformen eines vergleichbaren Verlangens nach Überwindung menschlicher Partikularität und deren Steigerung in der Kunst64. Nietzsches »apollinischer Kunsttrieb« ist »Wille« und »Trieb« zum »Schein«, um die tragische Stellung des Menschen zu überdecken, jenen dunklen »Willen«, den er von Schopenhauer als Grundprinzip allen Daseins übernahm. Dieser »schöne Schein der Traumwelt«65 erreiche sein erhabenes Ziel in der ethischen Forderung des Maßes66, welche mit der ästhetischen Forderung der
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Gemeint ist Schopenhauers Aufspaltung der Welt in »Wille und Vorstellung«. Holger Schmid: »Homo natura und homo artista im Reich der zwiefachen Interpretation«, S. 193. Holger Schmid: »Homo natura und homo artista im Reich der zwiefachen Interpretation«, S. 194. Holger Schmid: »Homo natura und homo artista im Reich der zwiefachen Interpretation«, S. 194. Holger Schmid: »Homo natura und homo artista im Reich der zwiefachen Interpretation«, S. 194. Zitat: Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 7, S. 338. Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, S. 8. »Derselbe Trieb, der die Kunst ins Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins«, so Nietzsche, »ließ auch die olympische Welt entstehen, in der sich der hellenische »Wille« einen verklärenden Spiegel vorhielt.« Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 36. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Schriften, »Die dionysische Weltanschauung«, in: KSA, Bd. 1, S. 554. »Maß, Proportion, Rhythmus – Urbegriffe der griechischen Kunst«. Bernhard Schweitzer: »Platon und die Bildende Kunst der Griechen«, S. 15.
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Schönheit parallel laufe67. Das »Maß« gibt die »Grenze« vor, eine Grenze, die »Schönheit« entstehen lasse und unter dessen »Joch« sich auch die »neue Götterwelt« bewege68. Der Kunsttrieb, der sich im »Apollinischen« äußert, ist bei Nietzsche »Verschleierung der Wahrheit«69 in »gespensterhafter Verdünnung«70, wodurch er der antiken Kosmologie und der Architektur, die wesentlich auf »Maß« und »Zahl« beruhen, »Scheincharakter« attestiert. Für Nietzsche war die »Musik des Apollo« der »Wellenschlag des Rhythmus«, eine »dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind«71. Mit dem Begriffspaar »Apollinisch-Dionysisch« formulierte Nietzsche das »tragische Gleichnis der Welt« durch Kunst, das eine »rätselhafte Verbindung metaphysischer Daseinsdeutung mit der symbolischen Vergegenwärtigung dieser Daseinsdeutung« konzipiert72. Die Erfahrung des »Dionysischen« soll den Rezipienten erschüttern und ihn zugleich von dieser Erschütterung durch das »Apollinische« entlasten73. Erschütterung aber bewirkt die »Qual der Natur und des sich entzweienden Lebens«74. Dagegen aber stelle sich die heilende und helfende Natur, die aus sich heraus den »Schein« erzeuge75. Das Dionysische in der Musik zeige sich in der erschütternden Gewalt des Tones, dem einheitlichen Strom des Melos76. Als weitere Momente des Dionysischen nennt er die Dissonanz und das Hässliche77. Das schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
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Bernhard Schweitzer: »Platon und die Bildende Kunst der Griechen«, S. 15. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Schriften, »Die dionysische Weltanschauung«, in: KSA, Bd. 1, S. 564. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Schriften, »Die dionysische Weltanschauung«, in: KSA, Bd. 1, S. 564. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Schriften, »Die dionysische Weltanschauung«, in: KSA, Bd. 1, S. 565. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S.33. Bernhard Lypp: »Der symbolische Prozess des Tragischen«, S. 127. Bernhard Lypp: »Der symbolische Prozess des Tragischen«, S. 128. Bernhard Lypp: »Der symbolische Prozess des Tragischen«, S. 129. Bernhard Lypp: »Der symbolische Prozess des Tragischen«, S. 129. Nietzsche Friedrich: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 33. Die neue Musik Richard Wagners »ist wie Wasser, in dem man nach einigen Schritten den Boden unter den Füßen verliert. So ist sie, nach dem Zeugnis ihres Schöpfers, auch gemeint. Das Orchester, schreibt Wagner in seiner Programmschrift Zukunftsmusik, halte ›die Melodie selbst im nötigen ununterbrochenen Flusse‹ und teile allein so ihre ›Motive stets mit überzeugender Eindringlichkeit‹ mit. Nietzsche hat recht: Nach einer solchen Musik kann man nicht tanzen.« Günter Figal: Kunst, »Rhythmus als Ordnung der Bewegtheit«, S. 99. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 152.
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Kunst werde einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutung der musikalischen Dissonanz78. Bekanntlich war es die Musik Richard Wagners, die Nietzsche »hörte«, als er die frühen Gedanken zur Charakteristik des Dionysischen formulierte: Der »dionysische Künstler« ist »gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, wenn anders diese mit Recht eine Wiederholung der Welt und ein zweiter Abguss derselben genannt worden ist; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleichnishaften Traumbilde, unter der apollinischen Traumwirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichnis oder Exempel.«79
Die Darstellung des »inneren Wesen des Willens« sei die Aufgabe der Musik, ihre »Befähigung« den »Mythus d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebären«, den »tragischen Mythus«80. Das »dionysische Element« des Musikers sei »völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben«81. Wenn Nietzsche über den »Urschmerz« der Individuation nachdenkt, so denkt er zugleich dessen Auflösung mit, der durch einen rauschhaften, »ästhetischen Zustand« ausgelöst werden soll. Erst im »ästhetischen Zustand« wird für ihn die eigentlich tragische Erkenntnis erreicht und damit die einzige Rechtfertigung des künstlerischen Phänomens gegeben. Mit der Formulierung dieser Forderung wendete sich Nietzsche gegen Aristoteles und dessen Mimesiskonzept in der Poetik. Denn Aristoteles ging es beim tragischen Schauspiel um die Evokation von »Furcht und Mitleid«, welche Nietzsche als schädliche Affekte einstufte. Denn »etwas, was habituell Schrecken oder Mitleid erregt, desorganisiert, schwächt, entmuthigt [...]«82. Damit, so Iris Därmann, sei Aristoteles »derselben, wenngleich umgekehrten Logik Platons gefangen« geblieben83. Nietzsche ging es dagegen um Steigerung durch Erkenntnis und nicht um schwächende Affekte.
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Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 152. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 44 und S. 45. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 107. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 45. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: KSA, Bd. 13, S. 410. »Das ›große Mißverständnis des Aristoteles‹ beruht auf der Sokratischwissenschaftlichen Stigmatisierung von Pathos und Leidenschaft und der daraus folgenden Einsicht in die vermeintliche Notwendigkeit ihres Exorzismus, als dessen bloßes Mittel die tragische Kunst missbraucht wird.« Iris Därmann: »Rausch als ästhetischer Zustand«, S. 134.
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Wie ist aber der »dionysische Rausch« zu denken, der zur »tragischen Erkenntnis« führt? Nietzsche konnte dies begrifflich nicht formulieren, weil es sich um einen »ästhetischen Zustand« handelt, der durch das tragische Kunstwerk erst hervorgerufen wird. Die Transfiguration in einen »dionysischen Satyr beruht ohne Frage auf einer doppelten Fremderfahrung und Entladung [...]«84. Der »Fremderfahrung des objektlosen Rausches« entspricht der mit »der Annahme einer neuen Identität verbundenen Fremderfahrung der kathartischen Verwandlung in einen Gefährten des Dionysos«85. Diese entlade sich in der »apollinischen Bilderwelt« des Traumes86. Der Rausch wird damit, so Iris Därmann, »einem schöpferisch-visionären Programm unterstellt [...].«87 Dieses bedarf der Erfahrung der dionysischen Entgrenzung, um daraus die »apollinische Form« oder Bilderwelt zu generieren, die dann das eigentlich Tragische enthält und in der Rezeption des Kunstwerks erfahrbar macht. Nietzsches Konzept der Mimesis verbindet also den »ästhetischen Zustand« mit der »tragischen Erkenntnis« und soll gerade dadurch stimulieren. Der »apollinische Kunsttrieb« strebt nach exakten Bestimmungen, er ist Proportion und Rhythmus und bestimmt vor allem die bildenden Künste und dazu gehörte für Nietzsche, als er an der Geburt der Tragödie arbeitete, auch die Architektur88. Akzeptiert man seinen Ansatz des »Apollinischen« und des »Dionysischen« als Interpretationsansatz antiken Kunststrebens und überträgt ihn auf die Architektur, so wird die Beschränkung auf das »Apollinische« in der Interpretation ihrer Wirkung nicht gerecht. Dorische Architektur ist sowohl »apollinisch« als auch »dionysisch«. So wie Nietzsche die griechische Tragödie als Produkt eines »Rausch- und Traumkünstlers«89 betrachtete, durchwirkt von »dionysischem« und »apollinischem Kunsttrieb«, finden sich die postulierten »Kunsttriebe« auch in der Architektur. Neben den »apollinischen Proportionsbeziehungen«, den pythagoreischen Musikintervallen, der Ornamentik und der konstruktiven Durchbildung, ist die griechische Architektur eine »dionysische« Kunst im nietzscheanischen Sinne. Ihr »Urschmerz« des »Dionysischen« zeigt
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Iris Därmann: »Rausch als ästhetischer Zustand«, S. 135. Iris Därmann: »Rausch als ästhetischer Zustand«, S. 135. Iris Därmann: »Rausch als ästhetischer Zustand«, S. 135. Iris Därmann: »Rausch als ästhetischer Zustand«, S. 128. Das Dorische war Nietzsche »nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären: nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanischbarbarische Wesen des Dionysischen konnte eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst [...] von längerer Dauer sein.« Nietzsche Friedrich: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 41. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 30.
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sich in der Darstellung von »Tragen und Lasten«. Wenn die Kunst bei Nietzsche, wie Bernhard Lypp es formulierte, symbolisch für Erschütterung und Entlastung steht, so muss sie ihre Elemente »auseinanderreißen«, um sie dann wieder in eine apollinische Struktur zu übertragen90. Erst nach der Vereinzelung ihrer Elemente kann das symbolisch sichtbar werden, was das einzelne Lebendige als tragisch kennzeichnet. Die Aufteilung der Architektur in ihre Glieder, ihr »Zerreißen«, ist ihr dionysischer Anteil, ihr Aufgehen in einem architektonischen Organismus ist ihre symbolische Entlastung im »apollinischen Schein«. Im »Zerreißen« der Architektur werden ihre inneren Kräfte in der Darstellung von »Tragen und Lasten« offengelegt, so dass das sichtbar wird, was Schopenhauer als Charakteristikum klassischer Architektur bezeichnete, der allen Dingen zugrunde liegende »Wille« im Bereich der Architektur91. Dessen Darstellung in der dorischen Architektur entspricht Nietzsches Bild einer latenten, tragischen Symbolik in der antiken griechischen Kunst. Architektur hört auf »nur schön« zu sein, nur Darstellung von »Maß« und »Grenze«, sie offenbart etwas, das mit dem Begriff des »Erhabenen« zu tun hat, den unheimlichen Kräften und Mächten, dem sich das »Dionysische« aussetzt. Dorische Säulen können als Symbole der Naturkräfte gelesen werden und sind darin dem Satyrchor in der Tragödie vergleichbar92. In ihnen zeigt sich eine
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»Der Handwerker ist überhaupt nicht fähig, sein Werk zu schaffen, ohne irgend eine Ordnung zu verletzen oder zu zerstören, durch eben die Kräfte, die er an den Stoff wendet, um ihn für die Idee, der er folgt, geeignet zu machen und nützlich für den Gebrauch, den er beabsichtigt. Er ist also unvermeidlich gezwungen, Gegenstände hervorzubringen, deren Ganzheit einen Gradwert besitzt, der geringer ist als der Gradwert ihrer Teile. Er macht einen Tisch, und die Zusammensetzung dieses Möbels ist eine Anordnung, weniger zusammengesetzt als die Anordnung der Fasern im Holz; und er fügt in grober Weise in einer fremdartigen Ordnung die Stücke eines großen Baumes zusammen, die sich gebildet und entwickelt hatten unter ganz anderen Bedingungen.« Paul Valéry: Eupalinos oder Der Architekt, S. 92. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 484-493. Ein Beispiel für die Darstellung der Naturkräfte gibt Christian Norberg-Schulz mit dem Heratempel in Paestum: »[...] Trotzdem strahlt der Tempel eine einzigartige plastische Kraft aus. Das rührt von der betonten Schwellung (Entasis) des Säulenschafts und von der ungewöhnlichen Größe und Form des Kapitells her. Wo der Schaft auf den Echinus trifft, drückt eine kreisrunde Rille das Hochstemmen eines ungeheuren pressenden Gewichts aus. Als Symbol verkörpert die Säule den grundsätzlichen erdverhafteten Charakter, der durch den Bau in einer endgültigen Form dargestellt werden sollte. Der zweite Heratempel symbolisiert nicht mehr die gewaltigen chthonischen Kräfte, denen wir beim ersten Tempel begegneten. [...]« Christian Norberg-Schulz: Vom Sinn des Bauens. Die Architektur des Abendlandes von der Antike bis zur Gegenwart, S. 31.
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Natur in der »künstlerischen Bändigung des Entsetzlichen« als Erlebnis des »Erhabenen«93. Die gesamte klassische Ornamentik kann als Inkorporation der Naturmächte in das Regelwerk der Architektur verstanden werden. Das »Dionysische« ist das Sinnbild von Natur, es ist ständige Veränderung im Fluss des »Ureinen« und es soll das Dionysische in seinen Rauschzuständen stimulieren, indem es vollkommen den Instinkt entbindet und darin den Willen diffundieren lässt94. Damit kommt den vorbewussten Instinkten bei Nietzsche ontologische Bedeutung bei. Denn wenn die Schleusen instinktgebundenen Handelns geöffnet werden, zeigt sich im ausformulierten Werk ein noch nicht verstelltes »Natürliches«, von dem eine entsprechende Stimulation ausgeht. Im Unterschied zum »Dionysischen«, welches auch das Zerstörerische in sich trägt, indem seine Lust in der Auflösung und dem Rausch entsteht, intendiert das »Apollinische« das »Aufbauende«, die ästhetische Ordnung der Struktur und der Dauer, das platonisch-pythagoreische Band der Proportionen. Die apollinische Formkonstruktion formuliert die rationale Struktur von Kunst stellt und wie jede Organisationsform des Lebens ein fiktives Modell dar. Als fiktiver Schein ist es ein Phänomen, das für Nietzsche die tiefere Wahrheit des »Dionysischen« verstellte. Hemelsoet, Biebuyck und Praet kommen deshalb zu dem Schluss, dass, wer völlig in die apollinische Gesellschaftsstruktur aufgenommen worden sei, keine Einsicht in den Sinn allen Geschehens oder in die Bedeutung des eigenen Verhaltens bei Nietzsche haben könne 95. Diese Einsicht gewähre erst der dionysische Zustand, der ein esoterisches Wissen eleusinischer Mysterien darstelle96. Den Epopten, die als kleine Schar Auserwählter den schrecklichen Glanz der Wahrheit ertragen könnten, stehe die große Menge entgegen97. Nietzsche dachte sich seine dionysische Wahrheit im principium individuationis, die als chthonische Gottheit wiedergeboren werden könne. Dann allerdings erscheint sie als die Kunst, die den »Bann der Individuation zu zerreißen« vermag98. »Jene stille Einfalt und edle Würde, die Winckelmann begeisterte«, so Nietzsche, »bleibt etwas Unerklärliches, wenn man das in der Tiefe fortwirkende
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Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 57. Bernhard Lypp: »Apollinisch- Dionysisch: Ein unhaltbarer Gegensatz«, S. 367. Koenraed Hoemelsoet, Benjamin Biebuyck und Danny Praet: »Jene durchaus verschleierte apollinische Mysterienordnung«, S. 22. Koenraed Hoemelsoet, Benjamin Biebuyck und Danny Praet: »Jene durchaus verschleierte apollinische Mysterienordnung«, S. 22. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: KSA, Bd. 7, S. 176 und S. 177. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: KSA, Bd. 7, S. 178.
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Mysterienwesen außer Acht läßt.«99 Erst nachdem sich die »ekstatischen Zustände in die Mysterienordnungen eingesponnen hatten, war die größte Gefahr für die apollinische Welt beseitigt [...].«100 Nietzsches Begriffspaar »Dionysisch-Apollinisch« ist eine Interpretation der Antike aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts101 , es ist aber auch ein Modell zur Deutung des mimetischen Prozesses bei der Entstehung von Kunst. Das, was sich in den Mysterienhandlungen ereignete, war eine mimische Erfahrung und diese Erfahrung stellte die zerrissene Einheit durch die Kunst im »apollinischen Schein« wieder her. 1.3 Nietzsche und die »Physiologie der Kunst« Nietzsches Gedanken zur Kunst münden in seiner Spätphilosophie in eine »Physiologie der Kunst«. Diese, so Jörg Gleiter, stehe unmittelbar im Kontext seines über Jahre hinweg verfolgten, großen metaphysischen Entwurfs »Der Wille zur Macht«, dessen Scheitern im Spätsommer des Jahres 1888 von Nietzsche erkannt worden sei102 . »Der Wille zur Macht« sei, so István M. Fehér, Nietzsches ontologisches Grundprinzip, das sowohl dem Leben als auch der Kunst als dessen höchstem Ausdruck und gesteigerter Form zugrunde liege103. »Der Wille zur Macht« ist ein programmatischer Anti-Darwinismus, der den Überlebenserfolg nicht in einer Anpassungsleistung erkennt, sondern »das Wesentliche am Lebensprozeß« in einer ungeheuren, gestaltenden, von Innen her formschaffenden Gewalt postuliert104. Nietzsches Neuinterpretation von Schopenhauers Willen resultierte aus der Lektüre physiologisch-medizinischer Studien seiner Zeit105, anhand deren Er-
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Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: KSA, Bd. 7, S. 176. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: KSA, Bd. 7, S. 176. »Das historisch–philologische Gerüste um diese halbmythische Geschichte der Deutung der antiken Tragödie konnte der fachwissenschaftlichen Kritik nicht Stand halten. Die Einwendungen, die von dieser Seite sogleich nach dem Erscheinen des Werkes gegen dasselbe erhoben wurden, brauchen aber hier nicht wiederholt zu werden. Was geht auch eine philosophische Dichtung ihr philologisches Gerüste an?« Alois Riehl: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und Denker, S. 50. Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 103. István M.Fehér: »Kunst und Wille zur Macht – Nietzsches Kunstdenken«, S. 181. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 304. »Nietzsche fertigte weitläufige Exzerpte aus den Werken von Charles Féré, Alexander Herzen und Leo Löwenfeld an, er übernahm aber nicht einfach deren Befunde. [...]« Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur,
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gebnisse er seinen »Willen zur Macht« untermauerte. Mit der »Physiologie der Kunst« gab er dann diesem »Willen« seine stärkste Ausprägung, indem er die Kunst zur eigentlich metaphysischen Angelegenheit erklärte. Nietzsche glaubte, so Helmut Pfotenhauer, im Bruderpaar des »Apollinischen« und des Dionysischen« »einen nicht unbedeutenden Rest von Metaphysik, von Zuflucht zu Quietiven, von Sehnsüchten nach einem Halt am Bewusstsein der ersten und letzten Dinge, exstipieren zu müssen.«106 Beiden Kunsttrieben sei das Motiv der Erlösung inhärent, denn »schöner Schein« und »dionysische Rückkehr zum Ureinen« seien mit Selbstpreisgabe und selbstvergessener Unterwerfung verbunden107. Das Programm einer »Erlösung durch Kunst« geht auf Schopenhauers vom Pessimismus bestimmten Ästhetik zurück.108 Dessen »willensreine Subjekt des Erkennens«109 erfahre sich in der kontemplativen Betrachtung der Kunst, um einem allesdurchdringenden und Leiden verursachenden »Willen« zu entkommen110 . Wenn Nietzsche von einer »Physiologie der Kunst« spreche, so ginge es ihm nicht um ein Quietiv durch Kunst, sondern Traum und Rausch, so Helmut Pfotenhauer,
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S. 145. Gleiter führt den aktuellen Forschungsstand zu Nietzsches Lektüre medizinisch-physiologischer Studien auf. Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, S. 225. Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, S. 225. Walter Schulz zeigt den wesentlichen Unterschied von Nietzsches und Schopenhauers Ansatz auf: »Philosophisches Denken, das durch die Erscheinung, den Schleier der Maja, durchdringt, erschließt die wirkliche Welt als eine widersprüchliche Welt von Negativität, in der die Unvernunft regiert und regieren muß, weil das Weltprinzip, der Wille als Ding an sich, selbst reine Negativität ist. Der Wille ist als Wille in sich selbst entzweit und muß sich als unersättlich ständig weitertreiben: er ist die Quelle allen Leidens. Von diesem Leiden erlöst die Kunst. Kunst fungiert als Entlastung; Schopenhauer reflektiert die Kunst also vom Lebensvollzug her, als Möglichkeit des ›Quietivs‹, wie er sagt.« Walter Schulz: »Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie«, S. 19. Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, S. 490. »Meine Lösung ist gewesen, dass wir im Schönen allemal die wesentlichen und ursprünglichen Gestalten der belebten und unbelebten Natur, also Platons Ideen derselben auffassen und dass diese Auffassung zu ihrer Bedingung ihr wesentliches Korrelat, das willensreine Subjekt des Erkennens, d. h. die reine Intelligenz ohne Absichten und Zwecke habe. Dadurch verschwindet beim Eintritt einer ästhetischen Auffassung der Wille ganz aus dem Bewusstsein. Er allein aber ist die Quelle aller unserer Betrübnisse und Leiden. Dies ist der Ursprung jenes Wohlgefallens und jener Freude, welche die Auffassung des Schönen begleitet.« Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II, S. 490 und 491.
192 | M IMESIS UND MODERNE A RCHITEKTUR »werden zu zwei Seiten eines Sachverhalts: der gesteigerten Erregung, der Mobilisierung aller physischen und, daraus abgeleitet, der mentalen und psychischen Kräfte, kurz, des Zustands der Fülle.«
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Nur im physiologischen Grundgefühl des Rausches als ästhetischem Zustand, so Jörg Gleiter, könne es gelingen, die Dichotomie zwischen dem vernünftigen und intuitiven Menschen und damit die Gegensatzformel des Apollinischen und Dionysischen aufzulösen112 . Dem späten Nietzsche wurde diese Trennung zunehmend irrelevant, da er in Zusammenhang mit seiner Theorie des »Willens zur Macht« zwei Grundgedanken, so Rainer Schäfer, miteinander vereine: Alles was sei, sei »Wille zur Macht« und das kosmologische Geschehen ereigne sich in der »ewigen Wiederkehr des Gleichen«. Das Dionysische sei dabei der entscheidende Verbindungspunkt, der diese beiden Grundgedanken miteinander kompatibel mache113. Das »Gesetz unter Gesetzen« Nietzsches lässt sich dann deuten als die »ewige Wiederkehr des Gleichen«, als die sich wiederholenden Ausprägungen des »Willens zur Macht«, der sich als das »Dionysische« in der »Bejahung des Lebensganzen« zeige114. Die »ewige Wiederkehr des Gleichen« ist deshalb Teil einer »Physiologie der Kunst« als mimetischer Ausdruck und Spiegelbild gesteigerter Lebenstätigkeit. Die Verfasstheit des Künstlers inkorporiere alles Fremde, alle äußere Natur und mache sie sich als Mittel einer ins Höchste gesteigerten Lebens- und Schöpferkraft zu eigen115. Pfotenhauer zeigt einen verwandelten nietzscheanischen Dionysos, der dem Fremden nicht nur mit »physiologischer Reizbarkeit« und »extremer Empfänglichkeit« gegenübertritt, sich in es hineinlebt, sondern das »Äußere« in sich einzuverleiben strebt, um es dann als expressives Potential zu nutzen116. Empfänglichkeit für Reize und Zeichen ist mimisches Verhalten und damit, so behauptet Nietzsche, werde erst ein Höhepunkt an Mitteilsamkeit erreicht. Künstlerische Reizbarkeit wird zur physiologischen Grundlage von erhöhter Mitteilungsfähigkeit, und damit zur »Quelle der Sprachen«117. Nietzsche er-
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Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, S. 225. Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 150. Rainer Schäfer: »Die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche«, S. 198. Rainer Schäfer: »Die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche«, S. 199. Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, S. 225. Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, S. 226. »Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhe-
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kannte in den mimischen Bewegungen, der Gestik und den Tönen, mit denen die Mitteilung eines Gedankens unterstützt wird, den eigentlichen Ursprung von Mitteilung überhaupt. Mimische Darstellung durch Zeichen und Ähnlichkeiten waren ihm ein »volleres Vermögen« der Mitteilung als die mimischen Reste, die in die gesprochene Sprache eingeflossen sind118. »Jede Erhöhung des Lebens«, so Nietzsche in einem späten Fragment, »steigert die Mittheilungs-Kraft, insgleichen die Verständniß-Kraft des Menschen. Das Sichhineinleben in andere Seelen ist ursprünglich nichts Moralisches, sondern eine physiologische Reizbarkeit der Suggestion [...]. Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden...«
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Das sich »Hineinleben« in Verbindung mit physiologischer Reizbarkeit sind notwendige Voraussetzungen für die künstlerische »Transformation«120 . Die Imaginationskraft des Künstlers werde getrieben von einem »rauschhaften Fieber« des Schaffenden, der von der »Liebe«121 ergriffen, sich über sein Werk befreie. Bei den Tieren treibe dieser Zustand neue Waffen, Pigmente, Farben und Formen heraus, vor allem neue Bewegungen, neue Rhythmen, neue Locktöne und Verführungen122. Hans Heinz Holz bezeichnet Nietzsches »innere Mimesis«,
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punkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebendigen Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen. – die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen, so gut als die Gebärden- und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Culturmensch-Vermögen sind subtrahirte aus volleren Vermögen. Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln.« Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 296 und 297. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 297. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 297. »Die Kunst«, so Nietzsche, »erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; anderseits eine Anregung der animalischen Funktion durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens; – eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben.« Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 394. Nietzsches Reminiszenz an den platonischen Eros. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 299. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 299 und 300. »Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort die Suggestion jenes intestinalen Fiebers ab: was bleibt von der Lyrik und Musik übrig? [...] L’art pour l’art vielleicht:
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die sich in Bewegungsgesten oder in emphatischen Signaturen zeige, als ein Nachgeben gegenüber einem inneren Vitaldruck. Jene reinen Ausdrucksgebärden entzögen sich bildhafter Vergegenständlichung. Sie seien Ausdruck eines leib-seelischen Zustands, einer inneren Verfassung, die sich in Körperhaltung, Bewegung und Mimik ausdrücke und von innen nach außen gerichtet sei123 . Der Dionysos der Geburt der Tragödie strebt das Aufgehen in einem »Ureinen« an und unterscheidet sich vom Dionysos des späten Nietzsche, der eine Produktionsästhetik einfordert124, die mit Ausnahmezuständen einhergeht und mit pathologischen Zügen, so Nietzsche, tief verwandt und verwachsen sei125 . Für Nietzsche bestand das mimische Vermögen des Künstlers in der besonderen Reizbarkeit seiner Physiologie126 . Er plädierte für einen Subjektivismus, der sich in einer »Kunst des großen Rhythmus, der große Stil der Periodik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und Nieder von sublimer, von übermenschlicher Leidenschaft« darstellt127 . Der Sinn jeden Stils sei es, »einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das Tempo dieser Zeichen
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das virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpfe desperieren [...] Den ganzen Rest schuf die Liebe [...]. Ebenda. Hans Heinz Holz: Der ästhetische Gegenstand. Philosophische Theorie der bildenden Künste 1, S. 158 und 159. »Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch-Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; erster im Geben – dergestalt, dass ein Antagonismus dieser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswerth ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik, – vom Künstler verlangen, daß er sich in die Optik des Zuhörers (Kritikers,-) einübe, heiß verlangen, daß er sich und seine spezifische Kraft verarme...« Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 357. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 356. Nietzsche nennt drei charakteristische Momente, die im Künstler gleichsam zur »Person« gezüchtet seien: »1. Der Rausch: das erhöhte Machtgefühl; die innere Nöthigung, aus den Dingen einen Reflex der eigenen Fülle und Vollkommenheit zu machen – 2. Die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine ganz andere Zeichensprache verstehen – und schaffen... – dieselbe, die mit manchen Nervenkrankheiten verbunden erscheint – [...] ein explosiver Zustand [...] eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von Innen wirkender starker Reize [...] 3. Das Nachmachen-Müssen: eine extreme Irritabilität, bei der sich ein gegebenes Vorbild contagiös mittheilt, – ein Zustand wird nach Zeichen schon errathen und dargestellt [...].« Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 356 und 357. Friedrich Nietzsche: Ecce homo, KSA, Bd. 6, S. 304 und 305.
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mitzuteilen [...].«128 Da es aber eine Vielheit innerer Zustände gebe, gebe es auch viele Möglichkeiten des Stils129. Die Kernthese von Nietzsches »Physiologie der Kunst« schließt die Hoffnung aus, eine humanistische Kunst könne sich mit den positiven Wissenschaften verbinden und sich auf diese Weise weiterentwickeln. Schinkel besaß, wie vorne dargestellt, einen dialektischen Kunstbegriff und forderte eine Architektur, die die szientifischen Neuerungen integrierte. Sein Humanismus verband sich mit dem teleologischen Geschichtsmodell der hegelschen Philosophie und besitzt im Szientismus seine treibende Kraft. Nietzsches »Physiologie der Kunst« ist dagegen mit der Bindung an die Physiologie des Menschen ahistorisch und nicht dialektisch. Seine sublimierte »apollinisch-dionysische« Kunst differenziert nicht mehr zwischen einem Geistigen und Materiellen, sondern naturalisiert das Geistige. 1.4 Nietzsches »großer Stil« Nietzsches Idee des »großen Stils« ist Teil und Steigerung seiner »Physiologie der Kunst«. Der »große Stil« sollte das überwinden, was Nietzsche unter die Begriffe »décadence« und »Nihilismus« subsumierte. Die Grundstruktur von Nietzsches Denken schloss wie die von Schopenhauer und Burckhardt130 eine Teleologie in der Geschichte grundsätzlich aus. Das »Uranfängliche« einer archaischen Mythologie wird nicht grundsätzlich vom modernen Mythos des Szientismus in ihren Wahrheitsansprüchen unterschieden. Nietzsches zyklisches Denkmodell formuliert eine »ewige Wiederkunft des Gleichen«, mit der die Geschichte als sich wiederholender Prozess vorgestellt wird. Die postulierte »Umwertung aller Werte« soll die »europäische décadence« einem Nihilismus entkommen helfen, nicht indem etwas völlig Neues installiert wird, sondern indem ein wirkmächtiges »Uranfängliches« sein Potential für die Gegenwart öffnet.
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Friedrich Nietzsche: Ecce homo, KSA, Bd. 6, S. 304. Friedrich Nietzsche: Ecce homo, KSA, Bd. 6, S. 304. »Die Wirkung des Hauptphänomens ist das geschichtliche Leben wie es tausendgestaltig, komplex, unter allen möglichen Verkappungen, frei und unfrei daherwogt, bald durch Masse, bald durch Individuen sprechend; bald optimistisch, bald pessimistisch gestimmt, Staaten, Religionen, Kulturen gründend und zerstörend, bald sich selbst ein dumpfes Rätsel, mehr von dunklen Gefühlen, die durch Phantasie vermittelt sind, als durch Reflexion geführt, bald von lauter Reflexion begleitet und dann wieder mit einzelnen Vorahnungen des viel später erst sich Erfüllenden.« Burckhardt Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 9.
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Die Idee des »großen Stils« als Folge von Nietzsches »Physiologie der Kunst« spricht der »Physiologie« einen ontologischen Status zu. In diesem Zusammenhang erhält der Architektur eine größere Bedeutung, ist sie doch die Kunst, mit der sich der »Wille zur Macht« am wirkungsvollsten für Nietzsche darstellte. Nietzsche konnte an Jacob Burckhardt und »seiner Psychologie der Macht auf dem Gebiete der Kunst«131 anknüpfen. Burckhardts Beschreibung der Renaissancearchitektur diente als Vorlage von Nietzsches »großen Stil«, der im Kern zu einer neuen »Klassik« tendiert, ohne klassisch im Sinne von Winckelmann zu sein. Nietzsche habe den Begriff des Klassischen gegen den »Strich der Bildungskonvention« gebürstet132. Für ihn bemaß sich die Größe eines Künstlers nicht nach den »schönen Gefühlen«, die er errege, sondern nach dem Grad, in dem er sich dem »großen Stile« und damit in welchem Maße er des »großen Stiles« fähig sei. Dieser Stil habe mit der großen Leidenschaft gemein, dass er es verschmähe zu gefallen133. Als Beispiel nennt Nietzsche den Palazzo Pitti (Abb. 13): »Noch niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf? .. Hier liegt ein Problem. [...]«134 Musik galt Nietzsche als »Gegenrenaissance in der Kunst«, als »Gesellschafts-Ausdruck« der décadence135 . Abbildung 13: Filippo Brunelleschi: Palazzo Pitti, 1458-1631.
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Fritz Neumeyer: Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen, S. 180. Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie, S. 127. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 246. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 247. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 247.
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Die Polarisierung von Musik und Architektur ordnet die Musik, mit der Nietzsche vor allem Wagners Musik und seine »romantisch-bizarren Unergründlichkeiten«136 meinte, als »instinktive Widersacher des klassischen Geschmacks, des strengen Stils, [...]«137 ein. Die Konzeption des »strengen Stils« beinhaltet einen »klassischen Pessimismus« im Gegensatz zum »romantischen«138 . Was aber ist unter einem »klassischen Pessimismus« zu verstehen und wie verbindet dieser sich mit der »Physiologie der Kunst« zum »großen Stil«? Nietzsche hat die Position des Nihilismus nie aufgegeben, ihr aber seinen postulierten Vitalismus der Kunst gegenübergestellt. Kunst, so schreibt Nietzsche im Vorwort an Richard Wagner in der Geburt der Tragödie, sei die eigentliche metaphysische Tätigkeit dieses Lebens139. Diese Kunst, so Eugenio Mazzarella, sei wesentlich Wille zum Schein140 und sie sei die »Gegenbewegung gegen den Nihilismus und gegen die décadence der Wahrheiten der Religion, der Moral, der Philosophie [...].«141 Nietzsches »Lehre von der ewigen Wiederkehr« ist eine vitalistische Antwort, formuliert mit einer »Physiologie der Kunst«, die als Ontologie des Leibes notwendig mit den chthonischen Mächten und dem Tod konfrontiert ist142 . Nietzsche schlug sich auf die Seite der »anciens«143, indem er einen lebensbejahenden »physiologischen Affekt« in der klassischen Kunst annahm, die sich durch »Strenge« und »Geschlossenheit« dem Geist der »décadence« entgegen zu stellen habe144 . Diese klassische Kunst ist eine pessimistische Kunst, da sie keine Teleologie besitzt und Ausdruck zyklischer Vorgänge ist.
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144
Fritz Neumeyer: Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen, S. 180. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 248. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 13, S. 229 und S. 230. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, S. 24. Eugenio Mazzarella: »Der Wille zur Macht als Wille zur Form: Nietzsche«, S. 158. Eugenio Mazzarella: »Der Wille zur Macht als Wille zur Form: Nietzsche«, S. 158. Siehe auch:Eugenio Mazzarella: »Der Wille zur Macht als Wille zur Form: Nietzsche«, S. 163. »Danach scheint es, als schreibe Nietzsche unbekümmert die Querelle des anciens et des modernes als Parteigänger »der Alten« fort (vgl. KSA 5, S. 190), [...].« Jürgen Söring, »Natur und Kunst oder Dionysos und Apollo«, S. 127. »Die Antithese ›dionysisch‹ – ›romantisch‹ wird überlagert von der Antithese ›klassisch‹ – ›romantisch‹. Die klassische Form ist der höchste Ausdruck des Willens zur Macht [...] Dies ist die Symbiose von Wille zur Macht und Klassizität. Sie erwächst aus dem bei Nietzsche in aller Hervorkehrung des dynamischen Lebensprozesses doch erkennbaren Bestreben, sich an einer absoluten Kunstform, einer Kunst des klassischen Maßes und der klassischen Überlegenheit, zu orientieren [...].« Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 89.
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Die Kunst solle das Überzeitliche des »Willens« in eine vollendete Kunstform des Typischen überführen. Dagegen steht die eigentliche Modernität als »Sinn und [...] Lust an der Nüance«, der sich die »Lust und die Kraft im Erfassen des Typischen« entgegenstelle145. Dies gleiche »dem griechischen Geschmacke der besten Zeit [...]. Die Ausnahme wird umgekehrt bei Seite gestellt, die Nuance weggewischt. Das Feste, Mächtige, Solide, das Leben, das breit und gewaltig ruht und seine Kraft birgt – das ›gefällt‹ : d. h. das correspondiert mit dem, was man von sich hält.«
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Nietzsches klassisch gedachter Dionysos ist nicht mehr der romantisch eingefärbte Dionysos des »Ureinen«, sondern ein Dionysos der durch geschlossene Form, Strenge und Kontur die subtile Nuance übertönt.147 Im Herbst 1887 postuliert Nietzsche unter dem Titel »Aesthetica« eine gewaltsame Struktur des »Klassischen«: »Um Classiker zu sein, muß man alle starken anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so daß sie mit einander unter Einem Joche gehn [...] kein reaktiver, sondern ein schließender und vorwärts führender Geist, Ja sagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß [...].«
148
Helmut Pfotenhauer erkennt beim späten Nietzsche eine »Physio-Logie als Symbolsprache des vergöttlichten Lebens«149 . Die Sprache des »großen Stils« legitimiere sich durch ihre evokative Kraft und durch die Bilder, in welchen dem Werden und Vergehen die Apotheose zuteil werde, in denen sie göttliche Gestalt gewinne150. Theo Meyer spricht davon, dass sich ein »disziplinierter Dionysos« zu Wort gemeldet habe151. Das »Klassische sei die ästhetische Objektivation des »Dionysischen«; nicht mehr die verschwimmenden Umrisse des Romantischen, sondern die klaren Konturen der Latinität seien nun Nietzsches Stilideal152.
