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German Pages 286 Year 2023
Fabian Fleißner Das Präfix gi- im Althochdeutschen und Altsächsischen
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt und Oskar Reichmann
Band 143
Fabian Fleißner
Das Präfix gi- im Althochdeutschen und Altsächsischen Eine Neubewertung seiner Bedeutung für das Tempus- und Aspektsystem
Studia Linguistica Germanica Begründet von Ludwig Erich Schmitt und Stefan Sonderegger
ISBN 978-3-11-104023-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-104038-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-104052-3 ISSN 1861-5651 Library of Congress Control Number: 2022947381 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Danksagung
IX
Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis
XIII
Abkürzungsverzeichnis 1
Einleitung
XI
XV
1
2 Aspekt 8 2.1 Überblick 8 2.2 Der Komplex der Aspektualität 10 2.2.1 Aspekt 11 2.2.2 Aktionsart und Verbalcharakter 14 2.2.3 Theoretische Modellierung 18 2.2.4 Diagnostische Kontexte der Aspektkategorie 20 2.2.5 Zwischenfazit 33 34 2.3 Das Präfix ✶ga- und das germanische Aspektsystem 2.3.1 Formale Bedingungen und Forschungsgeschichte 35 36 2.3.1.1 Zur Genese von germ. ✶ga2.3.1.2 Die germanistische Aspektforschung vor Streitberg 38 2.3.1.3 Streitberg und seine Nachfolger 40 2.3.1.4 Die Überwindung Streitbergs und der slawistisch orientierten Aspektforschung: ein neuer Ansatz für das Germanische 47 2.3.2 gi- im Althochdeutschen und Altsächsischen 55 2.3.2.1 Überblick 55 2.3.2.2 Präteritale Kontexte 57 2.3.2.3 Präsentische Kontexte 69 2.3.2.4 Kontexte der ‚Nicht-Ausführung‘ 72 2.3.2.5 Semantische Modifikationen und sogenannte ‚perfektive Simplizia‘ 77 2.3.3 Zwischenfazit 79 3 3.1 3.2 3.2.1
Tempus 82 Überblick 82 Der Komplex der Temporalität Temporale Relationen 84
83
VI
Inhaltsverzeichnis
3.3.5
Temporale Perspektiven 86 Temporale Deixis 90 Temporale Diskursmuster 93 Zwischenfazit 97 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen 98 Urgermanische Vorbedingungen und Überblick 99 Präsens 102 Präteritum 106 Periphrastische Perfektkonstruktionen 111 sein + Partizip Präteritum 112 haben + Partizip Präteritum 116 Exkurs: Zur Grammatikalisierung des periphrastischen Perfekts und der Rolle von gi- am Partizip 120 Zwischenfazit 127
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3
Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik Potenzielle Räume der Interaktion 130 Grundsätzliches: Schwund und Exaptation 130 Konvergenzbereich Pragmatik 134 Konvergenzbereich Tempus 135 Korpusaufbereitung 136 Auswahl der untersuchten Texte 136 Binarisierung des Korpus 141 Operationalisierung 143
3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.4.1 3.3.4.2 3.3.4.3
Empirische Untersuchung 145 Die Distribution der Verbalformen 145 Das verbalmorphologische Formenset 146 Textpragmatische Faktoren 161 Syntaktische Faktoren 167 Zwischenfazit 175 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen 176 5.2.1 Präteritale Kontexte 178 5.2.1.1 Die Funktionen des Präteritums im Hauptsatz (IND/NR) 5.2.1.2 Die Funktionen des Präteritums im Nebensatz (IND/NR) 5.2.1.3 Zwischenfazit 218 5.2.2 Präsentische Kontexte 220
129
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2
178 199
Inhaltsverzeichnis
5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.2.3 6
Die Funktionen des Präsens im Hauptsatz (IND/SR) Die Funktionen des Präsens im Nebensatz (IND/SR) Zwischenfazit 242 Ergebnisse
Literaturverzeichnis Register
269
244 251
220 233
VII
Danksagung Die vorliegende Publikation basiert auf einer Dissertationsschrift, die 2021 an der Universität Wien verteidigt wurde. Ein Projekt dieser Größenordnung hat immer mehr unfreiwillige Helfer als freiwillige, wobei ich bisweilen den Überblick darüber verloren habe, wer zu welcher Gruppe gehört. Besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Dr. Alexandra N. Lenz, die mir seit meiner Studienzeit ein akademisches Vorbild war. Ihrem konsequenten Vertrauen in die normative Kraft des belegten Sprachgebrauchs verdanke ich eine der wichtigsten Einsichten meines nicht nur wissenschaftlichen Lebens: empirische Befunde auch dann anzuerkennen, wenn sie der eigenen Wahrnehmung nicht immer entsprechen. Ich bedanke mich außerdem bei allen Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Germanistik der Universität Wien sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, denen ich nicht nur beruflich und fachlich, sondern auch freundschaftlich verbunden bin. Nicht genug danken kann ich meiner Familie, die mich immer unvoreingenommen auf dem Weg unterstützt hat, den ich eingeschlagen habe. Bedanken möchte ich mich auch bei allen Freunden, die mich im Verlauf der letzten Jahre immer wieder daran erinnert haben, wie groß die Welt außerhalb der akademischen ist. Auch wenn sie dieses Buch niemals lesen werden, waren sie an seiner Fertigstellung maßgeblich beteiligt. Mein größter Dank gilt Evi für ein unzumutbares Maß an Geduld. Zwei meiner wichtigsten akademischen Lehrer konnten die Erscheinung dieser Publikation aufgrund ihres viel zu frühen Todes nicht mehr erleben: Franz Patocka und Richard Schrodt. Beide haben mich auf sehr unterschiedliche Art und Weise fachlich wie persönlich geprägt und beide hatten auf ebenso unterschiedliche Art und Weise großen Anteil an der Entstehung dieses Buches. Es soll daher ihrem Andenken gewidmet sein.
https://doi.org/10.1515/9783111040387-203
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Abbildung 2
Der Perspektivenaspekt nach Smith (1997: 66, 73) Temporale Parameter nach Reichenbach (1947: 290)
https://doi.org/10.1515/9783111040387-204
12 85
Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7 Tabelle 8 Tabelle 9 Tabelle 10 Tabelle 11 Tabelle 12 Tabelle 13 Tabelle 14 Tabelle 15 Tabelle 16 Tabelle 17 Tabelle 18 Tabelle 19 Tabelle 20 Tabelle 21 Tabelle 22 Tabelle 23 Tabelle 24 Tabelle 25 Tabelle 26 Tabelle 27 Tabelle 28
Zwei Hauptfunktionsdomänen des Objektgenitivs in den älteren germ. und in den slaw. Sprachen nach Heindl (2017: 209) 30 Funktionale Basis für den Genitiv/Akkusativ-Wechsel bei den zweiwertigen Verben im Ahd. nach Donhauser (1991, 1998) 31 Prototypische funktionale Bereiche der gestiven und faktiven Diathese im Got. nach Metzger (2017: 365) 50 Vergleich zwischen dialogischen und nicht-dialogischen Passagen nach Zeman (2010: 81) 95 Metdadaten der untersuchten Korpustexte 140 Vergleich zwischen den beiden Diskursmodi ‚nicht-sprecherbezogen‘ und ‚sprecherbezogen‘ 142 Überblick über die untersuchten Parameter und Werte 144 Verteilung der Tempora in den Korpustexten 146 Anteil von finiten und infiniten verbalen Token in den Korpustexten 148 Anzahl der finiten Token der häufigsten zehn Lemmata in den Korpustexten 148 Anzahl der finiten Token der häufigsten zehn gi-präfigierten Lemmata in den Korpustexten 150 Anzahl der finiten Token in den Korpustexten nach morphologischer Form 152 Relative Anteile der gi-Präfixe am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen 153 Verteilung der Tempora (O) nach Modus 154 Verteilung der Tempora (H) nach Modus 155 Relative Anteile der gi-Präfixe (O) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach Modus 157 Relative Anteile der gi-Präfixe (H) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach Modus 160 Verteilung der Tempora (O) nach Diskursmodus 161 Relative Anteile der gi-Präfixe (O) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach Diskursmodus 163 Verteilung der Tempora (H) nach Diskursmodus 164 Verteilung der Vergangenheitstempora (O/H/HE) nach Diskursmodus 165 Relative Anteile der gi-Präfixe (H) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach Diskursmodus 166 Verteilung der Tempora (O) nach Verbklasse 168 Verteilung der Tempora (H) nach Verbklasse 169 Verteilung der Tempora (O) nach HS und NS 172 Verteilung der Tempora (H) nach HS und NS 173 Relative Anteile der gi-Präfixe (O) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach HS und NS 174 Relative Anteile der gi-Präfixe (H) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach HS und NS 175
https://doi.org/10.1515/9783111040387-205
XIV
Tabelle 29 Tabelle 30 Tabelle 31 Tabelle 32 Tabelle 33 Tabelle 34 Tabelle 35 Tabelle 36 Tabelle 37 Tabelle 38 Tabelle 39 Tabelle 40 Tabelle 41 Tabelle 42 Tabelle 43 Tabelle 44 Tabelle 45 Tabelle 46
Tabellenverzeichnis
Textgliedernde Angaben im präteritalen HS bei Otfrid (IND/NR) 181 Textgliedernde Angaben im präteritalen HS im Heliand (IND/NR) 191 Verteilung der Nebensatzarten im Präteritum bei Otfrid (IND/NR) 199 Verteilung der temporalen Konnektoren im präteritalen NS bei Otfrid (IND/NR) 200 Temporale Lesarten im präteritalen NS bei Otfrid (IND/NR) 203 Verteilung der Nebensatzarten im Präteritum im Heliand (IND/NR) 208 Verteilung der temporalen Konnektoren im präteritalen NS im Heliand (IND/NR) 209 Temporale Lesarten im präteritalen Nebensatz im Heliand (IND/NR) 212 Textgliedernde Angaben im präsentischen HS bei Otfrid (IND/SR) 223 Temporale Lesarten im präsentischen HS bei Otfrid (IND/SR) 227 Textgliedernde Angaben im präsentischen HS im Heliand (IND/SR) 229 Temporale Lesarten des Präsens im Heliand (HS/IND/NR) 232 Verteilung der Nebensatzarten im Präsens bei Otfrid (IND/SR) 234 Verteilung der temporalen Konnektoren im präsentischen NS bei Otfrid (IND/SR) 235 Temporale Lesarten des Präsens im NS bei Otfrid (NS/IND/SR) 237 Verteilung der Nebensatzarten im Präsens im Heliand (IND/SR) 239 Verteilung der temporalen Konnektoren im präsentischen NS im Heliand (IND/SR) 240 Temporale Lesarten des Präsens im NS im Heliand (IND/SR) 242
Abkürzungsverzeichnis Die hier aufgelisteten Abkürzungen beziehen sich auf die wichtigsten Termini des Fließtexts. Abkürzungen von Annotationstags finden sich in den entsprechenden Tabellen erklärt. Komponierte Formen sind nicht extra angeführt, solange sie aus den genannten abgeleitet werden können. Moderne nationale Standardvarietäten werden immer ausgeschrieben. < > ae. afrs. ahd. AKK akslaw. altgerm. an. Art. as. ATM DAT def. E FN frnhd. GEN germ. got. griech. GZ idg. IMPF INF kelt. lat. mhd. mnd. nhd. NOM NP NZ PF R rom. S
vor nach altenglisch altfriesisch althochdeutsch Akkusativ altkirchenslawisch algermanisch altnordisch Artikel altsächsisch Aspekt-Tempus-Modus Dativ definit Ereigniszeit Fußnote frühneuhochdeutsch Genitiv germanisch gotisch griechisch Gleichzeitigkeit indogermanisch imperfektiv Infinitiv keltisch latein mittelhochdeutsch mittelniederdeutsch neuhochdeutsch Nominativ Nominalphrase Nachzeitigkeit perfektiv Referenzzeit romanisch Sprechzeit
https://doi.org/10.1515/9783111040387-206
XVI
slaw. urgerm. uridg. vorgerm. VZ
Abkürzungsverzeichnis
slawisch urgermanisch urindogermanisch vorgermanisch Vorzeitigkeit
1 Einleitung Über das Vorhandensein einer Aspektkategorie in den altgermanischen1 Einzelsprachen und damit auch im Urgermanischen wird seit den frühesten Tagen der neuzeitlichen Linguistik kontrovers diskutiert. Während insbesondere vonseiten der Slawistik die Existenz einer entsprechenden morphologischen Realisierung der Kategorie in Abrede gestellt wird (vgl. etwa Trnka 1932, Mirowicz 1935, Maslov 1959 oder Đorđević 1994), haben sich in der germanistischen Fachliteratur spätestens seit Leiss (1992)2 folgende – hier zunächst stark abstrahierte – Annahmen etabliert: – Die jeweiligen Fortsetzer des Präfixes urgerm. ✶ga- (> ahd./as. gi-, mhd./ nhd. ge-) versprachlichen einen perfektiven3 Aspekt. – Der beobachtbare Abbau des Präfixes und der gleichzeitige Aufbau komplexer analytischer Tempora bilden die generelle Entwicklung der germ. Sprachen von ‚Aspektsprachen‘ zu ‚Tempussprachen‘ ab.4 In dieser Arbeit werde ich auf Basis des ahd. und as Quellenmaterials theoretische Argumente und empirische Befunde vorbringen, die diesen Annahmen widersprechen und nahelegen, dass bisherige Zugänge zur Erforschung der verbalgramma-
Die in dieser Arbeit verwendeten Termini bedürfen insofern einer Präzisierung, als sie auch innerhalb des germanistischen Fachbereichs nicht einheitlich verwendet werden. Mit dem Begriff ‚altgermanisch‘ beziehe ich mich auf gemeinsame Charakteristiken der unterschiedlich gut belegten Systematiken der ausdifferenzierten germanischen Sprachen des frühen Mittelalters. Das Attribut ‚germanisch‘ dagegen verweist auf die Wesenheit der germanischen Sprachen insgesamt, losgelöst von diachronen und diatopischen Parametern. ‚urgermanisch‘ bezeichnet das rekonstruierte zugrundeliegende Protosystem, ‚vorgermanisch‘ alle sprachlichen Verhältnisse, die dem urgermanischen System vorangehen. Von hier an werden im Fließtext die jeweiligen Abkürzungen verwendet (vgl. Abkürzungsverzeichnis). Leiss (1992) steht dabei in einer langen Tradition von ‚Aspektbefürwortern‘, die sich im weitesten Sinne auf Streitberg (1891) berufen. Eine tiefere Auseinandersetzung mit den jeweiligen Positionen einzelner Autorinnen und Autoren findet sich in Kap. 2. Der Begriff ‚perfektiv‘ wird hier noch exemplarisch verwendet, da weder hinsichtlich terminologischer Konventionen noch präziser grammatischer Funktionszuschreibung endgültige Einigkeit herrscht, wie sich zeigen wird. In der Forschungsliteratur wird der Grad der funktionalen Erosion des Aspektsystems für verschiedene Einzelsprachen und Sprachstufen unterschiedlich bewertet. Leiss (1992: 68) erkennt Abbautendenzen bereits im Got., die in den später belegten westgerm. Sprachen deutlicher zutage treten. Heindl (2017: 105) sieht bisweilen auch höheres Funktionspotenzial im ahd. System. Von einer intakten Aspektopposition im Ahd. geht auch Zeman (2010: 75) aus, die das mhd. Verbalsystem als repräsentativ für das Nebeneinander der beiden gegenläufigen Entwicklungen annimmt. https://doi.org/10.1515/9783111040387-001
2
1 Einleitung
tischen Funktionen von ahd./as. gi- weitgehend verfehlt sind, wenngleich die Leistungen der jeweiligen Autoren nicht geschmälert werden dürfen. Die oft scheinbar widersprüchlichen Ergebnisse der einzelnen Publikationen müssen allerdings vor dem Hintergrund einer einheitlichen Kategorienzuschreibung enggeführt und harmonisiert werden. Ich werde dafür plädieren, dass die Funktion der altgerm. Präfigierung5 anders als beim Aspekt innerhalb kollektiver Ereignishorizonte der Kommunikationsteilnehmer zu verorten ist und auf außersprachlich erfahrbare Denotate referiert, die nach der Rolle der vorliegenden Aktanten als ‚Effekt‘ oder ‚Betroffenheit‘ bezeichnet werden können. Die beiden verfügbaren Perspektivenpole, die mit den morphologischen Formen ‚Simplex‘ und ‚Derivat‘ korrespondieren, konstituieren dabei ein System von Handlungsrichtungen, das viel eher im Bereich der Diathese zu verorten ist als in einer wie auch immer gearteten Aspekt- bzw. Tempuskategorie. Der Zusammenbruch eines vermeintlichen Aspektsystems wurde und wird in der Forschung für eine Vielzahl an Sprachwandelprozessen verantwortlich gemacht. Dazu gehören neben der Ausgrammatikalisierung der periphrastischen Tempora auch Entwicklungen im nominalen Bereich, etwa die Entstehung des definiten Artikels oder das Schicksal des Genitivs mit seiner Blütephase im Mhd. und dem darauffolgenden Niedergang in der gesprochenen Sprache (vgl. Leiss 2000b: 11–25). Nicht auf alle Phänomene kann hier im Detail eingegangen werden, auch wenn die Ausweitung des gefassten Fokus auf die genannten Entwicklungen in Zukunft notwendig sein wird. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, die synchrone Bedeutung des Präfixes gi- für das temporale System des Ahd. und As. herauszuarbeiten sowie dessen diachron fassbaren Abbau qualitativ zu beschreiben. Die Fokussierung auf die Kategorie Tempus kann dabei zunächst insofern begründet werden, als sich zeigen wird, dass der Nachweis für Existenz oder NichtExistenz einer Aspektkategorie in historischen Sprachstufen nur indirekt über die temporalsemantische Beschaffenheit des Verbalsystems zu erbringen ist. Als Voraussetzung für eine entsprechende Untersuchung ist daher die Prototypenrekonstruktion der Tempussysteme des Ahd. und As. anzusehen, die nicht nur das morphologische und syntaktische Inventar zu berücksichtigen hat, sondern auch funktionale und diskurspragmatische Kontexte, die bisherige fragmentarische
In dieser Arbeit wird in germanistischer Tradition im Zusammenhang mit ✶ga- von ‚Präfix‘ bzw. von ‚Präfigierung‘ gesprochen, da der Terminus ‚Präverb‘ mehr semantischen Eigengehalt suggerieren würde. ✶ga- kann zum Zeitpunkt der germ. Überlieferung aber weder als Adverb noch als Präposition verwendet werden, auch lassen sich keine Spuren für ein entsprechendes freies Morphem im Urgerm. finden. Gerade für das Deutsche halte ich daher den Begriff ‚Präfix‘ für angemessener. Wenn in dieser Arbeit von ‚altgerm. Präfigierung‘ die Rede ist, ist damit der Wortbildungsprozess gemeint, an dem die Fortsetzer von urgerm. ✶ga- beteiligt ist.
1 Einleitung
3
und formgebundene Darstellungen ergänzen sollen. Es lassen sich damit folgende vier ineinander verschränkte Forschungsfragen formulieren, die im Verlauf der Arbeit beantwortet werden müssen: I) Welche isolierte Basisfunktion kann ahd./as. gi- zugeschrieben werden? II) Wie gestaltet sich die formale und pragmatische Organisation des ahd./as Tempussystems? III) Weist die pragmatische Distribution von Simplizia und gi-Derivaten Merkmale eines integrativen aspektuellen Subsystems innerhalb übergeordneter temporalsemantischer Strukturmuster auf? IV) Welche Rolle spielt der Abbau der gi-Präfigierung für die Entwicklung des deutschen Tempussystems? Dementsprechend ist das Forschungsvorhaben sowohl ein diachrones im Sinne der Nachzeichnung einzelner Sprachwandelprozesse als auch ein synchronareales im Sinne einer Kontrastierung der Spezifika unterschiedlicher Sprachlandschaften. Die Kategorien ‚Zeit‘ und ‚Raum‘ müssen daher in mehrfacher Hinsicht perspektiviert werden: einmal als intralinguistisches Phänomen der kognitiven Grundausstattung, über die sich die verbalgrammatischen Kategorien Tempus und Aspekt konzeptionell fassen und versprachlichen lassen; einmal als außersprachlich Domäne, die zum Verständnis der herauszuarbeitenden Entwicklungsdynamik beiträgt. Aufgrund der unbefriedigenden Überlieferungslage der kontinentalwestgerm. Sprachen des Frühmittelalters können diachrone Dimensionen oft nur über synchrone Systematiken erschlossen werden. Der Betrachtung arealer Variation liegt also nicht nur ein deskriptiver Anspruch zugrunde, sie ist als Conditio sine qua non für diachrone Fragestellungen anzusehen. Areale Variation muss als Diachronie im Raum verstanden werden, genauso wie Diachronie den Wechsel synchron dominierender arealer Varianten durch die Zeit sichtbar macht. Der Abbau der tochtersprachlichen Fortsetzer von urgerm. ✶ga- wird in den altgerm. Einzelsprachen zunächst als diachroner Prozess wahrgenommen. Die Überlieferungslage ist nicht für alle gleichermaßen gut, aber es lässt sich feststellen, dass dieser Prozess nicht in allen Sprachräumen mit der gleichen Geschwindigkeit verlaufen ist. Insgesamt zeichnet sich innerhalb der Germania ein Nord-Süd-Gefälle ab (vgl. Leiss 1992: 69): Das Präfix überlebte im Westgerm. deutlich länger als in den nordgerm. Sprachen. Über das Ostgerm. kann keine Auskunft gegeben werden, da die got. Überlieferung bereits vor dem erfassbaren Abbau des Präfixes abbricht. Innerhalb der westgerm. Gruppe verhalten sich die kontinentalen Idiome As. und die Dialekte des Ahd. wesentlich konservativer als das nah verwandte Ae., wo das zu y- abgeschwächte Präfix zwar noch bis ins 12. Jahrhundert in Resten belegt ist, die Reduktion insgesamt aber
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1 Einleitung
deutlich schneller vonstattenging (vgl. Mossé 1925: 292). Auch innerhalb des Kontinentalwestgerm. zeigen sich Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden. Im Oberdeutschen ist das Präfix ge- vereinzelt bis ins 17. Jahrhundert zu Oppositionsbildungen an einigen Verben fähig (vgl. Blumenthal 1968: 159–162). Es mag angesichts der gegenwärtigen Situation überraschen, dass das niederdeutsche Verbalsystem insgesamt (und davon insbesondere der temporale Bereich) in früheren Sprachstufen deutlich innovationsfreudiger war als das hochdeutsche. Das bezieht sich nicht nur auf den Abbau des gi-Präfixes, sondern auch auf die Entwicklung der periphrastischen Tempora. Bereits im As. sind diese (ebenso wie im Ae.) häufiger belegt und zudem weiter grammatikalisiert als ihre ahd. Pendants (vgl. Leiss 1992: 162, Gillmann 2016: 237). Wiederum zeigt sich: Der Norden ist innovativ, der Süden konservativ. Während das Ae. ab dem 6. Jahrhundert geografisch von den anderen westgerm. Sprachen getrennt wird und eine eigene Entwicklung nimmt, lassen sich das Niederdeutsche und das Hochdeutsche in der Diachronie gut vergleichen. Beide weisen seit jeher ein morphologisch und syntaktisch fast identisches Verbalsystem auf, die Unterschiede manifestieren sich vor allem im pragmatischen Gebrauch.6 Es gibt also Hinweise darauf, dass das As. und das Ahd. ähnliche Entwicklungspfade begehen, allerdings mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Gerade mangels umfangreicher Textquellen für beide Sprachräume ist dieser Umstand auch eine vielversprechende Möglichkeit zur Erschließung einer einzelsprachlichen Entwicklungsdynamik. Das As. wird damit zur innovativen Projektionsfläche des Ahd. Im Hinblick auf etwaige qualitative Entwicklungen von ahd./as. gi- stellt sich daher die vorrangige Frage, welchen semantischen, syntaktischen und pragmatischen Restriktionen das Präfix unterworfen ist und ob diese signifikante areale Unterschiede aufweisen, die nicht nur synchrone Variation widerspiegeln, sondern durch eine einfache ‚Subtraktionsmethode‘ auch diachrone Prozesse sichtbar machen können. Der Aufbau der Arbeit folgt dem Ziel, die gestellten Forschungsfragen sowohl aus theoretischer als auch empirischer Sicht zu beantworten. Kapitel 2 bildet das theoretische Fundament der Untersuchung. Hier werden zunächst die grundlegenden Termini eingeführt und diskutiert. Neben dem Herausarbeiten einer einheitlichen Definition der Kategorie des Aspekts, die die Erkenntnisse der typologischen wie auch einzelsprachphilologischen Forschung zusammen-
Das gilt letztlich bis zum heutigen Tag, wobei mit dem Einsetzen des oberdeutschen Präteritumschwunds (vgl. Abraham 1999) eine gewisse Schubumkehr eingetreten ist, was die innovativen Kräfte betrifft.
1 Einleitung
5
führt, werden mit Blick auf die empirische Untersuchung ‚diagnostische Kontexte‘ der Kategorie vorgestellt, die etwaige Kooperationsbereiche von temporalsemantischen Strukturmustern und vermeintlichen integrativen aspektuellen Subsystemen offenlegen. Daraufhin folgt ein Plädoyer für eine neue Funktionszuweisung des Präfixes urgerm. ✶ga- und seiner tochtersprachlichen Fortsetzer, die als ‚Faktivität‘ bezeichnet wird und sich gegenüber bisher angenommenen temporal-aspektuellen Funktionen als dominant erweist. Anhand ausgewählter qualitativer Analysen werden die erschlossenen Kategorieninhalte für die beiden untersuchten Idiome exemplarisch nachgewiesen, um die Suchrichtung für eine umfassendere Untersuchung zu bestimmen. Kapitel 3 befasst sich mit den theoretischen Grundlagen der Kategorie Tempus und ihren typologisch etablierten Konzeptualisierungsmöglichkeiten, die auch auf die germ. Sprachen übertragen werden können, welche unstrittig als ‚Tempussprachen‘ zu klassifizieren sind. Hier zeigt sich, dass eine rein zeitreferenzielle Definition von Tempus unzureichend ist, um die Distribution einzelner morphologischer Tempora in unterschiedlichen (diskurs-)pragmatischen Kontexten zu erklären. Unter ‚Diskurspragmatik‘ ist im Kontext dieser Arbeit zu verstehen, dass jenseits isolierter verbalgrammatischer Funktionszuweisungen verschiedene zusätzliche kontextuelle Faktoren des mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauchs existieren, die den Gebrauch bestimmter Formen begünstigen. Da Redundanz und Varianz für jedes grammatische System anzunehmen sind, ist eine gebrauchsbasierte Beschreibung einzelner Formen und ihrer Interaktion notwendig, um die gestellten Forschungsfragen zu beantworten. Jede Untersuchung historischer Korpussprachen ist monomedial limitiert, weswegen letztlich vor allem Aussagen über den marginalen Ausschnitt der schriftlichen Überlieferung getätigt werden können. Diskurspragmatische Muster lassen sich daher nur indirekt aus textgrammatischen herleiten. Im Rahmen dieser Arbeit kann dabei aber der Einfluss medialer Faktoren nicht seriös diskutiert werden, weswegen textgrammatische Strukturen als schriftliche Emergenzen übergeordneter diskurspragmatischer Strukturen angenommen werden müssen. Für die Herausarbeitung temporaler Strukturmuster, die eine Voraussetzung für die sich anschließende Distributionsanalyse darstellen, wird als wesentliches diskurspragmatisches Merkmal die Differenz von ‚Origo-Inklusivität‘ und ‚Origo-Exklusivität‘ (vgl. Zeman 2010: 87) identifiziert, die sich gegenüber temporaldeiktischen Verortungen als dominant erweist. Diese innertextuellen Präferenzen einzelner Verbalformen bilden die Basis zur Ein- und Abgrenzung binärer ‚Diskursmuster‘, die eine Vergleichbarkeit verschiedener Korpustexte ermöglicht. Textsortenunabhängig lassen sich auf diskurspragmatischer Ebene dialogische und nicht-dialogische Diskursmuster unterscheiden: Direkte Rede, Rahmener-
6
1 Einleitung
zählung sowie Autorenkommentare verhalten sich im Bezug auf die Origo insofern ähnlich, als sie aus der Perspektive des Sprechenden einen starken Situationsbezug aufweisen. Neben textuellen Gliederungsstrukturen lassen vor allem Deiktika die jeweiligen Passagen in diesem Diskursmuster verorten. Narrative Textabschnitte zeichnen sich durch eine origo-exklusive Situationsentbindung aus und werden dem nicht-dialogischen Diskursmuster zugeschlagen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zu klären sein, ob das Präfix ahd./as. gi- ebenso wie verschiedene Tempusformen eine Affinität zum einen oder anderen Diskursmuster aufweist und ob sich durch eine Korrelation Aussagen über etwaige aspektuelle und temporale Funktionen treffen lassen. Den theoretischen Grundlagen folgt ein Überblick über das verbalmorphologische Inventar, das den altgerm. Sprachen im Allgemeinen und dem Ahd. und As. im Speziellen zur Verfügung steht. An dieser Stelle wird das das Formenset definiert, das einer späteren Funktionsanalyse zugrunde gelegt werden kann. In Kapitel 4 werden die bisherigen Erkenntnisse in ein Analyseinstrumentarium übergeführt, das den Anforderungen einer empirischen Untersuchung gerecht wird. Neben der Diskussion methodologischer Konsequenzen werden dabei auch die obigen Forschungsfragen weiter präzisiert. Außerdem wird diskutiert, wie der Abbau von ahd./as. gi- nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ beschrieben werden kann. Dabei wird der Begriff der ‚Exaptation‘ eingeführt, um entsprechende Entwicklungen konzeptionell und terminologisch fassen zu können. Ein weiteres Unterkapitel gibt Auskunft über Gestalt und Aufbereitung der beiden Korpustexte, der ahd. Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg und des as. Heliand. Die empirische Untersuchung in Kapitel 5 stellt zunächst eine Prototypenrekonstruktion der Tempussysteme des Ahd. und As. auf Grundlage der aufbereiteten Texte vor. Neben einer Beschreibung und Gegenüberstellung des morphologischen sowie syntaktischen Inventars steht vor allem die Charakteristik der funktionalen und diskurspragmatischen Kontexte im Fokus. Anschließend wird mittels einer vertiefenden Distributionsanalyse der Frage nach der Funktion der im Schwinden begriffenen gi-Präfixe innerhalb des temporalen Systems vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen wie der Emergenz periphrastischer Konstruktionen nachgegangen. Im Schlusskapitel werden die Ergebnisse der theoretischen und empirischen Arbeitsteile zusammengefasst und ein abschließendes Fazit gezogen. Folgende Anmerkungen zu formalen Grundlagen dieser Arbeit seien an dieser Stelle noch vorausgeschickt: Die Belegstellen der beiden Korpustexte sind dem digitalen ‚Referenzkorpus Altdeutsch‘ entnommen, abrufbar über das Tool
1 Einleitung
7
ANNIS37 (Krause / Zeldes 2016). Die objektsprachlich diskutierten Lemmaansätze entsprechen formal ebenfalls den Konventionen des Projekts, d. h. dass ich auf diakritische Zeichen wie Längen- oder Akzentmarkierung abseits der zitierten Editionstexte verzichte. Die nhd. Übersetzungen der einzelnen Belegstellen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir.
https://korpling.german.hu-berlin.de/annis3/ddd (letzter Zugriff: 20.01.2022).
2 Aspekt 2.1 Überblick War das altgerm. Aspektsystem lange Zeit ein ausgiebig beforschtes Gebiet der Altgermanistik mit einer Tradition bis weit in das 19. Jahrhundert8 zurück, gab es nach einem Abebben dieser Forschungsbemühen zur Mitte des 20. Jahrhunderts in den letzten Jahrzehnten Nachholbedarf. Typologisch-theoretische Ansätze, wie sie dabei von Abraham (1989, 1998, 2008), Leiss (1992, 2000a, 2000b) oder Schrodt / Donhauser (2003) verfolgt wurden, haben sich als erfolgreiche Vorstöße der allgemeinen Linguistik erwiesen, transkategoriale interdependenzielle Muster offenzulegen und damit den allgemeinen Diskurs wiederbelebt. Zuletzt wurde auch von Heindl (2017) der Versuch unternommen, die erschlossenen universellen Dimensionen, auf die noch genauer einzugehen ist, wieder der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen anzunähern. Eine quantitative Darstellung sowie eine qualitative Besprechung aller funktionalen Typen der altgerm. ‚Aspektpräfigierung‘ stehen für das Ahd. und As. allerdings noch aus. Rezente Arbeiten aus benachbarten philologischen Disziplinen, etwa von Metzger (2017) für das Got., bieten jedoch vielversprechende methodologische Anknüpfungspunkte und darüber hinaus das Potenzial, den generellen Diskurs zum altgerm. Aspektsystem, der lange Zeit von einem Dissens geprägt war, auch auf einzelsprachphilologischer Ebene in versöhnliche Bahnen zu lenken. Die Erkenntnis Metzgers, dass bisherige Arbeiten zur altgerm. Präfigierung weit weniger widersprüchlich sind als in den jeweiligen Publikationen suggeriert wird, gilt auch für den germanistischen Teilbereich (vgl. Metzger 2017: 169). Das vorliegende Kapitel soll dies mittels einer Revision des ahd. und as. Sprachmaterials sowie der reichhaltigen Forschungsliteratur zeigen und versteht sich damit als axiomatischer Fortsetzungsversuch für das Deutsche in der Diachronie, auch wenn im Rahmen dieser empirisch ausgerichteten Arbeit keine vergleichbare qualitative Leistung erbracht werden soll. Ziel ist also nicht nur, die (greifbare) Systematik der altgerm. Präfigierung hinsichtlich ihrer semantischen und grammatischen Potenziale weiter atomistisch zu verfeinern, sondern vor allem ihre quantitativ sichtbaren Anwendungs- und Restriktionsmuster offenzulegen. Ich verfolge dabei einen pragmatischen Ansatz, der zunächst nicht
Eine zusammenfassende Darstellung und Diskussion der indogermanistischen, germanistischen und slawistischen Aspektforschung vor dem ersten Weltkrieg bietet Pollak (1920). https://doi.org/10.1515/9783111040387-002
2.1 Überblick
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zwingend im Widerspruch zu gängigen Aspekttheorien steht, sondern einen übergeordneten funktionalen Blickwinkel eröffnen soll. Die Wirkungsbereiche der altgerm. Präfigierung werden dabei in der expliziten Hervorhebung eines (meist außersprachlich erfahrbaren) Denotats unterschiedlicher Oberflächengestalt verortet, das sich über eine diathetische Perspektivierung ausdrückt. Alle anderen grammatischen Leistungen, seien sie aspektueller, temporaler, modaler oder syntaktischer Natur, sind davon – teils diachron und teils synchron – ableitbar und mit dem hier formulierten Axiom kompatibel. Dass sich die germanistische Aspektforschung sowohl vonseiten der Slawistik als auch vonseiten der allgemeinen Linguistik mit zahlreichen Einwänden konfrontiert sah und teilweise noch sieht, hat vorrangig wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Gründe. Bei der Beschreibung grammatischer Kategorien gibt es nur zwei Vorgehensweisen, eine onomasiologische und eine semasiologische. Dass beide im Idealfall höchstens zu assoziierten Ergebnissen und niemals zu synonymen kommen, ist dabei nicht auf die Kategorie des Aspekts beschränkt. Da der Aspektbegriff aber aus der Slawistik kommt und dort die onomasiologische Grammatikbeschreibung der semasiologischen Inhaltsbestimmung gefolgt ist, können die Forderungen an diese grammatische Kategorie auch nur vom slaw. Prototyp selbst vollständig erfüllt werden (vgl. Nespital 1983: 359; 373). Ein entsprechendes schablonenhaftes Vorgehen ist daher in der Germanistik für die Kategorie des Aspekts nicht möglich, was aber auch nicht weiter problematisch ist und schon gar nichts darüber aussagt, ob die germ. Sprachen generell bzw. die historischen Sprachstufen des Deutschen über mehr oder weniger vergleichbare Kategorien verfügen oder nicht. Man stelle sich vor, die morphologischen Formen des lat. Verbalsystems hätten bei schulgrammatischen Kategorien wie Tempus einen solchen Geltungsanspruch in der Gegenwart. Man müsste für sämtliche anderen Sprachen behaupten, sie verfügten aufgrund der weniger akkuraten Korrelation von Phänotyp (Morphologie) und Genotyp (Versprachlichung von wahrgenommener Zeit) über kein vollständiges oder ‚echtes‘ Tempussystem. Wenn also der onomasiologische und der semasiologische Ansatz nur schwierig sinnvoll zu vereinen sind, liegt das in der Natur der Sache und nicht am Unvermögen einzelner Autoren. Im Rahmen dieser Arbeit besteht keine Notwendigkeit, auf derartige (mittlerweile ohnehin größtenteils historische) Grundsatzdebatten und Projektionen sachfremder nationalphilologischer Interessen näher einzugehen oder sie gar fortzuführen. Auch auf generelle allgemeinlinguistische Diskussionen zur Kategorie des Aspekts wird, wo es nicht zum Verständnis der fokussierten Inhalte dient, verzichtet. Für einen detaillierten Überblick zur Geschichte der Aspektforschung sei an dieser Stelle auf die erschöpfende Diskussion bei Leiss (1992: 15–30) verwiesen, für eine typologisch ausgerichtete moderne As-
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pektdefinition und ihre Anwendungsbereiche sowie -grenzen auf Heindl (2017: 19–59). Diese Publikationen dienen im Folgenden als theoretische Ausgangsbasis. Zunächst werden im zweiten Unterkapitel ausgehend von den fassbaren grammatischen Inhalten die Phänomene ‚Aspekt‘, ‚Aktionsart‘ und konkurrierende Konzepte eingegrenzt und die entsprechenden Termini für diese Arbeit definiert. Ziel ist dabei eine Engführung bisheriger Aspekttheorien hin zu einem einheitlichen Modell, wobei zunächst ein übereinzelsprachlicher und allgemeinlinguistischer Ansatz gewählt wird. Im Anschluss werden sog. ‚diagnostische Kontexte‘ der Aspektkategorie ausgewählt und diskutiert, die für eine empirische und textpragmatische Untersuchung geeignet erscheinen. Das erarbeitete Instrumentarium bildet das methodologische Fundament für das dritte Unterkapitel, in dessen Fokus das urgerm. Präfix ✶ga- und ausgewählte qualitative Analysen seiner belegten tochtersprachlichen Fortsetzer stehen, die üblicherweise mit dem grammatischen Feld der Aspektualität, aber auch mit jenem der Temporalität in Zusammenhang gebracht werden. Auf Basis der theoretischen Überlegungen müssen später die Möglichkeiten und Aufgaben zukünftiger textpragmatischer Untersuchungen diskutiert werden.
2.2 Der Komplex der Aspektualität Analog zu den Begriffen der Temporalität und der Modalität hat sich auch jener der Aspektualität in der Linguistik etabliert, wobei damit üblicherweise „alle Funktionen im Bereich der Verlaufsweise einer Verbalhandlung“ bezeichnet werden (Admoni 1982: 172). Der Begriff der Verlaufsweise im Zusammenhang mit Aspektualität ist bereits problematisch, wie sich zeigen wird. Aspekt und Aktionsart sind nach gängigen Definitionen ebenso wie Verbalcharakter als Subtypen der Aspektualität zu sehen. Besonders die ersten beiden Termini sind in der germanistischen Forschung über einen sehr langen Zeitraum uneinheitlich verwendet worden, was die Rezeption insbesondere der älteren Literatur erschwert. Aber auch in jüngeren Publikationen findet man diesen unpräzisen Gebrauch vor (vgl. Ðorđević 1994: 293–294). Den Germanisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war aufgrund des erst später eingeführten Aspektbegriffs eine entsprechende formale Unterscheidung noch gar nicht möglich. Das heißt aber nicht, dass sie grundsätzlich keinen Unterschied zwischen den einzelnen Kategorien erkannt haben oder ihre Beobachtungen deswegen weniger präzise wären. Die philologischen Arbeiten dieser Zeit sind keineswegs als obsolet zu betrachten, sondern bieten vielmehr auch heute noch eine gute Ausgangslage für die moderne Aspektforschung. Allerdings bedürfen sie bei der Rezeption einer genaueren Differenzierung und Auffächerung.
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2.2.1 Aspekt Man kann Verbalsituationen grundsätzlich auf zwei – in Bezug auf die außersprachlich erfahrbare Wirklichkeit abstrakte – Arten erfassen: außenperspektivisch und innenperspektivisch. Unabhängig von der Art und Weise des Verlaufs sowie der zeitlichen Erstreckung der perspektivierten Handlung wird diese damit entweder in ihrer Gesamtheit (außenperspektivisch) oder nur partiell bzw. unkonturiert (innenperspektivisch) betrachtet und dargestellt (vgl. Leiss 1992: 33, Smith 1997: 66, Heindl 2017: 30).9 Es lassen sich in der Literatur weitere (teils nur scheinbar synonym verwendete) Begriffspaare wie ‚vollendet: unvollendet‘ oder ‚abgeschlossen: nicht-abgeschlossen‘ finden, deren Gebrauch und Bedeutung aber stark variieren und oft bereits zusätzliche Prädikationen verbalsemantischer Art implizieren. Diese sollten daher mit Bedacht und nur zur Paraphrasierung verwendet werden, aber keine primäre terminologische Funktion haben. Wird die Verbalhandlung außenperspektivisch und damit als unteilbares Ganzes betrachtet, befindet sich der Sprecher außerhalb des geschilderten Geschehens und kann dieses in gewisser Weise als ‚abgeschlossen‘ oder ‚vollendet‘ erfahren. Das heißt aber nur, dass ein Betrachtungsrahmen die Situation insofern begrenzt, als ein An- oder Fortdauern der Verbalhandlung ausgeschlossen ist. Das Erreichen dieser Grenze gibt ohne weitere kontextuelle Spezifizierung keine Auskunft darüber, welche Auswirkungen die Verbalhandlung hat und auf welche Weise sie zu Ende gegangen ist. Der Betrachtungsrahmen kann dabei temporale Konnotationen haben, schließlich ist es gerade aufgrund unseres unidirektionalen Zeiterfahrens einsichtig, dass ein Geschehen, das als Ganzes beschrieben werden kann und damit sowohl über einen Anfangs- als auch über einen Endpunkt verfügt, wenigstens in Relation zu einem wie auch immer gearteten natürlich lokalisierbaren Punkt auch ‚vergangen‘ sein muss. Dieser metaphorische Sprung ist kein allzu großer und bildete die kognitive Ausgangslage für die besonders in der Indogermania immer wieder beobachtbare Entwicklung von Aspektsystemen zu Tempussystemen, genauer gesagt PAST-Systemen (vgl. Hewson 2001: 80). Dieser Prozess ist zwar ein sekundärer und gehört nicht zur Kernbedeutung des Aspekts, kann aber zur Identifizierung aspektprototypischer Kontexte hilfreich sein (s. u.).
Die von Harweg (2014) vorgeschlagenen Termini ‚Retrospektive‘ und ‚Konspektive‘ sind für eine typologische Definition nicht geeignet, tragen aber in funktionalen Auseinandersetzungen mit gegenwartssprachlichem Material dem Umstand Rechnung, dass Aspekt und Tempus in nachbarschaftlicher Beziehung stehen. Ðorđević (1994) spricht von ‚Vogelperspektive‘ und ‚Froschperspektive‘. In dieser Arbeit wird mit ‚Außenperspektive‘ und ‚Innenperspektive‘ auf die Terminologie von Leiss (1992) zurückgegriffen.
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Eine sprachgeschichtliche Nachzeichnung dieser gesamten Entwicklung in Einzelschritten ist dagegen kaum möglich. Im Gegensatz zur Außenperspektive enkodiert die Innenperspektive Informationen über einen sich im Verlauf befindlichen Vorgang, wobei sich die Informationen darauf beschränken, einen solchen Verlauf überhaupt zu denotieren. Dieser kann über einen potenziellen Abschluss verfügen, der jedoch irrelevant ist bzw. unaktualisiert bleibt. ‚Imperfektivität‘ meint aber nicht, dass eine Verbalhandlung unbegrenzt ist, also keinen natürlichen Endpunkt hat, oder dass eine bestimmte zeitliche Erstreckung mit der Innenperspektive korrelieren muss. Es wird damit nur ein interner Ausschnitt des verbalen Geschehens fokussiert, ohne genauere Aussagen über Anfangs- und Endpunkt zu treffen. Um das Potenzial der Aktualisierung einer etwaigen Grenze konzeptuell zu vordergrundieren, wird der imperfektive Aspekt seit Smith 1997 auch als informationally open bezeichnet, im Gegensatz zum als informationally closed charakterisierten perfektiven Aspekt. Informationelle Offenheit bedeutet nichts Anderes, als dass Anfangs- und Endpunkt einer Situation ausgeblendet werden, Geschlossenheit wiederum markiert ausschließlich das Erreichen des Grenzpunktes (vgl. Heindl 2017: 30). Das Schema in Abbildung 1 zeigt den lokalisierbaren Betrachtungshorizont des Sprechers im Verhältnis zum Verbalgeschehen (I = initial endpoint, F = endpoint): I
F
I.. //// ..F
///////////// (perfective viewpoint)
(imperfective viewpoint)
Abbildung 1: Der Perspektivenaspekt nach Smith (1997: 66, 73).
Mit der Wahl der Perspektive wird also – anders als bei der Wahl des Tempus – nicht das Verbalgeschehen lokalisiert, sondern der Sprecher selbst (im unwirklichen Sinne), der das Geschehen im Fall der Außenperspektive losgelöst von der Verbalhandlung (perfective viewpoint) und im Fall der Innenperspektive als integrierter Teil der Verbalhandlung (imperfective viewpoint) beschreibt. Die Schrägstriche der Grafik zeigen also die (unwirkliche) Position des Sprechers im Verhältnis zur versprachlichten Verbalsituation an. Im Gegensatz zur Tempuskategorie, die ermöglicht, indexikalisch greifbare zeitliche Entfernungen zur Origo zu versprachlichen, verschiebt sich durch die aspektuelle Perspektivenwahl demnach gewissermaßen das gesamte deiktische
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Koordinatensystem. In slaw. Sprachen10 ist das auch für Laien unmittelbar einsichtig (und für diese ohne metasprachliche Termini beschreibbar), korreliert doch ein morphologisches Bildungsprinzip mit der Perspektive: Morphologisch imperfektiv gebildete Verben können als innenperspektivisch definiert werden, perfektiv gebildete als außenperspektivisch.11 Das Deutsche hat kein entsprechendes systemgrammatisches Konzept zur Verfügung, was nicht heißt, dass eine Perspektivierung per se unmöglich ist. Genauer gesagt kann es auch im Deutschen keine verbale Äußerung geben, die nicht entweder die eine oder die andere Perspektive impliziert (vgl. Ickler 1990: 5). Man kann also durchaus die Meinung vertreten, dass es aus sprachtypologischer Perspektive keine aspektlosen Sprachen gibt. Es handelt sich dabei um eine universelle Kategorie, die in einzelnen Sprachen morphologisch, syntaktisch, lexikalisch oder auch – wie im Deutschen sehr häufig – pragmatisch bzw. kontextuell realisiert werden kann (vgl. Bybee 1985). Diese Feststellung lässt sich aber problemlos auf die meisten anderen und uns vertrauteren grammatischen Kategorien wie Tempus oder Modus übertragen, ist für sich selbst demnach mehr Alltagsweisheit als linguistischer Befund. Man kann aber wohl berechtigterweise behaupten, dass eine Opposition in der einen oder anderen Sprache für Sprecher (vielmehr Hörer) schwieriger zu dekodieren und damit für Linguisten auch schwieriger zu identifizieren ist als in anderen. Möchte man das slaw. Aspektsystem als idealen Prototyp beibehalten und akzeptiert die Möglichkeit unterschiedlicher Perspektivierungen, so wäre diese ‚reinste‘ Form des Aspekts, wie sie auch vonseiten der Slawistik (etwa von Maslov 1984 oder Ðorđević 1994) oft postuliert wurde, am einfachsten negativ zu definieren: Aspekt im engsten Sinne kann nichts anderes leisten als den systematischen Wechsel von Innenperspektive und Außenperspektive.12 Das wäre zudem auch die einzige Definition, die eine saubere Trennung von Aspektuali-
Meistens wird nur das Russische zum Vergleich herangezogen, wodurch der Eindruck erweckt wird, das Aspektsystem der slaw. Sprachen wäre eine homogene übereinzelsprachliche Kategorie. Tatsächlich lassen sich aber zum Teil große Unterschiede zwischen den einzelnen Zweigen oder sogar eine harte Ost-West-Isoglosse ausmachen, wobei das Westslaw. als konservativer gilt und das Ostslaw. eine stärkere Interdependenz von Aspekt und Tempus aufzuweisen scheint. Die Unterschiede offenbaren sich also vor allem auf funktionaler bzw. diskurspragmatischer Ebene (vgl. Breu 2000, Breu 2009, Dickey 2000, Kresin 2000 und Nádeníček 2011). Die von Hermann (1927) eingeführten Termini ‚kursiv‘ und ‚komplexiv‘ werden außerhalb der slawistischen Fachliteratur oft anstelle von ‚imperfektiv‘ und ‚perfektiv‘ verwendet, inhaltlich aber nicht immer einheitlich. Der Terminus ‚global‘ anstelle von ‚perfektiv‘ bzw. ‚komplexiv‘ von Coseriu (1966) konnte sich nicht durchsetzen. Die pragmatischen Folgeerscheinungen, was Gebrauchskontext oder Idiomatizität betrifft, müssen dabei zunächst ausgeblendet werden.
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tät, Temporalität und Aktionsarten ermöglicht. Die seit Comrie (1976)13 üblichen Aspektdefinitionen gehen allerdings oft über dieses Minimum hinaus: „aspects are different ways of viewing the internal temporal constituency of a situation“ (Comrie 1976: 3). Hier wird eine weitere Ebene angesprochen, nämlich jene der internen temporalen Struktur, die aber offensichtlich mit der Perspektivenwahl (ways of viewing) zusammenfällt oder wenigstens mit ihr assoziiert wird. Was die interne temporale Struktur betrifft, scheinen für Comrie Art und Verlauf der Verbalhandlung im Vordergrund zu stehen. Gerade diese verbalsemantischen Spezifizierungen sollten aber im Zusammenhang mit Aspekt zunächst keine Rolle spielen und gesondert diskutiert werden.14 Eine einheitliche Definition der internen temporalen Struktur bleibt jedoch ohnehin aus, was wohl damit zu tun hat, dass Comrie ihre Affinität zur Kategorie der Aktionsarten erkennt und aus pragmatischen Gründen eigentlich auf deren Berücksichtigung gänzlich verzichten möchte (vgl. Comrie 1976: 6). Da im Zentrum der Diskussion über Existenz oder Nicht-Existenz eines altgerm. Aspektsystems aber gerade die Frage steht, ob das eine oder andere Präfix eher aspektuelle oder aktionsartliche Funktion hat, muss an dieser Stelle natürlich ein objektives Kriterium identifiziert werden, das zur Unterscheidung der beiden Kategorien geeignet ist.
2.2.2 Aktionsart und Verbalcharakter Auf der Suche nach einem solchen Kriterium führt Leiss (1992: 30) zunächst den aus der russischen Aspektforschung stammenden Begriff der ‚Grenzbezogenheit‘ ein, der auch hier als Ausgangspunkt dienen soll. Die Merkmalsopposition [+/– Grenzbezogenheit] ist innerhalb der Kategorie der Aktionsart der größte gemeinsame Nenner aller Subklassen und damit auch deren „höchste Stufe der Abstraktion“ (Andersson 1972: 61). Eine Verbalhandlung kann unabhängig von der Perspektivensetzung einen wie auch immer gearteten natürlichen Abschluss bzw. Endpunkt implizieren. Im Gegensatz zur Perspektivenwahl ist das auch für das Deutsche oft klar ersichtlich. Zur Illustration des Unterschieds zwischen Aspekt und Aktionsart führt Leiss (1992: 30) das bekannte Beispiel von Jacob Grimm (1824) an, der damit allerdings ein grammatisches ‚Aspektpaar slawischer Art‘ identifiziert zu haben glaubte: Die beiden Verben erjagen und jagen stehen zueinander in einer Opposition, die
Dieser bezieht sich dabei aber auf die weniger rezipierte Arbeit von Holt (1943). Das gilt, anders als die an diesem Punkt ansetzende Kritik von Harweg (2014: 212) vermuten lässt, aber nicht nur für den perfektiven Aspekt.
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man hinsichtlich ihrer verbalen Semantik mit [+/–Grenzbezogenheit] beschreiben kann. ‚Grenzbezogenheit‘ meint hier, dass die Verbalhandlung einen inhärenten Endpunkt besitzt. Die tatsächliche zeitliche Erstreckung ist dabei nicht relevant, weswegen vermieden werden sollte, die Dauer der Verbalhandlung im Zusammenhang mit Aktionsart (oder Aspekt) zur Verdeutlichung des Phänomens als Terminus zu bemühen. Vielmehr kann man von einem ‚Potenzial des Andauerns‘ sprechen. Aus gutem Grund wurde Grimms ‚Aspektpaar‘ vonseiten der Slawistik nicht als solches akzeptiert. Bei diesem Beispiel handelt es sich um zwei Verben, deren Unterschied insofern nicht perspektivischer, sondern aktionsartensemantischer Natur ist, als nichts anderes außer dem Wesen des natürlichen Verbalhandlungsverlaufs spezifiziert wird (vgl. Agrell 1908: 78). erjagen ist ein terminatives Derivat: Es impliziert zum einen den erfolgreichen Abschluss der Handlung und zum anderen die Folge der Inbesitznahme oder anderweitigen Manipulation einer wie auch immer gearteten ‚erjagten‘ Entität. Aufgrund der Semantik des Verbs sind für die Grenzerreichung alle Komponenten relevant, die temporale ist nur eine davon. Das Simplexverb jagen, das als Ableitungsbasis dient, ist im isolierten Kontext je nach Auffassung entweder implizit aterminativ oder aktionsartenneutral. Der entscheidende Unterschied liegt hier nicht im Wechselspiel der Perspektiven (worüber für das Lexem selbst ohnehin kein Urteil möglich ist), sondern im Potenzial des Verbs, die Verbalhandlung hinsichtlich der Art und Weise ihrer außersprachlich wahrnehmbaren Wirkung genauer zu beschreiben und damit auch außersprachlich wahrnehmbar zu begrenzen. Dieses Potenzial fehlt der Kategorie des Aspekts, die grundsätzlich keine Aussage darüber macht, auf welche Art und Weise eine Verbalhandlung endet oder eben nicht endet. Auf die Bedeutung dieser Dimension im Zusammenhang mit Aspektualität soll an einer anderen Stelle noch genauer eingegangen werden. Vorerst genügt es festzuhalten, dass genau die Trennlinie von innersprachlicher und außersprachlicher Zugänglichkeit geeignet scheint, um Aspekt und Aktionsart voneinander zu unterscheiden.15 Grimms Verbpaar sah sich allerdings vorrangig mit einem ganz anderen Einwand konfrontiert: Von Aspekt könne man nur sprechen, wenn ein systematischer Wechsel der Perspektive vorliege. Allerdings sind Beispiele wie erjagen oder erbauen im Deutschen Ausnahmen des verbalmorphologischen Systems, dementsprechend könne man auch von keiner Systematik sprechen (vgl. Leiss 1992: 35).
Die außersprachliche Dimension impliziert auch das von vielen Autoren angeführte Merkmal der ‚Sprecherunabhängigkeit‘. Der von Jacobsohn (1933) und Hermann (1927) etablierte Begriff der ‚Objektivität‘ im Gegensatz zur ‚Subjektivität‘ des Aspekts dagegen sollte vermieden werden.
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Und selbst innerhalb der mit er- präfigierten Verben sind diejenigen Paare, bei denen tatsächlich nur die aktionsartensemantische Opposition [+/–Grenzbezogenheit] im eigentlichen Sinne vorliegt, nicht in der Mehrheit. Oft geht mit der Präfigierung eine größere semantische Verschiebung hin zu neuen autonomen Lexemen einher, wie bei erfinden, erreichen oder erstehen. Dieser Einwand klingt zwar plausibel, vermag hier aber nicht zu überzeugen, da ein rein semasiologischer Ansatz zur Unterscheidung von grammatischen Kategorien nicht zielführend ist, wenn schon eine typologisch-funktionale Definition zu einem brauchbareren Ergebnis kommt. Es wurde bereits angemerkt, dass auch ohne systemgrammatische Versprachlichungsmöglichkeiten aspektuelle Perspektivierung ausgedrückt werden kann. Das Nicht-Vorhandensein von Systematizität ist also kein geeignetes Kriterium, um Aspekt und Aktionsart voneinander zu unterscheiden. Das slaw. Verbalsystem, das abgesehen von der systematischen Aspektopposition auch auf eine Fülle von Aktionsarten zurückgreifen kann, stellt sowohl für Terminativa als auch Aterminativa eine perfektive und eine imperfektive Form bereit. Dem deutschen Verbpaar stehen also vier potenzielle slaw. Formen gegenüber. Es spielt in diesem Zusammenhang übrigens keine Rolle, dass in den slaw. Sprachen aus pragmatischen Gründen terminative (und andere telische bzw. additive) Verben dazu tendieren, eher perfektiv (also außenperspektivisch) gebildet bzw. aufgefasst zu werden und aterminative (und andere atelische bzw. non-additive) eher imperfektiv (und damit innenperspektivisch), die Opposition bleibt trotzdem bestehen (vgl. Bohnemeyer / Swift 2004: 268, Heindl 2017: 101). Aspekt und Aktionsarten sind miteinander verschränkt, interagieren in gewisser Weise miteinander, sind aber nicht identisch. Diese Unterscheidung wird, wenn auch teilweise mit abweichender Terminologie, von den meisten Autoren getroffen (etwa Smith 1997, De Swart 1998 und Bertinetto 2000 oder Harweg 2014). Zuletzt fasste Heindl die beiden Typen wie folgt zusammen: An dieser Stelle sei auch der Hauptunterschied zwischen dem grammatischen und dem lexikalischen Aspekt betont: Während der lexikalische Aspekt nur anzeigt, ob ein natürlicher Endpunkt vorhanden ist, signalisiert der Perspektivenaspekt explizit sein tatsächliches Erreichen oder Nicht-Erreichen und kann auch insofern einen Eingriff in die temporale Organisation einer Situation darstellen, als die zugrunde liegenden temporalen Informationen (so z. B. das Merkmal der (A)Telizität) durch die Zuhilfenahme des Perspektivenaspekts z. T. manipuliert werden können, um eine Situation anders zu präsentieren, auch wenn der Perspektivenaspekt sie nicht gänzlich,überschreiben‘ kann. (Heindl 2017: 31)
Grimms Beispielverb erjagen wäre demnach dem lexikalischen Aspekt (bisher Aktionsart) zuzurechnen. Diese Bezeichnung ist zwar durchaus üblich (in der angloamerikanischen Linguistik seit De Swart (1998) noch mehr als in der ger-
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manistischen), aber problematisch, weil sie suggeriert, dass das Erreichen eines natürlichen Endpunktes nur über die Wahl lexikalischer Optionen möglich ist. Das mag im Falle der Aktionsartenverben stimmen, die Begrenztheit einer Verbalsituation kann aber auch über syntaktische Elemente (z. B. Expansivergänzungen) oder textpragmatische Organisation (chronologische Ereignisabfolge) markiert werden (vgl. Heindl 2017: 32). Umso weniger einleuchtend sind damit auch die früheren Klassifikationskonventionen gängiger Grammatiken, die Verben ohne morphologische Merkmale wie terminativierende Suffixe kontextlos bestimmten Aktionsarten zuordnen.16 Diese Willkürlichkeit bewegt Leiss dazu, in der Tradition von Agrell (1908) und Dressler (1968) Aktionsarten ausschließlich semasiologisch zu klassifizieren: Bis auf einige wenige Ausnahmen werden Aktionsarten im Bereich der Morphologie verortet, hier wiederum überwiegen im Deutschen die Präfixbildungen (ver-, ent-, er- usw.). Aktionsartenverben seien damit größtenteils grenzbezogen. Zur Vervollständigung des Gesamtbildes der Aspektualität übernimmt Leiss den von Dressler (1968: 69) eingeführten Begriff ‚Verbalcharakter‘, um neben den als Derivate definierten Aktionsartenverben auch nicht derivierte Simplizia zu erfassen. Diese als ‚Grundverben‘ bezeichnete Klasse sei wiederum bis auf einige Lexeme (wie sterben, kommen oder finden) als nicht-grenzbezogen zu klassifizieren (vgl. Leiss 1992: 36–40). Sowohl Aktionsart als auch Verbalcharakter werden also letztlich ausgehend von der Ausdrucksseite erfasst, obwohl zunächst mit dem Merkmal der Grenzbezogenheit auch eine inhaltsseitige Kategorie isoliert werden konnte. Dieser semiotische Luxus ist nicht unbedingt notwendig, wo doch gerade im Kontrast zur Aspektkategorie die inhaltsbezogenen Unterschiede viel wichtiger sind und ausdrucksseitige Regelmäßigkeiten immer von anderen – ebenfalls ausdrucksseitigen – Prinzipien überschrieben werden können. Aus diesem Grund sieht sich die Dreiteilung des Aspektualitätskomplexes in ‚Aspekt‘, ‚Aktionsart‘ und ‚Verbalcharakter‘ mit nachvollziehbarem Widerspruch konfrontiert, etwa von Harweg (2014: 225). Es soll daher im Folgenden darauf verzichtet werden. Leiss ist sich des Unterschieds zwischen Aspekt und Aktionsart (und Verbalcharakter) bewusst, arbeitet ihn sogar sorgfältig heraus und weist vorerst lediglich in Übereinstimmung mit Dressler (1968: 50) auf eine Affinität bestimmter Aktionsarten zu einem spezifischen Aspekt hin. Umso überraschender ist es zunächst, dass sie die Unterscheidung aber in weiterer Folge zumindest für das Deutsche wieder fallen lässt. So werden kurzerhand ‚Grenzbezogenheit‘ und ‚Außenperspektive‘ zu Quasi-Synonymen erklärt:
Inzwischen sind die Grammatiken diesbezüglich vorsichtiger, so etwa der Duden (2016: § 564–572).
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Die grenzbezogenen Aktionsarten weisen die gleiche Perspektive auf wie die perfektiven Verben und stehen daher wie diese in Opposition zu den imperfektiven Verben, weshalb sie manchmal als Aspektpartner selegiert werden. Die Grenzen sind fließend. Im Deutschen gibt es keine Verdoppelungen der Perspektiven, jedenfalls nicht über Verbpaare. Uns bleiben also nur die Aktionsartenverben und die Grundverben. Das Verhältnis zwischen beiden besteht darin, daß die Aktionsarten die dem Grundverb entgegengesetzte Perspektive zum Ausdruck bringen. (Leiss 1992: 39)
Leiss scheint hier den Ansätzen von Breu (1980) zu folgen, der auf den Inklusionszusammenhang von Aspekt und Aktionsart aufmerksam gemacht hat. Der zugrundeliegende Pragmatismus ist aus funktionalistischer Sicht sogar nachvollziehbar, zumindest was die Aktionsarten betrifft. Da das Deutsche über keinen systematischen Perspektivenwechsel verfügt, ist anzunehmen, dass die Schnittmenge aus grenzbezogenen Aktionsarten und prototypischen perfektiven Kontexten sogar noch größer ist als in den slaw. Sprachen (vgl. Heindl 2017: 32). Eine theoretische Modellierung erlaubt solche Gleichsetzungen aber dennoch nicht. Hinzu kommt, dass weder für die germ. noch für die slaw. Sprachen ausreichende empirische Daten vorliegen, die ein genaues Bild der Interdependenz von Aspekt und Aktionsart zeigen.17
2.2.3 Theoretische Modellierung Auf Basis der vorangegangenen Überlegungen komme ich zu einer anderen Gliederung des Komplexes der Aspektualität als rein kognitive Domäne (und zunächst nur solche), die in semasiologischer Hinsicht aber mit den gängigen Definitionen kompatibel ist: Es gibt sprecherabhängige und sprecherunabhängige Kategorien.18 Zur ersten Gruppe gehört der Aspekt im engeren Sinne und zur zweiten die Aktionsarten, wobei dazu auch die Verbalcharaktere zu zählen sind. Der Unterschied liegt in der Zugänglichkeit des jeweiligen Ereignishorizonts. Für den sprecherabhängigen Aspekt ist dieser auf das Individuum beschränkt, das sich mit der Wahl der Perspektive selbst verortet, einmal als Teil des Geschehens (innenperspektivisch) und einmal außerhalb des Geschehens (außenperspektivisch). Für die sprecherunabhängigen Kategorien, zu denen neben den Aktionsarten auch alle anderen deiktischen Kategorien wie Tempus zählen, muss für das Kollektiv ein gemeinsamer Ereignishorizont existieren. In-
Zumindest für das Slawische gibt es mit Breu (2009) inzwischen einen theoretischen Überblick. Man könnte auch von introspektiven und extrospektiven Kategorien sprechen, was allerdings aus verschiedenen Gründen zu terminologischen Kollisionen führen würde.
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nerhalb dieses kollektiven Ereignishorizonts können außersprachlich potenziell erfahrbare Denotate lokalisiert werden. Das ist häufig die Art und Weise der Grenzerreichung: Ich unterscheide grenzbezogene und nicht-grenzbezogene Verbalhandlungen. Die grenzbezogenen Verben teilen sich das Merkmal [+dynamisch] und sind damit non-additiv bzw. telisch. Die Grenze kann entweder der Anfang sein wie bei allen Inchoativa (etwa beginnen) oder das Ende wie bei allen Terminativa (etwa beenden). Nicht-grenzbezogene Verben teilen sich das Merkmal [+statisch] und sind damit additiv bzw. atelisch.19 Über dieses Minimum an aspektualsemantischen Merkmalen hinaus implizieren (besonders die terminativen) Aktionsarten aber auch oft die generelle Folgewirkung der Verbalhandlung (wie bei erjagen). Sofern diese verbalsemantischen Bedingungen erfüllt sind, ist der Aspekt als hintergrundiert zu betrachten. Eine Vordergrundierung des Aspekts liegt nur dann vor, wenn dieser nicht mehr ausschließlich mit einem kollektiven Ereignishorizont verbunden wird. Die slaw. Sprachen haben diese Stufe der Grammatikalisierung erreicht, die germ. bestimmt nicht. Ob sie auf dem Weg dazu waren, ein solches System zu etablieren, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Analog zu den Entwicklungen, die in der Geschichte der slaw. Sprachen sichtbar werden, in denen die Perfektivierungsmarker20 aus terminativen Affixen entstanden sind (vgl. Leiss 2000b: 66), könnte man für die germ. Sprachen aber natürlich einen ähnlichen Entwicklungspfad annehmen, welcher nie ‚zu Ende gegangen‘ wurde. Diese Ansicht wird in der Slawistik mitunter auch vertreten (vgl. Ðorđević 1994: 297). Es gibt aber eigentlich keinen Grund zu behaupten, Grammatikalisierungswege hätten auch einen vorhersagbaren natürlichen Endpunkt oder zumindest obligate Zwi-
Das Klassifikationsschema von Zénó Vendler (1957) ist für meine Zwecke nicht geeignet, da es im Zwischenbereich von Aspekt, Tempus und Aktionsart angesiedelt ist. Der imperfektive Pol dagegen lässt sich diachron auf einen Indefinitheitsmarker zurückführen. Diese Art der konvergenten Grammatikalisierung, die eine Opposition von zwei markierten Polen zur Folge hat, ist ein Spezifikum des slaw. Aspekts (vgl. Maslov 1959: 566). In den germ. Sprachen ist die Entwicklung eine einseitige, bei der der unmarkierte Pol erst sekundär grammatisch aufgebaut, also gewissermaßen ‚mitgrammatikalisiert‘ wird. Typologisch gesehen ist diese Art des (diachronen) kategorialen Aufbaus von Aspektsystemen im Sinne der Markiertheitstheorie sogar der Normalfall. Allerdings fehlten für das Germ. lange Zeit Untersuchungen, die sich explizit mit der Semantik der Simplizia befassen. Aber auch aus rezenten Arbeiten lassen sich hinsichtlich der Verbalsemantik von Simplexverben keine klaren diachronen Tendenzen ableiten. Die bei Forsyth (1970: 16) und Leiss (1992: 61) zu findende Auffassung, wonach Imperfektivität als ‚Restklasse‘ definiert wird, für die alle semantischen Ausprägungen übrigbleiben, die nicht unter Perfektivität subsumiert werden können, stößt in der Slawistik größtenteils auf Ablehnung (vgl. Ðorđević 1994). Die Frage, ob unmarkierte Verben als inhärent innenperspektivisch zu bestimmen ist, wird in den einzelnen Philologien unterschiedlich beantwortet.
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schenstufen. Evolutive Systeme jeglicher Art zeichnen sich ja gerade durch das Fehlen solcher aus, systematische Cluster lassen sich immer nur in der Retrospektive festmachen. Auch die Voraussetzung von Unidirektionalität ist kein hinreichendes Indiz für eine solche Zielgerichtetheit. Das Bedürfnis, das germ. Aspektsystem als defizitär oder unvollständig zu beschreiben, wenn es nicht unbedingt kontrastiv zur Prototypisierung eines anderen Systems dient, ist daher schon aus wissenschaftstheoretischer Perspektive fragwürdig. Darüber hinaus verliert man über einen solchen Zugang schnell den Blick für das Gesamtausmaß des grammatischen und funktionalen Potenzials einer Kategorie. Es scheint, dass für die Erforschung des Aspektualitätskomplexes aus theoretischer Sicht in gewisser Weise bereits ein gemeinsames Delta erreicht wurde, zumindest was eine sprachtypologische Weitwinkelperspektive betrifft. Bezüglich der elementaren semantischen Merkmale und des damit verbundenen Potenzials zur Oppositionsbildung besteht weitestgehend Einigkeit, darüber sollten auch Differenzen terminologischer Art oder einzelphilologische Konventionen nicht hinwegtäuschen. Angesichts der Tatsache, dass unterschiedliche Ausprägungen der Aspektualität in enger Beziehung zueinanderstehen und oft die eine aus diachroner Sicht Grundbedingung für die (systemgrammatische) Entwicklung der anderen ist, wird im Folgenden zunächst ein weit gefasster Aspektbegriff verwendet und damit auch die Existenz eines altgerm. Aspektsystems nicht a priori ausgeschlossen. Die Frage, ob die Korrelation mit sichtbaren morphologischen Formen ausreicht, um von einer eindeutigen Zuordenbarkeit zu sprechen, wie das für die slaw. Sprachen ohne Zweifel der Fall ist, kann dabei vorerst nicht beantwortet werden.
2.2.4 Diagnostische Kontexte der Aspektkategorie Die angeführten theoretischen Erkenntnisse zu den kategorialen Leistungen von Perfektivität und Imperfektivität (bzw. ihren Quasisynonymen) wurden in der Geschichte der Linguistik zahlreichen sowohl qualitativen als auch – wenngleich deutlich seltener – quantitativen Überprüfungen unterzogen, teils mit widersprüchlichen Ergebnissen. Zwar ist es gerade das Wesen von Aspekt, grammatische Wahlfreiheiten zur Verfügung zu stellen, trotzdem ist die Verteilung unterschiedlicher Perspektivierungen auf ansonsten ‚synonyme‘21
Da mit der Manipulation eines Ausdrucks auf grammatischer Ebene auch immer zwangsweise eine semantische Bedeutungsveränderung eintritt, ist der Begriff der Synonymie von manchen Autoren aus guten Gründen abgelehnt (vgl. dazu auch die Diskussion unter 2.2.1.3).
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verbale Sachverhalte im mündlichen Sprachgebrauch wie auch in geschriebenen Texten nicht völlig willkürlich. Vielmehr scheint für viele Kontexte allein aus grammatischer oder pragmatischer Notwendigkeit heraus eine gewisse Perspektivenneigung, manchmal sogar ein Perspektivenzwang zu herrschen. Da man aber auch bei muttersprachlich kompetenten Gewährspersonen, die über kein systemgrammatisches Konzept der Perspektivierung verfügen, nur schwer ‚erfragen‘ kann, wie es um die aspektuellen Verhältnisse in ihrem natürlichen Sprachgebrauch steht, sind (typologisch gut belegte) Korrelate neben der Introspektion der einzige linguistische Zugang zur Erforschung des Aspekts. Das gilt umso mehr für historische und damit nur schriftlich belegte Sprachen. Wir können die damaligen Schreiber nicht mehr nach einer wenigstens laiensprachlichen Analyse ihrer Texte fragen und kein Linguist vermag über die gleiche muttersprachliche Kompetenz zu verfügen, weswegen jede Form der von der eigenen synchronen Varietät entbundenen Introspektion nicht nur methodologisch fragwürdig, sondern generell anmaßend ist. Da es sich dabei (noch) nicht um Konsens innerhalb der Scientific Community handelt, scheint es mir wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen. Aspekt korreliert und interagiert mit einigen anderen (verbalen wie nominalen) Kategorien, wobei die Gründe für diese interdependenziellen Beziehungen oft aufgrund ihrer funktionalen Deckungsgleichheit durchsichtig und logisch, in einigen anderen Fällen dagegen nicht so einfach erklärbar sind. Da sich die bisherige Forschung vor allem auf sprachübergreifende Tendenzen konzentriert hat, ist es auch möglich, von universalen prototypischen aspektsensitiven Kontexten zu sprechen. Hier auf alle genauer einzugehen, würde den Rahmen des Kapitels stark überlasten.22 Ich lege mein Hauptaugenmerk deswegen zunächst auf jene, die für eine textpragmatische Untersuchung von Relevanz sind und deren Nachweis entweder noch empirisch erbracht oder für die ein bereits vorhandener empirischer Befund einer Revision unterzogen werden muss. Gemäß der übergeordneten Fragestellung nach textorganisatorischen Strategien betrifft das generell jene Kontexte, die im weitesten Sinne Temporalitätsaffinität aufweisen, also mit einer zeitlichen Strukturiertheit von Einzelaussagen bis hin zu größeren diskursiven Einheiten wie (narrativen) Texten im Zusammenhang stehen. Ausgehend von der aspektuellen Kernbedeutung, die mit der quasitemporalen Lesart von [+/–Abgeschlossenheit] bzw. [+/–Andauern] korreliert, werden im Folgenden unter a) und b) zwei ineinander verschränkte und aufeinander aufbauende Analysemöglichkeiten zur Ermittlung des aspektuellen Verhaltens von Verben vorgestellt, die im Wesentlichen auf Smith (1997) zurückzuführen sind.
Für einen detaillierten Überblick vgl. die Ausführungen von Heindl (2017: 36–59).
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Dabei handelt es sich um indirekte Verfahren, bei denen objektive Umstände identifiziert werden, die übereinzelsprachlich hinsichtlich der Wahl des einen oder anderen Aspekts als bevorzugte und mitunter notwendige Strukturen syntaktischer und temporalsemantischer Art gelten. Smith steht damit in der Tradition von Mirowicz (1935: 6–14), der zwar vier verschiedene Typen der Aspektverwendung beschreibt, darunter aber nur jene für die generelle Identifizierung von Aspektkategorien in Einzelsprachen als zulässig akzeptiert, bei denen die objektiven Umstände (meist temporaler Natur) den Sprecher dazu zwingen, sich für den einen oder anderen Aspekt zu entscheiden. Eine direkte Methode, welche zur Analyse der isolierten Basisbedeutung geeignet ist, konnte bislang nicht entwickelt werden. Bisherige Ansätze sind eher dem Bereich der – im Idealfall – muttersprachlichen Kompetenz, also der Introspektion zuzurechnen und daher für systematische Untersuchungen ungeeignet, besonders für typologisch ausgerichtete. Für historische Sprachen, in denen generell Probleme bei der Identifizierung der Aspektkategorie bestehen, gilt das umso mehr, weil die Möglichkeit der Akzeptanztests zur Gänze wegfällt. Die unter c) behandelte Verschränkung von Aspekt und diskurspragmatischer Textorganisation ist bisherigen Erkenntnissen nach zumindest für slaw. Sprachen eher dem Bereich der aspektuellen Varianz zuzurechnen (vgl. Heindl 2017: 52–56), die Frage nach einem germ. Prototyp und einer etwaigen Opposition muss in diesem Zusammenhang im Hinblick auf die empirisch-quantitative Untersuchung gestellt werden. Unter d) werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – weitere Kontexte eingeführt, die in Kooperation mit Aspektunterscheidungen bereits zum Gegenstand allgemeinlinguistischer Untersuchungen geworden sind. Diese sind aber entweder aufgrund ihres niederfrequenten Auftretens oder ihrer Abhängigkeit von hier nicht näher behandelten Kategorien allenfalls zur Analyse ausgewählter nicht-prototypischer Belege geeignet und werden daher zunächst zurückgestellt. a) Aspekt und das Merkmal der Abgeschlossenheit / Nicht-Abgeschlossenheit Die Begrenzung der Verbalhandlung durch die Aktualisierung des perfektiven Aspekts bedeutet, dass im fokussierten Betrachtungsraum ein Andauern ausgeschlossen ist. Für die Sequenz von narrativ verbundenen Äußerungen gilt meistens, dass der Abschluss einer Verbalhandlung als Antezedens für eine darauffolgende fungiert. Der imperfektive Aspekt dagegen erlaubt die Aktualisierung offener Kontexte, bei denen ein Andauern der Verbalhandlung möglich ist: IMPF: Mary was walking to school but she didn’t actually get there. Mary was walking to school and she’s still walking.
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PF: #Mary walked to school but she didn’t actually get there. #Mary walked to school and she’s still walking. Auch hier offenbart sich das Naheverhältnis von Aspekt und außersprachlich wahrnehmbarer Folgewirkung, die eigentlich im Bereich der Aktionsarten oder auch im weitesten Sinne in der Kategorie Tempus verortet werden müssen. Der imperfektive Aspekt wird bei diesem Test zum Synonym von Aterminativität, der perfektive dagegen zum Synonym von Terminativität. Das Setzen des imperfektiven Aspekts ist außerdem oft mit einer Bewertung der Verbalhandlung im Sinne von [–gelungen] verbunden, was besonders in Kontexten der Nicht-Ausführung und bei Phasenverben hervortritt, die übereinzelsprachlich als prototypisch imperfektivaffine Domänen gelten. Ungeachtet dessen, dass unter gewissen Umständen auch Verstöße gegen diese Systematik vorliegen können, ist es, wie Heindl (2017: 57) feststellt, höchst unwahrscheinlich, bei historischen Texten auf genau solche Kontexte zu stoßen, in denen das Andauern der Handlung an einzelnen Aussagen so deutlich ablesbar ist wie an den von Smith (1997) konstruierten prototypischen Einzelaussagen. Der umgekehrte Fall der implizierten Abgeschlossenheit dagegen ist gerade in narrativen Texten sicher häufiger anzutreffen. Es ist aber davon auszugehen, dass bei historischem (oder generell nicht spontansprachlichem) Untersuchungsmaterial insgesamt sehr viele ambige Kontexte vorliegen, für die mehrere Lesarten möglich sind. Eine Opposition, die ausschließlich anhand des Merkmals [+/–Abgeschlossenheit] definiert wird, kann also, wenn überhaupt, nur mit einer geringen Beleganzahl herausgearbeitet werden. Die Tauglichkeit dieses Tests muss daher noch anhand qualitativer Stichproben überprüft werden. b) Aspekt und das Merkmal der Vorzeitigkeit / Gleichzeitigkeit In engem Zusammenhang mit dem Merkmal der Abgeschlossenheit steht auch jenes der zeitlichen Abfolge von Verbalhandlungen mit absoluten und relativen Temporalitätswerten. Gleichzeitigkeitskontexte sind in einigen Sprachen prototypische Umgebungen für imperfektive Verben, perfektive dagegen weisen eine gewisse Affinität zu Vorzeitigkeitskontexten auf: IMPF: Mary was swimming when the bell rang. PF: John was angry after Mary broke the glass. Bei der Überprüfung dieser Korrelation ergeben sich einige Probleme, die unter anderem dazu geführt haben, dass für einzelne Sprachen widersprüchliche Ergebnisse vorliegen, die obendrein auch für sich nicht besonders aussagekräftig
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sind und zu zirkulären Schlüssen führen, was das generelle Potenzial des jeweiligen Aspektsystems betrifft (s. u.). Vielen Untersuchungen ist gemein, dass sie einerseits auf Basis geringen Belegmaterials durchgeführt wurden und andererseits keine weiteren Parameter syntaktischer oder kontextueller Natur berücksichtigt haben. Die Ergebnisse der einzelnen Studien bedürfen also einer Revision. Ein weiteres Problem stellt der generelle Mehrwert derartiger Überprüfungen dar, zumindest, wenn man bestrebt ist, das Aspektsystem einer Sprache hinsichtlich seiner Funktionalität zu beschreiben. So wird man schnell mit einem (scheinbar) paradoxen Umstand konfrontiert: Ergibt sich eine gewisse Korrelation von morphologisch markierten Aspektualität und relativen temporalen Kontexten, ist das einerseits ein Nachweis eines aus typologischer Sicht erwartbaren Verhaltens der jeweiligen Formen. Andererseits darf diese Korrelation nicht zu akkurat sein, ansonsten müsste man Gegenteiliges annehmen: Bei einer funktionalen Deckungsgleichheit von Aspektualität und relativer Temporalität kann kaum noch behauptet werden, es handle sich tatsächlich um zwei distinkte Kategorien. Wenn man nun wie im Falle der altgerm. Sprachen mit einem vermeintlichen Aspektsystem konfrontiert ist, das – wie bisher angenommen – bereits Auflösungserscheinungen zeigt, ist davon auszugehen, dass benachbarte Kategorien wie Tempus die sich auflösenden Grenzen und damit die funktionale Ungewissheit für die eigenen expansiven Entwicklungen ausnutzen. Die Lösung dieses Problems kann nur im übereinzelsprachlichen Vergleich unter Einbezug anderer aspektassoziierter Faktoren gefunden werden. Bis dahin bleibt offen, ob sich ein ‚idealer‘ korrelativer Wert von Aspekt und relativer Temporalität als Prototyp bestimmen lässt. Ein abschließendes Urteil über dieses Potenzial auf Basis des diagnostischen Kontextes der Vor- und Gleichzeitigkeit muss also mit Vorsicht gefällt werden. c) Aspekt und das Merkmal der Narrativität Dass die Setzung unterschiedlicher Aspekte mit spezifischen diskursiven und in weiterer Folge textpragmatischen Strukturen einhergeht, ist vor dem Hintergrund der bereits angeführten aspektsensitiven Kontexte naheliegend. Üblicherweise wird mit der Progression von Handlungseinheiten in narrativen Textpassagen der perfektive Aspekt assoziiert (vgl. Heindl 2017: 52):23 Aufeinanderfolgende chronologische Ereignisse werden als ‚abgeschlossen‘ dargestellt
Die dort vorzufindende allgemeine Diskussion zu den diskursiven Rahmenbedingungen bezieht sich auf die konvergenten Forschungsergebnisse früherer Autoren wie Forsyth 1970, Hopper 1979, Kamp/Rohrer 1983 und Barentsen 1998.