145 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 289. 146 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 289 und 290. 147 Nietzsche habe »Dionysos« den Repräsentaten des »Großen Stils« bezeichnet. Karl Heinz Bohrer: »Das Problem des Sinns«, S. 29.« 148 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 433 und 434. 149 Helmut Pfotenhauer: »Physiologie der Kunst als Kunst der Physiologie?«, S. 404. 150 Helmut Pfotenhauer: »Physiologie der Kunst als Kunst der Physiologie?«, S. 404. 151 Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 90. 152 Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 90.
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Die Idee einer neuen Klassizität geht einher mit der »Idee des Erhabenen«, denn der »strenge Stil«, der sich in den Mitteln beschränkt und gewaltsam das Widersprüchliche zu einer geschlossenen Figur zusammenschließt, entstammt einem Unheimlichen, gegen das er sich formuliert. In den nachgelassenen Schriften findet sich das Essay Die Geburt des tragischen Gedankens, in dem Nietzsche grundlegende Gedanken formulierte, die er später in der »Physiologie der Kunst« wieder aufgriff. Nietzsche wendete sich bereits dort der klassisch hellenischen Epoche zu und erkannte den hellenischen Willen »mit seinem apollinisch-optimistischen Grundprincip« das, einer »Naturheilkraft« vergleichbar, die »verneinende Stimmung wieder umzubiegen« vermochte153. »Vor allem galt es jene Ekelgedanken über das Entsetzliche und das Absurde des Daseins in Vorstellungen umzuwandeln, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Lächerliche als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden.«
154
Nietzsches Idee des Dionysischen wurde mit dem apollinischen Willen zum Schein und in der Tragödie zur klassischen Kunst und damit zu einem überzeitlichen Ideal155 . Er forderte eine Klassik, wie sie bereits im Zeitalter des Augustus thematisiert wurde, die sich gegen die überbordende Bewegtheit und den Schwulst des Hellenismus wandte, ohne in museale oder blutleere Klassizismen zurückzufallen. Die in den späten nachgelassenen Schriften getroffenen Aussagen zur Ästhetik kreisen um Begriffe wie »Schönheit« und »Vollkommenheit«156 . An anderer Stelle der Textfragmente vom Herbst 1887 wird das »Schöne« zu den biologischen Werten des
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156
Friedrich Nietzsche: Die Geburt des tragischen Gedankens, KSA, Bd. 1, S. 595. Friedrich Nietzsche: Die Geburt des tragischen Gedankens, KSA, Bd. 1, S. 595. »Es war das apollinische Volk, das den übermächtigen Instinkt in die Fesseln der Schönheit schlug, es hat die gefährlichen Bestien der Natur in das Joch gespannt.« Friedrich Nietzsche: Die Geburt des tragischen Gedankens, KSA, Bd. 1, S. 586. »Bilder des erhöhten siegreichen Lebens und ihre verklärende Kraft: so daß eine gewisse Vollkommenheit in die Dinge gelegt wird Umgekehrt: wo die Schönheit der Vollkommenheit sich zeigt, wird die Welt der Sinnlichkeit des Rausches mit erregt, aus alter Verwachsenheit.« Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 341 und 342.
200 | M IMESIS UND MODERNE A RCHITEKTUR »Nützlichen, Wohltätigen, Lebenssteigernden« gerechnet, so »daß eine Menge Reize, die ganz von Ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen d. h. Vermehrung des Machtgefühl geben [...].«
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Es sei die Schönheit des großen Stils, so Helmut Pfotenhauer, in der jenes Werden und Vergehen sich ausdrücke und seine organisierende Kraft erweise158 . Nietzsche argumentierte gegen den aristotelischen Begriff der Katharsis und eine »Kunst des Furchtbaren«, die die Nerven aufrege und nur als »stimulans bei den Schwachen und Erschöpften in Schätzung kommen« könne159 und gegen den »Künstler der décadence«, der in die Schönheit der Form flüchte160 . Vorbild der Mimesis ist das Leben in seiner Tragik, das seine Steigerung im »Joch des Klassischen« erfährt. Nietzsches »apollinisch-dionysische« Kunst ist eine ontologische Voraussetzung für die stimulierende Darstellung des »Lebendigen« im Ausdrucksmoment. Für diese Kunst ist nicht relevant, ob das Werk »wahr oder falsch« ist, denn es ist »wahr« allein schon dadurch, dass es Ausdruck einer gesteigerten Form des »Lebendigen« ist. In der Götzen-Dämmerung attestiert Nietzsche dem Architekten in diesem Sinne zwar eine Suggestion der Macht161, erkennt aber dessen besondere Problematik, die in einer Entwertung der Form bestehe: »Der Stein ist mehr Stein als früher. – Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der
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Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 554. Helmut Pfotenhauer: »Physiologie der Kunst als Kunst der Physiologie?«, S. 403. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 556 (– »das ist heute z. b. der Grund für die Schätzung der Wagnerschen Kunst.« Ebenda. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 557. »Der Architekt stellt weder einen dionysischen, noch einen apollinischen Zustand dar: hier ist es der grosse Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des grossen Willens, der zur Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspiriert; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was grossen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat, die es verschmäht zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als grosser Stil von sich. – « Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, Aph. 11, KSA, Bd. 6, S. 118 und 119.
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Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkung der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. […] Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? 162
Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes«.
Die von Nietzsche beklagte Entwertung der architektonischen Form zum Maskenhaften soll der postulierte »Willen zur Macht« mit dem »großen Stil« heilen, der sich paradigmatisch in der Architektur im »Sieg über die Schwere« zeigt. Schopenhauers Architekturbegriff, der die »untersten Stufen der Objektivationen des Willens, [...] zu deutlicher Anschauung bringen will«, besaß als »das einzige und beständige Thema« das von Stütze und Last, so dass die Säulenordnung gleichsam der Generalbaß der ganzen Architektur geworden sei163 . Nietzsche münzte den negativ besetzten »Willen« Schopenhauers für die Architektur zu einem positiv besetzten vitalistischen Impetus des »großen Stil« um. Für Markus Breitschmid ist der »große Stil« Nietzsches das »Kernkonzept« seiner gesamten Ästhetik164. Die Wendung gegen eine Ästhetik der décadence führe zu einer Ästhetik der »Ruhe, Einfachheit und Größe«165 , die »auch im Styl ein Abbild dieses Strebens, als Resultat der concentrirtesten Kraft «166 aufweisen solle. Die Architektur des »großen Stils«, so Markus Breitschmid, sei »Genuss am eigenen Können« und die »ästhetische Erfahrung« sei nun die Freude, dass dieses hervorgebrachte Bauwerk eine neue Welt schaffen könne167 . Der »große Stil« könne sich, so Breitschmid, nicht dialektisch entwickeln, da er sich an einem überzeitlichen Ideal orientiere und »seinen gestalterischen Urgrund« im frühen Altertum besitze168 . Er sei als Stil eine »grosse Vernunft« des »Leibes«169 und negiere eine nur intellektuelle »Wahrheit«, Nietzsches »kleine
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Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 218, Bd. 2, S. 178 und 179. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kapitel 35. »Zur Ästhetik der Architektur«, S. 484 . Markus Breitschmid: Der bauende Geist, S. 48. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 8, S. 301. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 8, S. 301. Markus Breitschmid: Der bauende Geist, S. 60. Markus Breitschmid: Der bauende Geist, S. 60. Markus Breitschmid: Der bauende Geist, S. 64.
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Vernunft«, die als »rastlose Erkenntnis [...] in’s Oede und Häßliche«170 gehe und suche stattdessen das »Sichmessen an einem Maße«171. Die Thematisierung von Maß und Grenze war immer Grundlage der klassischen Kunst und Gegenpol einer romantischen Formauflösung, wie sie Nietzsche noch zur Zeit der Geburt der Tragödie im Dionysischen wahrnahm. Für Ingrid Hennemann Barale war die deutsche Klassik von Anfang an und bis zuletzt Nietzsches Kunstideal, denn die deutsche Klassik habe in den Kunstwerken der Griechen das Ideal einer Kunst verwirklicht gesehen, das universell das vermittelt, was nur individuell gelebt werden könne172 . Nietzsche habe die Entdeckung des dionysischen Hintergrundes einer zu Recht als Modell der Objektivität gerühmten Kunst als Entdeckung des einzigen Lebenshorizontes verstanden, in dem das Subjektive und das Objektive koinzidierten173 . »Die Entdeckung der notwendigen Verbindung zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen ist die Entdeckung der einzig möglichen Grundlage des Ideals, in dem die Idee der Klassik sich zu allen Zeiten widergespiegelt hat.«
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Jörg H. Gleiter bezieht sich in seiner Rezeption des »großen Stils« auf die Analysen von Fritz Neumeyer und Markus Breitschmid, welche Nietzsches Ideal in einer dorisch-antiken, apollinischen Architektur gesucht hätten, als Ausdruck ihrer gegen die Moderne gerichteten Sehnsucht nach Wiederherstellung einer klassischen, transzendentalen Ordnung175 . Der »große Stil« gehöre, so Gleiter, zum ontologischen Erbe der Ästhetik der Aufklärung und ihrem im Objekt bestimmten Schönheitsideal176. Erläuternd verwendet er Nietzsches Aphorismus in
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Markus Breitschmid: Der bauende Geist, S. 64, Verweis auf: Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 7, S. 465. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 7, S. 465. Ingrid Hennemann Barale: »Subjektivität als Abgrund«, S. 170. Nietzsche bekennt sich zur doctrine classique im Ecce homo: »[...] dass mein Artisten-Geschmack die Namen Molière, corneille und Racine nicht ohne Ingrimm gegen ein wüstes Genie wie Shakespeare in Schutz nimmt[...].«, Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 6, S. 285. Ingrid Hennemann Barale: »Subjektivität als Abgrund«, S. 171. Ingrid Hennemann Barale: »Subjektivität als Abgrund«, S. 171. Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 154. Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 117. An anderer Stelle deutet Gleiter aus der Perspektive Heideggers Nietzsche richtig: »Indem Nietzsche die Präsenz des Dionysischen im ›großen Stil‹ der griechischen Klassik witterte, löste er, so Martin Heidegger, ›das Klassische‹ wieder aus
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Menschliches, Allzumenschliches II: »Der grosse Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.«177 In seiner Idealität sei der »große Stil« daher weit entfernt von Nietzsches Kunst als der »dionysischen Einverleibtheit und zum Weiterleben verführenden Ergänzung und Vollendung des Daseins.«178 Der »große Stil« existiere nur als Oberflächenphänomen, als »Bilderwelt des Traumes«, auf dem »die Weihe des schönen Scheins« liege179. Gleiters Deutung ist insofern zu widersprechen, als Nietzsche sich nie von der klassischen Ästhetik lossagte, bzw. sie in seiner Spätphilosophie verteidigte. Für Nietzsche, so Theo Meyer, habe sich aus dem Begriff der dionysischen Kunst die Idee einer neuen Klassizität entwickelt180 . Auch Henning Ottmann erkennt keinen »glatten Bruch mit der klassischen Ästhetik wie deren Humanismus« bei Nietzsche181. Nietzsches Ästhetik, so Ottmann, sei »antiklassische Klassik« und »ein doppeldeutiger Versuch der Revision wie der Bewahrung der Klassik gewesen. Sie war klassisch, weil sie ›edle Einfalt und stille Größe‹, Schillers Ideal einer allseitigen Persönlichkeit, Goethes Vereinigung von Helena und Faust durchaus hatte bewahren wollen; sie war antiklassisch, weil sie darüber hinaus die, wie Nietzsche meinte, apollinische Glättung griechischer Ideale von Winckelmann bis Goethe mit einer dionysischen Anerkennung der Natur verbinden wollte.«
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Nietzsche war sich des experimentellen Charakters seines »großen Stils« wohl bewusst. Dieser ist zwar das notwendige Ergebnis seiner »Physiologie der Kunst«, kann allerdings als »Kunst« nicht »wahr« in einem metaphysischplatonischen Sinne sein. Das Experiment des »großen Stils« basiert auf Nietzsches perspektivischer »Experimental-Philosophie«, die er sich selbst zumutete: der »Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus« und dessen Überwindung
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der Mißdeutung des Klassizistischen und des Humanistischen, aus dem Mißverständnis des Idealismus. In der Kunst wird so das Abgründige, Unterdrückte und Verdrängte und eben nicht das Formale und Lehrbuchhafte des Klassizismus als große Stimulans des Lebens fruchtbar.« Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 98 und 99. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II. Aph. 96, KSA, Bd. 2, S. 596. Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 117. Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 117. Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 89. Henning Ottmann: »Anti-Lukács«, S. 583. Henning Ottmann: »Anti-Lukács«, S. 583.
204 | M IMESIS UND MODERNE A RCHITEKTUR »bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl – sie will den ewigen Kreislauf, – dieselben 183
Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Knoten.«
Nietzsches Kunst ist eine Kunst des »Mythisch-Machens«184, eine Kunst, die die chthonischen Mächte einfordert und durch die Empfindung, die sie weckt, einen prometheischen Willen entfachen soll. Seine antiklassische Klassik denkt die Moderne weiter, indem sie sie mit der »Physiologie« konfrontiert und damit versucht, den Optimismus der »neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit« als die »kleine Vernunft« zu entlarven und ihr die »große Vernunft« des Leibes als Realität entgegenzustellen185 . 1.5 Mimesis als Selbstorganisation und Steigerungsform des Lebens Nietzsche formulierte die zentralen Inhalte seiner Kunst-Philosophie bereits mit dem früh verfassten, längeren Essay Die dionysische Weltanschauung. Dort ist es der Satyr, der eine »gesteigerte Gebärdensprache« in Form des Tanzes und im »Ton« seines Spiels den »Willen« anzeigt. Seine Gebärde und sein Tanz sind zeichenhafte und symbolische Formen der Mitteilung über die Prozesse und Rhythmen der Natur. Der antike Ritus war Urform mimetischer Übertragung in ein Zeichensystem und Angleichung an eine äußere und innere Natur. Auf diese Form der Aneignung führt Kunst zurück, darin ist sie dem »Dionysischen« verwandt. Mimetische Zeichen der erfahrenen Umwelt können keine »Wahrheitsaussagen« treffen, da ihnen zeitlich bedingte, menschliche Anschauungsformen vorausgehen. Günter Abel nennt diese eine »Perspektivität und grundbegriffliche
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Friedrich Nietzsche: KSA, Bd. 13, S. 492. Karl Heinz Bohrer erkennt Nietzsche das Stilprinzip des »Mythisch-Machens«, das bei ihm eine Variation der Erhabenheitsästhetik darstelle. Dieses »MythischMachen« sei Grundlage für das modern Verständnis des Mythos: »nämlich als ein ästhetisches Verfahren, genauer als seine sozusagen symbolische Stilkonzeption, die Nietzsche ein »Mythisch-Machen« des Realen nennt.« Karl Heinz Bohrer: »Das Problem des Sinns«, S. 28 und 29. Friedrich Nietzsche: »Von den Verächtern des Leibes«, KSA, Bd. 4, S. 39. Jörg Gleiter bezeichnet die »kleine Vernunft des Geistes« als mitteilbar und eine Erfindung des reflexiven Geistes, während die »große Vernunft des Leibes« eine Realität darstelle. Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 149.
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Relativität – die nicht mit einem Relativismus der Beliebigkeit verwechselt werden dürfen [...].«186 Die Wahrheitsfrage verliere jedoch ihre Schlüsselstellung zugunsten des Zeichen- und Interpretationssinns, so dass die Prozesse des menschlichen Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Erkennens und Handelns in ihren Vollzügen selbst zeichenverfasst und interpretativ charakterisiert werden könnten187. Abels Analyse von Nietzsches Perspektivismus mündet in eine zeitliche Zeichentheorie, deren Wahrheitsanspruch »den Weg in einen neuen Essentialismus ›hinter‹ den Zeichen- und Interpretationsprozessen« abschneidet188. Nietzsches Intention war jedoch die ontologische Erfahrung in der Rezeption des Kunstwerks. Der Kern, um den seine Philosophie kreist, ist die Erfahrung einer inneren Wahrheit der Kunst wie sie sich im Hören einer Beethoven Sonate oder einer Wagner Oper vollzieht. Diese Form von »Wahrheit« ist perspektivisch und zeitlos zugleich, denn sie ereignet sich sowohl in der griechischen Tragödie als auch im modernen Musikdrama Wagners. Griechische Tragödie und modernes Musikdrama sind zwar verschieden, sie verweisen allerdings auf ein Vorgängiges, das Nietzsche mit dem Begriff des »Dionysischen« zu fassen versuchte, dem eigentlichen ontologischen Inhalt von Nietzsches ArtistenMetaphysik189. »Dionysos« stellt bei Nietzsche die Nachahmung eines inneren Naturprinzips dar und ist damit eine eigentümliche Deutung der aristotelischen »ars imitatur naturam«. Seine Formel des »Dionysischen« beinhaltet die mimetischinterpretative Angleichung an die »erste Natur« und sie steht für eine interpretative Produktionsästhetik mit deren Abbildungen in Zeichen, Symbolen und Rhythmen, die allem Lebendigen inhärent sind und deshalb die Kunst für ihn bestimmen. Bereits die einfachsten organischen Lebensformen waren für Nietzsche interpretierend. Physiologie war für ihn eine mimetische Angleichung an die Umwelt und zugleich deren produktive Interpretation, denn organisches Leben sei nur entstanden, weil es diese Interpretationen vornahm und über diese Interpreta-
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Günter Abel: »Zeichen der Wahrheit – Wahrheit der Zeichen«, S. 21. Günter Abel: »Zeichen der Wahrheit – Wahrheit der Zeichen«, S. 24 und 25. Günter Abel: »Zeichen der Wahrheit – Wahrheit der Zeichen«, S. 29. »Theatralische Aufführungen wurden, gemäß ihrem ursprünglichen Charakter einer Kultfeier zu Ehren des Dionysos, zu Athen nur an Festen dieses Gottes [...] von Staatswegen veranstaltet.« Friedrich Schubert: Sophokles’ Aias, S. XXII. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Dionysischen rührt von dessen Bedeutung für das antike Theater her und war mit seinem Unternehmen verbunden, das Musikdrama Richard Wagners als antikes Musikdrama zu begründen.
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tion zu einem »autopoietischen System« wurde190. Die interpretierenden, vorbewussten Prozesse der Natur habe Nietzsche in die Nähe einer »Theorie selbstreferentieller Systeme« geführt, »die in unserer Zeit auf kybernetischer und biologischer Grundlage entwickelt wurden.«191 Nietzsches »Philosophie der Zukunft«, so Jordan, wolle zu einer »Neuen Aufklärung« kommen, um »neue Wahrheitsbegriffe« und »ein neues Verständnis von Erkenntnis« zu formulieren »und dies sowohl unter Berücksichtigung und Forcierung der Naturwissenschaften einerseits als auch anderseits der historischen Forschung, die sich auch auf die Projektionen der Wissenschaft, Moral usw. richtet.«
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Nietzsche habe »Ansätze einer evolutionären Erkenntnistheorie« entwickelt, in deren universalistischer Grundlage Aktivität und Relation sowie Interpretation und Fiktion eine wichtige Rolle spielten193. Deshalb sei Nietzsche entgegen seiner Vereinnahmung durch den Dekonstruktivismus eher als ein Konstruktivist zu betrachten194. Lebewesen, so ist Nietzsche zu interpretieren, bestimmen sich aus ihren physiologischen Interpretationsleistungen, anhand derer sich ihr selbstreferenzielles System herstellt. Günter Abel spricht in diesem Zusammenhang von einer organisierenden Kraft195, die sich in einer »Lust an Einfachheit, Übersichtlichkeit, Regelmäßigkeit und Helligkeit« zeige. Nietzsche bezeichnete diese Eigenschaften als mit einem »starken Instinkt« verbunden, der so stark sei, dass er »in allen unseren Sinnesthätigkeiten waltet und uns die Fülle wirklicher Wahrnehmungen (der unbewußten – ) reduziert, reguliert, assimiliert usw. und sie erst in dieser zurechtgemachten Gestalt unserem Bewußtsein vorführt. Dies ›Logische‹, dies ›Künstlerische‹ ist unsere fortwährende Thätigkeit.«
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Gebe es dieses »Logische und Künstlerische« nicht, so bedeutete dies, so Günter Abel, »Niedergang und Zerfall des Lebens als organisierender Kraft«197. Kom-
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Lothar Jordan: »Dekonstruktionist oder Konstruktivist?«, S. 234. Jordan zitiert hier Humberto R. Maturana. Lothar Jordan: »Dekonstruktionist oder Konstruktivist?«, S. 239. Lothar Jordan: »Dekonstruktionist oder Konstruktivist?«, S. 239. Lothar Jordan: »Dekonstruktionist oder Konstruktivist?«, S. 239. Lothar Jordan: »Dekonstruktionist oder Konstruktivist?«, S. 232, 233 und S. 239. Günter Abel: »Logik und Ästhetik«, S. 116. Friedrich Nietzsche: KSA, Bd. 11, S. 435. Günter Abel: »Logik und Ästhetik«, S. 116.
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plexitätsreduktion und Vereinfachung waren für Nietzsche notwendige perspektivische Interpretationsleistungen von Lebewesen in der Herstellung ihres »autopoietischen Systems«. Er postulierte damit einen imitativen Perspektivismus, auch auf dem Gebiet der Wissenschaft, »vermöge dessen jedes Kraftcentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die übrige Welt construirt d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet...Sie haben vergessen, diese Perspektiven-setzende Kraft in das ›wahre Sein‹ einzurechnen. [...]«
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Aus dem »konstruierenden und organisierenden, interpretativen Charakter der Grenze des Logischen und Ästhetischen« folge, so Günter Abel, eine Verabschiedung von »Positivität im weitesten Sinne«199. Aus dieser Perspektive rechtfertige sich auch Nietzsches »Physiologie der Kunst«, die sich als »transfigurierte Praxis des Leibes« entfalte200. Die Semantik der Kunst sei nicht mehr im »Sinne eines Bedeutungsplatonismus« aufzufassen, sondern als »Funktion, eben als Interpretationsfunktion«201. Nietzsche postuliert mit der »Physiologie der Kunst« einen erweiterten Prozess des »Organischen« in der »Kunst«: »Alles Organische, das ›urtheilt‹, handelt wie der Künstler: es schafft aus einzelnen Anregungen Reizen ein Ganzes, es läßt vieles Einzelne bei Seite und schafft eine simplificato, es setzt sich gleich und bejaht sein Geschöpf als seiend.«
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Dies aber meinte Nietzsche nur durch eine neue Klassizität erreichen zu können, denn »der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Concentration dar – das höchste Gefühl der Macht ist concentriert im klassischen Typus.«203 1.6 Nietzscheanische Mimesis in der Architektur Nietzsche hat mit der beginnenden Rezeption seiner Texte in den 1890er Jahren vor allem auf die Künstler der Avantgarde einen großen Einfluss ausgeübt, welche um 1900 im Nietzschekult gipfelte. Bis in die Gegenwart ist die Diskussion 198 199 200 201 202 203
Friedrich Nietzsche: KSA, Bd. 13, S. 373. Günter Abel: »Logik und Ästhetik«, S. 118 und 119. Günter Abel: »Logik und Ästhetik«, S. 121. Günter Abel: »Logik und Ästhetik«, S. 121. Friedrich Nietzsche: KSA, Bd. 11, S. 97. Friedrich Nietzsche: KSA, Bd. 13, S. 240.
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um den »richtigen Nietzsche« noch nicht abgeschlossen. Dazu hat Nietzsche selbst beigetragen, denn er hat im Laufe seiner schriftstellerischen Produktion teilweise konträre Positionen vertreten und bietet durch die aphoristische Darstellung seiner Gedanken eine Vielzahl möglicher Anknüpfungen. Damit erscheint ein Nachweis seiner philosophischen Ideen auf die Kunst- und Architekturtheorie schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Dennoch besaß und besitzt Nietzsches Gedankengut sowohl in der Philosophie als auch in der Kunst nach wie vor großen Einfluss. Eine Ursache hierfür liegt in der grundlegenden Bedeutung seiner Gedanken zur Ästhetik. Nietzsche hat zwar nie eine dezidierte Ästhetik geschrieben, versuchte aber über die Ästhetik einen neuen metaphysischen Ansatz zu begründen. Im ästhetischen Phänomen sah er eine Möglichkeit, dem »Nihilismus« die Stirn zu bieten und trotz der erkannten Perspektivität des Denkens Ontologie zu betreiben. Auch wenn es sich hier um eine »schwache Ontologie« handelt, bietet sie doch die Chance einer kohärenten Argumentation. In diesem Zusammenhang ist das Mimetische für Nietzsche von grundlegender Bedeutung, denn es soll mit der »Physiologie der Kunst« seinsbestimmend sein. Bei Kant sollte die Kunst zur freien Kontemplation anregen und im »freien Spiel« ohne Interesse ästhetisch werden. Dagegen positionierte sich Nietzsche und forderte am Kunstwerk das Interesse des rezipierenden Subjekts ein. Kunst und Architektur sollen nicht nur in der freien Betrachtung gefallen, sondern sie sollen den Rezipienten mit ihren mimischen Zeichen und Gesten positiv im Sinne einer gesteigerten Lebendigkeit beeinflussen. Wie Robert Vischer und Heinrich Wölfflin erkannte Nietzsche einen Zusammenhang von künstlerischer Form und physiologischer Reaktion. Nietzsche dachte diesen Zusammenhang weiter und forderte vom Kunstwerk die entsprechende Antwort: Seine ArtistenMetaphysik besitzt ihr Ziel im Ideal der »großen Vernunft des Leibes«. Die Kultur seiner Zeit nahm er als Kultur der »décadence« wahr, weil sie die »große Vernunft des Leibes«, der einzigen ontologischen Rechtfertigung des Lebens, negiere. Nietzsche vernatürlichte die Kunst, nicht indem »der Leib« sich im Werk abbildete, sondern indem dessen innere Verfasstheit das eigentliche Thema wurde. Handlungsanweisungen, wie dieses Ziel zu erreichen sei, verband er mit einem Rekurs auf die Antike. »Mein Ziel ist«, so Nietzsche in den nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahr 1875, »volle Feindschaft zwischen unserer jetzigen ›Cultur‹ und dem Alterthum zu erzeugen. Wer der ersten dienen will, muss das letztere hassen.«204 Der Einfluss von Nietzsche auf die Architekten der Avantgarde kann, trotz dieser dezidiert antimodernen Äußerung, nicht überschätzt werden. Zu seinen
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Friedrich Nietzsche: KSA, Bd. 8, S. 33.
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Lesern unter den Architekten gehörten Peter Behrens, Mies van der Rohe, Martin Gropius, Le Corbusier, Paul Scheerbart, Henry van de Velde, Erich Mendelsohn und weitere. Der Nietzscherezeption bei der Architekturavantgarde wurde erst mit den Studien von Tilmann Buddensieg und Fritz Neumeyer Aufmerksamkeit geschenkt205. Ursache hierfür war ein Nietzschebild, das Nietzsche mehr den auditiven und weniger den visuellen Künsten zuordnete. Grundsätzlich ist diese Unterscheidung sekundär, da Nietzsches mimetische Kunst nicht an Kunstgattungen gebunden ist. Wie ist allerdings Nietzsches Einfluss auf die europäische Architekturavantgarde mit seiner Grundhaltung zu verstehen, die ein scheinbar regressives mimetisches Ideal im Altertum besitzt? Nur als Rückgriff auf die Antike in Form einer Kulturkritik, die die europäische »décadence« überwinden wollte, indem sie das Uranfängliche des dionysischen Kultes mit der »Physiologie des Leibes« zusammenbrachte. Beides, so Nietzsches Gedanke, ist dasselbe und vergegenständlicht sich im Kunstwerk. Kunst war für Nietzsche eine mimische Übertragung innerer Zustände: »Ich sage zugleich noch ein allgemeines Wort über meine Kunst des Stils. Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos und Zeichen, eingerechnet das tempo dieser Zeichen, mitzutheilen – das ist der Sinn jedes Stils; [...] Gut ist jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich mittheilt, der sich über die Zeichen, über das tempo der Zeichen, über die Gebärden – alle Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde – nicht vergreift. [...] Die Kunst des grossen Rhythmus, der grosse Stil der Periodik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und Nieder von sublimer, von übermenschlicher, Leidenschaft ist erst von mir entdeckt; mit einem Dithyrambus wie dem letzten des dritten Zarathustra [...].«
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Der Aphorismus aus dem Ecce homo zeigt den »dionysischen Künstler«, der sich seinen Impulsen mimetisch überlässt und diese durch die Intensität sogar steigert. Dadurch gelingt es ihm, das Innere seiner Empfindung in die Gestalt des Werks zu überführen. Da das dionysische Erleben eine Initiation voraussetzt, konnten nur die Epopten der Kunst dionysische Werke hervorbringen. Solche Kunst war für Nietzsche »seinskonstituierend«, das heißt nicht Widerspiegelung
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Tilmann Buddensieg: »Also baute Zarathustra« Tilmann Buddensieg: »Das Wohnhaus als Kultbau. Zum Darmstädter Haus von Behrens« Fritz Neumeyer: Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen Friedrich Nietzsche: Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe, Nr. 4, KSA, Bd. 6, S. 304 und 305.
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von Wirklichkeit, sondern Schaffung einer neuen, gesteigerten Wirklichkeitsform. Wenn Kunst in dieser Weise »seinskonstitutiv« gedacht werden kann, so erhält der Künstler eine zentrale Bedeutung. Die Architektur von Peter Behrens kann beispielhaft für diesen Anspruch stehen. Fritz Neumeyer hat in seinem Buch über Mies van der Rohe das »Kunstwollen« von Peter Behrens als stark beeinflusst von Aloys Riegl und Nietzsche dargestellt207 . Wie sehr Behrens Nietzsche verehrte, zeigt sein »Zarathustrastil« bei der Ausgestaltung seines Darmstädter Hauses aus dem Jahr 1901208. Das Haus ist die Übersetzung eines literarischen Textes in Architektur. Es steckt, wie Buddensieg aufzeigte, voll von Zarathustrametaphern209 und besitzt in Form und Gestik eine dem Jugendstil verpflichtete Vitalität. Der Begriff »Zarathustrastil« stammt von Friedrich AhlersHestermann, der ihn bereits zur Charakterisierung von Behrens eigenem Haus in Darmstadt verwendete, um dessen eigenwilligen, auf Monumentalität zielenden Ernst zu beschreiben210. Buddensieg sah im Darmstädter Wohnhaus einen »EgoTrip«, einen »feierlichen Personalstil«211, dem Behrens erst mit den Bauten für die AEG entwachsen sei. Mit diesen, dem Verwaltungsgebäude für die Mannesmann Röhrenwerke und dem Bau für die Continentalwerke in Hannover, verfolgte Behrens andere Intentionen. Sie transformieren die Rhythmik des Jugendstils in eine Neuschaffung des Klassischen in Form des »großen Stils«, wie in Nietzsche dachte. Zu dessen tektonischen Elementen ließ sich Behrens von den Berliner Bauten Schinkels inspirieren. Von entscheidender Bedeutung für den Ausdruck dieser Gebäude ist ihre rhythmische Struktur. Die Kleinmotorenfabrik zelebriert den »großen Stil« in einer gewaltigen Pfeilerstruktur. Gleiches gilt für die Turbinenhalle, die trotz ihrer heterogenen Architekturelemente und der Stahlstiele an der Längsfassade vor allem durch ihre mimisch-rhythmischen
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Fritz Neumeyer: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, S. 80-92. Tilmann Buddensieg: »Das Wohnhaus als Kultbau. Zum Darmstädter Haus von Behrens« Tilmann Buddensieg: »Das Wohnhaus als Kultbau. Zum Darmstädter Haus von Behrens«, S. 39 und 40. »Eine feierlich-stereometrische Ornamentik steigerte den Raum ins Sakrale. Es wäre unmöglich gewesen, hier eine Anekdote zu erzählen oder einen Straußschen Walzer zu spielen.« Friedrich Ahlers-Hestermann: Stilwende. Aufbruch der Jugend um 1900, S. 87. Tilmann Buddensieg: »Das Wohnhaus als Kultbau. Zum Darmstädter Haus von Behrens«, S. 47.
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Elemente ihre Wirkung entfaltet212 . Einen Höhepunkt an rhythmischer und strukturell-tektonischer Gliederung erreicht das Mannesmann Gebäude. Der geschossweise, synkopisch versetzte Rhythmus vitalisiert die steinerne Masse und ist ohne die Befreiung der semantisch gebundenen Formen durch die dynamischen Linien des Jugendstils nicht denkbar. Behrens »große Form« war ArtistenMetaphysik im nietzscheanischen Sinne und wollte als Stil durch einen »einheitlichen Formausdruck« eine Epoche verkörpern213. Er sah die Kunst in einer Willensanstrengung starker, intuitiver Individualität begründet214, deren Vitalität und 212
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Die pylonartigen Blöcke an den Ecken der Turbinenhalle lassen in ihrer Wuchtigkeit Assoziationen mit dem Palazzo Pitti oder der Revolutionsarchitektur aufkommen. Die Giebelfassade leugnet geradezu die Forderung nach einer Kongruenz von Form und Inhalt. Die nichttragenden Ecken wirken wie schwere massive Bauteile und der tragende Mittelteil wie ein fragiles Fenster. Offensichtlich ging es Behrens mehr um eine »bildhafte Darstellung« und weniger um das Darstellen der tatsächlichen konstruktiven Sachverhalte. Als Erinnerung an die klassische Architektur und dennoch als völlige Neuinterpretation erscheint die Straßenseite an der Berlichingerstraße. Obwohl die tektonische Metapher ganz entgegen der klassischen Logik ausgeführt wurde, wirkt sie nicht widersinnig. Die Gesamtfigur ist Darstellung tektonischer Kräfte und rhythmischer Strukturierung. Die Eisenstützen erscheinen gerade durch ihre unklassische Ausbildung als angemessene formale Antwort auf das verwendete Material. Ein bis auf das Firmenemblem schmuckloser Tempelgiebel, der an Gillys Frühklassizismus erinnert, die ägyptisierenden Eckpylone, die graecogotische Pfeilerarkade mit der geböschten Verglasung an der Huttenstraße und das große Fenster der Tempelfront, das keinen Zugang gewährt, sind heterogene Architekturelemente. Dennoch gelang Behrens im Durchdringen und Verweben des modernen Stahlbaus mit klassischen Architekturmotiven eine nietzscheanische Architektur des »großen Stils«. Das Gebäude zeigt durch seine in Teilen schroffe Fügung der Architekturelemente einen Anklang an Gewaltsames. Behrens verstand es, die archaische Energie der Turbine in ein Gebäude zu überführen, das die Ehrfurcht vor deren Größe verkörpert. Darstellung von Modernität bestand für Behrens auch darin, die Architektur einer geänderten Wahrnehmung anzupassen. Die Rezeption des Gebäudes aus dem fahrenden Auto oder einem Schnellzug bedinge eine Architektur »die möglichst geschlossene, ruhige Flächen zeigt, die durch ihre Bündigkeit keine Hindernisse bietet. [...] Ein großflächiges Gliedern, ein übersichtliches Kontrastieren von hervorragenden Merkmalen und breit ausgedehnten Flächen oder ein gleichmäßiges Reihen von notwendigen Einzelheiten, wodurch diese wieder zu gemeinsamer Einheitlichkeit gelangen, ist notwendig.« Peter Behrens: »Kunst und Technik«, S. D 284. Peter Behrens: »Kunst und Technik«, S. D 279. »Kunst entsteht nur als Intuition starker Individualitäten und ist die freie, durch materielle Bedingungen ungehinderte Erfüllung psychischen Dranges. Sie entsteht nicht als Zufälligkeit, sondern als Schöpfung nach dem intensiven und bewussten Willen des befreiten menschlichen Geistes. Sie ist die Erfüllung psychischer, das
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Kunstwollen eine Welt erst schafft. Diesen prometheischen »Willen zum Stil«, den Behrens einforderte, hat Mies, als er befragt wurde, was er bei Behrens gelernt habe, so zusammengefasst: »In einem Satz könnte ich vielleicht sagen, da habe ich die große Form gelernt.«215 So sehr Mies später andere Wege ging, so entschieden hat er am nietzscheanischen »Kunstwollen« festgehalten.216 Die Nietzscherezeption von Mies van der Rohe lässt sich allerdings nicht wie bei Behrens eindeutig bestimmen217 . Gleiches gilt für die Rezeption von Le Corbusier. Jean-Louis Cohen beschreibt in seinem Aufsatz »Le Corbusier’s Nietzschean Metaphors« vor allem die Wirkung seines Zarathustrabuchs auf den jungen Le Corbusier, der sich als vergleichbarer Epopte von Kunst und Architektur wahrnahm218. 1961 habe Le Corbusier Nietzsches Also sprach Zarathustra ein zweites Mal in Zusammenhang mit der Illiade gelesen, ausgelöst durch sein Interesse an antiken Mythen und der mediterranen Kultur219. Cohen kommt zu dem Ergebnis, »thus Nietzsche’s book offered an ensemble of metaphors allowing Le Corbusier to construct a personal language and to articulate his thought in regard to both the great city and the relation to tradition, namely the very meaning of creation.«
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Da Le Corbusier andere Philosophen las und sich zudem mit esoterischem Gedankengut beschäftigte, ist eine direkte Zuordnung einer Architekturform zu
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heißt ins Geistige übersetzter Zwecke, wie sie sich als solche in der Musik am klarsten offenbart. Das Musikalische, das Einfach-Rhythmische ist das wesentliche Moment künstlerischer Gestaltung.« Peter Behrens: »Kunst und Technik«, S. D 280. Mies in Berlin, Schallplatte, Bauwelt Archiv 1, 1966, zitiert nach: Fritz Neumeyer: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, S. 88. Über den Einfluss von Nietzsche auf Mies siehe das Kapitel »Die große Form und der Wille zum Stil« in: Neumeyer Fritz: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, S. 80-91. Bei Mies entstand zwangsläufig eine Begegnung mit nietzscheanischem Gedankengut während seiner Tätigkeit bei Peter Behrens. Wichtiger allerdings war der Bau seines ersten Hauses für Alois Riehl, dem ersten Nietzsche-Biographen. Siehe hierzu: Neumeyer Fritz: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, S. 89. Jean-Louis Cohen: »Le Corbusier’s Nietzschean Metaphors«, S. 311. Einen Verweis von Le Corbusier auf Nietzsches Zarathustrabuch findet sich in der veröffentlichten Korrespondenz mit William Ritter auf S. 651; William Ritters Empfehlung, Nietzsche zu lesen, findet sich auf S. 262; siehe hierzu: Le Corbusier und William Ritter: Correspondance croisée, Paris 2014. Jean-Louis Cohen: »Le Corbusier’s Nietzschean Metaphors«, S. 324. Jean-Louis Cohen: »Le Corbusier’s Nietzschean Metaphors«, S. 330.