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und transportieren sogenannte ‚Vordergrundinformationen‘. Demgegenüber stehen nebensächlichere ‚Hintergrundinformationen‘, die keinen Einfluss auf den Handlungsfortschritt haben und bevorzugt im Imperfektiv stehen (vgl. Hopper / Thompson 1980: 280).24 In diesem Zusammenhang ist auch die starke Dominanz des perfektiven Aspekts in generellen Vergangenheitskontexten und damit die häufigere Verbindung mit unterschiedlichen PAST-Tempora zu sehen (vgl. Dahl 1985: 79).25 Ob sich die beobachtbare Distribution auf eine universell gültige Opposition von narrativen und non-narrativen aspektuellen Diskursmustern übertragen lässt, gilt allerdings als umstritten. In den slaw. Sprachen scheinen je nach Region bzw. Varietät Unterschiede zwischen den einzelnen diskurspragmatischen Aspektdistributionen zu herrschen. So entspricht das ostslaw. Aspektsystem dem oben skizzierten Schema:26 Perfektiv realisierte Verben sind größtenteils in eine sequenzielle Handlungskette eingebettet, imperfektiv realisierte Verben erscheinen dort, wo informationell hintergrundierte Ereignisse präsentiert werden (vgl. Dickey 2000: 203). Imperfektive Verben können neben präferierten Kontexten wie Kommentar und Reflexion zwar auch in narrativen Passagen auftauchen, dienen dort aber zur Darstellung von Ereignisüberlappungen in Gleichzeitigkeitskontexten, wobei die rhematisch relevanten Informationen der Perfektivität vorbehalten bleiben und Imperfektivität nur als ‚Kulissenbilder‘ fungiert. Andere Verhältnisse herrschen in den westslaw. Sprachen vor, in denen auch in sequenziellen präteritalen und narrativen Diskurskontexten der imperfektive Aspekt keine Seltenheit ist (vgl. Heindl 2017: 53 mit Verweis auf Stunová 1986, 1993 und Gehrke 2002). Erklärt wird dieser Umstand mit der engeren Bindung des westslaw. Aspektsystems an die inhärenten aspektuellen Eigenschaften der Perspektivierung, während das ostslaw. Aspektsystem stärkere Affinität zu diskursiven temporaldeiktischen Organisationsprinzipien aufweist: „in Czech the choice of aspect is primarly determined by factors related to the internal structure of events, while Russian discourse factors are highly relevant“ (Stunová 1993: 128). Der Aspekt im Ostslaw. übernimmt also zusätzliche temporale Aufgaben, ohne auf diese beschränkt zu sein. Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich dabei um einen diskurspragmatischen Überlappungsbereich handelt und nicht um eine grammatische Deckungsgleichheit. Dieser Überlappungsbereich ist aufgrund der fehlenden Möglich-
Dabei handelt es sich in erster Linie um einen korrelativen Zusammenhang und nicht um einen kausalen. Nach Forsyth 1970: 59) werden etwa im Russischen zwei Drittel der präteritalen Formen mit perfektiven Verben gebildet. Auch das Südslaw. verhält sich ähnlich.
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keit der temporalen Lokalisation von Aspekten im Westslaw. etwas weniger ausgeprägt, wobei die Unterschiede mangels empirischer Studien nicht quantitativ beziffert werden können. Der Forderung von Dickey (2000) nach einer Untersuchung narrativer Diskursorganisation des Tschechischen auf Basis des von Thelin (1990) vorgeschlagenen diskurspragmatischen Modells (s. u.) ist bislang noch niemand nachgekommen. Es ist also festzuhalten, dass sich kein einheitliches diskursives Verhalten der Aspektkategorie über einzelsprachliche Grenzen hinweg festmachen lässt. Aus diesem Grund verzichtet auch Heindl (2017: 56) auf einen typologischen Vergleich germ. und slaw. Diskursmodi und spricht dem Komplex der Narrativität die Eignung als diagnostischer Kontext bei der Untersuchung von Aspektualitätswerten ab. Allerdings bietet sich gerade das Vorhandensein zweier Typen, von denen einer ein auffälliges diskursgesteuertes Distributionsverhalten aufweist und der andere nicht, für weitere typologische Gegenüberstellungen in mehrfacher Hinsicht an. So stellt sich einerseits die Frage, ob für die altgerm. Sprachen überhaupt ein gemeinsames Distributionsmuster vorliegt und andererseits auch, ob es eindeutig einem der beiden Typen zugeordnet werden kann. In den bisherigen qualitativen Untersuchungen lassen sich größtenteils nur indirekte Urteile finden, was die textpragmatische Verteilung einzelner aspektassoziierter morphologischer Formen betrifft. So wird etwa das germ. Präfix ✶ga- in verschiedenen Tochtersprachen mit dem Verlauf chronologischer und narrativer Vorgänge in Zusammenhang gebracht, das Simplex dagegen mit außernarrativen Informationen (vgl. Metzger 2017: 215 bzw. Schrodt 2004: § 115). Es gibt aber bisher keine empirischen Daten, die diese Vermutung bestätigen. d) Weitere aspektsensitive Kontexte Unter a), b) und c) wurden vorrangig die temporalsemantischen Merkmale der Aspektkategorie näher behandelt, die auch im Fokus dieser Arbeit stehen. Abschließend soll hier noch kurz auf den bisher ausgeblendeten dritten Teil des ATM-Komplexes eingegangen werden. Das Zusammenspiel von Aspekt und Modus hat in der modernen Aspektforschung seit Bybee (1985) regelmäßige Beachtung erfahren. Das Zusammenspiel ist insbesondere für Sprachen relevant, die über keine Modalverben verfügen und in denen die Kodierung von Modalität über die Kategorie des Aspekts erfolgt (vgl. Heindl 2017: 48). Aber auch in den germ. Sprachen, die seit jeher auf ein reichhaltiges Inventar an Modalverben zurückgreifen können, tritt das sog. ‚Aspekt-Modalitätskorrelar‘ zutage. Dieses konnte in zahlreichen aufeinander aufbauenden Beiträgen von Abraham (1991, 1995, 2002, 2008, 2013) und Leiss (1992, 2000a, 2000b) zweifelsfrei nachgewiesen werden. Modalverben mit grundmodaler bzw. deontischer Les-
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art treten in unmarkierten Kontexten üblicherweise bevorzugt mit perfektiven und telischen Infinitivkomplementen auf, Modalverben mit epistemischer Lesart dagegen bevorzugt mit imperfektiven und durativen. Das ist aufgrund der mereologischen Deckungsgleichheit der jeweiligen Modale und den mit ihnen kompatiblen Formen der Aspektualität einleuchtend: Deontik, Telizität und Perfektivität teilen sich die Merkmale [–Teilbarkeit, –Additivität, –Homogenität]; Epistemik, Durativität und Imperfektivität die Merkmale [+Teilbarkeit, + Additivität, + Homogenität] (vgl. Abraham 2013: 27): MODALVERB + VERB (PF) = Deontik MODALVERB + VERB (IMPF) = Epistemik Zwar ist auch bei Modalverben in Verbindung mit imperfektiven bzw. durativen Verben eine deontische Lesart möglich, allerdings nur mit einer temporalen, d. h. futurischen Lesart. Mit Ausnahme von werden sind alle Verben, die in der deutschen Sprachgeschichte als Futurauxiliar in Frage kamen und gegenwärtig mit regional unterschiedlicher Akzeptanz kommen, Modalverben (sollen, wollen, müssen). Dieses Schema lässt sich in allen belegten altgerm. Sprachen problemlos nachweisen, wobei gerade Modalverben mit epistemischer Lesart bzw. Epistemika im Allgemeinen als nicht-prototypische Skopuserweiterungen eher selten sind. Es ist also kaum erwartbar, dass derartige Verteilungsmuster die Ergebnisse der angestrebten empirischen Studie verzerren, die Möglichkeit der Abweichung von der Grundmodalität mittels aspektueller Optionen muss aber an den entsprechenden Stellen berücksichtigt werden. Was den nominalen Bereich betrifft, wurde in den letzten Jahrzehnten vielfach über das Verhältnis von valenzparadigmatischem Kasuswechsel in Kooperation mit Aspektunterscheidungen einerseits und das assoziative Verhältnis von (Objekt-)Definitheit und Aspekt andererseits diskutiert, wobei die Beschreibungen und Bewertungen dieser Dimensionen nicht nur unterschiedlich, sondern teilweise auch kontrovers ausfallen (vgl. dazu die Diskussion bei Heindl 2017: 145–185). So besteht zwar größtenteils Einigkeit bzgl. einer zumindest in den idg. Sprachen gut belegten nominalen referenziellen Determinationsopposition,27 wobei dem Genitiv die Merkmalskombination [+Indefinitheit], [+Spezifizität] zukommt und dem Akkusativ [+Definitheit], [+Generizität] (vgl. Abraham 1998, Ab-
Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet die Feststellung von Erdmann (1876: 160), der Genitiv sei der „mildere, gelindere Vertreter“ des Akkusativs. Es lassen sich auch schon bei Grimm (1837: 646) ganz ähnliche Beobachtungen hinsichtlich einer „Gehemmtheit“ des Genitivs im Kontrast zur „sicheren Wirkung“ des Akkusativs finden.
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raham / Leiss 2012). Eine eindeutige Zuordnung zu einheitlichen aspektuellen Mustern, die darüber hinaus mit morphologischen Bildungsprinzipien konformgehen, lässt sich aber nur mit Einschränkung herstellen. Für die germ. Sprachen und insbesondere das Deutsche wurde dies öfter versucht. Besonders hervorzuheben sind dabei die Arbeiten von Leiss (1987/1991, 2000b), die sich dabei zunächst am slaw. Muster der Kasusalternierung bei perfektiven Verben und ihrem Quantifikationspotenzial orientiert: Das (altgerm.) Akkusativobjekt in Kombination mit perfektiven Verben löse regelhaft Definitheitseffekte aus, die Verbalhandlung könne dadurch holistisch bzw. telisch interpretiert werden. Das Genitivobjekt sei dagegen in der Lage, diese Interpretation zu umgehen, indem eine partitive und indefinite Lesart ausgelöst würde (vgl. Leiss 2000b: 187): VERB (PF) + Ø + NP (AKK) = Definitheitseffekt VERB (PF) + Ø + NP (GEN) = Partitivitätseffekt Da Leiss das Merkmal der Definitheit vorrangig über die Quantität definiert, fällt es ihr leicht, dieses mit dem Merkmal der Aspektualität nicht nur in eine meronyme Beziehung zu setzen, sondern letztlich auch zu grammatischen Synonymen zu erklären. Um auch dem Aufkommen des definiten Artikels Rechnung zu tragen, entwirft sie eine komplexe Merkmalskombinatorik, in die auch die imperfektiven Verben28 mit ihrer eingeschränkteren qualitativen und selektionalen Valenz, die keine Kasusalternierung zulässt, integriert werden kann: VERB (IMPF) + Ø + NP (AKK) = Indefinitheitseffekt VERB (IMPF) + def. Art. + NP (AKK) = Definitheitseffekt VERB (IMPF) + def. Art. + NP (GEN) = Partitivitätseffekt Der Vorteil dieses Modells liegt darin, dass damit eine unifizierende diachrone Entwicklung für zuvor getrennt betrachtete Phänomene der germ. bzw. deutschen Sprachgeschichte nachgezeichnet werden kann: der Abbau der Aspektopposition, die Entstehung bzw. Ausbreitung des definiten Artikels und das Schicksal des Genitivs mit seiner ‚Blüte‘ im Mhd. und dem darauffolgenden fast vollständigen Abbau in der gesprochenen Sprache. Die Nachteile dieses Modells liegen zunächst im typologischen Geltungsanspruch. Ein direkter Vergleich des Germ. und des Ostslaw., wie er nicht nur bei Leiss (2000b), sondern auch bei Abraham (1998) angestellt wird, erweckt tatsächlich den Anschein, bei Aspekt und Definitheit handle es sich um komplementär distribuierte Emergenzen einer univer-
Für Leiss sind das generell fast alle nicht-präfigierten Verben.
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salen Kategorie. Damit stünden typologisch gesehen ‚Artikelsprachen‘ den ‚Aspektsprachen‘ gegenüber, das Deutsche und das Russische wären jeweils prototypische Vertreter. Bereits ein Blick in die benachbarten Sprachen des Deutschen lässt allerdings Zweifel am typologischen Geltungsanspruch dieser Einteilung aufkommen: Zunächst ist augenscheinlich der Status der rom. Sprachen fraglich, die zeitgleich – und wohl auch kontaktmotiviert, wobei nicht ganz geklärt zu sein scheint, welcher Sprachraum als Quelle fungiert oder ob es sich um einen wechselseitigen Prozess handelt – mit den kontinentalwestgerm. Sprachen ein quasifunktionsgleiches Artikelsystem entwickeln (vgl. Haspelmath 2001: 1494). Ziemlich sicher durch den Kontakt mit dem Deutschen haben auch einige tschechische Varietäten ein (wenigstens anaphorisches) Artikelsystem aufgebaut, ohne dass deswegen ihr Aspektsystem gelitten hätte (vgl. Adamec 1983: 168). Die Liste lässt sich fortsetzen mit Sprachen, die im intensiven Kontakt zu verschiedenen Varietäten des Germ. stehen, etwa den inselkelt. Sprachen. Aber auch außerhalb dieser Kontakträume lässt sich mit dem Bulgarischen eine Sprache finden, in der sogar stabile Artikel- und Aspektsysteme slaw. Typs koexistieren (vgl. Kühnast / Popova / Popov 2004: 63).29 Von den genannten typologischen Problemen abgesehen, fällt es aber auch schwer, diese Systematik mit dem Anspruch eines holistischen kategorienübergreifenden Modells für das Germ. aufrecht zu erhalten, wie die Daten aus Heindls (2017) rezenter Untersuchung nahelegen: Zwar handelt es sich bei der Partitivität allem Anschein nach um die ältere Funktion des Objektgenitivs, allerdings nicht um die einzige. Es lassen sich in den altgerm. Sprachen zahlreiche Genitivobjekte finden, die mit dem definiten Artikel kompatibel sind und keine partitive Lesart zulassen, eine indefinite naturgemäß schon gar nicht (vgl. Heindl 2017: 163). Das Modell von Leiss (2000b) müsste also beschränkt werden auf eine Gruppe von Verben mit einer Semantik, welche eine partitive Interpretation des Objektes ermöglicht, z. B. Konsumptivität. Ansonsten sind die Funktionen des Genitivs vor allem im Bereich der Stativität bzw. Habitualität zu verorten, die nur indirekt bzw. über einen metaphorisch-diachronen Prozess von den Merkmalen der Partitivität und Indefinitheit abgeleitet werden können. Entscheidend für die Perspektivensetzung im Germ. sind letztlich die aspektuelle Semantik der jeweiligen Verben und der Kontext, beides kann nicht von der Kasussetzung überschrieben
In diesem Zusammenhang muss auch die von Leiss (1992: 26) geäußerte Vermutung, wonach das Erlernen von Artikelsprachen besonders für slaw. Sprecher mühsam wäre und der Grund nur in der fehlenden metasprachlichen Kompetenz liege, relativiert werden. Ganz offensichtlich handelt es sich um distinkte Kategorien. Auch umgekehrt bietet das deutsche Artikelsystem nur sehr eingeschränkt Anhaltspunkte beim Erlernen des slaw. Aspekts.
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werden (vgl. Heindl 2017: 178). Tabelle 1 gibt einen Überblick über das Zusammenspiel von Verbal- und Nominalsemantik im Germ. und im Slaw.: Tabelle 1: Zwei Hauptfunktionsdomänen des Objektgenitivs in den älteren germ. und in den slaw. Sprachen nach Heindl (2017: 209). Verben / Kontexte
Genitivfunktion
Perfektive / telische / aspektuell ambige Verben mit entsprechender Semantik (z. B. Entnahme)
Quantifikation (Partitivität)
Weitere Genitivverben mit nicht-partitiven Objekten Negation
Stativität (Habitualität)
Die Relevanz dieses Schemas für die hier verfolgten Ziele offenbart sich an der Beteiligung des Genitivs an der Zeitkonstitution der dargestellten Verbalhandlung. Je nach Situationsgestalt bzw. Episodizität begünstigt das quantifikatorische Potenzial des Genitivs einerseits prototypische imperfektive Lesarten mit dem Merkmal [–episodisch] ohne Lokalisierung eines Endpunktes oder – vermutlich sekundär entstandene – perfektive Lesarten mit dem Merkmal [+episodisch]. Stative Verben30 und im weitesten Sinne auch habituelle Verben sind per se mit dem Merkmal der Einmaligkeit [–episodisch, –additiv] ausgestattet und temporal nicht lokalisierbar, was ihr Näheverhältnis zur Imperfektivität und daraus resultierenden Lesarten erklärt (vgl. Heindl 2017: 210–212). Es ist auf jeden Fall das Verdienst von Leiss (1987/1991), die systematische Kasusalternierung im Germ. in die germanistische Linguistik (wieder-)eingeführt zu haben. Dieser Ansatz sollte in den Folgejahren Anlass für eine Fülle an Publikationen und zahlreichen weiteren Thesen geben, von denen hier noch auf eine weitere eingegangen werden soll, die hinsichtlich der textfunktionalen Verteilung von Aspektmarkern im Germ. zu berücksichtigen ist. Donhauser (1991, 1998) setzt sich vorrangig mit jenen Verben auseinander, bei denen ein Genitiv-/Akkusativwechsel vorliegt. Aufgrund des dadurch stark eingegrenzten Belegmaterials werden nur einige wenige Lemmata einer Analyse unterzogen und jeweils die gleichen Verben kontrastiert, einmal mit Genitivobjekt und
Dazu gehört auch jede Form der Negation, die weitestgehend unabhängig von der verbalen Semantik statische Zustände generiert. Das Nicht-Eintreten einer Handlung kann als phasenlose Situation angesehen werden.
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einmal mit Akkusativobjekt. Bemerkenswert ist, dass Donhauser die Existenz eines Verbalaspekts im Ahd. ablehnt und die Kodierung der Aspektualität ganz in die Hände der obliquen Objektkasus gelegt sieht.31 Mit einem weit gefassten Aspektbegriff, der auch ‚objektive‘ Kategorien wie Aktionsarten miteinschließt, arbeitet sie ein binäres System heraus, in dem dem Akkusativ regelhaft die perfektiven, dem Genitiv dagegen die imperfektiven Lesarten zukommen (vgl. Donhauser 1991: 149). Tabelle 2 stellt das entsprechende Schema dar: Tabelle 2: Funktionale Basis für den Genitiv/Akkusativ-Wechsel bei den zweiwertigen Verben im Ahd. nach Donhauser (1991, 1998). Verben Alle zweiwertigen Verben mit GEN./AKK.-Wechsel
Funktionen der Kasus Verbsemantik (Aspekt) GEN. imperfektiv irresultativ durativ iterativ (habituell)
AKK. perfektiv resultativ punktuell
Textfunktion GEN. Hintergrund nicht-sequenziell
AKK. Vordergrund sequenziell
Donhausers gelingt es mittels ihrer introspektiven Methode zwar, dieses Funktionsschema anhand ausgewählter Beispiele nachvollziehbar darzustellen, aber selbst innerhalb des eingeschränkten Formensets stößt sie auf problematische Bei Donhauser (1990) dagegen wird die Existenz eines Verbalaspekts mittels Präfigierung im Ahd. noch vorausgesetzt, wobei neben gi- auch andere Präfixe als Perfektivierungsmittel definiert werden. Das zugunsten ihrer späteren Modelle verworfene zweigliedrige Schema der Kasusverteilung ist in seinen Grundzügen mit jenem von Leiss (1987/1991, 2000b) kompatibel. Im Zusammenhang mit dem abgebildeten Schema sei darauf hingewiesen, dass der lokalistische Ansatz von Schrodt (1992, 1996, 2004) zu dem exakt gegenteiligen Ergebnis kommt und die Genitivobjekte des Ahd. und As. mehr oder weniger einheitlich der ‚perfektiven Aktionsart‘, die Akkusativobjekte der ‚durativen Aktionsart‘ zuordnet. Es kann an dieser Stelle nicht näher auf die Medialitätsthese von Schrodt eingegangen werden, da sie für die hier verfolgten Ziele keine Anknüpfungspunkte bietet bzw. zu weit führen würde und außerdem bereits – gemeinsam mit anderen Arbeiten aus dem Bereich der lokalistischen Kasustheorie – einer umfassenden Revision unterzogen wurde (vgl. Heindl 2017: 179–184). Es zeigt sich aber hier im Kontrast zu den Ergebnissen von Donhausers Studien wieder die generelle Problematik von qualitativen Untersuchungen mit geringem Belegmaterial.
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Belege, die sich nur mit Mühe in das binäre Schema einordnen lassen (vgl. dazu die Diskussion bei Heindl 2017: 168–175). Eine Gleichsetzung von Aspekt und benachbarten Aktionsarten ist bei historisch-qualitativen Analysen nachzuvollziehen, Donhauser (1991: 128) geht aber sogar soweit, eindeutig temporale – und obendrein zum Teil durative – Erstreckungen als perfektiv zu werten, wenn nach ihrer Interpretation das Ende einer Verbalhandlung im Kontext auf irgendeine Weise absehbar ist. Im umgekehrten Fall attestiert sie Belegen mit Genitivobjekt und eindeutiger temporalsemantischer Grenzbezogenheit je nach subjektivem Empfinden Iterativität oder Habitualität (vgl. Donhauser 1991: 137, Heindl 2017: 174). Die Aspektdefinition von Donhauser, die von Anfang an vage ist, kann spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nachvollzogen werden und ein empirischer Nachweis ihres Modells anhand eindeutig identifizierbarer Parameter bleibt damit aus. Eine davon separat zu beurteilende Feststellung Donhausers sollte aber deswegen nicht untergehen: Offenbar korreliert mit der Distribution von Genitiv- und Akkusativobjekten bei entsprechenden Wechselverben ein textpragmatisches Muster, wonach die Genitivobjekte vorwiegend in nicht-sequenziellen Kontexten auftreten und Hintergrundinformationen transportieren, während in sequenziellen Kontexten die vordergründige Handlung mit dem Akkusativ entwickelt wird. Dazu passt auch die Beobachtung, wonach Genitivobjekte im Ahd. oft mit durativen Temporaladverbien wie lango oder io auftreten, Akkusativobjekte mit punktuellen Temporaladverbien wie sar und nu (vgl. Donhauser 1991: 70, 82, 1998: 75–76). Es drängt sich dabei die Frage auf, ob sich dieses Schema auch auf die Verteilung von Verben mit fester Rektion übertragen lässt und ob dieses mit temporalen Diskursmustern assoziiert werden kann. Die Distributionsverhältnisse der altgerm. Kasus stellen sich gemäß den Ergebnissen der rezenten Forschung als komplex dar und erlauben keine funktionale Gleichsetzung mit kategorialen Inhalten der Aspektualität, egal welcher Ausprägung. Insgesamt spricht vieles dafür, die offensichtliche Interaktion von Aspekt, Definitheit und Kasus als einen Faktor der temporal-aspektuellen Textorganisation anzuerkennen, sie aber nicht zuungunsten der einzelkategorialen Autonomie zu überhöhen. In erster Linie ist ein Kasussystem Ausdruck einer nominalen Kategorie. Dass diese mit verbalen Kategorien interagieren muss, ist kein zwingender Hinweis auf ein mereologisches Abhängigkeitsverhältnis. Aus diesem Grund werden die obliquen Kasus auch in dieser Arbeit in der empirischen Untersuchung mitberücksichtigt, allerdings als der temporalen und aspektuellen Verbsemantik untergeordnet angesehen.
2.2 Der Komplex der Aspektualität
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2.2.5 Zwischenfazit Es hat sich gezeigt, dass der Komplex der Aspektualität einerseits auf Basis der bisherigen Forschungsergebnisse theoretisch problemlos erschließbar ist, andererseits der Zugang zu diesem ‚Kategoriencluster‘ einzelsprachlich nur über Umwege erfolgen kann, sofern kein Anspruch auf einen idealisierten Prototyp geltend gemacht werden muss, wie das in der slawistischen Literatur lange üblich war und teilweise noch ist. Für die germ. Sprachen ist das aus verschiedenen Gründen nicht möglich, obwohl zahlreiche typologisch gesicherte Regularitäten auch hier nachweisbar sind. Die teils widersprüchlichen Ergebnisse einzelner Studien lassen sich darauf zurückführen, dass sie auf Basis isolierter Kontexte und geringer Datenmengen zustande gekommen sind. Die jeweiligen akademischen Positionen können daher für sich nachvollzogen werden, sind aber nicht immer miteinander kompatibel oder halten empirischen Überprüfungen an weiterem Datenmaterial nicht stand. Besonders bei historischem Sprachmaterial wird man dadurch mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, wenn es um die Bewertung und Beschreibung einer Kategorie anhand bisheriger Forschungsergebnisse geht. Das gilt einerseits für das Erstellen von grammatischen Merkmalskatalogen der Aspektkategorie, was nur mittels subjektiver textinterpretatorischer Methoden möglich ist, und andererseits für die genaue Zuordnung von einzelnen Formen zu theoretisch erschlossenen Inhalten. Dass die erarbeiteten unifizierten Modelle der modernen Linguistik mit ihren multivariaten Zugängen und Möglichkeiten nicht durch alle Zeiten, Sprachräume und kulturelle Kontexte ‚reisen‘ können und überall Bestätigung erfahren, liegt auf der Hand. Es überrascht daher nicht, dass inzwischen auch typologisch ausgerichtete Arbeiten, die einen Vergleich von modernen (slaw.) und historischen (germ.) Sprachen anstellen, vorsichtiger in ihrem Geltungsanspruch sind und zwangsweise ihre Ergebnisse immer bis zu einem gewissen Grad auch relativieren (müssen): Bei einer kontrastiven Gegenüberstellung des germanischen und des slavischen Aspekts muss jedoch stets berücksichtigt werden, dass es sich in den germanischen Sprachen insgesamt um ein bei weitem nicht so hoch grammatikalisiertes Aspektsystem wie in den modernen slavischen Sprachen handelt, und dass sich deshalb bei einer Analyse der aspektuellen Verhältnisse in den germanischen Sprachen systemimmanente Besonderheiten und Schwankungen im Aspektgebrauch ergeben können. (Heindl 2017: 104)
Es ist die Aufgabe der zukünftigen Forschung, die angesprochenen „Besonderheiten und Schwankungen“ zu systematisieren und jene Verteilungsmuster offenzulegen, die sowohl zum Verständnis der internen Systematik beitragen als auch in typologischer Hinsicht den vagen Status des germ. Sonderfalls soweit zu dekonstruieren vermögen, dass eine forschungstheoretische Emanzipation vom
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2 Aspekt
konventionellen Prototypennarrativ der Slawistik gelingen kann. Mir scheinen vor allem für die historische germanistische Sprachwissenschaft zwei Maximen wichtig, die innerhalb des Fachbereichs nicht immer genügend Beachtung erfahren haben: I) Jedes beschreibbare linguistische Prinzip kann durch pragmatische Faktoren überschrieben werden. II) Systemimmanente Regelverstöße sind allgegenwärtig und ein Einfallstor für Sprachwandelphänomene. Möchte man Sprachwandel als beständigen Reorganisationsprozess beschreiben, ist es nicht nur notwendig, einzelne Systematiken zu erschließen, sondern auch die neuralgischen Punkte zu identifizieren, an denen diese Systematiken durchbrochen werden können. Das kann letztlich nur über empirische Erforschung des belegten Sprachgebrauchs geschehen, die dort einsetzt, wo die ausschließlich durch logische Argumentation erschlossenen Domänen keine oder nur eingeschränkte Geltung haben. Anders als Abraham (2013: 25–26), der der Empirie in diesem Zusammenhang eine generelle Absage erteilt und sie von einem theoretisch-allgemeinlinguistischen Standpunkt mitunter als hinderlich empfindet, sehe ich dabei keine konkurrierenden und kollidierenden methodologischen Grundsätze, sondern vielmehr notwendige epistemologische Elemente der Kooperation.
2.3 Das Präfix ✶ga- und das germanische Aspektsystem In diesem Unterkapitel wird der Frage nach der Funktion der verbalen Präfigierung in den altgerm. Sprachen nachgegangen. Im Fokus steht dabei das Präfix ✶ ga- und seine tochtersprachlichen Fortsetzer im Ahd. und As.,33 wobei auch auf die umfangreiche Literatur zu den jeweiligen Kognaten weiterer Sprachen zurückgegriffen wird. Da die meisten und dazu auch noch bedeutendsten Arbeiten zu germ. ✶ga- auf Basis des got. Überlieferungsmaterials entstanden sind, müssen viele Erkenntnisse extrapolativ auf später belegte germ. Einzelsprachen übertragen werden. Das Fehlen eines Konsenses hinsichtlich des Vorhandenseins einer Aspektkategorie in den altgerm. Einzelsprachen macht es immer wieder notwendig, bis-
Für einen Überblick zu Form und Semantik der präfigierten Formen in den gängigen Grammatiken siehe Schrodt (2004: § 104–§ 119) für das Althochdeutsche bzw. Behaghel (1897: § 183–187) für das Altsächsische.
2.3 Das Präfix ✶ga- und das germanische Aspektsystem
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herige Ergebnisse einer Revision zu unterziehen und die eine oder andere Position einzunehmen, die aber oft mehr auf Konventionen als auf forschungsrelevante Differenzen zurückzuführen ist. Wenn im Folgenden zunächst von einem ‚germ. Aspektsystem‘ gesprochen wird, so geschieht das, wie bereits erwähnt, einerseits aus forschungspragmatischen Gründen und andererseits, um den terminologischen Konventionen der germanistischen Linguistik Genüge zu tun. Damit soll aber kein voreiliges Kaprizieren auf die eine oder andere Funktionszuschreibung suggeriert werden, die mit diesen Termini üblicherweise verbunden ist. Bereits Pollak (1920) warnt mit Verweis auf die methodologischen Vorschläge von Jost (1907) davor, sich in der germanistischen Aspektforschung von vornherein auf eine bestimmte Lehrmeinung einzuschwören und empfiehlt stattdessen, auf semasiologische Untersuchungen einzelner Präfixe zu setzen, die nicht von einem voreingenommenen „wittern bestimmter actionsarten“ (Pollak 1920: 380) bestimmt sind. Eine solche Ergebnisoffenheit liegt auch diesem Kapitel zugrunde. Zuerst werden die formale Gestalt des Präfixes ✶ga- und seine Genese vorgestellt, dabei auch kursorisch die entsprechende Forschungsgeschichte diskutiert. Daran angeschlossen folgen ausgewählte qualitative Analysen von Passagen aus den beiden Quellentexten, für die unterschiedliche Ansätze der bisherigen Forschung miteinander konfrontiert werden. Das Ziel dabei ist es, auf Basis ausgewählter Belege eine semantische und grammatische Basisopposition ‚Simplex: Derivat‘ im Ahd. und As. herauszuarbeiten, die weitere Hinweise auf eine etwaige pragmatische Distribution des Präfixes gibt.
2.3.1 Formale Bedingungen und Forschungsgeschichte Für das Ahd. und das As. gilt die bereits im Urgerm. vorherrschende binäre Grundopposition ‚vergangen: nicht vergangen‘ als Basis des Tempusparadigmas (vgl. vgl. Oubouzar 1974 bzw. Kotin 1997, Hewson / Bubenik 1997, Ringe 2006). Dieses durch die beiden Tempora Präsens und Präteritum konstituierte und eingeschränkte Set an synthetischen Tempusformen wird durch eine – ebenfalls aus urgerm. Zeit ererbt und in allen altgerm. Sprachen mehr oder weniger funktional fortlebende – Opposition mittels Präfigierung erweitert, die früh in den Fokus altgermanistischer Interessen gerückt ist. Alle tochtersprachlichen Fortsetzer von germ. ✶ga- nehmen in den jeweiligen altgerm. Sprachen in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung innerhalb des Präfigierungssets ein und gelten als besonders produktive Wortbildungsmittel. Die meisten anderen germ. Präverbien haben in der Regel eine bestimmte lokale Bedeutung, was nicht heißt, dass eine metaphorisch-abstrakte Verwendung ausgeschlossen ist (vgl. Metzger 2014: 75). Sowohl lexikalische als auch abstrakte Bedeutung lassen
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2 Aspekt
sich aber meistens nur mit gewissen semantischen Feldern und damit einer beschränkten Anzahl an Verben kombinieren. Das gilt für Präverbien mit konkreter lokaler Bedeutung wie auf- oder zu- im Deutschen bis heute. Die Besonderheit des Präfixes ✶ga- dagegen ist, dass seine lexikalische Semantik eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielt, während die abstrakte bzw. grammatische (und gemeinhin als ‚grammatikalisierte‘ bezeichnete) Funktion soweit systematisiert und paradigmatisiert wurde, dass bis auf wenige Ausnahmen die meisten Verben damit verbunden werden können. Diese funktionale Andersartigkeit und das Verblassen der lexikalischen Semantik führten letztlich auch dazu, dass das Präfix in den meisten germ. Sprachen verschwunden ist oder wie das nhd. genur noch sehr eingeschränkt und in völliger Abhängigkeit von anderen verbalen Kategorien Verwendung findet, etwa bei der Bildung von Partizipien. 2.3.1.1 Zur Genese von germ. ✶gaMorphologisch gesehen verhalten sich die germ. Sprachen einheitlich, was die verbale Präfigierung betrifft: Das Simplex kann als Basis angesehen werden, an die Präfixe treten können. Jedes Simplex kann mit einer ganzen Reihe an Präfixen und Präverbien kombiniert werden. Eines davon ist ✶ga-. Was dessen Herkunft betrifft, wird davon ausgegangen, dass seine oft im Bereich des Verbalaspekts verorteten grammatischen Funktionen auf die lexikalische Grundbedeutung ‚zusammen‘ zurückgehen, die etwa bei Bewegungsverben die Zusammenführung von ursprünglich getrennten Größen ausdrückte (vgl. Behaghel 1924: § 596). Dieser Umstand kann neben der fehlenden Ausdifferenziertheit der linguistischen Terminologie des 19. Jahrhunderts wohl dafür verantwortlich gemacht werden, dass komplexe und mit ✶ga- verbundene Verbalformen seit Streitberg (1891) insbesondere in der germanistischen Fachliteratur als Kompositum bezeichnet wurden und teilweise noch werden. Spätestens zum Zeitpunkt der Überlieferung der altgerm. Einzelsprachen muss aus morphologischer Perspektive vielmehr von einem Derivat gesprochen werden, da es sich bei den Fortsetzern von urgerm. ✶ ga- auf jeden Fall um grammatische Morpheme handelt,34 wenn auch über die genauen Kategorieninhalte keine Einigkeit besteht. Bereits im Got. scheint der Grammatikalisierungsgrad des Präfixes zum grammatischen Marker abgeschlossen zu sein, auch wenn dabei nicht die Tatsache übergangen werden sollte, dass sich in allen altgerm. Sprachen Belege für Verben finden lassen, bei denen die ursprüngliche lokale Grundbedeutung
Ausnahmen bilden dabei freilich die lexikalisierten bzw. fossilierten Formen.
2.3 Das Präfix ✶ga- und das germanische Aspektsystem
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noch klar durchscheint und die daher nicht als bloße perfektivierte oder andersartig aspektuell manipulierte Simplizia klassifiziert werden können:35 (1) (2) (3) (4)
got. qiman – gaqiman (‚kommen‘ – ‚zusammenkommen‘) got. rinnan – garinnan (‚rinnen‘ – ‚zusammenrinnen‘) ahd. bintan – gibintan (‚binden‘ – ‚zusammenbinden‘) as. bindan – gibindan (‚binden‘ – ‚zusammenbinden‘)
Diese ursprünglich räumliche Grundbedeutung findet sich ebenso bei Substantiven wieder, oft ist damit auch eine metaphorisch-semantische Weiterentwicklung von ‚zusammen‘ zur Bedeutung ‚mit‘ oder ‚zusätzlich‘36 verbunden. ✶ga- als pragmatikalisierte Intensivierungspartikel lässt sich auch bei einigen Verben finden (vgl. Dorfeld 1885: 10). (5) (6)
got. arbja – gaarbja (‚Erbe‘ – ‚Miterbe‘) got. hlaiba – gahlaiba (‚Brotlaib‘ – ‚Mitstreiter‘)
Als fossilierte Formen überdauerten diese Bildungen wie (5) und (6) im Deutschen auch nach dem Ende ihrer Produktivität37 bis in die Gegenwart (Gebrüder, Geschwister, Genosse, Gevatter), was unter den germ. Sprachen eine Ausnahme darstellt. Ausgehend von der ursprünglich räumlichen Grundbedeutung, die offenbar immer weiter verblasste, wurde zumindest im verbalen Bereich eine zusätzliche abstrakte entwickelt, vermutlich über das kognitive Brückenkonzept der Vollständigkeit, das in engem Zusammenhang mit der angesprochenen Intensivierungssemantik steht. Wird eine Verbalhandlung vollständig, also in totalem Ausmaß erfasst, ist die Markung etwaiger Anfangs- und Endgrenzen darin enthalten, wodurch sich eine zusätzliche Bedeutungskomponente ergibt. Diese kann man im weitesten und vorsichtigsten Sinne als Resultat bestimmen (vgl. Rice 1932: 128–131, Metzger 2014: 75):
Nach Leiss (1992: 67) ist dies nur der Fall, wenn das Präfix an ein Simplexverb tritt, dessen Grundsemantik per se ‚perfektiv‘ ist, etwa nhd. kommen. Es lassen sich aber sowohl im Got. als auch in anderen germ. Sprachen Verben finden, die nach der Leiss’schen Systematik als imperfektiv klassifiziert werden müssen und in Verbindung mit dem Präfix die ursprüngliche Bedeutung von ‚zusammen‘ tragen. Es ist also eher davon auszugehen, dass wir tatsächlich innerhalb einer Sprache unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade beobachten können. Das vermutlich urverwandte lat. cum (˂ com) ging semantisch ganz ähnliche Wege. Als Kollektivierungspräfix bzw. -infix ist ge- mitunter noch produktiv, vgl. Neubildungen wie Rumgesurfe (https://woodlandforum.com/board/index.php/Thread/38142-Gude/ 20.01.2022).
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(7) (8)
2 Aspekt
got. saihwan – gasaihwan (‚sehen‘ – ‚erblicken‘) ahd. sehan – gisehan (‚sehen‘ – ‚erblicken‘)
Bei den hier angeführten nhd. Entsprechungen handelt es sich um prototypische Behelfsbegriffe, die sich inzwischen in der Forschungs- und Übersetzungsliteratur etabliert haben. Dass ein Präfix mit der Bedeutung ‚zusammen‘ eine solche abstrakte Semantik und damit langfristig zusätzliche grammatische Funktionen entwickelt, ist nichts Ungewöhnliches. Auch das lat. com- und seine Nebenformen haben ähnliche Pfade beschritten, allerdings nur in Verbindung mit einigen wenigen Verben, z. B. comprehendere und confringere (vgl. Dorfeld 1885: 10). Selbst das nhd. Adverb zusammen ist an der Bildung ähnlicher Komposita beteiligt, etwa zusammenbrechen oder bair. zusammenbringen im Sinne eines Achievements. 2.3.1.2 Die germanistische Aspektforschung vor Streitberg Die Erforschung der abstrakten oder grammatischen Bedeutung von ✶ga- begann mit Beobachtungen typologischer Natur, was weitreichende Konsequenzen haben sollte. Bereits Jacob Grimm stellt in seiner Vorrede zur 1824 erschienen serbischen Grammatik von Vuk Stefanović Karadžić Parallelen fest zwischen den altgerm. und den slaw. Verhältnissen, was die Semantik der verbalen Präfigierung betrifft. In groben Zügen decken sich seine Schlussfolgerungen bereits mit etablierten Lehrmeinungen jüngerer Zeit: Verbalderivate und -komposita stellen im Germ. wie im Slaw. üblicherweise „Perfectiva“ dar, Simplizia dagegen „Imperfectiva“ (vgl. Karadžić 1824: LII–LIV). Auch in seiner eigenen und zwei Jahre später erschienenen deutschen Grammatik widmet sich Grimm dezidiert der Funktion von germ. ✶ga-. Sprachhistorisch und in seiner lexikalischen Bedeutung bringt er das Präfix mit dem lat. com-38 in Verbindung, seine grammatischen Funktionszuweisungen sind von einem modernen Blickwinkel aus im Bereich Tempus und Aktionsarten zu verorten: Vergangenheit (im Vergleich mit dem griechischen Augment) und die Dauer der Verbalhandlung seien die Hauptdenotationen des Präfixes (vgl. Grimm 1826: 819, 852, 868).
Dabei wird das Affix üblicherweise neben lat. com bzw. cum und agr. κoινὀς auf die idg. Wurzel✶ḱóm zurückgeführt, was nicht unproblematisch ist, da ein sth. anlautender germ. Plosiv ✶g- üblicherweise kein Fortsetzer eines idg. ✶k- sein kann. Viel eher würde man einen Frikativ erwarten (vgl. Bennett 1968: 219–223 bzw. Pfeifer 1989: 510). Was die Lautgeschichte betrifft, scheinen also noch Detailfragen offen zu sein, die semantischen Parallelen dagegen sind offensichtlich.
2.3 Das Präfix ✶ga- und das germanische Aspektsystem
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Eine klarere Unterscheidung zwischen der Funktion von ✶ga- und rein temporalen Kategorieninhalte lässt sich bei Wackernagel (1839), der je nach Kontext eine perfektische oder plusquamperfektische Bedeutung des Präfixes bei Vergangenheitsformen ausmacht, ebenso wenig finden wie bei anderen Arbeiten der Zeit, die in der Tradition Grimms stehen. Die wichtigsten davon sind Schleicher (1855) und Martens (1863). Beide sprechen zwar von ‚verba perfecta‘ (‚momentan‘ und ‚vollendet‘) und ‚verba imperfecta‘ (‚dauernd‘ und ‚unvollendet‘), beziehen sich aber damit meist auf Funktionen der relativen Vor- oder Nachzeitigkeit und sind damit noch stark in ihnen vertrauten Konzepten von versprachlichter Zeit verhaftet. Weder der Begriff der ‚Aktionsart‘ noch jener des ‚Aspekts‘ waren zu diesem Zeitpunkt in der Altgermanistik etabliert, weswegen dieser Umstand auch nicht weiter verwunderlich ist. Wenngleich noch terminologisch grobmaschig und uneinheitlich, hatten die genannten frühen Arbeiten insofern maßgeblichen Einfluss auf Autoren der folgenden Jahrzehnte, als sie den Vergleich mit dem Slaw. zum obligaten Mittel der germanistischen Aspektforschung erklärten. Schleicher (1855) war der erste, der mit dem Got. und dem Akslaw. systematisch zwei historische Sprachen des Germ. und Slaw. hinsichtlich ihres Verbalsystems miteinander verglich. Diese typologische Weitwinkelperspektive erwies sich einerseits als fruchtbar, brachte andererseits aber auch eine gewisse Befangenheit und in weiterer Folge eine starke Abhängigkeit von Systematiken und Kategoriengrenzen anderer Sprachen und damit auch der Methodik anderer Philologien mit sich. Die wichtigste Arbeit, die nicht nur nach einer unifizierenden Erklärung für die Distribution von ✶ga- sucht, ist die Dissertation von Carl Dorfeld (1885),39 der synchron drei verschiedene Typen von verbalen ✶ga-Verben im Got. und im Ahd. identifiziert, die aber auch eine diachrone Entwicklung widerspiegeln: Bei Typ I handelt es sich zunächst um eine lexikalische Klasse mit jenen komponierten Verben, bei denen die lokale Grundbedeutung des Präfixes klar ersichtlich ist (s. o.). Ebenfalls zu diesem Typ zählt Dorfeld Verben, die sich semantisch so weit von ihrer Derivationsbasis entfernt haben, dass diese anhand der komplexen Form nicht mehr rekonstruierbar ist. Solche Beispiele lassen sich auch noch im Gegenwartsdeutschen finden, etwa nhd. gebühren aus ahd. giburren ‚gebühren‘, dessen Simplex burren ‚auftreten‘ zumindest standardsprachlich verlorengegangen ist. Unter Typ II fasst Dorfeld komplexe Verbformen zusammen, bei denen im Vergleich zum Simplex entweder das Merkmal der Vollständigkeit oder eine
Dorfeld scheint dabei von der weniger rezipierten Arbeit Ernst Bernhardts (1870) beeinflusst gewesen zu sein, der ausgehend von der „ursprünglichen Bedeutung“ des Präfixes die grammatischen Funktionen abzuleiten versucht.
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2 Aspekt
generelle Verstärkung der Verbalhandlung durch ✶ga- markiert werden. Diese Klasse deckt sich zum Teil mit der Gruppe von Verben, die von zeitgenössischen Autoren als perfektiv angesehen werden. Direkt davon abgeleitet sieht Dorfeld die der funktionalen Klasse vom Typ III angehörigen Verben, bei denen ✶ga- die ‚temporale Vollendung‘ bezeichnet, im Gegensatz zur ‚Vollendung an sich‘, die bei Typ II vorzufinden ist. Dazu gehören vor allem ‚echte‘ Derivate in der Funktion des Plusquamperfekts oder Futurs. Dorfeld fehlt es noch an der notwendigen modernen linguistischen Terminologie, aber mit Typ III sieht er den Grammatikalisierungspfad des Präfixes abgeschlossen. Die Entwicklung zum temporalen Marker ist gleichzeitig der Endpunkt und die völlige Entkoppelung von der ursprünglichen lexikalischen Bedeutung (vgl. Dorfeld 1885: 7–46). Die Arbeit Dorfelds liefert damit zwar keinen systematischen Erklärungsansatz für die grammatische Basisfunktion von ✶ga-, stellt allerdings einen Vorgriff auf moderne grammatikalisierungstheoretische Konzepte dar und ist mit diesen auch kompatibel. 2.3.1.3 Streitberg und seine Nachfolger Die einflussreichste Arbeit auf dem Gebiet der frühen Aspektforschung im Germ. hat Wilhelm Streitberg 1891 veröffentlicht. Der Aufsatz „perfective und imperfective actionsart im germanischen“ ist in der Gesamtschau der frühen Publikationen zum Thema Präfigierung und Aspekt nicht unbedingt der revolutionärste, aber sicher der umfassendste und systematischste. Wenn Streitberg in Anlehnung an Brugmann (1885), dem die Etablierung des Begriffs zu verdanken ist, von ‚actionsarten‘ spricht, meint er damit Verschiedenes, weswegen es hier einer terminologischen Auffächerung bedarf: Imperfektive und perfektive Aktionsarten bezeichnen nach dem Streitberg’schen Schema idealerweise die gleichen grammatischen Inhalte wie die entsprechenden slaw. Aspektkategorien. Imperfektiva stellen die Handlung „in ihrer ununterbrochenen dauer oder continuität“ (Streitberg 1891: 70) dar, Perfektiva dagegen erweitern die Semantik der Verbalhandlung um den „nebenbegriff des vollendet werdens“ (Streitberg 1891: 71). Als weitere Klasse der Aktionsarten definiert Streitberg die Iterativa, die wiederum in eine imperfektive und eine perfektive Subklasse unterteilt werden können. Morphologisch tritt diese Klasse in den germ. Sprachen nicht gesondert zutage, Streitberg ist hier offensichtlich bemüht, slawistische Kriterien der Einteilung zu übernehmen (vgl. Streitberg 1891: 70–77). Für alle Gruppen findet schon Streitberg einige Ausnahmen, die ihm aber offenbar nicht genug Grund geben, generelle Zweifel hinsichtlich dieser Systematik zu entwickeln. Eine wichtige Gruppe sei hier gesondert erwähnt, da sie auch in der germanistischen Forschungsliteratur immer wieder eine Rolle spielt: Verben
2.3 Das Präfix ✶ga- und das germanische Aspektsystem
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wie got. briggan ‚bringen‘, giban ‚geben‘, niman ‚nehmen‘ und qiman ‚kommen‘ können auch als Simplizia perfektiv interpretiert werden und verbinden sich nur mit dem Präfix ga-, wenn die lokale Grundbedeutung ausgedrückt werden soll (vgl. Streitberg 1891: 103–105). Im Zusammenhang mit der Bildung des Partizip Präteritum im Ahd. und As. werden diese Verben noch gesondert Beachtung erfahren (vgl. Kap. 2.2.2). Die gewählten Belege zeichnen ein stimmiges Bild des got. Aspektsystems, das sowohl mit dem griech. als auch slaw. Pendant kontrastiert wird. Unabhängig vom jeweiligen Präfix bezeichnet das Derivat nach Streitberg (1891: 71) immer „den Moment der Vollendung“. Damit ist meistens der Perspektivenaspekt gemeint, es lassen sich aber auch einige Stellen finden, an denen Streitberg eher die Aktionsart der Terminativität anzunehmen scheint. Explizit erwähnt Streitberg (1891: 142) nämlich auch „die erreichung ihres [= der Verbalhandlung, Anm. FF] ziels in der vergangenheit“ und bezieht sich damit auf außersprachlich wahrnehmbare Folgeerscheinungen, etwa Gelingen oder Wirkung. Dass Streitberg nicht nur terminologisch keinen eindeutigen Unterschied zwischen Aspekt und Aktionsart macht, wird auch an jenen Stellen deutlich, an denen er terminative und aterminative deutsche Verben zur Demonstration der einzelnen aspektuellen Klassen heranzieht. Dass viele aufbauende Arbeiten der Folgejahre und -jahrzehnte fast ausschließlich auf die jeweiligen Fortsetzer von germ. ✶ga- fokussieren, hat sicher rezeptionsgeschichtliche Gründe. Streitberg selbst hat sämtliche got. Präfixe im Blick und die Sonderstellung von got. ga- geht aus seinen Ausführungen nur teilweise hervor. Zwar attestiert er dem Präfix einen „mangel an concreter individualität“, wodurch seine Rolle als „perfectivierungsmittel κατ’ ἐξοχήν“ besonders deutlich hervortritt (Streitberg 1891: 103), insgesamt sieht er dieses grammatische Potenzial aber in allen Präfixen. Das ursprüngliche Grundschema nach Streitberg war also: VERB + Ø = Imperfektivität VERB + PRÄFIX ✶_ = Perfektivität In weiterer Folge etablierte sich dennoch die bis heute gängige Grundannahme, dass das got. Verbalpräfix ga- und seine westgerm. Entsprechungen nicht nur einfach wie bei Streitberg, sondern gleich in zweierlei Hinsicht semantisch negativ definiert werden können; einerseits generell im Verhältnis zu Präverbien der Aktionsartendifferenzierung wie us- oder bi-, andererseits im Verhältnis zum unveränderlichen Verbalcharakter des unpräfigierten Simplexverbs. Alle weiteren Ausführungen beziehen sich nur auf diese Systematik:
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2 Aspekt
VERB + Ø = Imperfektivität VERB + PRÄFIX ✶GA- = Perfektivität Dabei handelt es sich jedenfalls um ein unfreiwilliges Vermächtnis Streitbergs. Besonders der Vergleich zum Slaw., wo die jeweiligen Aspektaffixe einen Grammatikalisierungsprozess durchlaufen haben, der mit dem Präfix ✶ga- vergleichbar ist, bestärkte über die Jahre hinweg zahlreiche Altgermanisten in ihrer Annahme, bei ✶ ga- handle es sich aufgrund seiner lang andauernden Genese und Desemantisierung um das prototypische Perfektivierungspräfix schlechthin (vgl. Leiss 1992: 62). Ein weiteres langlebiges und implizites Postulat Streitbergs ist die immer wieder anzutreffende Annahme, Simplex und Derivat seien als grundsätzlich synonym zu betrachten, wodurch die Präfigierung (und die Abwesenheit derselben) frei würde für die Bezeichnung von grammatischen Verbalkategorien. Im Falle von ✶ga- und anderen Präfixen betrifft das etwa den Verbalaspekt. Eine genaue Definition der ‚Synonymie‘ und eine methodische Möglichkeit, diese auch zu identifizieren oder anhand von historischem Sprachmaterial nachzuweisen, bleiben Autoren aber bis heute schuldig. Tatsächlich ist es so, dass unterschiedliche grammatische Kategorien auch unterschiedliche semantische Inhalte transportieren.40 Auch in den slaw. Sprachen gehen mit der Perfektivierung oder Imperfektivierung von Verben oft lexikalische Bedeutungsveränderungen einher, die zu einer gewissen pragmatischen Streuung einzelner Aspekte führen oder gar idiomatischen Charakter entwickeln können. Synonymie ist also kein geeignetes Kriterium zur Beschreibung von Aspekt (oder anderen grammatischen Kategorien). Es gibt daher keinen zwingenden Grund, die zusätzlichen semantischen Leistungen des Präfixes ✶ga- zu negieren oder im Widerspruch zu grammatischen Inhalten anzusehen, seien es aspektuelle oder andere (vgl. dazu auch die Diskussion bei Metzger 2017: 172–173). Bei der Annahme von Synonymie handelt es sich also um eine Erkenntnis a priori, die inzwischen axiomatischen Charakter hat. Letztlich wird dadurch wohl nur das nachvollziehbare Bedürfnis deutlich, in der eigenen Sprache nicht morphologisch oder anders realisierbare fremde grammatische Kategorien systematisieren zu wollen. Für einen Muttersprachler des Deutschen können mangels Kompetenz slaw. Aspektpaare tatsächlich als Synonyme gelten, für einen Sprecher des Russischen aber bestimmt nicht. Dieser Kompetenzmangel wurde zu einer germanistischen Konvention. Mitunter gehen Autoren soweit, auch noch
Vgl. dazu auch das „Principle of No Synonymy“ von Goldberg (1995: 3). Absolute Synonymie ist zwischen zwei verschiedenen Ausdrücken grundsätzlich nicht anzunehmen.
2.3 Das Präfix ✶ga- und das germanische Aspektsystem
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verschiedene Grade der Synonymie zu bestimmen, um grammatische (= aspektuelle) und lexikalische Bedeutung zu unterscheiden: Um entscheiden zu können, ob ein Verbpaar synonym genug ist, um als Aspektpaar gelten zu können, muß man das Verhältnis von lexikalischer und aspektueller Bedeutung zugrundelegen. Dominiert die aspektuelle Bedeutung, handelt es sich um ein Aspektpaar, dominiert die lexikalische Bedeutung, so ist das holistische Präfixverb als Aktionsartverb einzustufen. (Leiss 1992: 58)
Angesichts dessen, dass in einer Zielsprache wie dem Deutschen nur auf lexikalische Varianten zurückgegriffen werden kann, um Aspektpaare zu beschreiben bzw. zu übersetzen (etwa im Fall von ‚sehen: erblicken‘), ist nicht ganz nachvollziehbar, wie eine solche Entscheidung überhaupt gefällt werden soll. Streitberg stellt eine Zäsur dar, alle weiteren Forscher beziehen sich entweder direkt oder indirekt auf ihn. Dabei können zwei Gruppen bzw. Lehrmeinungen unterschieden werden: Zur ersten Gruppe gehören diejenigen, die seine Aspekttheorie zumindest in Grundzügen akzeptieren und weiterentwickeln oder ergänzen, zur zweiten diejenigen, die das Vorhandensein einer Aspektkategorie im Germ. kategorisch ablehnen. Der überwiegende Teil der Germanisten nach Streitberg stellte die Existenz eines urgerm. Aspektsystems, das in den belegten Einzelsprachen mehr oder weniger Fortbestand hat, nicht weiter infrage. Das Hauptaugenmerk lag zunächst darauf, durch das Hinzuziehen weiterer Daten aus den altgerm. Dialekten die getroffenen Vorannahmen zu stützen oder zusätzliche Subkategorien innerhalb der aspektuellen Dichotomie über die positive Evidenz zu erschließen. Da sich Streitberg nur mit dem got. Belegmaterial beschäftigt hatte, herrschte ein gewisser datenorientierter Aufholbedarf vonseiten der Germanistik und der Anglistik. Die theoretische Auseinandersetzung mit seinen Thesen war eher von vorsichtiger Zurückhaltung geprägt. Exemplarisch dafür ist die Untersuchung von Wustmann (1894), der sich eingehend mit den präfigierten Verben im as. Heliand beschäftigt. Zwar führt er mit den Ingressiva eine weitere aspektuelle Klasse ein, dabei handelt es sich aber nur um einen formalen Unterschied zu Streitbergs Einteilung und keine inhaltliche Neubewertung (bei Streitberg findet sich ebenfalls eine vergleichbare Klasse der Ingressiva, die dieser aber den perfektiven Verben zuordnet). Die meisten qualitativen Analysen sind mit jenen Streitbergs kompatibel, was Wustmann auch eine wohlwollende Rezension durch Streitberg einbrachte.41
Ganz anders urteilt der tschechische Germanist Václav Mourek im Jahr davor, der in seiner Besprechung explizit den deutschen Kollegen aufgrund ihrer hinsichtlich des Gegenstandes der Aspekt- und Aktionsartenkategorisierung defektiven Muttersprache die Fähigkeit abspricht, entsprechende semantische Unterschiede überhaupt zu erkennen (vgl. Mourek 1894:
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2 Aspekt
Hervorzuheben ist die Beobachtung, dass as. gi-Verben im Vergleich zu ihren älteren got. Pendants eine gewisse „Schwäche“ zeigen würden, wodurch die Opposition zum Simplexverb immer weiter verblasse (Wustmann 1894: 88). Hier begegnet uns zum ersten Mal die Vorstellung eines sich im Abbau befindlichen germ. Aspektsystems, wobei über die einzelnen Sprachräume auch diachrone Entwicklungen abgelesen werden können. Als weitere Vertreter der frühen Streitberg-Nachfolger können Hesse (1906), der die aspektuellen Verhältnisse ae. Verben im Kontrast zur lat. Übersetzungsvorlage untersucht, und Dahm (1909), der die Opposition von Simplex und giDerivat im ahd. Tatian und bei Notker im Einklang mit dem Streitberg’schen Schema nachzeichnet, genannt werden. Ebenfalls auffällig sind bei Dahm die lexikalischen Varianten des Nhd. zur Übersetzung ahd. Aspektformen (horen ‚vernehmen‘, sehan ‚erblicken‘ usw.), die zu diesem Zeitpunkt schon fest etabliert und akzeptiert sind. Auch das Mhd. gerät in dieser Zeit in den Blick der Forscher. Thedieck (1908) attestiert den meisten mhd. ge-Verben noch perfektiven Charakter, obwohl er nicht umhinkommt, auf den generellen Zusammenbruch des Aspektsystems in qualitativer und quantitativer Hinsicht hinzuweisen. Abgesehen von einem bedeutenden Schwund der ge-Präfixe an sich betont er auch, dass die einstige Opposition zwischen Simplex und Derivat, die im Got. noch gut erkennbar ist, bei einigen mhd. Belegen nicht mehr so eindeutig hervortritt (vgl. Thedieck 1908: 77).42 Innerhalb des germanistischen Fachbereichs sollten die Thesen Streitbergs noch jahrzehntelang mehr oder weniger unverändert Fortbestand haben, womit sich auch die Vorstellung einer formal markierten Aspektopposition im Germ. durchsetzen konnte. In jüngerer Zeit haben sich sowohl eine harte als auch eine weiche Lesart von Streitbergs Thesen herausgebildet. Der typologische Geltungsanspruch und die Annahme eines Aspektsystems slaw. Typs findet sich in den einflussreichen theoretischen Arbeiten von Leiss (1992, 2000a, 2000b;) und Abraham (1989, 1998, 2008) sogar verstärkt wieder. Leiss (2000b) erklärt zusätzlich noch Perfektivität und verbale Definitheit zu grammatischen Synonymen. Dem gegenüber stehen Autoren wie Schrodt / Donhauser (2003), Wischer / Habermann (2004), Kotin (2012) oder Heindl (2017), die zwar die Existenz eines germ. Aspektsys-
195). Mit seiner Arbeit sollte Wustmann auch aus dem linguistischen Wissenschaftsbetrieb ausscheiden, am zumindest durch diese Publikation nachhaltig geprägten und innerhalb der Germanistik mitunter hart geführten ‚Aspektdiskurs‘ beteiligte er sich selbst nicht mehr. In jüngerer Zeit kommt Heindl (2017: 144) zu einem ähnlichen Ergebnis.
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tems nicht anzweifeln, die eine etwaige Gleichsetzung mit der slaw. Systematik aber entweder von vornherein nicht in Betracht ziehen oder aus verschiedenen – oft empirischen – Gründen ablehnen. Zu den frühen Kritikern Streitbergs gehörten zunächst Slawisten und slawischsprachige Germanisten. Mourek (1890)43 lehnt die Aspekthypothese im Germ. ab, er kritisiert vor allem die fehlende Unterscheidung von Aspekt und Aktionsart in den deutschsprachigen Publikationen (wenn auch mit anderen Termini). Streitbergs ‚Aspektpaaren‘ würden immer vier Varianten im Slaw. gegenüberstehen. Mourek nimmt damit vorweg, was spätere Slawisten wie Maslov (1959) oder Đorđević (1994) definitiv annehmen: Die germ. Sprachen hätten mit der Möglichkeit, aktionale Unterschiede zu markieren, eine Vorstufe des Aspekts erreicht, aber sicher nicht mehr. Auch Beer (1915–1921) und Trnka (1932)44 sprechen sich gegen die Annahme eines germ. Aspektsystems aus, allerdings mit teilweise fragwürdigen methodischen Herangehensweisen, die hier nicht genauer diskutiert werden können (vgl. dazu Heindl 2017: 70). Ein differenzierterer Zugang findet sich bei Mirowicz (1935). Er kritisiert seine Vorgänger dafür, zu sehr in den Kategorien der slaw. Sprachen verhaftet zu sein und anhand von einzelnen Belegen, deren Bewertung vom eigenen Sprachgefühl gesteuert ist, ungerechtfertigter Weise auf das System als Ganzes zu schließen. Der alternative Ansatz beschränkt sich darauf, objektive Distributionsmuster des slaw. Aspektsystems zu isolieren und auf das Got. zu übertragen. ‚Objektiv‘ bedeutet in diesem Fall, dass eine zwingende Interaktion mit anderen grammatischen Kategorien, in diesem Fall rein temporalen Bezügen, vorliegen muss, die die Setzung entweder des einen oder anderen Aspekts bedingt.45 Als besonders geeignet seien demnach Belegstellen, bei denen Gleich- und Vorzeitigkeitsverhältnisse vorliegen. Bei der Gegenüberstellung von russ., poln., griech., lat. und got. Vergleichsstellen kommt Mirowicz letztlich zum Schluss, dass kein grammatischer Aspekt im Germ. existiert haben könne. Regelmäßig und anders als im Slaw. erschienen (vermeintlich imperfektive) Simplizia in Kontexten der Vorzeitigkeit.46 Derivate lägen dagegen häufig in Kontexten der Gleichzeitigkeit vor (vgl. Mirowicz 1935: 19–30). Eine vergleichbare Stichprobe von Heindl (2017: 85–86), die einige Stellen der got. Wulfilabibel und des ahd. Tatian untersucht,
Mourek reagierte damit, wie damals nicht unüblich, auf einen Vortrag von Streitberg. Deswegen wurde diese Arbeit auch ein Jahr vor jener Streitbergs publiziert. Trnka (1932: 325) spricht sogar von der „größten wissenschaftlichen Fiktion“ innerhalb des germanistischen Fachbereichs. Vgl. dazu auch die ‚diagnostischen Kontexte‘ in Kap. 2.1.4. Bereits Dorfeld (1885: 85) weist auf diesen Umstand hin.
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2 Aspekt
kommt dagegen zu einem anderen Ergebnis. Ihre Auswertung zeigt zwar keine besonders hohe Frequenz von got. ga- bzw. ahd. gi- in Vorzeitigkeitskontexten, bestätigt aber auch nicht die Annahme von Mirowicz, sie würden regelmäßig in Gleichzeitigkeitskontexten auftreten. Auch Kuroda (2005: 268) kommt in seiner Untersuchung der Temporalitätswerte von Simplizia und Derivaten bei Otfrid zum Schluss, dass eine Zuordnung der einzelnen Klassen zu prototypischen Kontexten der relativen Temporalität möglich ist, ein ähnlicher Befund lässt sich bei Fleißner (2017: 28) für den as. Heliand finden. Aufgrund der Heterogenität der Einzelergebnisse, die sicher auch auf die teils geringe zugrundeliegende Datenmenge und methodologische Unterschiede47 zurückzuführen ist, drängt sich die Frage auf, ob die Übertragung der Distributionsregeln von unzweifelhaften Aspektsprachen, die aber nicht einmal auf die Kernbedeutung des Aspekts abzielen, auf Sprachen, deren typologischer Status umstritten ist, überhaupt sinnvoll sein kann. Solange versucht wird, das germ. Aspektsystem mit jenem einer anderen Sprache zu kontrastieren, steht letztlich allenfalls die Erkenntnis zu Buche, man könne nicht für beide Systeme die gleichen typologischen Parameter ansetzen. Das gilt nicht nur für generelle übereinzelsprachliche Zugänge, auch die Studien zur altgerm. Übersetzungsliteratur kommen zu dem Ergebnis, dass sich die temporalen und aspektuellen Verhältnisse der Quellensprache nicht auf die Distribution der Präfixe in der Zielsprache umlegen lassen. Für das Got., das fast ausschließlich in Form von Übersetzungsliteratur überliefert ist, wurde das naturgemäß früh gezeigt. Lawson (1965, 1970) sieht in der ahd. gi-Präfigierung im Tatian ebenfalls kein Potenzial, die lat. Tempus- und Aspektformen regelhaft wiederzugeben. Auch Scherer (1954, 1956, 1958), der in seinen drei Studien verschiedene altgerm. Übersetzungstexte und deren Vorlagen untersucht, findet weder im Ahd. noch im Ae. noch im Got. zwingende Indizien für die Annahme eines grammatischen Aspekts slaw. Musters. Lawsons Studien sind allerdings von methodischen Inkonsequenzen, darunter einem willkürlichen Herausgreifen einzelner Belege über die Sprachgrenzen hinweg, geprägt. Die jeweiligen pragmatischen Kontexte, in denen die besprochenen Verben auftauchen, werden ebenfalls nicht miteinbezogen, weswegen ohnehin an der Validität der Ergebnisse gezweifelt werden kann (vgl. Heindl 2017: 83). Was sagen all diese Befunde letztlich über die Funktionalität des germ. Aspektsystems aus, selbst wenn man über die einzelnen Herangehensweisen und das mitunter zweifelhafte Zustandekommen der Ergebnisse hinwegsieht? Es
Besonders hervorzuheben ist der fehlende Konsens bezüglich der Definition von relativen Tempora und der zweifelsfreien Identifizierung entsprechender Stellen in historischen Texten.
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scheint viel eher so, als wäre der Zugang über den typologischen Sprachvergleich insgesamt seit jeher in gewisser Weise ein verfehlter. Es ist nie gelungen, den slaw. und den germ. Aspekt konzeptuell zu harmonisieren und dieser Ansatz soll auch hier nicht weiterverfolgt werden. Lohnenswerter erscheint mir ein Zugang, der nicht durch vordefinierte Kategoriengrenzen eingeschränkt wird, wie das für typologische Untersuchungen verständlicherweise notwendig ist. 2.3.1.4 Die Überwindung Streitbergs und der slawistisch orientierten Aspektforschung: ein neuer Ansatz für das Germanische Zunächst soll auf zwei Arbeiten kurz eingegangen werden, die Streitbergs Thesen neu formuliert haben und als Ausgangspunkte eines potenziellen Paradigmenwechsels gesehen werden können. Maurice Marache ist es mit seinem 1960 erschienenen Artikel „Die gotischen verbalen ga-Komposita im Lichte einer neuen Kategorie der Aktionsart“ zu verdanken, dass die kritische Rezeption von Streitbergs Thesen nach dem Krieg wiederbelebt wurde. Er trennt zunächst streng die Begriffe ‚Aspekt‘ und ‚Aktionsart‘ nach den seit Agrell (1908) üblichen Parametern und kommt anhand stichprobenartiger Überprüfungen got. Textstellen wie schon einige seiner Vorgänger zum Schluss, dass eine Zuordnung von got. gaweder zur einen noch zur anderen Kategorie eindeutig möglich sei. Er hat eine andere Ebene im Blick, auf der ga- wirksam ist. Diese kann im weitesten Sinne als ‚Aktantenbezogenheit‘ beschrieben werden: Durch das „Kompositum“ werde das Resultat der Verbalhandlung als Tatsache gesetzt, durch das Simplex die Verbalhandlung nur in Bezug auf die Tätigkeit des Subjekts bezeichnet, ohne das Resultat zu fokussieren (vgl. Marache 1960: 9). Damit ergebe sich an einigen Stellen ein Überlappungsbereich von Aspekt und Aktionsart, tatsächlich handelt es sich aber um eine dritte Kategorie, die als „subjekt-resultative Begrenzung“ bezeichnet wird (Marache 1960: 31). Ein Beispiel zur Verdeutlichung dieses Schemas soll genügen, vgl. (9): (9)
[…] gasaihwandans þoei gatawida taikn lesus. (W Joh.6,14) […] (da) sahen sie das Wunder, das Jesus getan hatte. […] ibai managizeins taiknins taujai baimei sa tawida? (W Joh.7,31) […] ob (Jesus) mehr Wunder tun wird, als dieser getan hat?
Im ersten Satz werde auf das getane Wunder als Tatsache fokussiert und demnach das komplexe Verb gesetzt. ga- wirke hier als ‚sachliche Ergänzung‘. Im zweiten Satz dagegen bestimme das Simplex nur die Bedeutung des Verbs selbst, die Verwirklichung des Wunders sei außerhalb der hier gezogenen Skopusgrenzen (vgl. Marache 1960: 32).
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Maraches Ansatz erfuhr allgemein Zurückweisung, unter anderem von Scherer (1964) und Pollak (1971), die ihn als unnötig verkomplizierend und von subjektivem interpretatorischem Empfinden abhängig ansehen. Auch Lloyd (1979), der die umfangreichste und wohl einflussreichste Monographie zur got. Verbalsemantik nach Streitberg verfasst hat, grenzt sich mit Nachdruck von Marache ab. Seine Funktionszuweisung für got. ga- geht ebenfalls über die üblichen Aspektdefinitionen hinaus. Er entwickelt dafür zunächst das (übereinzelsprachlich gültige) Konzept des complete change bzw. complete action, das das verbalsemantische Potenzial einer dreiphasigen Prädikation beinhaltet. Er nennt diese Phasen initive, procedent und finitive. Ein terminatives Verb wie nhd. sterben würde alle drei Phasen durchlaufen: zunächst jene des ‚Lebendigseins‘, dann jene des ‚Sterbens‘ und schlussendlich jene des ‚Totseins‘ (vgl. Lloyd 1979: 29–31). Lloyd nennt diesen Aspekt ‚Komplexiv‘. Natürlich hat nicht jedes Verb ein solches aktionales Potenzial, vielen bleibt das Potenzial der actional completeness verwehrt, etwa stativen Verben wie nhd. leben. Diese könnten bestenfalls durch eine temporal completeness charakterisiert und damit temporal, aber nicht aktional begrenzt werden. Diesen Aspekt bezeichnet Llyod als ‚Konstativ‘. Was die got. Verhältnisse betrifft, sieht er ga- mit einigen Ausnahmen als Marker für den komplexiven Aspekt. Demgegenüber stehe das grundsätzlich aspektneutrale Simplexverb, der Konstativ würde in den germ. Sprachen nie explizit morphologisch realisiert, werde aber im Kontrast zu komplexen Verben oft durch das Simplexverb ausgedrückt. Die Scheidung von Komplexiv und Konstativ ist das, was Lloyds Aspektdefinition von bisherigen Begriffsbestimmungen abhebt. Hier begegnet uns nämlich eine zusätzliche funktionale Ebene: „Only the complexive, however, permits the simultaneous observation of the state of an entity before, during, and after an action, and thus vividly depict the significance of the action as a basic change in the entity’s state or condition.“ (Lloyd 1979: 78). Der komplexive Aspekt markiert also den Betroffenheitsstatus einer an der Verbalhandlung beteiligten Entität. Aus den gewählten Beispielen, die Metzger (2017: 158) einer Revision unterzieht, geht hervor, dass es sich damit oft um das Subjekt der intransitiven und das Objekt der transitiven Verben handelt. Da Transitivität per se in den meisten Fällen die Manipulation eines direkten Objektes bedeutet, ist das auch nicht weiter verwunderlich. Sowohl Maraches als auch Lloyds Ansatz führen letztlich zu dem Schluss, dass die Funktion der ga-Verben im Got. über die aspektuelle und temporale hinaus im Verweis auf weitere Denotate zu verorten ist. Bei Marache ist das mit der ‚sachlichen Ergänzung‘ die Markierung der Effektivität der Verbalhandlung, bei Lloyd ist es mit der Markierung der Veränderung einer betroffenen Entität der Effekt der Verbalhandlung selbst. Das Simplex ist dabei negativ definiert und zeichnet sich durch das Fehlen dieser Leistung aus.
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Von den expliziten und impliziten Ergebnissen beider Autoren ausgehend postuliert Metzger (2014: 75–79, 2017: 365) eine neue funktionale Opposition: Durch das „Kompositum“ werde die ‚sachliche Perspektive‘ bezeichnet und auf den betroffenen Aktanten der Verbalhandlung verwiesen. Das Simplex müsse dabei, anders als bisher, nicht negativ definiert werden, sondern bezeichne eine ‚subjektorientierte Perspektive‘, bei der die Handlung ausgehend vom Subjekt konstituiert werde und gewissermaßen als Attribuierung fungiere. Insgesamt müsse man bei der Beschreibung dieser Opposition die Grenzen der Aspektkategorie überschreiten. Metzger hält die Kategorie der Diathese für angemessen und definiert zwei neue Subklassen für das Got.: VERB + Ø = Gestive Diathese VERB + PRÄFIX GA- = Faktive Diathese Die gestive Diathese hebt unabhängig von der semantischen Rolle die Beteiligung des Subjekts als Träger der Verbalhandlung hervor. Durch die faktive Diathese manifestiert sich die objektivierbare Wirkung auf einen betroffenen Aktanten. Je nachdem, ob der Sprecher die Handlung hinsichtlich der Beteiligung des Subjekts oder die Wirkung auf den betroffenen Aktanten hervorheben möchte, bedient er sich entweder des Simplex oder des Derivats. Es ergibt sich damit eine subjektorientierte und eine nicht-subjektorientierte Perspektive, wie sie auch sonst bei diathetischen Subkategorien üblich sind. Bei den Verben, die in der Literatur gemeinhin als Aspektpaare mit synonymer Lexik angesehen werden, ist die Verteilung eindeutig. Aber auch Verbpaare, bei denen sich durch die Präfigierung eine zusätzliche semantische Bedeutungskomponente ergibt, was mitunter einen eigenen Lexikoneintrag rechtfertigen kann, lassen sich auf diese Weise beschreiben. So steht dem Simplex got. karon ‚sich Sorgen machen‘ das zusammengesetzte got. gakaron mit der konkreteren Bedeutung ‚jemanden versorgen‘ gegenüber. Zwar gibt es Fälle, in denen die derivierte Form eine über das Simplex nicht mehr nachvollziehbare Semantik hat und idiomatisiert ist, in den meisten Fällen lassen sich die jeweiligen Verbpaare trotzdem der gestiven und faktiven Diathese zuordnen. karon beschreibt eine subjektinterne Emotion bzw. Eigenschaft, das Derivat die konkrete Ausübung dieser an einem Aktanten. Auch waldan ‚Gewalt haben über, verwalten‘ und gawaldan ‚jemandem Gewalt antun‘ können so systematisch beschrieben werden, ebenso frijon ‚lieben‘ und ✶ gafrijon48 ‚jemanden liebkosen, küssen‘ (vgl. Metzger 2017: 362–364). Insgesamt
✶gafrijon ist nicht direkt belegt, wohl aber ein Substantiv gafrijons ‚Kuss, Liebkosung‘ (vgl. Lloyd 1979: 290).
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2 Aspekt
ergeben sich sowohl für das Simplex als auch das Derivat im Got. prototypische funktionale Bereiche, in denen die jeweilige diathetische Kategorie üblicherweise zur Anwendung kommt, vgl. Tabelle 3: Tabelle 3: Prototypische funktionale Bereiche der gestiven und faktiven Diathese im Got. nach Metzger (2017: 365). Simplex, gestiv
Kompositum, faktiv
Aktanten
Subjekt
betroffener Aktant, Objekt, Ziel
Verlaufsformen
Prozess Sich-Befinden
Ereignis (relationaler) Status, Ausrichtung
Da im Fokus auf einen betroffenen Aktanten der Abschluss einer Verbalhandlung oft notwendigerweise mitenthalten ist, während das für subjektorientierte Charakterisierungen und Verlaufsformen nicht der Fall ist, mag sich für eine gewisse Gruppe von Verben eine aspektuelle Interpretation anbieten. Tatsächlich liegt hier aber eine ganz andere Kategorie vor, die nur hier und da solche Lesarten begünstigt. Eine solche funktionale Opposition finden wir außerhalb der üblichen Diathesenkategorien sonst in keiner idg. Sprache morphologisch realisiert vor. Da es sich bei der Paradigmatisierung von ✶ga- aber ohnehin um eine germ. Neuerung handelt, ist das kein schwerwiegender Einwand. Bei der Einführung einer neuen linguistischen Kategorie sind typologische Parallelen natürlich trotzdem von Vorteil. Metzger findet sie im Verbalsystem des Tamilischen, beschrieben von Klaiman (1991). Die dortigen Verhältnisse der Diathesenopposition ‚Aktiv: Medium‘ entsprechen weitestgehend der Distribution von ‚Derivat: Simplex‘ im Got. (Bsp. aus Klaiman 1991: 77): (10) Murukaṉ taṉ / Rāmaṉiṉ maṉaiviyai aṇain-t-āṉ Murukan.nom own / Raman’s wife.acc embrace-middle-pst-sg.m ‚Murukan embraced his own / Raman’s wife‘ (11) Murukaṉ taṉ / Rāmaṉiṉ maṉaiviyai aṇai-tt-āṉ Murukan.nom own / Raman’s wife.acc embrace-active-pst-sg.m ‚Murukan embraced his own / Raman’s wife‘49
Weder das Englische noch das Deutsche sind hier geeignet, die entsprechenden grammatischen Unterschiede wiederzugeben.