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Texten von Nietzsche nicht leistbar. Allerdings deutet sein Interesse an archaischer Mythologie in der nachpuristischen Phase seines Schaffens auf ein vergleichbares Bestreben, den dionysischen, chthonischen Elementen der Architektur Bedeutung zu verleihen221. Im letzten Kapitel wird mit über den Einfluss von Paul Valéry auf Le Corbusier gezeigt, dass seine späte Architektur wesentlich durch das »dionysische Phänomen« verständlich wird. Fritz Neumeyer weist in seinem Essay »Nietzsche and Modern Architecture« den Einfluss Nietzsches auf Architekten der Avantgarde wie Henry van de Velde, Bruno Taut und Ludwig Hilbersheimer nach222. Dies zeigt, dass Architekten mit unterschiedlichen Architekturkonzepten und Formvorstellungen an Nietzsche anknüpfen konnten, ohne dass sein Konzept des »großen Stils« in der Rezeption zwangsläufig in einer neuen Klassik münden musste. Ludwig Hilbersheimer sah im Dionysischen den »hohen Wert des Primitiven im Gegensatz zu dem Reproduktiven, das in routinierter Materialbeherrschung aufging [...].«223 Bei Erich Mendelsohn sei es dagegen die Musik gewesen, die den Zugang zu Nietzsches Welt öffnete224. Nietzsches Betonung der Bedeutung des Rhythmus als Ursprung jeder Poesie architektonisiere die Musik und habe Mendelsohn zu einer eigenen musikalischen und rhythmisch empfundenen Architektur geführt225. Diese »Geburt der Architektur aus dem Geiste der Musik« könne bei zahlreichen Architekturskizzen Mendelsohns ausfindig gemacht werden226 . Viele bezögen sich auf das Hören ganz bestimmter Stücke von Bach oder Beethoven227 . Neumeyer erkennt in Mendelsohns Bauten nicht das »apollinische Gerüst« einer »Haut und Knochen Architektur«, sondern einen dynamischen, rhythmisch bewegten Körper, der das alte, additive System durch ein neues, or-
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Le Corbusier kannte Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik und damit die von Nietzsche verwendeten Begriffe des »Apollinischen« und des »Dionysischen«. Julius Posener: »Le Corbusier I«, S. 45. »By 1914 – as can be seen from their letters, diairies, and other utterances – Bruno Taut, Le Corbusier, Walter Gropius, Ludwig Hilbersheimer, Erich Mendelsohn, and Richard Neutra had all individually passed through a Nietzschean experience that was to influence their subsequent architectural ideas.« In: Fritz Neumeyer: »Nietzsche and Modern Architecture«, S. 288. Ludwig Hilbersheimer: »Schöpfung und Entwicklung« Der Einzige, 1919, S. 5 und 6, zitiert nach : Fritz Neumeyer: »Nietzsche and Modern Architecture«, S. 303 und 304. »The most primitive works of art were the purest, because they had not fallen victim to ›civilization’s striving for beauty.‹ «, Ebenda, S. 290. Fritz Neumeyer: »Nietzsche and Modern Architecture«, S. 294. Fritz Neumeyer: »Nietzsche and Modern Architecture«, S. 294. Fritz Neumeyer: »Nietzsche and Modern Architecture«, S. 294. Fritz Neumeyer: »Nietzsche and Modern Architecture«, S. 294.
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ganisches System ersetze, das auf Massen beruhe, die ein Ganzes formten228 . Mendelsohns Architekturskizzen repräsentierten damit eine neue künstlerische Quelle, die auf musikalischer Visualisierung beruhe, wie sie sich Nietzsche in der Geburt der Tragödie vorstellte229 . Nietzsches Artisten-Metaphysik wurde von Architekten als Aufforderung gelesen, eine neue Architektur hervorzubringen. Innerhalb des Kunstwerks spielten sich formale Vorgänge ab, so Wilhelm Worringer im Weiterdenken nietzscheanischer Konzepte, die den natürlichen organischen Tendenzen im Menschen entsprächen und ihm erlaubten, in der ästhetischen Anschauung hemmungslos mit seinem inneren Vitalgefühl und seinem inneren Tätigkeitsbedürfnis in den beglückenden Lauf dieses formalen Geschehens einzufließen230. Worringers Naturalismus vertritt eine vergleichbare These wie vor ihm von Nietzsche und Lipps vertreten wurde. Das Naturvorbild diene, so Worringer, »nur als Substrat für seinen vom Gefühl für das Organische geleiteten Willen zur Form [...]«.231 Ein mimischer Vorgang setze Form- und Struktureigenschaften eines Gegenstandes mit psychisch-physiologischen Prozessen im Subjekt in Verbindung232 . Das »Dionysische« kontrastiert er mit dem »Abstraktionsbedürfnis des Menschen«233 , in dem Nietzsches »apollinischer Trieb« wiederkehrt. Abstraktion solle die Dinge erlösen, sie dem Lauf des Geschehens entreißen, um sie als Kunst absolut zu machen234. In der Abstraktion ereigne sich eine »Lebensausschließung«, »höchste Abstraktion« sei »reinste, gesetzmäßige Kunstform« 235. Worringers bekannte Dissertation Abstraktion und Einfühlung zeigt ein der Mythologie entkleidetes nietzscheanisches Gedankengut. Er polarisierte das Dionysische und Apollinische, um in der Abstraktion eine »transzendentale Kunst« zu erkennen, die durch »Entorganisierung des Organischen«, »das heißt auf eine Übersetzung des Wechselnden und Bedingten in unbedingte Notwendigkeit«
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Fritz Neumeyer: »Nietzsche and Modern Architecture«, S. 295. Fritz Neumeyer: »Nietzsche and Modern Architecture«, S. 297. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 29. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 42. »Ästhetisch genießen heißt mich selbst in einem von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand genießen, mich in ihn einzufühlen. ›Was ich in ihn einfühle, ist ganz allgemein Leben. Und Leben ist Kraft, inneres Arbeiten, Streben und Vollbringen. Leben ist, mit einem Wort, Tätigkeit. Tätigkeit aber ist das, worin ich einen Kraftaufwand erlebe. Diese Tätigkeit ist ihrer Natur nach Willenstätigkeit. Sie ist das Streben oder Wollen in Bewegung.‹« Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 6. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 43. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 20. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 17.
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sich auszeichne236. Abstraktion war Worringer gleichbedeutend mit der Abwehr von Welt, um sich bei den »abstrakten, von aller Endlichkeit befreiten Formen« ausruhen zu können237 . Von diesem Zwang habe die Kunst erst die Wissenschaft befreit, die diese Funktion durch »das durch den Intellekt geordnete und zum sinnvollen Geschehen gestaltete Weltbild« übernommen habe und derart ein Sicherheitsgefühl gewähre. Die neue Kunst, die entstehen könne, sei die klassische Kunst, die in »einer von allem Zwang und Zweck befreiten, beglückenden Betätigung innerer, bisher gehemmter Kräfte« eine Art Luxustätigkeit sei, die der »starren Gesetzmäßigkeit des Abstrakten« nicht mehr bedarf, sondern eine »milde Harmonie des organischen Seins« zeige238. Damit steht Worringers neue klassische Kunst Nietzsches Konzept des »großen Stils« diametral gegenüber, denn für Nietzsche gab es keine Möglichkeit eines Quietivs durch Kunst. Vielmehr verkörpert der »große Stil« in der »apollinischen Form« immer zugleich den »dionysischen Schmerz«. Bereits in der Dionysischen Weltanschauung und der Geburt der Tragödie wird die Wichtigkeit und ontologische Bedeutung des »dionysischen Künstler« hervorgehoben, welcher diese »dionysische Wahrheit« schaut und in Kunst überführt. Jörg Gleiter nennt Nietzsches Vorhaben einen Durchgang durch das Älteste, um sich dem Aktuellen zu stellen und dieses mit jenem zu infizieren. So sei auch das postmetaphysische Zeitalter eine im Durchgang durch den Mythos erneuerte Metaphysik239. Der »dionysische Künstler« als Architekt ist in dieser Weise ein Mythologe des Ältesten in der Darstellung der chthonischen Götter im erdhaftMateriellen. Dieser nietzscheanische Dionysos verweist auf Bauwerke von Le Corbusier wie die Unité in Marseille und das Kloster La Tourette, die als gebaute Artisten-Metaphysik den »großen Stil« der Moderne formulieren. Im fünften Kapitel wird die Diskussion weitergeführt, wie mit Nietzsches Gedanken zu einer »Physiologie der Kunst« die moderne Architektur als mimetische Kunst verstanden werden kann.
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Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 112. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 112. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 113. Jörg H Gleiter.: Der philosophische Flaneur – Nietzsche und die Architektur, S. 165.
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A DORNO Adornos Theorie der Mimesis in der Ästhetische Theorie bezieht sich auf Kants kritische Philosophie und auf Nietzsches Versuch einer Überwindung der europäischen Aufklärung durch eine neue Mythologie. Kant hatte den freien Willen des Handlungssubjekts in der »transzendentalen Subjektivität« eines »noumenalen Ich« lokalisiert240 . Dieses Ich wurde von Nietzsche seiner Perspektivität und seiner physiologischen Voraussetzungen überführt, denn mit Nietzsche geriet die Vernunft in den Verdacht, nicht autonom, sondern selbst mythologisch strukturierend die Welt zu interpretieren und damit selbst ein Instrument perspektivischer Kräfte zu sein. Nietzsches Deutung der Vernunft als Teil und verflochten mit der leiblichen Natur, bedeutete deren Naturalisierung. Die Aufhebung mythologischer und religiöser Weltbilder durch die Vernunft im Prozess der Aufklärung interpretierte Nietzsche nicht als emanzipatorischen Akt, sondern als einen intelligenten Schachzug seines postulierten »Willens zur Macht«. Mit dem Verlust des »autonomen Subjekts« und seines intelligiblen Status fiel das Subjekt in den Status der Natur zurück. Die damit verbundene »Detranszendentalisierung des freien Willens lässt [...]«, so Jürgen Habermas, »die Grenze zwischen Vernunft und Natur nicht mehr als die zwischen Intelligiblem und Empirischem bestimmen, vielmehr verläuft diese Grenze ›inmitten der Empirie‹.«241 Adorno habe den vernunftgeleiteten Willen aus der Sphäre des Intelligiblen in den Bereich der Leiberfahrung und der individuierenden Lebensgeschichte der handelnden Personen zurückgeholt. Er habe das aporetische Konzept unbedingter Freiheit durch das einer aus Natur entsprungenen Freiheit ersetzt242. Adorno verfolgte damit ein ähnliches Konzept wie es Nietzsche mit einer »Physiologie der Kunst« versuchte, allerdings mit wesentlichen Unterschieden: Er verzichtete nicht auf den kantischen Freiheitsbegriff, sondern definierte ihn neu, und er band das »physiologische Argument« Nietsches an die Erfahrung eigener Naturhaftigkeit, ohne es wie Nietzsche an ein kanonisches Sprachsystem zu binden. Der Freiheitsprozess, den die Kunst ermöglicht, kann für ihn zu keiner irgendwie definierten Regel führen, sondern ist immer wieder neu zu initiieren, indem das Überkommene, zu dem Kunst auf Abstand geht, der Kritik unterwor-
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Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur «, S. 193. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur «, S. 195. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur «, S. 195.
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fen wird243. Die damit verbundene Abgrenzung ist ein notwendiger Modus der Kritik, um sich vom Tradierten, den »dunklen Mächten des Glaubens, des Herkommens oder der ›Naturwüchsigkeit‹« zu befreien244. Allerdings gelinge damit nicht der Übergang in einen Zustand »wirklicher Freiheit«245 bei Adorno, denn der Prozess der Aufklärung sei eine »Überbietungsdynamik«246 , die wesentlich dadurch bestimmt sei, so Günter Figal, dass der durch rationale Kritik erreichte Zustand der Freiheit wiederum der Kritik unterworfen werde247. 2.1 Rückfall in die Mythologie: Die Dialektik der Aufklärung Nach den Schockerlebnissen von Inhumanität im 20. Jahrhundert besaß die Fragestellung nach der Freiheit des Subjekts für Adorno und Horkheimer eine zentrale Bedeutung. Adorno und Horkheimer betrieben mit der gemeinsam verfassten Schrift Dialektik der Aufklärung die Fortsetzung der Aufklärung, indem sie unter Zuhilfenahme der Mythologie Nietzsche für ihr Projekt weiterdachten. Der Mythos der Aufklärung sei eine »totalisierende Kraft«, mit der »alle auf der Oberfläche wahrgenommenen Phänomene in ein Netz von Korrespondenzen«248 eingebunden seien. Der für die Aufklärung zentrale Begriff der Vernunft sei bei Kant doppelsinnig, denn der Begriff Vernunft des transzendentalen überindividuellen Ichs enthalte die Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen, in dem sie sich zum allgemeinen Subjekt organisierten und den Widerstreit zwischen der reinen und empirischen Vernunft in der bewussten Solidarität des Ganzen aufheben würden. Zugleich jedoch bilde Vernunft die Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichte und keine andere Funktion kenne als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial
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Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, in: Günter Figal: Kunst, S. 40. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 39. Figal zitiert aus einem Brief von Adorno an Benjamin vom 18.03.1936. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 39. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 39. »Weil sich die Aufklärung wesentlich im Abrücken und Zurückstoßen vollzieht, käme sie mit der neu erreichten Position ans Ende und hörte auf zu sein, was sie ist, wenn sie die erreichte Position immer nur bekräftigen würde.« Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 39. Jürgen Habermas: »Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno«, S. 139.
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zum Material der Unterjochung249. Mit der Angleichung der Vernunft an eine »Natur der Zwecke« wolle das Subjekt die Natur beherrschen und muss sich deshalb für Adorno und Horkheimer als Subjekt verleugnen, denn das »Beherrschen« ist nur durch Angleichung an das zu »Beherrschende« zu erreichen und damit mit einem Verlust an subjektiver Identität verbunden250. Der Mythos, der durch die Aufklärung zerstört werde, kehre, so Horkheimer und Adorno, in verwandelter Form wieder. Die moderne, die vollends rationalisierte Welt sei nur zum Scheine entzaubert; auf ihr ruhe der Fluch der dämonischen Versachlichung und der tödlichen Isolierung. Der Zwang zur rationalen Bewältigung der von außen eindringenden Naturkräfte habe die Subjekte auf die Bahn eines Bildungsprozesses gesetzt, der die Produktivkräfte um der schieren Selbsterhaltung willen ins Unermessliche steigere, aber die Kräfte der Versöhnung, die bloße Selbsterhaltung transzendieren, verkümmern lasse251. Adorno und Habermas übernahmen Nietzsches Kritik am modernen Subjekt, indem sie wie dieser an der Urgeschichte des Subjekts anknüpften. Was Nietzsche als zerstörerische Wirkung des Sokratismus postulierte, war für Adorno und Horkheimer eine Form von Rationalität im beherrschenden Umgang mit einer »äußeren Natur«252 . Das so konstituierte »Selbst« habe die »alten, zyklischen Mythen« durch den neuen, teleologischen Mythos einer allerdurchdringenden Rationalität und dämonischen Versachlichung ersetzt. Adorno und Horkheimer verstanden Aufklärung als Rationalität und dies sei keine anachronistische Verallgemeinerung, sondern betreffe den Vollzugssinn von Rationalität; dieser komme im Denkstil der ›Aufklärung‹ genannten Epoche nur besonders deutlich zum Vorschein253. Der Mythos hatte für Horkheimer und Adorno mit der Aufklärung nur seine Gestalt gewechselt254. Er sei zum Glauben an die Macht der mathematisch249 250
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Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 76. »Naturbeherrschung vollzieht sich jedoch als Angleichung an diese« (die Natur), in: Swen Stein: »Der Begriff der Mimesis in der Ästhetischen Theorie Adornos«, S. 2 und 3. »[...] Selbstbehauptung aber ist [...] in aller Zivilisation Selbstverleugnung.« Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S 63. Jürgen Habermas: »Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno«, in: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 134. »Horkheimer und Adorno lesen Homers Odysee als Bildungsgeschichte des sich aufklärenden Individuums [...]«. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 40. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 38. »In der Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen. [...] Je mehr die Denkmaschinerie das
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empirischen Wissenschaften geworden, dem sich die Kunst in ihrem mimetischen Unterfangen gleich mache255. Das voraufklärerische Denken war mimetisch da, wo sich der Mensch in einem Ähnlichkeitsverhältnis zur Natur wahrnahm und sie durch symbolische Handlungen zu beeinflussen trachtete256. Eine Distanz zum Objekt ergab sich für Adorno und Horkheimer erst mit dem wissenschaftlich-mathematisierten Zugriff auf die Natur257. Natur sei dem Urmenschen als »Fremdes« und »Anderes« gegenüber gestanden und habe ihm Furcht und Schrecken eingeflößt. Dabei blieben dem Urmenschen zwei Möglichkeiten einer Reaktion: »Entweder die Menschen machen sich der Natur gleich – oder die Menschen machen die Natur sich gleich.«258 Die erste Reaktion, die mimetische Angleichung des Menschen an das »Andere« der Natur, geschieht bei Adorno auf zweierlei Weise: Die Menschen vollzogen eine »Identifikation mit dem Angreifer«259 und stellten sich wie die Tiere in Gefahr in einer »Art Selbstauslöschung«260 tot oder sie tarnten sich, indem sie die »lebendige Natur« nachahmten und damit wieder in den Zustand zurückfielen, dem sie sich bereits entwunden
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Seiende sich unterwirft, um so blinder bescheidet sie sich bei dessen Reproduktion. Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wusste. Die Mythologie hatte in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurückgespiegelt und der Hoffnung entsagt. In der Prägnanz des mythischen Bildes wie in der Klarheit der wissenschaftlichen Formel wird die Ewigkeit des Tatsächlichen bestätigt und das bloße Dasein als der Sinn ausgesprochen, den es versperrt. Die Welt als gigantisches analytisches Urteil, der einzige, der von allen Träumen der Wissenschaft übrig blieb, ist vom gleichen Schlage wie der kosmische Mythos, der den Wechsel von Frühling und Herbst an den Raub Persephones knüpfte.« Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 27 und 28. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 26. »Die Zauberei ist wie die Wissenschaft auf Zwecke aus, aber sie verfolgt sie durch Mimesis, nicht in fortschreitender Distanz zum Objekt.« Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 13. »Es ist die Identität des Geistes und ihr Korrelat, die Einheit der Natur, der die Fülle der Qualitäten erliegt.« Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 13. Christian Thies: Adornos Mimesis. Zur Funktion dieses Begriffs in seinem Werk, S. 8. Christian Thies: Adornos Mimesis. Zur Funktion dieses Begriffs in seinem Werk, S. 8. Christian Thies: Adornos Mimesis. Zur Funktion dieses Begriffs in seinem Werk, S. 8.
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hatten261. Die Erlebnisse des Odysseus bei Kirke oder bei den Sirenen interpretierten Horkheimer und Adorno in diesem Sinne als Verführung zur Entindividualisierung und zum Regress auf eine frühere Stufe der Entwicklung262. Die Kirke- und Sirenenepisode der Odysee waren für Adorno und Horkheimer in Mythologie gekleidete Reflexionen zur Urgeschichte der Subjektivität. Sie handeln von der Gefahr des Regresses zu einer mythischen Natureinheit, vom Verlust des Selbst und von dessen Erhaltung durch Rationalität263. Naturbeherrschung bedeutete für Horkheimer und Adorno Angleichung des angstvoll erlebten »Anderen« an das Selbst, dessen Konstituierung verbunden war mit Triebverzicht durch Rationalität. Die abgespaltenen Emotionen und Impulse, die
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Christian Thies: Adornos Mimesis. Zur Funktion dieses Begriffs in seinem Werk, S. 8. Bei den Sirenen erlagen die Gefährten des Odysseus nicht dem Lied, dem Medium des »dionysischen Rausches«, da Odysseus den Ruderern die Ohren mit Wachs verstopfte und sich selbst an den Mast des Schiffes fesselte. Die Entzweiung der mythischen Einheit bestand für Odysseus in der Sirenenepisode in einem »Herrschaftsverhalten« dem eigenen »Selbst« gegenüber. Der an den Mast gefesselte Odysseus lauschte den verführerischen Sirenen, ohne dass er ihnen verfallen konnte, während seine rudernden Gefährten durch die verstopften Ohren den Gesang nicht hören konnten. Der Kunstgenuss war nur ihm vorbehalten und er war so mächtig, dass er ihm nur durch Technik widerstehen konnte. Alle Menschen, die die Insel der Kirke besuchten, verwandelte sie in Tiere. So wurden die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt. Die durch Individualisierung und Rationalität unterdrückte Natur der Menschen, so Horkheimers und Adornos Interpretation, entbinde sich durch den Zauber der Kirke. Mit dem Freiwerden der Natur durch die Verwandlung in die Tierheit, entspanne sich das durch Triebunterdrückung konstituierte Selbst. Allerdings, und das ist der entscheidende Hinweis der Kirkeepisode, verwandeln sich die Gefährten »nicht wie frühere Gäste zu heiligen Geschöpfen der Wildnis, sondern zu unreinen Haustieren, zu Schweinen.« Die Rückverwandlung in die Tierheit und nach der Konstituierung des Selbst wieder stattfindende Auflösung ist verbunden mit anderer Lust »als die von der Gesellschaft für ihre Zwecke sanktionierte«, denn »das mythische Gebot, dem sie«, die Gefährten des Odysseus, »verfallen, entbindet zugleich die Freiheit eben der unterdrückten Natur in ihnen.« Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 65. Jener Verlust des Selbst ist eine biologische unbewusste »Mimikry als ›primäre Reaktionsweise der Lebewesen auf die ihnen drohende Naturmacht‹. Diese in der Naturwelt zu beobachtende ›Angleichung ans Tote‹ als Tarnung, dient einzig der Selbsterhaltung, wobei Odysseus darüber hinaus die Beherrschung der Natur durch die Ratio erstrebt und vollzieht.« Swen Stein: »Der Begriff der Mimesis in der Ästhetischen Theorie Adornos«, S. 3.
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der Mensch nicht zulassen könne, so Adorno, würden nach außen projiziert. Dann brauche man nichts Eigenes, sondern könne das Andere opfern 264. Der äußeren Natur stelle sich das schutzbedürftige Subjekt entgegen, worauf seine Unterwerfung unter das abstrakte Allgemeine einer sich zu einer totalen Macht entwickelten Rationalität erfolge, die den mythischen Mächten der magischen Zeit vergleichbar geworden sei265 . Die Angleichung des Subjekts an diese rationalen Strukturen bezeichneten Horkheimer und Adorno als dessen Angleichung ans »Tote«266. Ihr Signum kennzeichne Verhärtung und Erstarrung, im Falle der Sirenenepisode bei den Gefährten sogar die totale Ausblendung der Empfindung. Mimesis dagegen bedeutet Öffnung zum »Anderen« der Natur oder zu einem anderen Menschen. Hier ist nicht die »Trennung zwischen Subjekt und Objekt« 267 bestimmend, sondern eine noch nicht durch Rationalität entfremdete Beziehung. Adorno und Horkheimers Gedanken einer durch Rationalität unterworfenen »äußeren und inneren Natur« finden sich bei Nietzsche in der Kritik der europäischen »décadence« und in der Nietzsche-Rezeption bei Wilhelm Worringer. Worringer bezog sich auf das Medium der Kunst, indem er Rationalität als Mittel der Selbstkonstitution in der Urgeschichte des Subjekts beschrieb268. Die Tä-
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Christian Thies: Adornos Mimesis. Zur Funktion dieses Begriffs in seinem Werk, S. 9 und 10. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst- Kultur- Gesellschaft, S. 392. Horkheimer und Adorno haben die Dialektik des »Beherrschens« in der »Verdinglichung« des Subjekts im 1. Exkurs »Odysseus oder der Mythos der Aufklärung« beschrieben. Der »listige Odysseus« steht für das moderne Subjekt, das sich selbst verleugnet, indem es sich anpasst und derart Erfolge feiert. Anpassung an die Natur »bringt diese unter die Gewalt des physisch Schwächeren. Die Ratio, welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote. Der subjektive Geist, der die Beseelung der Natur auflöst, bewältigt die entseelte nur, indem er ihre Starrheit imitiert und als animistisch sich selber auflöst. [...] Das Schema der odysseischen List ist Naturbeherrschung durch solche Angleichung.« Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 53. Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kunst-Kultur-Gesellschaft, S. 398. »Der primitive Mensch schafft sich in freier seelischer Tätigkeit Symbole des Notwendigen in geometrischen oder stereometrischen Gebilden. Vom Leben verwirrt und geängstigt, sucht er das Leblose, weil aus ihm die Unruhe des Werdens eliminiert und eine dauernde Festigkeit geschaffen ist. [...] Die Beschwörungskraft, die nach seiner ganz folgerichtigen Auffassung diesen klaren, bleibenden, notwendigen Liniensymbolen innewohnt, nutzt er dadurch aus, dass er alles, was ihm wert ist, mit diesen beschwörenden Zeichen bedeckt; ja in erster Linie sich selbst sucht er durch ornamentale Tätowierung tabu zu machen. Die primitive Ornamentik ist Beschwörung des von der fortschreitenden geistigen Orientierung noch nicht gemilderten
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towierungen des frühen Menschen waren für ihn Symbole der in der Urgeschichte vollzogenen Spaltung des Subjekts vom »Ureinen« und damit einer Spaltung, die das Naturverhältnis des modernen Menschen nach wie vor bestimmt. 2.2 Adornos Konzeption von Kunst Adorno rekurriert in seiner Konzeption von Kunst auf das »Ureine« der Natur, ohne diese wie Nietzsche zu mythologisieren. Die menschliche Lebenswelt bezeichnete er als »Natur«, aber als eine »andere Natur«, denn »die unbeabsichtigt erzeugte Naturwüchsigkeit der systemisch geronnenen Verhältnisse [...]« sei, so Jürgen Habermas zu Adorno, »die in bornierter Selbsterhaltung aufgehende instrumentelle Vernunft.«269 Eine Gesellschaft, die auf Naturbeherrschung baue, spalte sich von der Natur ab und werde zu deren Anderem270 . Adorno forderte dagegen ein Weiterdenken der »Dialektik der Aufklärung«, um den Menschen aus der »zweiten Natur« repressiver Verhältnisse zu befreien und dadurch ein anderes Verhältnis zur »ersten Natur« zu gewinnen. Die in die Natur gelegte Kausalität der Naturwissenschaften, die diese verfügbar mache271 , entspreche die »Kausalität naturwüchsiger gesellschaftlicher Verhältnisse«. Adornos Kritik der »naturwüchsigen Gesellschaft« ging von der Erfahrung totalitärer Systeme des 20. Jahrhunderts und der kapitalistischen Produktionsweise aus. Die diese Gesellschaft organisierende instrumentelle Vernunft sei auch »das Schicksal, das die innere Natur der handelnden Subjekte«272 erleide. Adornos Interesse, so Jürgen Habermas, habe den »gesellschaftlichen Zwangsmechanismen« gegolten, »die sich im Scheine der Freiheit etablieren, indem sie sich über eine Verinnerlichung normativer Grundsätze in neurotische, also unbewusste Zwänge umsetzen.«273 Die Objektivierung der natürlichen Umwelt treibe im Inneren des Subjekts die Selbstobjektivierung voran274. Es gebe einen Zusammenhang von Naturbeherrschung und Subjektzerfall275, von verfügbar
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Grauens vor der zusammenhanglosen Umwelt, und es ist klar, dass der fortschreitenden geistigen Orientierung ein Abflauen dieses starren abstrakten Charakters der Kunst, dieses Beschwörungscharakters der Kunst parallel läuft.« Wilhelm Worringer: Formproblem der Gotik, S. 16. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 201. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 201. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 200. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 201. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 202. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 208. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 208.
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gemachter äußerer Natur und »Repression der eigenen inneren Natur«276. »Freiheit«, so Jürgen Habermas, sei bei Adorno »als Emanzipation vom Bann einer naturwüchsigen Gesellschaft«277 verstanden worden. Die Möglichkeit von »Freiheit« wollte Adorno aber nicht mehr im »Reich des Intelligiblen«278 wie Immanuel Kant angesiedelt wissen. Sein Freiheitsbegriff rekurriert auf den Mimesisbegriff, insbesondere in der Ästhetik. Wie ist diese Mimesis zu verstehen und inwiefern kann Mimesis befreiend wirken? Adorno postulierte neben der Wirklichkeit einer »naturwüchsigen Gesellschaft« die unverstellte Wirklichkeit einer »ersten Natur«, die sich durch Mimesis evoziere. Diese »erste Natur«, das übernahm Adorno von Nietzsche, ist das Mimetische im Kunstwerk. Ist es bei Nietzsche der »große Stil«, den dieser in der ästhetischen Erfahrung aus einem ontologischen Perspektivismus formulierte, so spricht Adorno ein ästhetisches Vorbild nicht mehr direkt aus. Adorno wendete sich dezidiert gegen jeden Versuch, Kunst auf »Invarianten« oder eine normative Ästhetik auszurichten, die auf vergangenen Kunstregeln beruhen279 . Er knüpfte bei Kant an, welcher bereits postulierte, dass das Kunstwerk durch keine lehrbaren Regeln hergestellt werden könne. Eine normative Ästhetik war für Adorno »immer ein latent kunstfeindliches Unternehmen«280. Mimesis soll »befreien« vom »Bann« einer »naturwüchsigen Gesellschaft« und sie soll befreien von dem Druck, den das Subjekt in der Angleichung an diese gegen sich selbst ausübt281. Mimesis soll das zeigen, was der »naturwüchsigen Gesellschaft« ihr »Anderes« entgegenhält. Der Mimesis gelingt dies, so Adornos Hoffnung, indem sie etwas zeigt, was den Menschen als Naturwesen selbst bestimmt. Erst die Besinnung auf die eigene Naturherkunft und Naturhaftigkeit des Selbst eröffnete für Adorno eine Chance, eine verborgene, »wahre Natur« sichtbar zu machen. Diese verborgene Natur ist nicht die durch Naturgesetze instrumentalisierte Natur, sondern eine Natur, die sich unmittelbar in einer Empfin-
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Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 208. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 204. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur«, S. 199. Siehe hierzu: Albrecht Wellmer: »Über Negativität und Autonomie der Kunst«, S. 243. Albrecht Wellmer: »Über Negativität und Autonomie der Kunst«, S. 244. Adorno und Horkheimer »schlagen eine endgültige Brücke vom Mythos zur Aufklärung, wenn sie proklamieren, die Gesellschaft setze die drohende Natur fort als den dauernden, organisierten Zwang, der, in den Individuen als konsequente Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Natur zurückschlage als gesellschaftliche Herrschaft über die Natur.« Swen Stein: »Der Begriff der Mimesis in der Ästhetischen Theorie Adornos«, S. 3.
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dung oder einem Gefühl äußert. Beim Rezipienten bewirke diese Erfahrungen die Kunst und im Besonderen die moderne Kunst. Für Adorno war die Artikulation dieser verborgenen Natur Voraussetzung für die Produktion von Kunst überhaupt. Es ist das Naturhafte im Menschen, welches sich unabhängig von allen gesellschaftlichen Einflüssen und Ordnungen manifestiert und die »instrumentelle Vernunft« der »naturwüchsigen Gesellschaft« als Gewaltakt der Natur gegenüber offenbart. Echte Naturhaftigkeit ist der »instrumentellen Vernunft« entgegengesetzt und zeigt sich im »Elementarischen« in der Kunst als vergeistigte Natur282. Die Erfahrung des »Erhabenen« im »Elementarischen« bewirkt in Natur und Kunst eine Transformation, die zwei Formen von Befreiung erreicht: »die Emanzipation des Subjekts vom Zwang souveräner Naturbeherrschung und die Befreiung der Natur aus dem ›verruchten Zusammenhang von Naturwüchsigkeit und subjektiver Souveränität‹. Die Zusammengehörigkeit beider Momente ist für Adornos Konzeption essentiell.«
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Für Adorno löst die »Entfesselung des Elementarischen« die »Emanzipation des Subjekts«284 aus. Das »Elementarische« vergeistige als Natur die Kunst, denn je mehr Kunst ein Nichtidentisches, unmittelbar dem Geist Entgegengesetztes in sich hineinnehme, desto mehr müsse sie sich vergeistigen285 . Das »Elementarische« der Natur als etwas, dem »Macht und Größe eingeschrieben sind« 286 , ist das »Erhabene« und dieses »Erhabene«, so Adornos These, positioniere sich gegen eine fehlgeleitete, »naturwüchsige Gesellschaft«. Das naturhaft »Elementarische« erinnere an »Wildes« und damit an jenes Natürliche, in das sich bereits im antiken dionysischen Reigen der Satyr ekstatisch steigerte.
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»Natur, nicht länger vom Geist unterdrückt«, so Adorno, »befreit sich von dem verruchten Zusammenhang von Naturwüchsigkeit und subjektiver Souveränität. Solche Emanzipation wäre die Rückkehr von Natur, und sie, Gegenbild bloßen Daseins, ist das Erhabene.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 293. Wolfgang Welsch: »Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen«, S. 189. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 292. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 292. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 293.
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Kants »Erhabenes« formuliert die Herrschaftsgeste der Vernunft gegenüber der Natur287 , wogegen Adorno das Naturhafte selbst als »erhaben« gegenüber einem deformierten Naturverhältnis definiert. In Schuberts Musik zeigte sich Adorno das Erhabene mimetisch im »Weinen«288 , in der Gewalt der Empfindungen. Die Erschütterung, sei es im Hören von Musik – Adorno bezieht sich exemplarisch auf die Neunte Symphonie Beethovens – sei es in den Erfahrungen von Kunst, ist dem »üblichen Erlebnisbegriff entgegengesetzt«289. Es ereigne sich nicht etwas, was mit Lust zu tun habe, sondern Erschütterung evoziere ein »Memento der Liquidation des Ichs, das als erschüttertes der eigenen Beschränktheit und Endlichkeit innewird.«290 Die Ursache dieser Erschütterung ist ein anderes »Erhabenes«, als das von Kant postulierte, denn bei Kant sollte das »Erhabene« »die Größe des Menschen als eines Geistigen und Naturbezwingenden sein.«291 Von diesem Gestus rückte Adorno ab, denn für ihn enthüllt sich die Erfahrung des Erhabenen als Selbstbewußtsein des Menschen von seiner Naturhaftigkeit292. Der metaphysische Rest bei Adorno rekurriert wie der bei Nietzsche zwar auf ein »Elementarisches« in der Natur, will aber etwas ganz anderes. Denn, so Adorno zu Recht, »das Erhabene sei mit dem Scheincharakter der Kunst nicht
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Der Begriff des Erhabenen, den Kant geprägt hat, und der in der Kritik der Urteilskraft die Bestimmung des Menschen gibt, zeigt das Subjekt in der Erfahrung der Selbstgewissheit der Vernunft, die der Anblick einer schroffen Gebirgslandschaft oder der Schrecken des Krieges auslöst. Er zeigt gleichsam die Größe der Vernunft, die im Erleben des Gewaltsamen aufscheint, denn Erfahrung des Erhabenen, ausgelöst durch erschütternde Eindrücke, wirkt befreiend, da sie die unabhängige Vernunft erst zeigt. Adornos Begriff des Erhabenen beinhaltet ein vergleichbar Gewaltsames und »Inhumanes«. »Weniger wird der Geist, wie Kant es möchte, vor der Natur seiner eigenen Superiorität gewahr als seiner eigenen Naturhaftigkeit. Dieser Augenblick bewegt das Subjekt vorm Erhabenen zu Weinen. Eingedenken von Natur löst den Trotz seiner Selbstsetzung: ›Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!‹ Darin tritt das Ich, geistig, aus der Gefangenschaft in sich selbst heraus. Etwas von der Freiheit leuchtet auf, welche die Philosophie mit schuldhaftem Irrtum dem Gegenteil, der Selbstherrlichkeit des Subjekts vorbehält. Der Bann, den das Subjekt um Natur legt, befängt auch es: Freiheit regt sich im Bewußtsein seiner Naturähnlichkeit. Weil das Schöne der vom Subjekt den Phänomenen aufgezwungenen Naturkausalitäten nicht sich unterordnet, ist sein Bereich eines möglicher Freiheit.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 410. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 364. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 364. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 295. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 295.
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vereinbar«.293 Nietzsches mimisches Ideal war das »Erhabene« eines heroischen Klassizismus, gegen das sich Adorno stellte, denn darin erkannte er eine »fraglose Komplizität mit Herrschaft«294. Sein »Elementarisches« soll erschüttern, um auf verdeckte Herrschafts- und Verdinglichungsstrukturen aufmerksam zu machen. Adornos Konzeption von Kunst formulierte die Gegenposition zur gängigen Vorstellung von Klassizismus und dem Klassischen, nicht nur um sich gegen das zu positionieren, was die moderne Kunst mit dem Klassischen eint, denn das klassische Ideal verficht nicht weniger ein »Reinheitsideal« als das eines ist, was Adorno sich durch die moderne Kunst erhoffte. Die durch »Klassizität« beanspruchte »Autonomie«295 und »vollkommene Einstimmigkeit« opponiere der »Dira necessitas des Faktischen« wie es den »Zwang des Unausweichlichen« besitze296. Adornos Problem mit dem Klassischen lag nicht in dessen Autonomie, sondern in dessen Anspruch, das Allgemeine mit dem Besonderen zu verbinden, also darin, bindende Regeln von Form zu formulieren und zugleich nahe an der empirischen Realität zu sein297. Sein Begriff von Klassizität dagegen zeichne sich durch »immanentes Gelingen« aus, also »gewaltlose wie immer auch zerbrechliche Versöhnung des Einen und des Mannigfaltigen«298 . Auch das romantische Kunstwerk, so Adorno Valéry zitierend, sei dann durch das Gelingen klassisch. Dieser Begriff von Klassizität sei am höchsten gespannt299. Qualitativ moderne Bewegungen wiesen für Adorno eine Korrespondenz mit dem archaisch Vorklassischen auf300. Dabei sei es aber ein »Wahn«, die Haltung, »die in archaischen Gebilden sich bekundet [...] wieder einzunehmen.«301 Das »Elementarische« und die Mythen einer voraufklärerischen Archaik besitzen in ihrer Ursprünglichkeit zwar eine Nähe zum »mimetischen Impuls«, seien jedoch
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 295. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 296. Der Klassizismus war für Adorno der Ursprung einer autonomen Kunst. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 444. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 444. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 241. Adorno betrachtete die griechische Plastik als Prototyp des Klassischen. Dieser sei dadurch ein Problem entstanden, dass sie die Distanz zum empirischen Dasein eingebüßt habe, in welcher sich die archaischen Bildwerke hielten. Ursache sei, dass sie sich auf das sinnliche Erscheinen der Idee nicht länger verlassen konnte. Ebenda. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 242. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 243. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 243 und 244. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 244.
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zu vermeiden, da aus diesen das emanzipierte Subjekt sich entrungen habe302 . Der von Adorno formulierte Akt der Emanzipation zeigt den wesentlichen Unterschied zu Nietzsches apollinisch-dionysischer Kunst, denn deren Inhalt soll gerade bei dem im Mythos Erlebten anknüpfen, der »altgriechischen Urwelt des Großen, Natürlichen und Menschlichen«303 . Adorno wollte weder eine neue Archaik noch einen modernisierten Klassizismus. Nur Velleität, so Adorno, kette das Neue ans Immergleiche304. Von daher rühre die Kommunikation von Moderne und Mythos305. Das wesentliche Problem des Klassizismus lag für ihn in seiner »unmittelbaren Antithesis zum mimetischen Impuls«, den dieser »durch vergegenständlichte Nachahmung« ersetzt habe306 . In der Forderung nach »Formvollendung« zeige sich ein Scheinhaftes, das so tue, als ob keine Antinomien wären307. »Die Male der Zerrüttung«, so Adorno, seien das Echtheitssiegel der Moderne; das wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiere308. Adorno plädierte für die »offene Form« und für eine fragmentarische Kunst als romantische Antwort auf die Unmöglichkeit, klassische Werke hervorzubringen. Im Fragment spiegelte sich für ihn etwas, das den Blick aufs Ganze freizugeben vermochte, ohne in Erscheinung zu treten und damit in »Identität« zu erstarren309. 2.3 Die Auseinandersetzung mit der Widerspiegelungstheorie Adorno stand in der hegelschen Tradition und deren geschichtlichen Betrachtung des Kunstwerks. »Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke«, so Adorno, von dem
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 244. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 107. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 41. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 41. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 243. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 444. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 41. »Das Ideologische, Affirmative am Begriff des gelungenen Kunstwerks hat sein Korrektiv daran, daß es keine vollkommenen Werke gibt. Existierten sie, so wäre tatsächlich die Versöhnung inmitten des Unversöhnten möglich, dessen Stand die Kunst angehört. In ihnen höbe Kunst ihren eigenen Begriff auf: die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit Versuch zur Rettung der Kunst durch Demontage des Anspruchs, sie wären, was sie nicht sein können und was sie doch wollen müssen; beide Momente hat das Fragment. Den Rang eines Kunstwerks definiert wesentlich, ob es dem Unvereinbaren sich stellt oder sich entzieht.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 283.
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ihr Rang schließlich abhänge, sei bis ins Innerste geschichtlich310. Die Historizität der Kunst311 sei den Werken immanent, indem sich ihr Wahrheitsgehalt zeige und dieser unterliege keiner wechselnden Einschätzung312 . »Geschichtlich wird der Wahrheitsgehalt dadurch«, so Adorno, »dass im Werk richtiges Bewusstsein sich objektiviert.«313 Kunst war für ihn nicht nur Widerspiegelung, sondern wesentlich Medium des »Anderen« und darin durch Kritik »wahr«314 . Eine realistische Kunsttheorie setzte für ihn dagegen das als ontologisch Vorrangiges ein, was in der Ästhetischen Theorie durch Mimesis in seinem »Bann« gebrochen werden soll. Adorno stand in einem antipodischen Verhältnis zu Georg Lukács Realismus, welcher die Mimesis in anderer Weise als zentralen Begriff für die Interpretation der Kunst verwendet. Lukács umfangreiches Werk zur Ästhetik steht in der hegelianisch-marxistischen Tradition. Sein Mimesisbegriff ist realistisch-affirmativ und besitzt für die Architektur keine Möglichkeit der Kritik. Architektur ist für Lukács »weltschaffend«, weil sie sich nicht nur unmittelbar auf den Menschen, vor allem nicht auf den Einzelmenschen beziehe, sondern eine reale räumliche Umwelt schaffe315. Jener realen, räumlichen Umwelt der Architektur liege, wie bei der Musik, eine doppelte Mimesis zugrunde. Die erste Form der Mimesis übernahm Lukács von Schopenhauer, der in der Architektur nur die Form der Widerspieglung der Naturgesetzlichkeiten wie Schwere und Starrheit in ihrem statischen Gleichgewicht abgebildet gesehen habe316 . Diese Form der der Mimesis bezeichnet Lukács als von »desanthropomorphisierend-wissenschaftlicher Art« 317 . Die zweite Form der Mimesis, die er als gleichermaßen
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 285. »Ihre (der Individuen, J. F.) Arbeit, selbst die dem eigenen Bewußtsein nach individuellste des Künstlers, ist stets ›gesellschaftliche Arbeit‹; das Subjekt, das sie bestimmt, ist weit mehr gesellschaftliches Gesamtsubjekt, als dem individualistischen Wahn und Hochmut der durch geistige Arbeit Privilegierten lieb ist. In diesem kollektiven Moment, dem jeweils objektiv vorgezeichneten Verhältnis von Verfahrensweisen und Materialien kommunizieren trotz allem der künstlerische und materielle Stand der Epoche.« Adorno zitiert nach: Josef Früchtl: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, S. 89. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 285. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 285. »Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke, als Negation ihres Daseins, ist durch sie vermittelt, aber sie teilen ihn nicht wie immer auch mit. Wodurch er mehr ist als von ihnen gesetzt, ist Methexis an der Geschichte und die bestimmte Kritik, die sie durch ihre Gestalt daran üben.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 285. Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, S. 415. Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, S. 410. Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, S. 410
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»desanthropomorphisierend« bezeichnet, gilt der begrifflichen Verallgemeinerung des in den »Einzelmenschen heranreifenden sozialen Auftrags« der Architektur318. Der »kategoriale Aufbau der Architektur« versetze durch die gedoppelte Mimesis » – die Herrschaft der Gesellschaft über die Naturkräfte, ihre kollektive Tätigkeit im Interesse kollektiver Ziele – [...] den Einzelmenschen in eine unmittelbar erlebbare evokative Beziehung zum ästhetischen Abbild dieser Mächte, die hier als räumliche Wirklichkeit er319
scheinen.«
Die besondere Abhängigkeit der Architektur von der Gesellschaft lasse für die Architektur nur eine bejahende Funktion zu320 . »Weltschaffende Künste« waren für Lukács die Architektur und die Musik, weil in ihnen die gegebene objektive Wirklichkeit in ihrer realen Gegenständlichkeit das Vehikel der mimetischen Evokation bilde321 . Architektur sei ein homogenes Medium von umfassendem Reichtum, das durch seine gediegen, gehaltvolle Einheit die spezifisch kathartischen Wirkungen des architektonischen Raumes auslöse322. Gerade diese »kathartische Wirkung«, die Mimesiskonzeption von Lukács, entsprach Adorno einem »falschen Bewusstsein«. Die moderne Architektur besaß für Lukács die synthetisierende Wirkung der »ästhetischer Mimesis« nicht. Es sei der »vom entfalteten Kapitalismus gesell318 319 320
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Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, S. 410 Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, S. 421. »Diese Negation einer jeden Negativität begründet vielmehr die singuläre Eigenheit der Architektur, nämlich: dass sie allein imstande ist, das allgemeine gesellschaftliche Sein einer Periode direkt zu offenbaren, die im Leben durch mannigfache Vermittlungen der Taten, Gedanken etc. der Einzelmenschen sich durchsetzenden gesellschaftlichen Bestimmungen als eine unmittelbare, sinnlich-sinnfällige Evokation wirksam werden zu lassen. Das gesellschaftliche Pathos, das jede Kunst, wenn auch noch so weit vermittelt, doch irgendwie durchdringt, tritt hier in ganz reiner Form hervor; das Nichtsein der Negativität erwächst zu einer reinen und reifen Positivität.« Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, S. 420. Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, S. 383. »Die plötzliche, ruckweise Erhebung des partikularen Einzelmenschen in jene Atmosphäre, auf jene Höhe, von wo aus die Macht des allgemein Gesellschaftlichen, die im sozialen Zusammenleben und -wirken der Menschen waltet, in erschütternder Weise erlebbar wird. Aber nicht als Macht, die dem Menschen feindlich oder drohend gegenüberstehen würde, vielmehr als eigene Macht, die er freilich in seiner bloßen Partikularität nicht zu besitzen vermag, sondern bloß infolge seines Aufgehens in der konkret allgemeinen Einheit seines jeweiligen konkreten Kollektivs.« Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, S. 422.
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schaftlich-geschichtlich bedingte Zerfall des konkret-einheitlichen sozialen Auftrags an die Architektur, seine Auflösung in Abstraktheit, leere Subjektivität und modische Willkür.«323 Lukács benennt in der Atomisierung in Einzelinteressen den Kern kapitalistischer Organisation und Dynamik. Ihre affirmative Eigenschaft zwinge deshalb die Architektur »einen dem Wesen nach unmenschlichen Kapitalismus zu bejahen«.324 Adorno hat Lukács »realistischer Architekturauffassung« darin widersprochen, dass Kunst vor allem affirmativ zu sein habe. Indem Adorno der Kunst einen Autonomieanspruch zusprach, zeigte sie für ihn zwar die gesellschaftlichen heteronomen Herrschaftsverhältnisse an, führte sie aber zugleich der Kritik zu, um sie dadurch zu transzendieren. Für Adorno war Mimesis in der Kunst nicht nur Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern ebenso deren Kritik im Aufzeigen einer möglichen Versöhnung. 2.4 Absolute Modernität: Konstruktion und Mimesis Die Ästhetische Theorie wurde von Adorno als Verteidigungsschrift der künstlerischen Moderne geschrieben. Da diese zum Zeitpunkt ihres Erscheinens im Jahr 1970 bereits etabliert war, besaß das Werk nicht mehr seine intendierte Aktualität325. Moderne Kunst waren für Adorno die Werke von Schönberg, Beckett und von Paul Celan326 . Deren Modernität erfüllten für ihn die Forderung Arthur Rimbauds »Il faut être absolument moderne«327 und damit den Anspruch auf eine »absolute Modernität« einer »autonomen Kunst«. Nur aus ihrem »autonomen Status« heraus konnten Kunstwerke für Adorno die »naturwüchsigen« gesellschaftlichen Strukturen kritisieren und in einen anderen, höheren Status überführen, um damit dem Diktum der Moderne zu genügen. Ihr »autonomer Status« erlaube der Kunst, einen Stand der »Freiheit« einzunehmen328.
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Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, S. 431. Ihr »musste das unmenschliche Prinzip zur Grundlage ihrer Raumkonzeption, besser gesagt, zur Grundlage ihrer architektonischen Vernichtung des ästhetischarchitektonischen Raumes dienen, zu seinem Ersatz durch einen rein desanthropomorphisierenden«. Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, S. 433. Günter Figal bezeichnet Adornos Ästhetische Theorie als Werk post festum. Günter Figal: »Ästhetische Erfahrung der Zeit. Adorno und Benjamin«, S. 21. Günter Figal: »Ästhetische Erfahrung der Zeit. Adorno und Benjamin«, S. 21 und 22. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 286. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 37.
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»Freiheit« im Sinne einer »autonomen Kunst« hat bei Adorno dem Anspruch auf »absolute Modernität« zu genügen und zeige sich in der »Technizität« der Werke329 und deren Abwehr überkommener Regeln und Formen der Tradition330 . Kunstwerke vollziehen stellvertretend die »Dialektik der Aufklärung« durch Mimesis – darin sind sie »autonom« – indem sie mit ihrer »Technizität« das in Frage stellen, was eine »naturwüchsige Gesellschaft« hervorbrachte. Bei Adorno löse, so Günter Figal, jedes Kunstwerk, das dem Anspruch »absoluter Modernität« gerecht werden wolle, die immanente Formgesetzlichkeit und Stimmigkeit seiner Vorgänger auf, indem es schon herausgebildete Gestaltungen zur Disposition stelle331, denn die Aufklärung käme mit der neu erreichten Position ans Ende und hörte auf zu sein, was sie ist, wenn sie die erreichte Position immer nur bekräftigen würde332. Die Aufklärung dränge stattdessen über die erreichte Position wieder hinaus, sie komme nicht zur Ruhe und erfülle sich in keiner Position333 . Figal zweifelt deshalb zu Recht, ob derart ein Zustand der »Freiheit« jemals erreicht sei334, denn wenn die Moderne nur die Überbietung suche, so sei diese auch auf sie selbst anzuwenden. Mit Adornos Konzeption einer »absoluten Modernität« wird »eine antitraditionalistische Energie zum verschlingenden Wirbel«335. Es geht dann nicht mehr um ein »Überbieten«, sondern eher um einen »Parallelismus« der Werke in einem immer kurzatmigeren Prozess336 .
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Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 37. »Die Erfahrung von Moderne sagt mehr, obwohl ihr Begriff, wie immer auch qualitativ, an seiner Abstraktheit laboriert. Er ist privativ, von Anbeginn mehr Negation dessen, was nun nicht mehr sein soll, als positive Parole. Er negiert aber nicht, wie von je die Stile, vorhergehende Kunstübungen sondern Tradition als solche; [...].« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 38. Günter Figal: »Ästhetische Erfahrung der Zeit. Adorno und Benjamin«, in: Günter Figal: Kunst, S. 27. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 39. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 39. »Der Nachweis einer ›Dialektik‹ der Aufklärung soll Freiheit nicht ausschließen oder als illusorisch erweisen, sondern nur berücksichtigen, dass jedes Freikommen, das sich als Gegenbewegung vollzieht, keine wirkliche Freiheit ist [...]. In der Freiheit selbst liegt die Möglichkeit zur Unfreiheit, was sich in der Überbietungsdynamik der Aufklärung fortwährend bestätigt.« Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S.39. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 41. Siehe hierzu auch: Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 45.
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Kunst stelle das Überkommene in Form ihrer künstlerischen Technik337 radikal in Frage und lasse damit etwas in Erscheinung treten, was zunächst ohne Inhalt eine reine Form sei. »Das Neue« war für Adorno »ein blinder Fleck, leer wie das vollkommene Dies da.«338 Adorno zitiert Victor Hugos Urteil über Arthur Rimbaud, welcher der Dichtung einen »frisson nouveau« geschenkt habe, jenen Schauer, der auf die kryptische Verschlossenheit reagiere, die Funktion jenes Moments des Unbestimmten sei339. Das Neue löse einen Schauer aus, weil es der begrifflichen Kategorisierung entgehe. Es soll aber dort nicht stehen bleiben, sondern durch begriffliche Analyse in der Auseinandersetzung mit seiner Technik erschlossen werden340 . Moderne Kunstwerke zeichnen sich bei Adorno durch ihre fragmentarische Struktur aus und bilden dennoch eine innere Kohärenz aus. Der zunächst »blinde Fleck« des Neuen war für ihn nicht blind, sondern zeige in seiner individuellen Form des Kunstwerks etwas an. Die Werke unterlagen bei Adorno denselben Konstitutionsprinzipien wie sie für die Konstitution des »Selbst« verantwortlich sind. Dies zeigte sich für ihn in ihrer Konstruktion, dem Zusammensetzen und Zusammenfügen der Morpheme nach immanenten Gesetzen, die, wegen ihres »autonomen Status«, unabhängig von gesellschaftlichen Rationalisierungsvorgängen gedacht wurden, ohne sich grundsätzlich von diesen zu unterscheiden341 .
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Für Adorno, so Figal, sei der bloße Rückgriff auf tradierte Formen letztlich gleichbedeutend mit Formverzicht. Günter Figal: »Absolut modern. Zu Adornos Verständnis von Freiheit und Kunst«, S. 42. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 38. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 38. »Wieviel schwerer Technik wiegt, als kunstfremder Irrationalismus Wort haben möchte, ist an dem Einfachen zu lernen, daß dem Bewußtsein, [...] diese umso reicher sich entfaltet, je tiefer es in ihre Komplexion eindringt. Das Verständnis wächst mit dem der technischen Faktur. Dass Bewußtsein töte, ist ein Ammenmärchen; tödlich ist einzig falsches Bewußtsein.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 318. »Die Rationalität der Kunstwerke bezweckt ihren Widerstand gegen das empirische Denken: Kunstwerke rational gestalten heißt soviel, wie sie konsequent durchbilden. Damit kontrastieren sie zu dem ihnen auswendigen, dem Ort der naturbeherrschenden ›ratio‹, von der die ästhetische herstammt, und werden zu einem Für sich. Die Opposition der Kunstwerke gegen die Herrschaft ist Mimesis an diese. Sie müssen dem herrschaftlichen Verhalten sich angleichen, um etwas von der Welt der Herrschaft qualitativ Verschiedenes zu produzieren. Noch die immanent polemische Haltung der Kunstwerke gegen das Seiende nimmt das Prinzip in sich hinein, dem es unterliegt und das es zum bloß Seienden entqualifiziert; ästhetische Rationalität will wiedergutmachen, was naturbeherrschende draußen angerichtet hat.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 430.
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Dabei ging es Adorno nicht um Ausschluss von Rationalität, sondern um deren Verbindung mit der Mimesis vor jeder Form und jeder tradierten Technik. Auch in der Kunst findet für ihn »Herrschaft« statt, die Herrschaft der ratio über ihre Elemente, aber die »ästhetische Rationalität« bezeichnet etwas qualitativ anderes als die Rationalität einer »instrumentellen Vernunft«. Ihr Unterschied besteht im »monadischen« oder autonomen Status der Kunstwerke. Adorno verwendete den Begriff »Monade« um das »Für sich« der Kunstwerke zu bezeichnen342. Seine »Monaden« haben keine Fenster und sie sind, wie bei Leibniz, Teil eines übergreifenden Zusammenhangs343 und weisen damit über sich hinaus344 , indem sie ein Moment des Allgemeinen besitzen, das sie mit ihrer Epoche verbindet. Die Wechselwirkung von Allgemeinem und Besonderem, so Adorno, die in den Kunstwerken bewusstlos sich zutrage, und welche die Ästhetik zum Bewusstsein zu erheben habe, sei die wahre Nötigung einer dialektischen Ansicht der Kunst345 . Das »Für sich« der Kunstwerke dagegen isoliert sie, macht sie »autonom« und entzieht sie dem Zugriff gesellschaftlicher Rationalität. Adorno beschreibt das Widersprüchliche dialektisch: »Dass Kunstwerke als fensterlose Monaden das ›vorstellen‹, was sie nicht selbst sind, ist kaum anders zu begreifen als dadurch, dass ihre eigene Dynamik, ihre immanente Historizität als Dialektik von Natur und Naturbeherrschung nicht nur desselben Wesens ist wie die auswendige, sondern in sich jener ähnelt, ohne sie zu imitieren.«
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Adorno rekurriert hier auf den Terminus von Walter Benjamin von der »unsinn-
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»Die Monade (bei Leibniz) [...] ist Einheit und Aktivität. Sie ist ein dynamisches und teleologisches Kraftzentrum (ê capable d’action: zum Handeln fähiges Seiendes) seelischer Art, sie ist wesenhaft Individuum und qualitativ von jeder anderen Monade verschieden, und sie ist unvergänglich. [...] Jede Monade ist ganz Individuum, aber auch ganz Gesamtheit. Denn in jeder Monade spiegelt sich die gesamte Welt in einer bestimmten Perspektive. Jede Monade repräsentiert von ihrem Standpunkt aus das Universum: sie stellt es dar, indem sie es vorstellt. [...]« Emerich Coreth und Harald Schöndorf: Philosophie des 17. Und 18. Jahrhunderts, S. 88 und 89. »Als Moment eines übergreifenden Zusammenhangs des Geistes einer Epoche, verflochten mit Geschichte und Gesellschaft, reichen die Kunstwerke über ihr Monadisches hinaus, ohne dass sie Fenster hätten. Die Interpretation des Kunstwerks als eines in sich stillgestellten, kristallisierten, immanenten Prozesses nähert sich dem Begriff der Monade.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 268. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie S. 269. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 270. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 15.
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lichen Ähnlichkeit« und wendet ihn auf das Kunstwerk in seinem Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit an, aber auch auf Kant und dessen »freiem Spiel der Einbildungskraft« in Verbindung zum »Geschmacksurteil«, das den »sensus communis« anzeigt. Für Georg Lukács, dessen »marxistische Widerspiegelungstheorie«347 Adorno ablehnte, war das Kunstwerk eine realistische, abbildhafte Repräsentation der Wirklichkeit. Adornos fensterlose »Kunstmonade« stand dagegen mit der Wirklichkeit als ein »sinnvoll gefügter Zeichenkomplex, ein System von Zeichen, dem als Ganzes eine analogische Funktion zugeschrieben werden kann«, in Verbindung348. Kunst und Architektur waren für Adorno nicht »realistisch« im Sinne der Widerspiegelungstheorie, sondern sie blieben letztlich kryptisch in ihrer Verbindung zur Wirklichkeit. Ähnlich kryptisch verhält sich die Rationalität der Kunstwerke zur Mimesis. Rationalität sei im Kunstwerk das einheitsstiftende, organisierende Moment, nicht ohne Relation zu der draußen waltenden, bilde aber nicht deren kategoriale Ordnung ab349 . Sie ist damit nicht gleich, sondern ähnlich oder analog der »Herrschaft« durch Rationalität. Die Logik der Kunst sei paradox nach den Regeln der anderen ein Schlussverfahren ohne Begriff und Urteil350 , denn die Rationalität oder Logik der Kunst besitze eine andere Folgerichtigkeit, als sie in der Sprache oder der Mathematik angewandt werde und diese Form von Rationalität bilde sich über die »Konstruktion« ab351 . »Konstruktion« ist nach Adorno die »Synthesis des Mannigfaltigen zu Lasten der qualitativen Momente [...]«352, sie ist das, was die Dinge in eine Ordnung zwingt, in ein System, das in seiner Logik und Evidenz etwas mit Rationalität und Selbstkonstitution zu tun hat. Auch in der Kunst geht es um Herrschaft und Unterwerfung des »Anderen«, allerdings ist diese auf den monadischen Bereich des Kunstwerks und dessen immanenten Regeln und Gesetze beschränkt.
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Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, S. 95. Birgit Recki: Aura und Autonomie. Birgit Recki: Aura und Autonomie, S. 88. Birgit Recki: Aura und Autonomie, S. 205. »Gleichwohl ist Konstruktion die heute einzig mögliche Gestalt des rationalen Moments im Kunstwerk [...]. Konstruktion ist in der Monade des Kunstwerks, mit beschränkter Machtvollkommenheit, der Statthalter von Logik und Kausalität, transferiert aus der gegenständlichen Erkenntnis.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 91. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 91.
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Nur aus ihrer Autonomie heraus vermag sich Kunst kritisch zur Realität zu stellen. Idiosynkrasien sind die mimetischen Reaktionen in der Genese der Kunstwerke, die mit der »Konstruktion« und dem rationalen Faktor bei Adorno das Kunstwerk bestimmen. Das Rationale ist Kalkül, das Mimetische das Verlangen nach »Ausdruck«. »Konstruktion« und »Ausdruck« lassen die Form eines Werkes entstehen. Swen Stein erkennt gegenüber der Rationalität das notwendige Korrektiv in der Mimesis, welche ohne diese nur »physiologische Anähnelung an die Natur« sei. Erst durch Rationalität sei es der Mimesis möglich Erkenntnis zu werden353. In der Form kommt beides zusammen, das konstruktivrationale Vermögen, das »Beherrschende« in den Werken, das sie mit der Konstituierung des Selbst in der Geschichte des Menschen vergleichbar ereignet und das mimetische Vermögen des Menschen, jenes Vorbewusste, das naturhaft als Impuls hervortritt. Formgefühl ist Adorno deshalb zugleich »blinde und verbindliche Reflexion der Sache« und eröffnet darin die eigenartige Erkenntnisfunktion der Kunst354. Die Rationalität der Kunstwerke, ihre »Konstruktion«, bezeichnet Adorno als ihre »ästhetische Rationalität« 355 . Adorno betone, so Günter Figal, »an der Konstruktion besonders ihre Tendenz zur Auflösung der besonderen Elemente im Allgemeinen des determinatorischen Prinzips, eine Tendenz, die Konstruktion mit der gesellschaftlich realisierten Rationalität teilt. [...] Das Determinatorische der Rationalität wird, bezogen auf die Gesellschaft, als ein Ganzes bestimmt, das heißt, Gesellschaft unter-
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»Damit Mimesis Erkenntnis werden kann, bedarf es des ›korrektiven Korrelats‹ der Rationalität, denn sie ist es, welche die nötige begriffliche Distanz gegen eine leere, physiologische Anähnelung an die Natur bewahrt, wohingegen Mimesis den durch ebendiese rationale Distanz hervorgegangenen Hiatus zwischen Subjekt und Objekt kittet. Dieses dialektische Zusammenwirken von Mimesis und Rationalität konstituiert eine Synthesis, die die ›Entfremdung‹ und ›Depersonalisierung‹ aufhebt.« Swen Stein: »Der Begriff der Mimesis in der Ästhetischen Theorie Adornos«, S. 4. »Formgefühl ist zugleich blinde und verbindliche Reflexion der Sache in sich, auf welche sie sich verlassen muss; die sich selbst verschlossene Objektivität, die dem subjektiven mimetischen Vermögen zufällt, das seinerseits an seinem Widerspiel, der rationalen Konstruktion sich kräftigt. Die Blindheit des Formgefühls korrespondiert der Notwendigkeit in der Sache. An der Irrationalität des Ausdrucksmoments hat Kunst den Zweck jeglicher Rationalität.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 175. »Diese ästhetische Rationalität heißt bei ihm (Adorno) Konstruktion.« Günter Figal: Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, S. 55.
236 | M IMESIS UND MODERNE A RCHITEKTUR liegt total der Bestimmung durch Rationalität, sie konstituiert sich in dieser und sie wird als Ganzes im determinatorischen Prinzip von Rationalität fassbar.«
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Von der gesellschaftlichen Rationalität unterscheidet sich »ästhetische Rationalität« durch ihre Autonomie. Das, was Adorno als die »Konstruktion« des Kunstwerks bezeichnete, ist Grund ihrer »Freiheit«, das zu realisieren, zu was sich die Materialien autonom fügen, d. h. »ästhetische Rationalität« besitzt nicht das Zwanghafte gesellschaftlicher Rationalität, sondern soll sich im monadischen Bereich des Kunstwerks frei entfalten. Die »Konstruktion« »reißt die Elemente des Wirklichen aus ihrem primären Zusammenhang heraus und transformiert sie, bis sie von sich aus abermals einer Einheit fähig werden, wie sie draußen heteronom ihnen auferlegt ward und drinnen nicht weniger ihnen widerfährt.«
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Für Günter Figal ist die »Unversöhnlichkeit« von Mimesis und Rationalität bei Adorno »der Inbegriff von Kunst« 358. Die Monade des Kunstwerks bedingt gleichermaßen ein Denken in rationalen Strukturen, ein Beherrschen der Materie, und sie benötigt »Entäußerung«, Verlust des »Selbst« durch mimetische Angleichung359 . Wenn ein künstlerisches Werk wesentlich durch »mimetische Impulse« bestimmt ist, so ist Erkenntnis durch Kunst nicht an den »Begriff« gebunden360. Adorno knüpfte bei Schelling an, indem er der Kunst gegenüber dem begrifflichen Denken den Vorrang einräumte361 . Schellings Bezeichnung des Erkenntnischarakters von Kunst in der »intellektuellen Anschauung« verweist auf den
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Günter Figal: Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, S. 55 und 56 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 91. Günter Figal: Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, S. 59. »Unser mimetisches Vermögen ist die Grundlage nicht nur der intersubjektiven Kommunikation, sondern einer objektiven Harmonie mit allem Seienden, auch der Natur.« Christian Thies: Adornos Mimesis. Zur Funktion dieses Begriffs in seinem Werk, S. 11 und 12. »Das wesentlich Mimetische erwartet mimetisches Verhalten.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 190. »Diese Lösung des Problems, wie objektive Totalität begreiflich wird, ohne dass sie, als Totalität, nur im Denken und deshalb nicht objektiv ist, oder, als Objektives, vom Denken als Moment seiner Allgemeinheit gefasst werden kann, weil dem Objektiven selbst nicht der Charakter von Totalität zukommt, rückt die Ästhetische Theorie in die Nähe der Kunstphilosophie Schellings. Für Adorno wie für Schelling ist die Kunst dem begrifflichen Denken gegenüber vorrangig.« Günter Figal: Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, S. 99.
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besonderen Charakter dieser Form von Erkenntnis362. »Intellektuelle Anschauung« war für Schelling ähnlich dem Vermögen, das Adorno für die Kunst mit dem Begriff der »ästhetischen Rationalität« umschrieb. Beide Begriffe bezeichnen ein Erkenntnisvermögen, das sich nicht durch den »Begriff« erschließt, das aber vergleichbare Evidenzen besitzt363. Adorno verlangte von der Kunst, dass sie in ihrer Sprache Philosophie werde364. »Der Wahrheitsgehalt« der Kunst, so Adorno, »kann kein Gemachtes sein.«365 Das nicht »Gemachte«, das in der Kunst als Wahrheit sichtbar wird, ist Mimesis von »Gesellschaftlichem« und »Natur«. »Das Erscheinende, wodurch das Kunstwerk das bloße Subjekt hoch überragt, ist der Durchbruch seines kollektiven Wesens. Die Erinnerungsspur der Mimesis, die jedes Kunstwerk sucht, ist stets auch Antezipation eines Zustandes jenseits der Spaltung zwi366
schen dem einzelnen und dem anderen.«
Betont diese These Adornos das Verhältnis zum »Gesellschaftlichen«, so zeigt sich die »Wahrheit der Natur« im »Naturschönen« in der Kunst. Das »Naturschöne« in der Kunst bei Adorno meint nicht abbildhafte Widerspiegelung367 , sondern Erfahrung von »Unmittelbarkeit«: »Ganz und gar«, so Adorno, stünde die Kunst als vom Menschen »Gemachtes« einem seinem 362
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»Diese allgemein anerkannte und auf keine Weise hinwegzuleugnende Objektivität der intellektuellen Anschauung ist die Kunst selbst. Denn die ästhetische Anschauung eben ist die objektiv gewordene intellektuelle. Das Kunstwerk reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat.« F. W. J. Schelling zitiert nach: Günter Figal: Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur. S. 100. »Philosophie und Kunst konvergieren in deren Wahrheitsgehalt: die fortschreitend sich entfaltende Wahrheit der Kunstwerke ist keine andere als die des philosophischen Begriffs.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 197. S. a. Günter Figal: Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, S. 100 und 101. »Die Bedingung der Möglichkeit der Konvergenz von Philosophie und Kunst ist aufzusuchen in dem Moment der Allgemeinheit, das sie in ihrer Spezifikation – als Sprache sui generis – besitzt.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 197. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 198. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 198. »Kunst vertritt Natur durch ihre Abschaffung in effigie; alle naturalistische ist der Natur nur trügend nahe, weil sie, analog zur Industrie, sie zum Rohstoff relegiert.« Denn »die keineswegs esoterische Reaktion, welche die lila Heide und gar das gemalte Matterhorn als Kitsch empfindet, reicht weit über derlei exponierte Sujets hinaus: innerviert wird darin die Unabbildbarkeit des Naturschönen schlechthin.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 104 und S. 105.
238 | M IMESIS UND MODERNE A RCHITEKTUR »Anschein nach nicht Gemachten, der Natur, gegenüber. Als pure Antithese aber sind beide aufeinander verwiesen: Natur auf die Erfahrung einer vermittelten, vergegenständlichten Welt, das Kunstwerk auf Natur, den vermittelten Statthalter der Unmittelbarkeit.«
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Der Herstellprozess der Werke folgt für ihn inneren, autonomen Regeln, ähnlich wie sie beim Entstehen von Naturdingen wirken. »Die Mimesis der Kunstwerke«, so Adorno, »ist Ähnlichkeit mit sich selbst. Jenes Gesetz wird, ein- oder mehrdeutig, vom Ansatz eines jeglichen Werkes gestiftet; ein jegliches ist, vermöge seiner Konstitution, darauf verpflichtet.«369 Diese Regeln oder gesetzmäßigen Prozesse blieben für Adorno auf ein »Außen« bezogen, ohne dass dieses als direkte »Spiegelung« erscheint370. Adorno verwendete das Bild der Kristallisation, um den Prozess des Entstehens des monadischen und automimetischen Kunstwerks zu beschreiben371. Sein »Ähnlichsein mit sich selbst« besitzt eine Struktur, der sich ihre Elemente mimetisch angleichen. »Die Ähnlichkeit des Kunstwerkes«, so Adorno, »definiert sich also nicht über etwas außerhalb seiner, sondern ist ›natura naturans‹ über Automimesis.«372 Wie die Natur schöpferisch tätig ist und ihren Gesetzen folgt, so
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 98. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 159. S. a. Günter Figal: Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, S. 63. Ein Werk der Kunst erscheint dann als richtig, wenn es, wie Kant es formulierte, ein Geschmacksurteil darstellt, dem zwangsläufig der sensus communis inhäriert. Auch Adorno rekurriert in seinem Konzept einer modernen Kunst auf den »Geschmack«. Die ästhetische Erfahrung, die sich im Falle der modernen Kunst als kritische Position gegenüber einer »naturwüchsigen Gesellschaft« zeigen soll, bedeutet eine Naturerfahrung, die sich ohne Mythologie allein durch die Ratio noch bestimmt. Adornos mimetischer Impuls zielt auf das »Naturschöne« und zeigt in seiner Verbindung mit der Ratio in der jeweiligen Technik der Formulierung Gesellschaftliches an, welches dem Geschmacksurteil einer Klasse von Rezipienten – den »Kennern moderner Kunst« – entspricht. »Die Interpretation des Kunstwerks als eines in sich stillgestellten, kristallisierten, immanenten Prozesses nähert sich dem der Monade.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 268. Das Bild des Kristalls war Adorno wohl von Walter Benjamin und Hegel her bekannt. Siehe hierzu: Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, S. 107, Note 71: »Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert.« (Walter Benjamin, GS I, 2; S. 702f) Sven Stein: »Der Begriff der Mimesis in der Ästhetischen Theorie Adornos«, S. 6.
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folgt ein Kunstwerk seiner inneren Struktur373 und gewinnt dadurch seine ästhetische Qualität, die es dem Naturschönen gleich macht374 . Das Kunstwerk ist, auch wenn es automimetisch durch Variation, Wiederholung und Spiegelung autonom entwickelt wurde, durch seinen Außenbezug gesellschaftlich375. Adornos Kunst ist kristalline »Konstruktion« und Mimesis, sie ist Dialektik seiner inneren Gesetzmäßigkeit und eine mimetische Reaktion auf eine heterogene Außenwelt376. Kunstwerke unterscheiden sich darin von den Werken der Natur durch
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»Nicht more scientifico ist von Notwendigkeit in der Kunst zu reden, sondern einzig soweit, wie ein Werk durch die Macht seiner Geschlossenheit, die Evidenz seines So-und-nicht-anders-Seins wirkt, als ob es schlechterdings da sein müsste, man es nicht wegdenken könnte.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 121. Bedeutsam war der Einfluss von Adorno auf die Kunsttheorie von Adrian Leverkühn in Thomas Manns Doktor Faustus, die sich in dessen monadischautomimetischem Kunstkonzept zeigt: »Jeder Ton der gesamten Komposition, melodisch und harmonisch, müsste sich über seine Beziehung zu dieser vorbestimmten Grundreihe auszuweisen haben. Keiner dürfte wiederkehren, ehe alle anderen erschienen sind. Keiner dürfte auftreten, der nicht in der Gesamtkonstruktion seine motivische Funktion erfüllte. Es gäbe keine freie Note mehr. Das würde ich strengen Satz nennen.« Die von Leverkühn beschriebene »ästhetische Rationalität« zeigt, was unter »Automimesis« verstanden werden kann. Der Kritik der »Verdürftigung«, dem »unveränderlichen Abspielen einer solchen Intervallreihe, wenn auch noch so wechselnd gesetzt und rhythmisiert«, will der Komponist Leverkühn durch »alle Techniken der Variation« entgehen. Die kristalline Klarheit der Komposition beschreibt er als »gebunden durch selbstbereiteten Ordnungszwang, also frei.« In der Musik müsse man nicht alles hören: »Wenn du unter ›Hören‹ die genaue Realisierung der Mittel im einzelnen verstehst, durch die die höchste und strengste Ordnung, eine sternensystemhafte, eine kosmische Ordnung und Gesetzlichkeit zustande kommt, nein, so wird man’s nicht hören. Aber diese Ordnung wird oder würde man hören, und ihre Wahrnehmung würde eine ungekannte ästhetische Genugtuung gewähren.« Die Figuren von Leverkühns Werk sind durch ein Spiel von Variationen entstanden, ohne dass ein nennbares »Äußeres« auf dieses Spiel einwirkte. Thomas Mann: Doktor Faustus, S. 192 und 193. Viktor Zuckerkandl hat das »Automimetische« der Kunst als »Konstruktion« bezeichnet, als reine »Konstruktion«, mit strengster Ausschließlichkeit einzig seiner inneren Anforderungen genügend, welche er in den Gesetzen ihrer Elemente gegeben sah, die dadurch die Konstruktion des Kunstwerks ermöglichten. Das so Geschaffene und so Verstandene, das Kunstwerk, trete dann »als Ganzes in eine neue Schicht von Bedeutungen ein, die das Werk zu anderem, zu etwas ihm selbst Äußeren in Beziehung setzen, als dessen ›Bild‹ es nun erscheint, [...].« Zuckerkandl Viktor: »Mimesis«, S. 233. »Der Doppelcharakter der Kunst als eines von der empirischen Realität und damit dem gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang sich Absondernden, das doch zugleich in die empirische Realität und die gesellschaftlichen Wirkungszusammen-
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Technik, das heißt, sie entstehen nicht unmittelbar aus sich heraus, sondern sind immer vermittelt, also »heterogen« 377 . 2.5 Mimesis als Ontologie Nietzsches Metaphysik der Kunst basiert auf ihrer stimulierenden Erfahrung, die auf eine andere, gleichermaßen erschreckende wie berauschende Wirklichkeit verwies. Erst mit und aus dieser Erfahrung entstand für ihn eine Möglichkeit, Kunst hervorzubringen mit der die apollinische Gestalt des Kunstwerks eine zur Form gewordene »dionysische Erfahrung« darstellt. Nietzsche dachte das Kunstschöne gegen Hegel und gegen eine szientifische Teleologie, indem er es an eine vom Intellektualismus befreite, rituelle Erfahrung von »Naturhaftem« band. Damit wies er wie später Adorno der Kunst die eigentlich metaphysische Rolle zu. Der späte Nietzsche erkannte dann die Architektur als das Medium, mit der sich das »Naturhafte«, von ihm als »große Vernunft« bezeichnet, in die apollinische Form überführen ließ. Sein Rückgriff auf das Klassische sollte allerdings weniger eine Restituierung der antiken Klassik in einem formalen Regelsystem sein, sondern vielmehr das »Joch des Klassischen« nutzen, um den intendierten Ausdruck zu erreichen. Die »Physiologie der Kunst« gründet auf einem Anthropomorphismus, der die Architektur nach Gebärden, »Tönen« und Rhythmen versteht, welche sich auf das Leibliche des Menschen beziehen. Nietzsches Bruch mit der Teleologie der Aufklärung und deren szientifischen Ausrichtung wollte einer »tragischen Erkenntnis« Raum geben, die den Menschen auf seine Naturherkunft verweist. Deren körperhafte, anthropomorph ausgerichtete Kunstform könne die vitalisierenden Stimulanzien und Steigerungen des Humanen bewirken. Adornos Idee einer mimetischen Kunst ist der von Nietzsche entgegengesetzt. Das von ihm intendierte »Naturschöne« ist nicht anthropomorph bestimmt, sondern findet sich wie bei Kant in der »freien Natur« im Ausdruck des »Naturschönen«. Dieses soll bei Adorno durch das Kunstwerk, das sich im mimetischen
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hänge hineinfällt, kommt unmittelbar an den ästhetischen Phänomenen zutage. Diese sind beides, ästhetisch und faits sociaux.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 375. »Kein Kunstwerk hat ungeschmälerte Einheit, ein jedes muss sie vorgaukeln und kollidiert damit mit sich selbst. Konfrontiert mit der antagonistischen Realität, wird die ästhetische Einheit, die jener sich entgegensetzt, zum Schein immanent. Die Durchbildung der Kunstwerke terminiert im Schein, ihr Leben wäre eins mit dem Leben ihrer Momente, aber die Momente tragen das Heterogene in sie hinein, und der Schein wird zum Falschen.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 160.