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In (10) liegt das mediale Verb vor, um die Handlungsweise des Subjekts hervorzuheben in (11) das aktive, um den Betroffenheitsstatus des Objekts zu betonen. Die Semantik des Verbs selbst sowie die syntaktische Struktur des Satzes werden dadurch nicht beeinflusst: The referential relations between the embracer and embracee are irrelevant to the selection of voice, as (41a, b) [(10, 11)] show. Rather, which voice is selected evidently depends on which referent the speaker intends to portray as the most affected participant in the act of embracing. (Klaiman 1991: 77)
Die Aufmerksamkeit des Hörers wird also auf den Aktanten gelenkt, der von der Verbalhandlung am meisten betroffen ist. Welche Implikaturen damit einhergehen, ist vom Kontext abhängig, sie sind aber jedenfalls im Bereich der kollektiven außersprachlichen Wahrnehmung zu verorten, auch wenn sie einem subjektiven Empfinden des Sprechers entspringen. Es besteht also, ähnlich wie beim Aspekt, eine gewisse Wahlfreiheit mit pragmatischen Einschränkungen. Für das Got. lassen sich ganz ähnliche Muster zeigen. Eine Einschränkung, die die genaue Identifizierung mit dem tamilischen System verhindert, ist die Rolle des Simplex bei transitiven Verben: Dieses weist dem Subjekt der Handlung nicht die gleiche semantische Rolle zu wie das Derivat dem Objekt. In einer umfassenden Untersuchung überträgt Metzger (2017: 215–283) das Schema auf das got. Verbalsystem und bespricht im Detail sämtliche ga-Verben der Wulfilabibel. Seine weiteren Analysen beschränken sich nicht auf das gaPräfix, die postulierte Systematik lässt sich für alle anderen Präverbien nachweisen. Zwar besitzen die meisten davon eine konkretere oder durchsichtigere lexikalische Semantik, in ihrer Verwendung treten sie aber auch oft mit abstrakter Bedeutung auf und lassen sich denselben funktionalen Klassen zuordnen (vgl. Metzger 2017: 367). Für meine Zwecke ist es nicht nötig, das Präfix ✶ga- ausschließlich im Zusammenhang mit anderen altgerm. Vertretern dieser Wortartenklasse zu diskutieren oder seine generelle Sonderstellung hinsichtlich Grammatikalisierung und Funktionalisierung innerhalb des Präfigierungssets infrage zu stellen. Das ergibt sich zwar nicht aus einer indogermanistischen, wohl aber aus einer germanistischen Perspektive. Metzger (2017: 201) weist die Grundannahme einer Sonderstellung von ga- für das Got. zurück und sucht nach einer unifizierenden Erklärung für die Distribution sämtlicher Derivate und Komposita. Aufgrund des deutlich älteren Belegmaterials ist das sinnvoll, für das Deutsche ergeben sich aber zusätzliche Fragestellungen, die eine solche Differenzierung notwendig machen. Schließlich kann der Umstand, dass der tochtersprachliche Fortsetzer dt. ge- zwar am Aufbau eines komplexen Tempussystems beteiligt war, seine Produktivität aber im Gegensatz zu anderen ererbten Präfixen außerhalb des verbalen Bereichs vollstän-
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dig verloren hat, nicht ignoriert oder zum Zufall erklärt werden. Daher ist der verengte Fokus auf ✶ga- hier gerechtfertigt, auch wenn eine Untersuchung der Verwendung ahd. und as. Präverbien im Kontrast zum Got. sicher ein aussichtsreiches zukünftiges Forschungsfeld darstellt. Ich erachte die Systematik Metzgers aus verschiedenen Gründen als sinnvoll und mit wenigen Einschränkungen auf das Deutsche übertragbar. Daher verzichte ich darauf, Beispiele aus dem Got. zu besprechen und wende mich gleich zwei Textstellen zu, die zwar nicht Teil des untersuchten Korpus sind, aber in der germanistischen Diskussion zur Funktion des ahd. gi-Präfixes bereits einen gewissen exemplarischen Status haben und geeignet scheinen, die vorgestellten Funktionszuweisungen auch anhand des Ahd. zu illustrieren. Gerne werden solche Belege aus der Übersetzungsliteratur herangezogen, um entweder eine vermeintliche Dysfunktionalität des Systems oder einen ‚lockereren‘ und pragmatischen Gebrauch der Präfigierung im Vergleich zu anderen Sprachen zu zeigen: (12) Druhtines gheist chideda mih endi adum dhes almahtighin chiquihhida mih. See endi mih deda got so selp so dhih (I, 12, 16, 18) ‚Spiritus domini fecit me, et spiraculum omnipotentis uiuifacauit me. Ecce et me sicut et te fecit deus.‘ ‚Der Geist des Herrn erschuf mich und der Atem des Allmächtigen belebte mich. Sieh, mich (er)schuf Gott so gleich wie dich!‘ An dieser Stelle liegen in der ahd. Isidor-Übersetzung für das Perfekt lat. fecit einmal das ahd. Derivat chideda und einmal ein Simplex deda vor. Wedel (1987: 87) sieht in der Alternanz von Simplex und Derivat vor allem den bereits von Lloyd (1979: 79–86) postulierten Gegensatz von konstativem und komplexivem Aspekt, den er für seine Zwecke folgendermaßen auffasst: chideda bilde das Hauptereignis dieser Belegstelle, das unpräfigierte deda sei von sekundärer Bedeutung. Bei beiden Formen handle es sich zwar um abgeschlossene Tätigkeiten, was eine streng aspektuelle oder temporale Erklärung unmöglich macht, das Präfix betone aber vor allem die Wichtigkeit der jeweiligen Verbalhandlung für die entsprechenden Textabschnitte. Der Unterschied zwischen den beiden Formen durch „eine subjektive Anschauungsweise“ (Schrodt 2004: § S 115) ziehe auch hermeneutische Konsequenzen nach sich: Mit chideda werde das Resultat der Verbalhandlung hervorgehoben, da sich der Sprecher seiner Herkunft als Schöpfung Gottes gewiss sei, während der angesprochene Gesprächspartner erst davon überzeugt werden müsse (vgl. Wedel 1974: 51). Diese Interpretation ist für sich richtig und schlüssig und muss auch nicht gänzlich verworfen werden, sie geht
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aber in ihrem systematischen Anspruch einen Schritt zu weit. Auch eine solche Motivation durch den bestimmt gewissenhaften Übersetzer kann nur im Rahmen innersprachlicher Regularitäten entwickelt werden. Legen wir der Textstelle die schematischen Lesarten der gestiven und faktiven Diathese zugrunde, ergeben sich einfachere Strukturen: Im Falle von chideda wird auf das Ergebnis des Schöpfungsaktes referiert. Tatsächlich steht hier mit dem betroffenen Aktanten auch das Resultat der Handlung im Vordergrund. Das gestive deda lässt sich so deuten, dass in diesem Fall die Handlung des Subjekts selbst vordergrundiert werden soll. Der Fokus liegt nicht darauf, dass ‚ich‘ und ‚du‘ erschaffen wurden, sondern dass ‚wir‘ ‚auf die gleiche Art und Weise‘ erschaffen wurden. Der Übersetzer nutzt hier das Potenzial von Derivat und Simplex, um die Aufmerksamkeit des Lesers einmal auf den Effekt der Verbalhandlung und den betroffenen Aktanten und einmal auf die Tätigkeit des Subjekts zu lenken. Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht wichtig, ob man dabei auf den Akt des Erschaffens selbst oder dessen Abschluss mit dem gleichen Ergebnis referiert.50 Die Handlung wird jedenfalls von der in diesem Fall besonderen Tätigkeit des Subjekts aus konstituiert. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass diese Stelle weniger wichtig sein sollte als die vorangehende, auch der weitere Kontext gibt dazu keinen wirklichen Hinweis. Simplex und Derivat treten hier vielmehr in ihren vermuteten funktionalen Domänen auf. Auch in der folgenden Textstelle wird das Perfekt lat. audierunt ‚(er)hören‘ mit einem Simplexverb übersetzt, vgl. (13): (13) Alle so manage so quamun thioba sint inti scachera: ni hortun sie thiu scaf. (T 133, 9) ‚Omnes quotquot venerunt fures sunt et latrones, sed non audierunt eos oves.‘ ‚Alle, die auf diese Weise kamen, sind Diebe und Schächer. Die Schafe erhörten sie nicht (/gehorchten ihnen nicht).‘ Das ahd. horan tritt hier mit einer spezifischeren Bedeutung ‚gehorchen, folgen, erhören‘ auf. Zu dieser Stelle aus dem Johannesevangelium (10, 8) sei gesagt: Es geht in dem Gleichnis darum, dass die Diebe, die für die falschen Propheten stehen, den Stall nicht durch die Tür betraten, sondern sich mit unlauteren Mitteln
Der lat. Text der Vulgata (Hiob 33,6) lässt hier mehrere Lesarten zu, die meisten neuzeitlichen Übersetzungen betonen ebenfalls die Art und Weise des Schöpfungsaktes. Das ergibt sich auch aus dem Kontext, da im Anschluss auf das Material Bezug genommen wird, aus dem der Mensch gefertigt worden ist, nämlich Lehm bzw. Ton oder Erde.
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Zutritt verschafften. Aus diesem Grund wurden sie von den Schafen nicht erhört und diese gehorchten ihnen dementsprechend auch nicht. Wedel (1987: 87) scheint hier vielmehr das Verb horan als bloße Sinneswahrnehmung aufzufassen und erklärt die Übersetzung des punktuellen lat. Perfekts mit dem ahd. Simplexverb wieder mit dem konstativen Aspekt, der ausdrücke, dass es sich nicht um das Hauptereignis der Stelle handle. Dieses wäre demnach das Eindringen der falschen Propheten und nicht die Reaktion der Gemeinschaft. Auch diese Auslegung ist nicht wirklich gut begründbar, zum Verständnis des Gleichnisses sind schließlich alle Komponenten gleichermaßen wichtig. Fasst man hingegen die Verbalhandlung gestiv auf, lässt sich die Wahl des Simplexverbs leichter erklären: Es mag sich zwar um eine punktuelle Tätigkeit handeln,51 allerdings tritt hier keine wahrnehmbare Zustandsänderung im eigentlichen Sinne ein. Durch die Negation wird deutlich, dass an dieser Stelle eigentlich überhaupt nichts geschieht.52 Schließlich ist es nicht so, dass die Schafe gerade den Eindringlingen nicht gehorchen, sondern generell niemandem, der nicht der Hirte ist. Der Akt des ‚Nicht-Gehorchens‘ hat insofern keinerlei Effekt, als sich kein Aktant ausmachen lässt, der davon betroffen wäre; schon gar nicht die Schafe selbst, aber auch nicht die Eindringlinge. Durch den subjektorientierten Fokus wird hier erneut die Verbalhandlung ausgehend vom Handlungsträger als unmittelbar mit eben diesem verbunden dargestellt. Ich sehe die Opposition von Gestivität und Faktivität als kategorielle Bedeutungsinhalte für das an, was gemeinhin in den altgerm. Sprachen als ‚Aspektsystem‘ angenommen wird. Im folgenden Unterkapitel werden die prototypischen funktionalen Bereiche des Präfixes gi- in der ahd. Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg und im as. Heliand einer Revision unterzogen. Um die Vorzüge der hier eingeführten Systematik zu demonstrieren, wird diese dabei mit traditionellen Ansätzen kontrastiert.
Das legt jedenfalls die lat. Vorlage nahe, wodurch eine nhd. Übersetzung entsprechend erschwert wird. Luther entscheidet sich an dieser Stelle für das aktional neutrale Verb gehorchen, was inhaltlich angemessener ist als erhören. Will man für das Althochdeutsche allerdings morphologische Mittel der Aspektualisierung (o. Ä.) annehmen, ist das Setzen des Simplexverbs natürlich irritierend. Ohne den lat. Text wäre aus gegenwartssprachlicher Sicht mangels lexikalischer und grammatikalischer Alternativen auch eine imperfektive oder durative Lesart möglich. Durch das Primat des Vulgatatextes ist aber anzunehmen, dass sich die frühmittelalterlichen Übersetzer keine solchen Freiheiten herausgenommen haben und das Simplexverb hier nicht die verbalsemantischen Verhältnisse der Vorlage verzerrt wiedergibt. gi-Präfixe treten, anders als oft suggeriert (vgl. etwa Schrodt 2004: § 112), öfter in Kontexten der ‚Nicht-Ausführung‘ auf, wie sich noch zeigen wird.
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2.3.2 gi- im Althochdeutschen und Altsächsischen 2.3.2.1 Überblick Frequenz, syntaktische Einbettung und pragmatischer Gebrauch der präfigierten Verben des Got. und anderen altgerm. Sprachen im Vergleich sind bislang noch nicht untersucht worden.53 Es gibt allerdings (theoretische) Argumente dafür, dass zwischen dem ostgerm. und dem westgerm. Modell zwar wesentliche Gemeinsamkeiten existieren, auf qualitativer und quantitativer Ebene aber auch Diskrepanzen sichtbar werden müssten. Ob diese diatopisch oder diachron erklärbar sind, lässt sich aufgrund der asymmetrischen Beleglage der beiden Sprachräume mit einem zeitlichen Abstand von über 400 Jahren nicht sicher entscheiden, zumal entsprechende Kategorisierungsfelder ohnehin mit zunehmenden zeitlichen Beobachtungsraum verschwimmen und aus synchroner Sicht generell unbrauchbar sind.54 Methodologisch besteht schon allein wegen des begrenzten historischen Korpus immer die Gefahr, von einzelnen Beleggruppen auf vermeintlich generelle Systematiken zu schließen. Die Gebrauchskontexte der germ. Präfigierung sind ebenso heterogen wie ihre semantischen und syntaktischen Leistungen. Es lassen sich verschiedene funktionale Klassen zeigen, aber nicht einer davon stehen keine Einzelbelege gegenüber, die eben dieser Funktionalität widersprechen würden. Hinzu kommt außerdem, dass unser modernes Textverständnis nicht immer philologische Gewissheit für genau eine bestimmte Lesart garantieren kann, wodurch zahlreiche ambige Fälle das Ergebnis je nach Interpretation in die eine oder andere Richtung verzerren können. Auch bei der Annahme einer Opposition von Gestivität und Faktivität ergibt sich dieses Problem, im Verhältnis zu temporalen oder aspektuellen Lesarten vielleicht sogar noch mehr. Es ist sicher nicht möglich, in jedem Fall die Motivation des Schreibers für die Wahl der jeweiligen Option nachzuvollziehen. Dabei wäre es natürlich naheliegend, sich zunächst auf jene Fälle zu konzentrieren, in denen bisherige Forscher einen ‚falschen‘ Aspekt gesetzt sehen. Bei den bereits diskutierten Belegen aus der Übersetzungsliteratur handelt es sich allerdings um Ausnahmeerscheinungen und für genuin deutsche Texte fehlen gerade die Stellen, für die durch die Vorlage eine eindeutige aspektuelle Lesart gesichert ist. Allerdings gibt es einige Fälle, die bisher nur durch Ausnahmen oder Insuffizienz des Systems erklärt werden konnten; hier ergeben sich neue Deutungsansätze. Die gewonnenen Erkenntnisse dieses Unterkapitels sind bereits vor Einreichung der Monographie in einen inzwischen publizierten Artikel eingeflossen (vgl. Fleißner 2020: 119–132). Manche Autoren sehen überhaupt keinen Zweck im Heranziehen got. Sprachmaterials als Vergleichsbasis für das Deutsche, etwa Binnig (1998: 977–978).
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Möchte man ein germ. Aspektsystem vor dem Hintergrund dieser neuen Funktionszuweisungen diskutieren, ist es also zunächst sinnvoll, auf jene Kontexte genauer einzugehen, die bisher im Lichte gängiger Aspekttheorien als Bestätigung für das Vorhandensein dieser oder jener Kategorie angesehen wurden. Die folgende qualitativ-kritische Besprechung orientiert sich daher an den Prototypen der altgermanistischen Forschung.55 Im Vordergrund stehen damit auch die funktionalen Bereiche, die in der angestrebten empirischen Untersuchung die größten Teile des untersuchten Korpus ausmachen. Das betrifft zunächst die transitiven Verben mit terminativem Potenzial, an denen die Unterscheidung von Derivat und Simplizia nach den bisherigen Erkenntnissen am deutlichsten hervortritt. Dazu gehören auch die hochfrequenten Sprechakt- und Wahrnehmungsverben. Diesen Kontrastivbereichen folgen jene, in denen Simplex und Derivat als mehr oder weniger komplementär verteilt gelten. Dabei handelt es sich um Befehlskontexte und Phasenverben sowie inhärent terminative Verben mit einer Affinität zum Simplex und partizipiale Formen des Passivs und des Perfekts mit quasiobligatorischer Präfigierung. Sowohl für das Ahd. als auch das As. sind zahlreiche gi-Derivate belegt. Will man allerdings ebendiese mit Simplexverben kontrastieren, die in ihrem Verwendungskontext und ihrer morphologisch-kategorialen Beschaffenheit für einen solchen Vergleich überhaupt geeignet sind, reduziert sich die Zahl selbst unter Einbezug mehrerer altgerm. Sprachen deutlich, was eine größere quantitative Untersuchung in dieser Hinsicht unmöglich macht. Es ist also davon auszugehen, dass sämtliche Beobachtungen zur Funktionalität der ahd. und as. Präfigierung entweder auf Basis der Derivate allein, im Vergleich der Derivaet zu Simplizia anderer Verbalstämme oder – wie auch hier – einer insgesamt sehr kleinen Auswahl geeigneter Paare getroffen wurden.56 Unter Einbezug weiterer Belege anderer altgerm. Sprachen ist es zwar leicht möglich, zusätzliche Paare mittels rekonstruktionsphilologischer Methoden zu vervollständigen, die pragmatischen Kontexte sind aber so heterogen, dass die bloße Erschließung morphologischer Formen kaum Rückschlüsse auf die Funktion der Präfigierung an sich zulässt. Wie bereits angesprochen, geht die grammatische Funktionszuweisung dabei nämlich auch mit einer textpragmatischen einher. Nach Metzger (2017: 215) ist vor allem die Unterscheidung zwischen Tatsachenberichten und übrigen Aussagen grundlegend: Während ga- im Got. vor allem dort erscheint, wo ein objektiver Verlauf chronolo-
Zwecks Vergleichbarkeit wird hier der Gliederung von Metzger (2017: 215–280) gefolgt. Diese forschungspragmatische Tatsache spiegelt sich auch darin wider, dass zur Beschreibung der Opposition meistens auf die hochfrequenten Verba dicendi oder Wahrnehmungsverben zurückgegriffen wird (etwa bei Schrodt 2004).
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gischer Vorgänge geschildert wird, ist außerhalb des Berichts die subjektive Einstellung des Sprechers zur Aussage dafür entscheidend, ob ein Präfix gesetzt wird oder nicht. Zu diesem Schluss kommt auch Schrodt (2004: § S 105) für das Ahd. bei Otfrid: Das Simplex sei die präferierte Form für theoretische Erörterungen und Kommentare, das „Kompositum“ die geläufige Form in der Narration. Das würde bedeuten, dass es eine starke Korrelation von Präfigierung und morphologischem Tempus geben muss und die postulierte aspektuelle Opposition ‚Simplex: Derivat‘ am deutlichsten in präteritalen (und indikativen) Kontexten hervortritt. Dabei handelt es sich jeweils um einen induktiven Schluss, im Zuge der empirischen Untersuchung in Kap. 5 müssen diese Hypothesen neu diskutiert und gegebenenfalls falsifiziert werden. Vorerst genügt diese Annahme aber als Orientierung und Gliederungshilfe. Die gesonderte Betrachtung einzelner morphologischer Tempora ist demnach bei den folgenden Analysen noch nicht mit einer Diskussion über generelle zeitreferenzielle Verhältnisse verbunden. 2.3.2.2 Präteritale Kontexte Die nachfolgende Besprechung beschränkt sich auf jene präteritalen Belege, aus deren Kontext klar hervorgeht, dass das präfigierte Verb einen grenzbezogenen57 (und transitiven) Sachverhalt in der Vergangenheit darstellt. Das betrifft, wie aus den bisherigen Erkenntnissen der Forschung hervorgeht, einen recht großen Teil der gi-präfigierten Verben (vgl. Behaghel 1924: § 595 und Schrodt 2004: § 2). Ist man also bestrebt, den Unterschied zwischen Simplex und Derivat mit den Gegensatzpaaren ‚Handlung vs. Vollendung‘ oder ‚NichtGrenzbezogenheit vs. Grenzbezogenheit‘ über positive Evidenz zu beschreiben, ist der Nachweis leicht zu erbringen, sofern man sich damit begnügt, die Gesamtheit der präfigierten und der unpräfigierten Verben in Vergangenheitskontexten gegenüberzustellen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für einen direkten Vergleich von Simplex und Derivat des gleichen Verbs selbst bei größeren narrativen Texten nur einige wenige geeignete Stellen infrage kommen und die tatsächlichen Kontrastbelege daher rar gesät sind. Einige davon sollen hier herausgegriffen werden. Im ununterbrochenen narrativen Duktus ist die Grenzbezogenheit von aufeinanderfolgenden Verbalhandlungen oft, aber nicht immer eine textgrammatische Notwendigkeit. Wenn sie allerdings vorliegt, ergibt sie sich manchmal aus einzelnen
Diese Grenzbezogenheit mag bei manchen Autoren auch ‚perfektiv‘ genannt werden, ich beziehe mich dabei, wie bereits besprochen, auf eine Grenzbezogenheit im außersprachlich wirklichen Sinne. Ich entscheide mich an dieser Stelle für den Terminus ‚terminativ‘, der inhaltlich am angemessensten zu sein scheint.
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Aussagen selbst, meistens aber auch nur aus dem Kontext. Besonders Ortsveränderungen eignen sich gut zur Identifizierung von sequenziellen Abfolgen, vgl. (14): (14) Det er, so sie quatun joh inan ouh tho batun, al so sie nan beitun, in hus inan gileitun; Tho wan ih sie gisazin, thaz sie saman azin, (O V, 10, 13)58 ‚Er tat so, wie sie ihn fragten und ihn auch baten, so wie sie ihn drängten, in das Haus begleiteten sie ihn; Da, so glaube ich, setzten sie sich, um gemeinsam zu essen.‘ Die Verbalhandlung gileitun kommt hier zu einem (erfolgreichen) Abschluss im betrachteten Zeitraum: Die Jünger begleiten Christus in ein Haus. Mit dem Erreichen des Ziels, das die Folgeverse implizieren, wird die Verbalhandlung hinsichtlich ihres Andauerns begrenzt. Auch die unpräfigierten Verben quatun, batun und beitun lassen sich umgekehrt als aterminativ lesen, wenn man das möchte, allerdings erlaubt der Kontext keine eindeutige Interpretation.59 Alle Belege von ahd. gileiten bei Otfrid können auf diese Weise interpretiert werden. Mit der Präfigierung korreliert hier also wenigstens eine Vollendung der Verbalhandlung in textorganisatorischer Hinsicht. Im Umkehrschluss bedeutet das zwar nicht, dass das dazugehörige Simplex leiten keine terminative Lesart aufweisen kann, eine aterminative Auffassung der Verbalhandlung ist aber bei vielen Simplizia möglich, vgl. (15): (15) Zi themo gotes hús fuar si sár, joh léita si ira dága thar, kúmta thár thaz ira sér, ni ruahta gómmannes mér (O I, 16, 7) ‚Zum Haus Gottes fuhr sie dann und verbrachte ihre Tage da, sie beklagte da ihr Leid, nie mehr begehrte sie einen Mann.‘ Im betrachteten Zeitraum kommt die Verbalhandlung leita zu keinem eindeutigen Abschluss, wie aus den folgenden Versen hervorgeht. Es wird vielmehr über einen hintergrundierten Sachverhalt informiert, vor dem sich die eigentliche Handlung abzeichnet. Auch in der folgenden Textstelle erlaubt der Kontext keine terminative Lesart:
Die Versangaben beziehen sich immer auf den Vers, der das besprochene Verb beinhaltet. Eine aterminative Lesart ist nur mit einer subjektcharakterisierenden Übersetzung möglich, die allgemeine Aussagen über das Verhalten der Menschen trifft.
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(16) Tho námun nan, so ich zálta, thie sine fíanta joh léittun nan mit zórne zi des selben crúces hórne. Wás tho thar ingégini thes líutes mihil ménigi, thie fólgetun imo álle zi sin selbes tóthes falle. (O IV, 26, 2) ‚Da ergriffen ihn, wie ich erzählte, seine Feinde und führten ihn voller Zorn zu desselben Kreuzesende. Da war gegenüber eine große Menge an Leuten, die folgten ihm alle zu seiner eigenen Todesfalle.‘ Christus wird zum Kreuz geführt, aber auch hier gilt: Im betrachteten situativen Rahmen kommt er dort (noch) nicht an. Zunächst wird eine weitere parallele Sequenz eingeführt. Das as. Kognat ledian ist im Heliand nur als Simplex belegt, auch in der as. Genesis kommt kein ✶giledian vor. Ob das ein Hinweis darauf sein könnte, dass bei diesem (und anderen) Lexemen im As. schon ein Abbau des Präfixes sichtbar wird oder nur die Kontexte überliefert sind, in denen der Dichter sowieso ein Simplex gesetzt hätte, lässt sich nicht genau beantworten. Jedenfalls können die meisten Belege von ledian ebenso wie im Ahd. aterminativ gelesen werden, vgl. (17): (17) Sie ni habdun thanan gisîðeas mêr, bûtan that sie thrie uuârun: uuissun im thingo giskêð, uuârun im glauue gumon, the thea geƀa lêddun. Than sâhun sie sô uuîslîco undar thana uuolcnes skion, up te them hôhon himile, huô fôrun thea huuîton sterron – (H 656) ‚Sie hatten kein Gesinde mit, da sie nur drei waren: Sie wussten über die Dinge Bescheid, waren weise Männer, die Gaben brachten. Dann blickten sie so weise zwischen die Wolkendecke auf zum hohen Himmel, wo die Sterne dahinzogen.‘ Die drei Weisen führen Geschenke mit sich, sie bringen sie aber an dieser Stelle noch nicht an ihren Bestimmungsort. Dieser wird ihnen im weiteren Verlauf der Handlung erst durch den Stern gezeigt. Für die meisten Belege im Präteritum lässt sich zweifellos feststellen: Transitive Derivate sind in der Regel zumindest auch terminativ. Das gilt sowohl für das Ahd. bei Otfrid als auch das As. des Heliand. Möchte man das als Beleggrundlage für den schablonenhaften Nachweis typologisch gesicherter Muster
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der Aspektverteilung heranziehen, mag sich ein stimmiges Bild für die altgerm. Sprachen ergeben. Durch die generelle Verengung des Fokus auf das Derivat ist diese spezifische Funktionszuweisung allerdings einseitig, da sie nicht in Opposition zum Simplex in dem Sinne zu verstehen ist, dass durch das Fehlen des Präfixes das grammatische Gegenteil davon bezeichnet wird. Zwar lassen sich viele Simplizia, wie aus den bisher besprochenen Stellen hervorgeht, aterminativ oder unabgeschlossen lesen, aber es gibt einige Ausnahmen. Ich bleibe zunächst bei ahd. leiten und as. ledian: (18) Ich zéllu iu ouh scono líubi: thar nám er sin giróubi, sid er nan thár ubarwánt, joh léitta in ánderaz lant, In himilgúallichi, sines sélbes richi, kráftlicho filu frám, so imo sélben gizam; (O V, 4, 52) ‚Ich erzähle euch noch andere Erfreuliches: Da nahm er seine Beute, nachdem er ihn überwunden hatte, und führte sie in ein anderes Land, zur Herrlichkeit des Himmels, in sein eigenes Reich, überaus mächtig, wie es ihm gebührt;‘ Hier liegt eine einmalige Verbalhandlung in der Vergangenheit vor, deren Nachwirkung zwar bis in die Gegenwart Bestand hat, die aber in der geschilderten Situation abgeschlossen wird. Nach dem Sieg über den Tod überführt Christus die ‚Beute‘60 ins Himmelreich. In weiterer Folge wird innerhalb der direkten Rede, in die diese Passage eingebettet ist, auf die unmittelbar davor erfolgte Auferstehung Christi referiert. Da der Abstieg in die Unterwelt zwischen Kreuzigung und Auferstehung stattfindet und eine lineare Progression vorliegt, wird die Handlung zum Zeitpunkt der Rede bestimmt nicht mehr als im Verlauf befindlich gesehen. (19) Leittun sie nan ubar tház thar thaz héroti was, thára zi themo thínge, zi thero fúristono rínge. Thie búah duent thar mári, theiz sámbazdag tho wári, tho Kríst thes wolta thénken, thiz selba wúntar wirken. Tho frágetun thie fúriston joh thie héreston, wío er in thera gáhi so scóno gisáhi. (O, III, 20, 53)
Je nach theologischer Lehrmeinung ist damit etwa die Überwindung des Gesetzes der Negation gemeint bzw. die Vergebung der menschlichen Sünden durch alle Zeiten hindurch, also auch die Befreiung der rechtschaffenen Seelen vor Christus.
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‚Sie führten ihn dorthin, wo sich die Herrschaft befand, da hin zu dem Versammlungsort, zum Kreis der Fürsten. Die Schrift berichtet uns, dass Sabbat war, als Christus es erwog, eben dieses Wunder zu wirken. Da fragten ihn die Fürsten und und Höchsten, wie er denn auf einmal nun wieder so gut sähe.‘ Die Verbalhandlung leittun wird hier ebenfalls eindeutig begrenzt, daran ändert auch der eingeschobene Kommentar nichts. Ein von Christus geheilter Blinder wird von der Gemeinschaft zum Richtplatz gebracht, damit dort in offiziellerem Rahmen über die ihm widerfahrenen Wunder gesprochen werden kann. Das darauffolgende Geschehen spielt sich bereits vor Ort ab. (20) Thô nâmon ina uurêðe man sô gibundanan, that barn godes, endi ina thô lêddun, thar thero liudio uuas, there thiade thinghûs. Thar thegan manag huurƀun umbi iro heritogon. (H 5123) ‚Da nahmen die Männer zornig ihn, so gebunden, wie er war, das Kind Gottes, und führten ihn dorthin, wo diese Leute, des Volkes Gerichtshaus war. Dort saß so mancher Gefolgsmann bei seinem Herzog.‘ In (20) ist das Simplex leddun wohl ebenfalls als abgeschlossen zu interpretieren, auch wenn die folgenden Verse die Begebenheiten vor Ort schildern und nicht ganz klar ist, ob die aufgebrachte Menschenmenge bereits angekommen ist. Der weitere Verlauf der Handlung legt das aber nahe, da nicht weiter auf den Weg zum Gerichtshaus eingegangen wird. Auch in der Parallelstelle bei Otfrid wird an hier ein Simplex trotz abgeschlossener Handlung gesetzt, vgl. (21): (21) Tho léittun nan thie líuti, thar was thaz héroti; (O, IV, 20, 1) ‚Da führten ihn die Leute dorthin, wo sich die Herrschaft befand.‘ Mit den temporal-aspektuellen Gegensätzen der Abgeschlossenheit und NichtAbgeschlossenheit fällt es schwer, selbst mehr oder weniger ‚komplette‘ Verbpaare und ihre Distribution schlüssig zu erklären. Natürlich könnte man annehmen, dass zum Zeitpunkt der ahd. und as. Überlieferung das System bereits brüchig war und diejenigen Belege, die nicht in die Systematik passen, der Unsicherheit
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des jeweiligen Schreibers anlasten. Dagegen spricht aber, dass wir im Got., dessen Sprachstand fast ein halbes Jahrtausend älter und damit unabhängig von arealer Unterschiede auch in dieser Hinsicht bestimmt archaischer ist, ebenfalls zahlreiche solcher Belege finden, die sich den traditionell angesetzten Regularitäten entziehen. Hier jedes Mal eine Ungenauigkeit oder mangelnde Kompetenz des Schreibers zu vermuten, ist mit Sicherheit nicht ausreichend. Die Alternative, das (Nach-)Wirken einer anderen Kategorie zu vermuten, ist wohl zielführender. Dazu braucht es zunächst nicht einmal jene Belege, in denen gegen die erwarteten Distributionsmuster das vermeintlich ‚falsche‘ Verb gesetzt wird. Ich wende mich erneut den Belegen (14–17) zu: Das expressive gileitun in (14) wird mit vorangegangenen Simplizia quatun, batun und beitun kontrastiert. Die Menschen drängen Christus dazu, ihr Bitten und Flehen zu erhöhen. Ihre subjektcharakterisierenden Emotionen werden mit gestiven Simplizia bezeichnet. Tatsächlich geschieht dadurch aber noch nichts, wodurch auch eine aterminative Lesart möglich wird. Das Brechen des Spannungsmomentes wird durch das faktive Derivat dargestellt. Das aufdringliche Verhalten gipfelt in einem konkret außersprachlich wahrnehmbaren Vollzug eines Bedürfnisses: Christus wird ins Haus geführt. Auch die Simplizia der folgenden Belegstellen lassen sich recht gut erklären. In (15) ist die subjektcharakterisierende Funktion des Simplex klar, eine andere Interpretation ist gar nicht möglich. Für (16) bedarf es kontextueller Informationen: Zunächst ist die Überführung Christi zum Kreuz an dieser Stelle als Rekapitulation aufzufassen, wird also als Thema nicht neu in den Text eingeführt. Im Prinzip handelt diese Passage nicht konkret von der Kreuzigung, sondern zunächst von den Taten und Emotionen der hasserfüllten Menge, was mit dem Zusatz mit zorne deutlich gemacht wird. Im Kontrast zu den blutrünstigen Häschern werden in weiterer Folge die weinenden Frauen Jerusalems und ihre Klage von Otfrid in Szene gesetzt. Die jeweiligen Handlungen dienen also zur Charakterisierung und zur Gegenüberstellung ihrer Träger. In Belegstelle (17) aus dem Heliand ist die gestive Funktion des Simplex wieder deutlicher erkennbar. Hier geht es um die Charakterisierung der Weisen, die unter anderem auch das Mitführen der Geschenke beinhaltet. Weder der Status des (noch nicht) Beschenkten noch jener der Gaben selbst ist hier im eigentlichen Sinne betroffen. Während die weisen Männer als ‚Geschenkebringer‘ charakterisiert werden können, ist das im umgekehrten Fall nicht möglich. Die Geschenke erhalten durch die Handlung nicht den charakterisierenden Status eines besonders relevanten ‚Gebrachten‘. Auch die Belege, in denen die Simplizia abgeschlossene Handlungen darstellen, können gestiv aufgefasst werden. Ähnlich wie bei (17) muss auch für Beispiel (18) eine subjektcharakterisierende Funktion des Simplex angenommen werden. Die Motivation Otfrids könnte folgendermaßen erklärt werden: Erneut wird an dieser Stelle rekapituliert und Christus‘ Gang in die Unterwelt zum wiederholten
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Male angesprochen. Eingebettet ist diese Stelle in eine längere Passage, in der Otfrid die Macht des Heilands demonstriert. Mit dem Sieg über den Tod, dem Mitführen der Beute und anderem wird katalogartig dessen Konstitution abgearbeitet. Der Status der jeweiligen Objekte bleibt dabei unterspezifiziert, die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf die Handlung des Subjekts gelenkt. Auch in Belegstelle (19) macht die Hervorhebung der Beteiligung des Subjekts an der Handlung im Kontext des Geschehens Sinn: Otfrid schildert hier die Auswirkungen eines Wunders (nämlich die Heilung des Blinden) auf das einfache Volk (armilichun wizzi O, III, 20, 41). Dieses ist in heller Aufregung und möchte unbedingt die Identität des Wundertäters in Erfahrung bringen. Zunächst wird der geheilte Blinde eindringlich befragt, der aber zu keiner befriedigenden Auskunft fähig ist. Deshalb beschließt die Menge, eine höhere Instanz zu konsultieren und bringt den Mann am Sabbat zum Gerichtsplatz. Dass es ihnen ein Anliegen ist, die Angelegenheit zur offiziellen Sache zu machen, unterstreicht einerseits ihr Bedürfnis, mehr über das getane Wunder zu erfahren und andererseits ihr Unvermögen, mit den neuen Gegebenheiten umzugehen. Die Simplizia aus (20) und (21) können auf ähnliche Weise gedeutet werden: Auch an dieser Stelle geht es nicht vordergründig darum zu erzählen, was Christus erleidet, sondern zu welchen Taten die aufgestachelte Menge fähig ist. Diese wird über ihre Taten des Schlagens, Beschimpfens und Spuckens charakterisiert. Schlussendlich führen die Menschen ihr Opfer vor den Statthalter, um dem Strafvollzug beiwohnen zu können. Ist mit der Verbalhandlung auch eine physische Manipulation von Aktanten verbunden, etwa durch Ortsveränderung, können unter Annahme der Opposition von Gestivität und Faktivität die meisten Belege erklärt werden, z. B. bei ahd./ as. beran und giberan ‚gebären, (aus)tragen‘. Auch hier lassen sich viele Kontrastbelege nicht mittels temporal-aspektueller Unterschiede beschreiben, sondern über die Hervorhebung der subjektbezogenen Tätigkeit (22) oder eines von der Handlung betroffenen Aktanten (23), der mit dem Resultat ‚Kind‘ identisch ist: (22) Múater ist si máru, joh thíarna thoh zi wáru, si bar uns thúruhnahtin then hímilisgon drúhtin. (O, I, 11, 54) ‚Sie ist die hochgerühmte Mutter, doch auch Jungfrau war sie, sie gebar uns in ihrer Vollkommenheit den himmlischen Herrn.‘ (23) Thiz íst min sún diurer, in hérzen mír ouh líuber; in imo líchen ih mir ál, theih inan súlichan gibár. (O, I, 25, 18) ‚Dies ist mein teurer Sohn, im Herzen ist er mir lieb; In ihm erfreue ich mich vollkommen, da ich ihn als solchen gebar.‘
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Auch bei irrealen Sachverhalten, die sich ohnehin einer eindeutigen temporal-aspektuellen Verortung entziehen, bleibt die Opposition bestehen, vgl. (24) und (25): (24) That mugun gi undarhuggean uuel, that eo the uƀilo bôm, thar he an erðu stâd, gôden uuastum ne giƀid, nec it ôc god ni gescôp, that the gôdo bôm gumono barnun bâri bittres uuiht, (H 1748) ‚Das mögt ihr bedenken gut, dass euch der üble Baum, der hier auf Erdem steht, nichts Gutes gibt, wie es auch Gott nicht schuf, dass der gute Baum dem Menschen etwas Bitteres hervorbringe.‘ (25) Thô uuas êndago allaro manno thes uuîsoston, thero the gio an thesa uuerold quâmi, thero the quene ênig kind gibâri, idis fan erle, lêt man simla then ênon biforan, the thiu thiorne gidrôg, the gio thegnes ni uuarð uuîs an iro uueroldi (H 2787) ‚Da war das Ende des Weisesten aller Menschen, der je in diese Welt kam, von allen Kindern, die da von einer Frau geboren werden, wenn man nur den einen weglässt, den die Jungfrau gebar, die in ihrem Leben nie erkannt ward von einem Mann.‘ Auch bei diesen Verben sind die Verhältnisse im Ahd. und As. ähnlich wie bei got. bairan bzw. gabairan (vgl. Metzger 2017: 315–319). In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass auch im Got. die Belege, die sich nicht auf das Gebären von Kindern beziehen, sondern auf das Hervorbringen von Früchten, fast ausschließlich als Simplizia belegt sind. Die ursprüngliche Bedeutung ‚(Früchte) tragen‘ scheint also beim Simplex noch durch, während das Derivat vorrangig das hervorgebrachte Resultat bezeichnet. Es gibt bestimmte Gruppen von Verben, bei denen der potenzielle betroffene Aktant deutlich abstrakter ist, etwa Wahrnehmungsverben wie ahd. horen oder sehan. Hier hat man mitunter den Eindruck, stärker ‚synonyme‘ Sachverhalte vorzufinden, bei denen die Wahl von Simplex oder Derivat nicht so einfach erklärt
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werden kann. Da es gerade diese hochfrequenten Verben sind, anhand derer oft vermeintliche Aspektunterschiede demonstriert werden, lassen sich in der bisherigen Forschungsliteratur interessante Beobachtungen finden, die allerdings von dem Bedürfnis geprägt zu sein scheinen, ein germ. Aspektsystem beschreiben zu wollen. Exemplarisch dafür kann die Besprechung der „Aspektbereiche bei Otfrid“ in der ahd. Grammatik von Schrodt (2004: § 105–§ 115) genannt werden. Abgesehen von traditionellen Zugängen der Aspektforschung nach Breu (1985, 1988, 1994) werden auch die Ansätze von Lloyd (1979) weiterverfolgt, was mitunter zu Konfliktsituationen führt. Was die Funktion der gi-Präfigierung betrifft, begegnen uns also erneut temporal-aspektuelle Funktionszuschreibungen und zusätzlich noch die textsemantische „Wichtigkeit des Handlungsmoments“ (Schrodt 2004: § 111). Der Autor ist sich dieser Schwierigkeiten bewusst, was vor allem dann deutlich wird, wenn er die Kategoriengrenzen überschreitet. Es sind gerade diese Beobachtungen, die im Zusammenhang mit der hier eingeführten Opposition von Gestivität und Faktivität besonders interessant sind: Das Kompositum ist in Stellen zu sehen, wo man unmittelbar an die Erzählung von Tatsachen anknüpft; das Simplex dagegen, wo die Zeit einer möglichen Begegnung unbestimmt bleibt. Das Kompositum wird gebraucht, wenn von einer Erfahrung Zeugnis abgelegt wird. […] Das Simplex im Gegensatz zum Kompositum wird gebraucht, wenn die Handlung betont und die Vorstellung des Resultats beiseite gelassen wird. Die Tat bezieht sich im zweiten Fall ganz auf das Subjekt. (Schrodt 2004: § 115)
Durch die positive Definition des Simplex, die man in der germanistischen Fachliteratur generell selten antrifft, ist bereits alles angelegt, was es für die Beschreibung der Verteilung unterschiedlicher morphologischer Formen braucht. Die Analysen der einzelnen Belegstellen und ihre jeweilige Zuordnung zur kursiven, komplexiven und konstatierenden Aspektfunktion (s. o.) sind deswegen natürlich nicht weniger präzise. Sie sind aber zur Binarisierung nicht geeignet, was anhand jener Verben sichtbar wird, deren Form nicht mit der angenommenen Funktionszuweisung korreliert. Wahrnehmungsverben zeichnen sich durch die Besonderheit aus, dass trotz ihres transitiven Potenzials der Effekt der Verbalhandlung nur am Subjekt selbst sichtbar werden kann. Der betroffene Aktant im eigentlichen Sinne ist nicht die Information, die wahrgenommen wird, sondern die Beziehung des Subjekts zum erschlossenen Gedächtnisinhalt, die über eine mehr oder weniger sichtbare Folgewirkung zutage tritt. Ein gesehener oder gehörter Sachverhalt ist daher keine affizierte Entität, sondern vielmehr eine effizierte und die Existenz des Objektes damit in der Aktualisierung der Verbalhandlung präsupponiert. Die Verteilung von Simplex und Derivat bei solchen Verben ist wiederum davon abhängig, ob die Verbalhandlung unmittelbar vom Subjekt aus oder vom Effekt der Wahrnehmung und ihrer Fol-
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gewirkung konstituiert wird. Mitunter gewinnt man auch hier den Eindruck, gi- erschiene besonders häufig dann, wenn die Wichtigkeit des Handlungsmoments hervorgehoben werden soll (vgl. Schrodt 2004: § 115). Das liegt wohl daran, dass die Markierung eines Handlungseffekts in textorganisatorischer Hinsicht größere Auswirkungen hat, weil dieser als semantischer Konnektor fungiert, besonders bei unmittelbaren wenn-dann-Beziehungen. (26) Ságetun thaz sie gáhun stérron einan sáhun, joh dátun filu mári, thaz er sín wari. (O, I, 17, 19) ‚Sie sagten, dass sie kürzlich einen Stern sahen, und überall machten sie bekannt, dass er seiner wäre.‘ (27) Wir sáhun sinan stérron, thoh wir thera búrgi irron, joh quámun, thaz wir bétotin, gináda sino thígitin. (O, I, 17, 21) ‚Wir haben seinen Stern gesehen, aber wir finden die Stadt nicht, und wir kamen, um ihn anzubeten, um seine Gnade zu erbitten.‘ (28) Sie blídtun sih es gáhun, sár sie nan gisáhun, joh filu fráwalicho sin wártetun gilicho. (O, I, 17, 55) ‚Sie freuten sich sogleich, als sie ihn (= den Stern) erblickten, und überaus froh betrachteten sie ihn gleichermaßen (/zusammen).‘ Die Simplizia in (26) und (27) identifiziert Schrodt mit dem konstatierenden Aspekt. Dieser markiere vor allem vergangene Sachverhalte, die als statische Zustände in der Vergangenheit wiedergegeben werden. Der komplexive Aspekt in (28) dagegen stelle einen wichtigen Erlebnismoment mit Hervorheben ihrer Endgrenzen dar, um beim Rezipienten einen stärkeren Eindruck zu evozieren (vgl. Schrodt 2004: § 115). Auch hier wird die aspektuelle Funktion des giPräfixes wieder kumulativ beschrieben: Einerseits wird versucht, etablierte Aspektdefinitionen zu berücksichtigen. Die Hervorhebung der Endgrenzen der Verbalhandlung deuten darauf hin. Andererseits wird mit der vagen textsemantischen Qualitätszuschreibung der ‚Wichtigkeit des Handlungsmomentes‘ eine davon völlig unabhängige und dazu schwer zu falsifizierende Funktion kategoriell eingeführt. Vergleicht man die drei Textstellen, fällt auf, dass wie erwartet der Effekt der Verbalhandlung nur am Derivat aktualisiert wird. Das (Wieder-) Erblicken des Sterns erfreut die Weisen, die nun sicher sind, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Ein solch kausaler Zusammenhang fehlt bei (26):
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Nicht das Erblicken des Sterns selbst motiviert die Männer unmittelbar in ihrem Handeln. Die Aussagen können dementsprechend auch nicht mit einem kausalen Konnektor verbunden werden: ‚✶Sie machten überall bekannt, dass es seiner war, weil sie den Stern gesehen hatten‘. In Belegstelle (27) wird sogar explizit das Eintreten eines Effekts durch die entsprechende Verbalhandlung ausgeschlossen. Das gestive Simplex bezeichnet hier erneut nichts anderes als die Beteiligung des Subjekts an der beschriebenen Tätigkeit. Das faktive Derivat in (28) dagegen bezeichnet die Auswirkungen dieser. Die Wichtigkeit des Handlungsmomentes mag darin enthalten sein, dabei handelt es sich aber nicht um ein objektivierbares Charakteristikum. Auch die temporal-aspektuellen Merkmale der einzelnen Verben sind hier wiederum nicht entscheidend für die Verteilung von Simplex und Derivat, was im Zusammenhang mit den Beispielen (26) und (28) zu einem weiteren wichtigen Punkt führt: Die Markierung von relativen Vorzeitigkeitsverhältnissen wie in (28) wird mitunter als prototypische Funktion des gi-Präfixes angesehen, was die Annahme seiner perfektivierenden Funktion stützen würde (vgl. Kuroda 2005: 268). Das gilt aber nur für das Verhältnis der Derivate selbst zu jenen Derivaten, die in absoluten Zeitverhältnissen gesetzt werden. Innerhalb der Kontexte relativer Temporalität sind die Simplizia sowohl im Got., Ahd. als auch im As. in der absoluten Mehrheit (vgl. Heindl 2017: 85–86, Fleißner 2017: 28). Die beobachtbare Häufung von giin Kontexten der Vorvergangenheit muss nicht zwingend als Indiz dafür gewertet werden, dass das Präfix auf dem Weg war, an Autonomie einzubüßen und zum reinen Temporalitätsmarker zu werden. Einige diskutierte Fälle lassen sich wie die Verben in (26) und (28), die beide eine plusquamperfektische Lesart zulassen, erklären. Es könnte sich dabei allerdings um eine Voraussetzung für die Entwicklung einer verstärkenden temporalen Funktion handeln, die mit dem Abbau der ursprünglichen faktiven Funktion stärker zutage tritt. Das Simplex in Vorzeitigkeitskontexten wird häufig, allerdings nicht ausnahmslos, dann verwendet, wenn der Effekt der Verbalhandlung in keinem kausalen oder konditionalen Zusammenhang mit den Ereignissen des übergeordneten Hauptsatzes steht, wie es in folgendem Beispiel der Fall ist: (29) So si in ira hús giang, thiu wirtun sia érlicho intfiang, (O I, 6, 3) ‚Als sie das Haus betreten hatte, wurde sie von der Wirtin ehrlich empfangen.‘ In (29) liegt wieder eine rein temporale Abfolge vor. Natürlich ist das Betreten des Hauses eine Voraussetzung dafür, überhaupt empfangen zu werden, aber die Art des Empfangs ist nicht durch den Akt des Eintretens determiniert. Einige
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Verse später liegt ein Derivat in einem ebenfalls mit so (slíumo so) eingeleiteten temporalen Nebensatz vor: (30) So slíumo so ih gihórta thia stímmun thína: so blídta sih ingégin thir thaz min kínd innan mír (O, I, 6, 11) ‚So wie ich deine Stimme gehört hatte: Da neigte sich dir entgegen das meine Kind in mir.‘ In (30) finden wir wieder eine kausale Relation vor. Der Effekt der Verbalhandlung wird fokussiert und topikalisch im weiteren Verlauf der Erzählung ausgebaut. Solche vermeintlich identischen und tatsächlich kontrastierenden Belege lassen sich auch im Mhd. finden (vgl. Heindl 2017: 114 bzw. Zeman 2010: 142–145). Die unmittelbare kausale Beziehung von Haupt- und Nebensatz tritt bei vielen gi-Verben in Vorzeitigkeitskontexten deutlich hervor, manchmal lässt sich eine solche Interpretation nur über den erweiterten Kontext erschließen, vgl. (31) und (32): (31) Reht sô hi thes uuînes gedranc, sô ni mahte he bemîðan, ne hi far theru menigi sprac te themu brûdigumon, (H 2048) ‚Als er von dem Wein getrunken hatte, da konnte er es nicht lassen, vor der Menge zu dem Bräutigam zu sprechen.‘ (32) Thô uuarð thar thegan manag geuuar aftar them uuordun, sîðor sie thes uuînes gedruncun, that thar the hêlogo Crist an themu hûse innan têcan uuarhte. (H 2067) ‚Da wurden viele Gefolgsleuten der Worte gewahr, nachdem sie vom Wein getrunken hatten, dass da der heilige Christ in diesem Hause ein Wunder gewirkt hatte.‘ Das Derivat gedranc in (31) könnte dahingehend gedeutet werden, dass die berauschende Wirkung des Weines, die in der darauffolgenden Rede auch thematisiert wird, Christus dazu veranlasst, vor allen Gästen den Bräutigam auf der Hochzeit zu Kana zu belehren. Im Fall von gedruncun in (32) dagegen wird mit
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dem Trinken des Weines das zuvor gewirkte Wunder referenziert: Die Verwandlung von Wasser in Wein erfährt durch das Trinken Glaubwürdigkeit. Die Gäste werden dadurch von den Fähigkeiten Christi überzeugt und in weiterer Folge auch von seiner generellen Stellung als Sohn Gottes. Der getrunkene Wein erhält durch die Verbalhandlung den Status eines ‚Wahrheitsbezeugers‘. Das Wechselspiel von gestiven Simplizia und faktiven Derivaten stellt sich in präteritalen (und transititiven) Kontexten folgendermaßen dar: Kann eine Verbalhandlung eine Veränderung an einem betroffenen Aktanten hervorrufen, wie das bei Transitiva in der Regel der Fall ist, so hat der Sprecher bzw. der Schreiber grundsätzlich die Wahl, genau diese hervorzuheben oder nicht. gi- bezeichnet in solchen Fällen neben der ohnehin im Verb angelegten Grundsemantik üblicherweise auch im weitesten Sinne die Veränderung bzw. den wahrnehmbaren Effekt am Aktanten. Umgekehrt heißt das nicht, dass das Simplex in solchen Kontexten nie gesetzt werden kann, aber es ist definitiv seltener und auch dann motiviert. Der Aktant kann abstrakt sein, wie das etwa bei Wahrnehmungsverben oft der Fall ist. Alles das hat schon Lloyd (1979), der in diesen Fällen einen complete change sieht, festgestellt. Aber eine temporal-aspektuelle Funktion des Präfixes ist daraus nicht ableitbar, auch wenn der Abschluss der Verbalhandlung (und damit das Resultat) naturgemäß häufig mitenthalten ist. Das wird besonders dann deutlich, wenn in transitiven Kontexten stattdessen das Simplex verwendet wird: Bei einem aterminativen Vorgang findet meistens keine substanzielle Veränderung an einem Aktanten statt. Viele Verbalhandlungen können dadurch auch als ‚unabgeschlossen‘ gelten, dabei handelt es sich aber allenfalls um eine gewisse Tendenz. Vielmehr bezeichnet das Simplex die Handlungsweise des Subjekts und unterstreicht mitunter seine Motivation für die jeweilige Tätigkeit. Auf Basis dieser Erkenntnisse werden weitere prototypische Vorkommen und Nicht-Vorkommen des Präfixes besprochen, die bisher seine Funktion als Aspektualisierer vermuten haben lassen. 2.3.2.3 Präsentische Kontexte Die Zuordnung zur gestiven und faktiven Diathese erfolgt im Präsens genauso wie im Präteritum. Die Verhältnisse im As. unterscheiden sich dabei nicht von jenen des Ahd. Das Präsens kann aktuelle Ereignisse als progressiv darstellen, solche Fälle sind aber in narrativen Texten seltener. Häufig liegt eine eindeutig futurische Lesart vor, vor allem in Kommentaren überwiegen generelle Kontexte ohne zeitliche Begrenzung. Ich beschränke mich hier stellvertretend auf eine Auswahl jener Textstellen, denen bei Schrodt (2004) eine ‚komplexive Aspektfunktion‘ attestiert wird. Zunächst ist anhand temporaler und aspektueller Kriterien nicht ganz klar, wo-
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durch das Setzen von Simplex und Derivat motiviert sein soll. So fehle das Präfix gi- zwar, weil die inhärente Endgrenze der Verbalhandlung nicht ins Blickfeld gerate, die Simplizia werden aber dennoch als im Futur abgeschlossene Handlungen beschrieben. Im Zusammenhang damit ist zu erwähnen, dass das Merkmal der Komplexivität als mit dem Präsens inkompatibel definiert wird. Gemeint ist damit wohl mehr der semantische Gegenwartsbezug als das morphologische Tempus. Die Analyse der Derivate erfolgt wieder auf Basis des Merkmals der „Wichtigkeit des Handlungsmoments für das Subjekt“ (Schrodt 2004: § 111), die beim Simplex nicht gegeben sei, vgl.: (33) sie séhent sinaz ríchi, thie hohun gúallichi (O, V, 20, 82) ‚Sie werden sein Reich sehen, die hohe Herrlichkeit.‘ (34) Sehen óuh thar then dróst, thero éngilo thíonost; (O, V, 23, 293) ‚Sie sehen da auch den Trost, der Engel Verdienst.‘ (35) Nu thu thaz árunti so hárto bist formónanti: nu wird thu stúmmer sar, unz thú iz gisehes álawar; (O, I, 4, 66) ‚Nun da du die Botschaft so hart zurückweist: Nun wirst du stumm sein, bis du es sicher erkennst.‘ (36) „Thih deta ih míthont“, quad er, „wís, oba thu gilóubis, thaz thu gisíhis gotes kráft joh selben drúhtines máht.“(O, III, 24, 86) ‚„Dich lehrte ich soeben“, sprach er, „wenn du nur glaubst, dass du erblicken wirst Gottes Kraft und die Macht des Herrn.“‘ Die abgeschlossenen Handlungen, die die Simplizia in (33) und (34) bezeichnen, ergeben sich aus dem Kontext. Das Subjekt wird an Erfahrung reicher und sieht bzw. erlebt die verheißenen Wunder des Himmels. Auch die Derivate in (35) und (36) können als abgeschlossene Handlungen interpretiert werden, die jeweils einen einmaligen Vorgang bezeichnen. Fokussiert wird dabei wieder die Veränderung, die der betroffene Aktant durch die Verbalhandlung erfährt. In (35) ist diese physisch manifestiert (‚dann wirst du nicht mehr stumm sein‘), in (36) dagegen mental (‚dann wirst du überzeugt sein‘). Auch die Derivate, die laut Schrodt (2004: § 111) als nicht-abgeschlossene Handlungen zu verstehen sind, zielen auf den Effekt der bezeichneten Handlung ab. Die aktionale Interpretation ist in gewisser Weise richtig: Das Präfix
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gibt die Anfangsgrenzen einer Handlung an. Diese ist aber nicht auf die Verbalsemantik beschränkt, sondern vielmehr als Auslöser eines Effekts auf den fokussierten Aktanten zu verstehen und geht damit weit über die hier verortete Aktionsart der Ingressivität hinaus. Der Effekt kann wie in (37) implizit sein oder wie in (38) explizit: (37) In hérzen betot hárto kúrzero wórto joh lútoro tháre, thaz iz gót gihore! (O, II, 21, 18) ‚In euren Herzen betet da hart mit kurzen und lauten Worten, damit Gott es erhöre!‘ (38) So gibúrit mánne thara er so gínget thanne: gisihit thaz súaza liabaz sín, thoh fórahtit theiz ni mégi sin. (O, V, 11, 30) ‚So pflegt es dem Menschen oft zu ergehen: Erblickt er das, was ihm lieb ist, fürchtet er doch, es sei es nicht.‘ Ahd. gihore in (38) lässt sich im Kontext der Passage nur mit ‚erhöre‘ übersetzen. Mit dem performativen Akt des Erhörens von Gebeten ist eine zusätzliche Folgewirkung verbunden ist, die beim bloßen Wahrnehmungsakt nicht vorliegt. Es ist auch bei präsentischen Verbalhandlungen nicht notwendig, die Alternierung von Simplex und Derivat mit der Hervorhebung von mehr oder weniger wichtigen Textstellen zu erklären. Natürlich ist das bloße Handlungsinteresse des Subjekts von sekundärer Bedeutung, wenn die Betroffenheit des Aktanten hervorgehoben werden soll. Gerade bei jenen Verben, die aus pragmatischen Gründen daher oft präfigiert erscheinen, wird aber anhand der Simplexverwendung deutlich, dass auch hier textsemantisch wichtige Ereignisse vorliegen. Die meisten Derivate lassen sich unabhängig von aspektuellen, aktionalen oder temporalen Kriterien wieder durch das Vorhandensein eines Resultats bzw. einer Statusveränderung erklären. Stilistische Freiheiten ergeben sich unter Umständen bei jenen Fällen, in denen semantisch ambige, also vermeintlich synonyme Satzaussagen vorliegen, wodurch nicht alle Belege schematisch erklärt werden können. Für die prototypischen Belege, in denen man insofern unzweifelhaft ideale Bedingungen für eine Klassifizierung vorfindet, als neben dem handelnden Subjekt auch ein potenzieller Effekt oder ein konkretes Resultat der Tätigkeit bezeichnet werden kann, ist die Zuordnung eindeutig.
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2.3.2.4 Kontexte der ‚Nicht-Ausführung‘ Handlungen, die zu keinem außersprachlich wahrnehmbaren Vollzug führen, verbinden sich in den altgerm. Sprachen häufig mit dem Simplex.61 Neben Phasen- und Modalverben in Verbindung mit dem Infinitiv betrifft das vor allem Imperative und negierte Sachverhalte. Das Derivat ist hier nur selten belegt. Solche Kontexte gelten tendenziell als aspektneutral, weil sie keine spezifische Handlung repräsentieren können (vgl. Schrodt 2004: § 110). Für das Got. lassen sich Befehlskontexte in verschiedene pragmatische Klassen einteilen. Ebenso wie im Ahd. und As. überwiegt hier im Imperativ die Simplexverwendung. Derivate werden etwa dann gesetzt, wenn mit der Präfigierung eine starke semantische Modifizierung einhergeht (vgl. Metzger 2017: 222–223). Im jüngeren Ahd. und As. ist das besonders gut an jenen Verben erkennbar, die ausschließlich präfigiert auftreten und ihren Simplexpartner verloren haben. Dazu zählt etwa ahd. gilouben bzw. as. gilobian ‚glauben‘. Das urgerm. Simplex ✶ laubijaną ‚billigen‘ dürfte noch in urgerm. Zeit einer Amelioration unterlaufen sein (→ ‚für anständig befinden‘ → ‚preisen‘), die auch in got. laubjan oder ae. liefan fortlebt. Ahd. gilouben und as. gilobian beinhalten im Gegensatz zum nicht belegten Simplexverb ein spezifisches Resultat der Handlung, die sich nicht mehr aus der Semantik des Simplex ableiten lässt. Ganz ähnlich verhält es sich mit ahd. ginadon ‚Gnade erweisen‘, ein got. Simplex niþan ‚retten‘ ist belegt. Solche Verben werden dementsprechend auch im Imperativ nur als Derivat verwendet, wobei natürlich nicht sicher ist, ob den damaligen Sprechern die morphologische Struktur überhaupt bewusst war. Am Beispiel von ahd. gihoren ‚(an)hören, gehorchen‘ lässt sich eine solche Entwicklung noch in ihrem Verlauf beobachten. In (39) erscheint die komplexe Verbalform im Imperativ: (39) „Stant úf“, quad er, „gihori mír, joh nim thin bétti mit thir“ (O, III, 4, 27) ‚„Steh auf“, sagte er, „Gehorche mir und nimm dein Bett mir dir!“‘ Hier bezieht sich das ‚hören‘ nicht auf den Wahrnehmungsakt, sondern auf die Befolgung eines Befehls im Sinne von ‚gehorchen‘. Damit ist ein spezifisches Resultat in der Verbalbedeutung mitangelegt, dessen unmittelbare Ausführung möglich ist. Der Akt des ‚Gehorchens‘ muss bereits zu einem erfolgreichen Vollzug geführt haben, damit der zweiten (und eigentlichen) Aufforderung nachgekommen werden kann. stantan liegt trotz unmittelbarer Vollzugsmöglichkeit immer als Simplex
Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung in Kap. 5 werden diesbezüglich ein anderes Urteil nahelegen.
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vor, weil das Derivat gistantan ‚beginnen‘ eine andere lexikalische Bedeutung entwickelt hat. Hier bedingen sich syntaktischer, morphologischer und semantisch-funktionaler Wandel, was die Notwendigkeit des Einbeziehens pragmatischer Faktoren unabdinglich macht. Nicht nur in Fällen von semantisch modifizierten Verben erscheint das Derivat, wenn nicht nur die Handlung an sich, sondern auch die Vollendung bzw. das Resultat derselben in einem befohlen werden kann. Oft handelt es sich dabei um die Voraussetzung für eine weitere Handlung, wie in (39). Das Simplex dagegen zielt vor allem auf Handlungen ab, die keinen absehbaren (einoder mehrmaligen) Abschluss fordern, vgl. (40), (41) und (42): (40) Bethiu ni gornot gi umbi iuuua gegaruuui, ac huggead te gode fasto (H 1662) ‚Darum klagt nicht wegen eurer Kleidung, sondern vertraut fest auf Gott!‘ (41) Gihuggeat gi simlun, that gi thiu fulgangan, thiu ik an thesun gômun dôn, (H 4643) ‚Beherzigt es immer, auf dass ihr befolgt, was ich an diesem Mahl tu!‘ (42) Lóugnis thrín stunton mit thínes selbes wórton (gihúgi wórtes mines) thes héreren thines! (O IV, 13, 38) ‚Drei Mal verleugnen wirst du mich mit deinen eigenen Worten (Gedenke meiner Worte), jener deines Herren!‘ Ist die Handlung unmittelbar vollziehbar wie in (42) oder ihr Vollzug Voraussetzung für das Befolgen eines weiteren Befehls wie in (41), kann also auch das Derivat verwendet werden. Damit wird das Simplex kontrastiert, das in der Domäne des Nicht-Ausführens verhaftet bleibt und hier den Normalfall der subjektorientierten Tätigkeitsbeschreibung darstellt. Das Derivat ist zwar eine meist markiertere Ausnahme, dennoch können im Vergleich zum Simplex auch für den Imperativ die prototypischen funktionalen Bereiche festgestellt werden wie in Kontexten der tatsächlichen Handlungsausführung. In einigen wenigen Fällen sind die Grenzen fließend, was dazu führt, dass zur Hervorhebung des gewünschten Resultats das Derivat gesetzt werden kann, der Kontrast zur Simplexverwendung aber nicht so klar durchscheint, vgl. (43) und (44):
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(43) Waz quít fon mir ther líutstam? thaz gizéllet mir nu frám; wer quédent sie theih sculi sín odo ouh rácha wese mín? (O III, 12, 7) ‚Was sagen die Leute über mich? Das erzählt mir nun genau; Wer, erzählen sie, dass ich sein soll oder für welche Sache ich stehe?‘ (44) Nu zéli uns avur fóllon hiar then thínan willon, thaz thínaz girati, wáz iz theses quáti; (O, III, 17, 17) ‚Nun teile uns aber genau den deinen Willen mit, das deine Urteil, was es darüber sagt!‘ Es ist durchaus vorstellbar, dass hier weitere pragmatische und stilistische Nuancen entscheidend sind. Das Simplex im Imperativ wirkt generell distanzierter und in manchen Kontexten entsprechend höflicher, während das Derivat naturgemäß durch das konkret geforderte Resultat mitunter autoritärer wirkt und daher seltener zum Einsatz kommt, wenn die Aufforderung mehr als Bitte zu verstehen ist und weniger als Befehl.62 Vergleichbare Stellen, in denen das Verhältnis zwischen Sprecher, Angesprochenem und Gefordertem beim Imperativ die Verteilung von Simplex und Derivat beeinflusst, lassen sich auch im Got. finden (vgl. Metzger 2017: 360).63 Da sich eine solche stilistische Variation aber im Rahmen der erwarteten Systematik bewegt, bleibt die Grundopposition bestehen. Ein weiterer Bereich der Nicht-Ausführung von Verbalhandlungen betrifft generell die von Modalverben abhängigen Infinitive. Die typologisch beobachtbare Interaktion von Modalität und Aspekt wurde bereits angesprochen (s. o.), ist aber im Falle der altgerm. Sprachen unabhängig vom Status des ✶ga-Präfixes nicht einfach übertragbar. Das liegt vor allem daran, dass Modalverben mit epistemischen Lesarten kaum belegt sind und da die grundmodale Verwendung sowohl mit Simplex als auch Derivat kompatibel ist, ist die Annahme einer morphologisch sichtbaren generellen Opposition von Deontik und Epistemik nicht berechtigt (vgl. dazu auch Leiss 2002b). Zur Distribution von Simplex und Derivat gibt es folgende gesicherte Beobachtungen für das Mhd.: Während bei mugen und kunnen keine klare Tendenz beobachtbar ist, überwiegt bei suln deutlich das Sim-
Angesichts dessen, dass im Lat. zwei verschiedene Imperative gebildet werden können, die ganz ähnlichen pragmatischen Verteilungsmustern folgen, könnte eine Gegenüberstellung der entsprechenden Verben in den ahd. Übersetzungstexten aussichtsreich sein. Diese Alternation verdeutlicht das Ausmaß der schriftstellerischen Eigenleistung mittelalterlicher Übersetzer, da die Entscheidung für oder gegen ein Präfix immer mit einer exegetischen einhergeht.
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plex. Fähigkeitslesarten neigen stärker zu Derivaten, Notwendigkeitslesarten (ebenso wie desiderative Kontexte mit wellen) haben eine Affinität zum Simplex (vgl. Heindl 2017: 139). Auch im Got. zeigt sich eine ähnliche Verteilung: wiljan wird bis auf zwei Ausnahmen mit dem Simplex ausgedrückt, bei magan ist die Verteilung weniger deutlich (vgl. Metzger 2017: 224–225). Dabei lässt sich die Unterscheidung von gestiven Simplizia und faktiven Derivaten ebenso treffen wie in anderen Kontexten. Das Simplex kommt dann zum Einsatz, wenn es darum geht auszusagen, dass das Subjekt eine Handlung ausführen will bzw. kann oder soll. Das Derivat wird dann verwendet, wenn ausgesagt werden soll, dass das Subjekt eine Wirkung am Objekt herbeiführen will bzw. kann oder soll. Im Ahd. wie auch im As. lässt sich das gut am Verb sculan bzw. skulan zeigen, das bis auf wenige Ausnahmen mit Simplizia verbunden wird, vgl. (45) und (46): (45) Hiar scál man zellen nóti thie géistlichun dáti in férti int in gánge joh in thero líuto sange; (O IV, 5, 1) ‚Hier muss man noch erklären, was in geistlichem Verstand diese Reise, dieser Zug und der Leute Jubel bedeutet.‘ (46) Hie dôpean scal an thana hêlagan gêst endi hêlean managa manno mêndâdi. (H 1005) ‚Er soll taufen auf den heiligen Geist und heilen viele Meintaten der Menschen.‘ Die Simplizia zellen und dopean bezeichnen einen bestimmten Auftrag, den das Subjekt zu erfüllen hat. Wird dagegen das Derivat verwendet, zielt der Auftrag des Subjekts nicht einfach auf die Handlung ab, sondern vielmehr auf deren Effekt auf einen weiteren Aktanten, vgl. (47): (47) Wir scúlun hiar nu súntar gizellen ánder wuntar, thésemo gimachaz, thaz wir firstánten thiz thiu baz; (O V, 12, 15) ‚Wir sollen hier noch ein anderes Wunder erzählen, diesem ähnlich, damit wir dies besser verstehen.‘ Das Derivat bezeichnet hier den Zweck, den die Verbalhandlung haben soll. Ein solcher Zweck kann auch ein irrealer sein, wie (48) zeigt:
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(48) Ic eu an uuatara scal gidôpean diurlîco, thoh ic euua dâdi ne mugi, euuar selƀaro sundea alâtan, (H 883) ‚Ich soll euch mit Wasser trefflich taufen, doch eure Taten, eure eigenen Sünden vermag ich (dadurch) nicht zu erlassen.‘ Hier wird der Effekt der Verbalhandlung nur vordergrundiert, um ihn in weiterer Folge zu negieren. In dieser Textpassage tritt Johannes der Täufer als Erfüllungsgehilfe der Lehre Christi auf. Er wendet sich mahnend an das Volk und unterstreicht seinen eigenen begrenzten Handlungsspielraum, wenn es um die Vergebung der Sünden geht. Eine freiere Übersetzung gibt die Satzaussage eindeutiger wieder: ‚Selbst wenn ich euch zu Getauften mache, eure Sünden werden dadurch nicht vergeben.‘ Auch hier wird der Effekt am Aktanten markiert. Bei Nicht-Ausführung einer Handlung aufgrund von Negation überrascht es nach bisherigen Erkenntnissen nicht, dass in vielen Fällen ebenfalls das Simplex Verwendung findet: (49) Ther mán theih noh ni ságeta, ther thaz wíb mahalta was ímo iz harto úngimah, tho er sa háfta gisah. (O, I, 8, 1) ‚Der Mann, von dem ich noch nichts erzählte, der sich mit der Frau verlobte; ihm war es sehr unangenehm, als er sie schwanger sah.‘ Das Derivat wird mitunter dann verwendet, wenn die Nicht-Ausführung der Handlung topikalisiert wird, um sie in weiterer Folge mit einer tatsächlich stattfindenden Handlung in Zusammenhang zu bringen im Sinne von ‚weil es bisher nicht getan wurde, muss es jetzt getan werden‘ wie in (50): (50) Bi thíu thaz ih irduálta, thar fórna ni gizálta, scál ih iz mit wíllen nu súmaz hiar irzéllen. (O, I, 17, 3) ‚Was ich zurückgehalten habe, wovon ich bisher nichts berichtet habe, soll ich bereitwillig und gewissenhaft jetzt hier erzählen.‘ Der Gegensatz von Simplex und Derivat bleibt also auch in negierten Kontexten grundsätzlich bestehen.
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2.3.2.5 Semantische Modifikationen und sogenannte ‚perfektive Simplizia‘ Wie bereits angesprochen, gibt es einige Verben, bei denen mit der Präfigierung auch eine semantische Modifikation einhergeht, die die Zuordnung zu gewissen Klassen erschwert, weil durch eine große semantische Differenz auch die Wahlfreiheit der Verwendung eingeschränkt wird. Umgekehrt gibt es Verben, die nur als Simplizia belegt und offenbar mit dem Präfix gi- weitgehend unvereinbar sind. Bei genauerer Betrachtung lassen sich die meisten dieser Fälle aber entweder der faktiven oder eben der gestiven Grunddiathese zuschreiben. Ebenso wie bei den unter c) behandelten Verben ist das Vorhandensein einer Opposition dabei nicht zwingend notwendig. Ich beschränke mich auf einige Beispiele. Ahd. gistantan kann mit ‚beginnen‘ übersetzt werden und ist daher nicht unmittelbar vom Simplex stantan ‚stehen, sich in einer gewissen Position befinden‘ ableitbar. Die semantische Differenz ist aber letztlich nur ein Ausbau des im Derivat angelegten Resultats der Handlung. Eine Zwischenstufe wäre demnach mit ‚sich für etwas in Position bringen‘. Got. gastandan ‚sich stehend machen‘ schließt dabei eine Lücke in der diachronen Entwicklung der lexikalischen Bedeutung, wenn man den zeitlichen Rahmen auch für das Westgerm. annimmt. Bei ahd./ as. winnan ‚kämpfen‘ und giwinnan ‚gewinnen‘ ist die Entwicklung noch durchsichtiger: giwinnan bedeutete ursprünglich nichts Anderes als ‚etwas (durch Kampf) erlangen‘ und verlor im Laufe der Zeit die obligatorische Kampfsemantik. Diese semantische Kluft dürfte etwa im As. den Sprechern noch nicht so groß vorgekommen sein bzw. der Zusammenhang von Kampf und Bereicherung im Kontext der Zeit noch einen ‚Normalfall‘ dargestellt haben. Interessanterweise erscheint as. winnan nämlich in negierten Aussagen auch in der Bedeutung ‚etwas erlangen‘: (51) sie ni cunnun ênig feho uuinnan, thoh giƀid im drohtin god dago gehuuilikes helpa uuiðar hungre. (H 1669) ‚Sie können keinen Besitz erlangen, doch gibt ihnen Gott jeden Tag Hilfe gegen den Hunger.‘ In diesem speziellen Fall überschreibt offenbar die Negation das in as. giwinnan angelegte konkrete Resultat des Erlangens, in einer Art dekompositionalem Prozess wird hier ein Simplex vom Derivat mit vergleichbarer Semantik abgeleitet. Bei einigen Verben ist das Resultat weniger spezifisch oder gar nicht mehr nachvollziehbar. Vorhanden ist es dennoch. As. witan bedeutet ‚wissen, Kenntnis haben über‘, in manchen Kontexten scheint noch die ursprüngliche Bedeutung ‚sehen‘ durch. Beides steht dem Derivat giwitan ‚gehen, sich auf den Weg nach X machen‘ augenscheinlich eher unverbunden gegenüber. Egal welche Grundbedeutung man dem Simplex zuschreibt,
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eine physische Zielerreichung geht jedenfalls mit einem gewonnenen Wissensinhalt einher. Wenn man Kenntnis von einer Sache haben will oder etwas sehen will, ist dafür oft eine Ortsveränderung notwendig.64 giwitan ist also ursprünglich die physische Manifestation des außersprachlich wahrnehmbaren erfolgreichen Abschlusses einer Handlung, die letztlich lexikalisiert wurde. Es stellt sich die Frage, ob es im Zusammenhang mit den hier formulierten Thesen überhaupt immer sinnvoll ist, zwischen scheinbar synonymen Verbpaaren, solchen mit einer deutlichen semantischen Modifikation und solchen, die ihren ‚Partner‘ verloren haben, zu unterscheiden, wie das häufig getan wird. Üblicherweise geschieht das aufgrund der Annahme, dass wegen der fehlenden Option die Wahlfreiheit für den einen oder anderen Aspekt blockiert würde. Da hier nicht von einer ausschließlich temporal-aspektuellen Grundfunktion ausgegangen wird, ist diese Einschränkung auch nicht von vornherein zwingend erforderlich, auch wenn ein etwaiger Lexikalisierungsprozess bei dem einen oder anderen Verb mitberücksichtigt werden muss. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der germ. Sprachgeschichte zu den meisten Simplexsyntagmen ein Derivatsyntagma gebildet werden konnte. Dennoch gibt es ein paar Verben, die als Simpliziatanta in der deutschen Sprachgeschichte eine Sonderstellung einnehmen, nämlich ahd. queman, findan, bringan65 und ihre as. Kognate (vgl. Holthausen 1921: 147). Sie verbinden sich nämlich nicht nur als finite Form nicht mit dem Präfix gi-, sondern auch nicht als Partizip Präteritum, das ansonsten bereits das obligatorische Präfix enthält (s. u.).66 Wie erklärt sich diese fehlende Fähigkeit zur Oppositionsbildung vor dem Hintergrund der hier eingeführten Kategorien? Ahd. queman ‚kommen‘ bezeichnet üblicherweise ausschließlich eine Subjektbewegung, was die Markierung eines potenziell betroffenen Aktanten ohnehin erschwert. In vielen Fällen wird damit aber nicht einfach nur eine zum Stillstand gekommene Bewegung bezeichnet, sondern auch die subjektinterne Motivation für die Ankunft, vgl. (52): (52) Gizéllet in ouh filu frám, theih sélbo hera in wórolt quam, thaz thiu min géginwerti giwéihti thia iro hérti. (O V, 16, 25)
Einen ganz ähnlichen semantischen Entwicklungspfad hat nhd. schauen in Kontexten der Fortbewegung genommen. heimschauen oder auf die Uni schauen bezeichnet üblicherweise in erster Linie einen Ortswechsel. Manchmal wird auch ahd. werdan dazu gezählt (vgl. Harweg 2014: 403), das aber in seltenen Fällen und mit stark manipulierter Semantik als Derivat vorliegt. Ganz ähnlich verhält es sich mit einigen ausschließlich adjektivisch gebrauchten Partizipformen wie as. okan ‚schwanger‘ oder odan ‚beschert‘.
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‚Erzählt ihm auch genau, dass ich selbst hier in die Welt kam, damit durch meine Gegenwart ihre Härte gemildert würde.‘ Ahd. quam steht hier für die Ankunft und kündigt das Handlungsinteresse des Subjekts an. Ein Effekt an irgendeinem Aktanten wird dabei nicht sichtbar. Die eigentliche Verbalhandlung des finalen Nebensatzes erscheint wie erwartet als Derivat. Schließlich ist es nicht das ‚Kommen‘ selbst, das die bezeichnete Folgewirkung giweihhen ‚erweichen‘ auslöst, sondern eine dazwischenliegende Tätigkeit. Ahd. queman bleibt damit in seinem Wirken völlig in der Sphäre des subjektinternen und selbstständigen Handelns und rückt damit in die Nähe von Emotionsverben und Verben der mentalen Tätigkeit, die üblicherweise als Simplizia aufscheinen (vgl. dazu auch die ähnlichen Verhältnisse im Got. bei Metzger 2017: 333–335). Im Vergleich zu queman scheint bei findan und bringan zunächst das Umgekehrte der Fall zu sein: Die Manipulation eines Objektes ist für diese Verben quasiobligatorisch. Doch eine tatsächliche Statusveränderung der direkten Objekte liegt auch hier nie vor. Bei bringan wäre das allerhöchstens bei einem indirekten Objekt denkbar, wenn mit dem ‚Beschenktwerden‘ auch ein performativer Akt verbunden wäre.67 Solche Kontexte sind in den altgerm. Sprachen aber nicht überliefert. Im Vordergrund der jeweiligen Verbalhandlungen steht bei findan und bringan erneut die Haltung des Subjekts zu eben dieser, die Veränderung des Objekts dagegen bleibt hintergrundiert, weil sie in der verbalen Grundsemantik ohnehin mitenthalten ist. Eine zusätzliche Denotation des betroffenen Aktanten schien zu keinem Zeitpunkt und in keinem Kontext eine Notwendigkeit gewesen zu sein, wodurch die Handlung einzig über die Absicht des Subjekts definiert wird.
2.3.3 Zwischenfazit Es hat sich gezeigt, dass im Falle der prototypischen funktionalen Bereiche kein großer Unterschied zwischen den got. und den kontinentalwestgerm. Verhältnissen festzustellen ist. Das gestive Simplex hebt die Beteiligung des Subjekts als Träger der Verbalhandlung hervor, ahd./as. gi- denotiert am Finitum das Resultat oder den Effekt am betroffenen Aktanten. In vielen Fällen ist dieses Denotat mit dem Abschluss oder der Vollendung einer Verbalhandlung verbunden, das gilt
Als Beispiel könnte hier das Urteil des Paris gelten. Durch die Übergabe des Apfels erhält Aphrodite den Status ‚schönste Göttin‘.
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aber nicht für alle Belege. Eine bestimmte temporal-aspektuelle Lesart, die nach dem Urteil bisheriger Untersuchungen als ‚perfektiv‘, ‚terminativ‘ o. ä. bezeichnet wurde, ist daher bei dem einen oder anderen gi- notwendigerweise enthalten. Zumeist wurden diese Interpretationen aber übergeneralisiert, Ausnahmen mit der Unsicherheit der Schreiber aufgrund des sich im Niedergang befindlichen Systems erklärt oder generell eine „Freiheit der Sichtweise“ (Schrodt 2004: § 2) im Germ. angenommen, um die Differenz zu typologisch gesicherten Verteilungsmustern aspektueller Formen zu erklären. Alles das ist für zukünftige Beschreibungen nicht mehr notwendig. Bei Vorliegen einer binären morphologischen Kategorie sind auch binäre Funktionszuweisungen wissenschaftstheoretisch zu bevorzugen. Mit der Annahme von Gestivität und Faktivität gelingt dies, ohne in den kategorialen Grenzen des Slaw. verhaftet zu bleiben und damit werden gleichzeitig die frühmittelalterlichen Schreiber als zuverlässige Gewährspersonen rehabilitiert. Das ist nicht nur für streng linguistische Zugänge relevant, sondern auch für jede andere Art der Texterschließung. Der Gegensatz von Simplex und Derivat lässt sich mit einheitlichen Kategorienzuweisungen erklären, für die Verteilung der Formen hat das aber weitreichende Konsequenzen, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden konnte. Die semantische Differenz, die zwischen Simplex und Derivat zutage tritt, schlägt sich auf allen grammatischen Systemebenen nieder. Die lexikalische Verteilung von Ø- und gi- ist damit nicht so ausgeglichen wie bei ‚gewöhnlichen‘ Verbalkategorien. Einige Verben tendieren aufgrund ihrer basalen Semantik entweder zur Simplex- oder zur Derivatsverwendung, in manchen Fällen dagegen scheint insofern Synonymie vorzuliegen, als beide Formen in ähnlichen Kontexten belegt sind und syntaktisch austauschbar sind. Auch pragmatische Dimensionen müssen angenommen werden, wie die imperativische Verwendung zeigt. Die Fokusverengung auf Verbalkategorien wie Tempus oder Aspekt als rein grammatische Funktionszuweisung ist ungenügend, wie es letztlich jede isolierte Kategorienzuschreibung ist. Bei rezenten und uns vertrauteren Phänomenen ist das leichter nachvollziehbar. Man stelle sich vor, die nhd. Schriftsprache und damit alle ihre Präfixe wären nur anhand eines kleinen Korpus überliefert, das obendrein noch linguistisch nicht unmittelbar erschließbar wäre. Man käme über qualitativ-syntaktische Stichproben schnell zu der Erkenntnis, dass das Präfix be- einem Verb das Merkmal [+Transitivität] verleihen kann, etwa bei dienen und bedienen oder herrschen und beherrschen. Es wäre aber ein mereologischer – und aus unserer muttersprachlichen Perspektive kontraintuitiver – Fehlschluss, die jeweiligen Verbalpaare ausgehend vom Derivat einzig mittels dieser Attribuierung zu beschreiben, da sich auch das entsprechende Simplex nicht einfach durch das Merkmal [–Transitivität] definieren lässt. Und noch abwegiger schiene die Idee, auf Basis der Opposition [+/–Transitivität] eine binäre Systematik für das ganze
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Verbalsystem zu postulieren, ohne die jeweiligen Gebrauchskontexte zu berücksichtigen. Viel eher müsste man feststellen, dass das Präfix denominal derivierte Pseudopartizipien (✶rüschen, aber berüscht, ✶beknacken, aber beknackt) bilden, semantische Verschiebungen zur Markierung von (mitunter abstrakten) Entitätsbeziehungen zwischen mindestens zwei beteiligten trennbaren Größen (kochen und bekochen) bewirken oder auch semantische Rollenkonversionen (das Essen zahlen und den Kellner bezahlen) hervorrufen kann usw. Das ändert freilich nichts daran, dass das Merkmal [+Transitivität] für alle diese Fälle und generell die meisten be-Derivate anzusetzen ist und damit quantitativ eine herausragende prototypische Stellung innerhalb des Merkmalskatalogs einnimmt. Aber das berechtigt einen nicht, alle anderen Leistungen des Präfixes als sekundär ableitbar und damit untergeordnet zu definieren. Ganz ähnlich verhält es sich im Grunde mit ahd./as. gi-, wobei wir hier erst am Anfang stehen, was die Erforschung der einzelnen funktional-pragmatischen Verwendungen betrifft. Niemand bestreitet deshalb die bisweilen inhärente temporal-aspektuelle Semantik des Präfixes. Genauso wenig kann man leugnen, dass es eine gewisse Korrelation zwischen Derivation und den Merkmalen [+Telizität, + Terminativität, –Additivität, –Homogenität] gibt, wobei die genauen quantitativen Verhältnisse noch geklärt werden müssten. Zu der Auffassung, in den altgerm. Sprachen läge ein Aspektsystem slaw. Typs vor, kann man aber nur kommen, wenn man die Belege von ✶ga- in eindeutig perfektiven Kontexten mit den Belegen von Simplizia in eindeutig imperfektiven Kontexten kontrastiert. Streitberg und viele seiner Nachfolger haben genau das getan. Tatsächlich haben wir es hier aber mit einer ganz anderen verbalen Kategorie zu tun, die dem Bereich der Diathese deutlich nähersteht als jenem der Aspektualität und Temporalität. In diesem Kapitel wurden größtenteils prototypische Beispiele zur Demonstration der Verteilung von Simplex und Derivat besprochen. Vor dem Hintergrund der basalen Grundopposition ‚Gestivität: Faktivität‘ werden sich hinsichtlich der textpragmatischen Organisation noch modifizierte Fragestellungen ergeben, die über die Bereiche der temporal-aspektuellen Strukturiertheit von Texten hinausgehen, ohne dass diese aber aus dem Blickfeld geraten sollten.
3 Tempus 3.1 Überblick Im Gegensatz zur Kategorie des Aspekts scheint der Zugang zu jener des Tempus (nicht nur) aus Perspektive der diachronen Linguistik zunächst unmittelbarer und einfacher zu sein. Das liegt sicher auch daran, dass wenigstens für die germ. Sprachen ein gewisser Konsens herrscht, was die Identifizierung morphologischer Substanz mit grammatischen Funktionszuschreibungen in der Sprachgeschichte betrifft. Ein solcher konnte im vorangehenden Kapitel für die Kategorie des Aspekts nicht gefunden werden. Darüber hinaus ist uns eben diese Kategorienzuschreibung in Verbindung mit bestimmten Formen aus synchroner muttersprachlicher Perspektive nicht unbekannt, da sich an den basalen Bildungs- und Anwendungsprinzipien im Wesentlichen seit dem Urgerm. nicht viel geändert hat. Dennoch ist die auf Lindgren (1957: 10) zurückgehende und oft zitierte Klage über die ungelösten Rätsel des deutschen Tempussystems nicht unberechtigt. Zwar sind der morphologische Bau und die Entwicklung der damit verknüpfbaren semantischen Inhalte gut beschrieben, die pragmatische Distribution einzelner Tempora aber stellten und stellen sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht eine Herausforderung dar. Seit Lindgren (1957) ist allerdings viel passiert. Die synchronen Grammatiken für die deutsche Standardsprache etwa wurden durch die textgrammatischen Arbeiten von Weinrich (1993) oder Hennig (2000) bereichert, dem Distributionsverhalten einzelner Tempusformen in der gesprochenen Sprache wurde ebenfalls viel Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. Latzel 1977, 2004; Sieberg 1984, 1989 u. v. m.). An der Schnittstelle zur historischen Sprachwissenschaft stehen traditionelle deskriptivdialektologische Arbeiten von Wiesinger (1989), Rowley (1983) oder Maiwald (2004), die vor allem die funktionale Umschichtung der Tempora im Oberdeutschen und die damit verbundene Dominanz des Perfekts im Süden des deutschen Sprachraums fokussieren. Im Zusammenhang mit diesem sog. Präteritumschwund aus synchroner und diachroner Perspektive sind auch die theoretisch-typologischen Arbeiten von Abraham (1999) und Abraham / Conradie (2001) zu sehen. Eine umfassende Darstellung des Phänomens und eine Nachzeichnung der frequenziellen Verhältnisse seit dem Frnhd. auf empirischer Basis liefert Fischer (2018). Für die älteren Sprachstufen gibt es mit Zeman (2010) eine detaillierte empirische Untersuchung des mhd. Tempussystems, die in ihren Ansprüchen aufgrund anderer Schwerpunktsetzung weiter geht, als es die vorliegende Arbeit im Hinblick auf die textpragmatische Verteilung der ahd. und as. Tempora tun soll. Dennoch bieten sich hier zahlreiche methodische und inhttps://doi.org/10.1515/9783111040387-003
3.2 Der Komplex der Temporalität
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haltliche Anknüpfungspunkte und im diachronen Vergleich eine geeignete Projektionsfläche sich in den ältesten Sprachdenkmälern abzeichnender Entwicklungen. Weder für das Ahd. noch für das As. kann bislang auf eine vergleichbare empirische Studie wie der vorliegenden zurückgegriffen werden, obwohl die Erforschung des Tempussystems altgerm. Dialekte eine lange Tradition hat. Diese Erforschung beschränkt sich aber größtenteils auf die morphologische Entwicklung einzelner Formen und lässt die jeweiligen Gebrauchskontexte weitgehend unberücksichtigt. Als besonders gut erforscht gilt die Entwicklung der periphrastischen Perfektformen aus grammatikalisierungstheoretischer Sicht (vgl. Gillmann 2016), synthetische Tempora dagegen fanden bislang weniger Beachtung. Bei den genannten Desiderata setzt die vorliegende Arbeit an. Die Trennung von semasiologischer und onomasiologischer Kategorienbeschreibung wird in diesem Kapitel nicht so streng wie bisher aufrechterhalten. Da das Deutsche und andere germ. Sprachen unstrittig als ‚Tempussprachen‘ zu klassifizieren sind, dienen sie hier auch als Prototypen tempustheoretischer Modelle. Eine entsprechende Vorgehensweise war im vorherigen Kapitel aus besprochenen Gründen nicht möglich. Zunächst wird im ersten Unterkapitel das Phänomen ‚Tempus‘ als Teil des deiktischen Systems mit entsprechenden typologisch mehr oder weniger etablierten Konzepten erfasst. Im Anschluss daran werden übereinzelsprachlich beobachtbare (text-)pragmatische Verteilungsmuster einzelner Tempora diskutiert, die in weiterer Folge auch für die ältesten Sprachstufen des Deutschen angenommen werden. Im Fokus des zweiten Unterkapitels steht die Beschreibung von Genese und Gestalt des altgerm. Tempussystems auf Basis der reichhaltigen Forschungsliteratur mit dem Schwerpunkt auf die westgerm. Tochtersprachen. Anschließend werden unter Einbezug der bisherigen erarbeiteten Fragestellungen die Möglichkeiten und Aufgaben der angestrebten textpragmatischen Untersuchung diskutiert.
3.2 Der Komplex der Temporalität In Abgrenzung zum Begriff der Aspektualität wird jener der Temporalität hier ausschließlich für den deiktischen Kategorienkomplex der Versprachlichung konkret wahrnehmbarer physikalischer Zeit verwendet. ‚Deiktisch‘ bedeutet eingangs, dass die temporale Verortung eines verbalen Geschehens einer Lokalisierung desselben auf einem unidirektionalen Zeitstrahl entspricht. Raum und Zeit werden daher bei Tempusdefinitionen notwendigerweise zu Synonymen und temporale Bezüge nur durch lokale überhaupt erst konzeptualisierbar. Vom deiktischen Zentrum ausgehend, der sog. Origo, werden also (erneut außersprachlich erfahrbare) Denotate lokalmetaphorisch verortet (vgl. Diewald 1999: 167 bzw. Comrie 1985: 9). Es hat sich
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3 Tempus
allerdings gezeigt, dass die Beschreibung temporaler Funktionen auf Basis etablierter theoretischer Modelle nicht ausreicht, um (sequenzielle) Äußerungen des natürlichen Sprachgebrauchs über einzelne Sätze hinaus bis hin zu komplexen Texten hinsichtlich ihrer Tempusdistribution systematisch zu erfassen (vgl. Zeman 2010: 41). Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, müssen also zeitreferenzielle Beschreibungsstrategien so konzeptionalisiert sein, dass sie auf bestimmte Gebrauchskontexte bezogen werden können. Das gilt für den mündlichen Sprachgebrauch ebenso wie für die schriftsprachliche historische Überlieferung.
3.2.1 Temporale Relationen Unabhängig von der einzelsprachlichen Realisierung kann man zunächst eine Mindestanzahl von drei Zeitstufen als in der außersprachlichen Wirklichkeit erfahrbar annehmen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese drei deiktischen Anker sind die primären temporalen Bestimmungen von zwei natürlichen zeitlichen Dimensionen, nämlich der Ereigniszeit (E)68 bzw. Situationszeit und der Sprechzeit (S) (vgl. Welke 2005: 7). Die Ereigniszeit ist die Zeit, mit der die mitgeteilten Sachverhalte in Relation zum Sprechzeitpunkt als vorzeitig, gleichzeitig oder nachzeitig verortet werden vgl. (1), (2) und (3), zitiert nach nach Reichenbach 1947: 290): (1)
Gegenwart: I see John. E = S
(2)
Vergangenheit: I saw John. E < S
(3)
Zukunft: I shall see John. E > S
Diese basalen Relationen mittels zweier temporaler Bezugspunkte sind das Minimum an temporalsemantischen Beschreibungskriterien, das fast allen Tempusdefinitionen zugrunde liegt (vgl. Comrie 1985:14, Smith 2004: 599, u. v. m.). Die angeführten prototypischen Beispiele bilden aber natürlich nur einen kleinen Teil dessen ab, was komplexe Tempussysteme zu leisten vermögen, die ja auch oft – wie das moderne Englische oder Deutsche – über mehr als drei morphologische Tempora verfügen. Schließlich ist der Referenzpunkt, von dem aus die Ereig-
Diese Ereigniszeit darf nicht mit dem Konzept der topic time verwechselt werden, wie sie etwa bei Klein 1994 eingeführt wird. Dabei handelt es sich im weitesten Sinne um die erzählte Zeit, also die temporale Erstreckung geschilderter Sachverhalte. Eine solche Dimension spielt aber in der vorliegenden Arbeit keine wesentliche Rolle, weswegen nicht genauer darauf eingegangen wird.
3.2 Der Komplex der Temporalität
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niszeit verortet wird, nicht immer dem für den Sprecher gegenwärtigen Zeitpunkt gleichzusetzen. Um dem genannten Umstand Rechnung zu tragen, hat sich seit Reichenbach (1947) in der modernen Linguistik ein Modell etabliert, das zusätzlich zu den Parametern E und S auch eine sog. Referenzzeit (R) berücksichtigt, vgl. Abbildung 2: Past Perfect
Simple Past
Present Perfect
I had seen John
I saw John
I have seen John
E
R
S
R,E
S
E
S,R
Present
Simple Future
Future Perfect
I see John
I shall see John
I shall have seen John
S,R,E
S,R
E
S
E
R
Abbildung 2: Temporale Parameter nach Reichenbach (1947: 290).
Es ist allerdings schon bei Reichenbach nur implizit ersichtlich, was unter R im Einzelnen genau zu verstehen ist. Es hat aber auf jeden Fall mit relativen temporalen Bezügen zu tun, was anhand der Tempora klar wird, die nicht nur über die bloße Abfolge von E und S charakterisiert werden können. Bei komplexen Tempora wie dem past perfect, das hier idealisiert dem deutschen Plusquamperfekt entspricht, wird die Notwendigkeit des Referenzpunktes R gut sichtbar. Das fokussierte Ereignis E ist nicht nur im Verhältnis zum Sprechzeitpunkt S vergangen, sondern auch im Verhältnis zu einem weiteren ebenfalls in der Vergangenheit liegenden Punkt. Ob damit ein Zeitpunkt, ein weiteres Ereignis oder etwas Anderes gemeint ist, bleibt bei Reichenbach offen, auch sonst herrscht diesbezüglich in der Literatur kein Konsens. Das gilt sowohl für synchrone als auch diachrone Arbeiten, eine entsprechende Diskussion findet man in den meisten Studien zur temporalen Semantik (vgl. Wunderlich 1970: 122, Grewendorf 1982: 58, Welke 2005: 9, Zeman 2010: 44, Gillmann 2016: 39 u. a.). Bei drei Parametern liegen jedenfalls auch drei unterschiedliche Referenzpunkte vor, die mittels linearer Zeitenfolge charakterisiert werden können. Welke (2005: 10) sieht darin eine „aspektuale Relation“, weil er generell jede zeitliche Relation dem Aspekt zurechnet, die nicht direkt von der Sprechzeit abhängig ist. Wie in Kap. 2.1.4 besprochen wurde, haben besonders perfektive Verben zwar eine Affinität zu Kontexten der relativen Temporalität, dieser liegen aber sekundäre metaphorische Prozesse zugrunde. Ein Merkmal des Aspekts in der Form, wie er der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, ist ja gerade seine Fähigkeit, Ereig-
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3 Tempus
niszeit und Referenzzeit perspektivisch zusammenzufassen (vgl. auch Leiss 1992: 232). Umgekehrt ist die wesentliche Funktion von Tempus die potenzielle Trennung aller drei temporalen Parameter. Reichenbach (1947) scheint mit R vorrangig einen nicht näher definierten temporalen Referenzpunkt vor Augen zu haben, was sich auch darin widerspiegelt, dass er R für alle Tempora als dritten Parameter ansetzt, also auch für jene, die bereits über die Relation von E und S charakterisiert werden könnten (s. o.). In diesem Fall gilt etwa für das absolute und einfache Tempus simple past oder das standarddeutsche Präteritum E < S → E/R < S. Ein weiteres Indiz für eine solche Konzeptualisierung von R sind Sachverhalte, die nicht als Ereignis aufgefasst werden, sondern nur einen temporal begrenzten Ausschnitt der Ereigniszeit darstellen (vgl. Gillmann 2016: 40): (4)
Die Täterin war blond.
Fassen wir den Parameter R als Ereignis und nicht als fokussierten temporalen Ausschnitt auf, widerspräche das der Formel E/R < S. Anhand von Sätzen wie in (4), die Eigenschaften beschreiben, welche auch im Verhältnis zur Sprechzeit nicht als vergangen in dem Sinne verstanden werden, dass sie über die Ereigniszeit nicht andauern (können), werden häufig die Grenzen des Modells von Reichenbach demonstriert. Dabei handelt es sich aber mehr um das Aufzeigen eines Darstellungsproblems und weniger um eine inhaltliche Bewertung. Reichenbachs Analysemodell kann keine Aussage über alle denkbaren zeitreferenziellen Konstellationen machen, entsprechende Modifikationen können demnach aber auch ohne weiteres vorgenommen werden. Unter Beibehaltung der Terminologie soll im Folgenden der Analyserahmen für die in dieser Arbeit relevante Fragestellung präzisiert werden.
3.2.2 Temporale Perspektiven Will man die Verteilung einzelner Tempora aus historischer und textpragmatischer Perspektive untersuchen, ergeben sich mehrere Fragen, die es aus tempustheoretischer Sicht zu beantworten gilt. Das offensichtlichste Problem, mit dem man konfrontiert wird, ist der Umstand, dass das Reichenbachmodell einerseits für eine (normierte) englische Gegenwartssprache69 entworfen wurde,
In diesem Zusammenhang muss übergangen werden, dass es sich bei Reichenbachs Analysen um introspektive Wertungen auf Basis einer Muttersprache handelt, die aus heutiger Perspektive bereits wieder historisch ist.
3.2 Der Komplex der Temporalität
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andererseits übereinzelsprachliche Gültigkeit beansprucht, die der Realität der meisten Einzelsprachen nicht gerecht wird. Reichenbach sieht die sechs idealen Tempora im weitesten Sinne als invariante Emergenzen natürlicher Zeitversprachlichungsmöglichkeiten (vgl. Reichenbach 1947: 295). Bezieht man diese Systematik auf das Deutsche, bleiben zahlreiche Verwendungen einzelner Tempora unerfasst. Das betrifft etwa das Präsens in seiner Vergangenheits- oder Zukunftsfunktion (vgl. Welke 2005: 32). Auch die Polysemie von Resultativa wie Zustandspassiv und Perfekt telischer Verben kann das Modell nur mittels Auflösung der Einheit von Inhaltsbestimmung und morphologischer Form abbilden, vgl. (5): (5)
Der See ist zugefroren.
Je nachdem, ob der Zustand des ‚Zugefrorenseins‘ oder der Prozess des ‚Zufrierens‘ mit dem resultierenden Zustand fokussiert werden, ergibt sich entweder die Struktur S,R,E oder E < S,R. Dabei wird allerdings noch ausgeblendet, dass bezüglich einer Klassifikation des nhd. Perfekts ohnehin keine Einigkeit besteht.70 Vielleicht noch gravierender sind die Verzerrungen bei einer Übertragung der Reichenbach’schen Schablone auf deutsche Varietäten, die nicht nur den gegenwärtigen Substandard bilden, sondern auch diachrone Entwicklungen widerspiegeln. Hier bereitet die einheitliche Beschreibung der funktionalen Unterschiede von Präteritum und Perfekt zusätzliche Schwierigkeiten, weil die traditionellen Klassifzierungsparameter nicht unmittelbar Auskunft über Verwendungskontexte, Sprachräume oder Grammatikalisierungsstand geben können. Ein allgemeines Urteil über das Verhältnis der beiden Tempusformen kann höchstens für eine bestimmte Domäne in einem bestimmten Raum gefällt werden. Zahlreiche Arbeiten suggerieren Gegenteiliges, beziehen sich aber dabei offensichtlich auf schrift- und standardsprachliche Konventionen, die für einen großen Teil des deutschen Sprachraums einen Anachronismus darstellen. Für die gesprochene Sprache betrifft das nicht nur das Oberdeutsche, wo das Präteritum im alltäglichen Sprachgebrauch ohnehin kaum eine Rolle spielt (vgl. Fischer 2018: 2), sondern darüber hinaus auch weite Teile des restlichen deutschsprachigen Raums, in dem beide Tempora zwar noch verwendet werden, laut manchen Autoren aber grundsätzlich kein (temporalsemantischer) Unterschied mehr zwischen ihnen feststellbar sei (vgl. Hennig 2000: 31). Dass die grammatikographischen Beschreibungen der standardschriftsprachlichen Tempora des Gegenwartsdeut Eine umfangreiche und erschöpfende Diskussion zum Status des deutschen Perfekts kann und soll im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Eine solche findet sich u. a. bei Ehrich/Vater 1989, Ehrich 1992, Leiss 1992, Vater 2000, Welke 2005 oder Gillmann 2016. An entsprechenden Stellen wird auf die Ergebnisse dieser Studien zurückgegriffen.
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3 Tempus
schen meist anachronistisch angelegt sind, kommt der Sprachgeschichtsforschung aber zugute, wenn man sich mit den ältesten Sprachstufen beschäftigt, deren Tempussysteme bei weitem nicht so gut erforscht sind, der gegenwärtigen Standardschriftsprache oder zumindest ihrem prototypischen Tempussystem aber in vielerlei Hinsicht nahestehen. Weder das mhd. noch das ahd. Verbalsystem zeigen Anzeichen eines Präteritumschwunds und können daher auch mit den prototypischen Konzepten erfasst werden, die für die gegenwartsdeutsche Standardsprache oder sogar die rezenten germ. Sprachen im Allgemeinen entwickelt wurden. Als wesentlich erweist sich dabei eine bislang nur angedeutete engere Definition der bei Reichenbach vage gebliebenen Referenzzeit. Ich folge dabei zunächst den theoretischen Überlegungen von Leiss (1992: 242–245) und Zeman (2010: 45–51). Wie bereits angedeutet, gibt es mindestens zwei Bedeutungskonzepte, die durch den von Reichenbach eingeführten point of reference (R) indiziert werden. Einmal bezeichnet R einen fokussierten Zeitpunkt und damit einen temporalen Anker, der entweder durch Temporalangaben oder weitere Ereignisse konstituiert wird. Diese Auffassung wird hier zurückgestellt. Das für die Zwecke der Arbeit relevantere Verständnis von R ist ein vom Verbalgeschehen unabhängiger temporaler Perspektivenpunkt, von dem aus E betrachtet wird (vgl. Rohrer 1986: 79, Smith 2003: 100 oder Zeman 2010: 46). Verschiedene Perspektiven auf einzelne Sachverhalte waren bereits für die Kategorie des Aspekts grundlegend (vgl. Kap. 2.2.1). Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Kategorien ist nun, dass Tempus (im engeren Sinne) eben gerade nicht durch den Wechsel von Perspektiven charakterisiert ist, sondern durch die permanente Beibehaltung der Innenperspektive. Verbalsituation und Betrachter sind dabei nie getrennt, weswegen eine außenperspektivische rein temporale Darstellung eines Geschehens nicht möglich ist (vgl. Leiss 1992: 232). Das gilt prototypischerweise aber nur für die basalen Grundtempora Präteritum, Präsens und Futur. Das Perfekt dagegen ist durch die Trennung von E und R,S zu einer außenperspektivischen Darstellung eines Sachverhalts fähig, weswegen sein Status als Tempus manchen Autoren als nicht gerechtfertigt scheint. Es ist nicht generell ausgeschlossen, dass ein innenperspektivischer temporaler Sachverhalt mit einem außenperspektivischen Aspekt kombiniert wird, aber es ergeben sich dabei gewisse Konfliktsituationen, die dazu beitragen, dass voll entwickelte Tempussysteme wie das deutsche nur ein unterspezifiertes Aspektsystem neben sich dulden. Was die morphologischen Emergenzen betrifft, weisen Aspekt und Tempus damit typologisch gesehen oft gleich einer Balkenwaage korrelierende Bezüge auf. Für Tempora gilt nun, dass R als rein perspektivischer Referenzpunkt definiert werden muss. Dieser ist von der Sprecherlokalisation unabhängig. Erst vom
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Referenzpunkt aus erfolgt die eigentliche deiktische Lokalisation des Verbalgeschehens. Vor diesem Hintergrund ist der Unterschied zwischen Präteritum und Perfekt folgendermaßen zu verstehen:71 Obwohl beide Tempora (meistens) vergangene Ereignisse denotieren, liegen unterschiedliche Perspektiven vor. Für das Perfekt ist ein Perspektivenpunkt charakteristisch, der in der außersprachlich erfahrbaren Wirklichkeit und Gegenwart des Sprechers liegt. Das Verhältnis zur Sprechzeit ist dabei schwierig zu definieren. Natürlich ist die Perspektive in der Zeit als physikalischer Größe verankert. Genauso kann man aber auch darauf hinweisen, dass die Perspektive im Raum an den Sprecherstandort gebunden ist, was aber trivial scheint. Die physikalischen Verhältnisse von R und S sind also strenggenommen nicht relevant. Die undifferenzierte Einheit von Perspektive und Sprecherstandort bzw. Sprechzeit, die für den Aspekt charakteristisch ist, erklärt die Nähe des Perfekts zu dieser Kategorie (vgl. Marschall 1997: 17). Das Präteritum dagegen ist durch eine Perspektive gekennzeichnet, die völlig losgelöst von der zeitlichen und örtlichen Sprecherlokalisation ist. Diese Verlagerung ist keine außersprachlich wahrnehmbare im Sinne der Perspektive, die für das Perfekt charakteristisch ist, sondern eine fiktive, da der Sprecher natürlich im eigentlichen Sinne weder zeitlich noch örtlich versetzt wird.72 Tempora haben also zwei Aufgaben, nämlich die (deiktische) temporale Lokalisation des Ereignisses und die Lagerung der Perspektive.73 Im Vergleich zu den traditionellen temporalen Relationen, die hier als Ausgangsbasis dienten und terminologisch auch weiterhin Geltung haben, offenbart sich die Relevanz der Annahme eines Perspektivenpunktes dort, wo rein zeitreferenzielle Konzepte an der Abbildung der sprachlichen Realität scheitern. Das gilt vor allem Diese Überlegungen lassen sich auch auf andere Tempora übertragen, die Opposition von Präteritum und Perfekt eignet sich am besten zur Demonstration der prototypischen Perspektivenpunkte. Darüber hinaus wird sich auch hinsichtlich der pragmatischen Verteilung der Tempora in geschriebenen Texten die deiktische Sprecherlokalisation als entscheidender distributioneller Faktor erweisen. Die Zuordnung des Perfekts zur erfahrbaren außersprachlichen Wirklichkeit und des Präteritums zu einer fiktionalen nicht erfahrbaren Wirklichkeit wird sich besonders hinsichtlich einer binären Textstrukturiertheit, die durch diese beiden Vergangenheitstempora konstituiert wird, als relevant erweisen. Ganz andere Urteile finden sich in radikaleren Ansätzen wie jenem von Klein (1994: 24), der traditionelle Tempusmodelle generell zurückweist und die Bedeutung der Tempora nur über die Relation von topic time (TT) und time of utterance (TU) definiert. TT entspricht in der hier verwendeten Terminologie im weitesten Sinne einer Mischung aus R und E, wobei Klein implizit die Relevanz der Perspektive hervorhebt. TU entspricht S. Die wesentliche Gemeinsamkeit mit der hier vorgestellten Systematik ist die Beschreibung der Tempora über die zeitreferenzielle Dimension hinaus. Aus tempustheoretischer Sicht ergeben sich zwar Unterschiede, insgesamt stehen die hier vertretenen Thesen aber nicht im Widerspruch zu Kleins Modell.
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3 Tempus
für die oft der Invarianz zugerechnete Polysemie einzelner Tempusformen, die über ein Prototypenmodell nicht erfasst werden kann, etwa das historische Präsens, das Präteritum in seiner Funktion als Futur oder das Perfekt in seiner Funktion als Futur II. In diesem Zusammenhang ist auch der Unterschied von Tempus und anderen sprachlichen Verbalisierungsmitteln der Temporalität wie Temporaladverbien zu sehen: Entscheidend ist das Verhältnis von Sprecher und einem perspektivischen Referenzpunkt, das nur Verbaltempora darstellen können, während Temporalangaben jeglicher Art nur Aussagen über rein zeitliche Verhältnisse machen (vgl. Zeman 2010: 49).74 Die bisherige Diskussion drehte sich größtenteils um die Konzeptualisierung des Referenzpunktes R in der Terminologie nach Reichenbach (1947). Um Tempus als Teil des deiktischen Systems vollständig erfassen zu können, müssen abschließend noch die bislang unscharf gebliebene Sprechzeit S bzw. der Sprecherstandort konzeptionell und terminologisch enger gefasst werden.
3.2.3 Temporale Deixis Die Grundtempora Präteritum, Präsens und Futur stellen immer Gleichzeitigkeit zur Ereigniszeit her. So sind der natürliche Sprecher und das Ereignis zwar im Falle des Präteritums getrennt (R < S), durch die Verlagerung der Perspektive wird der Sprecher aber im unwirklichen Sinne an den Lokalisationsort des Ereignisses versetzt (vgl. Bull 1960: 12 und Leiss 1992: 232). Beim Perfekt dagegen fallen die Perspektive und der Sprecherstandort zusammen (R = S). Die Relation zwischen E und S ist ebenfalls variabel, spielt für die Definition von Tempus aber eine untergeordnete Rolle. S erweist sich im deiktischen System als einzige feste Größe, die den Nullpunkt eines indexikalischen Koordinatensystems bildet, der gemeinhin als Origo bezeichnet wird. Die Origo ist also die grundsätzlich unverrückbare räumliche und zeitliche Verortung des natürlichen Sprechers, das ‚Hier und Jetzt‘. Präteritum und Perfekt repräsentieren prototypische kommunikative Domänen, die als origo-inklusiv und origo-exklusiv bezeichnet werden können.75 Es
Die meisten natürlichen Sprachen verfügen nicht über ein Tempussystem. Die Versprachlichung von rein zeitlichen Bezügen ist in diesen Sprachen trotzdem möglich, ohne dass dafür ein komplexeres Inventar an Temporaladverbien notwendig wäre. Tempora erweisen sich hinsichtlich der Markierung von Zeitverhältnissen in Kombination mit solchen Adverbien demnach als weitestgehend redundant (vgl. Bohnemeyer 2009: 114, Zeman 2010: 49, FN 16). Hier und im Folgenden wird der Terminologie Zemans (2010: 50) gefolgt. Eine andere Auffassung, wie jene von Diewald (1991: 178–187), die aufgrund der Priorisierung einer Tempusdefinition mit der basalen Relation E – R eine Korrelation von ‚origo-exklusiv‘ mit generell allen
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wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Relation zwischen R und S weder im physikalisch-wirklichen noch im temporalen Sinne zu verstehen ist, aber bei origoinklusiven Äußerungen liegt auf jeden Fall eine abstrakte Simultanität der beiden Dimensionen vor, wodurch ein Referenzbezug der Äußerung zum Redemoment hergestellt wird. In den meisten Tempusbeschreibungen wird die Verankerung des Perfekts im origo-deiktischen Zentrum implizit und intuitiv mit Begriffen wie ‚Gegenwartsbezug‘, ‚Subjektivität‘ oder ‚Nähe‘ erfasst (vgl. Zeman 2010: 80). Im Präteritum fallen R und S auseinander, präteritale Kontexte sind also gerade dadurch charakterisiert, dass die geschilderten Sachverhalte von der Origo entbunden und außerhalb der dem Sprecher zugänglichen Sphäre der eigenen Wirklichkeit lokalisiert werden. Der Sprecher distanziert sich dabei von einer etwaigen Beteiligung am verbalen Geschehen, wobei sich diese Beteiligung auf einen gegenwärtigen Zugriff beschränkt und nichts mit der Verantwortung für die in E geschilderten Umstände und ihre (außersprachlichen) Konsequenzen zu tun hat. Der verlagerte Referenz- bzw. Perspektivenpunkt gleicht damit einem ‚Strohmann‘, auf den diese Verantwortung übertragen wird.76 Als abstrakte Merkmalsbündel der Opposition von Perfekt und Präteritum hinsichtlich ihrer Rollen im deiktischen System lassen sich in der Forschungsliteratur dementsprechend oft die Termini ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘ finden, die hier mit den Begriffen ‚origo-inklusiv‘ und ‚origo-exklusiv‘ gleichzusetzen sind, vgl.: ‚Nähe‘ hieße dann, daß das innere Auge des Sprechers kongruent mit dem Sprechzeitpunkt platziert ist, sein Sprechen und Schauen wirken synchron, real, unmittelbar, die beschriebene Ereignissituation scheint uns zu berühren. ‚Distanz‘ hieße, daß er das Geschehen von einem der Origo distinkten Punkt aus beurteilt: Sein Sprechen wirkt aufgrund versetzten Schauens unbeteiligt, mittelbar, abgehoben, wir befinden uns außerhalb der beschriebenen Ereignissituation. (Marschall 1997: 17)
Vergangenheitstempora annimmt, kann unter der Annahme von temporalen Perspektiven gut begründet zurückgewiesen werden. Ansonsten müssten Präteritum und Perfekt zu origodeiktischen Synonymen erklärt werden, was allen bisherigen Beobachtungen widersprechen würde. Eine Distanzierung vom Verbalgeschehen mittels expliziter Betonung der Unwirklichkeit eines Sachverhaltes ist für den Konjunktiv Präteritum charakteristisch. Dabei handelt es sich im Grunde um den Ausbau der perspektivischen Leistung des Präteritums. Es ist also kein Zufall, dass dieser Modus gerade davon abgeleitet ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass selbst in den oberdeutschen Dialekten der Konjunktiv Präteritum bis heute nicht in den Sog des Präteritumschwunds geraten ist. Die Rolle der origo-deiktischen Beziehungen innerhalb der Kategorie Tempus lässt sich also nicht ohneweiters auf andere Verbalkategorien übertragen.
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3 Tempus
Für Weinrich (1985: 28) ist es der Gegensatz von „besprochener“ und „erzählter“ Welt, der für präsentische77 und präteritale Kontexte anzusetzen ist, für Topalović / Uhl (2014: 42) jener der „geteilten“ bzw. „erlebten“ einerseits und der „fiktiven“ andererseits, für Engel (2009: 45) ist es der Unterschied zwischen „Verbindlichkeit“ und „Unverbindlichkeit“ eines Geschehens, für Benvenviste (1966) histoire und discours; Die Liste ließe sich noch fortführen. All diesen Konzepten liegt letztlich die Vorstellung einer origo-deiktischen Perspektivensetzung zugrunde. Die Verankerung des Perfekts in der deiktischen Origo erklärt seine Affinität zur gesprochenen Sprache und innerhalb dieser zu informellen Kontexten. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Gemeinplatz, sondern um eine übereinzelsprachliche und empirisch gut belegte Tendenz (vgl. u. a. Fleischman 1983 für das Französische, Radtke 2003 für das Italienische und Moser 2003 für das Griechische). Für das Deutsche gibt es eine Fülle an Daten zu verschiedensten Varietäten im vertikalen sowie horizontalen Spektrum, die die Dominanz des Perfekts in der gesprochenen Sprache belegen (vgl. Latzel 1977, Rowley 1983, Sieberg 1984, Schlegel 2004 u. v. m.). Am zunächst nur aus areallinguistischer deutscher Perspektive untersuchten Präteritumschwund im Oberdeutschen wird die Verteilung der Tempora nach Gebrauchskontexten besonders deutlich, obwohl dieses Phänomen nicht einfach mit den Merkmalen des mündlichen Sprachgebrauchs erklärt werden kann. So trivial es klingt, mag das einleuchtendste Argument dafür sein, dass im oberdeutschen Raum wohl weder deutlich mehr noch deutlich informeller gesprochen wird als in anderen deutschsprachigen Gebieten. Den oberdeutschen Dialekten haftet also im Vergleich zu anderen nichts besonders ‚Mündliches‘ an. Inzwischen hat sich zudem gezeigt, dass der Präteritumschwund kein deutsches Phänomen ist, sondern vielmehr ein mitteleuropäisches, das auch in angrenzenden rom. Sprachen zu finden ist. Als Merkmal des postulierten ‚Charlemagne Sprachbund‘ (vgl. Auwera 1998, Abraham / Conradie 2001, Abraham 2004 und Drinka 2013, 2017), an dem nicht nur süddeutsche, sondern auch französische und norditalienische Varietäten beteiligt sind, muss der Präteritumschwund vor allem aus sozio- und kontaktlinguistischer Sicht diskutiert und darf nicht auf die Extrapolation von Merkmalen der Mündlichkeit oder origo-deiktischen Referenzierungen reduziert werden.78
Dazu gehört bei Weinrich (1985) auch das Perfekt. Hier sei erneut auf die rezenteste und gleichzeitig umfassendste Studie zum Präteritumschwund von Fischer (2018) verwiesen, die das Phänomen multidimensional aus empirischer und theoretischer Perspektive untersucht. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann nicht gesondert und im Detail darauf eingegangen werden.
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3.2.4 Temporale Diskursmuster Die herausragende Stellung des Perfekts in der gesprochenen Sprache wird nicht nur in Relation zu jener des Präteritums überhaupt erst fassbar, sondern auch in Relation zu den Verhältnissen in der Schriftsprache des Gegenwartsdeutschen. Der Gegensatz von ‚gesprochenem Perfekt‘ und ‚geschriebenem Präteritum‘ gilt gemeinhin als basale Orientierungshilfe zum Verständnis des distributionellen Verhaltens deutscher Vergangenheitstempora (s. u.). Von einer generellen komplementären Verteilung der Formen in den beiden Domänen kann aber nicht gesprochen werden, was angesichts der Verwendung aller Tempora in der Trivialliteratur bereits aus nicht-linguistischer Perspektive offensichtlich ist. Zur Prototypisierung temporaler Verteilungsmuster braucht es daher textgrammatische Ansätze, wie sie unter anderem in der traditionellen Textlinguistik verfolgt werden. Besonders im Bereich der (Fremdsprachen-)Didaktik hat sich in Anlehnung an entsprechende Forschungsergebnisse die Vorstellung einer Abhängigkeitsbeziehung zwischen Tempus und Textsorten fest etabliert und bildet die Basis zur Erlernung des pragmatischen Gebrauchs einzelner Tempora. Die sog. ‚DaF-Regel‘ etwa besagt, […] dass der Perfekt-Präteritum-Gebrauch textsortenspezifisch sei: In schriftlichen neutralen Berichten, Zeitungsberichten, Lebensläufen, Erzähltexten und Märchen stehen alle Verben im Präteritum. In Gesprächen, Konversationen, mündlichen Berichten, mündlichen Erlebnisberichten und persönlichen Briefen hingegen stehen nur die Verben sein, haben und evtl. werden sowie die Modalverben im Präteritum und alle übrigen Verben im Perfekt. (Jäger 2007: 31)
Vor dem Hintergrund der Vermittlung pragmatischer Verteilungsmuster von Tempora im Fremdsprachenunterricht mag eine solche Simplifizierung möglicherweise gerechtfertigt sein. Die tatsächlichen Verhältnisse sind allerdings komplexer, weswegen eine textsortenorientierte Herangehensweise nur begrenzt darüber Auskunft geben kann und nur als erste Orientierung geeignet scheint. So ist zwar das Präteritum in ‚erzählenden‘ Textsorten besonders dominant, das bezieht sich allerdings lediglich auf die Abschnitte, die nicht von Dialogen bzw. direkter Rede geprägt sind. Da die meisten narrativen Texte nur zu einem kleinen Teil aus dialogischen Passagen bestehen, ist der Anteil der Präterita insgesamt entsprechend so hoch, dass der Eindruck entsteht, es handle sich dabei um eine stilistische Konvention. Für das Nhd. gilt als gesichert, dass über 80% der Verben in nicht-dialogischer Rede im Präteritum stehen, nur etwa 10% im Perfekt. Im Dia-
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3 Tempus
log dagegen sind die Verhältnisse hinsichtlich der absoluten Zahlen mehr oder weniger ausgeglichen (vgl. Hauser-Suida / Hoppe-Beugel 1972: 84).79 Die innertextuellen Präferenzen der beiden Tempora lassen sich auch sprachhistorisch für das Frnhd. (vgl. Wunderlich 1901, Sapp 2009), das Mnd. (vgl. Schöndorf 1983) und das Mhd. (vgl. Shimazaki 2002, Zeman 2005 und Zeman 2010) nachweisen. Die Affinität des Perfekts zum Dialog wird auch im Ae. und As. sichtbar (vgl. MacLeod 2012). Es gibt keinen Grund, für das Ahd. eine andere Verteilung anzunehmen, auch wenn diesbezüglich noch keine empirischen Zahlen vorliegen.80 Da allerdings insgesamt sehr wenige ahd. Perfektformen belegt sind, genügt ein Blick in die gängigen Grammatiken, um in den Beispielen Bestätigung zu finden.81 Perfektformen scheinen ebenso wie die Präsensformen, von denen sie abgeleitet sind, besonders in den älteren Sprachstufen fast ausschließlich in der direkten Rede und in Äußerungen des Autors im Rahmen von Kommentaren und Erläuterungen abseits des narrativen Duktus auf. Wie Zeman (2010: 8) anhand verschiedener mhd. Versepen zeigt, ist die Distribution weder von individuellen Gewohnheiten einzelner Autoren noch von dem den Texten zugrundeliegendem Stoff abhängig. Der Tempusgebrauch in der gesprochenen und geschriebenen Sprache ist zwar aufgrund der unterschiedlichen Gewichtung einzelner Gebrauchskontexte nicht gleichzusetzen, dennoch lassen sich die theoretisch fassbaren deiktischen Konzepte der Origo-Inklusivität und Origo-Exklusivität mit wenigen Einschränkungen auch auf die geschriebene Sprache übertragen, wo sie als dialogische bzw. nicht-dialogische Diskursmuster sichtbar werden, vgl. Tabelle 4. Die funktionale Deckungsgleichheit von Origo-Inklusivität und dialogischem sowie von Origo-Exklusivität und nicht-dialogischem Diskursmuster bedarf einer gewissen Relativierung: Bisher wurde die Funktion von Tempus als Markierung unterschiedlicher relationaler Referenzbeziehungen innerhalb des deiktischen Systems angenommen. Ausschlaggebend dafür war unter anderem die Relevanz der Äußerung für die erfahrbare egodeiktische Wirklichkeit des Sprechers, der als abstrakter Parameter S bestimmt wurde. Nun ist es aber so, dass sich gerade schriftliche Texte dadurch auszeichnen, dass kein im eigentlichen Sinne natürlicher Sprecher und damit auch keine reale Sprechzeit vorliegen. Der deiktische Nullpunkt ist dabei wie das gesamte deiktische Koordinatensystem fiktiv und
Die hier verwendeten Termini ‚dialogisch‘ und ‚nicht-dialogisch‘ bedürfen später noch einer präziseren Definition. In Kap. 5 werden entsprechende Daten vorgestellt. Vgl. dazu etwa die Beispiele von Schrodt (2004: § 5–§ 6).
3.2 Der Komplex der Temporalität
95
Tabelle 4: Vergleich zwischen dialogischen und nicht-dialogischen Passagen nach Zeman (2010: 81). nicht-dialogisch
dialogisch
Situationsentbindung ‚Distanz‘
(fingierte) Kommunikationssituation Situationsbezug ‚Hier und Jetzt‘ des Sprechers ‚Nähe‘
origo-exklusiv
origo-inklusiv
Präteritum
Perfekt
(E = R) & (R < S)
(E < R) & (R = S)
! affin zu Schriftlichkeit
! affin zu ‚Mündlichkeit‘82
vom Kontext einer nicht-wörtlichen Sprechzeit abhängig (vgl. Zeman 2010: 52).83 Da die etablierten Tempusmodelle vorrangig als Schablonen für isolierte Einzelaussagen angesehen werden müssen, ist eine „weite Definition“ der Deixis, wie sie von Ehrich (1992: 9) vorgeschlagen wird, ohnehin notwendig, um die Funktion von Tempora jenseits der Satzebene beschreiben zu können. Aufeinanderfolgende und inhaltlich zusammenhängende Äußerungen, wie sie für jede Art von Text charakteristisch sind, können nicht als bloße Addition von Einzeläußerungen aufgefasst werden. Eine inhaltliche Kohärenz ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, die Verkettung einzelner Tempora ist eine davon. Das bedeutet, dass das Setzen der einen oder anderen Verbalform nicht nur in Relation zum origo-deiktischen Zentrum zu sehen ist, sondern auch in Relation zu vorangegangenen Verbalereignissen. Strenggenommen ist Tempus im Text dadurch nicht ‚Mündlichkeit‘ kann in geschriebenen Texten nur indirekt erfasst werden. Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht unter anderem die textpragmatische Verteilung unterschiedlicher Verbalformen, was keinem Beitrag zur Historischen Mündlichkeitsforschung gleichkommt. Zum Verhältnis von ‚Mündlichkeit‘ und Textstruktur in der Diachronie siehe Koch / Oesterreicher 1985, Ágel / Hennig 2006 und die Diskussion bei Zeman (2010: 16–40). Dass sich die Verhältnisse der durch gängige Tempusmodelle erfassten (vermeintlichen) sprachlichen Wirklichkeit auch auf narrative Texte im Allgemeinen und fiktive im Speziellen übertragen lassen, wurde in zahlreichen Arbeiten wie jene von Hamburger 1953, Rasch 1961, Serzisko 1993, Almeida 1995, Zubin / Hewitt 1995 oder Zeman 2010 gezeigt. Auch für Weinrich (1985: 86) sind Tempora genauso wie Sprache insgesamt „gegenüber der Wahrheit indifferent“. Eine Gleichsetzung der tatsächlichen im eigentlichen Sinne origo-deiktischen Verankerung von Tempora in der erfahrbaren Wirklichkeit und einer fiktiven story world ist damit gerechtfertigt und muss hier nicht ausführlicher diskutiert werden.
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3 Tempus
nur ein deiktisches Phänomen, sondern – insbesondere in narrativen Passagen – auch ein anaphorisches. Damit kommt Tempora nicht nur die Aufgabe der Referenzzeiteröffnung zu, sondern deutlich öfter die der Aufrechterhaltung einer bereits bestehenden Referenzzeit. Die Vorstellung von anaphorischen Mikrosystemen im Kontext übergeordneter diskurspragmatischer Einheiten ist inzwischen fest etablierter Bestandteil der meisten modernen temporalsemantischen Beschreibungsmodelle (vgl. Dowty 1986, Hinrichs 1986, Nerbonne 1986, Zeman 2010 u. v. m.). Eine solche Konzeptualisierung ist auch die wesentliche Grundvoraussetzung für den formal-semantischen Ansatz der auf Kamp 1981 zurückgehenden Discourse Representation Theory, die zunächst als dynamische Semantiktheorie für den nominalen Bereich entwickelt und später auf den verbalen ausgeweitet wurde: The central idea of that application was that the main function of these tenses, and in fact of all tenses generally, is to signal to the recipient of the sentence in which the tense occurs how he should incorporate the information the sentence brings him into the representation which he has already formed oft he preceding sections of the text or discourse of which the sentence is part. (Kamp / Rohrer 1983: 250)
Da der Relevanz der Textprogression für einzelne Tempora bereits durch die Unterscheidung von nicht-dialogischen und dialogischen Diskursmustern eine bedeutende Rolle zukommt, erweist sich die zusätzliche Berücksichtigung der semantisch-pragmatischen Opposition von ‚anaphorisch‘ und ‚deiktisch‘ an dieser Stelle zwar aus theoretischer Perspektive als sinnvoll, aus forschungspraktischer jedoch als redundant oder sogar hinderlich. Da literarische Texte üblicherweise von einem chronologisch-erzählenden Duktus geprägt sind, muss für die meisten Tempusformen unabhängig von ihren anderen diskursiven Funktionen ohnehin ein anaphorischer Charakter angenommen werden. Eine solche Klassifizierung erschwert aber die Einordnung der innerhalb komplexer Satzgefüge herrschenden Abhängigkeitsverhältnisse, die gemeinhin mit der Opposition ‚absolut‘ und ‚relativ‘ beschrieben und teilweise als Synonym zu ‚deiktisch‘ und ‚anaphorisch‘ angesehen zu werden scheinen (etwa bei Declerck 1991). Die etablierte Definition von Comrie (1985: 36) sieht für die absoluten Tempora die Inklusion des deiktischen Zentrums S als Referenzpunkt vor, relative Tempora dagegen seien durch eine vorerwähnten temporalen Referenzpunkt charakterisiert, auf den sie sich beziehen. Comrie räumt dabei aber ein, dass jede Form der temporalen Referenz immer in Relation zu einem bereits bestehenden Referenzpunkt stehe und daher der Terminus ‚absolut‘ im engeren Sinne irreführend sei. Ein einheitlicher Analyserahmen ist weder für das eine noch für das Konzept vorhanden, weswegen eine solche Feinfühligkeit gegenüber derartigen ontologischen Überlegungen besonders im Zusammenhang mit der empirischen Analyse größerer Datenmengen nicht sinnvoll ist. Für die hier verfolgten Ziele genügt es
3.2 Der Komplex der Temporalität
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zunächst, sämtlichen Verben übergeordneter Matrixsätze zunächst absoluten Charakter zu attestieren, der sich über eine vom deiktischen Zentrum aus verorteten Referenzzeit definiert, sofern keine zusätzliche Angabe über ein besonderes Zeitverhältnis gemacht wird. Ob in subordinierten Nebensätzen Verbalkategorien grundsätzlich relativ sind, weil sie den Hauptsatz referenzieren, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Relative Temporalität ist aber unabhängig von der Satzart nur dann eindeutig bestimmbar, wenn sie vom Normalfall der Gleichzeitigkeit im Verhältnis zu R abweicht und morphologisch oder inhaltlich markiert wird, etwa über verschiedene Tempora oder zusätzliche Temporalangaben (vgl. Welke 2005: 355). Das gilt jedoch nur für den Fall E,R ≠ S, ansonsten müsste jedes Verbalereignis der einfachen Vergangenheit oder Zukunft als relativ angesehen werden. Relativität im Verhältnis zu präsentischen Kontexten der Gegenwart ist grundsätzlich nicht möglich. Im Zusammenhang mit historischen Texten sind relative Tempora daher größtenteils auf Kontexte der Vorvergangenheit beschränkt, da in narrativen Textsorten Kontexte der Vorzukunft selten eine Rolle spielen. Entsprechende methodische Konsequenzen müssen an einer anderen Stelle diskutiert werden.
3.2.5 Zwischenfazit Im vorangehenden Abschnitt ist deutlich geworden, dass die theoretische Erfassung der Kategorie Tempus nicht auf die bloße Lokalisierung von Ereignissen innerhalb des deiktischen Systems reduziert werden kann. Die traditionellen Parameter E, S und R nach Reichenbach 1947 eignen sich grundsätzlich zur isolierten Betrachtung und Analyse prototypischer Verwendungen von einzelnen Tempora, wie sie insbesondere in den Standardvarietäten des Englischen und des Deutschen vorkommen. Auf Basis der Unterscheidung von Präteritum und Perfekt wurde allerdings deutlich, dass eine deiktische Beschreibung der temporalen Funktionen nicht bei der Ermittlung bloßer zeitreferenzieller Beziehungen enden darf, sondern die Wirklichkeitserfahrung des Sprechers im Kontext des jeweils versprachlichten Sachverhalts miteinbeziehen muss. Aus diesem Grund wurde mit der Opposition von ‚Origo-Inklusivität‘ und ‚Origo-Exklusivität‘ eine korrelative pragmatische Projektion der Relationen R = S und R ≠ S als zusätzliche Dimension eingeführt. Der Parameter R ist damit nicht nur durch die Bereitstellung eines temporalen Referenzpunktes charakterisiert, sondern vielmehr durch eine temporale Perspektivenverlagerung, die eine potenzielle Trennung des in der Wirklichkeit verhafteten Sprechers von seinem deiktischen Standort ermöglicht. Die Vorstellung perspektivierender Funktionen von Tempus, wie sie bereits für die Kategorie des Aspekts als notwendig zur theoretischen Erschlie-
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3 Tempus
ßung des Kategorienkomplexes gezeigt hat, erweist sich auch im Hinblick auf die Untersuchung einzelner Tempora in schriftlichen Texten als notwendig, die nicht als bloße Aneinanderreihung von Einzelaussagen aufgefasst werden können. Die unterschiedlichen Beziehungen zum origo-deiktischen Zentrum schlagen sich darin als dialogische und nicht-dialogische Diskursmuster nieder, die als binnentextuell-differente Emergenzen der jeweiligen indexikalischen Referenzdomänen angesehen werden können. Daraus ergibt sich auch, dass innerhalb geschriebener Texte das Konzept der Sprechzeit trotz fehlender Verankerung in der außersprachlichen Wirklichkeit Gültigkeit hat und ein ‚narratives Jetzt‘ wie auch der Rest des deiktischen Zeigefeldes hinsichtlich der temporalsemantischen Strukturiertheit grundsätzlich gleich konstituiert ist wie natürlich-erfahrbares Bezugssystem. Damit sind auch unter Beibehaltung allgemeinlinguistisch etablierter Parameter der theoretische Rahmen und die damit verknüpften notwendigen Termini für die Analyse historischer Tempussysteme gegeben.
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen In diesem Unterkapitel soll ein Überblick über das Formenset des altgerm. Tempussystems und seine basalen Funktionen in den beiden hier untersuchten Idiomen gegeben werden, wie sie auf Basis der bisherigen Forschungsliteratur dargestellt werden können. Im Fokus stehen dabei die Gebrauchskontexte der Tempora, auf die vielfach beschriebenen Charakteristiken der ahd. und as. Konjugation selbst wird nicht im Detail eingegangen.84 In der Beschreibung des verbalmorphologischen Inventars offenbart sich der formalistische und generalisierende Charakter der traditionellen historischen Grammatiken germ. Sprachen besonders deutlich. Das der Rekonstruktionsphilologie nach Grimm entsprungene Bedürfnis, die sprachlichen Verhältnisse unifizierend deskriptiv für alle Räume und Zeiten nachzuzeichnen, prägt bis heute unser Bild einer kompilatorischen historischen Grammatikbeschreibung, an der divergierende einzelsprachliche Aspekte der Morphologie, Syntax oder Semantik nur als Ergänzung der übergeordneten Systematik Anteil haben. Die altgerm. Überlieferung umfasst vom 4. Jahrhundert (Got.) bis zum 14. Jahrhundert (Afrs.) ein ganzes Jahrtausend und von Island bis zu den Alpen weite Teile Nord- und Mitteleuropas. Arealen
Dazu vgl. die Grammatiken von Braune / Reiffenstein 2004 für das Ahd., Gallée 1910 für das As. Bei Heyne 1874 findet sich eine vergleichende Besprechung der verbalen Paradigmen aller altgerm. Sprachen.
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen
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Unterschieden hinsichtlich der Dynamik einzelner Entwicklungen innerhalb verschiedener grammatischer Kategorien wurde in der Sprachgeschichtsforschung dennoch verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt und eine historische Variationslinguistik konnte sich bis heute nicht etablieren. Das Verbalsystem des Ahd. und des As. kann man dementsprechend auf Basis bisheriger Beschreibungen als mehr oder weniger homogenes Gebilde bezeichnen. Zunächst soll diese reduktionistische Darstellung als Ausgangsbasis dienen, im weiteren Verlauf dieser Arbeit muss diese Auffassung allerdings relativiert werden.
3.3.1 Urgermanische Vorbedingungen und Überblick Für das Ahd., das As. und alle anderen altgerm. Sprachen gilt die bereits im Urgerm. vorherrschende und im Got. früh belegte binäre Grundopposition zwischen Präsens und Präteritum als Basis des Tempusparadigmas (vgl. Oubouzar 1974 bzw. Kotin 1997, Hewson / Bubenik 1997, Ringe 2006). Diese ererbte Dichotomie bildet bis in die Gegenwart den Kern des in urgerm. Zeit reduzierten Inventars an synthetischen Tempusformen. Im Vergleich zum Uridg., das über eine Fülle verschiedener Ausdrucksmöglichkeiten für temporale und aspektuelle Bezüge verfügte,85 ist das urgerm. Tempussystem also durch einen Minimalismus gekennzeichnet: Ein Wandel im Zeitgefühl scheint sich vollzogen zu haben, mindestens aber bestand kein Bedürfnis, das Zeitverhältnis, die Beziehung eines Vergangenen zur Gegenwart oder zu einem anderen Vergangenen zum Ausdruck zu bringen. Nicht mehr Zeitbezug und Zeitverhältnis waren dem Sprechenden wichtig, sondern die Stellung des Sprechenden zum Vorgang. Man möchte das Präsens als Tempus der Bewusstseinsnähe, das Präteritum als Tempus der Bewusstseinsferne charakterisieren. Mit diesen beiden Tempora waren weder die zeitlichen noch die aktionalen Unterschiede deutlich zu markieren. (Brinkmann 1931: 4)
Brinkmanns Beobachtungen decken sich bereits mit der moderneren Auffassung von Tempus als perspektivischer Sprecherlokalisation und weniger als deiktischer Ereignislokalisation. Auch der Gegensatz von ‚Bewusstseinsnähe‘ und ‚Bewusstseinsferne‘ antizipiert das Konzept eines binären origo-deiktischen temporalen Bezugssystem, wie es für spätere Sprachstufen nachweisbar ist. Ein solches muss zwar notwendigerweise für alle Sprachen angenommen werden, die Besonderheit im germ. System liegt aber in der Konformität von morphologischen Kategorien und diskurspragmatischen Verteilungsmustern. Vergleicht man das Urgerm. mit
Zum uridg. Verbalsystem im vgl. Shields (1992), Giannakis (1993), Hewson / Bubenik (1997) und Hewson (2001).
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nahen und entfernteren Verwandten, wird schnell ersichtlich, dass es sich dabei innerhalb der Indogermania um einen typologischen Sonderfall handelt. Strukturelle Parallelen finden sich dagegen in den ostseefinnischen Sprachen, die ebenfalls nur zwei Tempora kennen und zur Zeit der Herausbildung des Germanischen in intensivem Kontakt zu eben jenem standen. Die drastische Reduktion des uridg. Verbalinventars könnte also auf diese Sprachkontaktsituation plausibel zurückgeführt werden (vgl. Tschirch 1983: 63). Das deutsche Tempussystems ist also seit jeher ein Produkt arealtypologischer Ausgleichsprozesse. Während das germ. Präsens größtenteils uridg. Imperfektiva fortsetzt, geht das Präteritum auf ehemalige Perfekt- und Aoristformen zurück (vgl. Behaghel 1924: § 682, Brinkmann 1931: 22–23, v. Ertzdorff 1966: 401–402, Ringe 2006). In diesem Zusammenhang ist aber zu erwähnen, dass das zunächst nur für das Bildungsprinzip der bereits unproduktiv gewordenen ablautenden starken Verben gilt, da schwache Verben größtenteils denominale Neubildungen sind und nur selten deverbale Ableitungen, jedenfalls aber eine rein germ. Innovation darstellen. Dementsprechend spielen die vorgerm. Verhältnisse für die schwachen Verben kaum eine Rolle, für die starken allerdings schon. Umso bemerkenswerter ist es, dass bisher keine Studie zur historischen germ. Tempussemantik die beiden Bildungsprinzipien und damit etwaige funktionale Rudimente älterer Systematiken als Parameter berücksichtigt hat. Gerade im Hinblick auf die Affinität des Präfixes gi- zu der einen oder anderen morphologischen Klasse könnte sich dieser Faktor als aufschlussreich erweisen. Der unmittelbarste Zugang zu dieser und ähnlichen Fragen, die auf die Beschaffenheit des urgerm. Verbalsystems jenseits der bloßen morphologischen Rekonstruktion abzielen, führt über die Verhältnisse im Got.: Das Präteritum dient in der Bibelübersetzung Wulfilas zur Übertragung von griechischen Aorist-, Imperfekt-, Plusquamperfekt- und Perfektformen (vgl. Scharbau 1957:83 und Krause 1968: § 207.2). Auffällig ist eine Tendenz präfigierter Präterita zur Übersetzung des Aorists und des Perfekts, dabei handelt es sich aber nur um eine bevorzugte Möglichkeit und keine Regel (vgl. Dahm 1909: 26, Pollak 1964: 58, Đorđević 1994: 301). Das got. Präsens wird wie jenes aller anderen altgerm. Sprachen als polysemes ‚Resttempus‘ beschrieben, das zum Ausdruck allgemeingültiger, gegenwärtiger oder zukünftiger Ereignisse Verwendung findet,86 wobei Letzteres im Zusammenhang mit der Aspektualität des Verbes diskutiert wird und dementsprechend den ga-Präfixen hier erneut eine besondere Rolle zukommt (vgl. Streitberg 1891: 119, Präsensformen mit Vergangenheitsbezug im Sinne eines ‚Präsens Historicum‘ gibt es im Got. nicht. Bezüglich einiger weniger Belege scheint zwar Uneinigkeit zu herrschen (vgl. Scharbau 1957: 83), eine solche Funktion wäre aber auch im Kontext der anderen altgerm. Sprachen untypisch.
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen
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Dahm 1909: 19). Von potenziellen periphrastischen Konkurrenzkonstruktionen kommen im Got. vereinzelt skulan, duginnan, haban + Inf. vor, deren futurische Bedeutung aber aus den wenigen vorhandenen Belegen nicht eindeutig hervorgeht (vgl. Behaghel 1924: § 682). Ähnliches gilt für den Status der periphrastischen Verbalkonstruktionen, die als frühe Vorläufer der deutschen Passiv- und Perfektkonstruktionen angesehen werden können. Die got. Formen wisan und wairþan + Partizip Präteritum erlauben Rückschlüsse auf frühere Verhältnisse nur insofern, als die Möglichkeit zur Bildung solcher analytischen Formen wohl schon für das urgerm. System angenommen werden kann. Über die pragmatischen Anwendungsbereiche dagegen kann nur spekuliert werden. Im Got. sind diese Konstruktionen vor allem durch die stative bzw. mutative Aktionsartensemantik des Finitums charakterisiert, die noch keine Anzeichen von Grammatikalisierung zeigen und demnach nicht als Auxiliarverben bezeichnet werden können (vgl. Abraham 1987, 1991, 1992, Kotin 1997: 484). Eine vermeintliche Vorläuferkonstruktion des deutschen haben-Perfekts mit Partizip Präteritum ist im Got. zweimal belegt, dabei kann es sich aber jeweils um eine strukturelle Homonymie handeln, etwa bei (6): (6)
frauja, sai sa skatts þeins, þanai habaida galagidana in fanin (W Lk, 19, 20) ‚Herr, hier ist dein Schatz, den ich in ein Tuch gelegt hatte.‘
Auch wenn die Versuchung groß ist, hier ein deutsches Plusquamperfekt herauszulesen, indiziert der Text der griech. Vorlage (ebenso wie jener der lat. Vulgata) eher eine kompositionelle Lesart mit Vollverbsemantik des Finitums. Eine stimmigere Übersetzung wäre demnach ‚Herr, hier ist dein Schatz, den ich in ein Tuch gelegt bei mir hatte.‘ (vgl. dazu auch die Diskussionen bei Grønvik 1986: 34 und Kuroda 1997: 289). Ein haben-Perfekt im Sinne einer konventionalisierten Form, wie sie in den westgerm. Sprachen gut belegt ist, gibt es im Got. also höchstwahrscheinlich noch nicht, im Urgerm. damit ebenso wenig. Die Möglichkeit einer strukturell gleichartigen Bildung in rein syntaktischer Hinsicht dürfte aber als Ausgangsbasis für den weiteren Grammatikalisierungsprozess sehr früh vorhanden gewesen sein, was angesichts der deutlich freieren Serialisierung und der semantischen Polysemie des Verbs ✶habjaną einleuchtet. Die direkte Evidenz aus got. Quellen legt nahe, dass das Urgerm. nur über zwei unstrittige Tempora verfügte. Diese synthetischen Formen sollten auch für die deutsche Sprachgeschichte trotz des massiven Ausbaus analytischer Verbalformen noch lange eine qualitativ und quantitativ dominierende Rolle im Tempussystem einnehmen, in manchen Regionen des deutschsprachigen Raumes
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3 Tempus
bis heute. Sie werden daher auch hier die Ausgangsbasis der Beschreibung des ahd. und as. Tempussystems bilden.
3.3.2 Präsens Übereinstimmend wird das Präsens im Ahd. und As. als Tempus der NichtVergangenheit beschrieben (vgl. Braune / Reiffenstein 2004: § 301, Schrodt 2004: § 122, Erdmann 1874: § 5, Behaghel 1897: § 96, Eroms 1997: 11). Die Zuordnung zu einer bestimmten Zeitstufe ist demnach zwar nicht möglich, die prototypische Verwendung scheint aber der Ausdruck von Gleichzeitigkeit der Parameter E, R und S zu sein, wie auch die auffallend häufige Verbindung mit der deiktischen Temporalangabe nu ‚nun‘ unterstreicht: (7)
Nu birun wir mórnente mit séru hiar in lánte, […] (O, I, 18, 21) ‚Nun sind wir trauernd und voll Gram hier in diesem Land.‘
Für viele Belege gilt allerdings, dass der zeitreferenzielle Bezug zum ‚Hier und Jetzt‘ des Sprechers nicht in einer wenigstens partiellen Deckungsgleichheit von E, R und S deutlich wird, sondern nur als unmittelbare Bewusstseinsnähe verstanden werden kann. So kann eine Präsensform auch auf der Gegenwart unmittelbar vorangegangene Handlungen referieren. In dialogischen Passagen gilt das vor allem für die zahlreichen Verba dicendi, mit denen auf bereits getätigte Äußerungen des Gesprächspartners verwiesen werden, vgl. (8) und (9): (8)
rehto spréchet ir thár: ich bín ouh so, thaz ist wár. (O, IV, 11, 46) ‚Mit Recht sprecht ihr da: Ich bin auch so, das ist wahr.‘
(9)
It sô giuuerðan mugi, sô thu mid thînun uuordun gisprikis. (H 158) ‚Es möge so werden, wie du mit deinen Worten sprichst.‘
In solchen Fällen könnte stattdessen auch ein Präteritum gesetzt werden, um Bezug zum bloßen Redeinhalt herzustellen. Eingebettet in einen Dialog signalisieren solche Präsensformen die Existenz eines kollektiven Ereignishorizonts der jeweiligen Gesprächsteilnehmer. Nicht die Lokalisierung des Ereignisses in der Zeit steht hier im Vordergrund, sondern die Relevanz des Sprechaktes für die gegenwärtige Kommunikationssituation, wie sie für jede origo-inklusive Äu-
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen
103
ßerung charakteristisch ist. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Verba dicendi, die als Redeeinleitung fungieren, also nicht unmittelbar Vergangenes referenzieren, sondern unmittelbar Folgendes ankündigen. Besonders zahlreich sind solche Verwendungen bei Otfrid, was sicher textsortenbedingt ist. Bei stark proklamativen Äußerungen dienen sie nicht nur als Ankündigung wichtiger Inhalte, sondern auch als Wahrheitsbezeuger, vgl. (10): (10) ih sagen iu éin: bi jaron químit er iu héim. (O I, 27, 28) ‚Ich sage euch eines: Im Laufe der Jahre wird er heimkommen.‘ Da das Ahd. über kein morphologisches Futur verfügt (s. u.), gibt es in diesen Kontexten keine potenziellen konkurrierenden Formen. Eine futurische Lesart wäre aber durch den unmittelbaren Vollzug untypisch, da keine Motivation für eine Perspektivenverlagerung vorliegt. Über tatsächliche zukünftige Zeitreferenz gibt das Verb ahd. quimit ‚kommt‘ des Folgesatzes Auskunft. In dieser Funktion kommt das Präsens regelmäßig zum Einsatz, was oft durch zusätzliche futurische Kontextangaben wie hier ahd. bi jaron ‚mit den Jahren‘ deutlich gemacht wird. Weniger spezifisch, dafür umso häufiger ist die Verbindung des Präsens mit dem oft futurischen Temporaladverb ahd. thanne bzw. as. thanna ‚dann, danach‘, vgl. (11) und (12): (11) Joh rúarit thanne smérza thaz stéinina hérza, bigínnit thanne suízzen, mit záhirin sih nézzen; (O V, 6, 35) ‚Und es bewegt dann Schmerz das steinerne Herz, Beginnt es dann zu schwitzen, mit Tränen sich benetzen.‘ (12) sîðor maht thu mêðmos thîna te them godes altere ageƀan: than sind sie themu gôdan uuerðe, heƀencuninge. (H 1471) ‚Dann sollst du deine Kostbarkeiten dem Gotteshaus geben, dann sind sie dem Guten wert, dem Himmelsherrscher.‘ Das Präsens gilt im Ahd. als dominierendes Tempus zur Beschreibung zukünftiger Sachverhalte, was auch durch die Übersetzungsliteratur gesichert ist, in der lat. Futura regelmäßig mit dem Präsens übersetzt werden (vgl. Scaffidi-Abbate 1981: 331, Valentin 1979: 429, Schrodt 2004: § 124). Mitunter wird die Bedeutung der gi-präfigierten Verben hervorgehoben, die etwa laut Eroms (1997: 11) „fast immer futurimplikativ“ seien. Unter der Annahme einer perfektiven Funktion
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3 Tempus
des Präfixes gibt es gute Gründe, einen solchen Zusammenhang anzunehmen, da übereinzelsprachlich Perfektivität als Verhinderer von Gegenwartslesarten in präsentischen Kontexten gilt (vgl. Lockwood 1968: 108, Dahl 1985: 78, Leiss 1992: 196, Abraham 2005: 9, Boogaart 2007: 54). Zu einem vorsichtigeren Urteil kommt Kuroda (2005: 265), der mangels objektivierbarer Kriterien auf eine Untersuchung der gi-Verben im Präsens und damit verbundenen futurischen Lesarten grundsätzlich verzichtet. Lawson (1965) spricht sich generell gegen eine spezifische Funktion des Präfixes als Futurmarker aus. Die frühen Beschreibungen des As. nehmen das Präsens in der Funktion des Futurs nur als seltenere Option von vielen wahr und sehen diese größtenteils durch periphrastische Konstruktionen mit unterschiedlichen Modalverben + INF ausgedrückt (vgl. Holthausen 1921: § 393, Behaghel 1897: § 96).87 Das mag aber mehr auf die verhältnismäßig dürftige Forschungslage im Vergleich zum Ahd. zurückzuführen sein und nicht auf generell unterschiedliche Verhältnisse in den beiden Sprachräumen. Weder das Ahd. noch das As. kennen ein werden-Futur, das erst im späteren Mhd. fassbar wird. Die mutative Aktionsartsemantik des Vollverbs ahd. werdan bzw. as. werđan zeigt zwar naturgemäß eine inhärente Affinität zu futurischen Lesarten, diese sind aber nicht als konstitutives temporales Merkmal zu werten. Dasselbe gilt auch für die Modalverben ahd. sculan, mugan, muozan, wellen und ihre as. Kognate, auf die im Rahmen von Kap. 2.2.2 hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit dem Präfix gi- bereits genauer eingegangen wurde. Dort wurde auch darauf hingewiesen, dass Modalverben aufgrund ihres zumeist imperativischen Charakters vorwiegend Kontexte der Nicht-Ausführung von Verbalhandlungen indizieren, was eine genaue temporale Verortung oft verhindert. Das gilt auch für andere Formen der Modalität, besonders die Verbalkategorie Modus, die daher in dieser Arbeit nur am Rande berücksichtigt werden kann. Der fehlende temporaldeiktische Bezug zur Sprecherorigo ist das strukturelle Merkmal des Konjunktivs schlechthin (vgl. Schrodt 2004: § 125). Für das Mhd. konstatiert Zeman (2010: 181), dass den Modalverbkonstruktionen mit Infinitiv kein Status eines grammatikalisierten Futurtempus zugesprochen werden kann. Konsequenterweise muss ein solcher für ältere Sprachstufen auch zurückgewiesen werden, eher sogar mit deutlicherem Nachdruck. Ob die analytischen Konstruktionen mit finitem Modalverb hinsichtlich ihrer textuellen Distribution in Konkurrenz zu anderen Präsensformen und insbesondere jenen mit gi-Präfixen stehen, muss also
Im Got. dagegen ist laut Behaghel (1924: § 683) das „Präsens im futurischen Sinn“ neben wenigen konkurrierenden Umschreibungen die allgemeine Form für die Beschreibung zukünftiger Sachverhalte.
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen
105
vorerst offenbleiben. Die generelle Sinnhaftigkeit einer solchen Fragestellung kann überhaupt erst auf Basis klarer Verteilungsmuster durch empirische Daten neu diskutiert werden. Noch eine weitere Funktion des Präsens zeichnet sich im weitesten Sinne durch ihre Atemporalität aus, nämlich jene der Versprachlichung immerwährender oder sich wiederholender und damit voraussagbarer Zustände. Oft wird diese Funktion nicht extra erfasst, da beständig gültige Sachverhalte intuitiv mit dem Bezug zur Gegenwart in Verbindung gebracht werden, wo sie ihren Gültigkeitsanspruch überhaupt erst für den Sprecher erfahrbar geltend machen können. Bei Otfrid erscheinen solche Präsensformen oft in Gleichnissen oder Redewendungen, die auch in präteritale Kontexte eingebettet werden (vgl. dazu auch Schrodt 2004: § 122): (13) Thera férti er ward irmúait, so ofto fárantemo duit; ni lazent thie árabeit es fríst themo wárlicho mán ist. (O, II, 14, 3) ‚Er wurde müde von dem Weg, wie es dem Fahrenden oft ergeht, die Arbeit lässt keinem Ruhe, der ein wahrer Mann ist.‘ In dieser gnomischen Funktion sind auch zahlreiche gi-Präfixe belegt. Von einer eindeutig futurischen Lesart kann dabei aber nicht die Rede sein, vgl. erneut: (14) So gibúrit mánne thara er so gínget thanne: gisihit thaz súaza liabaz sín, thoh fórahtit theiz ni mégi sin. (O, V, 11, 30) ‚So pflegt es dem Menschen oft zu ergehen: Erblickt er das, was ihm lieb ist, fürchtet er doch, es sei es nicht.‘ Unabhängig davon lässt sich feststellen, dass die Polysemie des Präsens in den ältesten belegten Sprachstufen auch aus heutiger Perspektive vertraut scheint und im Wesentlichen das Tempus seine Stabilität in funktionaler Hinsicht diachron bewahren konnte (vgl. dazu auch die gegenwartssprachlichen Verhältnisse in Duden 2016: § 721–723). Nur die Funktion als historisches Präsens, also zur unmarkierten Versprachlichung vergangener Umstände, war weder im Ahd. noch im As. entwickelt, was angesichts der ähnlichen mhd. Verhältnisse nicht überrascht. Für das Hochdeutsche ist diese Funktion erst ab dem 16. Jahrhundert regelmäßig belegt (vgl. Zeman 2010: 154–155). Vereinzelt werden altsprachliche Belege für ein Präsens zur Bezeichnung vergangener Ereignisse in vermeintlich narrativen Kontexten diskutiert, etwa eine Stelle im Ludwigslied (vgl. Hempel 1937 / 1966: 423). Dass es sich dabei um ein Epiphänomen handelt, das außer-
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halb des prototypischen Temporalsystems und dessen Varianzbereichs zu verorten ist, zeigen aber die lat. Präsensformen in dieser Funktion, die in der ahd. Literatur regelhaft mit dem Präteritum übersetzt werden (vgl. Valentin 1979: 429). Wäre etwa dem grundsätzlich vorlagentreuen Tatian-Übersetzer ein funktionsgleiches deutsches Präsens zur Verfügung gestanden, hätte er wohl davon Gebrauch gemacht. Auch bei Otfrid gibt es Beispiele „erzählender“ Präsensformen (Schrodt 2004: § 122): (15) Sar Kríachi joh Románi iz máchont so gizámi, iz máchont sie al girústit, so thíh es wola lústit; (O I, 1, 13) ‚So wie es Griechen und Römern gelingt: Sie machen es so trefflich, dass es dir zum Genuss gereicht.‘ Es war Otfrid wohl bewusst, dass die Griechen und Römer, auf die er sich hier bezieht, nicht mehr als seine Zeitgenossen zu verstehen sind. Die antiken Dichter stehen hier vielmehr metonymisch für eine literarische Tradition, an die Otfrid mit seiner fränkischen Dichtung anknüpfen möchte. Hier tritt erneut das Merkmal der origo-inklusiven Bewusstseinsnähe in den Vordergrund, das sich gegenüber temporaldeiktischen Verortungen als dominant erweist. Derartige Beispiele sind also nicht dafür geeignet, vermeintliche Ansätze eines historischen Präsens in den ältesten Sprachstufen zu demonstrieren, wie das etwa bei Hempel (1937/ 1966) geschieht, der eine solche Funktion als Merkmal der „Volkssprache“88 annimmt. Ein voll entwickeltes historisches Präsens zeichnet sich dadurch aus, dass es vom origo-deiktischen Zentrum losgelöst ist und mit dem Präteritum in Konkurrenz treten kann. Solche Verwendungen des Präsens gibt es im Ahd. und As. nicht.
3.3.3 Präteritum Die tochtersprachlichen Fortsetzer des urgerm. Präteritums sind auch im Ahd. und As. unstrittig als Tempus der Vergangenheit zu klassifizieren. Das Präteritum vereint Formen des uridg. Aorists, Perfekts und teilweise des Imperfekts und des historischen Präsens, wie es im Lat. erhalten ist (vgl. Erdmann 1886: 143, Grimm 1898: § 148, Holthausen 1921: § 394, Behaghel 1924: § 701, Pollack
Hempel meint damit in diesem Zusammenhang aber eindeutig den mündlichen Sprachgebrauch und nicht die Volkssprache als Domäne im Gegensatz zur Sakralsprache Latein.
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1964: 50, Krause 1968: 216, Shimazaki 2002: 62, Schrodt 2004: § 123). Die jeweilige Lesart und der damit einhergehende Temporalitätswert hängt in den germ. Sprachen vom Kontext ab, wobei dieser nicht immer eindeutig ist. Verlässliche Aussagen darüber, wie das Verhältnis der einzelnen Lesarten im Vergleich zu Sprachen mit einem ausdifferenzierten Inventar bewertet werden kann, liegen dementsprechend nicht vor. Ähnlich wie der Abbau des Präfixes gi- ist der Abbau der temporalen Funktionen des deutschen Präteritums zwar gut dokumentiert, aber kaum beschrieben. Das Präteritum ist im Ahd. und As. ähnlich wie im Gegenwartsdeutschen meistens durch die Parameter E,R < S charakterisiert. Im Kontext der Narration kann es einzelne aufeinanderfolgende (16) oder sich überlagernde Ereignisse (17) ausdrücken, entspricht also dem grundsprachlichen und griech. Aorist oder dem Imperfekt. Oft wird es gestützt durch den textstrukturierenden Diskursmarker ahd./as. tho ‚da(nach)‘:89 (16) Giuuêt imu thô mid theru menegi manno drohtin an thea berhton burg. (H 3706) ‚Es kam da mit dem Gefolge der Herr zu der edlen Burg.‘ (17) Tho wárun thar in lánte hirta háltente, thes féhes datun wárta widar fíanta. (O I, 12, 1) ‚Da waren dort im Land Hirten lagernd, die ihr Vieh beschützten gegen Feinde.‘ Da dem Ahd. und dem As. die differenzierten temporalmorphologischen Ausformungen der Gegenwartssprache größtenteils fehlen, übernimmt das Präteritum
Wie Donhauser / Petrova (2009) gezeigt haben, ist die diskurssemantische Funktion von ahd. tho durch sein Stellungsverhalten spezifiziert: Bei der Etablierung eines neuen Diskursreferenten, also einer neuen Topikzeit, steht das Adverb im postverbalen Bereich von V1-Sätzen. Referiert tho anaphorisch auf eine gegebene temporale Größe, also eine bereits etablierte Topikzeit, leitet es V2-Sätze ein. Bereits im Spätahd. war diese Systematik allerdings im Abbau begriffen und kann im Mhd. nicht mehr nachgewiesen werden (vgl. Zeman 2010: 132, FN 11). Zu den Verhältnissen im As. kann bislang nichts gesagt werden, möglicherweise ließe sich aber aufgrund des (oft attestierten) innovativeren Charakters des as. Verbalsystems bereits eine Entwicklung ableiten, wie sie für das Hochdeutsche in der Diachronie fassbar wird.