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Vermögen auf eine »erste Natur« bezieht, von einer »naturwüchsigen Gesellschaft« emanzipieren. Kunstwerke sind der »ersten Natur« darin ähnlich, dass sie, so Adornos Überzeugung, frei das zeigen, wohin die ihnen innewohnende Rationalität sie führt. Dieser automimetische Prozess, der die formbestimmenden Kriterien erst im Prozess ihres Entstehens festlegt, ist der »ersten Natur« der »natura naturans« ähnlich. Deshalb können Kunstwerke wie das Erlebnis der Natur für Adorno emanzipierend wirken. »Ästhetische Spiritualität« hat, so Adorno, »von je mit dem ›fauvre‹ dem Wilden besser sich vertragen als mit dem kulturell Okkupierten.«378 Das »Naturschöne«, das sich im mimetischen Akt äußert, war für Adorno »die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität.«379 Das Erleben dieses »Naturschönen« in der Kunst ist nonverbal und entzieht sich der Mitteilbarkeit380. Adorno beschreibt den mimetischen Akt des Kunstrezipienten als »Vertrag« mit dem Werk, den dieser unwillentlich und ohne Bewusstsein unterschriebe, sich ihm zu fügen, damit es spreche. In der angelobten Rezeptivität lebe das Ausatmen in der Natur nach, das reine sich Überlassen381. Das »Naturschöne« ist schön als »Naturschönes« und soll nicht sprachlich werden, da es dadurch, so Adorno, schon verletzt werde 382 . Natur war für Adorno ein ontologisch Vorrangiges, das »Urbild der künstlerischen Tätigkeit«383, auf das sich die Mimesis bei der Herstellung des Kunstwerks bezieht. Die Würde der Natur, deren Schönheit die Kunst nachahme, weise die Vermenschlichung
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 293. Adorno bezeichnete Goethes »Wanderers Nachtlied« als unvergleichlich, »weil darin nicht so sehr das Subjekt redet – eher möchte es, wie in jedem authentischen Gebilde, durch dieses hindurch verstummen –, sondern weil es durch seine Sprache das Unsagbare der Sprache von Natur imitiert.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 114. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 114. »Das Lückenlose, Gefügte, in sich Ruhende der Kunstwerke ist Nachbild des Schweigens, aus welchem allein Natur redet. Das Schöne an der Natur ist gegen herrschendes Prinzip wie gegen diffuses Auseinander ein Anderes; ihm gliche das Versöhnte.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 115. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 114. »Die Scham vorm Naturschönen rührt daher, dass man das noch nicht Seiende verletze, indem man es im Seienden ergreift.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 115. Thomas Baumeister: »Theodor W. Adorno – nach zehn Jahren«, S. 11.
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von sich384. Kunst entzieht sich der »Anpassung des Geistes an das Nützliche«385 wie der Rationalisierung durch Begriffsbildung, die es in die Warenwelt einreiht und ihm einen für Adorno zweifelhaften Sinn verleiht. Kunstwerke sollen in ihrer Lückenlosigkeit, ihrer Gefügtheit und Ruhe ein »Nachbild des Schweigens« sein, »aus welchem allein Natur redet«386. Adornos sublime Deutung von Naturähnlichkeit in der Kunst zielt auf das Schöne der äußeren Natur, das durch Mimesis in der Kunst erscheint. Abbilder der Natur zeigen eine Vieldeutigkeit, die »inhaltlich ihre Genese in der der Mythen« besitzt387. Kunst dagegen solle sich aller Topoi wegen ihrer mythologischen Inhalte enthalten388. Diese wollte Adorno überwinden, indem er der Natur als Schicksal entronnen, ihre Restitution herbeiführte389. Er zielte auf eine Kunst, ähnlich der Kants, die auf Natur und deren unabbildbar Prinzipielles geht, um ihr dadurch ähnlich zu werden. Adorno nennt dies die ihr immanente Disposition über Materialien, die sich zum Gebilde fügt, das aus einem dem Naturmoment Ähnlichen im ästhetischen Verhalten resultiere390. Adornos Kunstmonade ist »Natur«, transformiert in die Sprache des Werks als »Erinnerungsspur der Mimesis«391 und Spiegel des Gesellschaftlichen392 . Wäre nur »Natur« im Kunstwerk, so wäre das Kunstwerk zeitlos. Beim »Naturschönen« spielten »kaleidoskopisch wechselnd, naturhafte und geschichtliche Elemente ineinander«393. Die Beurteilung von Natur und Kunst war für Adorno geschichtlich bedingt und mit in deren »Fluktuation« und Nichteindeutigkeit zeigte sich für ihn das »Naturschöne«394. Damit thematisierte er den entscheidenden
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»Die Würde der Natur ist die eines noch nicht Seienden, das intentionale Vermenschlichung durch seinen Ausdruck von sich weist.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 115. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 115. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 115. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 105. »Der Schrecken erscheint noch in der Drohung der Vogelzüge, denen die alte Wahrsagerei anzusehen ist, allemal die von Unheil.« Ebenda. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 104. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 105. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 104. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 198. »Indem der Künstler in seiner Produktion zur eigenen Unmittelbarkeit stets auch negativ sich verhält, gehorcht er bewußtlos einem gesellschaftlich Allgemeinen: bei jeder geglückten Korrektur sieht ihm das Gesamtsubjekt über die Schulter, das noch nicht geglückt ist.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 343. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 111. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 111.
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Unterschied zum hegelschen Naturschönen: Die Notwendigkeit des Kunstschönen leite sich bei Hegel aus den Mängeln der unmittelbaren Wirklichkeit her, die das Kunstschöne, durch »geistige Beseelung« seinem »Begriffe gemäß zu machen« habe395. Der Geist der idealistischen Spekulation nahm damit für Adorno im Naturschönen »die Substanz des Schönen selbst« nicht wahr396. Mimesis, so Adorno, »ist in der Kunst das Vorgeistige, dem Geist Konträre und wiederum das, woran er entflammt.«397 Mit dem »Naturschönen«, dem »Elementarischen« in der Kunst, vergeistige das Kunstwerk398. Im »Elementarischen« zeige sich ein Naturgrund, zu dem wohl auch nach den Erkenntnissen der Neurobiologie die zerebralen Fähigkeiten des Menschen gehören. »Adorno schwebt das Bild einer Vernunft vor«, so Jürgen Habermas, »die aus Natur entspringt und mit ihr verflochten bleibt.«399 Natur wird nicht als das der Vernunft Entgegengesetzte gedacht, sondern als Grund der Vernunft. Damit konnte die Kunst, insofern sie die »körperlichen Impulse einer leibgebundenen Existenz«400 hervorbringt, den Naturgrund erscheinen lassen. Wenn, wie Adorno annahm, ein vorbewusstes mimetisches Verhalten das hervorbringt, was Kunst vergeistigt, so kann dies nur so verstanden werden, als dass sich der Naturgrund unmittelbar im Kunstwerk offenbart und darin Geist ist401 . Natur und Geist waren für Adorno im Schönen gleichen Ursprungs und verwiesen aufeinander. Nietzsches »Physiologie der Kunst« und Adornos »mimetischen Impuls« waren demnach gleichermaßen Ontologie der Natur und erklären in unterschiedlicher Weise mit ihr das Schöne des Kunstwerks402.
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 118. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 118. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 180. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 293. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur «, S. 198. Jürgen Habermas: »Ich selber bin ja ein Stück Natur «, S. 198. Adorno erkannte in der Erfahrung des Schönen der Natur auch die des Schmerzes, da das Schöne etwas verheiße. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 114. Siehe hierzu das Nietzschekapitel »Mimesis als Selbstorganisation und Steigerungsform des Lebens« und Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 341 und 342. Adorno hat allerdings unterschieden zwischen einem Elementarischen der Natur, das in der Kunst erscheint und einfacher Stimulation durch Musik: »[...] die popular music in all ihren Versionen ist diesseits solcher Sublimierung, somatisches Stimulans, und damit, angesichts ästhetischer Autonomie, regressiv.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 177.
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2.6 Adorno und die Architektur Adorno hat seine ästhetische Theorie von der Musik her gedacht. Da die Künste in ihren Kunstformen verwandt sind, kann die ästhetische Theorie einen Zugang zur modernen Architektur eröffnen und über ihre Zweckhaftigkeit mit Adorno als Verbindung von »Konstruktion« und »Mimesis« verstanden werden. Ein Funktionalismus, wie ihn Hannes Meyer vertrat, schien Adorno gleichermaßen falsch wie ein Anknüpfen bei traditionellen Vorstellungen403. Nur sachlich zu sein, so Adorno, führe »bis zum bitteren Ende gedacht [...] zum barbarisch Vorkünstlerischen.«404 An dieser Stelle äußert Adorno Kritik an Loos, dessen »Hass aufs Ornament« die rationale Vergegenständlichung gegen den konträren mimetischen Impulses bedeute405. Architektur ist bestimmt durch die »faits sociaux« einer gesellschaftlichen »instrumentellen Vernunft«, sie kann sich aber auf ihre »Autonomie« besinnen und eine architektonische Gestalt formulieren, die sich aus der ihr eigentümlichen »ästhetischen Rationalität« und »inneren Teleologie« entwickelt406. Architektur ist dann in ihrem Entwurf durch einen Prozess bestimmt, der ihre Elemente einer inneren Kohärenz folgend zur »Architekturmonade« werden lässt, ohne dass ihr, so Adornos Hoffnung, etwas hinzugefügt werden muss, das sie an traditionelle ästhetische Mittel bindet. Das mimetische Vermögen rekurriert auf eine »natura naturans«, die durch konstruktive Rationalität Form generiert, indem sie das architektonische Material wie Funktion, Konstruktion und Raum aus der Zweckidee entwickelt, um dadurch »Ausdruck« zu erreichen. Ausdrucksstarke Architektur entsteht bei Adorno dann, wenn sie das wird, was sie an objektivem »Ausdruck«407 bereits potentiell ist408. Ihr »Ausdruck« ist
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»Beiherspielende Schönheit, nach undurchsichtig traditionellen Kategorien wie formaler Harmonie oder gar imponierender Größe bemessen, geht auf Kosten der realen Zweckmäßigkeit, in der Zweckgebilde wie Brücken oder industrielle Anlagen ihr Formgesetz aufsuchen. Daß die Zweckgebilde vermöge ihrer Treue zu jenem Formgesetz immer auch schön seien, ist apologetisch, als wolle es trösten über etwas, was ihnen abgeht: schlechtes Gewissen von Sachlichkeit selber.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 96. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 97. Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, S. 111. »Das autonome, einzig in sich funktionelle Kunstwerk dagegen möchte durch seine immanente Teleologie erreichen, was einmal Schönheit hieß.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 96. »Ahmt das mimetische Verhalten nicht etwas nach, sondern macht sich selbst gleich, so nehmen die Kunstwerke es auf sich, eben das zu vollziehen. Nicht imitieren sie im Ausdruck einzelmenschliche Regungen, vollends nicht die ihrer Autoren;
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ein kollektives Phänomene durch die idiosynkratischen Regungen des Subjekts hindurch. Werde in der Kunst die Wahrheit oder das Objektive oder das Absolute ganz und gar Ausdruck, so Adorno, so werde umgekehrt in der Philosophie der Ausdruck, jedenfalls seiner Tendenz nach, zur Wahrheit409. Damit besitzt der Begriff »Ausdruck« bei Adorno einen ontologischen Anspruch.410 »Ausdruck« ist dabei dem Begriff der »Funktion« nicht entgegengestellt, sondern reslutiert wesentlich aus dem Zweckhaften. Dies zeigt seine Interpretation von Scharouns Philharmonie (Abb. 14). »Große Architektur«, so Adorno, »empfängt ihre überfunktionale Sprache, wo sie, rein aus ihrem Zweck heraus, diesen als ihren Gehalt mimetisch bekundet. Schön ist die Scharounsche Philharmonie, weil sie, um räumlich ideale Bedingungen für Orchestermusik herzustellen, ihr ähnlich wird, ohne Anleihen bei ihr zu machen. Indem ihr Zweck in ihr sich ausdrückt, transzendiert sie die bloße Zweckmäßigkeit, ohne dass im Übrigen ein solcher Übergang den Zweckformen garantiert wäre. Das neusachliche Verdikt über den Ausdruck und alle Mimesis als ein Ornamentales und Überflüssiges, als unverbindlicher subjektiver Zutat gilt nur so weit, wie Konstruktion mit Ausdruck fourniert wird; nicht für Gebilde absoluten Ausdrucks. Abso411
luter Ausdruck wäre sachlich, die Sache selbst.«
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wo sie dadurch wesentlich sich bestimmen, verfallen sie als Abbilder eben der Vergegenständlichung, gegen die der mimetische Impuls sich sträubt. [...]« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 169. »Nachahmung ist Kunst einzig als die eines objektiven, aller Psychologie entrückten Ausdrucks, dessen vielleicht einmal das Sensorium an der Welt inneward und der nirgends anders überdauert als in Gebilden.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 171. »Das Erscheinende, wodurch das Kunstwerk das bloße Subjekt hoch überragt, ist der Durchbruch seines kollektiven Wesens. Die Erinnerungsspur der Mimesis, die jedes Kunstwerk sucht, ist stets auch Antezipation eines Zustands jenseits der Spaltung zwischen dem einzelnen und den anderen. Solches kollektive Eingedenken in den Kunstwerken ist aber nicht choris vom Subjekt sondern durch es hindurch; in seiner idiosynkratischen Regung zeigt die kollektive Reaktionsform sich an.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 198. Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, Bd. 1, S. 87 und 88. Wenn Philosophie eine Wahrheit suche, so Theodor Adorno, liege diese nicht primär in einem Sichanmessen von Sätzen oder Urteilen oder Gedanken an einmal so gegebene Sachverhalte, sondern es gehe hier vielmehr um Ausdrucksmomente. Jenem Ausdruck, der von ihm und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung als mimetisch bezeichnet wurde, sei Philosophie tief verwandt. Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, Bd. 1, S. 83. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 72 und 73.
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Was ist die Sache selbst, die durch »absoluten Ausdruck« sichtbar wird? Adorno verwendete zur Beschreibung der Scharounschen Philharmonie mehrfach den Zweckbegriff in einem Sinne, wie ihn Kant für die Kunst dachte, dessen paradoxe Formulierung einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« das Zweckhafte der Natur zum ästhetischen Ereignis transzendiert412 . Adornos Interpretation der Philharmonie bestimmt ein vergleichbar Zweckhaftes in der Architektur wie es Kant in der Natur wahrnahm, das, obwohl in allen Teilen Voraussetzung der Gestalt, nicht als solches wahrgenommen werde. Abbildung 14: Hans Scharoun: Innenraum der Berliner Philharmonie, 1963.
Es sei eine Art »überfunktionaler Sprache«, die rein aus dem Zweck diesen »ihren Gehalt mimetisch bekundet«. Wenn dies erreicht werde, ohne dass die »Kon-
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»Die Zweckmäßigkeit ohne Zweck ist die Sublimierung von Zwecken.« Theodor W. Adorno.: »Funktionalismus heute«, S. 107.
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struktion« durch ein appliziertes Ornament »fourniert« werde, sei Architektur »absoluter Ausdruck«. Der Zweck der Philharmonie bestand für Adorno darin, »räumlich ideale Bedingungen für Orchestermusik« herzustellen, so dass das Bauwerk als Mimikri an seine Funktion als Klangraum verstanden werden kann. Adornos Interpretation der Philharmonie stellt allerdings die technischfunktionale Analyse des Zweckhaften schon allein deshalb nicht ins Zentrum, weil alle gesellschaftlichen Prozesse für ihn, trotz Planung, planlos und irrational verliefen. Dies präge sich »sämtlichen Zwecken auf und dadurch auch der Rationalität der Mittel, die jene Zwecke erreichen sollen.«413 Scharouns Gedanken zur Formulierung der Raumschale waren zunächst auch nicht technisch-funktional, sondern egalitär, d. h. er versuchte die »Barriere zwischen Schauspielern und Publikum aufzuheben« und die »Qualität der Sitzplätze soweit wie möglich zu vereinheitlichen und die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Plätzen möglichst auszumerzen.«414 Die politisch-soziale Intention Scharouns, die Musik in den Mittelpunkt zu stellen415, erklärt zwar die grundsätzliche Anordnung der Sitzplätze und des Orchesters, führt aber noch nicht zur Form der Raumschale. Zur Form führte Scharoun die Nachahmung der »natura naturata« und zwar in Gestalt einer vom Menschen bereits verformten Landschaft: »Der Saal ist wie ein Tal gedacht, auf dessen Sohle sich das Orchester befindet, umringt von den aufsteigenden ›Weinbergen‹. Die Decke entgegnet dieser ›Landschaft‹ wie eine ›Himmelschaft‹. Vom Formalen her wirkt sie wie ein Zelt.«
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Scharoun verwendete zur Schaffung seiner Architektur außerarchitektonische Vorbilder, um den Prozess der architektonischen Formbildung zu evozieren. Er wollte damit nicht wie Boullée eine Naturstimmung in die Architektur überführen, sondern nutzte das Bild der formalen Struktur des topographischen Artefakts. Die Klüfte und Zacken der Ränge erklären sich als Landschafts- und Naturanalogien und verbinden sich mit der zeltartigen, konvexen Deckenkonstruktion zur mimetischen Nachbildung der inneren Raumschale des Klangkörpers. Die Philharmonie ist damit in einem erweiterten Sinne Ausdruck der funktiona-
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Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, S. 109. Peter Blundell Jones: Hans Scharoun, S. 36. »Musik im Mittelpunkt – das war von Anfang an der Leitgedanke, aus dem sich die Gestalt des Saales der neuen Philharmonie ergibt, des Saales, der seine Priorität bei dem gesamten Bauwerk bewahrt.« Hans Scharoun, zitiert nach Peter Blundell Jones: Hans Scharoun, S. 36. Peter Blundell Jones: Hans Scharoun, S. 36.
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listischen Idee: Sie ist Klangschale und skulptural-räumliche Analogie von Landschaft und Artefakt. Sie verschränkt unentwirrbar funktionale Erfordernis, Klangkörper und Weinbergmetapher zu einem architektonischen »Ausdruck«. Dabei ist ihre komplexe, fragmentarische, äußere Form genau so schwer zu fassen wie ihre inneren Räume417. Adorno interpretierte Scharouns Philharmonie als »Ausdrucksform«, die ihre konkrete Gestalt einem Zweckhaften verdankt, das sie mit dem »Naturschönen« verbindet und durch die formale Analogie der Weinbergterrassen eine individuelle, skulpturale Ornamentik entfaltet. Dadurch, dass ihre »ästhetische Rationalität« alle Teile bestimmt, erreicht der Raum eine Monumentalität, wie sie Naturformationen als »absoluten Ausdruck« oder »reinen Ton« besitzen418. Scharouns Philharmonie war für Adorno deshalb paradigmatisch für eine neue Architektur, weil sie das »Naturschöne« in der Architektur zeigt und in der Verbindung von überzeitlichem »Naturschönen« mit dem Zeitlichen »absolut modern« erscheint. Der naturmythische Grundzug der Ästhetischen Theorie schließt programmatisch jede positiv bestimmbare Schönheit, wie sie auf »mathematischen Symmetrieverhältnissen« oder »formalen Proportionen«419 beruht, in gleicher Weise aus wie den Ausdruck einer »intentionalen Vermenschlichung« 420. Adorno ging es um ein »Inneres der Natur«, das keine formale Regel erfassen und zu dem es erkennbare Invarianten nicht geben kann, das aber durch das mimetische Vermögen des Subjekts, das selbst Natur ist, in der Architektur sich als »Naturschönes« zeigen kann. Die Ästhetische Theorie vertritt eine Ästhetik von enigmatischem Charakter, die in den formalen und räumlichen Strukturen der Architektur »absoluten Ausdruck« dann erkennt, wenn die architektonische Form als zweckhaft, »als Sache selbst« erscheint, ohne den Zweck zu thematisieren. Dies inkludiert, dass sie kein Modell der Mimesis besitzt, das in irgendeiner Weise mit einer »autonomen Sprache der Architektur« in Verbindung gebracht werden kann, da diese dann »die Sache selbst« wäre. Adornos Gedanke einer grundsätzlichen Ausdrucksnähe von Naturformen und Kunstformen lieferte den Architekten den theoretischen Background, die
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Peter Blundell Jones: Hans Scharoun, S. 41 und 42. »Der reine Ausdruck der Kunstwerke befreit vom dinghaft Störenden, auch dem sogenannten Naturstoff, konvergiert mit Natur, so wie in den authentischsten Gebilden Anton Weberns der reine Ton, auf den sie sich kraft subjektiver Sensibilität reduzieren, umschlägt in den Naturlaut; den einer beredten Natur freilich, ihre Sprache, nicht ins Abbild eines Stücks von ihr.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 121. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 110. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 115.
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sich jeder Form des Klassischen entziehen wollten. Hier kann exemplarisch Günther Behnisch genannt werden. Seine Gedanken zur Architektur in einem Gespräch mit Wolfgang Pehnt und Oswald-Mathias Ungers lassen Parallelen mit dem Denken Adornos erkennen. Dies ist nicht überraschend, da Behnisch nach eigener Aussage Thesen der Ästhetischen Theorie für seine eigene Arbeit verarbeitete421 : »[...] Tatsächlich meinen wir«, so Behnisch, »dass das Individuelle gegenüber dem Allgemeinen, das wir auch leicht im Totalitären sehen, im Zweifelsfalle für uns den Vorrang hat. [...]«422 Die architektonischen Elemente sollen bei Behnisch keiner vorgesetzten Regel folgen, sondern sich frei, so wie es Landschaft, Material und Funktion erfordern, zu einem Verband ordnen. Seine Hauptaufgabe sah er mit darin, den Prozess der Formwerdung so weit wie möglich hinauszuschieben, um sich die Freiheit des Spiels der Formfindung zu erhalten423. Behnisch sprach nicht von der ästhetischen Qualität seiner Bauten, sondern von der »Freiheit« ihrer architektonischen Elemente. Diese bezog sich dann aber doch auf das Formale, das er im
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Elisabeth Spieker: Günther Behnisch- die Entwicklung des architektonischen Werkes. Gebäude, Gedanken und Interpretationen, S. 58. Günther Behnisch und Oswald-Mathias Ungers im Gespräch mit Wolfgang Pehnt: »Den Ort suchen, den Ort setzen«, S. 774. »[...] Wir meinen«, so Behnisch, »dass wir die Individualität, die sich ja nur im Spielraum und im Freiraum bilden kann, nicht nur dem Menschen zubilligen sollten, sondern auch – jetzt darf ich mich auf Schiller beziehen – auch den Dingen. Ich bin zwar kein Kunst-Architekt, aber Schiller hat es auf die Kunst bezogen. Er sagt, dass in der Kunst auch die Dinge tendenziell frei sein sollen. [...] Wenn man versucht, die Dinge als das zu respektieren, was sie in der Natur unter denselben Bedingungen geworden sind, unter denen wir ja auch das geworden sind, was wir sind, und wenn man versucht, auch die Dinge der Technik zu respektieren, ohne sich ihnen zu unterwerfen, dann gewinnen die Dinge an Leichtigkeit, das heißt, sie werden sie selbst. Sie haben ihren Spielraum gefunden, sie können spielen.« Günther Behnisch und Oswald-Mathias Ungers im Gespräch mit Wolfgang Pehnt: »Den Ort suchen, den Ort setzen«, S. 775.
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»Diffusen« auflösen möchte424 . Er positionierte sich gegen eine »autonome Architektur« und deren rationale, positive Ästhetik, da er Architektur als individuelle Lösung in der mimetischen Anverwandlung an die jeweilige Bauaufgabe verstand. Wie bei den romantischen Organikern führt dies zu architektonischen Formindividualitäten, die sich weniger in einen städtischen Verband einordnen, sondern sich freier in einem Naturraum entfalten. Natur ist ähnlich »diffus« und lässt deshalb ein »diffuses«, vielgestaltiges Gebilde eher zu. Die romantischorganische »Freiheit« des architektonischen Objekts evoziert, denkt man sie weiter, die Auflösung der städtischen Regeln, da ihre Architekturen aus individuellen, automimetischen Prozessen entstehen und sich vorgegebenen städtischen Regeln widersetzen. Adornos Ästhetische Theorie, am »Naturschönen« die Werke der Kunst zu messen und die eigene Leiberfahrung im »mimetischen Impuls« in das Kunstwerk zu überführen, besitzt nach wie vor Aktualität, allerdings ohne ihren naturmythischen Background. So soll bei Peter Eisenman durch ein Weiterdenken der philosophischen Argumentation der Dialektik der Aufklärung425 Architektur ein »verändertes Verhältnis zur Welt der Objekte« zeigen: »Diese entwinden sich der Beherrschung und Bedeutungsgebung durch den Menschen und stehen dem Subjekt eigenmächtig, fremd und schweigend gegenüber distinct from man«.
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»[...] Jedes Ding hat seine Individualität. Wobei ich Dinge nicht nur als Materialien meine; ich meine unter Dingen das gesamte Material von Architektur, und das ist nicht zuletzt auch die Form; auch die hat eine Eigengesetzlichkeit. In diesem Zusammenhang wäre es sehr interessant, unter der Feld-Theorie nachzusehen, wohin die geometrisch geschlossenen Formen und wohin die diffusen Formen assoziiert werden. [...]« Günther Behnisch und Oswald-Mathias Ungers im Gespräch mit Wolfgang Pehnt: »Den Ort suchen, den Ort setzen«, S. 775. Später wird Behnisch konkreter: »Es ist völlig unstrittig, dass die Assoziationen dahin laufen: geschlossene Formen = Feudalsystem; diffuse Formen = pluralistische Gesellschaft. Lange Gerade liegt in der Nähe von Krieg und Tod. Quadrat liegt in der Nähe von Staat und Macht. Der alte Nierentisch lag in der Nähe von Individuum und Offenheit [...].« Ebenda, S. 776. Ullrich Schwarz: »Another look – anOther gaze. Zur Architekturtheorie Peter Eisenmans«, S. 13. Ullrich Schwarz: »Another look – anOther gaze. Zur Architekturtheorie Peter Eisenmans«, S. 17 und S. 18. »In the end modernism made it possible for objects to be released from their role of speaking for man, to be able to speak for themselves, of their own objecthood.« Peter Eisenman: »The Graves of Modernism, in: Oppositions 12, 1978, S. 25, zitiert nach Ullrich Schwarz, S. 18.
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Darin aber besitzen sie das von Adorno postulierte Moment der modernen Kunst, das sich der Kommunikation verweigere. Eisenman suchte in den späten 70er Jahren »das Ende jeder Nachahmungsästhetik und die radikale Verzeitlichung der Architektur, die Abschied von jeder ontologischen oder wissenschaftlichen Normierung des Schönen 427
und damit von der Kategorie des Schönen selbst nimmt.«
Mit Nietzsche, Adorno und Foucault wollte Eisenman die »Metaphysik der Architektur« aufheben, um an deren Stelle eine Architektur zu finden, die in eine »ontologische Pluralität mündet«428 . Eisenmann schnitt die Architektur von »ihren vorherigen Legitimationskriterien« ab429, was für ihn dazu führte, dass »Kategorien wie Funktionalität, Typologie, Ikonographie, obwohl sie präsent sein mögen, nicht mehr als Quellen der Legitimation zu gebrauchen, das heißt als Urteilkriterien«430 verwandt werden konnten. Seine Architektur sollte dem nachgehen, was traditionell durch die Gesetze der Nachahmung und der Nützlichkeit unterdrückt worden sei431. Die programmatische Ausblendung der Nachahmung sollte den Glauben an eine »originäre Form« oder eine »originäre Struktur« aufgeben432, da es »keinen Glauben mehr an einen transzendentalen Signifikanten, keinen Glauben mehr an eine Theorie der Metaphysik der Präsenz gebe.«433 Das Ausgrenzen der traditionellen Nachahmung434 führte für ihn allerdings
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Ullrich Schwarz: »Another look – anOther gaze. Zur Architekturtheorie Peter Eisenmans«, S. 19. Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro ZaeraPolo«, S. 216. Eisenman bezieht sich hier auf das Essay »Über Maschinen« von Félix Guattari. Felix Guattari: »Über Maschinen«, in: Henning Schmidgen: Ästhetik und Maschinismus. Texte zu und von Félix Guattari, Berlin 1995, S. 115-132. »Vorstellungen wie ein gelungener Grundriss oder klassische Ästhetik«, so Eisenman, »können keine Kriterien mehr sein.« Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro Zaera-Polo«, S. 220. Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro ZaeraPolo«, S. 220. Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro ZaeraPolo«, S. 220. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 289. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 289. Seine ersten Häuser wurden für ihn »problematisch«, weil sie »ikonisch [...] ihren Ausgang von Würfeln nahmen« und damit mit einem »apriorischen Wertesatz anfingen.« Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro Zaera-Polo«, S. 223.
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nicht zu einer Architektur ohne Mimesis. Alejandro Zaera-Polo benennt bei Eisenman die Bindung an eine generative, regelbasierte Design-Methode, die den Entwurf ohne Rückgriff auf ein akkumuliertes Wissen oder eine, sei es technische, sei es eine kulturelle Erfahrung der Disziplin hervorbringe435. Eisenman verwendete hierfür den Begriff der »Architekturmaschine«, für die er willkürlich Strukturen wie das »Diagramm eines Flüssigkristalls« oder die einer »Gehirnwellenfunktion« auswählte, um sie durch »externe Vektoren« derart gezielt zu manipulieren, dass eine Ähnlichkeit zwar mit diesen erhalten bleibe, ohne dass sie mit der Funktion des Gebäudes etwas zu tun hätten436. Die »Architekturmaschine« soll Bindungen besitzen, wie sie im formalen Vorbild und anderen Gegebenheiten angelegt sind und es ihnen erlauben, »sich miteinander zu verweben, ihr eigenes Sein zu finden.«437 Der Prozess der Formfindung bei Eisenman besitzt damit eine doppelte Mimesis, denn er orientiert sich an einem dinghaften Vorbild und dessen formalen Gesetzmäßigkeiten und an weiteren Einflussfaktoren wie z. Bsp. dem Kontext, auf die er reagiert. Das Ergebnis des Prozesses sei offen, denn es gebe keine Vorhersagbarkeit über seine Entwicklung438. Damit aber entspricht Eisenmans Konzept ziemlich genau dem, was Adorno mit dem Begriff der »ästhetischen Rationalität« verband, denn der Kampf von »Konstruktion« und »Mimesis« im Subjekt ist vergleichbar offen und entscheidet sich im Prozess; er benötigt auch durch das Ausgrenzen des Traditionellen eines »Neuen«, das auch für Adorno nur aus der Not ein Gewolltes war439 . Nicht das »Neue« war für Adorno Kriterium von Modernität, sondern dessen »immanente Durchbildung« 440. Was Eisenman allerdings von Adorno trennt, ist dessen Bindung der Architektur an ihre Funktion, denn diese stand für ihn für »die Sache selbst« und »Architektur dürfte desto höheren Ranges sein, je inniger sie die beiden Extreme, Form Konstruktion und Funktion, durch einander vermittelt.«441 Die Dinge, so Adorno, würden erlöst von ihrer eigenen Dinglichkeit, wenn sie ganz ihren
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Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro ZaeraPolo«, S. 215. Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro ZaeraPolo«, S. 216-217. Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro ZaeraPolo«, S. 217. Peter Eisenman: »Ein Gespräch mit Peter Eisenman. Interview mit Alejandro ZaeraPolo«, S. 217. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 41. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 286. Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, S. 120.
N IETZSCHE UND A DORNO
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Zweck fänden442. Die raison d’être einer autonomen Kunst sei, dass einzig das Unnütze einstehe für das Nützliche und dessen glücklichen Gebrauch im Kontakt mit den Dingen jenseits der Antithese von Nutzen und Nutzlosigkeit443 . Da aber Architektur einen Nutzen zu stiften hat, war das »Naturschöne«, das der Architektur als Kunst den Maßstab vorgab, für Adorno an die vollkommene Erfüllung seines erweiterten Funktionsbegriffs gebunden. Was Eisenman allerdings mit Adorno verbindet, ist die prozessuale, automimetische Strategie, die sich dem festen Begriff entzieht444 und, um ganz Kunst zu werden, ihrem eigenen Formgesetz folgend, autonom sich kristallisiere445. Wenn das »Naturschöne« für Adorno zentrale Bedeutung besaß, so kann die spekulative Frage nach seiner Akzeptanz einer biomorphen Architektur gestellt werden, die als rechnergestützte Struktur- und Formgebilde in ihrer Gestalt Natur assoziieren und nachahmen. Die Struktur- und Formgebilde wirken ähnlich »diffus« und sind Nachahmungen von Naturformen, die oft von einem mikroskopisch kleinen Maßstab herrühren. Als solche aber sind sie abbildhafte Nachahmungen wie die abbildhafte Wiedergabe der Natur in der bildenden Kunst. Für Adorno stand die Abbildung einer »lila Heide« in Konflikt mit der »Unabbildbarkeit des Naturschönen schlechthin« 446, denn Kunst ahme nicht Natur nach, auch nicht einzelnes Naturschönes, sondern das Naturschöne an sich447. Das »Naturschöne« besteht auch für die Architektur nicht in dessen imitativer Wiedergabe, sondern im »Ausdruck« der Natur, der sich für die Architektur über Adornos erweiterten Funktionsbegriff ergibt.
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Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, S. 123. Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, S. 124. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 118. Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, S. 121. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 105. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 113.
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V. Die »Querelle des anciens et des modernes« im 20. Jahrhundert
Wenn Adorno sich programmatisch den »modernes« zuordnete, so gehört Nietzsche zu den »anciens«. Mit Nietzsche setzte sich die Mitte des 17. Jahrhunderts begonnene »Querelle« im 19. und 20. Jahrhundert darüber fort, in welcher Weise mit der Antike noch eine überzeitliche Wahrheit formuliert werden kann. Adorno bezog sich dagegen mit dem »Naturschönen« auf eine überzeitlich postulierte »Wirklichkeit« der Natur. Sowohl Nietzsche als auch Adorno suchten eine ontologische Erfahrung der Natur. Nietzsche in der Begründung einer »Physiologie der Kunst« und Adorno im »Naturschönen«. Bei Nietzsche führte dies zu einer Restitution des Klassischen, bei Adorno zu dessen Negation. Nietzsches und Adornos ästhetische Konzepte formulieren zwar grundsätzlich unterschiedliche mimetische Strategien, sie eint aber ihr gemeinsamer ontologischer »Grund«, die Natur, auf die sich die Mimesis bezieht. Nietzsches »klassische Kunst« besitzt ihr Urbild in einem durch Regeln bestimmten Ausdrucksideal und folgt deshalb einer »gebundenen Mimesis«, während eine am »Naturschönen« ausgerichtete Mimesis, wie sie Adorno formulierte, ohne mitteilbare Regel ist. Sein Konzept der Mimesis ist mit dem »mimetischen Impuls«, den er ins Zentrum seiner Ästhetik stellte, eine physiologische Ästhetik subjektiver Naturerfahrung. Adorno band das Intelligible der Natur an die Leiberfahrung des Menschen, so dass »Natur« mit Adornos physiologischem Argument und Nietzsches »Physiologie der Kunst« sowohl für die »anciens« als auch für die »modernes« in der Kunst ontologische Bedeutung besitzt. Die Partei der »modernes« schließt kategorisch jede vorgefasste Regel aus und lässt Architektur aus Entwurfsansätzen entstehen, die ihre projektbezogenen, eigenen Regeln ausbilden. Diese können von einem Landschaftsbild, dem städtebaulichen Kontext oder einer willkürlichen Übertragung formaler Gegenstände in die Architektur herrühren. Der Ausschluss vorgegebener Regeln und Sprachelemente bedingt, dass das jeweilige architektonische Objekt seine eigenen
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Regeln für die architektonische Formbildung besitzt. Das von Adorno verwendete Beispiel der Berliner Philharmonie von Scharoun veranschaulicht exemplarisch einen derartigen automimetischen Prozess architektonischer Formgenese. Nietzsches Forderung nach einer Bindung an Regeln ist das kulturell Spätere mimetischen Verhaltens, denn mit den formulierten Regeln soll die einmal erreichte Höhe des Ausdrucks erhalten werden. Die Partei der »anciens« unter den modernen Architekten verwendete und verwendet die klassischen Regeln und Sprachelemente als notwendige Grundlage architektonischen Ausdrucks. Sie beziehen sich allerdings nicht mehr auf die angenommene und geglaubte kosmologische Gesetzmäßigkeit einer »natura naturans«, wie sie in den Architekturtrakten der Vormoderne als Sprachsystem flexibler Anweisungen aus Variation und Kombination formuliert wurden, sondern sind in der Moderne aus einer anthropozentrischen Perspektive heraus zu verstehen. Die Anhänger der »anciens« unter den modernen Architekten waren und sind der Überzeugung, dass es einen gültigen Ausdruck der Werke gibt, der sich aus dem Begriff der klassischen Kunst ableitet. Der Streit entzündet sich allerdings nicht mehr an der Gültigkeit überzeitlicher Proportionen, sondern an dem, ob eine klassische Architektursprache aus der anthropozentrischen Perspektive ein überzeitliches Thema der Architektur sein kann oder nicht. Im letzten Kapitel wird exemplarisch die Architektur Le Corbusiers als moderne Architektur der »anciens« herangezogen. Le Corbusier war ein »monistischer Mimetiker«, auch wenn dies durch die Wandlungen, die seine Architektur bestimmen, nicht sofort erkennbar ist. Sein Glaube an eine Weltharmonik und deren Bedeutung für die Architektur rückt ihn in die Nähe zu Theorien des 17. Jahrhunderts. Wie François Blondel verwendete er ein präzises Regelwerk, dessen Rationalität die Form definiert und wie dieser mied er das Unbestimmte einer subjektiven, »arbiträren Schönheit«. Le Corbusier war deshalb mehr ein »ancien« als es moderne Architekten sind, die nur die klassischen Sprachregeln beibehalten.