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auch oft die Funktion des Perfekts und ist damit durch die nicht-prototypischen Parameter E < R,S charakterisiert. Die Bedeutung dieser perfektischen90 oder resultativen Funktion tritt dabei durch den Kontext hervor: (18) In búachon ist nu fúntan: thaz wort theist mán wortan, iz ward héra in worolt fúns joh nu búit in úns; (O II, 2, 32) ‚In den Büchern ist es festgeschrieben: Dass das Wort Mensch geworden ist, dass es in diese Welt gekommen ist und nun unter uns weilt.‘ (19) than uuas imu that luttil fruma, that he it gio an is hertan gehugda, (H 2505) ‚Dann war es ihm ein kleiner Gewinn, was er immer in seinem Herzen behält.‘ In (18) wird die Konkurrenzsituation zwischen dem alten Präteritum in perfektischer Funktion und den innovativen Perfektformen besonders deutlich. In dieser Passage werden drei resultative Verbalhandlungen beschrieben, einmal durch eine Passivform, einmal durch ein Perfekt, einmal durch ein Präteritum. Eine Entwicklungsdynamik hinsichtlich der pragmatischen Verschiebungen im System lässt sich allerdings nicht nachzeichnen. Regelmäßige perfektische Funktion haben jedenfalls Präteritopräsentien (vgl. Schrodt 2004: § 123), nach Behaghel (1924: § 702) ist das Präteritum ansonsten diesbezüglich bereits sehr eingeschränkt. Zu einem völlig anderen Urteil kommt Shimazaki (2002: 62), der das Präteritum in perfektischer Verwendung noch als Normalfall klassifiziert. Angesichts des zahlenmäßig geringen Vorkommens der periphrastischen Perfektformen wäre alles andere auch überraschend. Nach Ansichten unterschiedlicher Autoren wird eine Konkurrenzsituation zu den periphrastischen Formen besonders durch die gi-präfigierten Präterita möglich, die eine funktionale Nähe zu diesen zeigten. Im Zusammenhang damit ist auch die These zu sehen, gi-Präfixe würden am Präteritum plusquamperfektische Lesarten auslösen (vgl. Dahm 1909: 26, Behaghel 1924: § 703;). Auffällige typologische Parallelen gibt es im Ostslaw., wo das perfektive Präteritum ebenfalls eine solche Funktion erfüllt (vgl. Kindaichi 1994: 27). Die Korrelation des Präfixes mit der Markierung relativer Zeitverhältnisse, die man mit dem
Nicht zu verwechseln mit dem perfektiven Aspekt.
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nhd. Plusquamperfekt übersetzen müsste, ist mehrfach gezeigt worden, sowohl für das Got. (vgl. Heindl 2017: 85–86), das Ahd. (vgl. Kuroda 2005: 268), das As. (vgl. Fleißner 2017: 28) als auch für das Mhd. (vgl. Dal 1966: 121, Leiss 2007: 90, Zeman 2010: 14291). Im Frnhd., wo das Präfix ge- nur noch als Reliktform angesehen werden kann, lässt sich eine vergleichbare Disposition nicht mehr nachweisen, allerdings ist hier das Präteritum innerhalb dieser Kontexte ohnehin bereits vom periphrastischen Plusquamperfekt verdrängt worden (vgl. Ebert 1993: § 159). In Kap. 2.2.2 wurde argumentiert, dass unter der Annahme einer faktiven Bedeutung von gi- ein kumuliertes Auftreten des Präfixes kein zwingendes Indiz für etwaige Temporalitätswerte sein muss, sondern eine naheliegende Implikation der Basisfunktion. Selbst vor dem Hintergrund der Verteilungsmuster, die für Simplizia und Derivate postuliert wurden, gibt es keinen textpragmatischen Anwendungsbereich, in dem gar keine unpräfigierten Verben vorkommen können, so auch in plusquamperfektischer Funktion, vgl. erneut: (20) So si in ira hús giang, thiu wirtun sia érlicho intfiang, (O I, 6, 3) ‚Als sie das Haus betreten hatte, wurde sie von der Wirtin angemessen empfangen.‘ (21) Ságetun thaz sie gáhun stérron einan sáhun, joh dátun filu mári, thaz er sín wari. (O, I, 17, 19) ‚Sie sagten, dass sie kürzlich einen Stern sahen, und überall machten sie bekannt, dass er seiner wäre.‘ Von einer eindeutigen Abhängigkeitsbeziehung der Kontexte der Vorvergangenheit zur verbalen Derivation kann also auf Basis bisheriger Forschungsergebnisse nicht gesprochen werden. Insgesamt handelt es sich aber um einen prototypischen präteritalen Funktionsbereich. Das quantitative Verhältnis von Simplizia und Derivaten muss vorerst offenbleiben. Ähnlich wie das Präsens kann auch das Präteritum in gnomischer Verwendung auftreten, wenn auch deutlich seltener. Es ist dabei auf den Kontext von Segnungen beschränkt (vgl. Schrodt 2004: § 123). Hier entsteht der Eindruck,
Zeman (2010) unterscheidet zwischen verschiedenen Satzarten und stellt eine solche Tendenz ausschließlich in Nebensätzen fest. Eine entsprechende Unterscheidung scheint auch hinsichtlich der Distributionsverhältnisse im Ahd. und As. aufschlussreich.
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solche Präterita würden dadurch präsentisch gebraucht, da sie auch mit nhd. Präsens übersetzt werden müssen: (22) Ward wóla in then thíngon thie selbun ménnisgon, thie thar thoh bígonoto sint síchor iro dáto; (O V, 19, 11) ‚Wohl erging (/ergeht) es diesen Menschen vor dem Gericht, die dort sicher sind wegen ihrer Taten.‘ (23) Mines fáter hus ist bréit, ward wóla then thara íngeit; (O IV, 15, 5) ‚Meines Vaters Haus ist groß, Wohl erging (/ergeht) es dem, der eintritt.‘ Ein derartiges Präteritum erscheint uns aus gegenwartssprachlicher Perspektive fremd. Nach Behaghel (1924: § 289) ist der Tempusgebrauch als Versicherung zu verstehen, dass bereits geschehene Ereignisse auch in Zukunft geschehen werden. Das Präteritum ist hier also ein Wahrheitsbezeuger, weil es einen tatsächlichen Vollzug andeutet. Ein Präsens bliebe dagegen in der Sphäre der reinen Möglichkeit, also der Nicht-Ausführung verhaftet. Derartige Verwendungen sind wohl bereits in den ältesten Sprachstufen eine Randerscheinung, die Überlieferungslage deutet jedenfalls darauf hin. Gerade Segenssprüche gehören schließlich zu den selbst altsprachlich gut belegten Textsorten. Die im weitesten Sinne atemporal zu wertenden präteritalen Modalverbkonstruktionen und Formen des Konjunktiv Präteritums, der vom indikativischen Präteritumstamm gebildet wird, lösen ähnlich wie im Präsens eine pseudofuturische Lesart aus (vgl. Kuroda 2005: 270). Sie erweisen sich hinsichtlich einer Untersuchung temporaler Verhältnisse als intervenierender Faktor, der getrennt von den indikativischen Formen behandelt werden muss. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses morphologisch so stabile Tempus in funktionaler Hinsicht im Laufe der deutschen Sprachgeschichte einem sukzessiven Verdrängungsprozess ausgesetzt war, der sich aber in den ältesten Sprachstufen erst andeutet. Sowohl im Ahd. als auch im As. sind wir also mit einer deutlich höheren Diversität konfrontiert, was die Anwendungsbereiche des Präteritums betrifft. Als prototypisches Erzähltempus ist es zwar größtenteils in der Domäne der origo-exklusiven Situationsentbindung vom Sprecher verhaftet und zeichnet sich damit wie im Nhd. durch eine Perspektivenverlagerung aus. Aufgrund der noch schwach entwickelten Perfektformen übernimmt es notwendigerweise aber auch temporale Aufgaben, die heute den periphrastischen Verbalformen zugerechnet werden. Eine genauere Darstellung dieser Konkurrenzsituation ist auf Basis bisheriger Erkenntnisse allerdings
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noch nicht möglich und kann erst anhand empirisch ermittelter Verteilungsmuster geleistet werden. Dazu muss aber zunächst noch auf die periphrastischen Perfektformen und ihre bisherigen Funktionsverortungen eingegangen werden.
3.3.4 Periphrastische Perfektkonstruktionen Da die Basisopposition von Präsens und Präteritum für das ahd. und auch das diesbezüglich weniger kontrovers diskutierte as.92 Tempussystem nicht nur als grundlegend, sondern oft auch als ausreichend beschrieben wurde, herrscht bezüglich des Integrationsprozesses der Fügungen mit den Auxiliaren haben/sein + Partizip Präteritum aus tempustheoretischer Sicht keine Einigkeit. Der Temporalwert ist größtenteils durch das Tempus des Hilfsverbs determiniert: Das Perfekt fällt mit dem Präsens zusammen, das Plusquamperfekt mit dem Präteritum (vgl. Oubouzar 1974: 14–15, Schecker 1994: 221, Eroms 1997: 31, Kuroda 2005: 261). Sowohl die Konstruktionen mit haben als auch jene mit sein zeichnen sich in vielen Fällen durch ihre (nicht immer klar zu bestimmende)93 ursprüngliche Resultativität aus, die durch einen zur Sprechzeit gültigen Tatbestand bzw. Nachzustand hervortritt. Der entscheidende Unterschied zu synthetischen Verbalformen ist zunächst also der obligatorische Ausdruck von ‚retrospektiver Gegenwart‘. Durchbrochen wird diese Systematik, die am sein-Perfekt noch klar ersichtlich ist, durch das jüngere und innovativere haben-Perfekt. Im As. geschieht das öfter als im Ahd., weswegen mitunter von unterschiedlichen Grammatikalisierungsgraden gesprochen wird, die sich in den beiden Sprachräumen widerspiegeln (vgl. Gillmann 2016: 234–237). Aufgrund der Abhängigkeit vom synthetischen Auxiliarverb zeigen die Konstruktionen aber unabhängig von der Hilfsverbwahl wie Präsens und Präteritum ein komplementäres Distributionsverhalten in textfunktionaler Hinsicht (vgl. Zeman 2010: 117). Für die Beschreibung der morphologischen Klassen bietet sich zunächst eine Unterscheidung nach Auxiliarselektion an, die in weiterer Folge aber aufgegeben werden kann. In den letzten Jahren sind zahlreiche Arbeiten entstanden, die die Entwicklung der periphrastischen Perfektkonstruktionen aus typologischer, funktionaler oder grammatikalisierungstheoretischer Perspektive zum Gegenstand haben. Der
Das hat weniger mit der durchsichtigeren Systematik als vielmehr mit der vergleichsweise dürftige Forschungslage zum Altsächsischen zu tun. Vgl. dazu auch die Diskussion bei Schrodt (2004: §S5, Anm. 2).
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folgende Überblick beschränkt sich auf die funktionalen Klassen der einzelnen Fügungen, die sich auch im Kontrast zu den synthetischen Tempora und insbesondere zu den hier fokussierten präfigierten Formen hinsichtlich ihres textuellen Distributionsverhaltens als relevant erweisen können. Der Rolle des quasiobligatorischen und bis heute für das Perfekt charakteristischen Präfixes ge- am Partizip Präteritum steht dabei außerhalb der in Kap. 2.2.1 postulierten Opposition und muss daher gesondert diskutiert werden. 3.3.4.1 sein + Partizip Präteritum Bis heute ist die Konstruktion sein + Partizip Präteritum im Deutschen Gegenstand kontroverser Diskussionen. Die Nähe zum verwandten Zustandspassiv und damit zur Diathese einerseits und die oft unter verschiedenen Auffassungen von Aspektualität verorteten Funktionen andererseits erschweren die eindeutige Zuordnung zum temporalen System. Die Unterscheidung zwischen Passiv und Perfekt anhand der Transitivität (bzw. Intransitivität) des Vollverbs reicht nach Meinung unterschiedlicher Autoren, darunter Leiss (1992: 165), nicht, um dieser Konstruktion temporalen Status zuzuerkennen. Leiss spricht sich für eine einheitliche Kategorie des ‚Resultativums‘ aus, die sowohl Zustandspassiv als auch sein-Perfekt subsumiert und plädiert für eine Trennung der Konstruktion von jener mit dem Auxiliar haben, der sie im Gegensatz dazu Vergangenheitsfunktion attestiert (vgl. dazu auch die ähnliche Herangehensweise bei Teuber 2005 und die Kritik von Gillmann 2016: 126–131). Die resultative Semantik der Konstruktion mit wesan im Ahd. und As. gilt bis auf wenige immer wieder diskutierte mehrdeutige Einzelbelege als unstrittig, charakteristisch dafür ist der unmittelbare Bezug der telischen Verbalhandlung zur jeweiligen Sprechzeit bzw. zum deiktischen Standort des Sprechers (vgl. Behaghel 1897: § 98, Kuroda 1999: 95, Eroms 2000: 22, Kotin 2014: 33). wesan + Partizip Präteritum drückt damit vorrangig am Subjekt andauernde und damit dessen Verfassung manipulierende und definierende Ereignisse aus: Die Konstruktion läßt sich stets als eine Konstruktion interpretieren, die den Zustand des Subjekts thematisiert, der aus einem abgeschlossenen Ereignis resultiert, und dieses vorangehende Ereignis selbst steht dabei nicht im Vordergrund. Die Funktion als ‚Vorzeitigkeitstempus‘, die der fraglichen Konstruktion im Gegenwartsdeutschen in der Regel zuerkannt wird, können wir bei Otfrid nicht feststellen. (Kuroda 1999: 95, Hervorhebung FF)
In der ursprünglichsten Funktion, bei der ausschließlich der Zielzustand der Verbalhandlung fokussiert wird, ist die Konstruktion im Ahd. wie im As. gut belegt, vgl. (24) und (25):
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(24) Yrhugis thar thoh éines man, ther thir si irbólgan, (O II, 18, 22) Thoh iz so lúzil wári, in muat thir ér ni quami: Ni biut iz fúrdir thara mér; far, bisúani thih er! ‚Wenn du dich da eines Mannes erinnerst, der dir erzürnt ist, Und wenn es noch so gering wäre, dass es dir nicht in den Sinn käme; Bring es nicht sofort dar; Geh und versöhne dich mit ihm!‘ (25) Flêsk is unc antfallan, fel unscôni, is unca lud giliðen, lîk gidrusnod, (H 153–154) ‚Das Fleisch ist uns abgefallen, die Haut unschön, die frühere Gestalt ist vergangen, der Körper abgemagert.‘ Die prädikativen Partizipien fungieren hier als Beschreibung des durch die nur implizit vorausgesetzten Ereignisse verursachten statischen Zustands (vgl. dazu auch Gillmann 2016: 200). Wie für das Resultativum üblich, ist das Subjekt im semantischen Sinne nicht Verursacher der Handlung. Im Gegensatz zum Passiv transitiver Verben kommt es aber hier nicht nur zu einer ‚Agensverschweigung‘, da dieses Argument ohnehin nicht assertiert wird. Das Funktionsspektrum des Resultativums ist also auf adverbiale Kollokationen beschränkt und die Konstruktion insgesamt damit stark kompositionell.94 Zum Zeitpunkt der westgerm. Überlieferung hat bereits eine schwache Extension der verbalen Ereignisklassen stattgefunden, die den nächsten Schritt auf dem Grammatikalisierungspfad des Perfekts darstellt. Die meisten wesan-Fügungen können als Resultatsperfekt beschrieben werden. Wie der Name besagt, besteht auch hier ein starker Bezug zum Resultat, die Gegenwartsrelevanz und die Einbettung in präsentische Kontexte bleiben also bestehen. Der entscheidende Unterschied zum Resultativum liegt in einer Fokusverdoppelung, da nicht nur das Resultat der Verbalhandlung bezeichnet wird, sondern auch bis zu einem gewissen Grad der Zustandswechsel, also die Verbalhandlung selbst, die eben dieses Resultat herbeiführt (vgl. Mittwoch 2008: 324, Gillmann 2016: 69–70). Im Gegensatz zum Resultativum liegt ein zweiphasiger Konstruktionsinhalt vor. Dementsprechend bilden fast ausschließlich telische bzw. non-additive Prädikate ein Resultatsperfekt. Besonders häufig finden sich Verben, die einen Orts- oder Zustandswechsel bezeichnen, entweder im eigentlichen Sinne wie in (26) oder im metaphorischen wie in (27):
Darauf deuten auch die noch gut belegten Formen mit flektiertem Partizip hin, die Kongruenz mit dem Subjekt aufweisen.
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(26) bin nú zi thiu gifíerit, zi stáde hiar gimíerit Bín nu mines wórtes gikerit héimortes, (O V, 25, 2–3) ‚Bin nun hier angekommen, zu diesem Stade hier gelangt, Bin mit meinem Worte eingekehrt zuhause.‘ (27) 'nu is the hêlago Krist, uualdand selƀo an thesan uuîh cuman, te alôsienne thea liudi, the hêr nu lango bidun‘ (H 521–523) ‚Nun ist der heilige Christ, der herrschende, selbst zu diesem Tempel gekommen, um zu erlösen die Leute, die hier so lange darbten.‘ Der zeitreferenzielle Bezug zum origo-deiktischen Zentrum wird dabei erneut regelmäßig mit temporaldeiktischen Adverbien wie nu oder hiar zusätzlich markiert. In einigen Fällen ist aufgrund der funktionalen Nähe von Resultativum und Resultatsperfekt nicht eindeutig ersichtlich, welches der beiden realisiert ist (vgl. Gillmann 2016: 201–202). Der niedrige Grammatikalisierungsgrad der Konstruktion und der damit verbundene Resultatsbezug geben aber wenig Spielraum für pragmatische Abweichungen vom prototypischen Verwendungskontext. Der resultative Charakter gilt für die Konstruktionen mit präteritalem Hilfsverb genauso wie für jene mit präsentischem. In der Verwendung des Plusquamperfekts bezieht sich die Gegenwartsrelevanz allerdings nicht auf das deiktische Zentrum, sondern auf einen Referenzpunkt in der Vergangenheit. Resultativität ist also nicht abhängig von der egodeiktischen Wirklichkeit des Sprechers. Der Begriff der Gegenwartsrelevanz ist in diesem Zusammenhang daher irreführend, vgl. (28) und (29): (28) Si kundta thár sos iz wás, thaz in thiu fruma quéman was, (O I, 16, 17) ‚Sie verkündete es dort, wie es war, dass dadurch das Heil gekommen war.‘ (29) Thuo uuas thar uuerodes sô filo allaro elithiodo cuman te them êron Cristes, (H 2231–2233) ‚Da waren der Menschen viel aus allen Nationen gekommen, um Christus zu ehren.‘
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Das Temporaladverbien ahd./as. thar bzw. as. thuo verankern den resultierenden Zustand der Verbalhandlung im referenzierten narrativen Geschehen, das durch das Leittempus Präteritum konstituiert wird. Das Funktionsspektrum der Plusquamperfektformen ist dem der präsentischen Perfektformen synonym, der durch das Finitum indizierte Temporalwert ist davon unabhängig. Auffällig ist aber, dass die spärlichen Belege im As.,95 in denen die Konstruktion keinen eindeutigen Resultatsbezug aufweist, sondern eine innovativere und den Handlungsverlauf fokussierende Funktion erfüllt, allesamt mit einem präteritalen Finitum gebildet werden (vgl. auch Gillmann 2016: 221). Ob es sich dabei um eine erwartbare statistische Varianz handelt, da im as. Heliand deutlich mehr Plusquamperfektformen als Perfektformen belegt sind, oder ein Anzeichen unterschiedlicher und vom Temporalwert des Finitums abhängigen Grammatikalisierungsgeschwindigkeiten, kann allerdings nicht genau gesagt werden. (30) Thuo hie im an thena hôhan giuuêt Olivetiberg: thar uuas hie upp giuuno gangan mid is iungron (H 4719–4720) ‚Als er weiter sich begab auf den hohen Ölberg: Dort war er für gewöhnlich hinaufgegangen mit seinen Jüngern.‘ (31) Than uuas Iohannes fon is iuguðhêdi auuahsan an ênero uuôstunni; (H 859–860) ‚Damals war Johannes von seiner Jugend an aufgewachsen in einer Wüste.‘ Beleg (30) beschreibt eine habituelle Handlung des Subjekts, ein Resultatsbezug liegt aber nicht vor. Die Gegenwartsrelevanz kann höchstens als abstrakte Attribuierung verstanden werden, nämlich insofern, als das Subjekt durch die
Auch einem Beleg bei Otfrid (O V, 15, 25) muss diesbezüglich Ausnahmecharakter attestiert werden, hier kann aber eventuell Reimzwang verantwortlich sein (vgl. Gillmann 2016: 202). Es ist aber nicht davon auszugehen, dass in lyrischen Kontexten generell Toleranz gegenüber Systemverstößen herrscht, vielleicht handelt es sich auch nur um einen nicht konventionellen Varianzbereich, der stilistisch bedient wird und damit spätere Extensionen antizpiert. Von einer temporalen Bezeichnung eines Vorgangs in der Vergangenheit, wie sie u. a. bei Dal (1966: 123) beschrieben wird, kann also noch nicht gesprochen werden.
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Erfahrung der vollzogenen Verbalhandlung auch gegenwärtig noch charakterisiert werden kann. Dieser als Experiential bezeichnete Funktionstyp ist üblicherweise ein Merkmal ausgrammatikalisierter Perfektsysteme, der sich im As. schon abzuzeichnen scheint (vgl. Comrie 1981: 58, Bybee et al. 1994: 62, Gillmann 2016: 75). Ebenfalls verhältnismäßig progressiv ist Beleg (31), der eine sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Handlung bezeichnet, die dem Referenzpunkt vorgelagert ist und an diesem endet. Hier liegt ein sog. Persistenzperfekt vor (vgl. Iatridou et al. 2001: 155). Ein Resultatsbezug ist nur indirekt gegeben, weil Johannes zum Zeitpunkt des ‚narrativen Jetzt‘ immer noch in der Wüste lebt. Im As. deutet sich, wie solche Belege zeigen, bereits das an, was weiter südlich erst im Mhd. fassbar wird: der schrittweise Abbau der Gegenwartsrelevanz, die für alle Perfektbelege mit niedrigem Grammatikalisierungsgrad typisch ist (vgl. Dahl / Hedin 2000: 390). 3.3.4.2 haben + Partizip Präteritum Im Gegensatz zur Fügung mit dem Auxiliarverb sein gilt jene mit haben gemeinhin als westgerm. Neuerung.96 Ebenso wie sein + Partizip Präteritum ist sie im Ahd. und As. zunächst als prädikative und kompositionelle Partizipialkonstruktion mit resultativem Charakter aufzufassen, deren Temporalwert vom Finitum abhängig ist (vgl. Dal 1966: 121, Oubouzar 1974: 18, Leiss 1992: 189, Schecker 1994: 221, Eroms 2000: 28, Watts 2001, Kuroda 2005: 261, Öhl 2009: 293). Im Unterschied zu ihrer Schwesterkonstruktion kann bei ahd. haben/eigan bzw. as. hebbian + Partizip Präteritum zunächst ein Zustandswechsel am direkten Objekt denotiert werden und nicht am Subjekt,97 allerdings zeigt das Partizip gerade in dieser Funktion keine Reste einer ehemaligen Kongruenzflexion (vgl. Gillmann 2016: 190). In den altgerm. Sprachen kommen also zunächst nur telische Verben mit hohem Transitivitätsgrad zur Bildung des haben-Perfekts infrage. Deutlich seltener liegt dementsprechend ein reines Resultativum vor, das ausschließlich einen Zustand des Objekts und davon abgleitet eine Eigenschaft des Subjekts bezeichnet, vgl. (32) und (33):
Zum vermeintlich got. haben-Perfekt s. o. Diesbezüglich herrscht nur in syntaktischer Hinsicht Einigkeit, aber nicht in semantischer. So gehen etwa Brinkmann (1959: 191) und Leiss (1992: 186) davon aus, das haben-Perfekt beschreibe wie das sein-Perfekt einen Zustand am Subjekt. Schrodt (2004: §S6) dagegen sieht in Übereinstimmung mit Kuroda (1999: 54) eine ursprüngliche Bezeichnung des Zustands am direkten Objekt und damit eine „benefaktive stative Resultativkonstruktion“, von der das Subjekt betroffen ist.
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(32) in búah sie iz duent zisámane, giháltan thar zi hábanne; (O III, 7, 54) ‚In Büchern fügen sie es zusammen, um es dort zusammengehalten zu haben.‘ (33) thes ni mag he farhelau eouuiht, ac cumit fan them uƀilan man inuuidrâdos, bittara balusprâca, sulic sô hi an is breostun haƀad geheftid umbi is herte: (H 1754–1757) ‚Das kann er nicht verhehlen, sondern es kommen von dem bösen Mann schlechte Ratschläge, bittere Bosheitsrede, wie er sie in seiner Brust in seinem Herzen trägt.‘ Fast alle weiteren Belege der Konstruktion fungieren als Resultatsperfekt (vgl. Gillmann 2016: 190, 207): (34) Then tód, then habet fúntan thiu hélla joh firslúntan, díofo firsuólgan joh élichor gibórgan. (O V, 23, 165–266) ‚Den Tod, den hat erfunden die Hölle und verschlungen völlig verzehrt und auf ewig einverleibt.‘ (35) 'nu haƀad thit lioht afgeƀen‘, quað he, Êrôdes the cuning: (H 771) ‚Nun hat dies Licht abgegeben (= ist verstorben), sagte er, Herodes der König.‘ Das Resultat und die Gegenwartsrelevanz des Ereignisses werden durch die Temporaladverbien ahd. elichor ‚ewig‘ bzw. ahd./as. nu ‚nun‘ markiert. Durch den ebenfalls denotierbaren Verlauf der Handlung selbst tritt das Subjekt im Gegensatz zu Belegen (32) und (33) als Agens hervor. Unabhängig vom Temporalwert des Finitums bewegen sich die Konstruktionen im gleichen Funktionsspektrum, eine transitive Verbalhandlung mit assertiertem Agens und sprech- bzw. referenzzeitgebundenem Resultat ist auch für das Plusquamperfekt als prototypisch anzusehen:
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(36) Thaz hábeta mit then máhtin ther éwinigo drúhtin ubarwúntan, thaz ist wár, (O V, 14, 13–14) ‚Das hatte durch seine Allmacht der ewige Herr überwunden, das ist wahr.‘ (37) Than habda thuo drohtin god Rômanoliudeon farliuuan rîkeo mêsta: (H 771) ‚Damals hatte der Herrgott dem römischen Volk das größte Reich verliehen.‘ Das Subjekt führt eine Handlung am direkten Objekt aus, die in der narrativ übergeordneten Referenzzeit nachwirkt. Für das Ahd. (vor Notker) repräsentiert das Resultatsperfekt den innovativsten Grammatikalisierungsstand.98 Im As. dagegen sind bereits zusätzliche funktionale Erweiterungen beobachtbar, die von diesem Prototyp abweichen (vgl. Arnett 1997:45, Gillmann 2016: 218). So wird das Perfekt öfter in resümierender Funktion gebraucht, um vorangehende Ereignisse zusammenzufassen (vgl. auch Behaghel 1897: § 101): (38) Sô habde thô uualdand Crist for them erlon thar ahto getalda sâlda gesagda; (H 1325–1327) ‚Da hatte, es ist wahr, der herrschende Sohn gelehrt die Leute, wie sie das Lob Gottes wirken sollten.‘ Die resultative Semantik ist hier bereits zugunsten der Fokussierung eines vergangenen Ereignisses etwas abgeschwächt worden, aber immer noch durchscheinend. Noch weiter tritt dieser in vereinzelten habituellen Kontexten zurück, in denen die
Ein einziger Beleg bei Otfrid (IV, 15, 55), der sich aufgrund augenscheinlich fehlenden Resultatbezugs wie ein Vergangenheitstempus verhält, gilt als vieldiskutierte Ausnahmeerscheinung. Atypisch ist die Fügung deswegen, weil sie einen Grammatikalisierungsstand repräsentiert, der zu diesem Zeitpunkt als einzigartig gelten kann, ohne dass weitere erwartbare (und in verwandten Sprachen belegte) frühere Zwischenstufen belegt wären, die eine solche Entwicklung plausibel nachzeichnen könnten. Die Konstruktion suggeriert in gewisser Weise, dass Otfrid hier mehrere Entwicklungsschritte übersprungen hätte. (vgl. dazu auch Brinkmann 1931: 30, Dentler 1997: 113, Kuroda 1999: 61, Gillmann 2016: 193).
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beschriebene Handlung durch intransitive Verben ausgedrückt wird. Hier liegt mitunter bereits eine experientielle Funktion der Konstruktion vor, vgl. auch (39): (39) Anna uuas siu hêtan, dohtar Fanueles; siu habde ira drohtine uuel githionod the thanca, uuas iru githuungan uuîf. (H 505–506) ‚Anna war ihr Name, Tochter des Fanuel; sie hatte ihrem Herrn wohl gedient zum Danke, sie war eine tüchtige Frau.‘ Durch das Modaladverb as. uuel ‚gut, wohl‘ wird deutlich, dass der Fokus auf die Art und Weise des iterativen Handlungsvollzugs gelegt wird und weniger auf das Resultat. Die subjektcharakterisierende Semantik ergibt sich beim atelischen Verb (gi)thionon nicht durch einen herbeigeführten Zustandswechsel, auch das Objekt erfährt keinen solchen (vgl. dazu auch Gillmann 2016: 211). Der Abbau der resultativen Funktion des Perfekts ist im as. hebbian-System weiter fortgeschritten als im wesan-System. Das Durchbrechen der akkusativischen und transitiven Struktur mit intransitiven Verben wird besonders in der angloamerikanischen Linguistik als Indiz für ein grammatikalisiertes habenPerfekt gewertet (vgl. z. B. Arnett 1997: 45). In dieser Hinsicht steht das As. dem (noch innovativeren) Altenglischen näher als dem konservativen Ahd. (vgl. Łęcki 2010: 153). Innerhalb der Westgermania zeichnet sich damit die Diachronie im Raum deutlich ab: Der hochdeutsche Süden scheint den gleichen Entwicklungspfad zu gehen wie der niederdeutsche Norden, allerdings zeitversetzt.99 Mangels Kontrastierbarkeit konnte noch nichts über das Präfix gi- des Partizips Präteritum gesagt werden. Auf Basis bisheriger Erkenntnisse ist lediglich festzustellen, dass die prototypischen Anwendungsbereiche der periphrastischen Perfektkonstruktionen und jene der synthetischen gi-Derivate keine auffälligen Gemeinsamkeiten zeigen. Vor diesem Hintergrund ist die These, wonach die in-
In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass auch innerhalb des Althochdeutschen des 9. Jahrhunderts oft von unterschiedlichen Entwicklungsstadien gesprochen wird, die je nach Auffassung als diachrone oder areale Variation in den Texten widergespiegelt sei. So wird regelmäßig Otfrid ein im Verhältnis zum Tatian-Übersetzer progressiverer Charakter attestiert, was die Verwendung der Perfektformen betrifft (vgl. Kuroda 1999: 55). Angesichts dessen, dass Otfrid bei der Niederschrift seiner Evangelienharmonie über 70 Jahre alt war und damit ungefähr der gleichen Sprechergeneration angehört wie der bestimmt deutlich jüngere Tatian-Übersetzer, sind die beiden Texte aufgrund ihres Umfangs und die für den Tatian zu berücksichtigende Abhängigkeit vom Lat. nicht für einen Vergleich geeignet.
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novativeren analytischen Formen das ältere Bildungsprinzip verdrängen oder im Zuge dessen Abbaus ersetzen, nur schwer haltbar. 3.3.4.3 Exkurs: Zur Grammatikalisierung des periphrastischen Perfekts und der Rolle von gi- am Partizip Die kontinentalwestgerm. Sprachen zeichnen sich bis in die Gegenwart durch eine Besonderheit der obligatorischen Präfigierung des Partizips Präteritum aus (vgl. Harweg 2014: 399). Dieser herausragende Unterschied zum Got. (bzw. generell zum Ostgerm.) gilt bereits für das Ahd. und As.: Das Partizip Präteritum wird bis auf wenige lexikalische Ausnahmen unabhängig von seiner syntaktischen und semantischen Funktion mit gi- präfigiert, falls das Verb nicht mit einem anderen (untrennbaren) Präverb verbunden ist (vgl. Braune / Reiffenstein 2004: § 323). Die gut belegten analogen Entwicklungen im Ae., wo zur gleichen Zeit aufgrund der besseren Quellenlage auch bereits wieder ein Abbau der Präfixe zu beobachten ist100 (vgl. MacLeod 2012: 105 bzw. McFadden 2015: 3), lassen auf ein morphologisches Erbe aus gemeinwestgerm. Zeit schließen, vgl.:101 a) ahd. gi-geban b) as. gi-geƀan c) ae. ġe-ġiefen d) got. gibans e) an. gefinn Warum manche modernen germ. Sprachen das Präfix bewahrt haben und manche nicht, lässt sich nicht einheitlich beantworten. Das Deutsche (Generalisierung) und das Englische (Abbau) sind verbalmorphologisch jedenfalls in den letzten 1000 Jahren unterschiedliche Wege gegangen. Die Regelmäßigkeit der partizipialen Präfigierung in den ältesten Sprachdenkmälern des Westgerm., welche sich auch im näher verwandten Nordgerm. nicht finden lässt, spricht aber zumindest hinsichtlich der Emergenz dieses morphosyntaktischen Prinzips gegen eine unabhängige Entwicklung in den Einzelsprachen. Diese Feststellung ist keineswegs trivial, sondern zieht einige forschungsrelevante Konsequenzen nach sich, die bislang nur wenig Beachtung gefunden haben. Das hat hauptsächlich zwei Gründe:
Einen ähnlichen Weg ist das Friesische gegangen, wo ebenfalls bereits in der ältesten belegten Sprachstufe der Abbau des Präfixes beobachtbar ist (vgl. Harweg 2014: 405). Für die got. und die an. Form ist jeweils repräsentativ das (starke) Maskulinum angegeben.
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen
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I)
Die Existenz einer westgerm. Ursprache wurde lange Zeit in Abrede gestellt. Erst seit Ringe / Taylor (2014) kann diese als gesichert gelten, womit die traditionelle germanistische Einteilung einer in ihrer Genese nicht nachvollziehbaren Gliederung in fünf germ. Dialektgruppen als obsolet betrachtet werden kann.102 II) Abhängig vom beobachteten Überlieferungszeitraum werden mit den einzelnen Sprachräumen Ostgerm. (archaisch) und ‚Restgermanisch‘ (modern) auch diachrone Stadien angesetzt, wobei die vorjunggrammatische linguistische Tradition fortlebt, sprachliche Evolution als defizitär zu beschreiben, also der Fokus auf Ausbleichen, Abbau und Übergeneralisierung grammatischer Merkmale im Gegensatz zu einer fast mystisch verklärten Stabilität und undurchbrochenen Funktionalität altertümlicher Systematiken vorherrscht. Den westgerm. Sprachen wird eine Tendenz zum analytischen Sprachbau attestiert, welcher sich durch eine Verwertung des germ.synthetischen Materials neu konstituiert. Zum Zeitpunkt der westgerm. Überlieferung ist nur mehr das Endprodukt sichtbar. Der Zugang zur westgerm. Systematik kann im Vergleich mit den folgenden Sprachstufen über die Diachronie erfolgen, das Ostgerm. dagegen ist als monolithisches Sprachdenkmal nur für synchrone Untersuchungen geeignet. Es lassen sich keine direkten Beobachtungen für die Veränderungen anstellen, die sich in urwestgerm. Zeit vollzogen haben müssen. Direkte Antworten können die Verhältnisse im synchron untersuchten Got. naturgemäß nicht bieten. Diese stellen sich wie folgt dar: ga- bezeichnet am Partizip Präteritum, das ausschließlich als Passiv mit den Auxiliarverben wisan und wairþan vorkommt, den resultierenden Zustand des von der transitiven Handlung betroffenen Objekts. Es ist dabei irrelevant, ob der resultative Zustand oder die Vollendung der herbeigeführten Handlung fokussiert wird. Das Simplex stellt das syntaktische Subjekt als der Handlung unterworfen dar, ein resultierender Zustand wird dabei ausgeblendet (vgl. Metzger 2017: 229–231). Der Gegensatz von Faktivität und Gestivität bleibt also auch hier stabil. Mit Niwa (2008) liegt m. W. nur eine einzige Arbeit vor, die sich explizit mit der Frage beschäftigt, warum das Partizip westgerm. Sprachen eine komplexere morphologische Struktur aufweist als das got. Partizip. Anders als die Forschungsfrage vermuten lässt, nähert sich Niwa der Problematik über positive Evidenz, versucht also zu erklären, welche evolutionären Schritte im Westgerm.
Die anzusetzenden Zweige wären zunächst Ostgerm. und Nordwestgerm., wobei Letzterer wiederum in Nordgerm. und Westgerm. zerfällt.
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3 Tempus
sichtbar werden, die dem Got. aufgrund dessen archaischen Charakters fehlen. Da er von einer primär terminativen103 Funktion von got. ga- ausgeht, sieht er im westgerm. Partizip einen logischen Kompensations- und Grammatikalisierungsprozess, der mit dem Aufbau des periphrastischen Perfekts einhergeht: „So Gothic is a start, WS (Anm.: West Saxon) is a way and G (Anm.: German) a goal.“ (Niwa 2008: 16). Dieser Zugang ist kompatibel mit der im Bereich der angloamerikanischen Linguistik und mittlerweile in der Anglistik vorherrschenden Ansicht eines typologisch ‚natürlichen‘ Grammatikalisierungsverhaltens perfektiver Marker im Allgemeinen und ✶ga- im Speziellen (vgl. Dollinger 2001: 6, 17). Da aber an dieser Stelle von einer primär faktiven Grundbedeutung von ✶ ga- ausgegangen und Perfektivität allenfalls als sekundäres Merkmal definiert wird, muss konsequenterweise auch die Präfigierung des westgerm. Partizips Präteritum neu diskutiert werden.104 Wenden wir uns erneut Niwa zu: Ganz im Sinne der „Cumulative Tendency“ beschreibt er den Aufbau des westgerm. Partizips Präteritum als systematische Reaktion auf den Abbau von Flexionsendungen. Damit werden die morphologischen Partizipialsuffixe des Got. und die westgerm. ✶ga-Präfixe als grammatische Synonyme definiert (vgl. Niwa 2008: 17–18). Der alle germ. Sprachen betreffende Endsilbenschwund machte es also notwendig, den terminativen Charakter des Partizips Präteritum erneut zu markieren. Aufbauend auf der Grammatikalisierungstheorie von Hopper / Traugott (2003) und dem ebenso universalgrammatischen „minimalist approach“ von Roberts / Roussou (2003) kann die Evolution von ✶ga- vom „content item“ (‚zusammen‘) über ein „grammatical word“ ([+Terminativität]) zum clitic ([+Terminativität → + Perfektivität]) problemlos beschrieben werden (vgl. Niwa 2008: 19). Das Got. wäre demnach vor Erreichen der dritten Grammatikalisierungsstufe ausgestorben, mit der die obligatorische Präfigierung des Partizips erfolgt. Die letzte und vierte Stufe des mehr oder weniger funktionslosen „inflectional affix“ erreichen die altgerm. Dialekte noch nicht. Dieser könne im Deutschen aber spätestens mit dem Einsetzen des Präteritumschwunds beobachtet werden, mit dem eine Entwicklung des deutschen Perfekts hin zum analytischen Präteritum einsetzt. Aufgrund der Quellenlage lassen sich keine direkten Beobachtungen für die Veränderungen anstellen, die sich in urwestgerm. Zeit vollzogen haben müssen. Die Verhältnisse sind aber möglicherweise zumindest teilweise implikativ rekons-
Niwa (2008: 21) schreibt dem got. ga- Aktionsartensemantik zu, dem deutschen geAspektfunktion. Diese Einsicht verdanke ich einer Diskussion im Rahmen eines Symposiums zur historischen deutschen und französischen Syntax in Paris im November 2018. An dieser Stelle sei allen Teilnehmenden für die Anregungen gedankt.
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen
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truierbar. Der auffälligste Unterschied zwischen dem ostgerm. und dem westgerm. Verbalsystem ist der Ausbaugrad der periphrastischen Verbalkonstruktionen. Im Gegensatz zu Got. verfügen alle westgerm. Sprachen über eine Perfektkategorie in dem Sinne, dass die entscheidende Loslösung von der deutlich älteren Passivkategorie, die auch im Got. vorliegt, durch die Bildung mit intransitiven Verben einerseits und der Emergenz des haben-Perfekts andererseits bereits vollzogen wurde. Die weitreichenden Konsequenzen, die diese Entwicklung für das Verbalsystem des Deutschen (und anderen germ. Sprachen) haben sollten, wurzeln im Aufbrechen der gegenläufigen Agensmarkierung der Passivkategorie. Diese ist seit jeher ergativisch organisiert: Das Subjekt erscheint formal als Patiens, die Verhältnisse sind im Vergleich zum akkusativisch organisierten Aktiv, wo durch das Subjekt üblicherweise das Agens bezeichnet wird, umgekehrt (vgl. Leiss 1992: 97). Auch die Transitivitätsverhältnisse kehren sich damit um: Das Passiv wird zwar ausschließlich mit Verben gebildet, die in der aktiven Diathese transitiv sind, in der Passivkonstruktion erscheinen sie allerdings intransitiv. Sowohl attributiv verwendeten Partizipien als auch periphrastischen Passivformen liegt dementsprechend ein Aktantenminimalismus zugrunde. Die ergativische Organisation des Passivkomplexes wird nun durch die Konstruktion haben + Partizip Präteritum gestört: Im Ahd. stehen diese Konstruktionen zwischen Passiv, Resultativ und Perfekt. Sie zeigen also eine semantische Nähe zu den Konstruktionen mit wesan, sind aber akkusativisch gebildet (vgl. Schrodt 2004: §S6). Im Zusammenhang mit dem gi-Präfix im Partizip Präteritum müssen hier nur die wesentlichen Entwicklungsschritte umrissen werden: Traditionell wird die Herkunft der Konstruktion haben + Partizip Präteritum mit der ursprünglichen Bedeutung ‚besitzen‘ des späteren Auxiliarverbs erklärt. Ein vielfach zitiertes Beispiel für eine doppeldeutige Struktur einer frühen Konstruktion stammt aus dem Tatian: (40) phígboum habeta sum giflanzotan in sinemo uuingarten (T 102, 2) ‚Einer hatte einen Feigenbaum (als) gepflanzten in seinem Weingarten.‘ Hier kann giflanzotan als Objektsprädikativ aufgefasst werden oder nichtkompositionell als Teil einer Perfektkonstruktion (vgl. Szczepaniak 2011: 131, Fleischer / Schallert 2011: 126). Es gibt einen guten Grund, warum gerade dieses Beispiel Eingang in die germanistischen Lehrbücher gefunden hat: Es ist der einzige Beleg von haben + direktes Objekt + Partizip Präteritum mit potenziell possessiver Lesart im früheren Ahd., was trotz der dürftigen Quellenlage verwundert, wo doch stets das geringe Alter der Konstruktion insgesamt betont wird. Man würde erwarten, dass deutlich mehr ambige Sätze überliefert wären oder zumindest welche, die ein-
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deutig possessive Fügungen darstellten.105 Das ist aber weder für das Ahd. noch für das As. der Fall. Auch im Ae. gibt es kaum Belege für kompositionelle Konstruktionen mit possessiver Lesart, ambige Kontexte sind gar nicht überliefert. Es dürfte sich also um eine marginale Erscheinung handeln, was nicht unbedingt für den Ausgangspunkt der grammatikalisierten Perfektkonstruktion spricht. Zu diesem Schluss kommt auch Acosta (2011), der sowohl für den besser nachvollziehbaren Entwicklungspfad des lat. bzw. rom. habeo-Perfekts als auch das ae. habban-Perfekt eine andere Grundkonstruktion im Blick hat. In beiden untersuchten Sprachen bzw. Sprachräumen fällt auf, dass zum Zeitpunkt der Entstehung des haben-Perfekts das Vollverb haben über ein breites semantisches Bedeutungsspektrum verfügt, von dem die possessive Bedeutung nur ein Bestandteil von vielen ist (vgl. Acosta 2011: 11). Ob dieser die ursprüngliche ist oder nicht, ist für die Entstehung der Perfektkonstruktion nicht relevant. Was für das Ae. gilt, kann auch für das Ahd. und As. angenommen werden. Bereits ein Blick in die Wörterbücher zeigt, dass etwa die possessive Bedeutung von ahd. haben zwar gut belegt ist, im Bedeutungsspektrum des Wortes aber keine dominante oder besonders ‚ursprüngliche‘ Rolle einnimmt (vgl. Schützeichel 2006: 144).106 Watts (2001: 131) stellt Ähnliches für das As. fest. Dass die Bedeutungsvielfalt von haben nicht nur eine Herausforderung für die semantische Interpretation historischer Belege und die entsprechende diachrone Herleitung darstellt, zeigen auch zahlreiche Untersuchungen für verschiedene andere rezente Sprachen (vgl. Ritter / Rosen 1997 für das Englische oder Meillet 1923 für das Französische). Allgemeinlinguistische kognitivistische Ansätze sind bemüht, dem Verb haben eine lexikalische Bedeutung zuzuschreiben, die wiederum allerdings im
Auch eine spätahd. Passage aus Notkers Psalter (Ps. 97 359, 37), die von Teuber (2005: 79) als Beispiel für eine vermeintliche strukturelle Reanalyse einer ursprünglichen Besitzkonstruktion angeführt wird, ist nicht besonders überzeugend. Zunächst wird der Beleg ohne die zugehörige Präpositionalgruppe fone euuigemo tode ‚vom ewigen Tod‘ zitiert, die eine Glossierung von lat. a morte perpetua darstellt. Vor diesem Hintergrund erscheint eine possessive Lesart noch kontraintuitiver. Zudem nimmt der Satz eine vorangehende Satzstruktur erneut auf, die unstrittig als nicht-possessive haben-Konstruktion gewertet werden kann, nämlich uuanda er uuúnder hábet ketân ‚denn er hat Wunder gewirkt‘. Wieso gerade bei Notker, wo die habenPerfektkonstruktion schon deutlich besser etabliert und weiter grammatikalisiert ist als noch bei Otfrid, eine solche vermeintlich archaische Form völlig isoliert und zudem inhaltlich unmotiviert auftauchen sollte, ist nicht nachvollziehbar. Ich beschränke mich auf einige Beispiele, bei denen eine possessive Lesart von ahd. haben nur schwer möglich ist: undersceit haben ‚eine Unterscheidung machen‘, wig haben ‚Krieg führen‘, scaf haben ‚Schafe hüten‘. Urgerm. ✶habjaną, das nicht mit lat. habere verwandt ist, lässt sich auf die uridg. Wurzel ✶kap-/keh₂p- ‚ergreifen‘ zurückführen, die ihrerseits schon über eine sehr vielfältige Semantik verfügte (vgl. Rix 2001: 344–345).
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen
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Wesentlichen abstrakte Kategorieninhalte konzeptueller Natur darstellen. So setzt Langacker (1999: 183) als basale Bedeutung des Verbs eine „reference point function“ an, die zur Versprachlichung sehr allgemein gehaltener Relationen zwischen einem Referenzpunkt und einem Target dient.107 Interessant ist in diesem Zusammenhang das optionale Merkmal der „physical control“, das als konkreteres Sem innerhalb des abstrakten Merkmalbündels hervorsticht. Dass als gemeinsames abstraktes semantisches Merkmal aller denkbaren Verwendungen des Verbs haben höchstens eine asymmetrische Hierarchiebeziehung zwischen Subjekt und manipuliertem Objekt angesetzt werden kann, bedeutet auch, dass es keinen überzeugenden theoretischen oder empirischen Grund gibt, die Bedeutung ‚besitzen‘ als Ausgangspunkt der Perfektgrammatikalisierung zu definieren.108 Als frühesten belegten Typ des westgerm. haben-Perfekts nennt Acosta (2011: 228) den sogenannten attained state type, der dem Resultatsperfekt zuzurechnen ist und auch im lat. die älteste Konstruktion darstellt. haben ist dabei nicht possessiv zu lesen, die transitive Verbalhandlung verläuft in zwei Phasen: I) Das Subjekt bewirkt an einem direkten Objekt eine Zustandsveränderung. II) Der resultierende Zustand ist andauernd. Im von Acosta näher untersuchten Ae. ist diese Funktion häufig belegt, was angesichts der ahd. und insbesondere der as. Verhältnisse nicht überrascht, vgl. (41), zitiert nach Acosta (2011: 224): (41) gyt ge habbaþ eowre heorte geblende? (Gospels, Mark 8, 17) ‚Hast du immer noch dein Herz geblendet?‘ Aus dem Kontext geht eindeutig hervor, dass das angesprochene Subjekt auch der Verursacher der ‚Blindheit‘ seines Herzens ist. Beide Phasen des attained state type liegen hier vor.
Kritik erfuhr Langackers Ansatz etwa von Barker (2011: 1125), der die Konzeptualisierung nicht grundsätzlich ablehnt, aber die Verweisrichtung innerhalb der Referenzfunktion für unplausibel hält. So sei es wenig einleuchtend, dass die ausformulierte Verweisrelation vom Referenzpunkt ausgehe und nicht vom Target. Zu diesem Schluss kommt innerhalb des germanistischen Fachbereichs bereits Brinkmann (1959), der sich in diesem Zusammenhang für eine abstraktere Semantik von haben ausspricht. Diese Ansicht konnte sich aber nicht etablieren.
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Auch im Gegenwartsdeutschen sind solche Konstruktionen nach wie vor üblich. Aufgrund der Funktionsauffächerung des Perfekts entstehen dabei mitunter mehrdeutige Strukturen: (42) Wir haben die Kellertür immer geschlossen. Die naheliegende Interpretation des Satzes würde lauten: ‚Die Kellertür ist immer zu‘. Andere Lesarten wie ‚Wir waren dafür zuständig, die Kellertür immer (wieder) abzuschließen‘ wirken aus muttersprachlicher Sicht konstruiert und realitätsfern. Wie bereits erwähnt, erfüllen auch im Ahd. die meisten haben-Perfekta die Funktion des Resultatperfekts, das dem attained state type zuzurechnen ist: (43) mih io gómman nihein in min múat ni biréin háben ih giméinit in muate bicléibit thaz ih éinluzzo mina wórolt nuzzo (O I,5,38) ‚Niemals hat mich ein Mann in meinem Herzen berührt, (also) habe ich entschieden und in meinem Herz beschlossen, dass ich alleine mein Leben verbringe.‘ Die hier verwendeten performativen Verben führen einen Zustand herbei und halten diesen aufrecht. Auch wenn zum Zeitpunkt der westgerm. Überlieferung noch weitere Funktionen des haben-Perfekts synchron belegt sind (s. o.), können die meisten davon zumindest über das Merkmal der Statusveränderung eines mehr oder weniger abstrakten Aktanten definiert werden. Damit liegt eine funktionale Deckungsgleichheit mit dem gi-Präfix am Finitum vor. Der wesentliche Unterschied zwischen frühen periphrastischen haben-Fügungen und synthetischen gi-präfigierten Verben besteht lediglich in der Denotation von Zuständen und damit in einer aktionsartensemantischer Spezifizierung der Konstruktion im Vergleich zu den Derivaten. Wenigstens die obligatorische Präfigierung des Partizips beim haben-Perfekt kann somit im Einklang mit der faktiven Bedeutung von gi- schlüssig erklärt werden. Schwieriger – ohne sich in Spekulationen zu verlieren – ist die Beantwortung der Frage, wie sich das Präfix im Passivparadigma invasiv ausbreiten konnte. Zu beobachten ist jedenfalls, dass mit der Emergenz der akkusativischen haben-Konstruktion die ergativischen Strukturen der sein-Konstruktion in allen westgerm. Sprachen ins Wanken geraten. Die Opposition von Ergativität und Akkusativität ist mit dem möglicherweise durch den Druck der agentiv-transitiven
3.3 Das Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen
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haben-Konstruktionen ausgelösten Einsickern der intransitiven Verben ins seinSystem und der Entwicklung eines Resultativums nicht mehr in ihrer alten Form aufrechtzuerhalten. Im Ae. sind noch einige Verben mit wechselndem Auxiliar belegt, die von dieser ausgelösten Unsicherheit zeugen (vgl. McFadden 2015: 21, FN 22). Die genauen Entwicklungen lassen sich anhand des überlieferten ‚Endprodukts‘ wohl nicht mehr rekonstruieren, aber die einzelsprachlichen Systeme drängen auf unterschiedliche Weise auf eine Straffung. Das Englische verbannt letztlich alle Intransitiva (bis auf wenige idiomatisierte Fügungen) ins habenSystem und repariert damit die Ergativstruktur des Passivs. Das Deutsche dagegen entwickelt gemeinsam mit dem benachbarten Französischen ein aktionalsemantisch gesteuertes Auxiliarsystem für das Perfekt, was zum wesentlichen Merkmal des ‚Charlemagne Sprachbund‘ werden sollte (vgl. Drinka 2013, 2017).109 Das giPräfix wird dadurch für die Konstruktionen selbst in beiden Sprachen gewissermaßen seiner Funktion beraubt. Im Deutschen wird es als Bestandteil des Partizips Präteritum reanalysiert, im Englischen dagegen in jeder Position abgebaut.
3.3.5 Zwischenfazit Auf Basis der bisherigen Forschungsergebnisse und hier angestellten Überlegungen können das ahd. und das as. Tempussystem folgendermaßen beschrieben werden: Als morphologische und temporalsemantische Basisopposition gilt der Gegensatz von Präsens und Präteritum. Sie repräsentieren die deiktischen Konzepte der Origo-Inklusivität und Origo-Exklusivität und emergieren in dialogischen bzw. nicht-dialogischen Diskursmustern. Das Präsens ist als temporalsemantisch unterspezifizierte Form in der deiktischen Origo verankert und durch die Simultanität der Parameter S und R gekennzeichnet. Es dient damit nicht nur der Versprachlichung gegenwärtiger Ereignisse, sondern auch allgemeingültiger, zukünftiger und generell atemporaler Sachverhalte. Nur die Bezeichnung vergangener Verbalhandlungen bleibt dem Präsens verwehrt. Die
Eine generelle Übernahme der haben-Konstruktion aus dem Spätlat., wie sie von Grønvik (1986) angenommen wird, wurde immer wieder in Abrede gestellt, etwa von Morris (1991) oder Öhl (2009). Salmons (2012: 159) verweist wie schon seine Vorgänger auf die verhältnismäßig kleine Gruppe an bilingualen Sprechern im Frühmittelalter, bezieht sich aber dabei offensichtlich nur auf die akademische Elite der Zeit. Rezente Studien wie jene von Schrijver (2014), der insbesondere den frnk.-rom. Kontaktbereich als Innovationszentrum sprachlicher Neuerungen auf allen Systemebenen identifiziert, lassen eher Gegenteiliges vermuten. Auch die weitere Entwicklung der Verbalsysteme mitteleuropäischer Sprachen weist zahlreiche arealtypologische Gemeinsamkeiten auf.
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dafür notwendige Verlagerung des Referenzpunktes kann nur vom Präteritum geleistet werden. Weitgehend unklar geblieben ist in beiden Fällen bislang die Rolle der gi-präfigierten Verben. Die Annahmen der bisherigen Forschungsliteratur, wonach den Präfixen auch eine temporaldeiktische Aufgabe zukommt, etwa zur Denotierung relativer Zeitverhältnisse in der Vergangenheit oder futurischer Sachverhalte, konnten vorerst nicht bestätigt werden. Wohl größtenteils außerhalb des temporalen Systems zu verorten und nur über das Finitum mit diesem verbunden sind die periphrastischen Perfektformen, die insgesamt einen geringen Grammatikalisierungsgrad aufweisen und durch ihre Gegenwartsrelevanz charakterisiert sind, wobei sich diese nicht zwingend auf den Sprechzeitpunkt beziehen muss, sondern wie im Falle des Plusquamperfekts auch auf einen in der Vergangenheit liegenden Referenzpunkt. Eine völlige Loslösung von dieser Gegenwartsrelevanz gibt es weder im Ahd., im As. noch im Mhd. Erst mit dem Eindringen des Perfekts in präteritale Kontexte ab dem Frnhd. und der damit einhergehenden Entbindung der Konstruktion von der eigentlichen perfektischen Funktion ist die Entwicklung zum Vergangenheitstempus abgeschlossen. Das Perfekt wird dadurch zum analytischen Präteritum des süddeutschen Sprachraums. Vieles deutet darauf hin, dass die Situation im Frühmittelalter eine andere war: Das As. scheint im Vergleich zum Ahd. über ein deutlich progressiveres Verbalsystem zu verfügen. Für die analytischen Formen ist das gut nachvollziehbar. Ob sich dieser Befund auch auf den Abbau des gi-Präfixes in quantitativer und qualitativer Hinsicht zeigen lässt, muss noch empirisch überprüft werden.
4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik In diesem Kapitel sollen die Anforderung an eine empirisch ausgerichtete textpragmatische Untersuchung identifiziert, die zu beantwortenden Forschungsfragen präzisiert und die entsprechende Methodik operationalisiert werden. Aus den Problemen bisheriger Ansätze, die allenfalls fragmentarisch über die Entwicklung von ahd./as. gi- bis zum Ende seiner Produktivität am Finitum Bescheid andererseits geben können, erwächst vor dem Hintergrund der in Kap. 2 beschriebenen neuen Funktionszuweisungen für das Präfix und der in Kap. 3 erst oberflächlich dargestellten Funktionen der ahd. und as. Tempora auch die Notwendigkeit neuer methodologischer und methodischer Wege zur Erforschung dessen, was gemeinhin als germ. Aspektsystem angesehen wird. Voraussetzung dafür ist zunächst die Beantwortung der Frage nach der prototypischen Organisation des jeweiligen temporalen Systems. Dieses Erfordernis kann mehrfach begründet werden: Indirekte Verfahren zur Ermittlung aspektueller Muster basieren, wie bereits in Kap. 2.1.4 ersichtlich wurde, fast ausschließlich auf korrelativen Temporalitätswerten, die anhand eindeutiger Kontextfaktoren bestimmt werden können. Die hier favorisierte Funktionszuweisung für ahd./as. gi- entbindet zunächst nicht von einer solchen Herangehensweise, da über das Ausmaß der Korrelation von Faktivität und Gestivität einerseits und der einen oder anderen aspektuellen Lesart andererseits auf Basis isolierter Analysen einzelner Belege nichts gesagt werden kann. Unter Annahme eines Abbaus des Präfixes muss zudem ein etwaiger exaptativer Prozess mitberücksichtigt werden, der durch eine funktionale Anreicherung temporalsemantischer Natur sichtbar werden könnte. Dass das Präfix gi- eine gewisse Bindungsaffinität zu spezifischen temporalen Kontexten zeigt, lässt sich nicht nur aus bisherigen Befunden der historischen Sprachwissenschaft ableiten, sondern ist bereits aus gegenwartssprachlicher Perspektive augenfällig. Das erste Unterkapitel widmet sich der zentralen Frage nach den empirisch fassbaren Konvergenzbereichen innerhalb des ahd. und as. Verbalsystems, die als potenzielle systemische Interaktionsräume einzelner Tempora und des Präfixes gi- angesehen werden können. Das zweite Unterkapitel begründet die Wahl der der empirischen Untersuchung zugrundeliegenden beiden Korpustexte und gibt einen Überblick über Umfang, Gestalt und Aufbereitung dieser. Abschließend wird im dritten Unterkapitel eine konkrete Operationalisierung der notwendigen Analyseschritte entworfen, die zur Beantwortung der eingangs gestellten Forschungsfragen aus empirischer Sicht beitragen sollen. https://doi.org/10.1515/9783111040387-004
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4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik
4.1 Potenzielle Räume der Interaktion Die im Verlauf der vorangegangenen Kapitel getätigten Beobachtungen haben gezeigt, dass die Funktion von ahd./as. gi- zwar auf Basis autonomer Kategorieninhalte beschrieben werden, eine entsprechende Zuordnung aber nichts über die Stellung der Kategorie innerhalb des Verbalsystems insgesamt aussagen kann. Bisherige Zugänge zielten meist auf aspektuelle oder temporalsemantische Funktionen ab und versuchten, die pragmatische Distribution von Simplex und Derivat über extrakategoriale Implikaturen zu erklären. Geht man davon aus, dass eine grundlegende binäre Systematik von Faktivität und Gestivität als Verbalkategorie anderen Lesarten vorgelagert ist, stellt sich die Frage, ob diese auch als Voraussetzung für entsprechende temporalsemantische Interpretationen anzusehen ist. Eine dadurch zu postulierende interkategoriale Kooperation rückt auch die Frage nach einem etwaigen qualitativen Abbauprozess in den Fokus: Die durch Implikatur sekundärer grammatischer Inhalte ausgelöste Überspezifizierung kann als Voraussetzung eines Sprachwandelprozesses angesehen werden. Die kooperativen Beziehungen einzelner benachbarter Kategorien, die in einem grammatischen Inklusionszusammenhang stehen, konnten bereits vielfach als Substrat für Sprachwandelprozesse identifiziert werden. Das prominenteste Beispiel dafür ist innerhalb der Verbalkategorien die diachrone Entwicklung von Aspekt zu Tempus, die in zahlreichen idg. Sprachen nachweisbar ist.110 Die hier fokussierten funktionalen Räume, in denen etwaige Interaktionsmuster sichtbar werden können, sind nicht als exklusiv und vor allem nicht als voneinander isoliert zu verstehen. Im Verlauf der empirischen Untersuchung wird sich außerdem zeigen, dass der Einbezug zusätzlicher Parameter notwendig ist, um die Bedeutung des Präfixes gi- für das Verbalsystem vollumfänglich darzustellen.
4.1.1 Grundsätzliches: Schwund und Exaptation Zur Zeit der schriftlichen kontinentalwestgerm. Überlieferung im 9. Jahrhundert sind zwei zentrale Entwicklungen im deutschen Verbalsystem zu beobachten, über deren Zusammenhang seit jeher reichlich diskutiert wurde: die Emergenz neuer periphrastischer Tempora und der Abbau des Präfixes gi-. Es ist natürlich einfacher, ein System im evolutionären Aufbau zu beschreiben, gerade wenn es
Der altgermanistische Topos einer Entwicklung des Deutschen von einer ‚Aspektsprache‘ zu einer ‚Tempussprache‘ ist aus typologischer Perspektive daher zunächst nachzuvollziehen.
4.1 Potenzielle Räume der Interaktion
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synchron im Anfangsstadium noch sehr homogen und funktional restringiert erscheint, als den Verfall grammatikalisierter Reliktformen, deren lange Genese zu einer schwer überblickbaren inneren Diversität geführt hat. Wir können deswegen weder auf probate Instrumentarien zur Erschließung noch etablierte Termini zur Beschreibung dessen zurückgreifen, was in der germanistischen Forschungsliteratur als ‚Zusammenbruch‘ des altgerm. Aspektsystems o. ä. bezeichnet wird. Zunächst ist es sinnvoll, zumindest einen quantitativen und einen qualitativen Prozess zu unterscheiden: I) Der quantitative Prozess bezieht sich auf den Abbau der morphologischen Substanz. Diachron gesehen werden im Laufe der Sprachgeschichte immer weniger Verben mit gi- präfigiert. Dies allein sagt noch nichts über den semantischen Gehalt der einzelnen Formen aus. II) Der qualitative Prozess dagegen bezieht sich auf mögliche semantische und pragmatische Funktionsumschichtungen innerhalb des Präfigierungssystems selbst. Der quantitative Prozess kann anhand eines synchronen Querschnitts nicht beschrieben werden, dazu bräuchte es umfangreichere Sprachdenkmäler aus mehreren Jahrhunderten, die besonders für das As. fehlen. Im Ahd. ist die Überlieferungslage etwas weniger kritisch, der Abbau der gi-präfigierten Simplexverben ist dennoch erst ab dem Spätahd. statistisch erfasst: Ihr Anteil (an generell allen prädikatbildenden Verbalformen) sinkt von 5,1% bei Notker auf 2,4% im Nibelungenlied, im gleichen Zeitraum steigt der Anteil der periphrastischen Formen von 2,5% auf 7,4% (vgl. Oubouzar 1974: 24). Die zahlenmäßigen Verhältnisse für das frühere Ahd., für das As. und das Mnd. bleiben fraglich, eine Gegenüberstellung könnte erste Hinweise auf divergierende Abbaugeschwindigkeiten in den Einzelsprachen geben. Aufschlussreicher wäre allerdings die systematische Untersuchung der unter II umrissenen Prozesse. Dazu braucht es einen tragfähigen Analyserahmen. Wir können nicht von vornherein davon ausgehen, dass ein erstarrter und quasi überflüssig gewordener sprachlicher Ballast aus vergangenen Tagen, wie ihn das Präfix gi- in allen altgerm. Einzelsprachen ab einem gewissen Zeitpunkt darzustellen scheint, einfach abgebaut wird, ohne dass diese quantitative Reduktion qualitative Konsequenzen nach sich zieht, die nicht nur als Anstoß oder Katalysator für die Entwicklung eindeutig grammatisch nichtsynonymer Verbalkonstruktionen sichtbar werden. Genauso könnte man annehmen, dass eine Kategorie mit einer zumindest ehemals so zentralen Stellung innerhalb des ansonsten reduzierten verbalen Inventars nicht ‚kampflos‘ den Rückzug antritt, sondern versucht, sich zumindest teilweise entsprechend zu positionieren und in eine neu konstituierte Systematik zu integrieren. Wie auch immer dieser
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4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik
Versuch ausgesehen haben könnte, er war jedenfalls nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt, weder im Deutschen noch in den anderen germ. Sprachen. Ist ein morphologisches Element im Begriff, seine ursprüngliche Funktion einzubüßen, gibt es drei mögliche Konsequenzen, die als diachroner Prozess in Betracht gezogen werden müssen oder als Ergebnis sichtbar werden können (vgl. Lass 1990: 82): a) Das Element geht inklusive seiner Funktionen verloren. In diesem Fall kann man von einem Schwund im engeren Sinne sprechen. b) Das Element verliert seine Produktivität und bleibt nur in Resten als sog. marginal garbage übrig. c) Das Element wird wiederverwertet und erfährt eine neue Funktionszuweisung. In diesem Fall spricht man von Exaptation. Der in c) beschriebene Begriff der Exaptation stammt aus der Biologie und bezeichnet dort Strukturen und Eigenschaften, die im Verlauf der Evolution nicht für ihren gegenwärtigen Zweck entwickelt wurden, sich aber aufgrund veränderter Umweltverhältnisse als nützlicher erwiesen haben als der ursprüngliche (vgl. Gould 1983: 171). Ein klassisches Beispiel dafür wären die Federn von Vögeln. Ursprünglich dienten sie einigen flugunfähigen Dinosaurierarten wohl als Wärmeregulation und wurden aber in ihrer weiteren Entwicklungsgeschichte zu Flugbehelfen umfunktioniert. Auch in der Entwicklung der menschlichen Sprachfähigkeit spielte Exaptation eine große Rolle: Alle an der Produktion von Schallphänomenen beteiligten Artikulationsorgane des Menschen wurden ursprünglich für andere Zwecke entwickelt, das ‚Nebenprodukt‘ Artikulation setzte sich aber (teils zu Lasten der ursprünglichen Funktionen) durch (vgl. Traugott 2004: 134). In den letzten Jahrzehnten hat sich das Konzept der Exaptation in der Linguistik als Alternative zu Degrammatikalisierungs- und manchmal auch Grammatikalisierungsmodellen etabliert (vgl. Lass 1990, Nigel 1995, Wegener 2005, Simon 2010, Bülow 2017, Norde / van de Velde 2016). Bezogen auf Veränderungen, die auf systeminternen Ebenen wie Morphologie, Syntax oder Semantik stattfinden, haben wir es bei den unter a), b) und c) beschriebenen Phänomenen aber im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Definitionen nicht mit exklusiven Prozessen zu tun, vielmehr handelt es sich dabei um fokussierte Ausschnitte der Synchronie, der Diachronie oder eines sytemlinguistischen Teilaspekts. So kann man behaupten, dass im Nhd. das Präfix ge- am Finitum nicht mehr produktiv ist. Hier ist im Vergleich zu älteren Sprachstufen ein ‚Schwund‘, wie unter a) beschrieben, eingetreten. Dieser Schwund kann zumindest bruchstückhaft quantitativ dargestellt und nachgezeichnet werden (vgl. Prozess I). Allerdings gibt es bekanntlich einige fossilierte Formen, in denen das ge- weiterhin, wenn auch nicht mehr pro-
4.1 Potenzielle Räume der Interaktion
133
duktiv, existiert. Dazu zählen Verben wie gewinnen.111 Im Partizip Präteritum hat ge- als Teil eines Zirkumfixes ebenfalls überlebt, aber seine Funktion, wo auch immer man sie verortet, eingebüßt. In manchen Dialekten wird es sogar hier – oft aus phonotaktischen Gründen wie im Bairischen – abgebaut, ohne dass die Funktionalität des Partizips darunter leiden würde (vgl. Kranzmayer 1956: § 29e). Wir können also von marginal garbage wie unter b) sprechen. Im Zusammenhang mit den hier verfolgten Zielen sind solche konservierten Formen aber vernachlässigbar, da sie als Ausnahmeerscheinungen kaum Auskunft geben können über systematische Veränderungen, die den gesamten Verbalbereich betreffen. Für das eine oder andere nhd. ge-Verb mag man aufgrund seiner lexikalischen Semantik plausible Erklärungen für seine scheinbar anachronistische Form finden, über das Fehlen des Präfixes am Großteil der finiten Verben insgesamt und seine Unproduktivität sagt das aber nichts aus. Es stellt sich also vorrangig die Frage, ob der Abbau von ahd./as. gi- in (mindestens) einer bestimmten Phase auch ein zumindest teilweise exaptativer Vorgang war (vgl. Prozess II bzw. c). Unter ‚teilweise‘ ist zu verstehen, dass dieser Vorgang nicht zwingend in der Emergenz einer völlig neuen Funktion münden muss; die Verstärkung bzw. Überspezifizierung anderer grammatischer Inhalte, die möglicherweise bereits zuvor als latente sekundäre Merkmale vorhanden waren, ist im weitesten Sinne ebenfalls als Exaptation zu verstehen (vgl. Vincent 1995: 438). Auch eine ‚Streuentwicklung‘ ist dabei nicht auszuschließen: Eine Form kann Anschluss an mehrere ‚fremde‘ Kategorien suchen bzw. in den Sog verschiedener benachbarte Wirkungsbereiche geraten, die als prototypische Kontextumgebungen der primären Funktion galten. So oder so kann eine solche Entwicklung im Ahd. wie im As. wohl nur in Ansätzen beobachtet werden, da die bisherigen Stichproben gezeigt haben, dass der Gegensatz von unpräfigierten Simplizia und präfigierten Derivaten auch in diesen Sprachstufen bzw. -räumen zumindest in der direkten Gegenüberstellung am gleichen Lexem oft noch gut sichtbar ist. Das beantwortet allerdings noch nicht die Frage nach etwaigen externen Faktoren, die die Wahl des einen oder anderen begünstigen. Einige von diesen zeichnen sich auf Basis der teils gut begründbaren und teils intuitiven Funktionsverortungen der bisherigen Forschung bereits ab.
Im nominalen Bereich scheint das Präfix ge- noch deutlich freier zu sein. Da sein grammatisches Potenzial aber schon in frühester Zeit nicht mehr mit jenem seines Pendants im verbalen Bereich synonym ist, wird es in diesem Zusammenhang ignoriert.
134
4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik
4.1.2 Konvergenzbereich Pragmatik In Kap. 2.1.4 wurde die Setzung unterschiedlicher Aspekte im Zusammenhang mit diskursiven und textpragmatischen Strukturen besprochen. Auch die Fortsetzer von germ. ✶ga- gelten in der Forschungsliteratur als Elemente, die im weitesten Sinne stilistische Neigungen aufweisen. Einige Urteile entziehen sich dabei der objektiven beziehungsweise empirischen Überprüfbarkeit, da sie stark von den subjektiven Interpretationsgewohnheiten der einzelnen Autoren abhängig sind. Darunter fällt die auf Lloyd (1979) zurückgehende Funktionszuschreibung der Hervorhebung ‚textsemantischer Wichtigkeit‘, die auch bei Wedel (1987) und Schrodt (2004) vorzufinden ist. Solche Ansätze sollen hier weitgehend zurückgestellt werden. Die Erschließung diskurspragmatischer Kontexte, in denen ahd./ as. gi- präferiert vorkommen und die auch systematisch erfasst werden können, scheint dagegen lohnenswert. Wie bereits besprochen, wird das Präfix mit dem Verlauf chronologischer und narrativer Vorgänge in Verbindung gebracht, das Simplex dagegen mit außernarrativen Informationen (vgl. Metzger 2017: 215 bzw. Schrodt 2004: § 115). Aufgrund der vermuteten Interaktion des Präfixes mit den Kategorien Aspekt und Tempus wäre eine solche Verteilung naheliegend, wie die Ergebnisse empirisch-quantitativ ausgerichteter Studien zu prototypischen diskurspragmatischen Kontexten einzelner Tempora historischer germ. Sprachen zeigen. Entsprechende methodische Anknüpfungspunkte bieten textlinguistische Modelle, wie sie von Zeman (2010) für das mhd. oder MacLeod (2012) für das ae. Tempussystem entwickelt wurden und hinsichtlich dieser Verbalkategorie klare diskurspragmatische Verteilungsmuster offenlegen konnten (vgl. Kap. 3.1.4). Die temporaldeiktischen Konzepte der Origo-Inklusivität und Origo-Exklusivität werden binnentextuell als dialogische bzw. nicht-dialogische Diskursmuster sichtbar, die von den beiden Haupttempora Präsens und Präteritum grundkonstituiert werden. Die periphrastischen Perfektformen werden anhand des Temporalwerts ihres Finitums in diese Systematik integriert. Während derartige Strukturen hinsichtlich der Distribution einzelner Tempora für verschiedene historische germ. Sprachen nachgewiesen werden konnten, blieb die Frage nach einem etwaigen diskurspragmatischen Verhalten des Präfixes gi- bislang unbeantwortet. Für die wenigen verbliebenen mhd. ge-Verben lassen sich aus den Daten von Zeman (2010) keine eindeutigen Tendenzen ableiten.112 Es gilt daher zu überprüfen, ob im Ahd.
MacLeod (2012) verzichtet dagegen generell auf das Einbeziehen des Präfixes ae. ge-, weil er sich im Zusammenhang mit der Kategorie Tempus keinerlei Erkenntnisgewinn davon verspricht.
4.1 Potenzielle Räume der Interaktion
135
und As. ein ebenso schwer fassbares Distributionsverhalten auszumachen ist oder ob das Präfix gi- aufgrund seiner höheren Produktivität und Funktionalität in diesen Sprachstufen und -räumen noch prototypischen diskursiven Systemen zuordenbar ist, wie das für die deutschen Tempora der Fall ist. Es stellt sich also zunächst die Frage, welche grundlegenden diskurspragmatischen Strukturen für das ahd. und das as. Tempussystem vorauszusetzen sind. Erst nach der Isolierung der entsprechenden Muster kann ermittelt werden, ob solche auch für das gi-Präfix vorliegen.
4.1.3 Konvergenzbereich Tempus Über den Zusammenhang von ahd./as. gi- und dem grammatischen Komplex der Aspektualität wurde bereits gesagt, dass ein solcher nicht zwingend vorliegen muss und ein Zugriff auf diese Verbalkategorie ohnehin nur indirekt erfolgen kann. Gerade deswegen ist es unerlässlich, die Frage nach der Beteiligung des Präfixes am Aufbau eines lineartemporalen Verbalsystems, wie wir es aus der Gegenwartssprache kennen, zum wiederholten Male zu stellen. Dass die temporale Funktion in der Forschungsliteratur als „Funktionsnische“ von gi- gilt, ist nicht weiter verwunderlich, weil doch Tempus als unmittelbare Nachbarschaftskategorie des Aspekts angesehen wird. Neben der – nicht durch empirische Zahlen gestützten – Beobachtung einer gewissen Affinität des Präfixes zu Vergangenheitstempora wird besonders seine etwaige relative Temporalitätsfunktion immer wieder diskutiert. Im Ahd. und As. übernehmen viele gi-präfigierte Verben im Präteritum die Funktion des nhd. Plusquamperfekts, während sie im Präsens zum Ausdruck zukünftiger Zeitbezüge Verwendung finden (vgl. Leiss 2002b: 27–28. Kuroda 2005: 268); Im As. zeigt sich ein ähnliches Bild (vgl. Fleißner 2017: 28). Übereinstimmende Daten gibt es auch zum Mhd., wobei der Umstand, dass in diesen Kontexten die (deutlich häufigeren) unpräfigierten Simplizia ebenso vertreten sind, in jüngerer Zeit zu dem Urteil geführt hat, es handle sich zu diesem Zeitpunkt bereits um fakultative oder sogar freie Varianten, während die relativen temporalen Verhältnisse entweder vom Kontext oder von temporalen Subjunktionen, Adverbien beziehungsweise sonstigen zeitlichen Angaben markiert werden (vgl. Heindl 2017: 114 bzw. Zeman 2010: 144). Unabhängig davon, ob man gi- eine perfektivierende oder – wie hier – eine andere Funktion zuschreibt, ist eine gewisse Affinität des Präfixes zu Kontexten des (relativen) temporalen Bezugs nicht von der Hand zu weisen. Solche Kumulationen, die nicht zwingend auf die primäre Funktion eines Elements zurückzuführen sind, sondern rein pragmatischer Natur sind, bilden stets ein gutes Substrat für stilistische Variation, aber aufgrund der Wahlfreiheit auch Schwankungen und damit Übergeneralisierungen jeglicher Art. Es stellt sich also die Frage, ob eine Korrelation zwischen
136
4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik
dem Präfix ahd./as. gi- und verschiedenen temporalsemantischen Schemata festzustellen ist, die über die die basalen und binären Funktionszuweisungen hinausgeht. Das betrifft im Speziellen die Korrelation des Präfixes mit a. morphologisch unterschiedlichen Tempora im Allgemeinen, b. Zeit- und Temporalangaben unterschiedlichster Art, c. absoluten versprachlichten Zeitverhältnissen und d. relativen versprachlichten Zeitverhältnissen im Kontrast zu unpräfigierten Simplizia einerseits und zu den Verhältnissen synchron wie diachron differierender Sprachräume andererseits. Auf eine systematische Erfassung aktionsartensemantischer Merkmale für einzelne Verben wird verzichtet. Das liegt zunächst daran, dass insbesondere hinsichtlich der hier im Fokus stehenden gi-Derivate eine intuitive Entscheidung für oder gegen bestimmte Verlaufsweisen aus gegenwartssprachlicher Perspektive kaum möglich ist. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass zahlreiche kontextuelle Faktoren die etwaigen im Verb selbst angelegten Merkmale der aktionsartlichen Grenzbezogenheit überschreiben können. Wo es nötig ist, wird in der Analyse einzelner Belege auf entsprechende lexikalische Inhalte Bezug genommen. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung von absoluten und relativen Zeitverhältnissen sind insbesondere die innerhalb komplexer Satzgefüge herrschenden Abhängigkeitsverhältnisse zu berücksichtigen, da sich einzelne Tempora in Hauptsätzen anders verhalten als in Nebensätzen. Auch ist anzunehmen, dass die Verteilung der gi-Präfixe auf Haupt- und Nebensatz nicht gleichmäßig ist. Eine besondere Neigung zur Subordination zeigen auch die ge-Präfixe des Mhd. (vgl. Zeman 2010: 142), weshalb vor dem Hintergrund einer etwaigen temporalen Funktion das Verhältnis des Präfixes zu anderen synthetischen Tempora und zu periphrastischen Konstruktionen eine vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen syntaktischen Einbettungsebenen notwendig ist.
4.2 Korpusaufbereitung 4.2.1 Auswahl der untersuchten Texte Die Basis für die Untersuchung bilden die zwei größten kontinentalwestgerm. und genuin volkssprachlichen Werke des 9. Jahrhunderts, deren Material auch den bisherigen Einzelanalysen zugrunde lag: die ahd. Evangelienharmonie Otfrids von
4.2 Korpusaufbereitung
137
Weißenburg und der as. Heliand.113 Die Auswahl der Texte muss aufgrund der unbefriedigenden Überlieferungslage kaum begründet, sondern allenfalls gerechtfertigt werden. Diese hat sich zumindest in Bezug auf längere zusammenhängende Texte weder für das Ahd. noch für das As. in den letzten 150 Jahren wesentlich gebessert und es ist nicht anzunehmen, dass sich das in Zukunft ändern wird. Ein strukturiertes Korpus, das den Ansprüchen der empirisch-quantitativen historischen Syntaxforschung genügt und regionale, stilistische und zeitliche Parameter miteinbezieht, ist selbst unter Berücksichtigung sämtlicher ahd. Textquellen nicht zu erstellen (vgl. Fleischer / Schallert 2011: 75). Für das noch deutlich schlechter belegte As. gelten die gleichen Probleme in verstärktem Ausmaß. Auf die in germanistischen Publikationen häufig anzutreffende Klage über das, was Labov (1995) mit dem Label bad data versehen hat, soll hier aber verzichtet werden. Der Umfang der angestrebten Tiefenanalyse des ahd. bzw. as. Verbalsystems würde durch das Einbeziehen weiterer größerer Textmengen der forschungspraktischen Umsetzung ohnehin entgegenstehen. Die gewählte Verfahrensweise für diese Untersuchung ist so konzipiert, dass auch auf Basis homogener Datensets valide Ergebnisse zu erwarten sind. Die Binarisierung des Korpus nach binnentextuellen diskurspragmatischen Mustern, wie sie in Kap. 3.1.4 als notwendig für die Erschließung zugrundeliegender indexikalischer Referenzdomänen angesehen wurde, neutralisiert weitgehend den potenziell intervenierenden Faktor ‚Textsorte‘. Ein solcher darf allerdings ohnehin nicht überbewertet werden. So zeigen etwa die Ergebnisse von Zeman (2010: 305), dass die Verteilung der mhd. Tempusformen in unterschiedlichen prosaischen und lyrischen Texten nur wenig von Form und Inhalt abhängig zu sein scheinen. Zu einem übereinstimmenden Urteil hinsichtlich der Abhängigkeit des Perfekts von verschiedenen literarisch behandelten Themenkomplexen und kommt auch Dentler (1997: 142). Es ist daher nicht zu erwarten, dass textsortenspezifische Eigenheiten in älteren Sprachstufen einen größeren Einfluss auf die pragmatische Verwendung spezifischer Verbalformen haben, auch wenn vereinzelt individuelle stilistische Gewohnheiten der Autoren zu berücksichtigen sein werden. Ein entsprechendes methodisches Vorgehen setzt allerdings eine Textgrundlage größeren Umfangs und komplexer narrativer Strukturiertheit voraus. Sowohl die ahd. Evangelienharmonie als auch der as. Heliand erfüllen diese Anforderungen. Als mittelalterliche Bibeldichtungen weisen beide Texte
Die folgenden Ausführungen geben einen knappen Überblick über Datierung, Umfang und sprachliche Einordnung der beiden Texte. Für eine umfassendere traditionelle Darstellung der Werkgeschichte vgl. für Otfrid Kelle 1881, Erdmann 1882, Piper 1882, Kleiber 1971, Vollmann-Profe 1976; für den Heliand vgl. Windisch 1868, Sievers 1878, Piper 1897, Behaghel 1903, Heusler 1921, Bruckner 1929, Genzmer 1966.
138
4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik
einen hohen Anteil an dialogischen und nicht-dialogischen Passagen auf, auch wenn sich zeigen wird, dass sich die jeweiligen Gewichtungen unterschiedlich gestalten. Sowohl im ahd. als auch im as. Epos wird das Leben Jesu auf Basis der neutestamentarischen Überlieferung und vereinzelter apokrypher Schriften nacherzählt, womit sich die beiden Werke auch stoffgeschichtlich sehr nahestehen. Kompositionelle Unterschiede offenbaren sich in Anordnung und Auswahl der Evangelien, auch wenn sowohl Otfrid als auch der Helianddichter alle vier Evangelisten berücksichtigen. Die ahd. Evangelienharmonie wird zusätzlich durch zahlreiche kommentarische Passagen der Exegese angereichert, was sie vom eher linearen Erzähltypus des Heliand unterscheidet (vgl. Erdmann 1882: LXIX–LXX). Die methodische Konsequenz, anstatt verschiedener Textsorten innertextuelle Diskursmodi separat zu untersuchen, wird sich vor dem Hintergrund solcher strukturellen Differenzen als besonders wertvoll erweisen. Eingangs wurde mit der Erschließung diachroner Dynamiken auf Basis synchroner Verhältnisse ein Ziel dieser Arbeit definiert. Um einen arealen Vergleich anstellen zu können, ist daher ein einheitlicher zeitlicher Bezugsraum notwendig. Auch wenn über den genauen Entstehungszeitpunkt der einzelnen Korpustexte keine endgültige Einigkeit besteht, kann ein synchroner Schnitt mit dem 9. Jahrhundert angesetzt werden. Damit sind die Parameter der Textkonstitution und der Entstehungszeit für das Belegmaterial insgesamt als konstant zu bewerten und die beiden Korpustexte entsprechend gut vergleichbar. Die ahd. Evangelienharmonie ist mit einem Umfang von über 75.000114 ahd. Wortformen nicht nur das größte kontinentale Zeugnis der älteren westgerm. Überlieferung, sondern auch das einzige, das aufgrund der gesicherten Autorschaft und der inhaltlichen Bezüge zu historischen Personen und Ereignissen verhältnismäßig präzise datiert werden kann: Otfrid stellte sein Werk um das Jahr 868, spätestens 871 fertig (vgl. Erdmann 1882: LIV, Sonderegger 2003: 146, Penzl 1986: 137). Als Entstehungsort kann das Kloster Weißenburg im Elsass genannt werden, die südrheinfränkische Sprache gibt ebenfalls Hinweise auf die Herkunft des Verfassers. Otfrid gilt gemeinhin als Wegbereiter der deutschen Endreimdichtung, die den älteren germ. Stabreim ablöst. Über den Einfluss der lyrischen Form des Textes auf die systemgrammatische Ausgestaltung ist vielfach diskutiert worden, auch wenn ein überzeugendes abschließendes Urteil über Existenz und Bedeutung eines etwaigen ‚Reimzwanges‘, der der grammatischen Wohlgeformtheit entgegensteht, nie gefällt wurde (vgl. vgl. Fleischer / Schallert 2011:
Unter Einbezug der lat. Textstellen erhöht sich der Umfang des gesamten Werkes um etwa 7000 weitere Wortformen (s. u.).
4.2 Korpusaufbereitung
139
50–53). In jüngeren Publikationen, etwa bei Gillmann 2016 oder Heindl 2017, finden sich Diskussionen über solche Vorbehalte allerdings nur noch im Ansatz. Hinsichtlich der Distribution einzelner Tempora ist vor allem die Wahl von synthetischen und periphrastischen Formen ein oft vermuteter potenziell sensibler Varianzbereich, was den Einfluss dichterischer Konventionen betrifft. Vereinzelt werden daher bei der Analyse gewisser Stellen solche Überlegungen miteinfließen, es wird sich aber auch zeigen, dass eine klare grammatische und pragmatische Funktionsverortung für die meisten Formen ausreichend ist, um die Motivation ihrer Verwendung offenzulegen.115 Ein ähnlicher Befund wird sich für die gi-Präfigierung ergeben, die zwar nicht durch den Endreim beeinflusst werden kann, aufgrund ihrer Silbengestalt in Kombination mit der mehr oder weniger freien Verwendung bei ein und demselben Verb aber in Verdacht geraten könnte, in einem Abhängigkeitsverhältnis zur metrischen Struktur zu stehen. Otfrids Evangelienharmonie ist in drei vollständigen Handschriften und einigen Fragmenten überliefert, wobei der Codex Vindobonensis (V) die älteste und sogar vom Autor noch persönlich durchgesehene Handschrift darstellt und dementsprechend in den meisten Untersuchungen den anderen Quellen vorgezogen wird, so auch in dieser Arbeit. Der Text von V liegt den wichtigsten Editionen zugrunde (vgl. Kelle 1856 oder Erdmann 1882), die Eingang in die digital aufbereiteten Korpora gefunden haben (s. u.). Mit dem as. Heliand liegt ein Vergleichstext vor, der mit knapp 70.000116 Wortformen nur unwesentlich kürzer ist als die ahd. Evangelienharmonie. Die Provenienzforschung nennt sowohl das Kloster Fulda als auch das Kloster Werden als mögliche Entstehungsorte, was angesichts der Mobilität frühmittelalterlicher Geistlicher wenig über die Herkunft des anonymen Dichters aussagt, über dessen Leben auch sonst nichts bekannt ist. In Bezug auf die genauere sprachgeographische Verortung besteht ebenfalls keine endgültige Einigkeit: Sowohl ein west- als auch ein ostfälischer Dialekt wird von verschiedenen Autoren in Betracht gezogen, darüber hinaus ein niederfränkischer Einschlag diskutiert (vgl. Mitzka 1968: 83–87). Die Entstehungszeit kann zwischen 814 und
Periphrastische Perfektformen wären aufgrund ihrer reduzierten Endungsmorphologie prädestiniert für endreimende Texte. Es ist aber auffällig, dass gerade diese in Otfrids Evangelienharmonie eine marginale Randgruppe innerhalb des verbalmorphologischen Inventars bilden. Abgesehen von einer nur wenige hundert Wortformen umfassenden lat. Vorrede, die obendrein in vielen Editionen ausgespart wird, sind sämtliche Kapitel in as. Sprache verfasst.
140
4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik
840 angesetzt werden (vgl. Behaghel 1903: XVI), wobei die Zeit um 830 in der Forschungsliteratur am häufigsten genannt wird.117 Wie andere as. Dichtungen ist der Heliand ohne strophische Gliederung und stabreimend abgefasst worden, was besonders der historischen Tempusforschung entgegenkommt. Das System von Hebungen und Senkungen ist gegenüber verschiedenen Lautverbindungen etwas offener als der Endreim, zudem ist die genaue Anzahl unbetonter Silben nicht festgelegt (vgl. Holthausen 1921: 205–206). Das stets unbetonte Präfix gi- kann von der metrischen Struktur also nicht beeinflusst werden. Darüber hinaus gibt es eine starke Tendenz, dass die stabenden (= alliterierenden) Hebungen von nominalen Elementen konstituiert werden, nicht von verbalen (vgl. Lehmann 1953: 162). Die Bedeutung der lyrischen Textgestaltung kann also in dieser Arbeit weitgehend vernachlässigt werden. Das Heliandepos ist unvollständig in zwei Handschriften und drei Fragmenten überliefert, den wichtigsten Editionen liegt spätestens seit Behaghel 1903 der Monacensis zugrunde. Neben dieser Handschrift M gibt es mit dem Cottanius noch eine Handschrift C, die auf die gleiche Vorlage zurückgeht und an einigen Stellen M ergänzt (vgl. Taeger 1984: XV–XXII). Beide bearbeiteten Korpustexte sind in ihrer Gestalt dem ‚Referenzkorpus Altdeutsch‘ entnommen, das über das Tool ANNIS3118 (Krause / Zeldes 2016) abrufbar ist. Die folgende Tabelle gibt einen abschließenden Überblick über Umfang und Art der bearbeiteten Texte nach den Metadaten des digitalen Korpus vgl. Tabelle 5: Tabelle 5: Metdadaten der untersuchten Korpustexte. Ahd. Evangelienharmonie
As. Heliand
Entstehungszeitraum
~
~
Handschrift
V
MC
Tokens
.
.
Gattung
Evangeliendichtung
Evangeliendichtung
Form
Vers (Endreim)
Vers (Stabreim)
Sprache
Althochdeutsch
Altsächsisch
Dialekt
Südrheinfränkisch
nicht klassifiziert
Trotz der Zeitspanne von einigen Jahrzehnten, die zwischen der Fertigstellung des as. Heliand und der ahd. Evangelienharmonie liegen, ist aufgrund Otfrids hohen Alters zum Zeitpunkt der Abfassung anzunehmen, dass beide Autoren der gleichen Sprechergeneration angehörten. https://korpling.german.hu-berlin.de/annis3/ddd (letzter Zugriff: 20.09.2022).
4.2 Korpusaufbereitung
141
4.2.2 Binarisierung des Korpus In Kap. 3.1.4 wurde die Relevanz einer origo-deiktischen Opposition von dialogischen und nicht-dialogischen Diskursmustern für die Verteilung der deutschen Tempora diskutiert. Diese stellen eine pragmatische Projektion der temporalsemantischen Relationen R = S und R ≠ S dar, die für geschriebene Texte eine binäre binnentextuelle Differenzierung der Diskursmodi ‚sprecherbezogene Rede‘ (SR) und ‚nicht-sprecherbezogene‘ Rede (NR) erlauben. Entsprechende textpragmatische Modelle sind für die historische Sprachwissenschaft gut erprobt und konnten entsprechende Abhängigkeits- und Distributionsverhältnisse für verschiedene Sprachen zeigen. Ich folge dabei im Wesentlichen der Methodologie von Zeman (2010: 87–88). Die binäre Trennung in die beschriebenen origo-deiktischen Diskursmuster erfolgt für beide Korpustexte gleichermaßen, hinsichtlich der Gewichtung dahinterstehender Mikrostrukturen unterscheiden sie sich jedoch deutlich. Der Bezug zum origo-deiktischen ‚ego‘ ist als relevantes Kriterium für sämtliche extradiegetische Diskurskontexte des Modus SR anzusetzen, die nicht als narrative Passagen verstanden werden können. Am einfachsten zu identifizieren ist dabei der Diskurskontext ‚Dialog‘, der meistens über redeeinleitende inquitFormeln markiert wird. Fehlen diese, geben philologische Editionen Auskunft über das Vorhandensein einer direkten Rede. Der allergrößte Teil der sprecherbezogenen Passagen des as. Heliand ist diesem Diskurskontext zuzurechnen, bei Otfrid sind die diskursiven Strukturen etwas heterogener. Mit dem Diskurskontext ‚Rahmenerzählung‘ werden Passagen bezeichnet, die zwar ebenfalls außerhalb des narrativen Duktus angesiedelt sind, auf diesen aber in metasprachlicher Weise Bezug nehmen. Dazu gehören vor allem einleitende Vor- oder abschließende Schlussreden, in denen die Abfassung des jeweiligen Buches begründet, gerechtfertigt und im Kontext der erfahrbaren Wirklichkeit des Autors evaluiert wird. Während diese Passagen im Heliand nur einen kleinen Teil des Werkes insgesamt ausmachen, zeigt sich Otfrid diesbezüglich weniger zurückhaltend. Als namentlich bekannter und entsprechend selbstbewusster Autor spart er nicht mit Geleitworten und anderen literarischen Versatzstücken wie Gebeten, Widmungen und Danksagungen an verschiedene Würdenträger und alte Freunde. Die klare Struktur der ahd. Evangelienharmonie macht es zumeist recht einfach, solche Passagen von den übrigen zu trennen, da Otfrid selbst an einer strengen Unterscheidung derartiger Kapitel von der übrigen Erzählung gelegen war und diskursive Mischkontexte daher selten sind. Etwas schwieriger gestaltet sich mitunter das Erkennen von textinternen Kommentaren, die direkt auf das Erzählte in Form von exegetischen Auslegungen und katechetischen Moralisierungen referieren. Wie im Dialog entsteht auch hier
142
4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik
eine (fingierte) Kommunikationssituation, die die Anwesenheit mindestens zweier Gesprächsteilnehmer erfordert, die mit einer (unwirklichen) gemeinsamen außersprachlich erfahrbaren Realität eines ‚Hier und Jetzt‘ verbunden sind. In der philologischen Praxis bedeutet das, dass Kennzeichen eines entsprechenden deiktischen Bezugs identifiziert werden müssen. Dazu gehören vor allem Kontextangaben der Zeit-, Raum- und Personaldeixis (vgl. Zeman 2010: 87 mit Verweis auf Diewald 1991). Auch in diesem Zusammenhang gibt die Gliederung der ahd. Evangelienharmonie oft gesicherte Auskunft über das Vorliegen eines solchen Erzählerkommentars, vereinzelt ergeben sich aber Zweifelsfälle, wenn innerhalb narrativer Abschnitte eine Handlungssequenz mittels Exposition des Autors durchbrochen wird. Zur ‚nicht-sprecherbezogenen Rede‘ gehört alles, was nicht zu den bisher angeführten Diskurskontexten zu zählen ist. Der Modus NR wird damit als Negativkategorie definiert, obwohl die Ausgestaltung solcher Passagen in beiden Korpustexten einfach umrissen werden kann: Sämtliche von einer wie auch immer gearteten Kommunikationssituation entbundenen Textstellen, die im Wesentlichen die neutestamentarischen Begebenheiten der vier Evangelien nacherzählen, sind als ‚narrativ‘ und damit als ‚nicht-sprecherbezogen‘ zu werten. Tabelle 6 zeigt die strukturellen Parameter für beide Diskursmodi im Überblick: Tabelle 6: Vergleich zwischen den beiden Diskursmodi ‚nichtsprecherbezogen‘ und ‚sprecherbezogen‘. ‚nicht-sprecherbezogen‘ (NR)
‚sprecherbezogen‘ (SR)
Situationsentbindung ‚Distanz‘
(fingierte) Kommunikationssituation Situationsbezug ‚Hier und Jetzt‘ des Sprechers ‚Nähe‘
origo-exklusiv
origo-inklusiv
narrativ
nicht-narrativ
Erzählung Indirekte Rede
Dialog Rahmenerzählung Kommentar
4.3 Operationalisierung
143
4.3 Operationalisierung Eine systeminhärente Untersuchung des ahd. bzw. as. Verbalsystems mit einem Fokus auf dessen temporalsemantische Beschaffenheit muss sowohl Formenals auch Funktionsbestimmung in sich vereinen. Über das formalmorphologische Inventar der beiden untersuchten Idiome wurde in Kap. 3 bereits ein Überblick aus Perspektive der traditionellen altgermanistischen Forschung gegeben. Für die synthetischen Formen des Präsens und des Präteritums ist der Status als Tempus unstrittig. Für die sich im Ahd. und As. herausbildenden periphrastischen Verbalformen herrscht diesbezüglich keine Einigkeit. Ein vorschnelles Kaprizieren auf die eine oder andere Kategorienfestlegung ist vor dem Hintergrund systematischer Umwälzungen innerhalb des Verbalsystems allerdings ohnehin nicht zielführend. Zunächst genügt es, vom morphologischen Inventar der jeweils untersuchten Idiome auszugehen. Im Gegensatz zum Formenbestand späterer Sprachstufen, bei denen aufgrund von Nebensilbenabschwächung und paradigmatischen Ausgleichsprozessen mit Polysemie und Synkretismen zu rechnen ist, zeichnen sich die stark synthetischen altgerm. Verbalsysteme durch ihren kategoriendifferenten morphologischen Charakter aus. Über die Zuordnung einer bestimmten Form zu der einen oder anderen Funktion kann nur mittels einer Frequenz- und Funktionsanalyse Auskunft gegeben werden, die zusätzliche Parameter wie verbalgrammatische Charakteristiken, diskurspragmatische Muster, Temporalangaben und Deiktika miteinschließt. Um sämtliche Kontextfaktoren berücksichtigen zu können, wurden zunächst alle Verbalformen der beiden untersuchten Korpustexte in zwei separaten computergestützten Tabellen erfasst und entsprechend annotiert. Systemgrammatische Angaben wurden, soweit diese zur Verfügung standen, vom Projekt ‚Referenzkorpus Altdeutsch‘ übernommen, das diese über das Korpussuchtool ANNIS3 (Krause / Zeldes 2016) zugänglich macht. Ergänzt wurden diese Parameter um eigene Annotationen. Diese umfassen die Klassifizierung von analytischen Tempora und Objekten, gi-Präfixen, temporalen Kontextangaben, Deiktika, Negationen und Diskursmodi, außerdem eine eigene Übersetzung der jeweiligen Belegstelle. Tabelle 7 zeigt alle berücksichtigten Parameter und die dazugehörigen Werte im Überblick.119 Mit diesem Instrumentarium soll zunächst eine Frequenzanalyse des gesamten verbalen Inventars durchgeführt werden. In einem zweiten Schritt
Auf die Klassifizierung des Parameters ‚Aspektualität‘, wie sie etwa Zeman (2010: 99) vornimmt, wird aufgrund der Schlussfolgerungen in Kap. 2 verzichtet.
144
4 Konsequenzen für die empirische Forschung und Methodik
werden die so aufgedeckten prototypischen Distributionsmuster einer temporalsemantischen Tiefenanalyse unterzogen. Tabelle 7: Überblick über die untersuchten Parameter und Werte. Parameter
Werte
x/x
x: Belege, die formal bestimmt werden können. x: Belege, die formal nicht bestimmt werden können.
R-Nr.
Referenznummer der Einzelbelege.
V
Versangabe des Belegs anhand der finiten Verbform.
Beleg
Beleg der finiten Verbform, zitiert nach der Edition von Erdmann bzw. Behaghel / Taeger .
Verb
Verbform im Infinitiv.
TEMP
Klassifizierung der Tempora nach Präsens (PRÄS), Präteritum (PRÄT), Perfekt (PERF) und Plusquamperfekt (PLUSQ).
AUX
Klassifizierung der Auxiliare nach Kopulaverb (KV), Modalverb (MV) und den Verben ahd. wesan, haben/eigun, werdan und as. wesan, hebbian/egan, werðan;
PERS
Klassifizierung des Belegs nach ., . und . Person.
NUM
Klassifizierung nach Numerus durch Singular (SG) und Plural (PL).
MOD
Klassifizierung nach Modus durch Indikativ (IND), Konjunktiv (KONJ).
GEN
Klassifizierung nach Genus durch Aktiv (AKT) und Passiv (PASS).
gi-Präfix
Angabe eines gi-Präfixes.
FLEX
Klassifizierung eines flektierten Partizips.
Temporalangabe Temporale Kontextangaben. Deiktika
Deiktische Angaben lokaler und personaler Art.
Negation
Angabe einer vorliegenden Negation.
NR/SR
Klassifizierung nach ‚sprecherbezogener‘ (SR) und ‚nichtsprecherbezogener‘ Rede (NR)
HS/NS
Klassifizierung nach Hauptsatz (HS) und Nebensatz (NS).
Satzart (NS)
Spezialisierung eines Nebensatzes nach Relativsatz (REL), Modalsatz (MOD), Kausalsatz (KAUS), etc.
Übersetzung
Eigene Übersetzung.
5 Empirische Untersuchung Das Ziel des folgenden Kapitels besteht zunächst in einer Prototypenrekonstruktion der Tempussysteme des Ahd. und As. auf Grundlage der beiden Korpustexte. Neben einer Beschreibung und Gegenüberstellung des morphologischen sowie syntaktischen Inventars steht vor allem die Charakteristik der funktionalen und pragmatischen Kontexte, die bisherige fragmentarische und formgebundene Darstellungen ergänzen sollen, im Fokus. Durch die notwendige mehrdimensionale Skalierung der einzelnen Faktoren muss dabei das statische Bild des altgerm. Verbalsystems, das traditionelle Grammatiken zeichnen, auf mehreren Ebenen evaluiert und in weiterer Folge relativiert werden. Die grundlagenorientierten und deskriptiven Ergebnisse des ersten Unterkapitels bilden die Ausgangsbasis für die Rekonstruktion der Tempussysteme aus funktionaler Sicht in Kap. 5.2, in dem die empirischen Befunde in einer Prototypenmodellierung enggeführt werden. Die Gliederung orientiert sich dabei an den in Kap. 3 und Kap. 4 besprochenen pragmatischen Anwendungsbereiche der morphologischen Tempusformen in Abhängigkeit der zugrundeliegenden Diskursmodi und jener der Präfigierung als integratives temporales Subsystem oder autonome bzw. kooperierende Kategorie. Abschließend werden die aufbereiteten Daten aus der Perspektive der eingangs formulierten Thesen hinsichtlich der diachronen Dynamik von Aufbau innovativer und Abbau konservativer Formen bewertet, welche anhand des synchronen Querschnitts offengelegt werden soll. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Funktion der im Schwinden begriffenen gi-Präfixe innerhalb des temporalen Systems vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen wie der Emergenz periphrastischer Konstruktionen und der sich andeutenden zunehmenden Restriktion des alten synthetischen Formenbestands in pragmatischer und temporalsemantischer Hinsicht.
5.1 Die Distribution der Verbalformen Die folgenden tabellarischen Zusammenstellungen geben einen Überblick über die Verteilung der ahd. und as. Verbalformen und die wichtigsten morphologischen, syntaktischen und pragmatischen Kontextfaktoren, die die Grundlage für weitere Funktionsanalysen bilden. Die jeweiligen Abhängigkeitsbeziehungen der einzelnen Faktoren untereinander sowie das Verhältnis zu anderen nicht-verbalen Elementen können anhand des absoluten Verwendungsumfangs der verschiedenen Formen zunächst meist nur oberflächlich dargestellt werden. Eine abschließende Bewertung der augenscheinlichen Distributionsmuster kann erst später erfolgen. https://doi.org/10.1515/9783111040387-005
146
5 Empirische Untersuchung
5.1.1 Das verbalmorphologische Formenset Die morphologische Zusammensetzung der Tempusinventare in den beiden untersuchten Idiomen stellt sich nach einer Auszählung aller finiten Verbformen der beiden Korpustexte wie folgt dar:120 Tabelle 8: Verteilung der Tempora in den Korpustexten. Otfrid n
Heliand n
%
%
PRÄS (davon + gi )
. ()
,% (,%)
. ()
,% (,%)
PRÄT (davon + gi )
. ()
,% (,%)
. ()
,% (,%)
PERF (haben)
,%
,%
PERF (sein)
,%
,%
,%
,%
,%
,%
.
,%
.
,%
PQP (haben) PQP (sein) ∑Verben finit
Die Eingrenzung auf die finiten Formen ist hinsichtlich der angestrebten temporalsemantischen Analysen notwendig, bedarf aber folgender Präzisierungen: Für beide Texte wurden nur volkssprachliche Formen berücksichtigt. Im Falle des Heliand betrifft diese Reduktion lediglich die dem Werk vorangestellte lat. Präfatio. Der Anteil lat. Textabschnitte ist in Otfrids Evangelienharmonie deutlich höher und beläuft sich auf knapp 4%. Die diesen Passagen zugehörigen Verben wurden ebenso wenig mitgezählt wie diejenigen, die sich in den lat. Kapitelüberschriften finden. Die Angaben sind zum Teil als extrapolierte Zahlen zu verstehen: Sind bei periphrastischen Formen wie dem Perfekt oder dem Plusquamperfekt mehrere infinite Prädikatsteile beigeordnet, so richtet sich die hier angegebene Zahl nach der potenziell realisierbaren Anzahl an finiten Auxiliarverben. Vereinzelt betrifft das auch Kopulakonstruktionen oder andere mehrteilige Verbalkomplexe, die hier nur über die synthetische Form erfasst werden. Aufgrund von zum Zeitpunkt des Datenexports noch vorhandenen Inkonsistenzen bezüglich der Klassifzierung einzelner Belege hinsichtlich ihres syntaktischen Status orientiert sich die Überblicksdarstellung an den zuverlässigeren verbalmorphologischen Annotationen im Referenzkorpus. In einigen wenigen Fällen musste auch hier korrigierend eingegriffen werden, was aufgrund der Datenmenge insgesamt aber in den Verhältnissen der relativen Anteile zu keiner sichtbaren Abweichung führt und damit statistisch vernachlässigbar ist. An dieser Stelle sei Melitta Gillmann gedankt, die mir mit einer Einsicht in ihr as. Perfektkorpus die Suche nach der einen oder anderen schwer auffindbaren Konstruktion erleichtert hat. Ich zähle in meinem Korpus insgesamt drei as. Periphrasen vom Typ wesan weniger als die Autorin. Die Differenz mag sich wohl aus einer leichten interpretatorischen Abweichung in Bezug auf die Abgrenzung einzelner Belege zu nah verwandten Passivkonstruktionen ergeben.
5.1 Die Distribution der Verbalformen
147
Erwartungsgemäß dominieren in beiden Texten die synthetischen Verbalformen des einfachen Präsens und des Präteritums. Das Verhältnis zwischen den beiden Tempora ist bei Otfrid ausgeglichener als im Heliand, was angesichts der textsortenspezifischen Unterschiede nicht überrascht (s. u.). Bemerkenswert sind dagegen die deutlichen Frequenzunterschiede, die die periphrastischen Perfektformen betreffen. Zwar ist das gehäufte Vorkommen der Konstruktionen im As. ebenso wie ihr verhältnismäßig hoher Grammatikalisierungsgrad bereits mehrfach beobachtet worden (vgl. Leiss 1992: 162, Gillmann 2016: 233), bisherige Angaben bezogen sich allerdings nur auf absolute Häufigkeiten im einzelsprachlichen Vergleich, ohne Rücksicht auf relative Mengenverhältnisse unter Einbezug anderer Tempusformen oder Textumfang zu nehmen.122 Der Anteil der periphrastischen Konstruktionen ist bei Otfrid mit 0,73% als marginal einzustufen. Im Heliand beläuft sich der Anteil der Perfekt- und Plusquamperfektformen dagegen mit 3,06% immerhin auf mehr als das Vierfache. Im Vergleich dazu ermittelt Zeman (2010: 112) für das mhd. Versepos Herzog Ernst einen Wert von 7,39% für periphrastische Perfektkonstruktionen. Unter Annahme einer typologischen Zielgerichtetheit der Konstruktionsentwicklung mit zunehmender textpragmatischer Auffächerung nimmt das As. also in quantitativer Hinsicht eine Mittelposition zwischen dem konservativeren ahd. und dem modernen mhd. Typ ein. Mittels diskurspragmatischer Parameter muss für diese Werte eine weitere Skalierung erfolgen, grundlegende Tendenzen deuten sich allerdings bereits hier an. Die offensichtlichen Frequenzunterschiede bezüglich der Verteilung von konservativen synthetischen und innovativen periphrastischen Formen in den jeweiligen Sprachräumen werden auch durch die generelle Verwendungshäufigkeit finiter Verben gestützt vgl. Tabelle 9. Bei Otfrid ist der Anteil der finiten Verbalformen an der Menge ∑ der verbalen Token insgesamt im Verhältnis zum as. Heliand deutlich höher. Die Tendenz zur Verwendung von analytischen Konstruktionen scheint im Ahd. insgesamt noch nicht so ausgeprägt zu sein wie im As., wobei in syntaktischer Hinsicht nicht jeder infiniten Verbalform auch eine finite zugeordnet werden kann, weswegen eine bloße Gegenüberstellung allenfalls gewisse Tendenzen widerspiegeln kann. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass hier auch individuelle stilistische Faktoren, textsortenspezifische Eigenheiten oder dichterische Konventionen eine
Gillmann (2016: 206) macht zwar mit Verweis auf Grønvik (1986: 38) darauf aufmerksam, dass trotz des geringeren as. Materials eine deutlich höhere Belegzahl für periphrastische Tempusformen vorzufinden sei als in den ahd. Texten. Allerdings nimmt sie für die Evangelienharmonie Otfrids einen dreimal größeren Textumfang an als für den Heliand, womit diese Beobachtung ein stark verzerrtes Bild der tatsächlichen Differenzverhältnisse zeichnet.
148
5 Empirische Untersuchung
Tabelle 9: Anteil von finiten und infiniten verbalen Token in den Korpustexten.
TOKEN finit TOKEN infinit ∑Verben
Otfrid n
%
Heliand n
. . .
,% ,% ,%
. . .
% .% ,% ,%
Rolle spielen. Allerdings könnte man annehmen, dass infinite Verbalformen aufgrund ihres syntaktischen Stellungsverhaltens und ihrer reduzierteren Endungsmorphologie für die endreimende Dichtung Otfrids besonders geeignet wären, während der rein auf Betonungsverhältnissen beruhende Stabreim des As. diesbezüglich weniger sensibel sein dürfte. Die hier untersuchten Texte lassen solche Rückschlüsse aber nicht zu, das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Die starke Tendenz des As. zum analytischen Sprachbau spiegelt sich entsprechend auch in der Verteilung einzelner Types wider, wie Tabelle 10 zeigt: Tabelle 10: Anzahl der finiten Token der häufigsten zehn Lemmata in den Korpustexten. Rangabs (TYPES)
Otfrid Lemma
n
Heliand Lemma
n
∑TOKEN finit–
sin wesan tuon quedan werdan zellen wellen magan wizzan queman
wesan skulan hebbian werđan willian queđan mugan sprekan kuman motan
Unter den zehn häufigsten Lemmata finden sich bei Otfrid fünf auxiliarfähige Verben, im Heliand sind es sieben, wobei besonders die Häufung von Modalverben hervorsticht. Auffällig ist auch die Anzahl der entsprechenden Token im Verhältnis zur Menge ∑ der finiten Token insgesamt. Die zehn häufigsten Types im Heliand machen fast die Hälfte aller finiten Verben im Heliand aus, bei Otfrid sind es nur knapp mehr als ein Drittel. Diese Unterschiede zwischen den beiden Texten im Hinblick auf Gestaltung und Umfang des verbalen Inventars offenbart auch eine Gegenüberstellung der lexikalischen Types insgesamt: Bei
5.1 Die Distribution der Verbalformen
149
Otfrid verteilen sich die finiten123 Verben auf 1136 Lemmata, im Heliand auf lediglich 574. Da die Anzahl der Types nicht proportional zur Textmenge steigen kann,124 relativiert der jeweilige Umfang der Korpustexte diese Differenz nicht. Otfrid verwendet nicht nur mehr einfache Prädikate, sondern auch insgesamt mehr Verben bzw. prädikatsbildende Elemente im Verhältnis zu allen anderen wortkategorialen Klassen als der anonyme Autor des as. Heliand: In der ahd. Evangelienharmonie stellen Verben und beigeordnete verbale Prädikatsteile (∑Verben) mehr als 16% des gesamten Korpus, im as. Heliand nur etwa 12%. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass sich das verbale Inventar der ahd. Evangelienharmonie deutlich vielfältiger darstellt als jenes des as. Heliand. Auf Basis der bisher vorliegenden Datensets lassen sich daraus aber keine weiteren Thesen hinsichtlich der jeweiligen Textorganisation aus tempustheoretischer Perspektive ableiten. Viel eher geben diese Zahlen Auskunft über stilistische Unterschiede zwischen den beiden Texten, möglicherweise auch über Kompetenz bzw. Wortschatz der beiden Autoren. Beide Stoßrichtungen bieten interessante Anknüpfungspunkte für zukünftige Fragestellungen, sollen aber hier nicht weiterverfolgt werden. Der Anteil der gi-präfigierten finiten Verben ist bei Otfrid insgesamt etwas höher als im Heliand, allerdings ist die Differenz bei weitem nicht so groß wie bei den periphrastischen Verbalformen. Ein Anteil von 11,32% bei Otfrid steht einem Anteil von 9,04% im Heliand für die Derivate gegenüber. Eine gegenläufige Korrelation der beiden Entwicklungen lässt sich damit nur in geringem Maße nachzeichnen, eine kausale Beziehung dagegen kaum beweisen. Die Annahme eines schnelleren Abbaus der gi-Präfixe im As. bestätigt sich, die Daten zeigen allerdings auch, dass eine solche bisher aufgrund der geringen Abweichungen wohl nicht anhand von Stichproben oder auf Basis philologischer Intuition zustande gekommen sein dürfte. Ein allgemeines „Nord-Süd-Gefälle“, wie es von Leiss (1992: 69) festgestellt wird, lässt sich zwar auch innerhalb des Kontinentalwestgerm. bis zu einem gewissen Grad in absoluten Zahlen zeigen. Die Unterschiede zwischen den kontinentalwestgerm. Verhältnissen insgesamt und jenen des Englischen bzw. des Nordgerm. sind aber bedeutend größer als innerhalb der kontinentalen Idiome (vgl. Mossé 1925: 292).
Diese Verhältnisse ändern sich auch unter Einbezug der infiniten Formen nicht wesentlich, da es kaum Verben gibt, die ausschließlich im Infinitiv oder Partizip gebraucht werden. Dieser Schluss ergibt sich alleine daraus, dass mit endlichen Formensets natürlicher Sprachen potenziell unendlich lange Texte erzeugt werden können. Die Wahrscheinlichkeit der Verwendung neuer Lexeme sinkt dementsprechend mit zunehmener Textmenge. Implizit geben darüber auch stochastische Modelle wie die Zipf-Verteilung Auskunft.
150
5 Empirische Untersuchung
Tiefere Einblicke in Abbau- und Funktionalitätsgrad bietet auch hier eine Gegenüberstellung der gi-präfigierten Types: Bei Otfrid verteilen sich die finiten Derivate auf 239 Lemmata, im Heliand auf lediglich 93. Das Verhältnis zwischen der Anzahl der verfügbaren verbalen Types insgesamt und und jener der Derivate ist also kein proportionales. Erneut ist demnach auch ein Unterschied in der Gleichmäßigkeit der Verteilung von entsprechenden Token im Verhältnis zur Menge ∑ der gi-präfigierten Token insgesamt feststellbar, wie folgender Überblick über die zehn häufigsten gi-präfigierten Types in Tabelle 11 zeigt: Tabelle 11: Anzahl der finiten Token der häufigsten zehn gi-präfigierten Lemmata in den Korpustexten. Rangrel (TYPES)
Otfrid Lemma
n
Heliand Lemma
n
∑TOKEN finit– + gi
gilouben gisehan gibiotan gituon gizellen gimeinen gifahan gihoren giwahan gigangan
giwitan gisehan gibiodan gisprekan gihorian gidon gifregnan giwirkian gilobian gidurran
In keinem der beiden Texte findet sich unter den 20 häufigstens verbalen Types ein gi-Derivat. Mit ahd. gilouben und as. giwitan sind die am häufigsten verwendeten Lemmata Lexikalisierungen, die nicht (mehr) in Opposition zu einem Simplexverb stehen, aber bereits jeweils etwa ein Fünftel der Tokenanzahl der hier dargestellten Teilmenge ausmachen. Ansonsten finden sich darin für beide Texten mitunter recht ähnliche Lexeme, fünf davon sind zudem auch Kognate. Im Gegensatz zum As. verfügt das Ahd. über kein vergleichbares dominantes Fortbewegungsverb wie giwitan, gigangan findet sich aber in der Liste wieder. Mit ahd. gizellen und as. gisprekan sind je ein prototypisches Verbum dicendi vorhanden, ahd. gibiotan ‚befehlen‘, gimeinen ‚beschließen, verkünden‘, giwahan ‚erwähnen, ersinnen, befehlen‘ und as. gibiodan ‚befehlen‘, gifregnan ‚(er)fragen‘ sind als spezifischere Äußerungsverben ebenfalls in diesem semantischen Umfeld zu verorten. Diese sind bereits an früherer Stelle neben den Wahrnehmungsverben wie ahd./as. gisehan und ahd./as. gihoran/gihorian als jene typischen Verben identifiziert worden, die nicht nur durch ihre hohe Frequenz hervorstechen, sondern auch dadurch, dem Sprecher augenscheinlich
5.1 Die Distribution der Verbalformen
151
eine hohe Alternanzfreiheit im Hinblick auf die ebenfalls häufigen zugehörigen Simplizia zuzugestehen. Erneut zeigt sich ein Missverhältnis zwischen beiden Texten, was das Verhältnis der zehn häufigsten Types zum Gesamtbestand des entsprechenden Datensets betrifft: Im Heliand stellen die zehn häufigsten gi-präfigierten Verben knapp mehr als 60% aller Token dieser Art Derivate, bei Otfrid sind es nur knapp mehr als 40%. Hier deutet sich ein gewisser Rückzug des as. Präfixes in gewisse Kontexte und damit auch ein fortgeschrittener Abbau der Derivate im As. an. Bislang wurden Anzahl und Art von gi-präfigierten Verben ausnahmslos im Kontrast zum restlichen verbalen Formenbestand dargestellt. Dabei blieb unberücksichtigt, dass das Präfix auch in Opposition zu anderen Präfixen und Präverbien steht. Das kann insofern begründet werden, als komplexe Verben für sich keine aufgrund morphologischer Ähnlichkeiten argumentierbare homogene oder geschlossene Klasse darstellen, die gi-Präfigierung an sich also nicht als Subsystem eines generellen Präfigierungssystems anzusehen ist. Die Entscheidung des Sprechers bzw. des Autors für oder gegen die Verwendung eines bestimmten Präfixes statt eines anderen ist also im Wesentlichen nichts anderes als die Entscheidung für eine bestimmte komplexe Form statt eines Simplex. Vor dem Hintergrund der hier behandelten Fragestellungen ist es also durchaus sinnvoll, gi- gesondert zu betrachten und mit dem restlichen Formenbestand zu kontrastieren, unabhängig von dessen morphologischen Beschaffenheiten. Ein quantitativer und qualitativer Überblick über das Präfixinventar des Ahd. und As. in Relation zu einfachen Formen ist dennoch lohnenswert, wenn man die Abbaudynamik von gi- nicht bloß als Schwund in absoluten Zahlen nachvollziehen, sondern auch als Umbau des Lexikons begreifen möchte. Tabelle 12 zeigt den jeweiligen Anteil der mit untrennbaren Präfixen verbundenen komplexen Verbtypes am verballexikalischen Inventar in beiden Sprachräumen.125 Wie erwartet verdeutlicht diese Gegenüberstellung ein weiteres Mal die höhere lexikalische Vielfalt unter den gi-präfigierten bei Otfrid. Bemerkenswert
Die Simplizia umfassen hier auch die Simpliziatanta, während unter den präfigierten Verben auch jene enthalten sind, die ausschließlich als Derivat belegt sind. Beiderseitig handelt es sich dabei allerdings nur um einige wenige Verben. Die Unterscheidung zwischen untrennbaren Präfixen und trennbaren sonstigen Präverbien bzw. Adverbien ist für die altgerm. Sprachen nicht immer einfach zu treffen, die gegenwartssprachliche Intuition ist mitunter irreführend. Als eindeutiger Hinweis auf kompositionalen Status ist die Kombinierbarkeit eines Präverbs mit einem Präfix angesehen worden. So steht etwa ahd. uzgangan neben uzgigangan oder zuosprehhan neben zuogisprehhan. Dies sagt allerdings nicht zwingendermaßen etwas über funktionale Unterschiede zwischen Präfixen und Präverbien aus.
152
5 Empirische Untersuchung
Tabelle 12: Anzahl der finiten Token in den Korpustexten nach morphologischer Form. Rangabs (TYPES)
Otfrid Präfix
n
%
Heliand Präfix
n
%
∑TYPES finit–
Ø giirbifirintzi-
,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% %
Ø gibiafarantaf-
,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% %
ist, dass der höhere Anteil dieser Derivate insgesamt fast für die gesamte Differenz zwischen den beiden Texten verantwortlich zu sein scheint, was den relativen Anteil der Simplizia betrifft. Da die Verteilung der restlichen Präfixverben vor allem unter der Rücksichtnahme der eher niedrigen Gesamtzahlen gleichmäßiger erscheint, lässt sich vorsichtig schlussfolgern, dass der Rückgang der gi-präfigierten Verben wohl vor allem zugunsten der Simplizia vonstatten geht und nicht die stärkere Verwendung anderer Präfixe begünstigt. Gerade nonadditive bzw. telische Derivate vom Typ ahd. ir- und fir- und as. far- würden sich aufgrund aktionalsemantischer Eigenschaften eignen, einen Abbau von giin manchen Kontexten auszugleichen. Dies scheint nicht der Fall zu sein, was wiederum als Hinweis darauf zu verstehen ist, dass entsprechende Charakteristika von gi-Derivaten nicht kategorial überhöht werden sollten. In Kap. 2.2.2 wurde aus bisherigen Beobachtungen geschlussfolgert, dass die postulierte Opposition ‚Simplex: Derivat‘ am deutlichsten in präteritalen Kontexten hervortrete und hier die prototypischen Anwendungsbereiche des Präfixes zu verorten seien. Übereinstimmend wurden sowohl von Befürwortern als auch Gegnern der Aspekthypothese entsprechende Muster vorausgesagt. Die starke Dominanz des perfektiven Aspekts in Vergangenheitskontexten ist ein typologisch gut belegtes Korrelat (vgl. Dahl 1985: 79). Für das Russische etwa ermittelt Forsyth (1970: 59) einen Anteil des perfektiven Aspekts von zwei Dritteln am Gesamtbestand der Verben mit Vergangenheitstempus. Zwar weisen die westslaw. Sprachen diesbezüglich ein anderes Verhalten auf, die etwas häufigere Verwendung des imperfektiven Aspekts in präteritalen Passagen ist aber auf seine ingressive Lesart zurückzuführen (vgl. Ivančev 1961: 5, Heindl 2017: 53). Eine solche Systematik ist den germ. Sprachen fremd. Schrodt (2004: § 115), der ein Aspektsystem für das Ahd. mit Einschränkungen annimmt, geht ebenso wie Metzger (2017: 215), der in der verbalen Präfigierung des Got. eine
153
5.1 Die Distribution der Verbalformen
„sachliche“ Perspektivensetzung sieht, von einer Häufung der Derivate in Kontexten der Narration bzw. der Vergangenheit aus. Erste Bestätigung erfahren diese Annahmen durch die quantitativ deutlich sichtbare Affinität des Präfixes zum Tempus Präteritum, die nicht nur in absoluten Zahlen hervortritt (vgl. Tabelle 8), sondern insbesondere in der relativen Häufigkeit innerhalb der einzelnen synthetischen Tempusformen:126 Tabelle 13: Relative Anteile der gi-Präfixe am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen. Otfrid n TOKEN PRÄS – gi TOKEN PRÄS + gi ∑Verben PRÄS TOKEN PRÄT – gi TOKEN PRÄT + gi ∑Verben PRÄT
. . . .
% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
Heliand n . . . .
% .% ,% ,% .% ,% ,%
Tabelle 13 zeigt für beide Idiome einen erhöhten Anteil von gi-präfigierten Verben in präteritalen Kontexten. Auffällig ist dabei die höhere Differenz zwischen den einzelnen Tempora im As. Für eine spätere Bewertung bleibt zunächst offen, ob es sich dabei um eine Abweichung innerhalb eines statistischen Varianzbereichs handelt oder um einen Hinweis auf stärkere Restriktionsfaktoren, denen das Präfix im Zuge seines fortgeschritteneren Abbaus im As. unterworfen ist. Umgekehrt könnte die ausgeglichenere Verteilung im Ahd. auf einen höheren Grad an Autonomie zurückzuführen sein. Es muss aber betont werden, dass trotz dieser unbestreitbaren Tendenzen die gi-präfigierten Derivate innerhalb jeder morphologischen Kategorie nur einen Bruchteil der Verben insgesamt darstellen. Selbst wenn man diversen anderen Präfixen vergleichbare aspektuelle oder diathetische Funktionen zuschreibt, überwiegen in all diesen Kontexten Simplizia. Ein prototypisches morphologisches Verhalten lässt sich also anders als im Russischen oder vergleichbaren Aspektsprachen höchstens innerkategorial ausmachen, das Präfix gi- bleibt für sich quantitativ geradezu eine Randerscheinung innerhalb des ahd. und as. Verbalsystems. Die Daten legen unbestritten eine vertiefte Auseinandersetzung mit der temporalmorphologischen Asymmetrie des Distributionsverhaltens von gi- nahe. Sie stellen allerdings in dieser Form keine konvergenten Ergebnisse hinsichtlich einer typologischen Gesetzmäßigkeit dar, die auf Existenz und Wirken einer As-
Temporalwerte von Auxiliarverben der periphrastischen Tempusformen werden hierbei nicht mitgerechnet.
154
5 Empirische Untersuchung
pektkategorie hinweisen würden. Der Verteilung der gi-Präfixe auf die einzelnen Tempora liegen zudem möglicherweise textpragmatische Makrostrukturen zugrunde, entsprechende Parameter müssen daher miteinbezogen werden, um ein abschließendes Urteil zu fällen. Da im Fokus der vorliegenden Arbeit die Rolle des Präfixes gi- innerhalb des ahd. bzw. as. Tempussystems steht, muss die Bedeutung der Verbalkategorie Modus zwar mitberücksichtigt werden, ihr Interaktionsverhalten mit den anderen Kategorien des ATM-Komplexes kann jedoch nicht im Detail beschrieben werden. Die bisherigen Beobachtungen zeigen aber, dass eine Untersuchung ein vielversprechendes zukünftiges Forschungsvorhaben darstellen würde. In Kap. 2.2.2 wurde zunächst vorausgesetzt, dass besonders in indikativischen Kontexten die prototypischen Funktionen der ahd. und as. Präfigierung sichtbar werden. Diese Annahme musste zum Teil relativiert werden, dennoch gibt es Hinweise darauf, dass die Kategorie Modus einen gewissen Einfluss auf die Prävalenz des Präfixes in unterschiedlichen Kontexten der ‚Nicht-Ausführung‘ von Verbalhandlungen hat, was insbesondere im Zusammenhang mit imperativischen Verwendungen deutlich wurde. Die Analysen der Folgekapitel beschränken sich größtenteils auf prototypische Kontexte, in denen temporalsemantische Verteilungsmuster sichtbar werden können. Die Kategorie Modus, die innerhalb der ATM-Hierarchie der Tempuskategorie nachgelagert ist, erweist sich aber dabei als intervenierender Faktor, dessen Ausmaß erfasst und zumindest näherungsweise quantifiziert werden muss. Tabelle 14 gibt zunächst einen Überblick über die Gesamtverteilung der einzelnen Tempusformen127 und gi-Derivate nach dem Konjugationsparameter Modus in Otfrids Evangelienharmonie: Tabelle 14: Verteilung der Tempora (O) nach Modus. OTFRID
IND n %
KONJ n %
IMP n %
Gesamt n %
PRÄS
. ,% () (,%)
. ,% () (,%)
,% () (,%)
. ,%
. ,% () (,%)
. ,% () (,%)
−
. ,%
(davon + gi )
PRÄT (davon + gi)
Der Temporalwert der konjunktivischen Form richtet sich nach der morphologischen Ableitungsbasis und gibt keinerlei Auskunft über tatsächliche temporale Lesarten von Konjunktivformen im Ahd. oder As.
5.1 Die Distribution der Verbalformen
155
Tabelle 14 (fortgesetzt ) OTFRID
IND n %
KONJ n %
IMP n %
Gesamt n %
PERF (haben)
,%
,%
−
,%
PERF (sein)
,%
,%
−
,%
PQP (haben)
,%
,%
−
,%
PQP (sein)
,%
,%
−
,%
Die Tempora bei Otfrid sind zwar nicht völlig gleichmäßig auf die einzelnen Modi verteilt, es liegen allerdings keine extremen Schwankungen in der Distribution vor. Alle Tempora werden überwiegend indikativisch gebraucht, im Präsens ist der Wert diesbezüglich mit unter 65% am niedrigsten. Da der Imperativ notwendigerweise eine präsentische Form in den germ. Sprachen darstellt und damit das Präsensparadigma vielfältiger ist als das Präteritumparadigma, lässt sich diese Abweichung aber größtenteils relativieren. Eine Affinität der periphrastischen Tempusformen zu dem einen oder anderen Modus ist aufgrund der geringen Belegzahl kaum feststellbar. Spätestens seit dem Mhd. ist der erhöhte Anteil der konjunktivischen Formen für das Plusquamperfekt zu beobachten, wobei besonders die Konstruktion mit dem Auxiliarverb haben hervorsticht (vgl. Zeman 2010: 115). Bei Otfrid ist der relative Anteil des konjunktivischen haben-Plusquamperfekts im Verhältnis zu den indikativischen Formen zwar ähnlich hoch wie im Mhd., die absolute Menge an zwei Belegen ist aber wenig aussagekräftig. Ein ähnliches Bild ergeben die Daten des Heliand, wobei hier augenscheinlich eine größere Differenz zwischen den beiden Hauptmodi vorliegt, wie Tabelle 15 zeigt: Tabelle 15: Verteilung der Tempora (H) nach Modus. HELIAND
IND n %
KONJ n %
IMP n %
Gesamt n %
PRÄS
. ,% () (,%)
,% () (,%)
,% () (,%)
. ,%
(davon + gi)
156
5 Empirische Untersuchung
Tabelle 15 (fortgesetzt ) HELIAND
IND n %
KONJ n %
IMP n %
Gesamt n %
PRÄT
. ,% () (,%)
,% () (,%)
−
. ,%
PERF (haben)
,%
,%
−
,%
PERF (sein)
,%
,%
−
,%
PQP (haben)
,%
,%
−
,%
PQP (sein)
,%
,%
−
,%
(davon + gi)
Der Text weist insgesamt deutlich höhere indikativische Anteile für alle Tempora auf, als das für Otfrids Evangelienharmonie der Fall war. Der Wert ist mit mehr als 75% erneut im Präsens am niedrigsten. Auch hier ist dabei der Imperativ zu berücksichtigen, der größtenteils für die Differenz zu den präteritalen Formen verantwortlich gemacht werden kann. Die Verteilungsmuster der periphrastischen Tempora werden aufgrund der höheren Beleganzahl etwas deutlicher sichtbar als bei Otfrid. Auffällig ist eine Häufung des haben-Plusquamperfekts im Konjunktiv, während das Perfekt eine Tendenz zur indikativischen Verwendung aufweist. Die frequenziellen Unterschiede zwischen den beiden Texten sind weniger systemgrammatischer als wohl vielmehr textueller Natur. Im Gegensatz zu Tempus handelt es sich bei Modus um keine textkonstitutierende Kategorie, weswegen die Verteilung der Formen in einem viel höheren Ausmaß vom zugrundeliegenden Stoff und stilistischen Eigenheiten des Autors abhängig ist. Der Heliand zeichnet sich durch einen höheren Anteil an episch-erzählerischen Passagen aus (s. u.), die meistens eine chronologische Handlungsabfolge erfordern und dementsprechend die Verwendung des Indikativs begünstigen, besonders in präteritalen Kontexten. In der ahd. Evangelienharmonie sind Erläuterung und Besprechung des Erzählten ein zentrales didaktisches Anliegen des Dichters. Dazu gehören neben Evaluation von Gemütsstimmung der eingeführten Personen und der Motive ihrer Handlungen auch allegorische Ausdeutungen, die im Rahmen der christlichen Sittenlehre in konkrete Nutzanwendungen für den Leser münden. Solche Ausführungen exegetischer Natur begünstigen notwendigerweise den Gebrauch des Konjunktivs. Auch die häufigere Verwendung des Imperativs, durch die sich der Autor
5.1 Die Distribution der Verbalformen
157
in Exposition direkt an die Leserschaft richtet, lässt sich dadurch erklären. Im Heliand fehlen derartige Passagen größtenteils. Das gi-Präfix ist in jedem Modus vertreten, allerdings nicht überall gleich stark. Ist der Gegensatz von Simplex und Derivat in indikativischen Kontexten am leichtesten darstellbar, deutet dennoch nichts darauf hin, dass hier die prototypischen funktionalen Bereiche des Präfixes zu verorten wären. In der Gegenüberstellung mit nicht-präfigierten Formen wird deutlich, dass eine direkte Abhängigkeitsbeziehung zu Kontexten des indikativischen Handlungsvollzugs nicht generell gegeben ist. Tabelle 16 gibt einen Überblick über den Anteil des Präfixes innerhalb der einzelnen Modi bei Otfrid: Tabelle 16: Relative Anteile der gi-Präfixe (O) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach Modus. OTFRID
IND n %
KONJ n %
IMP n %
TOKEN PRÄS – gi
. ,%
. ,%
,%
TOKEN PRÄS + gi
,%
,%
,%
∑Verben PRÄS
. ,%
. ,%
,%
TOKEN PRÄT – gi
. ,%
,%
−
TOKEN PRÄT + gi
,%
,%
−
∑Verben PRÄT
. ,%
. ,%
−
Was den Kontrast von Indikativ und Konjunktiv betrifft, scheint je nach Tempus ein anderes Distributionsmuster vorzuliegen. In präsentischen Kontexten zeigt das Präfix eine Affinität zu konjunktivischen Formen, in präteritalen Kontexten eine – wenngleich weniger ausgeprägte – Neigung zu indikativischen Formen, wie sie vor dem Hintergrund unterschiedlicher Funktionszuweisungen des Präfixes erwartbar ist. Die Häufigkeit von unpräfigierten Verben im Präsens wird allerdings stark durch Verben wie wesan bzw. sin sowie Modalverben gespeist, weswegen eine Betrachtung der unterschiedlichen Verbtypen noch nötig sein wird. Der verhältnismäßig hohe Anteil der Derivate an den imperativischen Kontexten überrascht zunächst, wo doch gerade der Imperativ als prototypischer
158
5 Empirische Untersuchung
Funktionsbereich des Simplexverbs in den altgerm. Sprachen gilt (vgl. Schrodt 2004: § 110, Metzger 2017: 222). Von den 66 präfigierten Verben entfallen allerdings 26 auf die im Imperativ häufig gebrauchten Lexeme ahd. gilouben ‚glauben‘ und ahd. ginadon ‚Gnade erweisen‘, die bereits früh ihren Simplexpartner verloren haben und dementsprechend dem Autor keine Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Formen zugestehen. Zur Funktion der übrigen Derivate im Imperativ wurde in Kap. 2.2.2 bereits festgestellt, dass diese gegenüber dem Simplex innerhalb der Befehlskontexte eine spezifischere Semantik aufweisen, die sich aber in der postulierten Systematik bewegt. Obwohl der Konjunktiv Präsens ebenfalls Verbalhandlungen indiziert, die strenggenommen zu keinem unmittelbaren Vollzug führen oder dieser für den Sprecher nicht direkt erfahrbar ist, ist ein erhöhter Anteil des gi-Präfix in solchen Kontexten festzustellen. Diese vermeintlich atypische Tendenz lässt sich erklären, wenn man die Grundsemantik der Verben genauer betrachtet, die bevorzugt im Konjunktiv Präsens stehen. Dabei fällt auf, dass in diesen Kontexten häufig Verbalhandlungen beschrieben werden, die sich im weitesten Sinne durch ihre prospektive Semantik auszeichnen. Sie kündigen eine Folgewirkung in Form eines Ereignisses, einer angestrebten Errungenschaft oder einer anderen Handlung an, zu der sich der Sprecher selbst oder einen Angesprochenen verpflichtet. Neben dem ohnehin häufigen gilouben ‚glauben‘ (15 Belege) ist das häufigste Verb gibiotan ‚gebieten‘ (neun Belege), gefolgt von gigangan ‚gehen‘ (sieben Belege), das allerdings in den meisten Fällen eine spezifischere prospektive oder auch quasiimperativische Semantik hat, etwa bei den Funktionsverbgefügen in riuwa gigangan ‚Buße tun‘ oder in goringi gigangan ‚in Elend geraten‘ in negiertem Kontext oder ze herzen gigangan ‚zu Herzen gehen‘. Ähnlich wird gituon ‚tun, machen, veranlassen‘ (sechs Belege) verwendet. Die Äußerungsverben gizellen ‚erzählen‘ (sechs Belege), giscriban ‚schreiben‘ (fünf Belege) sind im Kontext der Textsorte ebenfalls nicht überraschend und finden sich vor allem in prospektiver Verwendung im Sinne von ‚auf dass ich die Wahrheit erzähle/schreibe‘ oder wie bei gimeinen ‚meinen, bestimmen‘ erneut in quasiimperativischer Verwendung. Eindeutig versprachlichte Vorsätze finden sich auch bei ginerien ‚erhalten‘ (sechs Belege) und gidenken ‚bedenken‘ (fünf Belege), gifahan ‚erlangen‘ (vier Belege), gidingen ‚Hoffnung setzen auf‘ (vier Belege). Auch unter vielen weniger frequenten Verben ist eine gewissen semantische Clusterung möglich, etwa bei gidrahten ‚erwägen, nach etwas trachten‘, gisidon ‚bewirken‘, gigarawen ‚(vor)bereiten‘, giilen ‚eilen, bestrebt sein‘, gibeiten ‚drängen‘ usw. In der konjunktivischen Verwendung rücken alle genannten Verben in die semantische Nähe des Imperativs (im Sinne von ‚er sei bestrebt, X zu vollbringen‘). Während beim Imperativ aber üblicherweise die noch auszuführende
5.1 Die Distribution der Verbalformen
159
Handlung genannt wird, antizipieren die angeführten Verben nur einen zu einem späteren Zeitpunkt eintretenden Effekt (= X), der noch explizit beschrieben werden muss. Daraus erklärt sich die Bindungsaffinität des Präfixes zum Konjunktiv Präsens, während diese aus denselben Gründen im Imperativ weniger ausgeprägt ist, obwohl die pragmatischen Anwendungsbereiche grundsätzlich vergleichbar wären. Hier wird die postulierte faktive Grundsemantik des Präfixes besonders deutlich: Die mit dem oft obligatorischen Effekt verbundene Notwendigkeit eines außersprachlich erfahrbaren Handlungsabschlusses löst einerseits futurische, andererseits auch gewisse aspektuelle Lesarten aus, wie es für gi-präfigierte Präsensformen bislang generell angenommen wurden (siehe Kap. 3.2.2). Beleg (1) veranschaulicht das Wechselspiel von unmarkiertem Imperativ, Konjunktiv und Präfigierung: (1)
dua húldi thino ubar míh, thaz íh thanne iamer lóbo thih, Thaz íh ouh nu gisído thaz, thaz mir es ío mer si thiu baz, theih thíonost thinaz fúlle, with álles io ni wólle; (O, I, 2, 48) ‚Tu deine Huld über mich, dass ich dann immer lobe dich, dass ich auch nun das erreiche, wie es mir immer am besten ist, damit ich deinen Dienst erfülle, nichts sonst je mehr wolle;‘
Die Passage wird eingeleitet durch einen nicht-präfigierten Imperativ dua, der im finalen Nebensatz angeschlossene Konjunktiv Präsens lobo ist ebenfalls als Simplex belegt. Es gibt hier keine Notwendigkeit, einen Handlungseffekt in den Vordergrund zu rücken. Der anschließende finale Nebensatz mit dem präfigierten konjunktivischen gisido indiziert eine weitere Verbalhandlung, die im abhängigen Objektsatz ausformuliert wird. Eine solche Beziehung liegt im letzten Teilsatz nicht mehr vor: Das Simplex fulle ist dem abschließenden Modalverb wolle syntaktisch wie semantisch nur bei- und nicht übergeordnet. Wie im Ahd. ist gerade bei den Präsensformen auch im As. ein Missverhältnis der beiden Hauptmodi feststellbar, was die Distribution von gi- betrifft, wenngleich in etwas geringerem Ausmaß. Tabelle 17 gibt einen Überblick über den Anteil des Präfixes innerhalb der einzelnen Modi im Heliand: Auch wenn im Heliand der Abbau des Präfixes im Präsensparadigma generell weiter fortgeschritten zu sein scheint als im Präteritumparadigma, ist der Konjunktiv wie bei Otfrid offenbar etwas resistenter gegen diese Entwicklung. Die Beleganzahl ist mit nur 32 Derivaten im Konjunktiv Präsens zwar gering, die verbliebenen Verben lassen sich allerdings dafür umso besser semantisch clustern. Wie im Ahd. stehen auch im As. bevorzugt die prospektiven Verben im Konjunktiv Präsens und
160
5 Empirische Untersuchung
Tabelle 17: Relative Anteile der gi-Präfixe (H) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach Modus. HELIAND
IND n %
KONJ n %
IMP n %
TOKEN PRÄS – gi
. ,%
,%
,%
TOKEN PRÄS + gi
,%
,%
,%
∑Verben PRÄS
. ,%
,%
,%
TOKEN PRÄT – gi
. ,%
,%
−
TOKEN PRÄT + gi
,%
,%
−
∑Verben PRÄT
. ,%
,%
−
gehören zu den Lemmata, die in dieser Funktion öfter als ein Mal belegt sind, nämlich giwirkian ‚erwirken‘ (vier Belege), gifrummian ‚vollbringen‘ (drei Belege), gidon ‚tun, machen‘ (drei Belege), gistandan in der Bedeutung von ‚einer Sache gerecht werden‘ (zwei Belege) oder githolon ‚ertragen‘ (drei Belege), die einen (gelungenen) Vollzug und einen damit einhergehenden Effekt einer weiteren Handlung oder aufrechterhaltenen Zustandes antizipieren. Die Verhältnisse im As. unterscheiden sich also diesbezüglich augenscheinlich zunächst nur auf quantitativer Ebene von jenen des Ahd. Das gilt auch für die Anzahl der verwendeten Types, lediglich 19 im Heliand stehen 106 bei Otfrid gegenüber. Auch hier dürften wohl, wie bereits ausgeführt, textsortenspezifische Unterschiede verantwortlich gemacht werden. Lässt sich die Affinität des Präfixes zum Konjunktiv Präsens über die Semantik der einzelnen Verben gut nachvollziehen, ist der im Heliand hohe Anteil der Derivate im Konjunktiv Präteritum auf den ersten Blick schwieriger zu deuten. Im Präteritumparadigma liegt zwischen den beiden Hauptmodi ein ausgewogenes Distributionsverhalten des Präfixes vor, während bei Otfrid der Anteil der indikativischen Formen im Vergleich mit den konjunktivischen etwa 50% höher ist. Im Verlauf der vertieften Funktionsanalysen der einzelnen Tempora muss noch überprüft werden, welcher Faktor dafür verantwortlich gemacht werden kann.
5.1 Die Distribution der Verbalformen
161
5.1.2 Textpragmatische Faktoren Die Offenlegung der origo-deiktischen Opposition von dialogischen und nichtdialogischen Diskursmustern ist eine wesentliche Vorbedingung für die Erschließung prototypischer temporaler Systematiken, die das angestrebte Ziel für die vertiefte Funktionsanalyse in Kap. 5.2 darstellt. Die binnentextuelle Differenzierung von ‚sprecherbezogener Rede‘ (SR) und ‚nicht-sprecherbezogener Rede‘ (NR) erweist sich erwartungsgemäß auch in den beiden untersuchten Korpustexten als geeignetes Mittel der diskurspragmatischen Aufbereitung. Es treten allerdings auch wesentliche Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen textuellen Konstituiertheit zu Tage, die nahelegen, dass der aufgrund der schlechten Quellenlage alternativlose direkte Vergleich der beiden altsprachlichen Werke nur eingeschränkt möglich ist, wenn entsprechende Charakteristiken nicht berücksichtigt werden. Die Gegenüberstellung absoluter Zahlen gibt die tatsächlichen Verhältnisse nur verzerrt wieder. Aus Gründen der Übersicht werden die jeweiligen Datensets erneut zunächst für jeden Korpustext einzeln beschrieben und im Anschluss kontrastiert. Die diskurspragmatische Distribution der ahd. Tempora in Otfrids Evangelienharmonie stellt sich wie folgt dar: Tabelle 18: Verteilung der Tempora (O) nach Diskursmodus. OTFRID
SR n
%
NR n
%
Gesamt n
PRÄS (davon + gi)
. ()
,% (,%)
()
,% (,%)
. ()
PRÄT (davon + gi)
. ()
,% (,%)
. ()
,% (,%)
. ()
PERF (haben)
,%
,%
PERF (sein)
,%
,%
PQP (haben)
,%
,%
PQP (sein)
,%
,%
∑Verben finit
.
,%
.%
.
Die Auszählung in Tabelle 18 macht deutlich, dass die einzelnen Tempora hinsichtlich ihres textuellen Verhaltens separat zu beurteilen sind. Zunächst liegt eine Unterscheidung zwischen einer Präsens- und einer Präteritumgruppe nahe, die auch die periphrastischen Tempora miteinschließt. Das Präsens ist ebenso
162
5 Empirische Untersuchung
wie das Perfekt wie erwartet fast ausschließlich in den sprecherbezogenen Passagen vorzufinden. Diesbezüglich unterscheiden sich die ahd. Verhältnisse nicht von jenen des Mhd. (vgl. Zeman 2010: 116). Selten ist das Präsens in NR belegt, auch ein einzelnes haben-Perfekt erscheint unerwarteterweise in einer narrativen Passage. Solche nicht-prototypischen Verwendungen bedürfen noch einer genaueren Betrachtung. Die Kontexte der nicht-sprecherbezogenen Rede NR werden von präteritalen Formen dominiert, die Verteilung insgesamt ist aber bei weitem nicht so deutlich wie in der Präsensgruppe. Diese Unterschiede lassen sich nur bis zu einem gewissen Grad relativieren, wenn man den jeweiligen Anteil, den die beiden Diskursmodi in Otfrids Evangelienharmonie an der gesamten Textmenge einnehmen, in der Analyse berücksichtigt: Fast zwei Drittel des gesamten Werkes bestehen aus sprecherbezogenen Passagen, womit die narrativen Abschnitte deutlich unterrepräsentiert bleiben. Hinzu kommt, dass die Darstellung vergangener Sachverhalte bei Otfrid in SR besonders häufig zu sein scheinen. Das lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass die Kapitel der Evangelienharmonie, die der Ausdeutung der sakralen Texte gewidmet ist, zwar der Exegese und damit dem Kommentar zuzurechnen sind, allerdings oft umfassende repetitive Evaluationen bereits geschilderter Sachverhalte beinhalten, die entsprechend als ‚mikronarrative‘ Kontexte innerhalb der sprecherbezogenen Rede fungieren. Von textstrukturellen Eigenheiten abgesehen ist dennoch eine bemerkenswerte Zahl an präteritalen Formen in SR zu verzeichnen, während das Perfekt selbst in seinen prototypischen Verwendungskontexten letztlich eine seltene Ausnahme darstellt. Die schwache Ausprägung der Kategorie im Ahd. wird anhand dieser Zahlen besonders deutlich. Im Vergleich zu den Verhältnissen im As. sollte sich dieser Befund noch erhärten. Bei Otfrid scheint der polyfunktionale Charakter des Präteritums weitestgehend intakt zu sein, ein Konkurrenzverhältnis zwischen dem Präteritum und dem Perfekt in dialogischen Kontexten deutet sich damit nur geringfügig an. Im Mhd. dagegen haben sich die quantitativen Verhältnisse bereits zugunsten des Perfekts deutlich verschoben: In SR ist das Präteritum nur mehr an knapp der Hälfte aller Kontexte mit Vergangenheitsbezug beteiligt, während es in NR seine diesbezügliche Dominanz bewahren kann (vgl. Zeman 2010: 117). Die binäre Konstitution des deutschen Tempussystems ist damit im Ahd. noch nicht so stark ausgeprägt wie in späteren Sprachstufen, allerdings ist der zu beobachtende Aufbau einer solchen aus temporalsemantischer Sicht nicht symmetrisch. Das Präsens als Tempus der Bewusstseinsnähe, die eine – wenn auch manchmal fingierte – außersprachliche Erfahrbarkeit bedingt, hat innerhalb des origo-deiktischen Bezugssystems bereits seinen festen Platz, während die Funktion des Präteritums noch als diskurspragmatisch unterspezifiziert angesehen werden kann. Mit einiger Vorsicht lassen sich diese Erkenntnisse auch
5.1 Die Distribution der Verbalformen
163
auf das Plusquamperfekt übertragen, das vorwiegend in NR zu finden ist. Aber auch in der Präteritumgruppe sind die periphrastischen Konstruktionen nicht ausschließlich auf dieses Diskursmuster beschränkt. Es scheint, als wäre die innovativere Konstruktion mit dem Hilfsverb haben eher dazu in der Lage, in nicht-prototypische Anwendungskontexte vorzudringen. Aufgrund der geringen Belegzahl sind die Frequenzwerte für sich allein allerdings nicht besonders aussagekräftig. Die ausgewogene Verteilung der gi-präfigierten Verben, die bereits in Bezug auf etwaige Affinitäten des Präfixes zu dem einen oder anderen Tempus beobachtet werden konnte, findet sich auch unter Einbezug des Parameters Diskursmodus in verstärktem Ausmaß wieder. Die immer wieder anzutreffende Annahme, das Präfix sei besonders dort anzutreffen, wo ein objektiver chronologischer Verlauf einzelner Vorgänge geschildert werde, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Es wäre zu erwarten, dass das Derivat als „geläufige Form der Erzählung“ (Schrodt 2004: § 115) zumindest einen erhöhten Wert im narrativen Modus NR aufweisen würde. Das ist nicht der Fall. Der Anteil der gi-präfigierten Präterita ist innerhalb von SR sogar leicht höher als in NR. Die Abweichungen sind allerdings so geringfügig, dass es sich dabei auch um eine statistisch vernachlässigbare Schwankung handeln kann. Tabelle 19 verdeutlicht das ausgeglichene Distributionsverhalten des Präfixes: Tabelle 19: Relative Anteile der gi-Präfixe (O) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach Diskursmodus. OTFRID
SR n
%
NR n
%
TOKEN PRÄS – gi TOKEN PRÄS + gi ∑Verben PRÄS TOKEN PRÄT – gi TOKEN PRÄT + gi ∑Verben PRÄT
. . . .
,% ,% ,% ,% ,% ,%
. .
,% ,% ,% ,% ,% ,%
Eine diskursive Neigung von präfigierten und nicht präfigierten Verbalformen ist vor dem Hintergrund dieser Zahlen für das Ahd. auszuschließen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es aus rein textpragmatischer Sicht entweder keinen Grund gibt, hier die Existenz eines binären Aspektsystems anzunehmen oder der typologische Geltungsanspruch slaw. Systematiken mit ihren empirisch fassbaren textuellen Distributionsmustern zu weit geht. Während das gi-Präfix im Ahd. also abgesehen von seinem allgemein erhöhten Vorkommen im Präteritum keine besonders ausgeprägten Affinitäten zu Kontexten der chronologischen Handlungsabfolge und der Narration zeigt und
164
5 Empirische Untersuchung
dementsprechend auch durch das Simplex keinerlei diskurspragmatischen Abhängigkeitsverhältnisse sichtbar werden, erweist sich die Kategorie Tempus den Erwartungen entsprechend als grundlegend für die Etablierung eines binären origo-deiktischen Bezugssystems, wie es im Mhd. in deutlich gestraffter Form vorliegt. Die Funktionsverengung des Präteritums ist dabei ebenso wie der Aufbau der periphrastischen Verbalformen, die hinsichtlich ihrer Verteilung auf unterschiedliche Diskursmodi von Anfang zur Oppositionsbildung neigen, erst in Ansätzen zu beobachten. Angesichts der bisherigen Beobachtungen drängt sich die Frage nach den as. Verhältnissen in verstärktem Maße auf. Die grundsätzliche Innovationsbereitschaft des as. Verbalsystems sollte sich auch in der Verteilung der einzelnen Formen in Abhängigkeit textueller Muster widerspiegeln. Tabelle 20 gibt einen ersten Überblick über die diskurspragmatischen Verhältnisse im As.: Tabelle 20: Verteilung der Tempora (H) nach Diskursmodus. SR (H) n
%
NR (H) n
%
Gesamt n
PRÄS (davon + gi)
. ()
,% (,%)
()
,% (,%)
. ()
PRÄT (davon + gi)
()
,% (,%)
. ()
,%) (,%)
. ()
PERF (haben)
,%
,%
PERF (sein)
,%
,%
PQP (haben)
,%
,%
PQP (sein)
,%
,%
∑Verben finit
.
,%
.
,%
.
Die Ergebnisse machen zunächst deutlich, dass sich trotz der inhaltlichen Gemeinsamkeiten der beiden Werke die jeweiligen binnentextuellen Strukturen stark unterscheiden. Der narrative Charakter des Heliand tritt dabei durch die quantitativen Verhältnisse der Tempusdistribution klar hervor: Mit 54% Häufigkeit erscheinen mehr als die Hälfte der finiten Verben im nicht-sprecherbezogenen Diskursmuster. Bei Otfrid sind es dagegen nur etwas mehr als ein Drittel. Ebenso wie im Ahd. ist die Präsensgruppe im As. weitestgehend auf den Modus SR beschränkt. Vereinzelte Präsensformen in NR und erneut ein habenPerfekt bilden dabei marginale Ausnahmen. Die Verteilung der präteritalen For-
165
5.1 Die Distribution der Verbalformen
men zeigt ein deutlich klareres Muster, als es beim Ahd. der Fall war. Knapp 85% der synthetischen Präterita erscheinen in ihrer prototypischen Kontextumgebung NR. Der Rückzug des Präteritums aus dem deiktischen Verweisraum der Origo-Inklusivität scheint also auf den ersten Blick bereits deutlich weiter fortgeschritten zu sein als im Ahd. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man den Anteil der präteritalen Formen mit dem des Perfekts in SR kontrastiert. Nur in den sprecherbezogenen Passagen kann die Konkurrenzsituation zwischen Präteritum und Perfekt gezeigt werden, wenn man annimmt, dass ursprünglich sämtliche temporal- und diskurssemantischen Aufgaben der periphrastischen Konstruktionen vom synthetischen Verbalinventar wahrgenommen werden mussten. Das betrifft letztlich nur die Kontexte mit einfachem Vergangenheitsbezug innerhalb von SR. Etwas mehr als 15% der Präterita im Heliand lassen sich in diesem Diskursmuster finden, was in absoluten Zahlen eine nicht zu vernachlässigende Menge darstellt und jene des Perfekts weit übersteigt. Während der Anteil des Perfekts bei Otfrid selbst in seiner prototypischen Umgebung aber nur als marginal eingestuft werden konnte, zeigen die as. Daten erwartungsgemäß einen erhöhten Anteil der periphrastischen Konstruktionen in SR. Tabelle 21, die zusätzlich noch vergleichbare Daten des Mhd. beinhaltet, die von Zeman (2010: 117) erhoben wurden, verdeutlicht den Grad der Perfektausbreitung in SR in unterschiedlichen Räumen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten: Tabelle 21: Verteilung der Vergangenheitstempora (O/H/HE) nach Diskursmodus. SR (O) n PRÄT PERF ∑Verben PRÄT/PERF
.
% ,% ,% ,%
SR (H) n
% ,% ,% ,%
SR (HE) n
% ,% ,% ,%
Erneut zeigt sich, dass das As. dem Ahd. einige Entwicklungsschritte voraus zu sein scheint. Der Anteil der Perfektformen an der Gesamtmenge der einfachen Vergangenheitskontexten ist viermal höher als bei Otfrid. Auch die Zahlen für das Mhd. sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich: Der Rückzug des Präteritums, der 350 Jahre zuvor in diesem Ausmaß noch kaum zu erahnen ist, hat hier bereits zu einem ausgeglichenen Verhältnis der beiden Formen in SR geführt. Selbst unter der Berücksichtigung von individuellen Sprachgewohnheiten,
HE steht für das mhd. Versepos Herzog Ernst.
166
5 Empirische Untersuchung
damit verbundenen stilistischen Eigenheiten der Autoren und textstrukturellen Abweichungen lassen sich die Zahlen kaum so weit relativieren, dass keine Entwicklungsdynamik anhand des synchronen Vergleichs des ahd. und as. Materials deutlich wird. Auch unter Einbezug textpragmatischer Faktoren nimmt das As. eine Mittelposition zwischen dem ahd. und dem mhd. Typ ein. Während die präteritalen as. Formen in nicht-prototypischen Verwendungen Erkenntnisgewinne hinsichtlich der funktionalen Auffächerung des Perfekts und der zunehmenden Restringierung der synthetischen Definitionsmenge versprechen, ist das Distributionsverhalten der einzelnen Formen im Diskursmodus NR wenig überraschend. Erwartungsgemäß weist das Präteritum einen erhöhten Wert gegenüber den ahd. Zahlen auf. Das gilt auch für die periphrastischen Plusquamperfektkonstruktionen, deren absoluter Wert mit 115 Belegen auffällig hoch ist. Ein Vergleich mit den synthetischen Präterita innerhalb von NR, der eine ähnliche Entwicklungsdynamik zeigen könnte wie die Kontexte der einfachen Vergangenheit innerhalb von SR, bietet sich allerdings aus verschiedenen Gründen nicht an: Ein potenzieller Überschneidungsbereich ist nur in Kontexten der relativen Temporalität gegeben, allerdings ist das Verhalten der synthetischen Präterita diesbezüglich zunächst schwer mess- und quantifizierbar. Da es in geschriebenen Texten keinen ‚natürlichen‘ Anteil komplexer temporaler Verhältnisse gibt, ist die Menge der belegten Verben in dieser Funktion ohnehin stark von den stilistischen Neigungen des Autors abhängig. Das Distributionsverhalten der as. Tempora entspricht den bisherigen Erwartungen eines innovativeren Bildes des niederdeutschen Verbalsystems in diesem Zeitraum. Augenfällig ist auch die Verteilung der gi-Präfixe. Wiesen bisherige Gegenüberstellungen nur quantitative Unterschiede auf, was den Abbau des Elements betrifft, deuten sich unter Einbezug des Faktors Diskursmodus auch qualitative an. Während bei Otfrid der jeweilige Anteil der Präfixe innerhalb der diskurspragmatischen Gruppen mehr oder weniger gleichmäßig war, zeigen sich im Heliand auffälligere Disproportionalitäten: Tabelle 22: Relative Anteile der gi-Präfixe (H) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach Diskursmodus. HELIAND
SR n
%
NR n
%
TOKEN PRÄS – gi TOKEN PRÄS + gi ∑Verben PRÄS TOKEN PRÄT – gi TOKEN PRÄT + gi ∑Verben PRÄT
. .