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MIMETISCHE I DEE DES
K LASSISCHEN
Nietzsches Forderung nach einer Erneuerung der Kunst baute auf einer Permanenz des Klassischen. Sein »großer Stil« soll dem Ausdruck verleihen, worin Peter Sloterdijk die fortwährende Bedeutung der Antike sah: »eine Art von dauernder Gegenwart, eine Tiefenzeit, eine Naturzeit, eine Zeit des Seins [...].«1 Für
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Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 56.
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Nietzsche sei es, so Sloterdijk, nicht um die Nachahmung der antiken Muster, sondern um die Freilegung der Antike als Modus einer nicht – geschichtlichen, nicht-vorwärtsgerichteten, nicht-progressiven Zeit gegangen2. Nietzsches Anknüpfen beim »Uralten« und einem ursprünglichen, zeitlosen Grund menschlicher Daseinserfahrung, hielt dem modernen Positivismus eine »dionysische« Kunst entgegen, die trotz oder wegen der radikalen Formulierung des nihilistischen Gedankens mit der »Physiologie der Kunst« als Verteidigung einer anthropomorphen, klassischen Kunst zu verstehen ist. Klassische Kunst unterwirft die Triebe und Affekte ihrem Diktat und ist damit Rationalität als kanonisierter Ausdruck. Sie besteht vordergründig in einer formalen Ordnung oder einer festgelegten Ikonographie, in ihrer mimischen Qualität jedoch im Gebändigtsein, oder, wie es Nietzsche nannte, im »Joch des Klassischen«, das sich als das durch die Vernunft überwundene, triebhafte Geschehen in der Form zeigt. In der griechischen Tragödie dachte Nietzsche den »apollinischen Schein« der ästhetischen Konstruktion und den »dionysischen Schrecken« zusammen. Klassische Kunst ist lebendig, so lange sie beide Momente beinhaltet3. Das Bild einer allesbeherrschenden Vernunft dagegen entbehrt des »dionysischen Elements« und erfüllt »das klassizistische Ideal schlackenloser Vollendung«4, wie Adorno es formulierte. Eine Kontinuität des Klassischen in der Architektur besteht im beherrschenden Machtverhältnis durch Rationalität, der »taxis«5, dem Ordnungsgefüge des Klassischen, die das Material durch ein zweidimensionales und dreidimensionales Raster bestimmt6. Mit Durand wurde die »taxis« zum wissenschaftlichen und
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Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 57. Adorno umschrieb dies wie folgt:»Dass der Prozess, der die Kunstwerke sind, durch ihre Objektivation in ihnen abstirbt, nähert allen Klassizismus mathematischen Verhältnissen an. Rebelliert wird gegen die Klassizität der Werke nicht bloß vom Subjekt, das sich unterdrückt fühlt, sondern vom Wahrheitsanspruch der Werke, mit dem das Klassizitätsideal zusammenstößt.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 441. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 441. »taxis« bedeutet Anordnung, Einordnung, Ordnung, Reihenfolge, Stellung, Stand, Klasse, Schlachtordnung, Marschordnung, Schlachtreihe, Infanterieregiment, Lager. Das ideale dreidimensionale Raster bildet eine Würfeleinheit mit gleich langen Seiten. »Ein Gebäude, das nur aus einem einzigen homogenen Glied, aus einer einzelnen Einheit, besteht, läuft nicht Gefahr, die Taxis zu verletzen. […] Es besteht nur aus sich selbst, es enthält keine Elemente, die ihm widersprechen könnten. […] Ein Formenpattern von etwas größerer Komplexität läßt sich erzeugen, indem man
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ökonomischen Mittel des Architekturentwurfs7 und in der Folge grundlegend für die »klassische Moderne«. Sie wurde deshalb von Posener als Ansatz eines neuen Klassizismus gedeutet8. Die Klassizität der »klassischen Moderne« entsprach allerdings einer »taxis« ohne dionysischen Grund und damit einer Struktur ohne den naturmimetischen Impuls. Echte Klassizität wäre eine Übertragung von Winckelmanns Interpretation des Laokoon in eine Architekturtheorie, in der die klassische Architektur von einem Kampf des »Apollinischen« mit dem »Dionysischen« und »Chthonischen« berichtet. Die moderne Architektur der 20er Jahre zeichnet sich mit dadurch aus, dass sie diesen Kampf aussetzte und die »chthonischen Gottheiten« ausklammerte. Le Corbusiers Villa Savoye ist das Paradigma einer »apollinischen Kunst«, die die »chthonischen Titanen« vollständig besiegt hat, indem ihre »Pfähle« einen primären geometrischen Körper ohne erkennbare Materialität über die Erde halten (Abb. 15). Die Villa Savoye erzählt bildhaft vom Mythos der »siegreichen Götter des Olymp«9 und der besiegten chthonischen Gottheiten im Ablösen von der
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dasselbe einzelne Element in ein regelmäßiges, dreidimensionales Raster einfügt.« Alexander Tzonis und Liane Lefaivre: Das Klassische in der Architektur. S. 22. Schönheit oder Richtigkeit der »taxis« ist elementar, ist sie doch »das favorisierte Kompositionsmittel. Man dachte, dass Schwäne und Delphine, Girlanden, Flügel und Fackeln, Voluten und Sphinxe zerfallen würden, die Taxis jedoch bliebe bestehen.« Alexander Tzonis und Liane Lefaivre: Das Klassische in der Architektur. S. 42. Das Achsraster wurde erst von Jean-Nicolas-Louis Durand an der 1794 gegründeten »Ecole Polytechnique« eingeführt. Durand hat seine Vorlesungen ab 1802 unter dem Titel Précis des lecons d ‘architecture herausgegegeben und mit dieser Publikation sowohl in Frankreich als auch in Deutschland auf die dort gegründete Bauakademie erheblichen Einfluss ausgeübt. Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie, S. 310. Julius Posener: »Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur«, in: Arch +, Heft 48, S. 46. Der Kampf der lichten Götter des Olymp mit den Göttern der Tiefe endete bereits in der Antike mit dem Ausklammern der Erdgottheiten: »Das wirklich Trennende aber wird sehr aufschlußreich an einer interessanten Tatsache deutlich, auf die meines Wissens bisher noch nicht hingewiesen wurde, dass nämlich alle die griechischen Heroen, Helden und Adelsgeschlechter bei der stets so stark betonten genealogischen Sucht, den Stammbaum auf eine Gottheit zurückzuführen, sich mit wenigen Ausnahmen, die aber dann auch nachträglich ›modernisiert‹ werden, stets nur von den Lichtgottheiten, niemals aber von den alten Göttern der Tiefe und der Mysterien herleiten.« Thassilo von Scheffer: Hellenische Mysterien und Orakel, S. 20.
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Erde10. Tatsächlich ist diese »Gigantenschlacht« als Formulierung einer grundlegenden Polarität in der Kunst immer gegenwärtig11. Die chthonischen Götter der Griechen waren Götter des Organischen, der Fruchtbarkeit und des Lebens wie Götter des Todes und der Unterwelt12. Sie bestimmen mimetisch im »MythischMachen« Kunst und Architektur. In der Architektur erscheinen sie in der Materialität des Werkstoffs, in der Darstellung »tektonischer Schwere«, in den Bearbeitungsspuren der Hand, oder in den Nachahmungen vegetabilischer Formen.
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Auf der Innenseite des Schildes der Athena Parthenon war der Kampf der chthonischen Götter mit den Göttern des Himmels dargestellt. Die Gestalt der Gigantenschlacht wäre verloren, wenn nicht »ein attischer Vasenmaler um 400 v. Chr. auf den Gedanken gekommen wäre, ein Bild der Gigantenschlacht in engster Anlehnung an die Erfindung und die Komposition des phidiasischen Gemäldes auf die Vase zu setzen [...].« Bernhard Schweitzer: Platon und die bildende Kunst der Griechen, S. 59 »Der alte Glaube ist erdgebunden und dem Element verhaftet, ganz wie das alte Dasein selbst. Erde, Zeugung, Blut und Tod sind die großen Realitäten, von denen er beherrscht wird. Jede von ihnen hat ihren eigenen heiligen Umkreis von Bildern und Notwendigkeiten, und sie lassen sich durch keine Freiheit der Vernunft etwas von der Strenge ihres Hier und Jetzt abdingen. [...] Sie sind eine Vielheit, aber sie gehören demselben Reiche an, und sie sind nicht bloß miteinander verwandt, sondern alle fließen zusammen in eine einzige große Wesenheit. Wir sehen es an den Gottheiten, in denen sie sich repräsentieren: alle gehören der Erde an, alle haben teil am Leben wie am Tod; wie sie auch im besonderen beschaffen sein mögen, man kann sie alle als Erd- und als Totengottheiten bezeichnen.« Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, S. 21. »Wenn sich unter Menschen etwas entscheiden soll, muß zuerst zwischen Göttern die Auseinandersetzung stattfinden. Hier stehen die neuen, die Olympischen Götter den alten gegenüber; der helle, freie Olympische Geist trifft mit dem dumpfen, gebundenen, erdhaften der Urmächte zusammen. Und die Olympier rechtfertigen ihre neue Herrschergewalt, indem sie sich mit den alten Mächten versöhnen. Die neue Wahrheit löscht die Ehrfurcht vor dem Alten nicht aus.« Ebenda, S. 26. Die bekanntesten Erdgottheiten sind Demeter und ihre Tochter Persephone. »Die Eleusinien sind der Verehrung der Demeter und ihrer Tochter Persephone und dem Dionysos [...] gewidmet [...]. Demeter gehört in der olympischen Religion jener älteren Schicht an, die nicht von Zeus abstammt, sondern ihm aus Urzeiten nebengeordnet ist, wie auch der Heliosvater Hyperion, wie Themis, die Göttin der Satzung, und manche andere gleich Eos, Okeanos, der Prometheusvater Iapetos, Eos, die Nacht u. a. m.« Thassilo von Scheffer: Hellenische Mysterien und Orakel, S. 26 und 27.
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1.1 Anthropomorpher, apollinischer und dionysischer Klassizismus Le Corbusiers »apollinische«, kubisch-reine Architektur der 20er Jahre positionierte sich gegen die Klassik eines Auguste Perret, der das anthropomorphe Modell für die Architektur beibehielt und den architektonischen Ausdruck primär mit dessen Immanenz im strukturellen Gefüge begründete. Perrets Architektur stellt die Verteidigung des Anthropomorphismus gegen die purifizierende Maschinenästhetik Le Corbusiers dar. Perret trat für eine Wiederaufnahme der doctrine classique und den Ausdruck der »anciens« ein, um ihn mit der szientifischen Konstruktion des Eisenbetons zu modernisieren, Le Corbusier dagegen vertrat eine doctrine classique, die als »Invarianten« Proportionsregeln und geometrische Elementarkörper postulierte. Le Corbusier und Auguste Perret vertraten damit zwei grundsätzlich unterschiedliche Modelle des mimetischen Klassizismus, sie einte aber der Glaube an eine Erneuerung der Moderne durch die antike griechische Architektur. Abbildung 15: Le Corbusier: Villa Savoye bei Poissy 1929-31.
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Perret berief sich auf die Tradition des französischen Klassizismus13. Die Rationalität der »taxis« und die konstruktive Durchbildung des Skeletts wurden von ihm mit höchster Priorität behandelt14. Er ging von der traditionellen Holzbauhypothese als Ursprung der griechischen Architektur aus und begründete die Erneuerung der Architektur mit der Übertragung des Holzbaus in den Eisenbetonbau15. Seine Betonarchitektur verstand er in der Genealogie der Urhütte, die er »direkt mit dem mythischen Naturursprung der Architektur«16 verband. Freigang ordnet Perret als Anhänger von Claude Perrault ein und rechnet ihn in Bezug auf die »Querelle« des 17. Jahrhunderts den »modernes« zu17, allerdings sei auch der jüngere Blondel für Perret von Bedeutung gewesen, der eine »übergeordnete, positive, naturgesetzliche Schönheit« annahm, die eine Einheit von Ordnung und Harmonie herstelle18. Dabei, so Freigang, habe Perret wirkungsästhetische Positionen wie sie Boullée vertrat, abgelehnt19. Ihm sei es ausschließlich um die Verteidigung des rationalen, konstruktiven Betonskeletts gegangen, in dem er »absolute Schönheit« erkannte, und mit der er an die im 17. Jahrhundert geführte Diskussion anknüpfte.
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Zu Perrets Architekturtheorie siehe: Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900-1930. »Die Struktur müsse,« so Perret, »so gut konzipiert sein, dass sie es verdiene, sich nach außen zu zeigen: Wer ein struktives Element verdecke, begehe einen großen Fehler, wer aber eine nichttragende Stütze verwende, ein Verbrechen.« Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900-1930, S. 314. Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900-1930, S. 314. Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900-1930, S. 320. Dies insofern als er wie Claude Perrault zu den positiven Bedingungen der Architektur die solidité, salubrité und die commodité rechnete, während für ihn die Schönheit dem principe arbitraire unterlag und durch Übereinkunft durch den bon goût geregelt werde. Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900-1930, S. 316. Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900-1930, S. 316. »Deswegen sei jeder Einfluss der zeitabhängigen Mode - insbesondere der extravaganten Mischung von geraden und gekrümmten Linien - zu verdammen.« Ebenda. »Perrets Charakterbegriff bleibt streng objektbezogen in der grundsätzlichen Forderung, das Bauwerk müsse eine absolute Schönheit rational erfahrbar machen und nicht persuasiv über das optische Sensorium psychisch wirken.« Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900-1930, S. 317.
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Eine Übertragung des archaischen Holzbaus in die Architektur lässt sich vergleichbar bei Le Corbusier belegen. Adolf Max Vogt hat nachgewiesen, dass Le Corbusiers »Pilotis« von frühen Schweizer Pfahlbauten und von der Architektur des Orients inspiriert waren. Vogt zeigt zudem, dass die Pädagogik zu Le Corbusiers Schulzeit in La-Chaux-de-Fonds vom »Pfahlbaufieber« ergriffen war, da man der Überzeugung gewesen sei, dass es eine besondere Affinität von kindlichem Entwicklungsstand und der Welt der Primitiven gebe20. Le Corbusiers »Pilotis« waren allerdings im Vergleich zu Perrets traditionellem Modell revolutionär, da sie entgegen der jahrtausendalten Tradition der Architektur die Gebäude von der Erde abheben. Auf der Exposition des arts décoratifs im Jahr 1925 entwarf Auguste Perret den Pavillon Lévy mit roh belassenen Stämmen als Neuinterpretation der Urhütte, während Le Corbusier mit dem Pavillon de l’Esprit nouveau einen Modulbaustein für innovatives Wohnen präsentierte, der jede Andeutung an das strukturelle Gerüst vermied. Perrets Pavillon bezog sich auf den mythischen Ursprung der Architektur, während Le Corbusier einen platonischen Modellkörper entwickelte. Giedion berichtet von Perret, dass dieser gern als »vollendeteste irdische Form das tadellose, in sich geschlossene Oval eines Straußeneis« zeigte. »In Corbusiers Pavillon de l’Esprit nouveau lag dagegen als einzige ›Natur‹ die ewig offen, über sich selbst hinausweisende Perlmutterspirale einer großen Turbinenmuschel« 21. Die geschlossene in sich vollendete Form des Straußeneis ist Sinnbild einer fest gefügten Ordnung, während die Turbinenmuschel die dynamische Entfaltung der Natur, wie sie Le Corbusier später mit seinem Modulor formulierte, vorwegnimmt. Le Corbusier fragmentierte und öffnete das elementargeometrische Volumen seiner frühen Villen auf eine zuvor nicht bekannte Weise22 und synthetisierte die malerische Abstraktion des Purismus mit der technischen Innovation des Stahlbetonskeletts. Mit der klaren Trennung von Tragwerk und äußerer Umhüllung – Perret spannte die Membran der Hülle noch zwischen die Stahlbetonstiele – war bei Le Corbusier die Struktur der Fassade an kein tektonisches Schema mehr gebunden. Die Außenhülle wurde zur nackten Fläche, in welche das Einfügen von Öffnungen nicht mehr vordefiniert ist. Le Corbusiers »plan libre« und »fenêtre en longueur« emanzipierten sich folgerichtig vom strukturellen Gerüst. Auguste 20 21 22
Adolf Max Vogt: Le Corbusier, Der edle Wilde. Zur Archäologie der Moderne, S. 228. Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton, S.84. Die technischen Fragen waren allerdings bei Perret bereits gelöst. Zum Einfluss der Architektur August Perrets auf den frühen Le Corbusier siehe: Dietrich Worbs: »Die Villa Schwob. Übergang zur modernen Architektur«, S. 1442-1446.
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Perret sah darin die Ursache für eine »unlogische«, »nudistische Architektur«, die einer ephemen Mode gehorche23. Le Corbusiers »apollinischer Klassizismus« der puristischen Phase ist ein atektonischer Platonismus, der die »Versöhnung« mit der Natur »monistisch« mit Hilfe traditioneller Proportionsregeln begründet. In Vers une architecture im Kapitel über den Maßregler sind ihm die Rhythmen der Proportionsgesetze des Goldenen Schnittes mit dem Organismus des Menschen wesenhaft verbunden. Kinder und Greise, Wilde und Gebildete zeichneten von sich aus den Goldenen Schnitt24. In der Beschreibung des Parthenon verbindet Le Corbusier die angenommenen kosmologischen Gesetze der Proportionen wirkungsästhetisch mit der physiologischen Reaktion beim Rezipienten25. Das offensichtliche physiologisch-tektonische Thema des Parthenon nahm Le Corbusier dagegen nicht wahr. Er beschrieb den Parthenon als ein »Gebilde aus Licht und Schatten«, in das die »edelsten Gedanken« kristallisierten26. Wie zuvor von François Blondel und später von Charles-Etienne Briseux formulierte Le Corbusier eine »positive Schönheit«, die einen kosmologischen Klang anstimme, der präzise wie die Mathematik und zugleich »eine Erregung der Sinne, eine Freude des Geistes« sei27. Dies erklärt seine Geringschätzung konstruktiver Faktoren in der Architektur und damit auch seine Emanzipation von Auguste Perret28. Die Abwertung rein konstruktiver Fragen ging einher mit der Abwertung funktionaler Bestimmungen, denn wenn ein Ding ein Bedürfnis erfülle, so sei es darum noch nicht schön29. Mit dem Platonismus der reinen elementargeo-
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Christian Freigang: Auguste Perret, die Architekturdebatte und die »Konservative Revolution« in Frankreich 1900-1930, S. 317. Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 65. »Die Durchbildung der Form im Parthenontempel ist makellos, unerbittlich. Ihre Strenge geht weit über alles, was wir gewohnt sind, und über die normalen Möglichkeiten des Menschen. Hier ist das reinste Zeugnis für die Physiologie der Reize und für die mathematische Spekulation, die an sie anknüpfen mag. Die Sinne werden gebannt, der Geist wird entzückt, man berührt die Achse der Harmonie. Es handelt sich keineswegs um religiöse Dogmen, um symbolische Beschreibung, um natürliche Darstellung: es sind lediglich reine Formen, in präzise Beziehungen miteinander gebracht.« Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 161. Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, S. 161. Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, S. 164. Die Konstruktion wichtig zu nehmen, so Le Corbusier, stehe einem Schüler der Kunstgewerbeschule an. Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, S. 90. Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, S. 90.
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metrischen Form30 thematisierte Le Corbusier eine phänomenologische Ähnlichkeit von Architektur und Maschinenformen, welche die Maschine selbst zum kosmischen Phänomen werden ließ31. Gegen Ende der 30er Jahre veränderten sich Le Corbusiers ästhetische »Invarianten«. Die Architektur des Purismus wurde tektonisch und dem zuvor angstvoll ausgeklammerten »Chthonischen« wurde Bedeutung verliehen32. Nietzscheanisch gesprochen, wandelte sich sein »apollinischer Klassizismus« zu einem »apollinisch-dionysischen Klassizismus«. Diese zweite Phase von Le Corbusiers architektonischer Produktion ist von einem erneuten Interesse an der Auseinandersetzung mit der Natur und ihren Erscheinungsformen geprägt. Die puristische Ästhetik verlor an Bedeutung, um dem unendlich Mannigfaltigen der Natur Raum zu gewähren. »Dionysisch« ist diese Architektur, weil in ihr unmittelbar Naturformen verarbeitet werden und
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»Si nous sentons le besoin d’une autre architecture, organisme clair, apuré, [...].« Le Corbusier: Vers une architecture, S. 87. »La sensation cube est immédiate, primordiale;[...] un pierre, un arbre, une colline sont moins forts, de densité plus faible qu’un agencement géométrique de formes..« Le Corbusier: Vers une architecture, S. 154. Auch J.J.P.Oud sprach von einer zeitlosen, aus dem Kubismus entwickelten, reduzierten klassizistischen Architektur als Symbol der Moderne: »So war der Kubismus eine Einkehr und ein Beginn; [...] In der unbeabsichtigten Romantik seines krampfartigen Zusammenfassungsdranges war er Anlauf zu einer neuen Formsynthese, zu einem neuen – einem unhistorischen – Klassizismus. Das Bedürfnis an Zahl und Maß, an Reinheit und Ordnung, an Regelmaß und Wiederholung, an Vollkommenheit und Abgerundetheit; Eigenschaften der Organe des modernen Lebens, der Technik, des Verkehrs, der Hygiene, innewohnend auch der gesellschaftlichen Beschaffenheit, den wirtschaftlichen Verhältnissen, den Methoden der Massenproduktion, finden ihre Vorläufer im Kubismus.« J.J.P.Oud: »Der Einfluss von Frank Lloyd Wright auf die Architektur Europas«, S. 82. »[...] Diese Vollkommenheit ist hier derart fern jeder Norm, dass der Anblick des Parthenon im Augenblick nur sehr begrenzte Empfindungen in uns anspricht, nämlich – eine gewiß unerwartete Feststellung – die auf Mechanisches reagierenden Empfindungen; jene Empfindungen also, mit denen wir diese eindrucksvollen großen Maschinen vorhin betrachtet haben, welche uns als die vollkommensten Erzeugnisse heutigen Schaffens erschienen sind, als die einzigen wirklich vollendeten Erzeugnisse unserer Zivilisation.« Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, S. 114. Stanilaus von Moos berichtet von Le Corbusiers Erfahrungen während seiner Orientreise auf dem Berg Athos wie folgt: »Er bewundert das erdnahe und zugleich metaphysisch gerichtete Leben der Mönche, und es entgeht ihm nicht, wie hier eine einfache Geste oder ein Stück schwarzen Brotes, schwer und rund, zum Symbol werden kann.« Stanislaus von Moos: Le Corbusier, S. 42.
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klassisch, weil die anthropomorphe Proportion für sämtliche Maße des Bauwerks mit Hilfe des »Modulors« festgelegt wird. Abbildung 16: Der Modulor. Erste Erläuterung (1946), vier Jahre nach seiner ersten Formulierung (1942).
Mit dem »Modulor« wollte Le Corbusier ein Werkzeug für eine »positive Schönheit« zur Verfügung stellen, die er als mathematisches Abbild einer Spiralform an eine Zahlenreihe band. Die Naturform der Seeschnecke folgt in ihrer Spiralform den Proportionen des »Goldenen Schnitts« und damit einem exponentiellen Rhythmus, den Le Corbusier auch in den Proportionen des Menschen wiederfand33 (Abb. 16). Die mathematische Reihe des »Goldenen Schnitts« des Modulors wurde für ihn zur kosmologischen Formel, die das Amorphe rationalisierte, um sein Werk neu auszurichten. Zugleich artikulierte sich ein Verlangen nach archaischer Schwere und dunklen, verschachtelten Raumkonfigurationen. Naturmimetisch ist die neue Architektur Le Corbusiers nicht nur, weil sie die Proportionen der Natur abbildet und sie in anthropomorphe Größen übersetzt, sondern weil sie sich von der »apollinischen Klassizität« der weißen Moderne entfernte und das Dunkle, Schwere und Raue der Natur entdeckte. Ihr Archaismus zeigt das Rohe und das nicht Verfeinerte als Analogie zu einem neu erfahrenen, subjektiven Körperempfinden. Architektur erhielt eine neue materiell-körperhafte Präsenz und stand damit in einem Gegensatz zu einer immer stärker von der artifiziellen Technik bestimmten Umwelt. Banham erkannte darin einen Affront gegen die
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Siehe hierzu: Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 114-117.
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Behauptung, die moderne Architektur marschiere in der vordersten Reihe der Technik34. Mit dem handwerklich hergestellten Beton, dessen »Dasein als schmutzige Brühe mit schwebendem Sand, Kies und rutschiger Masse beginnt, unter Bedingungen, die den Unberechenbarkeiten des Wetters und menschlichem Versagen unterworfen sind«35, habe Le Corbusier eine Ästhetik entdeckt, welche die Ästhetik der verwitterten dorischen Säulen und Tempel nachzuahmen schien36. Diese Ästhetik öffnete sich dem Reiz des Unkalkulierbaren, dem Nichtpräzisen und teilweise Amorphen und Nichtrationalen. Die L’Art brut des schalungsrauen Betons besitzt die Farbigkeit und die unregelmäßige Oberfläche natürlichen Gesteins, sie ist versteinerte Natur, rhythmisiert durch die vertikale Struktur der Schalungsbretter. Die Unité d’Habitation in Marseille gleicht einer steinernen Wabenstruktur in Form eines monolithischen, ausgehöhlten Steinblocks in der südfranzösischen Felsenlandschaft und bezeichnete für Le Corbusier seine neue Hinwendung zur Natur. Die Auseinandersetzung mit dem Rauen und dem Diffusen der Natur, zeigte für Le Corbusier das an, was im Klassischen schon immer präsent war: In der Antike war die ontische Natur das Andere, das »Dionysische«, das in der organischen Durchdringung die »apollinische«, rein konstruktive Form bestimmte. Insofern ist Le Corbusiers Wiederentdeckung der ontischen Natur als Bestandteil der Architektur die Wiederentdeckung des »Dionysischen«. Le Corbusier verwendete diesen Begriff zwar nicht, aber er kannte Nietzsches Geburt der Tragödie37. Dionysos als Begriff für das Chthonische und einer quellenden, organischen Natur begann in den 30er Jahren in seiner Architektur das »Apollinische« des Purismus in einen »apollinisch-dionysischen Klassizismus« zu transformieren. Die von Nietzsche dem Dionysischen verliehenen Attribute beschreiben Le Corbusiers Intentionen: Bereits in Vers une architecture sollte seine Architektur gleichermaßen »leiblich« sein, die Sinne reizen und körperliche Reaktionen hervorrufen38. Das eigentliche Ziel der Architektur sei die »Erregung«39. Wie das
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Reyner Banham: Brutalismus in der Architektur, S. 86. Reyner Banham: Brutalismus in der Architektur, S. 16. Reyner Banham: Brutalismus in der Architektur, S. 16. Julius Posener: »Le Corbusier I«, »Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur«, S. 45. Le Corbusier postulierte eine Verbindung von physiologischer Erregung, kosmologischer Gesetzmäßigkeit und geometrischer Form. Sein Platonismus wird zur Grundbedingung eines Architekturverständnisses, das die Bedeutung eines Werkes allein darin erkennt, welche Wirkung es im Rezipienten verursacht. Le Corbusier ist
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puristische Bild soll sie zur »machine à émouvoir« werden.40 Für Le Corbusier besaß wie für Nietzsche die Kunst wegen ihrer stimulierenden Wirkungen eine Vorrangstellung gegenüber den positiven Wissenschaften. Architektur soll kein Quietiv sein, sondern nietzscheanischer, dionysischer Ausdruck von Lebens- und Schöpferkraft, die sich in der Rezeption des Werks in einer physiologischen Erregung zeigt. Le Corbusier wollte eine alle Sinne und den Intellekt gleicherma-
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Nietzscheaner, wenn er die Erregung durch Kunst physiologisch misst und er ist zugleich Platonist und »Monist«, wenn er die physiologische Erregung auf die Gesetze des Weltalls bezieht: »Es sind Elemente der Formensprache, Formen, die unsere Augen klar erkennen, die unser Geist misst. Diese Formen, primär oder verfeinert, voll Zartheit oder brutaler Kraft, wirken physiologisch auf unsere Sinne (Kugel, Würfel, Zylinder, Waagerechte, Senkrechte, Schräge usw.) und beziehen sie in ihre eigene Bewegung hinein. Einmal ergriffen, sind wir aufnahmebereit dafür, das jenseits der direkten Reize Vorhandene zur Kenntnis zu nehmen; dann werden sich bestimmte Beziehungen herstellen, die auf unser Bewusstsein wirken und uns in einen Zustand freudigen Genießens versetzen (Übereinstimmung mit den Gesetzen des Universums, die uns regieren und denen unser Tun unterworfen ist);« Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 32. »Ces formes primaires ou subtiles, souples ou brutales, agissent physiologisquement sur nos sens (sphère, cube, cylindre, horizontale, verticale, oblique, etc.) et les commotionnent.« Le Corbusier: Vers une architecture, S. 8. »Wenn sich die Kunst über die Wissenschaft erhebt, so genau deswegen, weil sie im Gegensatz zu dieser die Sinne reizt und tiefgreifende körperliche Reaktionen hervorruft.« Zitat Le Corbusiers aus: Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 118. Kunst ist bei Le Corbusier eine physiologische Reaktion, eine tiefe Empfindung, ausgelöst durch den Bezug auf den »Naturgrund«. Maak führt dies weiter aus: »Es fällt auf, wie oft Le Corbusier »Erregung« zum eigentlichen Ziel der Baukunst erklärt. Die Konstruktion sei da, etwas zu halten, »die Architektur muss erregen.« Ebenda. Le Corbusiers Begriff für Erregung ist »Émouvoir«: »l’Architecture, C’ EST POUR ÉMOUVOIR. L’émotion architecturale, c’ est quand l’œuvre sonne en vous au diapason d’univers dont nous subissons, reconnaissons et admirons les lois.« Le Corbusier: Vers une architecture, S. 9. Im Kapitel »DES YEUX QUI NE VOIENT PAS... III. LES AUTOS«, in dem Le Corbusier evolutionistisch die Standardisierung einfordert, werden die Erregungen gleichermaßen für die Kunst anhand literarischer Beispiele standardisiert: »Toutes les grandes œvres sont basées sur les quelques grands standarts du cœur: Œdipe, Phèdre, l’Enfant Prodique, [...]«, Ebenda, S. 108. Françoise Ducros: »Der Purismus und die Kompromisse einer modernen Malerei«, S. 73. Le Corbusier definierte Architektur als Wirkungsmaschine (Machine à émouvoir). Siehe hierzu: Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 117-119, Robert Scherkl: Machine à émouvoir, S. 119-122, Françoise Ducros: »Der Purismus und die Kompromisse einer modernen Malerei«, S. 73.
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ßen erregende Architektur, die dem gleichen soll, was Nietzsche für die Kunst einforderte: »sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; anderseits eine Anregung der animalischen Funktion durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens; – eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans 41
desselben.«
Die Quintessenz dieser erneuerten Architektur findet sich im poéme de l’angle droit42, an dem Le Corbusier über Jahre arbeitete. Wie bereits in Vers une architecture ging es Le Corbusier im poéme de l’angle droit um die kosmologische Bestimmung der Architektur. Die rationale, technikaffine Welt der präzisen geometrischen Körper ist im poéme Darstellungen archaischer Motive gewichen. Le Corbusier besann sich auf symbolisch-bildhafte Motive wie der Sonne, der Erde, der weiblichen Figur oder auch den Biegungen eines Flusslaufes als neuer Formkonstanten. Bereits in Ville radieuse formulierte er: »Lois de la nature et lois des hommes. L’homme étant un produit de la nature, les lois qu’il se donne doivent concorder avec celles de la nature. Les lois de la nature sont. Inutile des les critiquer.«
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Der poéme de l’angle droit behandelt die Gesetze einer zyklischen Natur, deren Formen für Le Corbusier neben ihrer symbolischen Bedeutung eine starke sinnliche Präsenz besaßen. Indem sie die Architektur wesentlich bestimmen, wird
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Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bd. 12, S. 394. Le Corbusiers poéme de l’angle droit erschien 1955 in »einer kleinen, luxuriösen Auflage«. Maak bezeichnet die Publikation als Reaktion auf die Angriffe gegen die Unité d’Habitation. Das »Architekturgedicht« sollte in Form handgeschriebener Gedichte und kolorierten Handzeichungen Le Corbusiers Architekturauffassung einem breiten Publikum bekannt machen. Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 121. »Das Poème stellt alle Themen der Bildwelt des Spätwerkes vor. Es ist eine bildhaft poetische Autobiographie, ein Selbstbildnis. Zugleich ist es ein Corbusierscher Schöpfungsbericht, das Titelblatt zeigt den Tag und die Nacht, in 7 Kapiteln, vergleichbar der Schöpfungswoche mit 7 Tagen [...] Als Extrakt der Gliederung des Buches entsteht eine Ikonostase, gemeint ist eine Bilderwand von neunzehn einzelnen textlosen Vielfarbbildern, die in die Faltblätter des Buches eingelegt sind.« Thomas Kessler: »Das Poème de l’Angle Droit als Vielfalt der Sprache bei Le Corbusier«, S. 11. Le Corbusier: La Ville Radieuse. Éléments d’une doctrine d’urbanisme pour l’équipment de la civilisation machiniste, S. 72.