,% ,% ,% ,% ,% ,%
. .
,% ,% ,% ,% ,% ,%
5.1 Die Distribution der Verbalformen
167
Tabelle 22 weist einen deutlich höheren Zahlenwert für die Derivate im Modus SR aus, was besonders im Präteritum deutlich wird: Mehr als 18% der Formen sind mit gi- verbunden, während der entsprechende Anteil im narrativen Textmodus bei etwa 10% bleibt. Aufgrund des geringen Präsensvorkommens in NR kann diesbezüglich kein Urteil gefällt werden. Obwohl der Abbau des Präfixes insgesamt weiter fortgeschritten ist als im Ahd., erweist sich das as. Präteritum in seiner nicht-prototypischen Verwendung im sprecherbezogene Diskursmodus als resistent. Es gilt zu überprüfen, ob diese Tendenz mit dem generellen Verhalten des Präfixes in der Phase seines Abbaus in Zusammenhang zu bringen ist oder andere intervenierende Faktoren vorliegen, deren Einfluss zunächst noch nicht sichtbar wird. Festzuhalten ist jedenfalls, dass auch das as. Material nicht geeignet ist, eine narrative Funktion von gi- aufzuzeigen. Erneut scheint das Gegenteil der Fall zu sein, wenngleich in viel stärkerem Ausmaß.
5.1.3 Syntaktische Faktoren Abschließend muss die Distribution der ahd. und as. Tempora nach syntaktischen Makroparametern dargestellt werden. Zunächst scheint die Unterscheidung von Vollverben, Modalverben und Auxiliarverben bzw. Kopulaverben sinnvoll, da die einzelnen Klassen hinsichtlich ihrer temporalsemantischen Prototypencharakteristik voneinander abweichen. Das wurde bereits durch die komplementäre Verteilung der periphrastischen Tempora aus textpragmatischer Perspektive deutlich. Die beiden untersuchten Texte weisen zudem unterschiedliche quantitative Muster auf, wenn es um den Anteil finiter und infiniter Formen an der Gesamtmenge der Verben geht. Tabelle 23 gibt einen Überblick über den Anteil der jeweiligen Verbklasse innerhalb der einzelnen morphologischen Tempora bei Otfrid:129 In beiden Haupttempora überwiegen erwartungsgemäß Vollverben, größere Unterschiede zeigen sich hinsichtlich der Verteilung von Modalverben, Auxiliarverben und Kopulaverben, die im Präsens deutlich stärker vertreten sind. Angesichts dessen, dass Otfrid eigentlich zur Verwendung von konservativeren synthetischen Verbalformen neigt, ist insbesondere der Anteil der mehrteiligen Prädikate zu-
Die Zahlen dieser Tabelle weichen geringfügig von bisherigen Darstellungen ab, da die Zahl der potenziellen Auxiliare der Perfekt- und Plusquamperfektformen nicht für diese gerechnet, sondern im Paradigma der Haupttempora der Klasse AV/KV zugeschlagen werden. Die periphrastischen Tempora werden hier nach den Charakteristiken der partizipialen Formen klassifiziert.
168
5 Empirische Untersuchung
Tabelle 23: Verteilung der Tempora (O) nach Verbklasse. OTFRID
VV n %
MV n %
AV/KV n %
Gesamt n %
PRÄS
. ,,% () (,%)
,% () (,%)
,% () (,)
. ,%
. ,% () ,%
,% () ,%)
,% −
. ,%
PERF (haben)
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−
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,%
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,%
PQP (haben)
,%
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,%
PQP (sein)
,%
−
−
,%
(davon + gi)
PRÄT (davon + gi)
nächst überraschend. Dieses Bild relativiert sich allerdings, wenn man bedenkt, dass ein Großteil dieser komplexeren Konstruktionen nicht mit verbalen Prädikatsteilen gebildet wird. Alleine das Verb wesan ‚sein‘ stellt fast zwei Drittel der Belege innerhalb der Gruppe AV/KV, obwohl nur 29 periphrastische Perfektformen mit diesem Auxiliar gebildet werden. Der Anteil der finiten Prädikatsteile, die zur Bildung analytischer Verbalkonstruktionen gebraucht werden, ist innerhalb dieser Gruppe also tatsächlich gering. Auffällig ist die Tendenz des Präsens zu jeglicher Form des komplexen Prädikats. Ein erhöhter Anteil der Modalverben in präsentischen Kontexten konnte auch für das Mhd. festgestellt werden, wobei die Differenz zum Präteritum vor allem auf die imperativische Verwendung zurückgeführt wurde (vgl. Zeman 2010: 181). Im Ahd. scheinen sich ähnliche Verteilungsmuster abzuzeichnen. Die periphrastischen Tempusformen werden bei Otfrid ausschließlich mit Vollverben gebildet. Beide Perfektkonstruktionen sind in ihrer Frühphase der Grammatikalisierung weitestgehend unvereinbar mit Modal- und Kopulaverben. Entsprechende Restriktionen werden erst ab dem Mhd. vereinzelt durchbrochen, wobei zunächst die Kopulaverben langsam in das Perfektparadigma
5.1 Die Distribution der Verbalformen
169
integriert werden, während die Modalverben noch längere Zeit ihre diesbezügliche Bindungsträgheit bewahren (vgl. Zeman 2010: 114).130 Im Vergleich zu Otfrid ist der Anteil der Vollverben im Heliand deutlich geringer, was nicht nur auf die häufigere Verwendung von periphrastischen Perfektkonstruktionen zurückzuführen ist, sondern auf die bereits angesprochene generell ausgeprägtere Tendenz zu analytischen Verbalformen. Tabelle 24 stellt die Verhältnisse im As. im Überblick dar: Tabelle 24: Verteilung der Tempora (H) nach Verbklasse. HELIAND
VV n %
MV n %
AV/KV n %
Gesamt n %
PRÄS
. ,% () (,%)
,% −
,% −
. ,%
. ,% () (,%)
,% −
,% −
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PERF (haben)
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,%
−
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PQP (haben)
,%
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PQP (sein)
,%
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,%
(davon + gi)
PRÄT (davon + gi)
Die Tabelle zeigt insgesamt einen auffallend hohen Wert für die Verwendung von Modalverben im Verhältnis zu den Vollverben, wobei die präsentischen Formen überwiegen. Bei der Verteilung der Vollverben dagegen sind die Mengenverhältnisse umgekehrt. Es sind erneut nicht nur die systemgrammatischen Unterschiede zwischen dem Ahd. und dem As., die hier sichtbar werden, sondern auch die literarisch-konzeptionellen Typen, die als Emergenzen verschiedener Der konservative Charakter der Modalverben innerhalb des Verbalsystems zeigt sich auch auf pragmatischer Ebene. Sie sind die letzte verbale Klasse, die in den Sog des Präteritumschwunds gerät (vgl. Fischer 2018: 50). Darüber hinaus sind sie aufgrund ihrer modalen und quasifuturischen Lesart häufig nicht mit dem werden-Futur vereinbar.
170
5 Empirische Untersuchung
Narrationskonventionen anzusehen sind. Der Heliand scheint trotz der archaischen stabreimenden Form in vielerlei Hinsicht epischen Erzähltraditionen nahe zu stehen, die sich im hochdeutschen Raum erst später herausbilden.131 Die Verteilung der Verbalformen nach syntaktischen Klassen ähnelt stark derjenigen, der man in mhd. Versepen begegnet (vgl. Zeman 2010: 113). Die verbleibenden Unterschiede lassen sich dabei unter der Annahme diachroner Entwicklungsstadien erklären, die frequenziellen Verhältnisse weichen aber nur graduell ab. Wie im Mhd. durchbricht lediglich das sein-Perfekt des As. die ehemaligen Restriktionsbereiche und kann bereits vereinzelt mit Kopulaverben gebildet werden, was erneut auf einen höheren Grammatikalisierungsgrad der as. Formen im Vergleich zu jenen des Ahd. hinweist. Während die Verteilung der einzelnen Tempora nach ihrem Verbstatus einige interessante Einblicke in systemspezifische und extralinguistische Eigenheiten beider Sprachräume bietet, lohnt sich eine entsprechende Darstellung der frequenziellen Distributionsverhältnisse von gi- nicht. Eine Gegenüberstellung der absoluten Zahlen stützt allerdings empirisch und quantitativ die bisherigen Annahmen bezüglich der Disposition des Präfixes: Es scheint mit allen Klassen außer den Vollverben weitestgehend unvereinbar zu sein, was sich mit Ausnahme der partizipialen Formen auch bis zu seinem endgültigen Verschwinden nicht mehr ändert. Modalverben dienen als Ausdrucksformen von noch zu verwirklichenden Tätigkeiten, denotieren aber letztlich nur die subjektinterne Motivation für eine solche bzw. das Verhältnis des Sprechers zur Quelle eben dieser Motivation. Ähnlich wie im Imperativ steht also die Verbalhandlung als Tätigkeit im Fokus und nicht der eintretende Effekt des Handlungsvollzugs. Während Imperative allerdings aufgrund ihrer Offenheit fast allen Verbklassen gegenüber in untypischen Fällen als Derivate vorliegen können, ist bei Modalverben eine Verbindung mit dem Präfix gi- nur über das infinite Vollverb möglich, an dem die Ausführung der Verbalhandlung sichtbar wird. Damit sind Modalverben die wohl prototypischsten lexikalischen Vertreter gestiver Verben.
Hierbei handelt es sich auf der extralinguistischen Ebene selbstverständlich nicht um ‚natürliche‘ Entwicklungen, die in irgendeiner Weise absehbar wären und immer auf gleichartige Präzedenz aufbauen würden. Vielmehr scheint die as. Literatur den deutlich moderneren angelsächsischen Textkulturen stärker verbunden zu sein als den staatsklösterlichen Schreibtraditionen der karolingischen Franken, was angesichts der politischen, kulturellen und nicht zuletzt sprachlichen Verhältnisse nicht weiter überrascht. Hier finden sich einige interessante kultur- und literaturhistorische Anknüpfungspunkte, auf die in dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden kann (vgl. dazu insbesondere die einführenden Abschnitte der Editionen von Heusler 1921 und Bruckner 1929).
5.1 Die Distribution der Verbalformen
171
Auch die gängigsten Kopulaverben wie ahd./as. wesan ‚sein‘ oder ahd. werdan bzw. as. werđan ‚werden‘ werden notwendigerweise größtenteils zur Charakterisierung des Subjekts als Handlungsträger gebraucht, was eine faktive Verwendung meistens ausschließt. Im Gegensatz zum stativen wesan zeigt das mutative werdan im Ahd. zumindest in seiner nominalen Ableitungsstufe eine gewisse Bereitschaft, über metaphorische Brückenkonzepte zur faktiven Diathese überzutreten. So ist das bei Otfrid sehr häufige Substantiv giwurti ‚erfreuliches Geschehen, Freude, Befriedigung‘ das Ameliorationsprodukt einer Verbalhandlung mit benefaktivem Objekt im Sinne von ‚jemandem zuteilwerden‘. Das entsprechende Derivat giwerdan ist in dieser Funktion dagegen im Ahd. kaum belegt, es ist daher auch nicht auszuschließen, dass es sich hierbei um eine sekundäre denominale Ableitung handelt.132 Die Zugehörigkeit zum faktiven Diathesenpol ist in jedem Fall eindeutig, wie der Kontrast von Derivat und Simplex in Beleg (2) demonstriert: (2)
Thie langun zíti Krist gisáh133 jóh ouh selbo zi ímo sprah, ób inan giwúrti thaz er héil wurti? (O, III, 4, 20) ‚Die langen Zeiten sah Christus und sprach selbst zu ihm, ob ihm die Freude zuteilwerden sollte, dass er gesund würde.‘
Ahd. giwerdan fungiert hier in seiner konjunktivischen Verwendung als Korrelat, das den Eintritt einer Zustandsveränderung am Handlungsträger antizipiert. Durch das gestive Simplex wurti des angeschlossenen Nebensatzes wird diese zwar aktualisiert, verbleibt aber innerhalb der subjektinternen ontischen Sphäre. Der tatsächliche Vollzug der Verbalhandlung erweist sich hier erneut gegenüber der faktiven Diathese als unsensibel, die Möglichkeit eines solchen Vollzugs mit einem spezifischen Effekt an einem Aktanten ist ausreichend für die sachliche Perspektivensetzung. Der Anteil von Modal- und Kopulaverben korreliert zu einem gewissen Grad mit der Abwesenheit des Präfixes, die unter-
Ahd. giwerdan ist nicht zu verwechseln mit dem urverwandten schwachen Verb giwerdon, das aber aufgrund seiner Bedeutung ‚würdigen, für gut befinden, gewähren‘ in der semantischen Nachbarschaft der hier diskutierten Lexeme zu finden ist und möglicherweise auch entsprechenden Einfluss auf ein sekundäres denominales giwerdan haben könnte. Das ahd. Derivat gisehan hebt hier die Beziehung des Subjekts zum erschlossenen Gedächtnisinhalt hervor, was nur über den erweiterten Kontext nachvollziehbar wird und daher nur unzureichend übersetzt werden konnte: In der Geschichte vom Lahmen am Teich Bethesda (Joh 5, 1–18) wird Christus mit einem Kranken konfrontiert, der bereits 38 Jahre an sein Bett gefesselt ist. Das Derivat drückt das Bewusstwerden des Ausmaßes dieser langen Zeit aus (vgl. dazu auch die Diskussion zum Verhalten der Wahrnehmungsverben vor dem Hintergrund der diathetischen Kategorienzuschreibung in Kap. 2.2.2).
172
5 Empirische Untersuchung
schiedlichen quantitativen Verhältnisse in den beiden Korpustexten stehen aber nicht in kausaler Beziehung zu den beobachtbaren Abbauprozessen. Diese können nur anhand der Vollverben nachvollzogen und müssen daher gesondert untersucht werden. Mit der Unterscheidung von Hauptsätzen und abhängigen Nebensätzen soll abschließend noch ein weiterer syntaktischer Parameter berücksichtigt werden, der für die Verteilung von unterschiedlichen Tempusformen von Relevanz ist. Der anaphorische Charakter der Tempora in chronologisch-erzählerischen Texten und die damit einhergehenden Abhängigkeitsverhältnisse von absoluten und relativen Tempora waren im Kap. 3.1.1 als theoretische Notwendigkeit einer solchen Differenzierung genannt und diskutiert worden. Auch wenn keine Einigkeit hinsichtlich eines Analyserahmens für absolute und relative Zeitverhältnisse einerseits sowie anaphorische und deiktische Tempusverwendungen andererseits existiert, ist dennoch dem offensichtlichen Umstand Rechnung zu tragen, dass sich alle Kategorien des ATM-Komplexes im Hauptsatz anders verhalten als im Nebensatz. Tabelle 25 zeigt die entsprechenden Verteilungsmuster bei Otfrid: Tabelle 25: Verteilung der Tempora (O) nach HS und NS. OTFRID
HS n
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Gesamt n
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.
Mit Ausnahme des sein-Plusquamperfekts überwiegen für alle Tempora die Hauptsatzverwendungen, was angesichts des allgemeinen zahlenmäßigen Überhangs der Hauptsätze nicht ungewöhnlich ist. Die Abweichungen von den Anteilen der jeweiligen Satzart für die einzelnen Tempora zeigen, dass das Präsens eine deutlich ausgeprägtere Affinität zum Hauptsatz hat als das Präteritum, das im Vergleich häufiger im Nebensatz Verwendung findet. Es ist denkbar, dass diese Tendenzen darauf zurückzuführen sind, dass das Präteritum in narrativen Passagen besonders
5.1 Die Distribution der Verbalformen
173
oft für die Markierung von Vorzeitigkeitskontexten verantwortlich ist. Darauf deutet auch der Umstand hin, dass die mit dem synthetischen Präteritum in Konkurrenz stehenden Plusquamperfektformen fast ausschließlich im Nebensatz Verwendung finden. Auch die Kontexte der Irrealität, die mit dem Konjunktiv Präteritum versprachlicht werden, könnten dabei eine Rolle spielen. Eine Unterscheidung der einzelnen Nebensatzarten nach ihren semantischen Charakteristiken wird sich daher für die Beschreibung der Einzeltempora als relevant erweisen. Die bei Otfrid erkennbaren grundlegenden Tendenzen der ungleichmäßigen Tempusdistribution nach syntaktischer Einbettungsebene liegen im Heliand ebenfalls vor. Zwar verwendet der as. Autor etwas weniger Nebensätze als Otfrid, die Abweichungen sind aber nur geringfügig, weswegen sich die beiden Texte diesbezüglich gut vergleichen lassen: Tabelle 26: Verteilung der Tempora (H) nach HS und NS. HELIAND
HS n
%
NS n
%
Gesamt n
PRÄS (davon + gi)
. ()
,% (,%)
()
,% (,%)
. ()
PRÄT (davon + gi)
. ()
,% (,%)
. ()
,%) (,%)
. ()
PERF (haben)
,%
,%
PERF (sein)
,%
,%
PQP (haben)
,%
,%
PQP (sein)
,%
,%
∑Verben finit
.
,%
.
,%
.
Tabelle 26 zeigt, dass die synthetischen Haupttempora des Heliand ebenso wie das Perfekt zur Hauptsatzverwendung tendieren, während im Plusquamperfekt eine ausgeglichene Verteilung vorliegt. Unter Einbezug der absoluten Häufigkeiten von Hauptsätzen und Nebensätzen kann man von einer starken Affinität des Plusquamperfekts zur Subordination sprechen, wie sie auch im Mhd. zu beobachten ist (vgl. Zeman 2010: 114). Anders als in der ahd. Evangelienharmonie wird im Heliand das Präsens etwas öfter im Nebensatz gebraucht, während der Anteil des Präteritums im Hauptsatz etwas höher ist. Ob es sich dabei um eine statistische Schwankung handelt oder nicht, lässt sich anhand der Gegenüberstellung noch nicht sagen. Es wäre auch denkbar, dass aufgrund der bislang mehrfach bestätigten Progressivität des as. Verbalsystems, die sich insbeson-
174
5 Empirische Untersuchung
dere in der Entwicklung der periphrastischen Tempora zeigt, das Präteritum in manchen Kontexten bereits seinen Rückzug angetreten hat, etwa in jenen der relativen Vorzeitigkeit. Im Zusammenhang mit der Frage nach etwaigen Verdrängungsprozessen synthetischer Tempusformen ist auch die Verteilung der gi-Präfixe erneut als wesentlicher Faktor zu berücksichtigen. Die vermutete Tendenz der Derivate zu Kontexten der relativen Temporalität ist als Indiz für ihre Affinität zu subordinierten Teilsätzen anzusehen. Bereits in den absoluten Zahlen scheint sich dieser Befund zu bestätigen. Er verhärtet sich noch, wenn nur die relativen Häufigkeiten innerhalb der einzelnen synthetischen Tempusformen berücksichtigt werden. Tabelle 27 zeigt die Verteilung des Präfixes auf Haupt- und Nebensätze: Tabelle 27: Relative Anteile der gi-Präfixe (O) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach HS und NS. OTFRID
HS n
%
NS n
%
TOKEN PRÄS – gi TOKEN PRÄS + gi ∑Verben PRÄS TOKEN PRÄT – gi TOKEN PRÄT + gi ∑Verben PRÄT
. . . .
,% ,% ,% ,% ,% ,%
. . . .
,% ,% ,% ,% ,% ,%
Sowohl im Präsens als auch im Präteritum ist der Anteil der präfigierten Formen im Nebensatz höher als im Hauptsatz. Die Differenz ist nicht so groß wie im Mhd., wo etwa der Anteil der Derivate im präteritalen Nebensatz mit 5,16% mehr als viermal so hoch ist wie im Hauptsatz (vgl. Zeman 2010: 149).134 Möglicherweise sind diese Zahlen aufgrund ihrer geringen Menge nicht in gleichem Maße aussagekräftig, allerdings deutet vieles darauf hin, dass der Abbau des Präfixes im Hauptsatz bzw. in absoluter Verwendung deutlich schneller vonstattengeht als im subordinierten Nebensatz. Hier sind auch die Zahlenverhältnisse im Heliand erneut aufschlussreich, vgl. Tabelle 28. In allen Kontexten bleibt der relative Anteil des Präfixes unter jenem des entsprechenden ahd. Vergleichsclusters. Die Differenz ist im Nebensatz allerdings nicht so ausgeprägt wie im Hauptsatz. Hier scheinen insbesondere in präsenti-
Zeman (2010) zählt allerdings nur die indikativischen Formen. Angesichts dessen, dass der Konjunktiv eine stärkere Neigung zur Subordination aufweist, dürfte die Differenz sogar noch größer sein.
5.1 Die Distribution der Verbalformen
175
Tabelle 28: Relative Anteile der gi-Präfixe (H) am Gesamtbestand der synthetischen Temporalformen nach HS und NS. HELIAND
HS n
%
NS n
%
TOKEN PRÄS – gi TOKEN PRÄS + gi ∑Verben PRÄS TOKEN PRÄT – gi TOKEN PRÄT + gi ∑Verben PRÄT
. . . .
,% ,% ,% ,% ,% ,%
. .
,% ,% ,% ,% ,% ,%
schen Kontexten die ungünstigsten Bedingungen für das Präfix zu herrschen, während am anderen Ende des Anwendungsspektrums mit den Präterita in subordinierten Nebensätzen die nach allen bislang berücksichtigten Faktoren die besten Voraussetzungen dafür zu finden sind. Worauf dieses Verteilungsmuster letztlich zurückzuführen ist, gilt es noch zu überprüfen. Aufschlussreich erweisen sich diese Daten hinsichtlich zuvor getätigter Beobachtungen einer Affinität der präfigierten Präterita zum sprecherbezogenen Diskusmuster, die im Heliand besonders ausgeprägt zu sein scheint (vgl. Tabelle 20). Von den 107 Derivaten in dieser Kontextumgebung stehen über 69% (n = 74) im Nebensatz, womit der Wert vom Durchschnitt um das Doppelte abweicht. Hier liegt also nicht in erster Linie eine textpragmatische Distribution vor, sondern vor allem eine syntaktische, auf die noch genauer einzugehen ist.
5.1.4 Zwischenfazit Die bisherigen Analysen der ahd. und as. Verbalformen haben gezeigt, dass für eine kontrastive Gesamtdarstellung der beiden Tempussysteme unterschiedliche textpragmatische und (morpho-)syntaktische Faktoren zu berücksichtigen sind. Auf allen Ebenen lässt sich tendenziell eine höhere Innovationsbereitschaft des as. Systems nachweisen, während sich das Ahd. diesbezüglich als konservativer erweist. Die Verteilung der as. Tempora auf die diskurspragmatischen Makrostrukturen zeigt insgesamt klarere Strukturen als die entsprechenden Verhältnisse im Ahd. Der Aufbau eines binär organisierten origo-deiktischen Bezugssystems, das sich durch eine weitgehende Konformität von Diskurskontexten und morphologischen Tempora auszeichnet, ist damit im As. weiter fortgeschritten. Die grundlegenden diskurpragmatischen Strukturen sind aber für beide Sprachräume gleichermaßen anzusetzen: Das Präsens ist ebenso wie das Perfekt wie erwartet fast ausschließlich in den sprecherbezogenen Passagen vorzufinden. Die Kontexte
176
5 Empirische Untersuchung
der Narration, also der nicht-sprecherbezogenen Rede, werden von präteritalen Formen dominiert, die Verteilung der Tempora insgesamt ist aber bei weitem nicht so deutlich wie in der Präsensgruppe. Diese Erkenntnisse legen für die weitere Untersuchung eine Trennung der Präsens- und der Präteritumgruppe nahe. Die Integration der periphrastischen Verbalformen geht dabei mit pragmatischen Restriktionen einher, die vor allem den präteritalen Formen und ihrer funktionalen Polysemie zum Nachteil gereicht. Die Verdrängung des Präteritums aus der sprecherbezogenen Rede zugunsten des Perfekts und aus den Kontexten der relativen Temporalität in narrativen Diskursmustern zugunsten des Plusquamperfekts ist zunächst in allen germ. Sprachen zu beobachten. Mit Ausnahme des Hochdeutschen, wo diese Entwicklung bis in die Gegenwart fortgesetzt wird und seit dem Frnhd. eine neue Dynamik gewinnt, erreichen alle anderen germ. Sprachen nach der Ausgrammatikalisierung des Perfekts einen gewissen Sättigungsgrad. Vor dem Hintergrund der beobachtbaren synchron-arealen Unterschiede auf pragmatischer Ebene, die sich auch als diachrone Schritte deuten lassen, verspricht eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem ahd. und as. Tempussystem Einblicke in früheste Phasen dieses ‚altgerm. Präteritumschwunds‘. Die Bedeutung der gi-Präfixe innerhalb des temporalen Systems konnte bislang nur vage beschrieben werden. Während sich die periphrastischen Tempora als invasive Kategorie zunächst nur in gewissen Anwendungskontexten ausbreiten können, lassen sich für die Präfixe allenfalls einige Distributionstendenzen ausmachen. Zwei funktionale Verdichtungsräume stechen hier besonders hervor: die präteritalen Kontexte und die syntaktische Subordination. Beide können als Hinweis auf einen sich andeutenden Rückzug des Präfixes in Kontexte der relativen Temporalität verstanden werden. Für eine abschließende Bewertung dieser Affinitäten sind zunächst noch weitere Analysen durchzuführen, um entscheiden zu können, ob hier systematische Abhängigkeitsbeziehungen mereologischer Natur oder bloß korrelative Muster ohne kausalen Zusammenhang vorliegen.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem des Althochdeutschen und Altsächsischen Die bisherige Zusammenstellung der einzelnen Datensets bildet neben der in Kapitel 2 und 3 geleisteten theoretischen Vorarbeit die Grundlage für eine temporalsemantische Tiefenanalyse des ahd. und as. Verbalsystems. Unter dem Ausschluss intervenierender Faktoren soll das temporalen Prototypensystem rekonstruiert werden, was sich auf die Auswahl der zu untersuchenden Formen in pragmatischer, syntaktischer und morphologischer Hinsicht auswirkt. Die
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
177
beiden Haupttempora werden innerhalb ihres jeweils prototypischen diskursiven Musters beschrieben: das Präteritum in nicht-sprecherbezogener Rede (NR) und das Präsens in sprecherbezogener Rede (SR). Die Basisopposition des altgerm. Tempussystems wird durch diese beiden synthetischen Tempora konstituiert, daher sind die periphrastischen Formen Perfekt und Plusquamperfekt lediglich als potenzielle Konkurrenzformen innerhalb präteritaler Kontexte ebenfalls zu berücksichtigen. Da anhand des Präteritums die diachronen Entwicklungen des deutschen Verbalsystems am deutlichsten sichtbar werden, steht es im Fokus des ersten Unterkapitels.135 Auch die gi-Präfixe scheinen nach bisherigen Auswertungen eine gewisse Neigung zum Präteritum zu zeigen. Es ist also zu erwarten, dass hier geeignetsten Bedingungen zur Beschreibung der temporalsemantischen Verhältnisse gefunden werden können, die auch die Präfigierung miteinschließt. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse werden im Anschluss auf die präsentischen Kontexte übertragen. Wie die Distribution der Verbalformen unter Berücksichtigung unterschiedlichster Parameter bestätigt hat, verhält sich im synchronen Vergleich das Ahd. in vielerlei Hinsicht konservativer als das As. Im Folgenden werden dementsprechend die Daten aus Otfrids Evangelienharmonie als archaische Ausgangsbasis definiert und analysiert, während jene des Heliand daraufhin als innovativer Subtrahend dienen. Diese Differenzmethode erlaubt es, auf Basis synchronarealer Unterschiede Rückschlüsse auf diachron-dynamische Entwicklungsrichtungen abzuleiten. Eine Bestimmung zeitreferenzieller Werte in historischen Texten ist ein generelles philologisches Wagnis, weswegen nicht alle Verben in gleichem Ausmaß berücksichtigt werden können, wie das bisher der Fall war. Eine Annäherung an repräsentative temporale Strukturmuster erlauben vor allem die indikativischen Formen sowie temporale Kontextangaben aus dem adverbialen Bereich, während konjunktivische und infinite Formen weitestgehend ausgeklammert werden müssen. In syntaktischer Hinsicht hat sich bisher die Unterscheidung von Hauptund Nebensätzen als wesentlich für die Verteilung der Tempora einerseits und die Verteilung der gi-Präfixe andererseits erwiesen. Eine isolierte Betrachtung einzelner Satzarten erscheint daher sinnvoll.
Ich folge aufgrund der sich anbietenden diachronen Vergleichbarkeit zudem in der Gliederung Zeman (2010: 123–183).
178
5 Empirische Untersuchung
5.2.1 Präteritale Kontexte Das Präteritum ist in funktionaler Hinsicht das komplexeste Tempus der altgerm. Sprachen. Innerhalb des minimalen Tempussystems des Urgerm. wird es zum Ausdruck sämtlicher Sachverhalte mit Vergangenheitsbezug gebraucht und vereint damit eine Vielzahl an ehemaligen Tempus-, Aspekt- und Modusformen des Uridg., was seinen heterogenen Charakter und seine Verwendungshäufigkeit erklärt (vgl. dazu auch Kap. 3.2.3). Die präteritalen Anwendungsgebiete gelten als die Konvergenzbereiche, in denen die wesentlichen Umwälzungsprozesse innerhalb der altgerm. Tempussysteme am besten sichtbar gemacht werden können: Sowohl das Perfekt als auch das Plusquamperfekt breiten sich in ehemals prototypischen präteritalen Kontexten aus und setzen damit einen Verdrängungsprozess in Gang, der in einem völligen Rückzug des Präteritums innerhalb der sprecherbezogenen Rede mündet. Unklar ist dabei die Rolle des im Abbau befindlichen Präfixes gi-, das gerade in präteritalen Kontexten am häufigsten anzutreffen ist und dort noch lange seine Stellung behaupten kann. Auf Basis der bisherigen Erkenntnisse der bisherigen Datenbeschreibung ergeben sich für eine funktionale Tiefenanalyse des ahd. und as. Präteritums folgende Fragen, die es zu beantworten gilt: I) Welche Funktionen können dem Präteritum in seinem prototypischen Verwendungskontext NR zugeschrieben werden? II) In welchem Verhältnis steht das Präteritum zur konkurrierenden periphrastischen Plusquamperfektformen innerhalb von NR und welche Rolle kommt dabei den gi-präfigierten Verben zu?
5.2.1.1 Die Funktionen des Präteritums im Hauptsatz (IND/NR) Wie in Kap. 3.2.3 besprochen wurde, ist das Präteritum im Ahd. und As. ähnlich wie in anderen Sprachstufen bis hin zum Gegenwartsdeutschen als Tempus der einfachen Vergangenheit durch die Reichenbach-Parameter E,R < S charakterisiert. Im Kontext der Narration drückt es meistens aufeinanderfolgende Ereignisse aus und setzt damit den grundsprachlichen Aorist des Uridg. fort. Da der Handlungsfortschritt in erzählenden Texten größtenteils über die absoluten Tempora des Hauptsatzes vorangetrieben wird, lässt sich die prototypische vordergrundierende Funktion des Präteritums hier am leichtesten nachvollziehen. Im Kontrast zu den Präsensformen zeigt das Tempus die Entbindung des Referenzpunktes vom Sprecherstandort an, wobei die Inszenierung dieses Kontrasts insbesondere in Evangeliendichtungen häufig als stilistisch-diskursiver Marker verwendet wird, um innerhalb einer vermeintlich historischen Erzählung nur
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
179
ein Minimum an fiktionalem Gehalt zu suggerieren und das Leben Christi als untrennbar mit der realen Gegenwart darzustellen. Otfrid legt großen Wert darauf, inhaltliche Brücken zum gegenwärtigen Erfahrungshorizont der Leserschaft zu schlagen, weswegen die Unterscheidung zwischen Rahmenerzählung und intradiegetischen Passagen oft schwierig ist. In der Erzählung vom Volkszählungsedikt des Augustus und der Geburt Christi etwa wechselt der Autor von präsentischer Beschreibung zu präteritaler Narration, vgl. Beleg (3): (3)
Ein búrg ist thar in lánte, thar warun ío ginánte hús inti wénti zi édilingo hénti. Bi thíu ward, thi ih nu ságeta, thaz Jóseph sih irbúrita; zi théru steti fúart er thia drúhtines múater; (O, I, 11, 26) ‚Eine Stadt ist da im Lande, da waren seit jeher zu eigen jedes Haus und die Mauern den Königen. Da begab es sich, wovon ich schon erzählte, dass Josef sich aufmachte, und zu dieser Stadt führte er des Herrn Mutter;‘
Zunächst versichert Otfrid dem Leser die Authentizität des Berichtes durch die Erwähnung der zu seinen Lebzeiten existenten Stadt Bethlehem, daraufhin wechselt er mit den folgenden Präteritumformen zur eigentlichen Erzählung über. Die Angabe bi thiu ‚da(her)‘136 eröffnet eine Kette chronologischer Handlungen, die von weiteren entsprechenden diskursiven Markern aufrechterhalten oder durchbrochen wird. Auf diese Weise wird die grundsätzliche Neutralität des Präteritums hinsichtlich aspektueller und aktionsartlicher Verlaufsweise der Verbalhandlung ausgeglichen. Fehlen solche Angaben, liegen häufig ambige Lesarten vor, weswegen eine objektive Gesamtdarstellung der präteritalen Funktionen bzw. des Verhältnisses zwischen den einzelnen Verwendungsgruppen kaum möglich ist. Die vorangehende präteritale Verbalhandlung des potenziell additiven Simplexverbs fuart wird durch den Kontext in den Folgeversen begrenzt, vgl. Beleg (4):
Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass die semantische Unterscheidung der einzelnen adverbialen Spezifizierungen nicht immer leicht ist. ahd. bi thiu wird üblicherweise als kausaler Konnektor gebraucht, auch die ursprüngliche instrumentale Bedeutung ist noch manchmal bezeugt (vgl. Schrodt 2004: § 150). Hier scheint eine Verwendung als Diskurspartikel vorzuliegen, die eher eine temporale Lesart erfordert. Auch andere textgliedernde Angaben zeichnen sich durch ihre semantische Ambiguität aus, wobei oft anhand der synchronen Verwendung unterschiedliche diachrone Grammatikalisierungsgrade sichtbar werden.
180
(4)
5 Empirische Untersuchung
Unz síu tho thar gistúltun, thio zíti sih irvúltun, thaz sie chínd bari zi woralti éinmari. (O, I, 11, 29) ‚Während sie da dort verweilten, erfüllten sich die Zeiten, dass sie gebären sollte das in der Welt einzigartige Kind.‘
Die Erzählung geht über zur Beschreibung des Aufenthaltes von Josef und Maria, der ihre vorausgehende Ankunft bereits impliziert. Auch hier setzt der Autor textgliedernde Kontextangaben, um das Geschehen einzuordnen. Achronologisches Erzählen ist im Modus NR unüblich, durch die Zeitangabe thio ziti und dem temporalen Nebensatz mit dem Temporaladverb unz ‚während, solange‘ bzw. der Partikel tho ‚da‘ macht der Autor klar, dass sich das telische Verbalereignis des Hauptsatzes, das durch das Derivat irvultun ausgedrückt wird, nach der Ankunft in Bethlehem und vor Ort ereignet.137 Das vorangehende Simplex erhält dadurch sekundär eine terminative Semantik. Der Kontrast von vordergründigen Sachverhalten, die den Handlungsfortschritt vorantreiben, und kontextbildenden Hintergrundinformationen wird in dieser wie auch in vielen anderen Passagen über entsprechende lexikalische Mittel hergestellt, nicht über die Tempuswahl oder die Präfigierung. Anhand von Stichproben lässt sich weder für Otfrids Evangelienharmonie noch für den Heliand eine augenscheinliche Systematik der Interaktion von temporalen Kontextangaben und einzelnen Klassen von Verben in formaler oder semantischer Hinsicht erkennen. Die Fülle an textgliedernden Angaben erlaubt es allerdings, einen großen Teil definiter und unstrittiger temporaler Kontexte überhaupt erst zu erfassen und als Grundlage für das Distributionsverhalten der präteritalen Formen heranzuziehen. Die Gegenüberstellung von Simplizia und giDerivaten nach ihren beigeordneten Kontextangaben könnte Hinweise auf das temporalsemantische bzw. textstrukturierende Potenzial der jeweiligen Klassen geben. Als problematisch erweist sich allerdings wie bei vielen anderen induktiven Verfahren, die auf die Offenlegung weitestgehend binärer Systematiken abzielen, dass etwaige Schlussfolgerungen aus Prämissen abgeleitet werden müssen, deren Gültigkeit nicht als erwiesen angesehen werden kann. Tritt Element A besonders häufig in Kombination mit Element B auf, lässt das zwei Schlüsse zu: Entweder verfügen Element A und Element B über eine gewisse Deckungsgleichheit hinsichtlich ihrer funktionalen Merkmale oder das Gegenteil ist der Fall und Element A ist
Eine solche Feststellung mag angesichts der allgemeinen Bekanntheit der biblischen Weihnachtsgeschichte und ihrer Chronologie trivial erscheinen. Tatsächlich sind die Angaben zum Geburtsort Christi in den vier Evangelien aber zum Teil widersprüchlich. Otfrid folgt hier Lk, 2, 6, wonach Jesus in Bethlehem geboren worden sei, bevor seine Eltern mit ihm nach Nazareth zurückkehrten.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
181
ohne Element B nicht in der Lage, entsprechende Aufgaben selbst zu erfüllen. Besonders im Hinblick auf etwaige aspektuelle oder textgliedernde Funktionen des Präfixes gi- stellt sich dieses Problem, da über das Ausmaß seines inhärenten temporalsemantischen Potenzials keine Einigkeit besteht. Neben der Darstellung der quantitativen Verhältnisse ist es also notwendig, die einzelnen Bedeutungskomponenten innerhalb bestimmter Kontexte zu segmentieren, um letztlich überhaupt eine potenzielle Systematik erkennen zu können. Ein Überblick über die textgliedernden Angaben, die den Präterita im Hauptsatz beigeordnet sind, soll dabei helfen, die Suchrichtung für ein weiteres funktionsanalytisches Vorgehen zu bestimmen. Tabelle 29 zeigt alle temporalen Kontextangaben im Hauptsatz bei Otfrid, die präteritale indikativische Verbalhandlungen spezifizieren:138 Tabelle 29: Textgliedernde Angaben im präteritalen HS bei Otfrid (IND/NR). OTFRID
Bedeutung
Beleg
PRÄT – gi n (%)
PRÄT + gi n (%)
GZ
‚zu diesem Zeitpunkt‘
in thesen stunton in then stunton zi thera fristi thes thritten dages thes selben dages thrio dages ziti (mitten) then dag in morgan frua in sinen dagon in dagon eines … manag jar in jugundi sar(e) after (thiu) sid thanne lango unz erist ju nu tho
(,%) (,%) (,%)
− − − − − − − − − − − − − (,%) − − − − − − (,%)
‚am […] Tag‘
‚am Morgen, früh‘ ‚in […] Tagen …‘ ‚viele Jahre‘ ‚in der Jugend‘ ‚sofort‘ ‚daraufhin, danach‘
‚lange‘ ‚bis zu …‘ ‚zuerst‘ ‚einst‘ ‚nun‘ ‚da‘ (temp.)
Die Tabelle weist die Zahlenwerte für alle textgliedernden Angaben innerhalb der Hauptsätze in NR an, deren Temporalwert in Abhängigkeit zum ‚narrativen Jetzt‘ der Erzählung bestimmbar ist.
182
5 Empirische Untersuchung
Tabelle 29 (fortgesetzt ) OTFRID
Bedeutung
Beleg
PRÄT – gi n (%)
PRÄT + gi n (%)
VZ
‚zuvor, eher‘
er
NZ
‚bald‘ ‚fürderhin‘ ‚in Ewigkeit‘ ‚für immer‘
bald furdir in ewon iogilicho
(,%)
− − − −
unspez.
‚immer‘
iamer emmizigem dages inti nahtes io ofto
(,%)
− − − (,%) −
(%)
(%)
‚Tag und Nacht‘ ‚je, (immer)‘ ‚oft‘ Gesamt
Die Tabelle zeigt zunächst die starke Abhängigkeit der präteritalen Äußerungen von zusätzlichen Adverbien und Partikeln zur temporalen Kontextualisierung. Am häufigsten spezifizieren diese die Referenzzeit, die mit dem ‚narrativen Jetzt‘ zusammenfällt, dienen also als Marker der Gleichzeitigkeit. Auffällig, aber nicht verwunderlich ist demnach die herausragende Stellung der Partikel bzw. des Adverbs tho innerhalb narrativer Passagen, welches deutlich mehr als die Hälfte aller temporalen Kontextangaben stellt. In seiner koordinierenden Funktion im Hauptsatz kennzeichnet tho den Beginn und implizit auch das Ende einer Episode bei Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme einer etablierten Topikzeit, die vor der Sprechzeit liegt. Daher kann tho als prototypischer Marker von sequenziellen Handlungsverkettungen im Ahd. angesehen werden und übernimmt damit die Aufgabe, die in Aspektsprachen häufig den perfektiven Verben zukommt (vgl. Heindl 2017: 52). Aus der Perspektive informationsstruktureller Ordnungen ist dabei die Stellung des Adverbs im Verhältnis zur Position des Finitums als entscheidender diskursstrategischer Faktor zu berücksichtigen, wie Donhauser / Petrova (2009) am Beispiel des ahd. Tatian zeigen konnten: Ist tho in V1-Sätzen dem Verb nachgestellt, signalisiert es eine neue Topikzeit, während es in initialer Posi-
Die negierte Verschmelzungsform ahd. nio ‚nie‘, die bis zum Mhd. (→ nie) einen deutlichen Frequenzzuwachs erfährt, ist bei Otfrid mit zwei Belegen insgesamt noch sehr schwach entwickelt. Im Heliand (s. u.) dagegen ist der Klitisierungs- bzw. Lexikalisierungsprozess bereits weiter fortgeschritten. Die innovativen Tendenzen des as. Tempussystems werden also auch innerhalb des adverbialen Formeninventars sichtbar.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
183
tion in V2-Sätzen auf eine bereits etablierte Topikzeit referiert (vgl. Donhauser / Petrova 2009: 21). Das Adverb verhält sich demnach stellungsmäßig wie andere Ausdrücke informationsstruktureller Bezüge, etwa Personenreferenz. Wie im Tatian ist auch bei Otfrid die beschriebene Systematik der Diskursreferenz noch funktionsfähig, was in narrativen Kontexten leicht nachvollziehbar ist. Besonders oft begegnen V1-Sätze mit nachgestelltem tho in Kapiteleinleitungen, wenn auf einen Kommentar wieder eine narrative Passage folgt. Beleg (5) beginnt mit einer Ausdeutung der Geschichte der Hirten, denen ein Engel erscheint, um die Geburt Christi zu verkünden. Das Amt des Bischofs wird von Otfrid in Exposition evaluiert und dadurch dem Rang der biblischen Engel gleichgesetzt. Daraufhin folgt eine Kapitelgrenze und eine neue narrative Episode, die mit einem postverbalen tho eines V1-Satzes eingeleitet wird: (5)
Bíscof, ther sih wáchorot ubar krístinaz thíot, ther íst ouh wirdig scónes éngilo gisíunes. Thie éngila zi hímile flugun síngente in gisíht frono; thar zámun se scono. (O I, 12, 31–34) ‚Ein Bischof, der wacht über das Christenvolk, der ist gleichermaßen wert wie der Anblick der Engel. Die Engel flogen singend zum Himmel In herrlichem Angesicht, da geziemten sie sich schön.‘ [Kapitelgrenze] Spráchun tho thie hírta, thie selbun féhewarta (sie áhtotun thaz ímbot, thiu selbun éngiles wort): Tho fuarun sie ílenti joh filu gáhonti; Irhúaben sie sih fílu frua, sie thahtun hárto tharzua. (O I, 13, 1–8) ‚Es sprachen da die Hirten, dieselben Viehhüter (sie achteten das Gebot desselben Engels Wort): Da fuhren sie eilend und mit großer Hast; Erhoben sie sich in aller Früh, darauf waren sie fest bedacht.‘
Nach Einführung der kapiteleinleitenden Sequenz, in der die Hirten beschließen, sich sofort auf den Weg zu machen, wird die etablierte Topikzeit in der nachfolgenden Erzählung erneut aktualisiert, was mit einem präverbalen tho in Kombination mit V2-Stellung gekennzeichnet wird.
184
5 Empirische Untersuchung
Das beschriebene Muster ist für jede verbale Klassen innerhalb von NR gut belegt.140 Der Anteil der gi-präfigierten Verben an allen Sequenzen mit tho entspricht der ausgeglichenen Verteilung des Präfixes in den Hauptsätzen insgesamt. Es bestehen keinerlei Einschränkung in syntaktischer oder semantischer Hinsicht, darüber hinaus lassen sich auch keine lexikalischen Disproportionalitäten feststellen, die bei dieser vergleichsweise geringen Beleganzahl zu statistischen Verzerrungen führen könnten. Sowohl bei den Simplizia als auch den Derivaten sind in der Funktion als Episodizitätsmarker sehr oft Wahrnehmungsund Fortbewegungsverben belegt, die sich aufgrund ihrer Semantik am besten zur textuellen Gliederung eignen. Dementsprechend häufig liegen grenzbezogene Verbalhandlungen vor, die durch die geschilderten Sachverhalte die Erzählung in eine neue Domäne überführen, entweder im mentalen oder wie bei Ortswechseln im physikalischen Sinne. Wegen der geringeren Frequenz der gipräfigierten Verben insgesamt entsteht dadurch der Eindruck, die meist grenzbezogenen Derivate würden hier vorrangig aspektuelle Aufgaben erfüllen. Das Nebeneinander von Simplex und Derivat in vergleichbaren Kontexten verdeutlicht aber, dass eine solche Zuordnung nicht sinnvoll ist, vgl. Beleg (6): (6)
Gisah tho drúhtin einan mán blíntan gibóranan; wás er fon gibúrti in thera selbun úngiwurti. Frágetun tho thánana thie sine holdun thégana, Óba thiu selba blínti fon súnton sinen wúrti, (O III, 20, 1–4) ‚[Es] sah / erblickte da der Herr einen blind geborenen Mann; Er war von Geburt an in derselben leidlichen Lage. [Es] fragten ihn da daraufhin die ihm so lieben Jünger, ob dieselbe Blindheit von seinen Sünden herrührte.‘
Vgl. dazu auch die Daten von Schaller (2014: 270), die zeigen, dass V1-Sätze in Kombination mit tho in Otfrids Evangelienharmonie ausschließlich in Kontexten der Narration Verwendung finden. Hier finden sich auch genauere Analyse der Funktionen von V1-Sätzen insgesamt und ihren Auswirkungen auf das vermeintliche ahd. Aspektsystem, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Schaller (2014: 280) konkludiert, dass angesichts der häufigen Verwendung von gi- in V1-Sätzen die Wortstellung nicht als aspektsensitiver Kontextfaktor geeignet ist. Da sie grundsätzlich von der perfektivierenden Funktion von gi- (und fast allen anderen Präfixen) ausgeht, ist dieses Urteil nachvollziehbar. Löst man sich von dieser Funktionszuweisung, sind die Ergebnisse dieser Arbeit wohl einer Revision zu unterziehen, da die grundsätzlich präzisen Beobachtungen hinsichtlich der textpragmatischen Verteilung von V1-Sätzen und ihrer diskursreferenziellen Funktionen in sich stimmig sind. Sie eignen sich nur nicht dazu, ein Aspektsystem zu beschreiben, das mit der Verteilung einzelner verbaler Formklassen korreliert, was angesichts der bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit nicht überrascht.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
185
Hier liegen zwei episodeninitiale V1-Sätze mit nachgestelltem tho vor, die jeweils ein singulatives Verbalereignis beinhalten, einmal mit dem Derivat gisah, einmal mit dem Simplex fragetun. Die Motivation für die Initiierung einer neuen narrativen Episode ist hier im topikalen Wechsel des Diskursträgers begründet, der sich durch ein neu eingeführtes agentives Subjekt ausdrückt. Das diskursreferenzielle System ist also nicht notwendigerweise an ein Zeitintervall gebunden. Die Erweiterung durch thanana ‚darauf‘ verdeutlicht, dass zur Spezifizierung des temporalsemantischen Kontexts sogar häufig zusätzliche adverbiale Gruppen nebengeordnet werden müssen. Die verblasste Semantik von tho und seine Verwendungshäufigkeit deuten auf einen hohen Grammatikalisierungsgrad hin. – Weder die ursprünglich lokale noch die sekundäre temporale Bedeutung werden im eigentlichen Sinn indiziert. Mit der Festlegung der V2-Struktur im Hauptsatz, die ab dem Spätahd. zu beobachten ist, verliert die binäre diskursreferenzielle Systematik an Bedeutung und ist im Mhd. nicht mehr nachweisbar. Die Partikel tho (→ mhd. dô) dagegen kann ihre Stellung als temporale Anapher der etablierten Topikzeit behaupten (vgl. Zeman 2010: 134). Auch die verbliebenen ge-Verben des Mhd. zeigen im Vergleich zum Simplexverb keine besondere Affinität zu Kontexten der ikonischen Handlungsfolge. Die ahd. Daten legen nun nahe, dass diese scheinbar willkürliche Verteilung nicht als Ergebnis eines Auflösungsprozesses der ehemaligen Systematik zu verstehen ist. Die grundsätzliche Funktion des Präteritums als Tempus der Narration und der sequenziellen Handlungsfolge erweist sich seit jeher als einerseits offen für temporaladverbiale Spezifizierungen, andererseits dominant gegenüber aspektuellen und aktionsartlichen Bedeutungskomponenten, die in der Verbsemantik angelegt sind. Im Gegensatz zu tho verfügen andere temporale Kontextangaben nicht über ein vergleichbares Prototypenpotenzial als narrativer Marker. Die deutlich spezifischere Semantik steht dieser Entwicklung im Wege. Das hochfrequente Adverb sar ‚sofort‘ ist innerhalb der Kontexte der Gleichzeitigkeit das wichtigste Mittel der temporalsemantischen Spezifizierung von Verbalhandlungen. Aus nachvollziehbaren Gründen zeigt es eine gewisse Tendenz zu inchoativ verwendeten Simplexverben der Fortbewegung im Sinne von ‚sich sofort auf den Weg machen‘, etwa bei ahd. faran ‚fahren, gehen‘, fuoran ‚führen‘, ilen ‚eilen‘ oder folgen ‚folgen‘ usw. Selten liegen punktuelle Verbalhandlungen vor, erneut ist hinsichtlich der Verteilung kein Unterschied zu den Derivaten zu erkennen. Tatsächliche Kontrastbelege sind aufgrund des niederfrequenten Auftretens von gi- nicht oft zu finden, bestätigen allerdings die durch die quantitativen Verhältnisse naheliegende Vermutung, dass die Wahl von Simplex und Derivat innerhalb der Narration auch dann nicht von temporalsemantischen Kontex-
186
5 Empirische Untersuchung
tualisierungen abhängig ist, wenn kein definiter diskursreferenzieller Marker vorliegt, vgl. Beleg (7) und (8): (7)
Ér quam untar wóroltthiot, thaz er in kúndti thaz líoht, joh gizálta in sar tház, thiu sálida untar ín was. (O II, 2, 8) ‚Er kam unter die Erdenmenschen, um ihnen das Licht zu verkünden, und er verkündete ihnen sofort, dass die Seligkeit unter ihnen war.‘
(8)
Thaz wára zált er imo sár joh spráh ouh zi imo sús in war: (O IV, 15, 18) ‚Das (wahrlich) erzählte er ihm sofort und sprach auch zu ihm in Wahrheit:‘
Die temporalaspektuelle Semantik von Verba dicendi ist skopusbedingt generell schwierig zu bestimmen, vor allem in redeeinleitender Verwendung. So könnte man argumentieren, dass das Simplex in (8) keine ikonische Handlungsfolge indiziert, da der Handlungsakt nur angekündigt und nicht per se vollzogen wird, wie es in (7) durch das Derivat geschieht. Allerdings gibt es auch Kontexte, in denen Derivate neben Simplizia in redeeinleitender Funktion gebraucht werden, vgl. (9): (9)
Er fíngar sinan thénita, then júngoron sar tho zélita, joh sár in tho giságeta thia sálida in thar gáganta. (O II, 7, 9) ‚Er streckte seinen Finger aus, berichtete seinen Jüngern gleich, und verkündete ihnen da zugleich, dass die Seligkeit ihnen entgegenginge.‘
An diesem Beispiel tritt der Gegensatz von gestivem Simplex und faktivem Derivat besonders deutlich hervor. Die diskursreferenziellen und temporalsemantischen Kontextangaben sind mit sar […] tho identisch, verschiedene aspektuelle oder aktionsartliche Lesarten drängen sich nicht auf. In den prototypischen Kontexten der präteritalen Referenzzeit, die als Zeitintervall des ‚narrativen Jetzt‘ etabliert oder aktualisiert wird, ergibt sich hinsichtlich der Gliederung von ikonischen Handlungsfolgen für das Ahd. ein klares Bild einer streng sequenziellen Strukturiertheit, wie sie auch in späteren Sprachstufen vorliegt. Zumindest für den Hauptsatz scheint bei Otfrid diesbezüglich eine stabile Systematik vorzuherrschen, der alle anderen diskurs- und temporalsemantische sowie etwaige verbalkategoriale Inhalte untergeordnet
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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werden. Innerhalb der narrativen Kontexte der Gleichzeitigkeit zur Referenzzeit gibt es daher auch keinen funktionalen Überlappungsbereich des Präteritums mit den periphrastischen Perfektformen. Die Aktualisierung des sprecherbezogenen Referenzsystems ist innerhalb von NR selten notwendig. Dennoch lässt sich ein einzelnes haben-Perfekt in diesem Diskursmodus finden, wenn auch nur in redeabschließender Verwendung: (10) Er hábet in thar gizáltan dróst mánagfaltan fon sin sélbes gúati, so slíumo so er irstúanti. (O IV, 15, 55) ‘Er hat ihnen da (noch) vielfältigen Trost versprochen von seiner selben Kraft, sobald er auferstanden wäre.‘ An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass die Unterscheidung binärer Textmodi bei Otfrids Evangeliendichtung nicht immer leicht ist. Grundsätzlich ist die Passage Teil eines narrativen Kapitels, in dem Christus seine Jünger auf seinen bevorstehenden Tod vorbereitet und ihnen Trost spendet. Es liegt allerdings keine sequenzielle Handlungsfolge vor, vielmehr fasst der Autor hier die zuvor geschilderten Sachverhalte noch einmal zusammen. Der Akt des Versprechens der Wiederauferstehung wurde bereits davor im Rahmen einer direkten Rede des Handlungsträgers dargestellt (vgl. dazu auch Dentler 1997: 113). Dieses auf den ersten Blick untypische Perfekt transportiert also keine vordergründigen Informationen im Sinne einer narrativen Progression, obwohl es der einzige Beleg der Konstruktion ist, die nicht als Resultatsperfekt klassifizierbar ist, sondern eine tatsächliche Tempusfunktion erfüllt (vgl. Gillmann 2016: 193). Mit dem Wechsel in das sprecherbezogene Referenzsystem wendet sich Otfrid an sein Publikum, um diesem die wesentlichen Geschehnisse ins Gedächtnis zu rufen.141 Das noch unterentwickelte Funktionsspektrum des Perfekts verhindert, dass die Form in Konkurrenz zu synthetischen Präterita innerhalb von NR treten kann. Derartige marginale Erscheinungen sind also nicht geeignet, einen Integrationsprozess der
Das Perfekt habet […] gizaltan ist auch deshalb bereits öfter in den Fokus der Forschung geraten, weil es ein ansonsten selten belegtes flektiertes Partizip aufweist (vgl. Kuroda 1999: 59). Da das Partizip aber offensichtlich nicht adjektivisch gebraucht wird, ist die Motivation für die Flexion nicht nachvollziehbar. Gillmann (2016: 199) sieht in Anlehnung an Fleischer (2007) einen Reimzwang aufgrund des Adjektivs managfaltan vorliegen. Das würde allerdings bedeuten, dass hier entweder eine gewisse Notwendigkeit bestanden hätte, das Perfekt zu verwenden, oder dessen Gebrauch einfach nur als stilistisches Mittel des Dichters anzusehen ist. Otfrid reimt an einigen anderen Stellen seines Werkes das Adjektiv managfalt mit unterschiedlichen präteritalen Formen des Verbs (gi)zellen. Wäre es ihm ein Anliegen gewesen, die Perfektform in dieser Passage zu vermeiden, wäre das ohneweiters möglich gewesen.
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5 Empirische Untersuchung
periphrastischen Tempora in narrativen Kontexten nachzuzeichnen. Ein solcher ist im Ahd. noch nicht zu erahnen. Die Übersicht zu den textgliedernden Angaben im Ahd. bei Otfrid zeigt, dass in der prototypischen des Präteritums im Hauptsatz nur selten Kontexte der Vorzeitigkeit indiziert werden. Natürlich werden dabei nicht die Belege erfasst, in denen eine solche Lesart ohne zusätzliche temporaladverbiale Spezifizierung möglich ist. Dabei handelt es sich allerdings nur um vereinzelte Zweifelsfälle, bei denen ein zeitlicher Rückgriff innerhalb der Narration zwar interpretatorisch möglich, aber nicht eindeutig oder besonders naheliegend ist. Wie bereits erwähnt, ist markiertes achronologisches Erzählen generell ein Epiphänomen in der frühmittelalterlichen Literatur. Von den vier Verben, die im Hauptsatz mit dem Adverb er ‚zuvor, eher‘ modifiziert werden, sind zwei Simpliziatanta, nämlich queman ‚kommen‘ und wesan ‚sein‘, die als Kontrastbelege nicht geeignet sind. Die beiden anderen Verben stehen dafür bei gleichem lexikalischem Stamm sogar in Opposition zueinander, nämlich sehan und gisehan ‚sehen, erkennen‘. Beide treten nicht nur in Vorzeitigkeitskontexten auf, sondern darüber hinaus auch negiert, was einen Vergleich erleichtert: (11) Ni sáhun sie nan sízen untar scúalarin ér, noh klíban themo mánne, ther se inan lérti wane. (O III, 16, 9) ‚Nie hatten sie ihn zuvor unter den Schülern sitzen sehen, noch dem Manne folgen, der sie [Anm.: = die Schrift] ihnen lehrte.‘ (12) Thia súnnun joh then mánon so úbarfuar er gáhon, joh állan thesan wóroltring, ni gisah man ér io sulih thíng; (O V, 17, 26) ‚Die Sonne und den Mond ließ er sofort hinter sich zurück, und diesen ganzen Erdenring, nie hatte man so etwas zuvor gesehen.‘ Wie bei allen anderen Wahrnehmungsverben ist der Unterschied von Simplex und Derivat bei (gi)sehan auch unter der Annahme von Gestivität und Faktivität nicht einfach zu deuten, da der Effekt der Verbalhandlung nur am Subjekt selbst sichtbar wird und der betroffene Aktant die Beziehung des Subjekts zum erschlossenen Gedächtnisinhalt ist (vgl. dazu auch Kap. 2.2.2). In Beleg (11) berichtet Otfrid von einer Predigt Christi im Tempel. Das gelehrte Volk wundert sich über seine Kenntnis der heiligen Schrift, wo sie ihn doch noch nie als Schüler der Priesterschaft gesehen hatten. Tatsächlich hatte er nie studiert und tat das auch später nicht. Es ist aber nicht das ‚Nicht-Sehen‘, was die Menschen beeindruckt, sondern der Umstand, dass jemand aus dem einfachen Volk im
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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Tempel predigt. In Beleg (12) dagegen wird das negierte Ereignis mit dem Bericht des tatsächlichen Vollzugs einer Handlung und dem damit verbundenen Staunen der Jünger kontrastiert: Diese werden Zeugen der einzigartigen Himmelfahrt Christi werden, derer zuvor noch kein Mensch gewahr wurde. Die Kontexte der Vorzeitigkeit können sowohl von Simplizia als auch Derivaten beschrieben werden. Die wenigen Belege im Hauptsatz lassen keine Tendenz der einen oder anderen Form erkennen. Damit eröffnet sich auch nur ein minimaler Konkurrenzbereich mit dem periphrastischen Plusquamperfekt, das nur zwei Mal im indikativischen Hauptsatz und generell nie mit Temporaladverbien gebraucht wird. Die eklatante Differenz zu den as. Plusquamperfektformen, von denen im narrativen Modus alleine 51 Belege im Hauptsatz zu verzeichnen sind (s. u.), zeigt, dass eine Gegenüberstellung der Formen und ihrer temporalsemantischen Funktionen in den einzelnen Sprachräumen nicht imstande ist, ohne den Einbezug pragmatischer Faktoren die unterschiedlichen Verhältnisse adäquat darzustellen. Die Vorzeitigkeitslesart der Plusquamperfektformen wird einerseits durch die morphologische Form und andererseits durch den Kontext gestützt. Der Unterschied zu den synthetischen Präterita jeglicher Art liegt in der Betonung eines der Verbalhandlung entsprungenen andauernden Resultats, vgl. Beleg (13): (13) Thaz hábeta mit then máhtin ther éwinigo drúhtin ubarwúntan, thaz ist wár, (O V, 14, 13–14) ‚Das hatte durch seine Allmacht der ewige Herr überwunden, das ist wahr.‘ Die temporalaspektuelle Funktion der Konstruktion steht im Kontrast zu den synthetischen Formen, die meistens keinen Resultatsbezug aufweisen und sich ihrerseits viel näherstehen als die periphrastischen Konstruktionen und die präfigierten Präterita. Was auch immer den Rückzug der Derivate in narrativen Kontexten initiiert hat, die Emergenz der Perfekt- bzw. Plusquamperfektformen hat ursächlich nichts damit zu tun. Eine temporale Funktion des gi-Präfixes konnte bislang in den Hauptsätzen nicht nachgewiesen werden, die von manchen Autoren festgestellte Tendenz der Derivate zu Kontexten der relativen Temporalität lässt sich in dieser syntaktischen Umgebung nicht fassen. Das zeigen auch die Belege der ‚präteritalen Nachzeitigkeit‘, die durch die temporalen Angaben wie bald ‚bald‘, furdir ‚fürderhin‘, in ewon ‚in Ewigkeit‘ und iogilicho ‚für immer‘ indiziert wird. In dieser
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5 Empirische Untersuchung
Funktion ist kein Derivat belegt, obwohl die verwendeten Simplizia grundsätzlich als Basis geeignet wären, vgl. (14): (14) Sie iz állaz thar irkántun, so thie éngila in gizáltun, thes lóbotun sie iogilicho drúhtin gúallicho (O I, 13, 23) ‚Sie fanden da alles so vor, wie es die Engel ihnen erzählt hatten, und darum priesen sie von nun an den mächtigen Herrn.‘ Neben der narrativen sequenziellen und der relativen Verwendung des Präteritums im Hauptsatz gibt es auch einige Fälle, in denen das Tempus allgemeingültige, wiederkehrende oder habituelle Verbalereignisse bzw. -handlungen bezeichnet. Auch in dieser Funktion sind größtenteils Simplexverben belegt. Wie aus Tabelle 29 hervorgeht, entsprechen die quantitativen Relationen denjenigen anderer spezifisch denotierter Zeitverhältnisse. Die Abgrenzung zu Kontexten der Gleichzeitigkeit und vereinzelt zu jenen der Nachzeitigkeit ist allerdings nicht immer einfach, weswegen besonders die häufig belegten mit ahd. io ‚stets, immer, je‘ verbundenen Verben ihrerseits eine sehr heterogene Gruppe darstellen. Unabhängig von Fragen der temporalkontextuellen Situiertheit stützt die Alternanz von Simplex und Derivat das bisher gewonnene Bild einer Systematik im Ahd., die sich im Hinblick auf temporale, aspektuelle und aktionsartliche Muster neutral verhält. Im Folgenden ist zu prüfen, ob auf Basis dieser Erkenntnisse die as. Verhältnisse Aufschluss über das dynamische Potenzial der sich im Umbruch befindlichen Strukturen geben können. Wie im Ahd. ist auch im As. die prototypische Funktion des Präteritums in der Vordergrundierung von Handlungseinheiten der narrativen Textprogression zu verorten. Da der Heliand im Vergleich zu Otfrids Evangelienharmonie deutlich stärker vom narrativen Textmodus geprägt ist, ergeben sich bereits im Überblick über die typischen textgliedernden Angaben des Textes auffällige Unterschiede, die weniger auf systematische Unterschiede als mehr auf stilistische bzw. textsortenspezifische Differenzen zurückzuführen sind, vgl. Tabelle 30. Zunächst fällt auf, dass die Diversität an temporalsemantischen Angaben im Heliand höher ist als bei Otfrid. Möglicherweise ist das darauf zurückzuführen, dass die narrativen Sequenzen im Heliand im Schnitt deutlich länger sind und seltener von sprecherbezogenen Passagen durchbrochen werden. Die Marker der Textprogression, die über eine konkrete Semantik verfügen, werden insgesamt in ähnlicher absoluter Häufigkeit, aber mit mehr Variation eingesetzt. Dennoch fungiert wie bei Otfrid auch im Heliand tho als prototypischer Marker von sequenziellen Handlungsverkettungen, der Anteil der Partikel an den textgliedernden Angaben insgesamt ist sogar etwas höher. Deutlich seltener als im
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5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
Tabelle 30: Textgliedernde Angaben im präteritalen HS im Heliand (IND/NR). HELIAND
Bedeutung
Beleg
PRÄT – gi n (%)
PRÄT + gi n (%)
GZ
‚den ganzen Tag‘
‚lange (Weile)‘ ‚bis zu …‘ ‚zuerst‘ ‚einst‘ ‚da‘ (temp.)
allan langan dag antlangana dag in sinen dagon in dagon eines … aftar (thiu) eft san sid than(en) langa (huile) unz erist ju tho
(,%) (,%) (,%) (,%) (,%) (,%) (,%)
− − − − (,%) (,%) – − − − (,%)
VZ
‚zuvor, eher‘
er
(,%)
−
NZ
‚fürderhin‘ ‚in Ewigkeit‘ ‚später‘
furðor simbla sîð(or)
(,%) (,%)
− −
unspez.
‚je‘
gio nio sîð noh er oft
(,%)
− –
(%)
(%)
‚in […] Tagen …‘ ‚daraufhin, danach‘
‚weder vorher noch nachher‘ ‚oft‘ Gesamt
Ahd. ist sie jedoch in postverbaler Stellung in V1-Sätzen zu finden. Auch in dieser Hinsicht scheint das As. dem Mhd. auf bemerkenswerte Weise zu ähneln (vgl. Zeman 2010: 132). Auch aus funktionaler Perspektive scheint es bereits zu Verschiebungen innerhalb des Systems gekommen zu sein. So bezeichnet tho zwar immer in ikonischer Reihenfolge angeordnete Ereignisse, die Bedeutung der einzelnen Handlungsträger für die Konstituierung der Episodiziät selbst tritt allerdings oft in den Hintergrund, vgl. Beleg (15): (15) Uualdand frumide, hrên sie thô mid is handun, dede is helpe thar tô, that them blindun thô bêðium uurðun ôgon gioponod, that sie erðe endi himil
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5 Empirische Untersuchung
thurh craft godes antkiennien mahtun, lioht endi liudi. Thô sagdun sie lof gode, diurdun ûsan drohtin, thes sie dages liohtes brûcan môstun: (H 3579–3585) ‚Der Waltende tat es, berührte sie da mit seinen Händen, gab seine Hilfe dazu, dass dem Blinden da beide [↓Augen] wurden geöffnet, sodass sie Erde und Himmel durch die Kraft Gottes erkennen mochten, Licht und Leute. Da lobten sie Gott, segneten unseren Herrn, dass ihnen das Tageslicht beschert wurde.‘ Das postverbale tho des ersten Verses signalisiert hier zunächst den Beginn einer neuen Episode, die auch mit einem Wechsel des Handlungsträgers einhergeht. Ein erneuter Wechsel dessen liegt sechs Verse später vor, die initiale Stellung der Partikel verweist dennoch auf die etablierte Topikzeit. Vergleichbare Belege finden sich zwar auch bei Otfrid, der Wechsel des Stellungsverhaltens ist dort aber deutlich dynamischer und dementsprechend archaischer. Möglicherweise spielt dabei auch die narrative Linearität des Heliand eine Rolle, die durch eine stark anaphorische Tempusverwendung geprägt ist. Es ist naheliegend, dass hier beide Faktoren eine Rolle spielen, die sich gegenseitig bedingen. Eine vereinfachte Systematik informationsstruktureller Markiertheit begünstigt narrative Strukturen mit hohem Progressionsgrad, chronologisches Erzählen bedient sich bevorzugt an anaphorischen Mitteln der Handlungsgliederung. Obwohl der Anteil der gi-Präfixe bei Otfrid innerhalb der präteritalen Kontexte höher ist als im Heliand, zeigt die Gegenüberstellung nach temporalen Kontextangaben auf den ersten Blick, dass die as. Derivate offenbar eine etwas stärkere Affinität zu eben diesen zeigen. Erst bei einem genaueren Blick in die Daten relativiert sich dieser Eindruck: Während in der ahd. Evangelienharmonie eine recht ausgeglichene Verteilung unterschiedlicher Verben vorliegt, entfallen im Heliand von den 103 textgliedernden Kontextangaben im Hauptsatz, die einem Derivat beigeordnet sind, knapp die Hälfte (49) auf ein einziges Lexem, nämlich das hochfrequente Fortbewegungsverb giwitan. Wie in Kap. 2.2.2 schon ausgeführt wurde, handelt es sich dabei wohl um eine Lexikalisierung der faktiven Grundbedeutung, die mit ‚Kenntnis erlangen von etwas‘ paraphrasiert und dementsprechend nur über Umwege mit der Ableitungsbasis witan
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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‚wissen, kennen, (sehen)‘ in Verbindung gebracht werden kann. Es muss bezweifelt werden, dass dem Autor die diachronen Vorgänge bewusst waren, unabhängig davon ist die Wahl des Derivats hier ohnehin mangels Oppositionsbildung keine wahrgenommene perspektivische Option, sondern eine rein lexikalische Entscheidung. Vergleichbare Lexeme gibt es zwar auch im Ahd., allerdings selten in solch einer Frequenz. giwitan ist im Heliand mit 68 Belegen das mit Abstand am häufigsten verwendete Fortbewegungsverb, fast alle Vorkommen sind in narrativen Passagen zu verzeichnen. Bei Otfrid kommen dagegen unterschiedliche Lexeme wie faran ‚fahren, gehen, ilen ‚eilen‘ usw. zum Einsatz, die darüber hinaus noch alle in funktionaler Opposition zu ihrem jeweiligen präfigierten Partner stehen. Die höhere lexikalische Diversität der gi-Verben lässt sich innerhalb der prototypischen narrativen Kontexte auch quantitativ gut darstellen: Während bei Otfrid noch 33 verschiedene Lexeme als Derivat mit der Partikel tho gebraucht werden, sind es im Heliand nur noch 19. Angesichts dieser Zahlen verschärft sich das Bild des fortgeschritteneren Abbaus im As. noch einmal deutlich. Wie im Ahd. lässt sich auch im As. in den Hauptsätzen keine Interaktion von temporalen Kontextangaben und einzelnen Klassen von Verben erkennen. Aufgrund der niedrigeren Vorkommensfrequenz ist die Verteilung der Formen im Heliand nicht ganz so ausgeglichen wie bei Otfrid, aber immer noch nahe am Erwartungswert. Die übriggebliebenen Derivate verhalten sich hinsichtlich ihrer temporalaspektuellen Semantik und vor allem auch im Kontrast zum jeweiligen Simplexverb nicht anders als ihre ahd. Äquivalente. Neben einigen Verba dicendi wie gimahlian oder gisprekan und den beiden wichtigsten Wahrnehmungsverben gisehan und gihorian finden vor allem Transitiva mit konkreten Objekten Verwendung, an denen die faktive Bedeutung des Derivats am deutlichsten hervortritt, vgl. Beleg (16) und (17): (16) Thuo nâmun sia an them liudon filo diurero mêðmo, (H 5888) ‚Da nahmen sie von den Leuten viel kostbare Kleinode.‘ (17) Thô imu that uuîf ginam the cuning te quenun; (H 2708) ‚Da hat(te) sich der König die Frau genommen zur Ehefrau.‘ As. (gi)neman gehört zu den Verben, bei denen die Manipulation eines spezifischen Objekts als quasiobligatorisch angesehen werden kann. Der Unterschied zwischen Simplex und Derivat wird hier nur an der Statusveränderung des Aktanten sichtbar. In (16) liegt eine solche nicht vor, das Transferieren der Kostbarkeiten ist in seinem Wirken auf die Sphäre des subjektinternen und selbstständigen Handelns beschränkt. In (17) erhält das Objekt durch die faktive Handlung des Sub-
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5 Empirische Untersuchung
jekts den neuen Status ‚Ehefrau‘. Nicht zum ersten Mal zeigt sich, dass die Semantik der gi-Derivate im Verhältnis zum zugehörigen Simplex eine spezifischere ist. Das idiomatische ‚jemanden zur Frau nehmen‘ ist kompositionell nicht mit ‚Gegenstand X nehmen‘ zu vergleichen.142 Auf Basis der textgliedernden Angaben lassen sich im Kontext der einfachen Narration also keine qualitativen Unterschiede zwischen den ahd. und den as. Verhältnissen festmachen. Das Ergebnis der diskurspragmatischen Datenauswertung insgesamt kann durch funktionale Einzelanalysen allenfalls bestätigt werden. Entscheidend für die Verteilung der Formen ist die temporalmorphologische Beschaffenheit des Verbs. Die Verwendungshäufigkeit des gi-Präfixes ist im As. bereits stark rückläufig, was sich nicht nur in absoluten Zahlen niederschlägt. Die Hervorhebung eines von der Verbalhandlung betroffenen Aktanten ist dem as. Dichter entweder nicht mehr bei allen Verben möglich oder aufgrund der undurchsichtig gewordenen Systematik kein zwingendes Bedürfnis. Die Präfigierung beschränkt sich größtenteils auf einige Transitiva, sofern die Manipulation eines Aktanten nicht obligatorisch ist, Verba dicendi und nicht zuletzt Wahrnehmungsverben, wenn sich der Effekt der Verbalhandlung außersprachlich wahrnehmbar manifestiert, vgl. (18) und (19): (18) Thô sah the hêlago Crist up mid is ôgun, ôlat sagde themu the these uuerold giscôp, […] (H 4090) ‚Da sah der heilige Christ nach oben mit seinen Augen, sagte [↓dem] Dank, der diese Welt erschaffen hatte.‘ (19) Thô eft them mannun uuarð hugi at iro herton endi gihêlid môd, gibade an iro breostun: gisâhun that barn godes ênna standen: uuas that oðer thô, behliden himiles lioht. (H 3161)
Die spezifische Semantik der Derivate lässt sich auch im Mhd. noch erkennen. Zeman (2010: 144) stellt das vermeintliche Aspektpaar mhd. nemen – genemen im gleichen temporalen Kontext der Vorzeitigkeit gegenüber, um zu zeigen, dass auch bei Simplexverben eine plusquamperfektische Lesart grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Diese Beobachtung ist ganz richtig, sagt aber nichts über temporal-aspektuelle Unterschiede zwischen mhd. nemen und genemen aus. Die ausgewählten Belegstellen lassen sich viel besser als ‚unspezifisch‘ (spîse nemen ‚Speise zu sich nehmen‘) und ‚spezifisch‘ (urloup nemen ‚Urlaub nehmen‘) verstehen.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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‚Da den Männern ward gestärkt ihr Herz und geheilt ihr Sinn, Trost in ihrer Brust. Sie sahen das Kind Gottes da alleine stehen: War das andere da bedeckt, des Himmels Licht.‘ Das Simplex sah in Beleg (18) beschreibt erwartungsgemäß den reinen Wahrnehmungsakt. Das Derivat in (19) dagegen hebt die Wirkung des Gesehenen für die Handlungsträger hervor. Die Schilderung des Erlebens von Wundern ist daher sowohl im Ahd. als auch im As. ein typischer Anwendungskontext für das Derivat (vgl. dazu auch Schrodt 2004: § 115). Auch alle anderen präteritalen Belege von gisehan lassen sich auf entsprechende Weise deuten, es wäre an dieser Stelle repetitiv, weitere Passagen solcher Art zu besprechen. Festzuhalten gilt nach der Durchsicht der as. Verben im Modus NR: Die Opposition von Simplex und Derivat scheint in einfachen narrativen Kontexten stabil zu sein, sofern sie überhaupt vorliegt. Das ist seltener der Fall als im Ahd., wobei aufgrund von höherfrequenten lexikalisierten Formen wie giwitan die Differenz tatsächlich größer ist, als es die absoluten Zahlen darzustellen vermögen. Wie Vers H 2708 in Beleg (20) zeigt, gibt es erwartungsgemäß präteritale Formen, die eine Übertragung mit dem nhd. Plusquamperfekt aufgrund des Kontexts nahelegen. In der Geschichte vom Tod Johannes des Täufers (Mt 4, 14 / Lk 3, 19) besucht eben dieser den König Herodes, um ihn mit seinem unsittlichen Familienstand zu konfrontieren. Herodes hatte zuvor seine erste Frau verstoßen, um die Witwe seines Halbbruders zu heiraten. Durch einen narrativen Rückgriff auf das Geschehene wird der Leser über diese Umstände informiert: (20) bûide imu be theru brûdi, thiu êr sînes brôđer uuas, idis an êhti, anttat he ellior skôc, uuerold uueslode. Thô imu that uuîf ginam the cuning te quenun; (H 2706–2709) ‚Er hatte bei sich eine [↓Frau], die zuvor seines Bruders war, bis dieser anderswohin gegangen war‚ die Welt gewechselt hatte. Da hatte sich der König die Frau genommen zur Ehefrau.‘ Durch das Adverb er ‚zuvor, eher‘ des ersten Nebensatzes wird für die Episode eine neue Ereigniszeit mit den Parametern E < R < S etabliert, die mit den darauffolgenden Ereignissen in chronologischer Ordnung reaktualisiert
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5 Empirische Untersuchung
wird (E < R1 < R2 < S → E < R2 < R3 < S → E < R < S). Nicht nur in der modernen deutschen Übersetzung von as. ginam ist hier das Plusquamperfekt eine naheliegende Option, auch im As. wäre der Kontext prädestiniert für eine periphrastische Konstruktion: Eine zurückliegende Verbalhandlung führt zu einer Manipulation eines transitiven Objekts, dessen Zielverfassung zum referenzierten Zeitpunkt noch andauert. In solchen Kontexten scheint ein gewisser funktionaler Überlappungsbereich zwischen den periphrastischen Perfektformen mit haben und den Präfixen zu bestehen, der besonders in Nebensätzen noch deutlich hervortreten wird. In indikativischen Hauptsätzen dagegen ist ein solcher nur marginal vorhanden. Beschränkt man sich zunächst auf die vermeintlich explizit markierten Kontexte der Vorzeitigkeit, sind in diesen nur fünf Präterita belegt, die darüber hinaus alle Simplizia der Kopulaverben wesan und werđan in mehrteiligen Prädikaten sind, vgl. (21): (21) Iohannes uuas êr themu hêroston cûð: (H 4948) ‚Johannes war bereits vorher dem Hausherren bekannt.‘ In diesem Vers ist die Vorzeitigkeitslesart die einzig mögliche. Beleg (22) dagegen zeigt, dass eine statistische Auswertung, die einzelne Sätze ohne Rücksicht auf den erweiterten Kontext isoliert erfasst, die tatsächliche vorliegenden temporalsemantischen Kontextumgebungen mitunter nur unzureichend darstellen kann, vgl. (22): (22) uuarð êr cuman Iohannes thie guodo, (H 5896) ‚[Es] ward bereits früher gekommen Johannes, der gute.‘ Zunächst scheint hier eine gewöhnliche Handlung der Vorzeitigkeit indiziert zu werden, worauf das Adverb er hindeutet. Bezieht man die vorangehenden Verse in die Analyse mit ein, wird klar, dass der inhaltliche Duktus einer solchen Lesart unabhängig von den verbalmorphologischen und temporaladverbialen Verhältnissen entgegensteht: (23) gie im te them graƀe bêðia, Iohannes endi Petrus runnun oƀastlîco: uuarð êr cuman Iohannes thie guodo, endi im oƀar them graƀe gistuod, antat thar sân after quam Sîmon Petrus, (H 5895–5898)
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‚und sie zu dem Grabe beide, Johannes und Petrus rannten schnell; War früher angekommen Johannes, der gute. Und vor dem Grabe stand er, bis er da alsbald nachkommen sah Simon Petrus,‘ Diese Stelle lässt sich mit gegenwartssprachlichen Mitteln auch literarisch nur unzureichend übersetzen bzw. überhaupt nachvollziehen. Dargestellt werden nach individuellem interpretatorischem Vermögen hier jedenfalls chronologische Ereignisse. Selbst bei Belegen mit zusätzlichen temporaladverbialen Spezifizierungen bestehen also Zweifel hinsichtlich der jeweiligen Lesart. Umso mehr gilt das entsprechend in den Kontexten, denen derartige Modifikationen fehlen. Derer sind im Heliand jedenfalls mehr als in Otfrids Evangelienharmonie vorhanden, obwohl die genaue Anzahl schwierig zu beziffern ist. Meiner Auszählung nach gibt es im Modus NR im Hauptsatz weitere 18 Verben mit potenzieller Vorzeitigkeitslesart.143 Vier davon sind gi-Derivate, bei denen eine Übersetzung durch das nhd. Plusquamperfekt naheliegend ist, vgl. (24): (24) Manag fagonoda uuerod aftar them uuîha: gihôrdun uuilspel mikil fon gode seggean. (H 526–528) ‚Die Menge des [↓Volkes] freute sich, bei dem Heiligtum: Sie hatten gewaltige Verheißungen von Gott künden gehört‘ Diese Stelle leitet einen neuen Abschnitt ein und fasst vorherige Geschehnisse zusammen. In dieser resümierenden Funktion steht das Derivat isoliert, im Heliand werden in solchen Kontexten üblicherweise periphrastische Plusquamperfektkonstruktionen gebraucht (vgl. Behaghel 1897: § 101, Gillmann 2016: 208), vgl. etwa (25): (25) Thô habda sie that barn godes ginerid fan theru nôdi: (H 2264–2265)
Macleod (2012: 154) zählt in seinem Korpus, das ca. die Hälfte der Verben im Heliand erfasst, 40 synthetische Präterita mit plusquamperfektischer Lesart. Die meisten davon erscheinen in Nebensätzen, soweit das aus seinen Beispielen ersichtlich ist. Macleod selbst unterscheidet allerdings nicht zwischen den einzelnen syntaktischen Einbettungsebenen und äußert sich auch nicht zur Problematik der ambiguen Kontexte, weswegen das Zustandekommen der Befunde nicht ausreichend nachvollzogen werden kann.