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diese nicht nur als Form des Geistes, sondern als transformierte Natur interpretiert. Le Corbusier forderte von der Architektur die Evokation von »überbordender Lebenslust«44. Architektur soll dionysisch sein, sie soll ihre Rezipienten nicht gleichgültig lassen, sondern sie in ihren Bann ziehen. Dies gelingt ihr, so Le Corbusiers These, indem sie die Gesetze der Natur zu ihren eigen macht. Wie das in der Phase des Entwurfs geschieht, davon berichtet Le Corbusiers Ikonostase im poéme de l’angle droit, einem Bildprogramm mit poetischen Texten, das »von einem dichten Geflecht aus naturbezogenen und sakralen Bedeutungen«45 überzogen ist. Le Corbusier traute es offenbar der Sprache nicht zu, die Erkenntnisse seiner architektonischen Erfahrung adäquat auszudrücken. Eine symbolhaft aufgeladene Bildsprache, an deren Formulierung er jahrelang arbeitete, sollte dies eher leisten. Allerdings verschließt sich deren Bedeutung dem nicht informierten Betrachter und in weiten Teilen der Forschung46, denn seine Ikonostase handelt von einem sowohl sprachlich als auch bildhaft nicht adäquat nennbaren Inhalt. Dies hat Gründe. Eine Ikonostase stellt das dar, was sich in einer christlichen Kirche hinter ihr befindet, zu dem sie eine Abgrenzung bildet. Mit dieser Analogie kann bei Le Corbusier nur der poetische Akt des Hervorbringens von Architektur gemeint sein47. Die Ikonostase verweist auf Konstanten, die den Entwurfsprozess kritisch begleiten, vermag aber dessen leitendes Prinzip nicht direkt abzubilden48. Sie berichtet von einem »dionysischen Zustand«, der sich im natur44
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»Zu seinem Gedicht stellt Le Corbusier eine Zeichnung, die seine Architektur zum Ausdruck überbordender Lebenslust erklärt: Man sieht eine nackte Frau mit großem Busen und wild wallendem Haar – vielleicht eine Verkörperung des Hauses, das im Gedicht als ›Tochter der Sonne‹ bezeichnet wird – und daneben die Schnittzeichnung der Unité selbst.« Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 122. »[...] Natur im nackten Zustand, als Befreiung von den einengenden Baukleidern [...].« Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 123. »So kann man im ›Poème de I’Angle Droit‹ verfolgen, wie die Windungen eines Flußlaufs in einer Ebene, die der Architekt auf einer seiner vielen Reisen überflog, plötzlich in den Umrissen einer Frauengestalt ihr Echo finden, um in der Kontur einer Straßenführung oder in der Anordnung von Wohneinheiten wieder aufzutauchen.« Stanislaus von Moos: Le Corbusier, S. 397. Calatrava Juan: »Le Corbusier und das Gedicht vom rechten Winkel«, S. 28. S. a. Juan Calatrava: »Le Corbusier und das Gedicht vom rechten Winkel«, S. 14. Juan Calatrava verbindet bei Le Corbusier das poème und den Modulor »mit dem Mythos vom Zugang des Menschen zu einer höheren, nahezu göttlichen Erkenntnis.« Juan Calatrava: »Le Corbusier und das Gedicht vom rechten Winkel«, S. 17. Es handelt sich um ein esoterisches Wissen, das einen besonderen Zustand voraussetzt und nur einer Schar Auserwählter zugänglich ist. Die frühe Beschäftigung von Le Corbusier mit esoterischen Schriften ist bekannt. »Bereits Paul Venable Turner
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mimetischen Verhalten äußert und durch den die Gesetze der Natur unmittelbar in ein architektonisches Konzept einfließen. Die Natur ist das »Vorrangige«, das Objekt der Mimesis für die Architektur und nur dieser galt Le Corbusier bereits während seiner Ausbildung bei Charles L’Eplattenier das Interesse. In welchen Formen sich aber diese Natur in der Architektur manifestiert, darin lagen die Differenzen. Der »apollinische Klassizismus« der puristischen Phase basierte in seiner Radikalität mit auf den geometrischen Naturstudien, die Charles L’Eplattenier von seinen Schülern einforderte und die Le Corbusier später in den Purismus transformierte49. Grundlage war eine Natur, die rational durchdrungen und mimetisch angeeignet wurde. Der ab 1930 bei Le Corbusier einsetzende »apollinisch-dionysische Klassizismus« betrieb gleichermaßen Naturnachahmung, allerdings nicht mehr nur in einer in geometrische Abstraktionen überführten Natur, sondern einer Natur, die in allen ihren sinnlichen Momenten in die Architektur integriert wurde. Im Pavillon de l’esprit nouveau stellte Le Corbusier noch die Alltagsgegenstände der puristischen Malerei den Gegenständen der Natur gegenüber. Der Pavillon selbst war die Darstellung eines komplementären Gegensatzes von »apollinisch« reiner Architektur und organischer Natur, die in Form eines Baumes das Gebäude durchdrang. Juan Calatrava hat dies in seiner Studie zum poème als das duale oder binäre Denken bei Le Corbusier themati-
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hat gezeigt, dass man nicht vergessen sollte, welchen Eindruck Édouard Schurés 1889 erschienenes Buch Les grands inités beim jungen Jeanneret hinterließ, das er 1907 von Charles L’Eplattenier geschenkt bekommen hatte. [...] In dem Buch entwickelt der mit Richard Wagner und Rudolf Steiner befreundete Theosoph, Dichter, Dramatiker und Musikwissenschaftler anhand der Beschreibung von acht ›großen Eingeweihten‹ (Rama, Krishna, Hermes, Orpheus, Pythagoras, Platon und Jesus Christus) den zentralen Gedanken – für den spirituellen Fortschritt der Menschheit – einer Geheimlehre dieser Gattung heldenhafter Geister, die die essenziellen, unter der Oberfläche der Dinge verborgenen Wahrheiten suchten und offenbarten.« Juan Calatrava: »Le Corbusier und das Gedicht vom rechten Winkel«, S. 28. »Viele der Unterrichtsstunden von L’Eplattenier fanden im Freien statt, als ausgedehnte Zeichensitzungen vor der Natur: vor Pflanzen, Tieren, Landschaften.[...] Während der Übungen war es nicht gestattet, den Gegenstand abzuzeichnen, es sei denn als erster, vorläufiger Versuch einer Annäherung an die reine Form. Die Schüler mussten sich bewusst werden, dass nur die methodische Untersuchung der formalen Strukturen ihnen dazu verhelfen konnte, zu einer Wahrheit der Darstellung zu gelangen, weil nur sie in der unendlichen Vielfalt der Formen der Natur die Geometrie der einfachen Formen sichtbar macht, aus denen sie letztlich bestand.« Luisa Martina Colli: »Jeanneret und die Ecole d’Art«, S. 18.
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siert50. Auch der spätere Le Corbusier dachte in binären Strukturen und versuchte zugleich sie zu überwinden, indem er die ontische Natur wieder der Architektur zuführte. Dies ging einher mit einer neuen Auseinandersetzung mit der griechischen Mythologie51. Wie nahe Le Corbusier dabei Nietzsche kam, zeigt seine Zeichnung einer zweigeteilten Sonne mit Medusenhaupt52. Wenn im Symbol der Sonne das »apollinische Prinzip« steckt, so im Medusenhaupt das Schreckliche einer bedrohlichen und dunklen Natur, die ihren Betrachter zu »Stein erstarren lässt«53. Die dunklen, »chthonischen Gottheiten« erscheinen im »Erdhaften« der Architektur, sie sind präsent in den Kräften und Materialien, die der Architektur »Schwere« und »Materialität« verleihen. Le Corbusier formulierte die archaischen, bipolaren Konstanten einer Architektur, die in ihrer Gestaltung als transformierte ontische Natur verstanden werden kann54. Seine Annäherung an das »Chthonische« sollte den Konstruktivismus der Moderne in eine Architektur überführen, die an ein überzeitlich Archaisches gebunden ist. Damit entspricht Le Corbusiers Vorhaben dem, was Jürgen Habermas für Nietzsche attestierte: Indem sie an die »altgriechische Urwelt des Großen, Natürlichen und Menschlichen« anknüpften, würden sich die »Spätlinge« der Moderne in die »Erstlinge« einer postmodernen Zeit verwandeln55. Denn mit der »Urwelt des Großen, Natürlichen und Menschlichen« geht die Kritik am Programm des optimistischen Konstruktivismus der Moderne einher. Naturmimetische Archaismen sind zyklisch und verorten den Menschen in einer überindividuellen Position. Nietzsches und Le Corbusiers Rückwendung zur Antike und ihr Anknüpfen bei der griechischen Mythologie bedeutet deshalb nicht das Bestreben, ein überkommenes Bildungsgut wieder zu installieren, sondern die
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Die »Erhellung des Verhältnisses Mensch / Universum« erfolge anhand einer Reihe von Gegensatzpaaren wie Licht und Dunkelheit, Himmel und Erde, Land und Wasser, Sonne und Mond, Ruhe und Bewegung, horizontal und vertikal, Schwerkraft und Aufstiegsbewegung, leicht und schwer, ätherisch und dicht und im menschlichen Bereich die grundlegende Trennung von männlich und weiblich. Juan Calatrava: »Le Corbusier und das Gedicht vom rechten Winkel«, S. 35. Juan Calatrava: »Le Corbusier und das Gedicht vom rechten Winkel«, S. 21ff. Le Corbusier: La maison des hommes, Paris 1942, S. 205. »Zu diesem Bild hatte Le Corbusier im Übrigen 1946 in der Einführung zur nordamerikanischen Ausgabe von Quand les cathédrales étaient blanches erklärt, dass es als Summe all seiner Errungenschaften angesehen werden kann.« Juan Calatrava: »Le Corbusier und das Gedicht vom rechten Winkel«, S. 37. »Niemals schafft Le Corbusier aus jener inneren Solidarität mit dem Naturgeschehen, wie sie sich etwa bei Alto ausspricht.« Stanislaus von Moos: Le Corbusier, S. 396. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 107.
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wiedergefundenen mythologischen Inhalte, die dem positivistischen Weltbild entgehen, in ihrer Wirklichkeit sichtbar zu machen. Die in der griechischen Mythologie bildhaft dargestellten Kräfte und Mächte der Natur waren nie aus der Architektur verschwunden. Architektur ist das Medium, das sie in ihrer Wirkmächtigkeit gerade dadurch, dass sie in einem abgegrenzten Ganzen als solche erscheinen, in besonderer Weise darzustellen vermag. 1.2 Dionysische Architektur Seit Nietzsche ist der Begriff der Mimesis mit dem Begriff des »Dionysischen« verbunden. Bei Nietzsche steht er für eine tragische Weltbetrachtung, die dem sokratischen Optimismus und seinem Glauben an die Wissenschaft eine naturmimetische Wirklichkeitserfahrung gegenüberstellte. Diese Wirklichkeit zeigt sich in der dionysischen Erfahrung: Raum und Form entstehen den Epopten der Kunst aus der Erfahrung des »Dionysischen« und rufen diese mit dem Werk beim Rezipienten wieder hervor. In der Antike bestand eine Kongruenz von Sein und Natur56, so dass die Natur zum Gegenstand der Mimesis werden konnte, da sie potentiell bereits alles enthielt. Als Le Corbusier sich erneut ab den 40er Jahren der Natur zuwendete, um die in die Kritik geratene, rationalistische Moderne zu erneuern, so änderte er grundsätzlich nicht seine Strategie des Naturstudiums, sondern nur die Perspektive. Nun sollte die Natur in ihrer morphologischen Vielfalt in die Architektur überführt und Naturformen selbst zur Architektur werden. Damit änderte sich ein wesentlicher Sachverhalt. Nun wird die ontische Natur selbst zum Vorbild der Mimesis und die Gestalten der Natur werden zu neuen Architekturformen. Le Corbusier untersuchte und analysierte Naturgegenstände, um aus ihren Formen eine neue, eine »dionysische« Architektursprache zu entwickeln. Diese sollte die Natur weniger beherrschen als mimetisch auf sie reagieren und sie bildhaft in die Architektur übernehmen. Dabei ging es Le Corbusier nicht um eine »Biomimetik«, welche positivistisch das »technische Wissen der Natur« der Architektur zuführt, sondern um unmittelbare Naturerfahrung und deren Transformation in die Architektur. Die Natur wurde als sinnliche Wirklichkeit verstanden, als Re-
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Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, S. 31.
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servoir eines unendlichen Formenreichtums und ihre Gestalten als »objets à réaction poétique« für eine gestisch-morphologische Antwort der Architektur57. Mit der Transformation von »objets à réaction poétique« in die Architektur wird diese in zweierlei Weise mimetisch: Sie wird zu einer gebauten Naturform und sie wird zu einer Ausdrucksform. Die ontische Natur dient nicht der funktionalen Begründung, sondern sie wird in ihren rein formalen Qualitäten analysiert, um sie als architektonisches Ausdrucksmedium zu verwenden. 1.3 Dionysischer Zustand und architektonischer Empfindungsraum Wie ist die Transformation der »objets à réaction poétique« in die Architektur zu denken und in welcher Weise wird durch sie ein dionysischer Zustand hervorgerufen? Bereits die Architektur der »weiße Moderne« während der puristischen Phase Le Corbusiers enthielt, wie oben dargestellt, eine Transformation von architekturfremden Gegenständen in die Architektur. Mit der Transformation der ontischen Naturform in die Architektur wurde für ihn eine wesentlich neue Qualität erreicht. Le Corbusier kreist in seinen Schriften um das zentrale Thema einer naturmimetischen, »dionysischen« Architektur. Wie diese zu erreichen sei, zeigt symbolisch und tatsächlich seine Beschäftigung mit der Form der Seeschnecke. Die Seeschnecke war Le Corbusier eine in mehrfacher Hinsicht symbolische Naturform. In ihren Proportionen folgt sie den Proportionen des Goldenen Schnitts, der die Natur für ihn in ihren Maßen erklärte und in die anthropomorph bestimmte Zahlenfolge seines »Modulors« einfloss. Die Muschel entsteht aus den Sekreten eines Lebewesens, sie wächst mit diesem und passt sich damit ihm vollkommen an. Damit stellt die Muschel scheinbar das Ideal zu einem funktionalistischen Modell der Architektur dar. Doch um diese funktionalistische Deutung der Muschelform geht es hier nicht. Die Kongruenz von Schalenform und Hüllform zielt auf eine andere Übereinstimmung. Le Corbusiers Intentionen waren wirkungsästhetisch motiviert und sollen den Raum zu einem »Empfindungsraum«, zu einer »machine à émouvoir«, werden lassen und nicht zu einem Raum, der die Bewegungsvorgänge seiner Nutzer widerspiegelt. Eine »dionysische« Architektur reagiert in ihren Gesten, Formen und Räumen auf etwas und sie will im Rezipienten Empfindungen erregen. »Dionysische« Architektur soll beeinflussen, sie soll Interesse wecken
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«Das puristische Vokabular der ›objets types‹ reichte nicht lange aus. Steine Muscheln, Früchte, Tannzapfen, Schnüre und Knochensegmente werden ab etwa 1925 ins Vokabular des Malers eingeführt. Corbusier nannte die Objekte ›objets à réaction poétique‹.« Stanislaus von Moos: Le Corbusier, S. 349.
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und dadurch ihren Rezipienten stimulieren. Die perfekte »Muschelarchitektur« bewirkt die perfekte Evokation. Damit wird Architektur tatsächlich zu etwas, das der musikalischen Empfindung vergleichbar ist. Musik gilt seit der Antike als »dionysische Kunst«. Musik und Architektur erzeugen immer eine Empfindung und ihre Räume sind »Empfindungsräume« des Rezipienten. Mit dem Begriff »dionysischer Empfindungsraum« wird die besondere wirkungsästhetische Qualität architektonischer Räume und Formen benannt. Der »dionysische Empfindungsraum« evoziert eine Wirklichkeit, für die die Formen und Räume nur Mittel sind, Empfindung hervorzubringen und nicht eigentlicher Darstellungsinhalt. Die architektonischen Elemente werden wegen ihrer physiologischen Reize und Stimulanzien verwendet und sie sind Form ihrer intendierten psychologischen Einflussnahme. Eine »dionysische Architektur« ist eine gesteigerte affirmative Architektur und sie ist zugleich Reaktionsform und Evokationsform. Ihr fehlt das Rationale der Konstruktion, es sei denn es handle sich um die Konstruktion von Empfindungen durch Gesten und Formen und deren physiologischen Effekten. Im Unterschied zum »großen Stil« Nietzsches, der auf das »Joch des Klassischen« setzte, um physiologische Effekte zu erreichen, beinhaltet die moderne »dionysische Architektur« diese Setzung nicht mehr. Sie entwickelt ihre Form aus einer Reaktion und nicht aus einer Setzung in der Transformation der »objets à réaction poétique« Le Corbusiers. Die Kapelle in Ronchamp von Le Corbusier ist Ideengeber für Architekturen, die ihre Gestalt als gestische Reaktion auf eine Landschaft, ein Artefakt oder ein Objekt der ontischen Natur entwickeln58. Die Kirche ist eine »réaction poétique«
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Ein zeitgenössisches Beispiel ist Zaha Hadids Haydar Alijev Center im aserbaidschanischen Baku. Die Fallstudie eines weißen Tuches soll hier die Gestik des Hauses bestimmen, um Empfindungen zu evozieren. Die Willkürlichkeit des »objets à réaction poétique« offenbart das Fehlen einer verpflichtenden Wirklichkeit. Gleiches gilt für Frank Gehrys Fondation Louis Vuitton in Paris. Hier wird das Bild »wehender Segel« beschworen, um die gestische Gestalt des Hauses abzuleiten. Form, Raum und Materialität bestimmen sich als »reaction poétique«. Gehry will wie Hadid mit dem poetischen Bild eine Reaktion beim Rezipienten hervorrufen. Auch bei Gehry handelt es sich um eine problematische Wirklichkeit und eine willkürlich gewählte Gestik. Fritz Neumeyer vertritt die These, dass diese als ArchiSkulptur gefeierten Bauten eine Objektfixiertheit der plastischen Existenz zelebrierten, die es auf mediale Durchschlagskraft und den Auffälligkeitsfaktor überwältigender Einzigartigkeit abgesehen habe. Die Verkunstung der Architektur habe diese Form von Architektur zur Super-Plastik oder zum Mega-Ornament werden lassen und damit die Ironie der Geschichte erzeugt. Nach dem Kreuzzug des Neuen Bauens gegen Säule und Or-
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auf die Landschaftsform und den besonderen Zweck, dem sie dient und sie ist architektonisierte Landschaft, deren natürliche Topographie sie im Inneren beibehält59 (Abb. 17). »Der Appell, der von den weiten Horizonten dieser Landschaft ausging, verlangte danach, Resonanz zu finden in einem plastischen Gebilde. Corbusier sprach in diesem Zusammen60
hang selbst vom ›acoustique payagiste‹«
Abbildung 17: Le Corbusier: Die Kapelle von Ronchamp, Lageplan, 1952-1953.
Die Form der Wände spiegelt die Topographie wider und sie ist eine Antwort auf die »akustische Komponente im Bereich der Form«, denn »die dem Auge dargebotenen Formen«, so Le Corbusier, »werden von strengen mathematischen und physikalischen Gesetzen beherrscht; ihr Zusammenklang, ihr Rhythmus, ihre gegenseitige Abhängigkeit und ihr Zusammenwirken, die schließlich zum architektonischen Ausdruck führen, sind ein ebenso exaktes, ebenso 61
strenges und ebenso subtiles Phänomen wie das der Akustik« .
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nament und alle Bauplastik mutiere jetzt das ganze Gebäude zum bauplastischen Riesenornament. Fritz Neumeyer: »Dem Bauen verschrieben«, S. 24. »Das Kirchenschiff sinkt, der Neigung der Hügelkuppe folgend, gegen Osten hin ab.« Stanislaus von Moos: Le Corbusier, S. 327. Stanislaus von Moos: Le Corbusier, S. 325. Le Corbusier weiter: »Die ›Akustik‹ der Landschaft wird bestimmt von ihren vier Horizonten: der Saône- Ebene, ihr gegenüber den Hügeln des Elsass und zu beiden Seiten den kleinen Seitentälern. Diesen Horizonten musste die architektonische Konzeption entsprechen.« Le Corbusier: Oeuvre complète 1946-1952, S. 84 und 85.
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Le Corbusiers »auditive Architektur« 62, an die er bereits in Après le cubisme glaubte und die an die Argumentation von François Blondel anknüpfte, sollte in gleicher Weise auch die »freie Form« an strenge Gesetzmäßigkeiten binden. Das schwebende Dach, das wie ein großes Floß auf den Mauerschwüngen liegt, wurde durch die von ihm zufällig gefundene Form eines Krebspanzers inspiriert63. Le Corbusier drehte den Krebspanzer und überführte ihn in eine zweischalige Dachkonstruktion, die in ihrer konstruktiven Durchbildung an Flugzeugtragflächen erinnert64. Abbildung 18: Le Corbusier: Die Kapelle von Ronchamp, Ostseite des Innenraums, 1950-54.
Das so entstandene, synthetische Architekturobjekt Ronchamp (Abb. 18) ist deshalb auch keine vordergründige Naturnachahmung, sondern verwendet Natur-
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Zur Bedeutung der Musik im Werk Le Corbusiers siehe: Peter Binz: Le Corbusier und die Musik. »Auf dem Zeichentisch liegt ein Krebspanzer, den ich 1946 auf Long Island bei New York aufgelesen hatte. Er wird zum Dach der Kapelle. [...] Es beginnt mit einer Antwort auf den Ort. Dicke Mauern, ein Krebspanzer, um den so statischen Plan mit Kurven zu beleben. Ich hole also den Krebspanzer und lege ihn auf die Mauern.« Le Corbusier: Texte und Zeichnungen für Ronchamp, S. 20, zitiert nach: Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 15. Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 22 und 23. Le Corbusier: Oeuvre complète 1946-1952, S. 77.
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formen für das Erzeugen einer musikalischen, »dionysischen Architektur«, die vermutlich auch auf die Lektüre von Paul Valéry zurückgeht65. Valéry forderte in seinem Aufsatz »Das Paradox des Architekten« eine Architektur, die aus »klarer Harmonie und magischer Unendlichkeiten« entsteht, »wo Rhythmen hinführen in bebenden und tiefgründigen Wogen«66 und sie den Werken der Symphoniker Beethoven und Wagner ähnlich werden lasse. Valéry erkannte »feinste Entsprechungen« und »subtile Analogien« zwischen der stofflosen Tonkunst und der materiellen Architektur67. Neu bei Valéry ist die Forderung, dass Architektur nicht nur klingen solle, sondern dass sie durch eine Vielzahl der Instrumente einen symphonischen Klang hervorbringen müsse. Dabei ging es Valéry vor allem um die emotionale Reaktion beim Rezipienten68. Beide Künste, so Paul Valéry in seinem Dialog Eupalinos oder der Architekt, die Musik wie die Architektur, würden den Menschen in den Menschen einschließen. Sie würden »[...] das Wesen einschließen in sein Werk und die Seele einschließen in seine Handlungen und in die Ergebnisse seiner Handlungen.«69 Valéry beschreibt die vergleichbare mimetische Wirkung beider Künste, indem er ihren allseitigen Einfluss und damit ihre besondere Wirksamkeit hervorhebt. Dies geschehe mit solcher Mächtigkeit wie unser Körper einstmals völlig eingeschlossen gewesen sei in die Schöpfung seines Auges und ganz umgeben von dem, was er sah70. Die beiden Künste, so Valéry, erfüllten einen »anderen Sinn in seiner Ganzheit. Wir entgehen der einen nur durch einen inneren Einschnitt; der anderen durch Bewegungen; und jede von ihnen erfüllt unsere Erkenntnis und unseren Raum mit künstlichen Wahrheiten und mit Gegenständen von vorzüglicher menschlicher Bedeutung.«
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Le Corbusier kannte nachweislich Paul Valérys Eupalinos. Siehe hierzu: Niklas Maak: »Le Corbusier und Paul Valéry«, in: Der Architekt am Strand, S. 130-162. Paul Valéry: »Das Paradox des Architekten«, in: Paul Valéry: Werke. Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, S. 157-161. Siehe hierzu auch: Niklas Maak: »Architektur und Musik. Von Valéry zu Ronchamp«, in: Der Architekt am Strand, S. 140143. Nachweis zu Paul Valéry: »Das Paradox des Architekten«, in: Paul Valéry: Werke. Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, S. 530. Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 141. Paul Valéry: Eupalinos oder der Architekt, S. 69. Paul Valéry: Eupalinos oder der Architekt, S. 69. Paul Valéry: Eupalinos oder der Architekt, S. 69.
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Wenn durch die Architektur und durch die Musik jener umfassende Einfluss ausgeübt wird, so kommt beiden Künsten eine große Bedeutung zu. Sie werden zu ethischen Künsten, denn indem sie ihre »heimliche Macht« anwenden und die »Seele in die schöpferische Tonart erheben, machen sie sie widerhallend und fruchtbar.«72 Le Corbusier hat nachweislich Paul Valérys Eupalinos gelesen73 und möglicherweise bereits in Vers une architecture verarbeitet74. Mit Ronchamp wird allerdings der Topos einer »subtilen Analogie« von Musik und Architektur symphonisch erweitert. Nun sind es nicht mehr die einzelnen Proportionen und Maße, sondern dynamisch bewegte, körperhafte Massen, die den Rezipienten ergreifen. Ronchamp gleicht der Architektur Mendelsohns, der, wie oben dargestellt, für Fritz Neumeyer eine musikalische Visualisierung mit seinen Gebäuden betrieben habe. Das Dionysische will stimulieren und den Rezipienten ergreifen. Es forciert eine Architektur der emotionalen Reaktion und damit über Raum und Form die Evokation von psychischen Zuständen. Die Wirklichkeit, die als ontologisch Vorrangiges die Mimesis des Dionysischen bestimmt, ist eine physiologische Verfasstheit. Architektur war für Le Corbusier ein gezielt eingesetztes wirkungsästhetisches Mittel, um Stimmungen hervorzurufen und einen architektonischen Empfindungsraum, die »machine à émouvoir«, zu schaffen. Seine Suche nach einer Bestimmung der Architektur, führte ihn zu einer Rückbesinnung auf eine Architektur, die sich sowohl ontisch als auch ontologisch von der Natur herleitete. Architektur sollte zu einer zweiten Natur werden und sie in ihren Strukturen und Formen widerspiegeln. Damit, so Le Corbusiers Hoffnung, werde sie zu einer anthropomorphen Architektur, denn auch der Mensch ist Natur und unterliegt mit seiner Physiologie denselben Gesetzen wie die äußere Natur. Erst wenn das bauliche Artefakt sich vollkommen dem empfindenden Menschen wie das Schneckenhaus der Schnecke anpasst, ist eine Kongruenz erreicht, wie sie Natur in ihren Gestalten hervorbringt. Kongruenz besteht für die Architektur im Erzeugen eines symphonischen Klangkörpers, der im Rezipienten Empfindungen erregt. Mimesis der Natur hatte darin bei Le Corbusier ihr letztes Ziel. Werkzeuge wie der »Modulor« oder die »objets à réaction poétique« sind letztlich nur unterschiedliche Mittel, den architektonischen Empfindungsraum zu erzeugen.
72 73 74
Paul Valéry: Eupalinos oder der Architekt, S. 71. Niklas Maak: Der Architekt am Strand, S. 132. Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur, S. 151-153.
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S PRACHFESSEL
UND
S PRACHFERNE
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Le Corbusier glaubte an eine objektive Wirklichkeit von Regeln und »Mythen« für die Architektur, die er einsetzte, um mit ihnen kalkulierte Wirkungen beim Rezipienten zu erreichen. Dies gilt vor allem für seine späte Architektur, in der das »Chthonische« und der Rückgriff auf die griechische Mythologie Bedeutung gewannen. Die »objets à réaction poétique« waren hierzu ein notwendiges Hilfsmittel, den eigentlichen architektonischen Ausdruck hervorzubringen. Allerdings ist die von Le Corbusier postulierte Existenz einer »monistischen Wirklichkeit« der Mimesis seit der »Querelle« im 17. Jahrhundert nicht mehr verpflichtend, so dass an deren Stelle »Konstruktionen« oder, mit Nietzsche ausgedrückt, »perspektivische Wirklichkeiten« getreten sind. Diese sind in ihrer Gestalt subjektiv, ohne dass sie damit willkürlich sein müssen. Eine Theorie der Mimesis kann heute nicht mehr eine Ontologie der platonischen Körper und pythagoreischen Zahlenproportionen postulieren, es sei denn, diese werden im Sinne einer Rezeptionsästhetik begründet, denn als wirkmächtige Formen gibt es nach wie vor die platonischen Körper in der Architektur. Wenn sich Mimesis auf die »innere Natur« des Subjekts und dessen physiologischer Voraussetzungen bezieht, so beziehen sich auch mögliche Konstanten und Regeln der Architektur auf sie. Dies bedeutet, dass sich die Kongruenz von physiologischer Reaktion und architektonischer Form an einer »Sprache der Architektur« orientieren muss, wenn sie bestimmbare Reaktionen hervorrufen will. Die Architektur selbst stellt eine »Konstruktion« dar, so wie die Sprache eine Konstruktion von Wirklichkeit ist und der Mitteilung von etwas dient75. Wie die architektonischen Formen entstanden sind, ist in diesem Zusammenhang sekundär, denn die Formen und Regeln sind gültig innerhalb des Bezugssystems Architektur so wie es die Worte und die Grammatik im Bezugssystem der Sprache sind. Es ist ein Irrtum zu meinen, ein Bauwerk könne eine eigenständige architektonische Sprache und ein eigenständiges architektonisches Bezugssystem entwickeln, indem Formen der Natur oder Artefakte mit der Architektur nachgebildet werden. Diese Formen können die Architektur nur erneuern,
75
»Im Grunde rekurrieren solche Theorien immer auf Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, in denen die Sprache nicht als Abbild der Welt, sondern als ein in sich mehr oder weniger geschlossenes Bezugssstem von Worten und Zeichen ausgewiesen ist. Jener vielbeschworene »linguistic turn«, den Wittgensteins Werk wesentlich verursacht hat, führte zur Überzeugung, dass Sprache sich nicht auf Weltan-sich bezieht und es innerhalb unserer Sprachspiele kein Kriterium dafür gibt, ob sich etwas tatsächlich so oder anders verhält.« Karl-Heinz Ott: »Die vielen Abschiede der Mimesis«, S. 12.
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sie aber nicht grundsätzlich neu erfinden, denn sie sind in ihrer Gestalt immer Teil von etwas, welches als das Architektonische begriffen werden muss. Le Corbusiers Versuche einer Erneuerung der Architektur durch die »objets à réaction poétique« führte die Architektur nur wieder zu sich selbst zurück. Die gefundene Naturform war deshalb als Architekturform für ihn verwendbar, weil sie bereits Teil der architektonischen Formenwelt war bzw. diese erneuerte. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so wäre die gebaute Naturform ein »irgendetwas« aber keine Architektur, so wie nicht jeder Laut ein Sprachlaut ist. Moderne Architektur kann immer nur Reformulierung von Architektur sein, diese aber nicht überwinden oder zu einem anderen werden. Sie ist ein Ausdrucks- und Mitteilungsmedium nur innerhalb des Systems der Architektur, so wie dies nach Walter Benjamin auch für die Sprache selbst gilt: »Alles Mimetische der Sprache ist vielmehr eine fundierte Intention, die überhaupt nur an etwas Fremden, eben dem Semiotischen, Mitteilenden der Sprache als ihrem Fundus in Erscheinung treten kann. So ist der buchstäbliche Text der Schrift der Fundus, in dem ein76
zig und allein sich das Vexierbild formen kann.«
Benjamins Argument auf die Architektur und ihre Elemente übertragen, zeigt, dass die Mimesis eines Ausdrucksmediums bedarf, um sich überhaupt artikulieren zu können oder anders formuliert, dieses Ausdrucksmedium ist das Konstante oder Invariante, mit dem sich das Mimetische artikuliert. Loos hat dies wie folgt ausgedrückt: »Der einzelne mensch ist unfähig eine form zu schaffen, also auch der architekt. Der architekt versucht aber dieses unmögliche immer und immer wieder – und immer mit negativem erfolg. Form oder ornament sind das resultat unbewußter gesamtarbeit des menschen eines ganzen kulturkreises.«
77
Für Adorno ist die Möglichkeit einer neuen Form unendlich klein: »Phantasie in der produktiven Arbeit am Gebilde ist nicht die Lust am unverbindlichen Dazuerfinden, an der creatio ex nihilo. Die gibt es in keiner Kunst, auch in der autonomen nicht, der Loos es zutraute. Jede eindringende Analyse autonomer Kunstwerke führt darauf, dass das vom Künstler Hinzuerfundene, den Stand der Materialien und Formen
76 77
Walter Benjamin, zitiert bei Josef Früchtl: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg 1986, S. 21. Adolf Loos: Sämtliche Schriften I, S. 393.
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Überschreitende unendlich klein, ein Grenzwert ist.« [...] »Denn die Formen, sogar die Materialien sind keineswegs die Naturgegebenheiten, als welche der unreflektierte Künstler sie leicht betrachtet. In ihnen hat Geschichte und, durch sie hindurch, auch Geist sich aufgespeichert.«
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Kunst, so Adorno, könne nur innerhalb von etwas bereits Entwickeltem existieren und nicht auf der tabula rasa des Subjekts. Darum sei dieses zwar unentbehrlich, aber keine letzte Rechtsquelle ästhetischer Erkenntnis79. Wie geht dieses Argument Adornos mit seinem dynamischen Begriff der modernen Kunst zusammen, der sich dadurch auszeichnet, dass das Tradierte ständig überwunden werden soll? Adorno ging es um den Doppelcharakter der Kunst, den faits sociaux in den Formen und Materialien des Geschichtlichen, und um das »Naturschöne«, das gerade den Ausdruck der Vermenschlichung meidet80. »Kunst möchte mit menschlichen Mitteln«, so Adorno, »das Sprechen des nicht Menschlichen realisieren.«81 Sie benötigte das »Naturschöne« als etwas, das sich einer »naturwüchsigen Gesellschaft« mit der Autonomie der Kunst entgegenstellt. Im mimetischen Bezug auf das »Naturschöne« kann das, was sich an Geschichtlichem und Geist in der Kunst aufgespeichert hat, »radikal modern« werden. Allerdings sind die in der »Kunstmonade« dann erscheinenden Formen und Regeln enigmatisch und artikulieren sich gleich der stummen Sprache der Natur82. Ein derart Vorbegriffliches der Architektur spricht eine Sprache wie sie die Natur in ihren Geräuschen und Lauten spricht. Dieses Vorbegriffliche in einer Ästhetik der Natur wurde bereits mit Kants Kunstbegriff formuliert. Kant ging es in der Kunst nicht um ihre mögliche Sprachähnlichkeit, sondern um Ausdrucksgebilde, die gerade nicht auf den Begriff zu bringen sind, aber dennoch als objektiv und allgemeingültig angenommen werden müssen. Die Fragestellung nach einer Sprache der Kunst bezieht sich darauf, ob es, entgegen Kants These, Formen und Strukturen für die Kunst geben kann, die begrifflich formuliert werden können, um so zum Modell der Mimesis zu werden. Architektonische Elemente sind Ausdruckselemente ähnlich den Wörtern der Sprache, deren Anordnung analog der gesetzmäßigen Syntax eines Textes betrachtet werden muss. Im Bereich der Sprache ist es der zusammenhängende 78 79 80 81 82
Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute« in: Ohne Leitbild. Parva Aestheica, S. 118. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 524. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 115. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 121. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 121.
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Text und die Konstellation der Wörter, die den eigentlichen Sinn aufzeigen, so dass durch das Sprachgebilde eine durch Sprache geprägte Wirklichkeit entsteht. Analog dazu vermag die Architektur durch die »Konstellation« ihrer Formen ein Bezugssystem und eine architektonische Wirklichkeit herzustellen. Diese Wirklichkeit entsteht innerhalb des Systems Architektur, denn wie das kleinste Partikel der Sprache die ganze Geschichte seiner Verwendung beinhaltet, so kann dies auch für die Elemente der Architektur gelten. Dies bedeutet, dass sich jede architektonische Konstruktion ausschließlich aus dem System der Architektur begründet, so wie sich die Sprache auf alle bereits vorhandenen Texte bezieht. Das eigentlich Motivierende für das Hervorbringen einer architektonischen Konstruktion ist allerdings deren mimetischer Anteil, denn dieser enthält im »Ausdruck« das eigentlich Mitzuteilende. Sprache ist in sich gefangen und betreibt Automimese, so dass die Werke der Literatur in ihrer Qualität von der Beherrschung der sprachlichen Regeln und Zeichensysteme abhängen. Ihr Erfolg gründet weniger in der imitativen Abbildung einer realen Wirklichkeit, als in der Qualität der Anwendung des sprachlichen Systems. Architektur ist vergleichbar auf ein System der Architektur angewiesen und nicht weniger komplex als das System der Sprache. Ein Architekt vermag nicht außerhalb dieses Systems zu agieren und es auch nicht wesentlich zu erweitern. Die grundlegende Fragestellung einer »Sprachfähigkeit von Architektur« bezieht sich darauf, in welcher Weise sich begrifflich vorgeprägte Elemente der Architektur definieren lassen. Die »Querelle des anciens et des modernes« war in diesem Zusammenhang von grundlegender Bedeutung, weil darüber gestritten wurde, ob die vitruvianischen Regeln und deren anthropomorpher Bezug diese begrifflich vorgeprägten Regeln und Formen sein können. Einer Sprache der Natur, die stumm bleiben muss, steht mit dem Vitruvianismus das System einer Architektursprache gegenüber, wie es sich seit der Antike ausgebildet hat. Vitruv hat, wie vorne dargestellt, die Entstehung der Sprache an mimische Gebärden gebunden, die mit dem Erhalt des Feuers verbunden waren. Gleichursprünglich mit der Sprachfähigkeit des Menschen sei der Bau von Behausungen für den Menschen. »Architektur und Sprache stehen für Vitruv daher in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit auf ein und derselben Stufe.«83 Der Mythos von dem gleichzeitigen Entstehen von Sprache und Architektur zeigt sie als Werkzeuge der Mitteilung und des Weltverständnisses, als Medien zur Rationalisierung eines »mimetisch-ontologischen Grundes«.
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Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 6.
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Die klassische Architektur kann als Sprachsystem betrachtet werden, das generell für sich in Anspruch nimmt, ein gültiges Ausdrucksmedium durch das Verknüpfen von zwei grundlegende Prinzipien zu sein: Sie besitzt in der »Logik« ihrer Regeln zur Fügung ihrer Elemente Rationalität und sie formuliert einen anthropomorphen Ausdruck in ihren Formen und in ihrer rhythmischen Struktur. Sie zeigt zudem einen Bedeutungszusammenhang, der durch ihre Verwendung in der Geschichte der Architektur und ihren mit ihr verbundenen formalen Transformierungen entstanden ist. Eine Verwendung der klassischen Architektursprache bezieht sich deshalb zwangsläufig auf die in ihr enthaltene Semantik und deren mimetischen Inhalte. Mies van der Rohes Architektur kann als lebenslange Auseinandersetzung mit dem Problem der Modernisierung der klassischen Architektursprache interpretiert werden. Im Unterschied zu Perrets Konzept einer Transformierung des Holzbaus in das Stahlbetonskelett unter Beibehaltung der doctrine classique war für Mies das anthropomorphe Modell nicht mehr bindend. Mies verwendete die klassische Regelgrammatik als Struktur und betrieb ihre szientifische Transformierung in den Stahlbau. Der formalen Reduktion zu einer Regelgrammatik des Klassischen bei Mies attestierten Manfredo Tafuri und Francesco Dal Col anhand des Seagram Buildings ein »Höchstmaß an struktureller Klarheit« bei »äußerster Sparsamkeit bildhafter Gestaltungsmittel«84, die mit dem vorgelagerten Platz »eine doppelte ›Leere‹« ergebe, wobei eine auf die andere verweise und beide die eisige Sprache des Nichts und des Schweigens redeten85. »Die Leere als symbolische Form, letzter Akt des europäischen Mythos der Ratio, wird zum Trugbild der Ratio«86 und damit zur Sprachlosigkeit einer rein strukturell gedachten, klassischen Architekturgrammatik. Mies van der Rohes Nationalgalerie kann als Symbol des »europäischen Mythos« der Ratio gelesen werden, denn sie drängt die ornamentalen und semantischen Elemente der Architektur in eine äußerste Abstraktion zurück. Mit der Formulierung des »leeren« Ausstellungsraums der Eingangsebene werden die »grammatikalischen Regeln« der architektonischen Struktur zum eigentlichen Inhalt87. Im Unterschied zum Seagram Building zeigt allerdings das Strukturge-
84 85 86 87
Manfredo Tafuri und Francesco Dal Col: Weltgeschichte der Architektur. Gegenwart, S. 109. Manfredo Tafuri und Francesco Dal Col: Weltgeschichte der Architektur. Gegenwart, S. 109. Manfredo Tafuri und Francesco Dal Col: Weltgeschichte der Architektur. Gegenwart, S. 109. Die baukörperliche und räumliche Konzeption der Nationalgalerie lässt sich auf Friedrich Gillys Denkmalsentwurf für Friedrich den Großen zurückführen. Der
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rüst der Nationalgalerie eine tektonische Architektur der »Schwere«, mit der das »Chthonische« in die miessche Architektur zurückkehrte. Mies späte Architektur vollzog damit die Fortführung des teleologischen Humanismus des 19. Jahrhunderts88 (Abb. 19). Mit der Nationalgalerie hat die Erneuerung der Regelgrammatik durch den Szientismus seine äußerste Zuspitzung erfahren, so dass eine weitere Transformation und ein erneuerter Ausdruck des Klassischen durch eine erneuernde Technik nicht mehr möglich scheint. Dem Schweigen einer strukturell-
88
Denkmalentwurf ließ bei Schinkel 1797 den Entschluss reifen, selbst Architekt zu werden, und beeinflusste ihn bis zu seinem Spätwerk. Die Bedeutung Gillys für den Entwurf der Nationalgalerie wird erkennbar in Schinkels Entwurf aus dem Jahr 1838 zu einer kaiserlichen Sommerresidenz auf der Krim am Schwarzen Meer. Die Organisation der drei Entwürfe ist sehr ähnlich. In jedem der Entwürfe steht ein Peripteros auf einem massiven Unterbau, der die Hauptfunktionen aufnimmt. Bei Schinkel sind die Ausstellungsräume für die »kaukasischen Altertümer« in einem gewaltigen Baublock in der Mitte eines Gartens angeordnet. Der blockartige Unterbau dient als Stylobat eines Peripteros, dessen Cella Schinkel leer ließ und mit großen Scheiben ganz verglast ausbildete. Schinkels Entwurf ist in der Monographie zu den späten Projekten von Klaus Jan Philipp ausführlich beschrieben (Klaus Jan Philipp: Karl Friedrich Schinkel. Späte Projekte, Stuttgart und London 2000). Wolf Tegethoff hat nachgewiesen, dass Schinkels Orianda Entwurf wiederum die Inspiration für die Neue Nationalgalerie gab (Wolf Tegethoff: »Orianda-Berlin. Das Vorbild Schinkels im Werk Mies van der Rohes«, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, S. 174-184). Tegethoff bezieht sich auf einen Mitarbeiter von Mies, Sergius Ruegenberg, der bestätigte, dass Mies zu jener Zeit tatsächlich ein Exemplar von Schinkels Werken der höheren Baukunst besessen habe, das im Atelier zu Studienzwecken benutzt worden sei. Bei der Nationalgalerie sind die Ausstellungsräume wie beim Krimmuseum in einem Stylobat untergebracht, das in Teilen in der Erde versenkt ist. Der schwarze stählerne Peripteros von Mies entspricht dem ionischen Peripteros von Schinkel. Beide Tempel zelebrieren Architektur und sind für Ausstellungszwecke weniger geeignet. Die eigentliche Zweckerfüllung ist im Sockel nachgewiesen. Dem Peripteros von Schinkel und von Mies kommt eine höhere Aufgabe zu: Sie sind ontologisch und bilden das ab, was ihre Epoche bestimmt. Tegethoff vertritt die These, dass jener leere Raum der Nationalgalerie über »kein architektonisches noch über ein ideelles Zentrum verfüge« und deshalb der »Mensch selbst den Mittelpunkt dieser Architektur« bilde und ihr Inhalt werde (Ebenda, S. 181). Mies van der Rohes mimischer Klassizismus wird mit der Nationalgalerie dem klassischen Ausdrucksideal des »großen Stils« Nietzsches gerecht. Schinkel und die sich auf ihn berufenden Berliner Tektoniker glaubten an eine Weiterentwicklung und Transformierung der klassischen Ornamentik durch den Szientismus. Siehe hierzu: Hartmut Mayer: Die Tektonik der Hellenen. Kontext und Wirkung der Architekturtheorie von Karl Bötticher.
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grammatikalischen Architektur konnte deshalb ein durch die Technik erneuerter Klassizismus nur noch durch Variation begegnen. Abbildung 19: Mies van der Rohe: Neue Nationalgalerie, 1968.
Damit wurde wieder ein Rückgriff auf eine längst überholt geglaubte ornamentale Sprache möglich, denn wenn die Erneuerungen und Transformationen der klassischen Architektur an ein Ende gekommen waren, so konnte es keinen Grund mehr geben, diese weiter zu betreiben. Auch Le Corbusiers Glauben, der klassische Ausdruck könne ohne die klassische Ornamentik erreicht werden, steht aktuell einer Haltung gegenüber, die gerade die klassische Sprache einschließlich ihrer Ornamentik einfordert und nur darin eine Möglichkeit erkennt, den intendierten Ausdruck hervorzubringen. Exemplarisch kann hierfür Petra und Paul Kahlfeldts Architektur stehen (Abb. 20). Die Architekten vertreten die These, es gebe ein Wesen des Architektonischen, das beständig, unveränderlich und von der Jahreszahl der Errichtung unabhängig, also autonom sei89 und postulieren damit eine ontologische Aussage zur Architektur, die sie mit einer Restituierung der klassischen Ornamentik verbinden. Kahlfeldts verbinden die Wesensfrage mit der Frage nach der Gültigkeit der Ornamentik, wie folgender Passus belegt: »Die beständig wiederkehrende Angemessenheit der Lösungen und erneute Notwendigkeit des Ausdrucks bedarf keiner weiteren Legitimation zum heutigen Gebrauch. Da eine reale Bindung der Gestaltung an ihre Entstehungszeit nicht zu erkennen ist, sind diese
89
Petra und Paul Kahlfeldt: Baukunst unserer Zeit, S. 7.
286 | M IMESIS UND MODERNE A RCHITEKTUR Entscheidungen auch jetzt aktuell. Werke der Baukunst befolgen diese Regeln und sind so in ihrer Wahrnehmung und Wirkung grundsätzlich ähnlich und vergleichbar. Trotz einer differenzierten Individualität verkörpern sie eine ideale Vorstellung. Diese Idee von Architektur hat bis heute Gültigkeit und findet ihr angemessenes Bild in vertraut wirkenden Formen und Erscheinungen.«
90
Abbildung 20: Petra und Paul Kahlfeldt: Haus in Berlin Dahlem, 1992-1993.
Die »vertraut wirkendenFormen und Erscheinungen« bezeichnen eine klassische Ornamentik, die wesentlich Kahlfeldts Ausdrucksideal von Architektur bestimmt, das ohne jede Brechung oder Störung auch die klassische Formengrammatik restituiert. Die Architektursprache beschränkt sich auf das geschichtliche
90
Petra und Paul Kahlfeldt: Baukunst unserer Zeit, S. 11.
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Modell der Architektur um 1800, die als überzeitliche Architektur eine Nachahmung in der zeitgenössischen Architektur finden soll91. Ihr Klassizismus unternimmt keine Anstrengungen zu einer formalen Erneuerung durch »Technik«, sondern ihr nicht dialektischer verstandener Klassizismus soll sich von den zeitlichen Ingredienzien emanzipieren und seine »sinnliche Kraft« aus einer »allgemeingültigen Ordnung in abstrakter Klarheit« beziehen92. Kahlfeldts arbeiten mit einer genau definierten Architektursprache, deren »beständig wiederkehrende Angemessenheit der Lösungen und erneute Notwendigkeit des Ausdrucks« keiner weiteren Legitimation zum heutigen Gebrauch bedürfe93. Es geht ihnen um genau definierte Ausdruckswerte, die sich nur durch die präzise Verwendung einer architektonischen Sprache erreichen lassen, die sich mimetisch an das klassisch-architektonische Ornament bindet. Sie entgehen dabei nicht ganz der Gefahr, die das zeitlose Ideal zu »Gips« werden lässt94. In seinem Aufsatz »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur« aus dem Jahr 2002 beruft sich Fritz Neumeyer auf den Anthropomorphismus als grundlegend für eine Architektursprache. Mit einem Rekurs auf Alberti und Vitruv wird von ihm eine klassisch-anthropomorphe Architektur als ein exaktes Bezeichnungs- und Ausdruckssystem thematisiert. Neumeyer fordert »die Organisationsästhetik des Gliederbaus nach dem Vorbild des wohlgebildeten menschlichen Körpers abgeschaut« als »Modell für das wohlgefügte Ganze eines Bauwerks« 95. Dabei dient ihm als Metapher der anthropomorphe »Bau-körper«, der sich in seiner Tektonik als »Kunst des logischen Fügens gemäß körperlicher Wohlgestalt«96 bestimmt. Mimesis bedeutet bei Neumeyer die Verwendung des »Klassischen«, indem das Ausdrucksspektrum des Architektonischen über ein Modell reglementiert wird, das eine »humanistische Architektur« und den Anthropomorphismus zum eigentlichen Inhalt der Architektur erklärt. Neumeyer nennt diese Architektur ein »Bezeichnungsvermögen zum Allgemeinen«, dies sei die Voraussetzung für ein »gültiges Zeichen« 97.
91
92 93 94 95 96 97
Dabei differenzieren sie zwischen »Bauen« und »Baukunst«, wobei das Erstere »Ausdruck der jeweiligen Zeit« sei und »beliebige Methoden experimentelle Anwendung« fänden, die Baukunst allerdings die »universellen Lösungen und deren immerwährende Relevanz durch wiederkehrende Erneuerung« lehre. Petra und Paul Kahlfeldt: Baukunst unserer Zeit, S. 9. Petra und Paul Kahlfeldt: Baukunst unserer Zeit, S. 10. Petra und Paul Kahlfeldt: Baukunst unserer Zeit, S. 11. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 118. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 9. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 9. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 13.
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Wesentlich ist für Neumeyer der räumliche Aspekt von Architektur, dessen Grundlage die »bildhafte Darstellung von Architektur« sei, denn diese, so Neumeyer, stelle sich selbst dar und schaffe im abstrakten Linienzusammenhang und im Relief der Kanten ihr eigenes Bild98. Neumeyer bezieht sich auf Alberti und die Sehpyramide der Renaissance und dispensiert die modernen Raumvorstellungen99, um die »perspektivische Box« für das »theatrum mundi« wiederzugewinnen100. Der perspektivische Raum solle das Geschehen der Welt aufnehmen und auf den Betrachter ausgerichtet sein, dem dann die Rolle zufalle »den Dingen ihren Platz in einem Ganzen einzufügen.«101 Einen Bezug zur klassischen Architektur stellt Neumeyer dann über Nietzsche her. Nietzsche sei es in seinem Aphorismus »Architektur der Erkennenden«102 darum gegangen, »den Menschen durch räumliche Umschließung in sein Ebenbild zu stellen.«103 Dies sei der Fall, wenn es gelinge, »eine eigene Raumsphäre um ihn selbst herum auszubreiten und ihr nach den Idealformen der menschlichen Anschauung durch ein ›bezeichnendes‹ Objekt der Erscheinung eine entsprechende Raumgestalt zu verleihen«.104 Dieses aber wird erreicht, wenn eine bildhafte Architektur der Raumbegrenzungen tektonisch wird und in Analogie zum physiologischen Empfinden des Menschen steht105. Die von Nietzsche eingeforderte »Architektur der Erkennenden« entsteht für Neumeyer in bildhaft-räumlichen Architekturschaubildern, deren Anordnung der »humanistischen Vorstellung« entspricht, »sich mit einem gebauten Raum selbst zu umhüllen.«106 Damit kommt Neumeyer dem nahe, was Valéry über das Verhältnis von Architektur zur Musik beschrieb107 und worin Nietzsche das Stimulierende in der Architektur erkannte. Als »gültiges Bezeichnungssystem« und damit als »Sprache der Architektur« kann es deshalb für Neumeyer nur eine Ar-
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106 107
Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 11. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 11. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 11. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 11 und 12. Friedrich Nietzsche: KSA, Bd. 3, S. 524 und 525. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 12. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 12. Exemplarisch nennt Neumeyer das tektonische Thema: »Tief in unserer Natur ist ein Vertrauen auf die elementare Stabilität von Masse, ein Gefühl für Gewicht, Druck und Widerstand als Teil unserer eigenen körperlichen Erfahrung lebendig. Deshalb kann Architektur unsere eigene Erinnerung an physische Sicherheit und Stärke als ihr Ausdruckspotential auch höchst lebendig wachrufen.« Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 12. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 16. Paul Valéry: Eupalinos oder der Architekt, S. 69.
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chitektur geben, deren Formen und Strukturen Raumsphären entstehen lassen, die anthropogen sind.
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Bereits im Jahr 1984 eröffnete Peter Eisenman die Diskussion über ein »Ende des Klassischen«, indem er die im »Klassischen« enthaltene ontologische Grundlage der Architektur thematisierte und sie als nicht mehr repräsentativ darstellte. Die in dem Aufsatz aufgeführten Argumente besitzen nach wie vor Aktualität, da sie das Klassische generell mit einer Metaphysik der Architektur in Verbindung zu bringen versuchen. Fritz Neumeyer kritisiert in seinem Aufsatz »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur« nicht ohne Grund Eisenmans These vom »Ende des Klassischen«108 , denn mit dieser wird genau das »Bezeichnungssystem« in Frage gestellt, das für Neumeyer aus gültigen Zeichen besteht. Die in der vorliegenden Arbeit geführte Diskussion über das Mimetische in der Architektur der Moderne behandelt einen vergleichbaren Fragenkomplex wie den, welcher von Eisenmans Argumentation zu einer Permanenz des Klassischen eröffnet wurde. Eisenman vertritt die These, dass die klassische Moderne als Simulation im Sinne Jean Baudrillard zu deuten sei109 und darin in einer Tradition stehe, die mit dem Verlust eines a priori gegebenen Universums von Werten im 15. Jahrhundert begonnen habe110. In der griechischen Antike und im Mittelalter sei die Kunst in sich ruhend und zeitlos gewesen, denn im antiken Griechenland sei der Tempel und der Gott ein und dasselbe und deshalb die Architektur göttlich und natürlich gewesen111 . Im 15. Jahrhundert habe sich dies insofern verändert, als die Architektur sich auf einen zeitlichen Ursprung und damit auf die Idee der Vergangenheit beziehen wollte und genau dadurch sei es zu einem Verlust der Zeitlosigkeit gekommen112. Die Architektur war für Eisenman, weil sie sich auf die Antike bezog, eine Fiktion, die als solche nicht erkannt worden sei und deshalb als Simulation bezeichnet werden müsse113 . Im Unterschied zu einer romanischen oder gotischen Kathedrale, deren Bedeutung in ihr selbst gelegen habe, seien die Architekturen der Renaissance Repräsentationen von Repräsenta108 109 110 111 112 113
Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 13. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 69. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 70. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 73. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 73. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 77.
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tionen und damit Simulakren antiker Gebäude114. Eiseman unterstellt der Architektur seit dem 15. Jahrhundert eine fehlgeleitete Ontologie und damit verbunden eine Mimesis, die keine eigentliche Wirklichkeit mehr beanspruchen könne. Die programmatische Schrift vom »Ende des Klassischen« kann deshalb auch als Abhandlung zum Thema von der Möglichkeit einer ontologischen Mimesis der von ihm als »klassisch« bezeichneten Architektur gelesen werden. Die Architektur sei, so Eisenman, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bestrebt gewesen, ein Paradigma der Klassik zu sein, und damit dessen was zeitlos, bedeutungsvoll und wahr sei. In jenem Ausmaß, in dem Architektur das wiederzufinden suche, was der Klassik entspreche, könne sie als klassisch bezeichnet werden115 . Eisenmans »klassische Architektur« inkludiert damit jede Form von Architektur, die einen ontologischen Anspruch erhebt. Dabei bedeutet es für ihn keinen wesentlichen Unterschied, ob die Architektur stilistische Elemente übernimmt, wie im Falle der Renaissance-Architektur, oder ob die moderne Architektur mit der Funktionalität eines Baugliedes die baukonstruktive »Realität selbst« darstellt116 , denn die moderne Architektur sei mit dem Anspruch einer Korrektur und Selbstbefreiung von der Fiktion der Repräsentation der Renaissance aufgetreten, »indem sie behauptete, dass es für die Architektur nicht nötig sei, eine andere Architektur darzustellen.«117 Stattdessen habe die moderne Architektur die Realität selbst darstellen wollen, indem das Gebäude seine Funktion ausdrücke118. Der Versuch der Moderne, Realität durch ein undekoriertes, funktionales Objekt darzustellen, sei aber gleichfalls eine Fiktion wie das Simulakrum der Klassik in den Repräsentationen der Renaissance119 . Die Vertreter der Moderne, die die architektonische Form auf ihr Wesen reduzierten, »auf reine Wirklichkeit«, habe nicht dazu geführt, dass jene »objektiven Formen [...] die Bahn der klassischen Tradition« verließen120. Vielmehr seien die architektonischen Formen der modernen Architektur »nicht mehr als entkleidete klassische Formen oder Formen, die auf neue Vorgaben verwiesen.« 121 Eisenman will wie Adorno den Bann des Klassischen brechen, um die Architektur von ihren metaphysischen Wurzeln zu befreien. Diese sind für ihn identisch mit dem Klassischen in der Architektur und seinem Wahrheitsanspruch. So
114 115 116 117 118 119 120 121
Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 67. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 66. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 67. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 67. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 67. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 67. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 68. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 68.
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sind für ihn exemplarisch die Säulenordnungen in der modernen Architektur schon allein deshalb ohne Bedeutung, weil das mit ihnen »dargestellte Wertesystem« heute nicht mehr gelte122. Wenn es keine Wahrheit mehr gibt, sondern nur einen Glauben an sie, so ist für Eisenman die Vernunft »abhängig vom Glauben an Wissen und demnach unreduzierbar metaphorisch«123. Die von ihm als »klassisch« bezeichnete Architektur stellt eine Architektur dar, »deren Transformationsprozesse normative Strategien sind, abgeleitet aus selbstevidenten oder a priori gegebenen Ursprüngen«, weshalb sie für ihn eine »Architektur der Neuformulierung und nicht der Repräsentation« ist124. Als solche müsse sie Wirklichkeit abbilden, was sie für Eisenman aber nicht leisten kann. Vielmehr zeige sich in ihr »eine Sehnsucht nach der Sicherheit des Wissens, ein Glaube an die Kontinuität des westlichen Denkens.«125 Klassizismus und Moderne sind für Eisenman Teil einer geschichtlichen Kontinuität, » – sei es auf der Ebene der Repräsentation, der Vernunft oder der Geschichte«, für die es »keine selbstverständlichen Werte mehr gibt, die dem Objekt Legitimität verleihen.«126 Eisenman verwendet einen kritischen Wissenschaftsbegriff, wie ihn bereits Nietzsche formulierte. Als einzige Konsequenz für die moderne Architektur erkennt er allerdings nicht wie dieser eine Rückbezüglichkeit zu einem mythischen Anfang, sondern die der willkürlichen »Fiktion«127 . Die »Fiktion« soll als solche beim ausgeführten Projekt immer erhalten und erkennbar bleiben, denn wenn sie als solche nicht zu erkennen wäre, versuchte sie »einen Zustand der Wirklichkeit, der Wahrheit oder der Nicht-Fiktion zu simulieren.«128 Architektur soll für Eisenman ihrer ontologischen Funktion beraubt werden, um sie ganz als moderne Architektur zu entwickeln. Denn wenn die Wirklichkeit aus keinem Universellen, Göttlichen oder Natürlichen129 mehr verständlich sei, so fehlt der Mimesis das ontologisch Vorrangige, auf das Architektur mimetisch
122
123 124 125 126 127 128 129
Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 69. Eisenman zitiert in diesem Zusammenhang Jean Baudrillards, der den Begriff der Simulation verwendet, »wenn die von ihm repräsentierte Wirklichkeit tot ist.« Ebenda. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 73. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 73. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 73. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 76. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 81. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 77. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 81.
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reagiert130. Willkürlichkeit bedeutet deshalb bei Eisenman »Freiheit von einem Wertesystem des Nicht-Willkürlichen (das heißt des Klassischen).«131 Für ihn sollen sich die erfundenen Ursprünge der architektonischen Figur »von den anerkannten mythischen Ursprüngen der Klassizisten«132 unterscheiden. Was aber motiviert dann die architektonische Form? Eisenman spricht bei einer »willkürlichen oder absichtlich fiktiven Architektur« von der »intrinsischen Natur ihrer Handlungen«133 , so als ob Architektur mit der willkürlich gewählten »Fiktion« als eine Art automimetische Struktur entstehe, wie sie Adorno für die moderne Kunst dachte. Doch sind Eisenmans Architekturen weniger metaphysisch als die von ihm als Simulation bezeichnete »klassische Architektur«? Entgehen sie wirklich der Mimesis oder geben sie dies nur vor? Eisenmans Aufsatz fasst die Renaissancearchitektur bis zur modernen Architektur mit dem Begriff des »Klassischen« zusammen und meint eigentlich die ontologische Mimesis der Architektur. Die im zweiten Kapitel beschriebenen Modelle einer technisch-szientifischen Kultur basierten letztlich nicht auf einem Bruch mit der Antike, sondern können, wie auch von Eisenman dargestellt, mit ihrer metaphysischen Herkunft begründet werden. So praktizierte die radikale Abstraktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleichermaßen eine ontologische Mimesis die eine äußere und innere Natur des Menschen zusammen dachte. Eisenmans anti-ontologische Ontologie setzt stattdessen einen willkürlichen Anfang des Architekturentwurfs, eine »Fiktion«, deren entelechischen Eigenschaften, Eisenman nennt es die »Bewegung« einer »auf sein Sein gerichtete Motivierung«, im Hervorbringen der Form einer »vernünftigen Argumentation« folgt134. Diese »intrinsischen«, »automimetischen« oder selbstreferentiellen Prozesse beziehen sich auf die Vernunft, sollen sie aber nicht mehr symbolisch darstellen. Doch in welcher Weise unterliegen selbstreferentielle Prozesse einer Vernunft? Ist damit die gewählte »Fiktion« nur ein weiteres Mittel, um die Architektur mit architekturfernen Gegenständen zu erneuern, ähnlich wie dies Le Corbusier durchführte? Wie ist das Vernünftige, das den »automimetischen« Prozess steuert bei Eisenman zu denken und auf was bezieht es sich? Eisenman äußerte sich in einem
130
131 132 133 134
Dies bedeutet, dass jede Form mimetischen Verhaltens kategorisch ausgeschlossen werden muss, sei es der Szientismus, der Platonismus und eine physiologische Ästhetik. Adornos Begriff von Mimesis bleibt einem nichtbegrifflichen, ontologisch Vorrangigem verhaftet und bietet deshalb für Eisenman keinen Anknüpfungspunkt. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 82. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 84. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 82. Peter Eisenman: »Das Ende des Klassischen«, S. 82.
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späteren Interview Ende der 90er Jahre, dass in der Architektur niemals ein Nullpunkt erreicht werden könne, »weil Architektur immer aus Säulen, physischer Präsenz, Bedeutung bestehen wird.«135 Er argumentiert mit einer »Interiorität« der Architektur, die sich im Diskurs der Disziplin Architektur zeige136 . Damit bezieht er sich auf den autonomen Status der Architektur und sah die »ganze Idee von Architektur in dem ständigen Bedürfnis [...], die ererbte Geschichte zu ersetzen und zu überschreiten.«137 Die zuvor einer Simulation überführte und als klassisch bezeichnete Architektur wird insofern in ihrer Bedeutung restituiert, weil die Architektur immer dieselbe sei138. Die Syntax der Architektur, so Eisenman, entstamme immer der Geschichte, »ob wir dorische, ionische oder neoklassizistische Ordnungen verwenden. Sie ist die Struktur dessen, was historisch präfiguriert ist.«139 Es gehe deshalb darum, die Vergangenheit als eine lebendige Bedingung der Gegenwart einzubringen140. Eisenmans Architektur ist die der willkürlichen »Fiktion«, die nur den Anstoß der Formfindung darstellt. Viel bedeutender ist der mimetische Prozess der Architektonisierung in der Formgenese, den Eisenman als selbstreferentiellen, automimetischen Prozess beschreibt. Die »Fiktion« ist nur die »Leiter«, die benötigt wird, um das eigentlich Architektonische durch Mimesis entstehen zu lassen. Eisenman will die »Physiologie der Architektur« wiedergewinnen, denn diese sei eine »affektive Erfahrung«141 als Erfahrung »eines mit dem Körper vereinigten Geistes«142. Die Architektur müsse die physische Erfahrung des Körpers wieder einführen, nicht des Körpers, wie ihn die Renaissance verstanden habe, sondern eines virtuellen, nicht-physischen Körpers143. Der konservativste Aspekt sei der Körper und diesen wolle er in einer transformierten Weise wieder in die Architektur zurückholen, denn Avantgarde zu sein, bedeute nicht mehr vorwärts zu gehen, sondern sich in etwas zu vertiefen und damit konservativer als die anderen zu sein144 . Auch wenn Architektur von Eisenman als anti-ontologische »Fiktion« verstanden wird, so verlässt sie für ihn den Diskurs der Architektur nicht, sondern begründet diesen letztlich in der physischen Erfahrung des Leibli-
135 136 137 138 139 140 141 142 143 144
Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 293. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 297. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 297. Peter Eisenman: »Interview mit Massimo Sodini«, S. 267. Peter Eisenman: »Interview mit Massimo Sodini«, S. 267. Peter Eisenman: »Interview mit Massimo Sodini«, S. 268. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 299. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 299. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 299. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 299.
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chen. Die Differenz zwischen dem »Klassischen« und Eisenmans Architektur besteht nicht in der physiologischen Begründung der Mimesis sondern darin, welche Formen sie hierzu verwendet und welchen Ausdruck sie anstrebt. Fritz Neumeyer erkennt bei Eisenman die »Infragestellung der Architektur selbst, also der Logik ihres Sinns und ihrer Sprache« und ein »Zeichen für eine abhandengekommene architektonische Sensibilität oder ›Gewohnheit‹ [...].«145 Er fordert mit Nietzsche für die Architektur ein gültiges »Bezeichnungssystem zum Allgemeinen« 146. Es soll gerade nicht das »leere Zeichen« sein, sondern ein »gültiges Zeichen« und als Ganzes ein »Bezeichnungssystem«147. Die Wirklichkeit des »Klassischen« in der Architektur ist für Neumeyer eine notwendige, weil es als »Bezeichnungssystem« der Architektur vom Menschen her rührt, d. h. weil es die Ausdruckssprache der Architektur an die einzige Wirklichkeit bindet, die bei Neumeyer für sie in Frage kommt. Auch wenn der fiktionale Charakter des »Klassischen« durchschaut wird, so ist er deshalb nicht zwingend ein Modell, das in der Moderne nicht sinnvoll anwendbar wäre. Indem Neumeyer eine humanistische Architektur einfordert, will er sie an den Anthropomorphismus binden, dessen »ontologische Spannung«148 zu einem »Grund« besteht, der sich nicht mehr auf die in der Renaissance formulierten Kosmologien bezieht, sondern auf Nietzsches physiologischer Begründung der Kunst. Nietzsches physiologisches Argument dient Neumeyer dazu, eine tektonische Architektur des »Bau-körpers« zu thematisieren, die sich als zeichenhafte Ausdruckssprache dem Rezipienten mitteilt. Eisenman argumentiert vergleichbar physiologisch, wenn er für die Architektur die »affektive Erfahrung«149 als Erfahrung »eines mit dem Körper vereinigten Geistes«150 beschreibt. Seine Argumentation unterscheidet sich allerdings grundsätzlich von der Neumeyers, weil sie die klassische Architektursprache und deren mythologische Elemente ausklammert, um deren ererbte Geschichte mit der »Fiktion« zu ersetzen und damit zu überschreiten151 . Neumeyer will aber gerade nicht die willkürliche »Fiktion«, sondern das »gültige Zeichen« und damit die ganze Mythologie der klassischen Kunst als eine gesteigerte Wirklichkeit. Klassische Architektur evoziert für ihn, Nietzsche zitierend, »Lust« durch Einfachheit, Regelmäßigkeit und Übersicht-
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Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 13. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 13. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 13. Jean-Luc Nancy: »Das Bild: Mimesis & Methexis«, S. 175 und S. 176. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 299. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 299. Peter Eisenman: »Interview mit Yimu Yin und Tao Zhu«, S. 297.
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lichkeit und lässt damit Rationalität sinnlich werden152. Apollinische Helligkeit wird zum notwendigen und konstituierenden Prinzip, dessen »feste Formen einem vitalen Instinkt« entsprechen, da sie für Neumeyer gleichermaßen das körperliche Empfinden von tektonischer Stabilität wie das Raumempfinden betreffen.153
S CHLUSS Von frühestem Kult an kam der Mimesis die Aufgabe zu, Natur, Gesellschaft und Individuum in einen Einklang über ihr Naturverhältnis zu stellen. Die Mimesis wurde durch die Darstellung des Mimen, das Kunstwerk oder die Tepelarchitektur zur ontologischen Aussage. Diese ursprüngliche Bedeutung der Mimesis bildet auch heute den Hintergrund in der Diskussion über ihre Relevanz für die moderne Architektur. Der antike Naturbegriff war »monistisch« und verortete das Artefakt in einer kosmischen Harmonik. Am Beispiel von Le Corbusiers Aussagen zur Architektur wurde aufgezeigt, dass der antike, »monistische« Wirklichkeitsbegriff auch für einen der richtungsweisenden Architekten der Moderne von elementarer Bedeutung war. Le Corbusier dachte die Mimesis der »ancien« weiter, um sie für die moderne Architektur fruchtbar zu machen. Eine Mimesis der Natur lässt sich allerdings heute, so wurde festgestellt, für die Architektur nicht auf eine »monistische« Wirklichkeit reduzieren, sondern muss als »ontologische Mimesis« in unterschiedlicher Weise auf die »erste Natur« bezogen gedacht werden. Wie dieser »ontologische Naturgrund«, das »Unverfügbare« der Natur, sich durch Mimesis formuliert, darüber bestehen die Differenzen in der »Querelle des anciens 152
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Neumeyer zitiert Nietzsche: »Nietzsche hat die »›Lust an Einfachheit, Übersichtlichkeit, Regelmäßigkeit, Helligkeit‹ einmal als einen starken ›Instinkt‹ bezeichnet, der ›in allen unseren Sinnesthätigkeiten waltet und uns die Fülle wirklicher Wahrnehmungen (der unbewußten) reduziert, reguliert, assimiliert usw. und sie erst in dieser zurechtgemachten Gestalt unserem Bewußtsein zuführt. Dies ›Logische‹, dies ›Künstlerische‹ ist unsere fortwährende Thätigkeit.« Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 13. Nietzsche hat die Vereinfachung des Rationalen und Logischen geradezu als Notwendigkeit des Lebens ausgewiesen: [...] Was hat diese Kraft so souverän gemacht? Offenbar, daß ohne sie, vor Wirrwarr der Eindrücke, kein lebendes Wesen lebte.« Friedrich Nietzsche: KSA, Bd. 11, S. 435 und 436. Siehe hierzu auch im Vierten Kapitel den Absatz 1.5: »Mimesis als Selbstorganisation und Steigerungsform des Lebens«. Fritz Neumeyer: »Rückgriff auf den Humanismus in der Architektur«, S. 12.
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et des modernes«, für die exemplarisch in der Moderne eine ästhetisch begründete Mimesis bei Nietzsche und Adorno stehen. Bei Adorno sind die »faits sociaux« auch »Natur« und als »zweite Natur« der »ersten Natur« unmittelbar entwachsen. Deren Widerspiegelung kann sich die Architektur nicht entziehen, was sie allerdings in einen Konflikt zu einer Mimesis der »ersten Natur« führt, da sie, mit Adorno gesprochen, ihre Bilder, Strukturen und Formen aus den »naturwüchsigen«, gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelen. Damit wäre die Architektur zwar ontologisch und seinskonstitutiv, stünde aber in einem falschen oder nur rezipierenden, widerspiegelnden Verhältnis. Von daher rührt Adornos Forderung, die Mimesis müsse sich an der »ersten Natur« orientieren, um das Falsche und Fehlgeleitete nicht affirmativ zu bekräftigen. In welcher Form aber kann die Mimesis diese »erste Natur« heute noch erreichen? Die Antwort auf diese Frage führt zur Frage wie oder mit was »Natur« unmittelbar dargestellt werden kann, um so wieder ontologisch zu werden. Hier kann es sich seit Kant nur um die »innere Natur« des Menschen handeln. Adorno sprach vom »mimetischen Impuls« des Subjekts, der sich in der Kunst umso reiner artikuliere, je weniger er sich begrifflich und damit auch gesellschaftlich zeige. Die innere Selbstbezüglichkeit des Artefakts, seine »Automimese«, garantierte ihm der evozierte analoge Naturbezug einer »natura naturans«, die im Spannungsfeld von »Konstruktion« und »Mimesis« das Entstehen eines Kunstwerks bedingt. »Natur« ist also weiter für die Moderne Bezugspunkt der Mimesis wie sie von der Antike her verstanden wird und sie ist als »Naturschönes« bei Adorno der »Grund« einer künstlerischen Architektur, die in dem, was über den reinen Gebrauch hinausreicht, eine begrifflich unverfügbare Natur anzeigt. Architektur wird dann zur mimetischen Gestalt der »inneren Natur« des Subjekts und zeigt das »Naturschöne«, wenn es ihr gelingt, ihre Zweckhaftigkeit zur reinen Form werden zu lassen. Adornos Ästhetik basiert mit dem »mimetischen Impuls« auf einer Verleiblichung der Kunst, wie sie bereits Nietzsche thematisierte. Mit Nietzsches physiologischem Argument, das die Kunst mit der »ersten Natur« des Körpers begriff, wurde die Kunst durch Mimesis zum eigentlichen Ausdruck eines stets interpretierenden und organisierenden Geschehens der Natur. Für Nietzsche ereignet sich dies in einem prozessualen Zustand des Subjekts, den er mythologisierend mit dem Wirken des »Dionysischen« und »Apollinischen« beschreibt. Er negiert damit nicht wie später Adorno die Mythologie für die Kunst, sondern forderte sie ausdrücklich für die Erfahrung eines tieferen Geschehens von allem Lebendigen ein. Mythologie zeigt sich in der apollinischen Bildproduktion als Artikulation eines »dionysischen Willens«, der als »Grund« der Natur zerreißt und zerstört,
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um Neues hervorzubringen. Dieses Neue folgt der Tiefenstruktur eines »Uralten«, das Natur und Selbsterfahrung des Menschen nur im Mythos darzustellen vermag. Sein ästhetisches Verfahren macht das »Reale« mit dem »Großen Stil« mythisch,154 um »Form«, wenn auch als »apollinischen Schein«, dem »Diffusen« entgegenzustellen. Für Nietzsche gibt es nicht das »Naturschöne« Adornos, das im »reinen Ton« vor jeder Vermenschlichung sich artikuliert, sondern einen »Grund« der Natur, der sich im Mythos in unterschiedlichen Formen von Vermenschlichung offenbart. Der von ihm im Sinne einer schwachen anthropozentrischen Ontologie des Kunstwerks formulierte Perspektivismus erkennt im Klassischen eine strukturaffine Beziehung zum »Naturgrund« als mimetische Konstante einer vermenschlichten Naturrezeption. Nietzsche benennt damit das klassische Ideal, das von jeher ein anthropomorphes Ideal aus einer anthropozentrischen Beziehung zur Natur ist. Architektur mit Nietzsche als mimetische Disziplin denken bedeutet, sie als eine körperlich-räumliche, eigentlich mythologische Kunst zu erkennen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit unserer Physis steht und dadurch die alte anthropomorphe Analogie wieder thematisiert. Seine Wende zu einer neuen Klassik und zum »großen Stil« basiert auf der Überzeugung, dass sich das »dionysische Schaffen« am wirkungsvollsten im »Joch des Klassischen« realisiere. Dieses spannt die physiologische Empfindung in das invariante Ausdruckssystem des Klassischen und vermag die stärksten und damit auch vitalsten Bilder zu erzeugen. Aus dieser Perspektive ist Nietzsches ontologisches Experiment des »großen Stils« und seine »Physiologie der Kunst« zu werten. Architektur wird mit Nietzsches »Physiologie der Kunst« eine notwendig affirmativ-mimetische Kunst, da sie Ausdruck eines affirmierenden »Willens« des Lebendigen ist. Als solche aber wird sie zur Kritik an den Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die diesen »Willen« negieren.
154 Siehe hierzu: Karl Heinz Bohrer: »Das Problem des Sinns«, S. 28.
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Abb. 12: Le Corbusier: Oeuvre complète 1910-1929, hrsg. von W. Boesiger und E. Stonorov, 6. Auflage, Zürich 1956, S. 148. Abb. 13: Privat. Abb. 14: 25 Jahre Philharmonie, Festschrift zum 15. Oktober 1988, Berlin 1988, S. 42. Abb. 15: Le Corbusier: Oeuvre complète 1929 – 1934, hrsg. von W. Boesiger, 6. Auflage, Zürich 1957, S. 31. Abb. 16: Le Corbusier: Oeuvre complète 1946 – 1952, hrsg. von W. Boesiger, 2. Auflage, Zürich 1955, S. 185. Abb. 17: Le Corbusier: Oeuvre complète 1946 – 1952, hrsg. von W. Boesiger, 2. Auflage, Zürich 1955, S. 78. Abb. 18: Badischer Kunstverein Karlsruhe: Le Corbusier. Synthèse des Arts. Aspekte des Spätwerks 1945 – 1965, Karlsruhe 1986, Abb. 6, S. 105. Abb. 19: Bauwelt, Heft 38, Berlin 1968, S. 1209. Abb. 20: Kahlfeldt, Petra und Paul: Baukunst unserer Zeit. Eine Darstellung in sieben Kapiteln, Berlin 2013, S. 143.
Architektur und Design Eduard Heinrich Führ Identitätspolitik »Architect Professor Cesar Pinnau« als Entwurf und Entwerfer September 2016, 212 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3696-3 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3696-7
Judith Dörrenbächer, Kerstin Plüm (Hg.) Beseelte Dinge Design aus Perspektive des Animismus September 2016, 168 S., kart., z.T. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3558-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3558-8
Claudia Banz (Hg.) Social Design Gestalten für die Transformation der Gesellschaft August 2016, 200 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3068-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3068-2
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Architektur und Design Thomas H. Schmitz, Roger Häußling, Claudia Mareis, Hannah Groninger (Hg.) Manifestationen im Entwurf Design – Architektur – Ingenieurwesen Mai 2016, 388 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3160-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3160-3
Susanne Hauser, Julia Weber (Hg.) Architektur in transdisziplinärer Perspektive Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen 2015, 402 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2675-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2675-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3
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