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5 Empirische Untersuchung
‚Da hatte sie das Kind Gottes gerettet vor dieser Not:‘ In der Erzählung von der Beruhigung des Sturms durch Christus, die den Jüngern stilles Gewässer und sichere Überfahrt gewährt, schließt der Autor mit diesem Vers die Episode. 15 Belege der Konstruktion finden sich in dieser Verwendung, weitere 36 erfüllen diese Funktion nicht. Gemeinsam ist allen Plusquamperfektformen die Verlagerung der Ereigniszeit, wodurch sie sich deutlich von den synthetischen Präterita im Hauptsatz unterscheiden, die nur in seltensten Fällen eine vergleichbare Charakteristik aufweisen. Vor dem Hintergrund dieser funktionalen Distributionsmuster kann in dieser Hinsicht ein rein temporalsemantisches Konkurrenzverhältnis zwischen analytischen und synthetischen Formen ausgeschlossen werden, sowohl im Hinblick auf die Simplizia als auch die Derivate. Nach dem Hinzuziehen des as. Materials zeigen die bisherigen Analysen, dass sich im absoluten und einfachen Präteritum der Erzählung Simplex und Derivat als weitestgehend synonym verhalten, was ihre textfunktionale Verwendung betrifft. Dementsprechend ist dieser ‚unmarkierte Konkurrenzbereich‘ nicht geeignet, etwaige temporale Funktionsnischen aufzuspüren, in denen das Präfix gi- in der Phase seines Abbaus günstige Bedingungen vorfindet. Im As. ist daher für den Funktionsbereich des unmarkierten Hauptsatzes von einem Schwundprozess auszugehen, der quantitativ sichtbar wird. Die Markierung der faktiven Bedeutung der Verbalhandlung ist am häufigsten dort belegt, wo der Kontrast zwischen den beiden Polen am deutlichsten sichtbar werden kann: bei grenzbezogenen Transitiva mit einem konkretem Objekt, dessen Betroffenheitsstatus hervorgehoben wird und bei den (im weitesten Sinne ebenfalls transitiven) Verba dicendi, wenn der Akt des Sprechens auf einen außersprachlich wahrnehmbaren Effekt abzielt sowie bei Verba sentiendi, bei denen ein solcher Effekt durch den Akt der Wahrnehmung eintritt.144 Derartige Einschränkungen lassen sich im Ahd. nur in geringem Ausmaß zeigen. Sichtbar wird zwar eine etwas stärkere Affinität der Derivate zu eben den verbalsemantischen Klassen, die sich im As. hinsichtlich des Abbauprozesses als resistent erweisen, die lexikalische Diversität ist aber insgesamt deutlich höher, weswegen von einigen wenigen Simpliziatanta
Diese drei semantischen Klassen finden sich auch im Gegenwartsdeutschen bei den geVerben wieder, sofern sie nicht als spätere denominale Ableitungen gelten, etwa gebären, geloben, gebieten oder gehorchen.
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abgesehen kaum vergleichbare Restriktionsbedingungen in Bezug auf die Verwendung von gi- feststellbar sind. 5.2.1.2 Die Funktionen des Präteritums im Nebensatz (IND/NR) Als dominantes Tempus der Erzählung tendiert das indikativische Präteritum stark zur absoluten Hauptsatzverwendung, während es im Nebensatz seltener belegt ist. In der Subordination dient es meistens dazu, das Hauptsatzgeschehen zu spezifizieren, dementsprechend eröffnet sich ein Konkurrenzbereich zu anderen temporalen und modalen Mitteln. Für die hier verfolgten Ziele ist die vordergründige Frage, die es zu klären gilt, jene nach dem relativen temporalen Potenzial des Präteritums in dieser syntaktischen Einbettungsebene. Der Präfigierung kommt in diesem Zusammenhang die größte Bedeutung zu, da die bisherigen Befunde hinsichtlich einer temporalen Funktion von gi- größtenteils auf Basis der Belege im Nebensatz zustande gekommen sind. In Kap. 5.1.4 wurde gezeigt, dass der Anteil der Derivate in dieser syntaktischen Umgebung besonders hoch ist. Beschränkt man sich bei der Auszählung auf die indikativischen Formen, tritt diese Tendenz noch deutlicher zutage. Eine Differenzierung nach unterschiedlichen Satzarten zeigt außerdem, dass bei der Gegenüberstellung von Simplex und Derivat im subordinierten Gebrauch semantische Kontextfaktoren eine große Rolle spielen. Tabelle 31 zeigt einen Überblick über die entsprechenden Verhältnisse bei Otfrid, geordnet nach der absoluten Häufigkeit der gi-Derivate: Tabelle 31: Verteilung der Nebensatzarten im Präteritum bei Otfrid (IND/NR). OTFRID TEMP MOD REL OBJ SUBJ KAUS LOK FIN KONZ KOND KONS ∑Verben NS
PRÄT – gi n
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
PRÄT + gi n − −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
Gesamt n
Die höchsten Anteile verzeichnen die präteritalen gi-Derivate in temporalen und modalen Nebensätzen, während sie in Subjekt-, Objekt- und Kausalsätzen
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5 Empirische Untersuchung
deutlich unterrepräsentiert sind. In absoluten Zahlen allerdings stellen sie in keiner Gruppe die Mehrheit.145 Es wurde bereits resümiert, dass auf Basis bisheriger Erkenntnisse nicht zwingend von einer Abhängigkeitsbeziehung von relativer Temporalität und verbaler Derivation ausgegangen werden kann, obwohl eine solche vielfach angenommen wird.146 Es ist daher naheliegend, für eine abschließende Beurteilung den Fokus zunächst auf die temporalen Nebensätze zu richten, da über die Wahl der Subjunktion der Temporalwert des Prädikats am besten nachvollzogen werden kann. – Der Begriff der Subjunktion ist dabei stark simplifizierend: Durch die noch nicht fixierte Stellung des finiten Verbs ist im Ahd. die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensatz nicht immer einfach. Das unterentwickelte hypotaktische System weist ein reiches Inventar an polyfunktionalen nebensatzeinleitenden Komplementierern auf, die sich hinsichtlich ihres semantischen Gehalts und ihres Grammatikalisierungsgrades aber stark unterscheiden und oft zwischen Adverb und Subjunktion stehen.147 Tabelle 32 listet die potenziellen Konnektoren in den temporalen Nebensätzen auf: Tabelle 32: Verteilung der temporalen Konnektoren im präteritalen NS bei Otfrid (IND/NR). OTFRID
Bedeutung
so (sliumo so) tho unz thar sid er sar Sonstige Gesamt
‚als, sobald‘ ‚als, während‘ ‚während‘ ‚als, während‘ ‚seit‘ ‚ehe‘ ‚sobald‘ −
PRÄT – gi n −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
PRÄT + gi n − −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
Bei dieser geringen Beleganzahl insgesamt würde eine Unterscheidung zwischen einfachen Simplizia, Simpliziatanta, gi-Derivaten und sonstigen Derivaten die Zahlenverhältnisse deutlich verschieben. Hier sei auf entsprechende Belegauswahl in Kap. 2.2.2 verwiesen, eine erneute Besprechung solcher Beispiele wäre an dieser Stelle redundant. Ich folge bei meiner Einteilung Schrodt (2004: § 140–§ 143).
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
201
Mit insgesamt 84 Belegen ist die Subjunktion so (vereinzelt mit adverbialen Erweiterungen) das häufigste nebensatzeinleitende Element in präteritalen Kontexten. Dadurch unterscheidet sich das Ahd. stark vom Mhd., wo der Großteil der temporalen Nebensätze durch dô eingeleitet wird, während so fast völlig aus dem hypotaktischen System verdrängt worden ist (vgl. Zeman 2010: 145). Bei Otfrid liegt noch ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den beiden Formen vor, obwohl diese sich funktional bereits stark annähern. Kontexte der Vorzeitigkeit werden meistens von den Konnektoren so und tho indiziert, was im Umkehrschluss aber nicht bedeutet, dass sie ausschließlich in dieser Funktion gebraucht werden. Die semantische Ambiguität, die auch in der problematischen Übersetzung in das Gegenwartsdeutsche sichtbar wird, macht die Identifizierung von tatsächlichen relativen temporalen Verhältnissen innerhalb von Satzgefügen zu einem Wagnis. In den meisten Fällen werden diese nicht durch zusätzliche Adverbiale präzisiert und der erweiterte Kontext ist nicht immer ausreichend, um mit endgültiger philologischer Gewissheit eine entsprechende Klassifikation vornehmen zu können. Das betrifft vor allem Verben, die im gegenwärtigen Sprachgebrauch nicht mehr als lexikalische Option mit vergleichbarer Semantik zur Verfügung stehen, weswegen das inhärente aspektuelle Potenzial nur näherungsweise in literarischen Übersetzungen erfasst werden kann, vgl. Beleg (26): (26) So ther ántdag sih tho óugta, thaz siu thaz kínd sougta, tho scóltun siu mit wíllen then wízod irfúllen, (O I, 14, 1) ‚Als der achte Tag sich da offenbarte / offenbart hatte, dass sie das Kind säugte, da sollten sie mit Eifer das Gesetz erfüllen.‘ Andere Belege des Lemmas ahd. ougen weisen eine stark grenzbezogene bzw. telische Semantik auf, was im konkreten Fall eine plusquamperfektische Lesart nahelegt. Isoliert betrachtet käme auch ein gleichzeitiges temporales Verhältnis infrage. Die Übersetzung durch ein Plusquamperfekt ist hier möglich, aber nicht zwingend.148 Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Präteritum in folgendem Beleg:
Die introspektive bzw. vielmehr intuitive Methode, derer man sich mangels Alternative bei der Übersetzung und in weiterer Folge Bewertung solcher Einzelbelege bedienen muss, ist aus mehreren Gründen problematisch: Was den Gebrauch unterschiedlicher Vergangenheitstempora betrifft, herrscht für das Deutsche generell keine Einigkeit. Normative Empfehlungen stehen in der Tradition der Grammatiken klassischer Sprachen, beziehen sich meist auf schriftsprachliche Kontexte und decken damit nur einen Bruchteil des Sprachgebrauchs insgesamt
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5 Empirische Untersuchung
(27) Drúhtin after ín tho giang, so ther líut tho zigiang, joh thíe nan firlíazun thie thar zen góumon sazun. (O III, 8, 15) ‚Der Herr folgte ihnen nach, als sich die Menge da zerstreute / zerstreut hatte, und die ihn verließen / verlassen hatten, die da zum Mahl gesessen waren.‘ Der Kontext lässt auch hier ein plusquamperfektische Lesart zu, wobei Otfrids Erzählung von Christus, der über das Wasser geht, in den Einzelheiten vom zugrundeliegenden Text des Matthäusevangeliums (14, 22–14, 33) abweicht, was auf die Interpretation dieser Stelle großen Einfluss hat: Christus folgt dem Schiff, mit dem die Jünger über den See Genezareth fahren. Davor schickt er die Leute nach Hause, die am Ufer mit ihm gegessen haben. Aus diesem Beleg geht aber nicht hervor, ob sich die Menge zu dem Zeitpunkt, an dem er über das Wasser geht, bereits zerstreut hat oder dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Die Bibel ist diesbezüglich eindeutig: Christus verbringt den Tag noch alleine auf einem nahegelegenen Berg, um zu beten und kehrt erst abends zum See zurück, um diesen dann zu überqueren. Es ist anzunehmen, dass Otfrid die entsprechende chronologische Abfolge vor Augen hatte, also kann man dem Autor hier mehr oder weniger gut begründet eine bestimmte Intention unterstellen. Die telische Aktionsartensemantik der beiden komplexen Verben zigiang und firliazun stützt diese Interpretation. Es gibt einige Belege, bei denen auch unter Berücksichtigung des erweiterten Kontexts eine konkrete Entscheidung für die eine oder andere Lesart die linguistischen Basiskompetenzen überschreiten würde. Sinnvoller ist es daher, grundsätzlich nur von potenziellen Vorzeitigkeitskontexten zu sprechen. Ob sich diese letztlich auch mit den tatsächlichen historischen Lesartenpräferenzen decken, sofern hier überhaupt jemals Eindeutigkeit herrschte, ist aus der gegenwärtigen Perspektive nicht mehr nachzuvollziehen.
ab. Dieser weist in morphologischer, syntaktischer und insbesondere temporalsemantischer Hinsicht bekanntermaßen hohe Diversität auf, die sich in der Variation im horizontalen wie vertikalen Spektrum gleichermaßen widerspiegelt. Nicht nur die Übertragung von vertrauten Strukturen auf historische Texte ist fragwürdig, sondern bereits die Festlegung auf solche Strukturen selbst. Es gibt keine gesicherten Informationen darüber, welchen Stellenwert die eindeutige Markierung des relativen temporalen Verhältnisses in den altgerm. Sprachen mit ihrem reduzierten Tempusinventar vor der Entwicklung der periphrastischen Tempora überhaupt eingenommen hat.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
203
Die Mehrheit der Temporalsätze im Modus NR indiziert potenzielle Vorzeitigkeitskontexte, was die hohe Anzahl an gi-Derivaten in dieser Umgebung teilweise erklärt. Ihr relativer Anteil übersteigt jenen der restlichen Verben allerdings stark, vgl. Tabelle 33: Tabelle 33: Temporale Lesarten im präteritalen NS bei Otfrid (IND/NR). OTFRID
PRÄT – gi n
VZ GZ NZ Gesamt
% ,% ,% ,% %
PRÄT + gi n
% ,% ,% ,% %
Die Auszählung ergibt, dass die Verben ohne -gi keine auffällige Tendenz zu bestimmten relativen temporalen Kontexten zeigen. Nachzeitigkeit wird generell nur selten indiziert, was bereits an den Verwendungshäufigkeiten der jeweiligen Subjunktionen sichtbar wurde. Der Großteil der gi-Derivate hat das Potenzial, plusquamperfektische Lesarten auszulösen. Angesichts dieser distributiven Verhältnisse ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Funktion des Präfixes oft im temporalen Bereich verortet wird. Wie bereits vermutet, haben die meisten Belege aber auch in dieser Umgebung eine faktive Semantik. Diese ist nicht abhängig von der temporalsemantischen Beschaffenheit des Kontexts, wie die Belege zeigen, denen allenfalls eine potenzielle Vorzeitigkeitslesart attestiert werden kann, diese aber nicht eindeutig ist, vgl. Beleg (28): (28) was imo iz harto úngimah, tho er sa háfta gisah. (O I, 8, 2) ‚[Es] war ihm sehr unangenehm, als er sie schwanger sah / gesehen hatte.‘ In dieser Passage beschreibt Otfrid das Verhalten Josefs, nachdem er von Marias Umständen erfahren hat. Es geht aus dem Kontext nicht klar hervor, ob es sich hier um einen habituellen Vorgang bzw. eine allgemeingültige Feststellung im Sinne von ‚Es war ihm unangenehm, sie so zu sehen‘ handelt oder um eine vorangegangene und abgeschlossene Handlung, die das Unwohlsein zur Folge hat. Beides ist denkbar, aber weder das eine noch das andere bedingt hier das Setzen des faktiven Derivats. Dieses dient unabhängig von seiner temporalen Verortung der Vordergrundierung des Handlungseffekts der Verbalhandlung ‚sehen‘, der über einen Gedächtnisinhalt zu einer bestimmten Verfassung führt, die am Subjekt sichtbar wird. Nicht alle Belege sind in gleicherweise einfach zu deuten, allerdings
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5 Empirische Untersuchung
gibt es kaum ein Derivat, dem man die faktive Bedeutungskomponente absprechen könnte. Dass eine solche besonders oft in Kontexten der Vorzeitigkeit sichtbar wird, hat den Grund, dass der Effekt einer Verbalhandlung in vielen Fällen erst mit dessen zeitlich vorgelagertem Abschluss eintreten kann. Das Nebeneinander von Simplex und Derivat in temporalen Nebensätzen mit Vorzeitigkeitsbezug zeigt, dass diese Korrelation sekundärer Natur ist. Die gestiven Simplizia erfüllen auch in Vorzeitigkeitskontexten ihre Funktion der Subjektcharakterisierung aus Handlungs- und Geschehensperspektive. Im Vergleich zum jeweiligen Derivat weisen sie daher häufig eine allgemeinere und unspezifischere Bedeutung auf. Anhand dieses Gegensatzes kann auch nachvollzogen werden, warum viele Derivate aus pragmatischen Gründen Lexikalisierungsprozessen ausgesetzt sind, die im Ahd. in unterschiedlichen Stadien beobachtet werden können, vgl. Beleg (29): (29) Só sie thar tho gázun, thie in themo gráse sazun, joh mánnilih thar sát ward, so sie thes brótes giward: Gibót tho druhtin […] (O III, 6, 43) ‚Als sie da aufgegessen hatte, die da im Grad saßen, und jeder da satt geworden war, da sie sich des Brotes erfreut hatten: Da gebot der Herr […]‘ Sowohl das Simplex werdan ‚werden‘ als auch das Derivat giwerdan ‚jemandem zuteilwerden‘ sind hier in Vorzeitigkeitskontexten gebraucht. Während ward einzig die Verfassung des Subjekts beschreibt, die über eine adjektivische Prädikation präzisiert wird, nimmt giward mit seinem erweiterten Valenzrahmen ein Objekt zu sich, um einen externen Effekt am Aktanten zu konkretisieren.149 Die faktive Semantik des Verbs stellt einen (oft kausalen) Bezug zu (temporal wie inhaltlich) übergeordneten Ereignissen her. Es gibt keine Gruppe von Verben im Präteritum, die von Vorzeitigkeitskontexten grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Insgesamt zeigen inhärent telische Verben eine stärkere Affinität zur relativen temporalen Verwendung. Da der Anteil dieser unter den gi-Derivate höher ist als bei anderen Verben, gewinnt man schnell den Eindruck, es läge hier eine temporale oder aspektuelle Funktion vor. Entscheidend für die Indizierung eines Vorzeitigkeitskontexts sind
Hier zeigt sich, dass die Übergänge von scheinbar synonymen Verbpaaren und lexikalisierten Abspaltungen oft fließend sind. Letztlich unterscheiden sich alle Derivate von der Simplexbasis dadurch, dass sie über eine spezifischere Semantik verfügen. Es ist schwer, hier eine definitive Grenze festzumachen, solange beide Lemmata noch verwendet werden.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
205
letztlich die Subjunktion, die Abfolge der dargestellten Ereignisse und bis zu einem gewissen Grad die Aktionsart des Verbs. Das gilt für Simplizia wie giDerivate gleichermaßen. Das Präfix gi- löst keine Vorzeitigkeitslesarten aus, aber relative Vorzeitigkeitskontexte bieten die günstigste Umgebung für faktive Verbalereignisse. Die empirisch belegbaren Korrelationen sind daher nicht geeignet, der ahd. Präfigierung eine temporale Funktion zu attestieren. In Kontexten der Gleichzeitigkeit sind gi-Präfixe deutlich seltener anzutreffen, was sich auf Basis der beobachteten Tendenzen gut ins Bild fügt. Gleichzeitige Verbalereignisse stehen meist in keiner kausalen oder modalen Beziehung zueinander, was auch das geringe Vorkommen der Derivate in Nebensätzen mit den Subjunktionen unz und thar zeigt. Gleichzeitigkeitslesarten werden von diesen in Verbindung mit gestiven Simplizia ausgelöst, wobei auch hier kein temporalsemantisches Abhängigkeitsverhältnis feststellbar ist, sondern allenfalls ein funktionaler Überlappungsbereich, vgl. Beleg (30): (30) Unz drúhtin thar saz éino, so quam ein wíb thara thó, Tház si thes gizíloti, thes wázares gihóloti. (O II, 14, 13–14) ‚Als der Herr da alleine saß, da kam eine Frau von dort [Anm.: = aus dem Ort], um Wasser zu holen (/damit sie sich hier bemühe, Wasser zu holen).‘ Das präteritale Simplex saz beschreibt die Handlung des Subjekts, die in keiner Beziehung zum gleichzeitig stattfindenden syntaktisch übergeordneten Ereignis steht und auch sonst keine Aussage über etwaige Effekte an Geschehensbeteiligten macht. Die anhand der temporalen Teilsätze offengelegten Verteilungsmuster von Simplex und Derivat finden sich in anderen Kontexten der Subordination ebenso wieder, oft geht auch dort die faktive Perspektivensetzung mit temporaler Relativität einher. Besonders die modalen Nebensätze erweisen sich als prototypische Umgebung für gi-Präfixe, wie die Auszählung in Tabelle 31 ergeben hat: Die Derivate stellen hier fast ein Drittel aller Verben. Sie fungieren oft als anaphorische Bezugselemente, um die der Handlung zugrundeliegende Motivation hervorzuheben. Entsprechend häufig begegnen hier Verba dicendi, die in ihrer spezifischen faktiven Lesart stark performativ wirken, vgl. Beleg (31): (31) Sie namun thána thuruh nót then selbon stéin so er gibot; thaz gráb sie thar indátun, so sinu wórt giquatun. (O III, 24, 87–88)
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5 Empirische Untersuchung
‚Sie nahmen dann folgsam diesen Steinblock (vom Grab), wie er geboten hatte; Das Grab taten sie da auf, wie seine Worte es befohlen hatten.‘ Sowohl gibiotan ‚gebieten‘ als auch giquedan ‚sprechen, (befehlen)‘ reaktualisieren einen quasiimperativischen Kontext, der den im übergeordneten Hauptsatz realisierten Handlungseffekt antizipiert. Fehlt eine solche Verbindung, werden die entsprechenden Verba dicendi meist als Simplex gebraucht, vgl. Beleg (32): (32) Sin íagiwedar zílota, joh fúntun al so er ságeta; (O IV, 9, 11) ‚Von ihnen eilte jeder hin und fand alles so, wie er erzählt hatte.‘ Neben diesen prototypischen Verwendungen gibt es auch einige Zweifelsfälle. Hier eröffnet sich für den Autor ein Varianzbereich, in dem er nach stilistischem Befinden entweder ein Simplex setzt, wenn er den bloßen Bericht vor Augen hat wie in (32) oder ein Derivat, wenn die Wirkmächtigkeit des Gesagten vordergrundiert werden soll wie in (31). Aus diesem Grund ist es naheliegend, für eine gegenwartssprachliche Übersetzung auf andere lexikalische Optionen wie ‚verkünden‘, ‚offenbaren‘ oder ‚voraussagen‘ zurückzugreifen, um den Unterschied deutlich zu machen. Es ist zunächst verwunderlich, dass angesichts der Präferenz des gi-Derivats zu kausalen Relationen innerhalb von temporalen und modalen Kontexten die Prädikate kausaler Nebensätze mit dem Präfix fast unvereinbar scheinen (s. o.). Allerdings zeigt sich, dass tatsächliche wenn-dann-Beziehungen, die konkrete Handlungen bedingen, bei Otfrid kaum durch Kausalsätze beschrieben werden. Die mit den typischen Konnektoren want(a) ‚weil‘ und bi thiu ‚da(her)‘ eingeleiteten Satzadverbiale begründen die Motivation des Handlungsträgers für die im Hauptsatz ausgeführten Tätigkeiten. Häufig kommen hier Modal- und Kopulaverben zum Einsatz, die mit dem Präfix weitestgehend unvereinbar sind. Aber auch die Vollverben in diesen Kontexten dienen vorrangig der subjektinternen Charakterisierung und sind zur Bezeichnung von Handlungseffekten nicht geeignet. Typischerweise handelt es sich dabei um Emotionsverben, vgl. (33) und (34): (33) Bi thiu wúrfun siu in ínan sar thiu selbun ántwurti thar, wánta sie thaz fórahtun thaz sie untar ín er wórahtun. (O III, 20, 101–102) ‚Deshalb überließen sie ihm sogleich das Antworten,
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
207
weil sie sich fürchteten vor dem, was unter ihnen früher schon beschlossen wurde.‘ (34) Thie ánthere zi lánte quamun fériente, ér ni mohta irbítan, want er nan mínnota so fram. (O V, 13, 27–28) ‚Die Anderen kamen zu Land gefahren, Er konnte es nicht erwarten, weil er sie so sehr liebte.‘ Fast alle Belege zeigen, dass unabhängig von der temporalsemantischen Beschaffenheit der jeweiligen modalen Teilsätze immer Simplizia in ihrer prototypischen gestiven Funktion gesetzt werden. Da sich trotz Häufung der gi-Präfixe in den Nebensätzen keine zusätzliche temporale Funktionszuweisung in diesen Kontexten herauskristallisiert, verliert die Frage nach der Rolle der selten belegten periphrastischen Plusquamperfektkonstruktionen zumindest für das Ahd. weitestgehend an Interessensgehalt. In indikativischen Nebensätzen im Modus NR sind ohnehin lediglich acht Belege insgesamt zu verzeichnen, wovon wiederum nur eines mit dem Hilfsverb haben gebildet wird. Alle Konstruktionen zeichnen sich durch ihre mehr oder weniger stark ausgeprägte resultatsbezogene Semantik aus (vgl. Kap. 3.2.4). Der herbeigeführte Zustand der Verbalhandlung dauert zur übergeordneten Ereigniszeit noch an. Alle Belege mit wesan verbinden sich mit telischen Bewegungsverben, wobei der Zielzustand fokussiert wird, vgl. (35) und (36): (35) Gihórta tho ther líut thaz, thaz drúhtin thara queman was; (O IV, 2, 1) ‚[Es] erfuhren da die Leute (das), dass der Herr gekommen war.‘ (36) Thaz fón in wurti fúntan thaz ér was selbo irstántan, (O V, 11, 37) ‚Das wurde von ihnen erkannt, dass er selbst war auferstanden.‘ In diesen Fällen ist das Wirken der Handlung auf die Sphäre der subjektinternen Erfahrung begrenzt, für deren Charakterisierung üblicherweise Simplizia zur Anwendung kommen. Ein potenzieller Konkurrenzbereich zu prototypischen Kontexten der gi- Derivate eröffnet sich allenfalls bei Konstruktionen mit haben, vgl. Beleg (37):
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5 Empirische Untersuchung
(37) Bigóndun sie tho rénton fórahtelen wórton, síe in thar tho zélitun, wio síe iz firnoman hábetun: (O III, 20, 87–88) ‚Sie begannen da Rechenschaft abzulegen mit gottesfürchtigen Worten, Sie erzählten ihnen da, wie sie es vernommen hatten.‘ Bei vergleichbaren Stellen verwendet Otfrid auch gi-präfigierte Wahrnehmungsverben wie gihoren mit ähnlicher Funktion. Beide Typen zeichnen sich durch ihre Transitivität und ihr Potenzial zur Assertierung eines Nachzustands aus. Wieso der Autor sich hier für eine periphrastische Form entschieden hat, lässt sich zwar erklären, nicht aber, warum er sonst fast nie davon Gebrauch macht. Ähnlich wie im Hauptsatz sind auch in subordinierten Kontexten die periphrastischen Tempora des Ahd. aufgrund ihres geringen Vorkommens wohl kaum an einem Verdrängungsprozess beteiligt, der zu einem Rückgang der synthetischen Präterita insgesamt und zum Schwund der gi- Derivate im Speziellen führen könnte. Um solche vermuteten Verschiebungen im System sichtbar machen zu können, müssen zunächst noch die as. Daten besprochen werden. Tabelle 34 gibt einen Überblick über die Verteilung der Präteritumformen im Heliand nach der Art der jeweiligen Nebensätze, geordnet nach der absoluten Häufigkeit der gi-Derivate: Tabelle 34: Verteilung der Nebensatzarten im Präteritum im Heliand (IND/NR). HELIAND TEMP MOD REL OBJ KONS KAUS LOK SUBJ FIN KONZ KOND TEMP
PRÄT – gi n −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
PRÄT + gi n − −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
Gesamt n −
Im Vergleich zu den Daten aus Otfrids Evangelienharmonie ist in fast allen semantischen Gruppen, in denen für beide Texte sowohl Simplizia als auch Derivate (n > 5) vorliegen, ein geringerer Wert für die gi-präfigierten Verben zu
209
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
verzeichnen. Nur innerhalb der modalen Nebensätze ist der Wert mit über 41% etwas höher, worauf noch näher einzugehen ist. Im Heliand übersteigt der Anteil der Derivate innerhalb der Temporalsätze ebenfalls den Durchschnittswert, die Differenz ist im Vergleich zum Ahd. allerdings deutlich geringer. Zunächst deutet also nichts darauf auf eine funktionale Verengung bzw. Umschichtung des Präfixes hin, wenn man – wie bisher geschehen – von einem höheren Innovationsgrad des as. Systems ausgeht. Aufschluss über die temporalsemantischen Funktionen der Präterita im Nebensatz gibt auch im As. die Verteilung der temporalen Subjunktionen. Bezüglich der Identifizierung von subordinierten Teilsätzen und insbesondere ihrer semantischen Klassifizierung ergeben sich dabei die gleichen Probleme wie im Ahd. Die Zusammensetzung des Inventars an Konnektoren ist aus morphosyntaktischer und lexikalischer Perspektive recht ähnlich, allerdings deuten sich einige quantitative Verschiebungen hinsichtlich der Verwendungshäufigkeiten an, wie Tabelle 35 zeigt: Tabelle 35: Verteilung der temporalen Konnektoren im präteritalen NS im Heliand (IND/NR). HELIAND
Bedeutung
(reht/all) so tho than (langa) thar sîðor antthat er (than) hwan Sonstige Gesamt
‚als, sobald‘ ‚als, während‘ ‚als, während‘ ‚als, während‘ ‚seit‘ ‚bis‘ ‚ehe‘ ‚wenn‘ −
PRÄT –gi n
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% %
PRÄT + gi n − − −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% %
Im Vergleich zu Otfrid ist der Rückgang des Konnektors so bereits so weit fortgeschritten, dass tho die Mehrzahl der temporalen satzeinleitenden Elemente stellt. Auch das hochdeutsche System sollte diesen Entwicklungspfad gehen, allerdings sind entsprechende quantitative Verhältnisse in noch deutlicherer Form erst ab dem Mhd. belegt (vgl. Zeman 2010: 145). Das As. erweist sich damit erneut als diachrone Projektionsfläche für das Ahd. und lässt Rückschlüsse auf nicht belegte Transformationsprozesse zu. Ein großer Teil der Verben insgesamt findet sich erneut in von so und tho eingeleiteten Sätzen, was eine starke Tendenz zu relativen temporalen Verhältnissen der Vorzeitigkeit nahelegt. Das gilt für alle Verben gleichermaßen, auch wenn eine solche Affinität bei den gi- Derivaten deutlich ausgeprägter ist. Besonders die so-Sätze weisen
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5 Empirische Untersuchung
oft eine starke modale oder auch kausale Komponente auf, was nicht nur die Zuordnung zu einer konkreten semantischen Nebensatzklasse erschwert, sondern auch die Bestimmung des jeweiligen Temporalwertes, vgl. Beleg (38): (38) Reht sô he thô an is hugi tuehode, sô uuêk imu that uuater under, endi he an thene uuâg innan, sank an thene sêostrôm, […] (H 2945) ‚Als / Nachdem / da / er da in seinem Herzen zweifelte / gezweifelt hatte, da wich unter ihm das Wasser, und er in dieser Flut, versank in dem Strom, […]‘ Da es sich bei tuehon ‚zweifeln‘ um kein inhärent telisches Verb handelt, geht eine plusquamperfektische Lesart mit einer inchoativen im Sinne von ‚zu zweifeln begonnen haben‘ einher. Da auch gegenwartssprachlich das Präteritum solcher additiven Verben über eine gewisse temporalsemantische Ambiguität verfügt, ist die Festlegung auf eine konkrete historische Lesart kaum möglich. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Simplexverb des abschließenden Nebensatzes in der folgenden Passage: (39) endi that siluƀar uuarp an thena alah innan, ne gidorste it êgan leng; fôr imu thô sô an forhtun, sô ina fîundo barn môdage manodun: […] (H 5164) ‚Und das Silber warf [er] in das Weihtum, er wagte nicht, es länger zu behalten; Floh er da in Furcht, da / nachdem ihn die feindlichen Geister drohend bedrängten / bedrängt hatten.‘ Das Verb manon ‚bedrängen, treiben, bedrohen‘ hat im As. eine eigenartige Entwicklung genommen, da es im Vergleich zum zugehörigen Derivat gimanon ‚(er)mahnen‘ in vielen Kontexten zusätzliche Bedeutungskomponenten aufweist, die im weitesten Sinne eine physische Manifestation der ursprünglich mentalen Semantik darstellen. Solche Lexikalisierungsprozesse sind sonst üblicherweise bei Derivaten zu finden, die häufiger eine grenzbezogene Verbalhandlung indizieren als das Simplex. In diesem Fall verhält es sich umgekehrt. Eine Übersetzung gestaltet sich entsprechend schwierig, je nach lexikalischer Option liegt entweder eine Vorzeitigkeitslesart nahe oder nicht.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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Bezüglich des Temporalwertes sind oft nur eindeutig punktuelle Verbalhandlungen wie in (40) einer konkreten Lesart zuzuordnen: (40) Erodes uuas an Hierusalem oƀer that Iudeono folc gicoran te kuninge, sô ina thie kêser tharod, fon Rûmuburg rîki thiodan satta undar that gisîði. (H 64) ‘Herodes war zu Jerusalem über der Juden Volk erkoren zum König, so / da ihn die Kaiser dort von Rom, der reiche Herrscher, gesetzt hatte zwischen (= über) die Gefolgschaft.‘ Hier liegt eine potenzielle Vorzeitigkeitslesart vor, die im As. nicht anders als im Ahd. meistens vom Kontext bzw. der grenzbezogenen Semantik des Verbs indiziert und durch synthetische Präteritumformen ausgedrückt wird. Das Simplex settian ‚(ein)setzen‘ bezeichnet einen einmaligen Vorgang in der Vergangenheit, der der narrativen Referenzzeit vorgelagert ist. Über die Motivation hinter der nicht-präfigierten Form satta kann in diesem Fall nur spekuliert werden, der Kontext wäre eigentlich prädestiniert für ein giDerivat, da die Bedingungen einer Aktantenbetroffenheit (inklusive Statusveränderung) und einer kausalen Beziehung zwischen den einzelnen syntaktischen Einheiten erfüllt wären. Möglicherweise liegt hier eine Lexikalisierung vor: Das Derivat gisettian ist zwar im Heliand belegt, weist aber im Vergleich zum Simplex meistens eine deutlich abweichende Semantik im Sinne von ‚bringen, befestigen‘ auf, was in diesem Kontext irreführend wäre. Solche Fälle scheint es im As. deutlich öfter als im Ahd. zu geben, weshalb die Funktion der Simplizia weniger klar fassbar ist. Eine derartige Entwicklung ist nur logisch: Bei einem Abbau der Präfixe mehren sich zwangsweise die Verwendungen von Simplizia, die nicht ausschließlich in gestiver Funktion gebraucht werden. Auf die temporalsemantische Strukturiertheit des Systems scheinen solche Prozesse allerdings keinen Einfluss zu haben. Die Verteilungsmuster von gi-präfigierten und sonstigen Verben nach einzelnen Temporalitätswerten unterscheiden sich nur geringfügig von denen des Ahd., vgl. Tabelle 36. Wie bei Otfrid liegt im Heliand für Verben ohne gi-Präfix eine mehr oder weniger ausgeglichene Distribution zwischen den Lesarten der Vorzeitigkeit und der Gleichzeitigkeit vor. Im Unterschied zur ahd. Evangelienharmonie sind deutlich mehr Kontexte der Nachzeitigkeit belegt, was aber stilistischen Neigungen des Autors geschuldet ist. Was die gi- Derivate betrifft, ist erneut eine starke Tendenz zu Kontexten der relativen Vorzeitigkeit festzustellen, wie sie
212
5 Empirische Untersuchung
Tabelle 36: Temporale Lesarten im präteritalen Nebensatz im Heliand (IND/NR). HELIAND VZ GZ NZ Gesamt
PRÄT – gi n
%
PRÄT + gi n
,% ,% ,% %
% ,% ,% ,% %
bereits vielfach vermutet wurde. Bei Otfrid hat sich gezeigt, dass diese Korrelationen nicht als Hinweis auf eine temporale Funktion des Präfixes verstanden werden dürfen. Das ist insbesondere in der Gegenüberstellung einzelner Oppositionspaare in gleicher Kontextumgebung deutlich geworden. Eine solche ist für das As. nur schwer möglich, da die tatsächlichen Kontrastbelege rar gesät sind. Die im Hauptsatz feststellbaren Restriktionsbedingungen für die as. Präfigierung finden sich auch im Nebensatz unverändert wieder: Verba dicendi, Verba sentiendi, wenige Transitiva mit potenziell aktualisierbarem konkretem Objekt und Bewegungsverben, bei denen der Zweck der Ortsveränderung hervorgehoben wird, sind die Residuen des gi-Präfixes. Es ist dabei unerheblich, ob es sich bei den betreffenden Lexemen um lexikalisierte Formen handelt oder nicht, die faktive Bedeutung ist meistens nachvollziehbar. Damit geht wie im Ahd. häufig eine unmittelbare kausale Beziehung von Haupt- und Nebensatz in Vorzeitigkeitskontexten einher, auch wenn diese mangels kontrastierender Belege im As. mitunter nicht mehr so gut nachvollziehbar ist. Bei den häufig verwendeten Verba dicendi im Nebensatz überwiegen im Heliand die Derivate. Diese werden nicht anders als im Ahd. vor allem zur Betonung der Wirkmächtigkeit des Gesagten verwendet, während das seltenere Simplex den Fokus auf die Handlungsweise des Subjekts legt, vgl. (41): (41) Reht sô he thô that uuord gesprak, sô tilêt thiu luft an tuê: lioht uuolcan skên, glîtandi glîmo, endi thea gôdun man uulitiscôni beuuarp. (H 3146) ‚Als er das Wort gesprochen hatte, da teilte sich die Luft entzwei; eine Lichtwolke schien in gleißendem Glanz, und die guten Männer umfing die Wonne.‘
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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Diese Passage schließt an eine direkte Rede und dem Bekenntnis Petri zur Kirchengründung auf einer Anhöhe an. Er gelobt, an diesem Ort das Haus Gottes zu errichten, sofern es seinem Herrn gefalle. Mit seinen Worten tut sich der Himmel auf und den Jüngern Christi wird ein Zeichen gegeben. Vergleichbare Stellen lassen sich textsortenbedingt leicht finden: Die Figurenrede innerhalb von Evangeliendichtungen dient seltener der bloßen Wiedergabe von Alltagskommunikation als vielmehr der Darstellung performativer und assertiver Akte des Verkündens. Es ist daher auch naheliegend, dass das Präfix häufig mit dem Merkmal der textsemantischen ‚Wichtigkeit‘ oder pragmatischen Mitteln des emphatischen Ausdrucks in Verbindung gebracht wurde. Die Bedeutung des Gesprochenen für die verschiedenen beteiligten Handlungsträger und des daraus resultierenden Effekts tritt bei der Simplexverwendung dagegen in den Hintergrund. Der hier fehlende oder wenigstens stark hintergrundierte Kausalzusammenhang ist ausschlaggebend für die häufigere temporalsemantische Ambiguität von Simplizia in der Subordination, vgl. Beleg (42): (42) Sô he thô sô te them thegnun sprak, hêlag drohtin, sô uuarð imu is hugi drôƀi, uuarð imu gisuorken seƀo, endi eft te them gesîðun sprac, the gôdo te them is iungarun: […] (H 4569) ‚Als er da so zu den Leuten sprach / gesprochen hatte, der heilige Herr, da wurde ihm das Gemüt getrübt, [da] wurde ihm die Seele finster, als er zu seinem Gefolge sprach, der Gute zu den seinen Jüngern: […]‘ Diese narrative Sequenz steht zwischen zwei Redeabschnitten. Im ersten Abschnitt begrüßt Christus seine Jünger beim letzten Abendmahl und verkündet das ihm bevorstehende Martyrium. Danach kommt es zu einem Wechsel seiner Gemütsstimmung, die auf den zweiten Redeabschnitt verweist, in dem der bevorstehende Verrat durch Judas vorausgesagt wird. Diese subjektcharakterisierende emotionale Verfasstheit ist aber nicht durch den Zweck der Rede bedingt. Dieser fehlende Konnex erlaubt für das Simplex sprak des einleitenden Nebensatzes auch eine Gleichzeitigkeitslesart, obwohl kontextbedingt die Indizierung eines vorzeitigen Handlungsabschlusses naheliegender ist. Wie bereits am Beispiel von as. (gi)neman ersichtlich geworden ist, lässt sich der Gegensatz von Simplex und Derivat am besten bei telischen Verben beschreiben, die die Manipulation eines Objektes bzw. eines Aktanten beinhalten. Der Vollzug der Verbalhandlung ist dabei in temporalen Nebensätzen eine Notwendigkeit, vgl. Beleg (43):
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5 Empirische Untersuchung
(43) Thô imu thar te bedu gihnêg, thô uuarð imu thar uppe ôðarlîcora uuliti endi giuuâdi: […] (H 3123) ‚Als er sich zum Gebet geneigt hatte, da wurde ihm dort oben [zum Schönen] verwandelt, Aussehen und Gewand: […]‘ Das Setzen des Derivats kann hier unabhängig von temporalsemantischen Merkmalen zweifach begründet werden: As. gihnigan ‚(sich) neigen‘ weist im Vergleich zum Simplex die spezifischere Semantik ‚sich zum Zweck von X neigen‘ auf, in diesem Fall konkretisiert die Präpositionalphrase te bedu ‚zum Gebet‘ den Zweck.150 Darüber hinaus besteht nicht nur ein temporaler, sondern auch ein kausaler Bezug zum übergeordneten Hauptsatz. Es sind diese wenigen telischen (und meist transitiven) Verben, bei denen das Präfix seinen höchsten Grad an Autonomie zeigt. Der weitaus größte Teil der gi- Derivate im Nebensatz findet sich wie im Ahd. dort, wo die faktive Bedeutung des Verbs das Hauptsatzgeschehen auf unterschiedliche Weise referenziert. Neben Temporalsätzen sind es erneut die Modalsätze, die als ideale Kontextumgebung für das Präfix fungieren. Fast ausschließlich kommen hier Verben des Sprechens, Zeigens und Befehlens zur Anwendung, vgl. Beleg (44): (44) dede al, sô imu the godes sunu uuordu geuuîsde. (H 3215) ‚[Er] tat alles so, wie ihm Gottes Sohn mit Worten gelehrt hatte.‘ Die meisten Derivate werden auch in modalen Nebensätzen in Kontexten der relativen Vorzeitigkeit gebraucht, ein ähnliches Bild ergibt sich für die Relativsätze. Wie es sich bereits anhand der ahd. Daten angedeutet hat, eröffnet sich damit ein potenzieller Konkurrenzbereich zum periphrastischen Plusquamperfekt. Waren es bei Otfrid lediglich acht Formen, die in entsprechender Verwendung gefunden werden konnten, sind es im Heliand 36, wovon 28 mit dem
Es ist wohl kein Zufall, dass eine schwache Kausativableitung as. gihnegian ‚neigen‘ als stark transitive Form nur mit gi-Präfix belegt ist. Vermutlich diente hier bereits das Derivat als Ableitungsbasis.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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Hilfsverb hebbian gebildet werden. Diese zeichnen sich durch einen obligatorischen Resultatsbezug aus und unterscheiden sich diesbezüglich von den giPräterita nur insofern, als bei den synthetischen Formen ein solcher nicht gegeben sein muss. Hinsichtlich weiterer verbalsemantischer Merkmale besteht eine gewisse Deckungsgleichheit: Die prädikatsbildenden Vollverben des habenPlusquamperfekt sind größtenteils transitiv, darunter befinden sich zahlreiche Verba dicendi, die übrigen Verben sind telische Intransitiva (vgl. dazu auch Gillmann 2016: 216). Gerade in Kontexten der Vorzeitigkeit kann aus textsemantischer Perspektive daher oft von einem funktionalen Naheverhältnis von giPräteritum und haben-Plusquamperfekt gesprochen werden, vgl. (45) und (46): (45) Thô uuas it all giuuârod sô, sô it êr spâha man gisprocan habdun, […] (H 375) ‚Da war es alles zur Wahrheit geworden, so wie es zuvor weise Männer verkündet hatten, […]‘ (46) Thô uurðun an themu gêrtale Iudeo cuninges tîdi cumana, sô thar gitald habdun frôde folcuueros, thô he gifôdid uuas, an lioht cuman. (H 2729) ‚Da war in diesem Jahr des Judenkönigs die Zeit gekommen, so wie es da bestimmt hatten erfahrene Volksgenossen, da er geboren war, an das Licht [der Welt] gekommen.‘ Es ist auf den ersten Blick nicht nachzuvollziehen, nach welchen Kriterien sich der Autor für ein periphrastisches Plusquamperfekt entscheidet, wenn ein funktionsgleiches Präteritum zur Verfügung stehen würde. Eine eindeutige Regel lässt sich zwar nicht ableiten, aber eine gewisse Tendenz wird bei der Gegenüberstellung prototypischer Verwendungen sichtbar: Das periphrastische Plusquamperfekt wird häufig dann gebraucht, wenn die temporale (und manchmal auch lokale) Distanz zwischen den syntaktisch und semantisch verbundenen Handlungsaussagen so groß ist, dass die beteiligten Aktanten keinen unmittelbaren Erfahrungszugriff auf die aus ihrer Perspektive vorangegangene oder vorausgehende Situation haben, wie das auch bei (45) und (46) der Fall ist. Das Präteritum dagegen kommt tendenziell dann zur Anwendung, wenn die situative und damit meist auch temporale Distanz zwischen den einzelnen Geschehnissen so gering ist, dass eine lineare chronologische Abfolge vorliegt. Im Verhältnis zum Aktan-
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5 Empirische Untersuchung
ten der übergeordneten temporalen Sequenz ist das Plusquamperfekt deiktischer Ausdruck distaler Entbundenheit, das Präteritum proximaler Erfahrbarkeit.151 Ähnliche Beobachtungen gibt es zum englischen Plusquamperfekt, das im Vergleich zu synthetischen Formen öfter als Marker für raumzeitliche Trennung fungiert (vgl. Matthews 1994: 89). Auch dem mhd. Plusquamperfekt scheint in dieser Hinsicht die gleiche textuelle Aufgabe zuzukommen (vgl. Zeman 2010: 247). Von einer Funktionsgleichheit von Plusquamperfekt und Präteritum kann auch in Vorzeitigkeitskontexten nicht gesprochen werden. Das gilt sowohl für die Simplizia als auch die Derivate. Es ist daher auch nur auf den ersten Blick widersprüchlich, dass die gi-Präfixe gerade in den Kontexten ihre Stellung am längsten behaupten können, in denen sie funktional den periphrastischen Formen scheinbar am nächsten stehen, während der Abbau dort weiter fortgeschritten ist, wo die vermeintlich konkurrierenden Periphrasen kaum zur Anwendung kommen. Die bisherigen Analysen legen nahe, dass sich hier zwei völlig unabhängige Entwicklungen in einem temporalsemantischen Koaleszenzcluster innerhalb der subordinierten Nebensätze treffen: das Verblassen der Markierung von Faktivität und die Grammatikalisierung bzw. Ausbreitung des haben-Perfekts. Der funktionale Konkurrenzbereich des gi-Präfixes ist damit aus temporalsemantischer Perspektive weiterhin vorrangig bei den präteritalen Simplizia zu verorten und nicht primär beim periphrastischen Plusquamperfekt. Im Zuge der ‚Tempusprofilierung‘, die in der deutschen Sprachgeschichte in den folgenden Jahrhunderten zu beobachten ist, werden zwangsläufig mehr analytische Tempusformen dort eingesetzt, wo einst synthetische Präterita vorherrschend waren, wodurch notwendigerweise vielen Perfektformen eine faktive bzw. gestive Semantik attestiert werden kann. Eine temporale Funktion von gi- lässt sich dadurch aber nicht ableiten. In Tabelle 36 ist ersichtlich geworden, dass im Heliand besonders häufig Kontexte der Nachzeitigkeit mit subordiniertem Präteritum indiziert werden, wobei nur selten Derivate zur Anwendung kommen. Der Großteil der Nebensätze wird durch as. antthat ‚bis‘ (→ Kognat zu ahd. unze) eingeleitet. Die jeweilige Verbalhandlung zeichnet sich durch ihre starke Grenzbezogenheit aus, die wie bei telischen und terminativen Verben aufgrund der inhärenten Verbalsemantik oder durch den Kontext aktualisiert werden kann,152 vgl. erneut (47):
Nicht zu verwechseln mit den bereits besprochenen origo-deiktischen Konzepten von ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘. Trotz der Häufung solcher Aktionsartenverben in diesen Kontexten werden kaum giDerivate verwendet, wodurch ein weiteres Mal deutlich wird, dass aspektuelle und aktionsartliche Charakteristiken im semantischen Merkmalsbündel der gi-präfigierten Verben eine untergeordnete Rolle spielen.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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(47) bûide imu be theru brûdi, thiu êr sînes brôđer uuas, idis an êhti, anttat he ellior skôc, uuerold uueslode. Thô imu that uuîf ginam the cuning te quenun; (H 2706–2708) ‚Er hatte bei sich eine [↓Frau], die zuvor seines Bruders war, bis dieser anderswohin ging / gegangen war‚ die Welt wechselte / gewechselt hatte.‘ Die Übersetzung zeigt, dass die präteritalen Formen der Verben skakan ‚weggehen, verschwinden‘ und wehslon ‚(hinüber)wechseln‘ mit einem nhd. Plusquamperfekt übertragen werden können, allerdings nicht müssen. Die durch das Präteritum von buan ‚bleiben, wohnen‘ bezeichnete Verbalhandlung des Hauptsatzes wird mit dem subordinierten Handlungsabschluss begrenzt. In dieser Funktion stehen fast ausschließlich gestive Simplizia, da die temporale Ereignisgrenze der übergeordneten Sequenz selten in der Verbalsemantik präsupponiert ist. Aus pragmatischen Gründen bietet sich daher keine Präfigierung an. Schließlich ist der hier angesprochene Bruder von Herodes nicht zu dem Zweck gestorben, seine Ehe zu beenden bzw. seine Frau zur Witwe zu machen. Eine solche atypische Interpretation wäre auch in anderen Kontexten kaum denkbar. Von den drei gi- Derivaten in Nachzeitigkeitskontexten sind zwei Belege aus bereits mehrfach angesprochenen Gründen nicht zur Kontrastierung geeignet, nämlich giwitan und gimanon. Der dritte Beleg ist ein Präteritum von gisehan mit entsprechender faktiver Semantik, vgl. (48): (48) Thea uueros aftar gengun, folgodun ferahtlîco – sie frumide the mahte – antthat sie gisâhun, sîðuuôrige man, berht bôcan godes, blêc an himile stillo gistanden. (H 660) ‚Die Männer gingen [ihm] nach, folgten fromm – sie führte der Mächtige – bis sie da sahen, die erschöpften Männer, das glänzende Zeichen Gottes, hell am Himmel stillstehen.‘ Dass hier ein Plusquamperfekt zur Übersetzung kontraintuitiv erscheint, liegt an der atelischen Aktionsartensemantik des Verbs. In solchen Fällen wird auch im Nhd. bevorzugt ein Präteritum verwendet. Erneut wird die Verbalhandlung
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5 Empirische Untersuchung
des Hauptsatzes durch das Verbalereignis des Nebensatzes begrenzt. Die Männer folgen dem Stern in dem prophezeiten Wissen, zur rechten Zeit ein Zeichen von Gott zu erhalten, um sich ihres Zielortes gewiss zu werden. Mit der Aktualisierung der temporalen Endgrenze tritt auch der faktive Wahrnehmungsakt ein. In den indikativischen temporalen Nebensätzen mit antthat wird nur ein einziges Plusquamperfekt verwendet, vgl. (49): (49) Thô geng mahtig tô neriendo Crist, antat he ginâhid uuas, hêleandero bezt: […] (H 2179) ‚Da ging der mächtige (da), errettender Christus, bis er sich [der Burg] genähert hatte, der gute Heiland: […]‘ Die explizite Markierung von relativen temporalen Verhältnissen ist in Kontexten der Nachzeitigkeit selten notwendig, da im Vordergrund die Begrenzung der vorangehenden Verbalhandlung steht und letztlich eine sequenzielle Abfolge von Ereignissen stattfindet. Das Plusquamperfekt in Beleg (49) dagegen stellt einen relativen temporalen Bezug zu den folgenden Ereignissen her, die Nachzeitigkeitslesart in Bezug auf den übergeordneten Hauptsatz ergibt sich durch die Handlungsabfolge. Ein potenzieller Konkurrenzbereich von analytischen und synthetischen Formen bleibt in Kontexten der Nachzeitigkeit insgesamt gering. Das gilt nicht nur für die Verhältnisse im As. (und Ahd.), sondern auch für jene des Mhd., wo der Gebrauch der Periphrasen zur temporal nachgelagerten Begrenzung von Verbalhandlungen ähnlich selten ist (vgl. Zeman 2010: 146). Die gegenwartssprachlichen Verhältnisse zeigen, dass das Plusquamperfekt in dieser Funktion letztlich immer eine Option darstellt, aber selten obligatorisch ist. 5.2.1.3 Zwischenfazit Die bisherigen Ergebnisse zu Funktion und Distribution der Verbalformen in prototypischen präteritalen Kontexten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Als Haupttempus der Narration ist das ahd./as. Präteritum wie erwartet größtenteils zur Aufrechterhaltung der Textprogression verantwortlich und transportiert Verbalereignisse, die vor der Sprechzeit anzusetzen sind (E = R & E < S). Es verhält sich dabei gegenüber zusätzlichen Bedeutungskomponenten aspektueller und aktionsartensemantischer Natur neutral, was besonders in der Hauptsatzverwendung klar ersichtlich ist. Die externe Begrenztheit von Ver-
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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balhandlungen wird durch die inhaltliche Gliederung indiziert. Diesbezüglich konnte außerdem festgestellt werden, dass sich Simplex und gi-Derivate weitgehend synonym verhalten, auch wenn eine gewisse Tendenz des Präfixes zu non-additiven bzw. telischen Verben nicht von der Hand zu weisen ist. Die Entscheidung für oder gegen ein Präfix ist durch die diathetische Perspektivierung determiniert und nicht von temporalsemantischen Faktoren abhängig. Das wurde nicht nur in der Hauptsatzverwendung ersichtlich, sondern auch in der Nebensatzverwendung: Die Affinität des Präfixes gi- zum Nebensatz lässt sich für beide Sprachräume dadurch erklären, dass in spezifizierenden Kontexten der Subordination die faktive Bedeutung am deutlichsten sichtbar wird. Das ist sehr oft bei temporalen Nebensätzen der Fall, weswegen hier schnell der Eindruck entstehen kann, dem Präfix gi- käme eine temporale Funktion zu, nämlich jene der temporalen Relativität. Im Kontrast zu nicht-präfigierten gestiven Simplizia zeigt sich allerdings, dass es sich dabei nur um einen pragmatischen Überlappungsbereich handelt. Dieser Umstand konnte auch als Ursache für den langsameren Abbauprozess der as. Präfixe in Kontexten der Subordination identifiziert werden: Während in der unmarkierten Hauptsatzverwendung as. gi- bereits auf einige wenige Verb-klassen beschränkt war, findet das Präfix in temporalen und vor allem modalen Nebensätzen noch besonders günstige Bedingungen vor. Diese semantisch-syntaktischen Subklassen weisen verhältnismäßig oft eine Vorzeitigkeitslesart auf, die naturgemäß für viele Derivate anzusetzen ist. Hinweise auf eine Überspezifizierung dieser temporalsemantischen Konnotation konnten aber nicht gefunden werden. Was die periphrastischen Tempora betrifft, so war vor allem ein etwaiger Konkurrenzbereich von Präteritum und Plusquamperfekt in narrativen Passagen fokussiert worden, da das Perfekt in diesen Kontexten kaum belegt ist. Der Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Formen liegt zunächst in ihrer temporal-aspektuellen Prototypencharakteristik. Für das Plusquamperfekt konnte ein obligatorischer Resultatsbezug festgestellt werden, der bei den synthetischen Präterita nur eine seltene Option darstellt, die vom Verbalcharakter des jeweiligen Prädikats abhängt. Das gilt sowohl für die präfigierte als auch nicht-präfigierte Verben. Während das Plusquamperfekt also vorrangig zur Bezeichnung eng definierter temporal-aspektueller Beziehungen verwendet wird, ist es beim gi-Präfix die Beziehung der Aktanten zur Verbalhandlung, beim Simplex die Verbalhandlung selbst, die im Vordergrund steht. Die kategorialen Inhalte des einen Musters lassen sich im jeweils anderen bei dem einen oder anderen Beleg zeigen, dabei handelt es sich aber um verbalsemantische Implikaturen. Ein Konkurrenzverhältnis zwischen analytischen und synthetischen deutet sich im Ahd. so gut wie nicht, im As. erst in geringem Ausmaß an.
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5 Empirische Untersuchung
5.2.2 Präsentische Kontexte Das germ. Präsens als Tempus der ‚Nicht-Vergangenheit‘ zeichnet sich trotz seiner Polyfunktionalität vor allem durch seine diachrone Stabilität aus, die insbesondere für die altsprachlichen Verhältnisse gilt. Seit dem Frnhd. ist eine Funktionsauffächerung des Tempus zu beobachten, womit im Vergleich zum Präteritum für die synthetischen Tempora eine gegenläufige Entwicklung feststellbar ist. Die in Kap. 5.1.3 dargestellten Verteilungsmuster der Tempusformen haben gezeigt, dass innerhalb des origo-deiktischen Bezugssystems das Präsens in beiden untersuchten Texten mit über 97% fast ausschließlich im sprecherbezogenen Diskursmuster SR vorzufinden ist, weshalb sich die folgenden Analysen auf diesen prototypischen Verwendungskontext beschränken wird. Die Isolierung und Beschreibung der prototypischen präteritalen Kontexte hat verschiedene koexistente verbalsemantische Strukturmuster offengelegt, die auch für das Präsens vorausgesetzt werden und einer empirischen Überprüfung bedürfen. In diesem Unterkapitel sind daher folgende Fragen zu klären: I) Welche Funktionen können dem Präsens in seinem prototypischen Verwendungskontext SR zugeschrieben werden? II) In welchem quantitativen und qualitativen Verhältnis stehen die einzelnen Funktionen zueinander und welche Rolle kommt dabei den gi-präfigierten Verben zu? Das Präsens zeigt eine gewisse Tendenz zur Hauptsatzverwendung, die bei Otfrid stärker ausgeprägt zu sein scheint als im Heliand (vgl. Kap. 5.1.4). Wie für die präteritalen Kontexte ist es also naheliegend, die Funktionen der präsentischen Verbalformen nach unterschiedlichen syntaktischen Einbettungsebenen zu untersuchen. 5.2.2.1 Die Funktionen des Präsens im Hauptsatz (IND/SR) In Kap. 3.2.2 wurde vorausgesetzt, dass durch die Verwendung des Präsens der zeitreferenzielle Bezug zum ‚Hier und Jetzt‘ des Sprechers zumindest in Form einer partiellen Deckungsgleichheit der Parameter E, R und S ausgedrückt wird. Die versprachlichte Verbalsituation überlappt sich also mit der zeitlichen Gegenwartssituation des Sprechers oder schließt unmittelbar an sie an bzw. geht ihr unmittelbar voraus. Im Gegensatz zum Präteritum entsteht durch die Aneinanderreihung von präsentischen Situationsschilderungen üblicherweise keine sequenzielle Ereignisabfolge. Die prototypische Gegenwartslesart des Präsens, also die Gleichzeitigkeit von Sprechzeit, Ereigniszeit und Referenzzeit, wird am deutlichsten bei stativen bzw. additiven Verben sichtbar, die die emo-
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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tionale oder physische Verfasstheit des Handlungsträgers ausdrücken, etwa ahd. wesan ‚sein‘, vgl. (50) und (51): (50) Ih bin selbes bóto sin, fora imo ist bótoscaf ouh mín, thaz ih fon niwíhte then liut zi wége rihte. (O II, 13, 7–8) ‚Ich bin dessen Bote, vor ihm [= von ihm] ist auch meine Botschaft, dass ich vom Untergang das Volk zum [rechten] Weg führe.‘ (51) „Ni bín ih Kríst“, quad er zi ín, „noh ih es wírdig ni bín; ni giduant iz mán alle, theih so hóhan mih gizélle.“ (O I, 27, 19–20) „Ich bin nicht Christus“, sagte er zu ihnen, „noch bin ich es würdig; und kein Mensch tut es, sodass ich mich selbst [nicht] so hochrühme.“ Kopulaverben neigen besonders stark zur Präsensverwendung, da sie innerhalb dialogischer Passagen unerlässlich für die Figurencharakterisierung sind. Die Gleichzeitigkeit von E, R und S macht bei solchen Verben aber keine Aussage über die Grenzen des Handlungsverlaufes, weswegen eine konkrete temporale Zuordnung im Prinzip nicht möglich ist. Negierte Sachverhalte wie in (51) verdeutlichen, dass das Präsens nicht vordergründig durch seine temporale Funktion charakterisiert werden muss, sondern als Tempus der ‚Nicht-Vergangenheit‘ hinsichtlich zeitlicher Verortungen unspezifisch ist. Das konstitutive Merkmal des Tempus ist jenes der origo-inklusiven Bewusstseinsnähe der Kommunikationsteilnehmer. Die Abgrenzung von präsentischen, futurischen und immerwährenden bzw. allgemeingültigen153 Lesarten ist dementsprechend schwierig. Allgemeingültige Sachverhalte zeichnen sich zunächst durch eine temporal linksgebundene Offenheit zu Vergangenheitskontexten aus, vgl. (52): (52) Thera férti er ward irmúait, so ofto fárantemo duit; ni lazent thie árabeit es fríst themo wárlicho mán ist. (O, II, 14, 4) ‚Er wurde müde von dem Weg, wie es dem Fahrenden oft ergeht, die Arbeit lässt keinem Ruhe, der ein wahrer Mann ist.‘
Der oft nicht eindeutige Unterschied zwischen immerwährenden und allgemeingültigen Sachverhalten liegt in der Art der Aktualisierung des Verbalereignisses, vgl. Der Mond umrundet die Erde. (= immerwährend) und Bei Vollmond schläft man schlecht. (= allgemeingültig im engeren Sinne).
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5 Empirische Untersuchung
Der aus vergangenen Ereignissen geschöpfte Erfahrungswert erlaubt es, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben, wobei Aussagen über zukünftige Verhältnisse aus den bereits beobachteten Gegebenheiten abgeleitet werden können. Es gibt also keine allgemeingültigen Präsensverwendungen, die nicht auch die Gegenwart miteinschließen. Futurische Lesarten dagegen weisen lediglich eine rechtsgebundene Offenheit auf und inkludieren mitunter die gegenwärtige Sprechzeit. In diesem Zusammenhang ist es daher sinnvoll, von Lesarten mit potenzieller Futurimplikation zu sprechen.154 Eindeutige futurische Lesarten lassen sich oft nur durch den erweiterten Kontext erschließen, wenn sonstige spezifizierende Angaben fehlen, vgl. (53): (53) Sih scéidit, so ich thir zéllu, sús thiu wórolt ellu, fríunt fone friunte mit míhilemo nóte! So sézzit er thie gúate blídlichemo múate in zésuemo rínge zi thémo selben thínge; (O, V, 20, 52–56) ‚Es wird sich teilen, wie ich dir sage, so die ganze Welt, Freund von Freund mit großer Not! So wird er die Guten dann setzen mit frohem Gemüt in einem Halbkreis zu diesem selben Gericht.‘ Diese Passage aus dem letzten Kapitel der ahd. Evangelienharmonie Otfrids ist der Exposition des Autors zuzurechnen, der von zukünftigen Ereignissen während des jüngsten Gerichts erzählt.155 Die ahd. Präsensformen können mit einer neuhochdeutschen werden-Konstruktion übersetzt werden, obwohl diese im Gegenwartsdeutschen nicht obligatorisch ist. Über das quantitative Verhältnis einzelner temporaler Lesarten des Präsens zueinander konnte bislang nichts gesagt werden. Eine Annäherung an eine Quantifizierung ermöglichen wie im Präteritum die temporalen Kontextangaben156 der untersuchten Korpustexte, vgl. Tabelle 37:
Zur Problematik der introspektiven bzw. intuitiven Methode vgl. FN 148. Im Kontext der mittelalterlichen Literatur fällt es schwer, von einer zukünftigen storyworld zu sprechen, die der Autor etabliert. Derartige erzählerische Spielarten sind erst in der säkularen neuzeitlichen Literatur anzutreffen und bleiben bis in die Gegenwart seltene narrative Emergenzen. Der Abschluss des Weltgeschehens in Form der Apokalypse stellt stoff- bzw. motivgeschichtlich eine Ausnahme in der altgerm. Literatur dar, wobei sowohl heidnische als auch christliche Erzähltraditionen miteinander verwoben werden. Der temporale Bezugswert ist in dieser Tabelle für die hochfrequenten Formen zunächst nur prototypisch erfasst. In weiterer Folge muss unter Berücksichtigung des Kontexts jeder Beleg einzeln bewertet werden.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
223
Tabelle 37: Textgliedernde Angaben im präsentischen HS bei Otfrid (IND/SR). OTFRID
Bedeutung
Beleg
PRÄS – gi n (%)
PRÄS + gi n (%)
GZ
‚zu diesem Zeitpunkt‘ ‚in dieser Zeit‘ ‚alle Tage / Zeiten‘
zi thera fristi in thia wila alla daga alla zit fon jugendi fon jare zi jare sar(e) nu tho hiuto iamer emmizigem io oft niamer noh
(,%) (,%) (,%) (,%) (,%) (,%)
− − − − − − − − − − − (,%) − − −
‚bis zu …‘ ‚einst‘ ‚dann‘
after (thiu) furdir in ewon emmizigem hiunaht iogilicho iowanne unz (in ewon / enti) ju thanne
(,%) (,%) (,%)
− − − − − − − −
−
−
− (%)
− (%)
‚von Jugend an‘ ‚von Jahr zu Jahr‘ ‚sofort‘ ‚nun‘ ‚da‘ (temp.) ‚heute‘ ‚immer‘ ‚je, (immer)‘ ‚ofto‘ ‚nicht mehr‘ ‚noch‘ NZ
VZ Gesamt
‚daraufhin, danach‘ ‚fürderhin‘ ‚in Ewigkeit‘ ‚(für) immer‘ ‚diese Nacht‘ ‚immerfort‘
Die Tabelle zeigt, dass ein überwiegender Teil der temporalen Angaben auf die sprecherbezogene gegenwärtige Ereigniszeit verweist, während futurische Lesarten über kontextuelle Mittel seltener indiziert werden. Als prototypische deiktischen Temporalangabe fungiert das Adverb nu als Marker der aktuellen Situationszeit und ist damit als präsentisches Pendant zum präteritalen tho zu verstehen. Im Unterschied zu diesem markiert nu allerdings keine Episodizität, sondern einen statischen Zustand. In präsentischen Kontexten liegt üblicherweise keine Textprogression vor. Immerwährende bzw. allgemeingültige Verbalhandlungen und -ereignisse stehen bevorzugt in Verbindung mit io, zukünftige mit thanne. Es fällt auf, dass besonders die Gruppe der Adverbien bzw. Partikeln
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5 Empirische Untersuchung
mit Bezug auf die gegenwärtige Situationszeit eine gewisse Aversion gegenüber gi-präfigierte Verben aufzuweisen scheint. Das sonst so hochfrequente Adverb nu, die die mit der Sprechzeit zusammenfallende Referenzzeit aktualisiert, ist mit dem Präfix in indikativischen Kontexten praktisch unvereinbar.157 Angesichts des bisher beobachteten Distributionsverhaltens von gi- war dieser Befund zu erwarten. Das Adverb nu wird vor allem in der Umgebung stativer Verben verwendet. Mehr als die Hälfte der Belege entfallen auf Modalverben (25) und das Kopulaverb wesan (32), die als Simpliziatanta und damit als prototypische lexikalische Vertreter gestiver Verben anzusehen sind. Auch die anderen Verben werden zur Charakterisierung des Subjekts als Handlungsträger gebraucht. Entsprechend gering ist die Anzahl telischer oder transitiver Verbalhandlungen, bei denen ein eintretender Effekt des Handlungsvollzugs sichtbar oder ein betroffener Aktant markiert werden könnte und die eine gewisse Affinität zur faktiven Verwendung zeigen würden. Auch die Verben, die grundsätzlich zur Oppositionsbildung fähig wären, werden daher ausschließlich als Simplex gebraucht, vgl. (54): (54) Nu folget ímo thuruh tház githígini so mánagaz, thaz thér nist hiar in líbe ther thia zála irscribe. (O I, 20, 35) ‚Nun folgt ihm auch dadurch auch eine so große Gefolgschaft, dass keiner hier am Leben ist, der die Zahl benennen könnte.‘ Die Kontextumgebung additiver und stativer Verben begünstigt die Verwendung des Adverbs nu, was im weitesten Sinne auf die Aspektualität der Verben zurückzuführen ist. Es ist daher auch möglich, die meisten Verben in dieser Verwendung als imperfektiv zu bezeichnen, wie das etwa bei Zeman (2010: 160) geschieht. Durch die generelle Abwesenheit des Präfixes gi- verstärkt sich in diesen Kontexten der Eindruck, es läge ein binäres Aspektsystem vor. Perfektivität gilt als Verhinderer von Gegenwartslesarten und ist dementsprechend mit der zeitreferenziellen Charakteristik von Temporaladverbien mit Gegenwartsbezug nur schwer kompatibel. Vereinzelt lassen sich andere Derivate in Verbindung mit nu finden, die als telische bzw. non-additive Verben angesehen werden können, vgl. (55): (55) „Thaz héilege io girédotun, ouh búah fon mir giságetun, joh fórasagon zéllent, thio zíti iz nu irfúllent.“ (O IV, 14, 12)
Im Imperativ und Konjunktiv dagegen gibt es insgesamt zehn Fälle, in denen das Derivat mit nu verwendet wird. Es ist davon auszugehen, dass auch im Indikativ eine entsprechende Kombination im Ahd. nicht grundsätzlich ausgeschlossen war, allerdings dürfte es dabei um stärker markierte Ausnahmefälle gehandelt haben.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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‚Was Heilige je gesprochen haben, was auch die Schrift von mir gesagt, [es] verkünden die Propheten: Die Zeiten erfüllen es nun.‘ Es geht aus dem Kontext nicht eindeutig hervor, ob die telische Verbalhandlung irfullent nur als temporal-aspektueller Ausschnitt fokussiert wird, was eine Gegenwartslesart auslösen würde, oder als punktuell aufgefasst werden muss, was eher einen futurischen Sachverhalt indizieren würde. Auch eine iterative Interpretation wäre denkbar. Solche Zweifelsfälle bleiben allerdings in Sätzen mit nu eine marginale Randerscheinung. Die weitestgehende Abwesenheit der Präfixe in Kontexten des markierten Gegenwartsbezugs im Allgemeinen führt zwangsweise zur Frage nach der temporalen Bedeutung und von gi- in präsentischen Kontexten, die in der Forschung unterschiedlich beantwortet wurde. Die wenigen Fälle, in denen eindeutige temporale Kontextangaben die eine oder andere Lesart stützen, reichen nicht aus, um etwaige quantitative Muster ableiten zu können, wie Tabelle 37 zeigt. Es ist bereits dargelegt worden, dass die Zuordnung der Simplizia und Derivate zur gestiven und faktiven Diathese im Präsens grundsätzlich genauso wie im Präteritum erfolgt, auch wenn die Kontrastierung prototypischer Fälle etwas schwieriger ist, da häufiger unterschiedliche semantische bzw. pragmatische Implikaturen berücksichtigt werden müssen. Eine futurische Lesart ist bei sehr vielen Derivaten im Präsens gegeben, sie tritt aber nicht immer gleichermaßen stark hervor, vgl. (56), (57) und (58): (56) Er gidúit (thaz thu wéist), thaz thu nákot ni geist, joh ouh gíbit thir thia wíst thu húngiru nirstírbist. (O II, 22, 21) ‚Er sorgt dafür (das bedenke), dass du nicht nackt gehen musst, und er gibt dir auch die Nahrung, damit du nicht vor Hunger stirbst.‘ (57) „gidúan ich thíh es“, quad er, „wís: ich bin iz réhto, ther thu quís; (O IV, 19, 52) ‚„Ich tue dir es“, sagte er, „kund: Ich bin es wirklich, den du nennst.“‘ (58) Thie thoh zi thíu gigahent, gilóuba sina intfáhent: giduent sie lútmari, thaz ér io drúhtin wari. (O II, 13, 28) ‚Die, die trotzdem danach streben werden, den Glauben zu ergreifen: Sie werden überall bekanntmachen, dass er einst Herrscher wäre.‘
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5 Empirische Untersuchung
Die Gegenüberstellung der drei Belege veranschaulicht, warum hinsichtlich der temporaldeiktischen Verortung der gi- Derivate keine Einigkeit herrscht. Eine eindeutige futurische Lesart weist unter Berücksichtigung des erweiterten Kontexts nur Beleg (58) auf, weswegen hier bei der Übersetzung auf eine werdenKonstruktion zurückgegriffen wurde. Die einfachen Präsensformen, die bei (56) und (57) gewählt wurden, schließen aber eine futurische Bedeutung nicht zwangsweise aus. Beleg (56) weist sowohl einen Zukunftsbezug als auch eine immerwährende Bedeutung auf. Die göttliche Zuwendung wird dem Gläubigen für die Zukunft versprochen, kann aber wohl für die Gegenwart und die Vergangenheit gleichermaßen vorausgesetzt werden. In Beleg (57) fungiert das Derivat als Redeankündigung und verweist strenggenommen auf die sich unmittelbar anschließende Äußerung. Ein werden-Futur wäre hier als Übersetzung ebenfalls geeignet und würde sich vom einfachen Präsens durch eine stärker emphatische Semantik unterscheiden. Auch die ahd. Präfigierung erfüllt in manchen Kontexten eine ähnliche Funktion, da die faktive Perspektivensetzung in den meisten Fällen zur Vordergrundierung von Handlungseffekten zur Anwendung kommt. Je nach Auslegung wäre es möglich, für diese drei Belege auch drei unterschiedliche Auszählungsergebnisse hinsichtlich der temporalsemantischen Charakteristiken zu begründen. Für größere Datenmengen bedeutet das, dass durch individuelle philologische Interpretationsgewohnheiten und natürlich auch generelle sprachkompetenzgesteuerte Intuition zwangsläufig stark divergierende Befunde zustande kommen. Wie bereits im Zusammenhang mit Kontexten der relativen Vorzeitigkeit ersichtlich geworden ist, gibt es für dieses Problem der ambigen temporalen Lesarten keine zufriedenstellende Lösung. Um wenigstens einen möglichst hohen Grad an Vergleichbarkeit zwischen gi- Derivaten und anderen Formen gewährleisten zu können, empfiehlt es sich daher, den Anteil der potenziellen futurimplikativen Lesarten zu eruieren. Dieser übersteigt vermutlich den Anteil der tatsächlichen historischen Kontexte mit eindeutigem Zukunftsbezug, das Verhältnis der einzelnen Gruppen zueinander könnte dadurch allerdings sichtbar werden. Für einen direkten Vergleich musste die Auszählung auf Vollverben beschränkt werden, wodurch die ohnehin uneindeutigen Temporalwerte der gestiven Modal- und Kopulaverben nicht berücksichtigt werden. Tabelle 38 fasst die Ergebnisse zusammen. Die Daten bestätigen zunächst das bereits durch die Auswertung der temporalen Kontextangaben gewonnene Bild der temporalen Konstituiertheit von Otfrids Evangelienharmonie. Damit konnte auch die methodologische Erkenntnis gewonnen werden, dass die Erfassung eben dieser temporalen Angaben Voraussagen über generelle Verteilungsmuster einzelner Lesarten für alle anderen Verben erlaubt. Partikeln und Adverbien werden offenbar in den meisten Fällen nicht dazu benutzt, nicht-prototypische Temporalwerte zu indizieren, sondern konkretisieren innerhalb prototypischer Kontexte den jeweiligen Sachverhalt,
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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Tabelle 38: Temporale Lesarten im präsentischen HS bei Otfrid (IND/SR). OTFRID
PRÄS – gi n
GZ NZ Gesamt
% ,% ,% %
PRÄS + gi n
% % % %
ohne dabei Basisfunktionen temporalaspektueller Art zu überschreiben. Ein überwiegender Teil der Präsensformen insgesamt zeichnet sich durch einen Gegenwartsbezug aus. Die gi-präfigierten Verben verhalten sich diesbezüglich wie erwartet anders: Bei zwei Drittel aller Derivate ist eine Futurimplikation gegeben. Eine temporale Funktion von gi- in diesen Kontexten ist daher nicht nachweisbar. Zum einen weist immerhin ein Drittel der Belege eindeutigen Gegenwartsbezug auf, zum anderen lassen sich keine Verbpaare finden, die sich ausschließlich aufgrund ihrer temporalsemantischen Lesart unterscheiden. Häufig erscheinen solche Kontrastivbelege innerhalb desselben temporalsemantischen Kontexts und können entsprechend dem einen oder anderen Diathesenmuster zugeordnet werden, vgl. (59) und (60): (59) Thoh imo iz ábwertaz sí, thoh hugit er ío war iz sí, hábet sinan gíngon ío zi thes liebes thíngon. (O V, 23, 41) ‚Obwohl er ihm so weit entfernt, denkt er doch immer daran, wo er sei, hat sein Verlangen stets nach dem Gegenstand der Liebe.‘ (60) Thia hánt duat si fúri sar, ob íama rámet es thar; gihúgit sar thés sinthes thes íra lieben kíndes. (O III, 1, 34) ‚Die Hand hält sie davor sofort, wenn irgendjemand es da angreift; Gedenkt [sie] sofort ihres lieben Kindes.‘ Bei beiden Belegen handelt es sich um theoretische Erörterungen, die zwischen allgemeingültiger und potenziell zukunftsbezogener Verwendung anzusiedeln sind. Das Simplex hugit in (59) beschreibt die emotionale Verfasstheit des Subjekts, während gihugit in (60) auf den Effekt des ‚Gewahrwerdens‘ abzielt: Die Handlungsträgerin erinnert sich an ihre Aufgabe als Mutter und beschützt ihr
Allgemeingültige Lesarten werden dann jenen mit Gegenwartsbezug zugeschlagen, wenn eine Übersetzung mit einer werden-Konstruktion nicht möglich ist.
228
5 Empirische Untersuchung
Kind. Erneut ist festzustellen, dass die faktive Verwendung telische bzw. punktuelle Lesarten begünstigt. Der damit häufig einhergehende außersprachlich wahrnehmbare Vollzug der Handlung löst öfter sekundär eine quasifuturische Lesart aus, als das bei gestiven Simplizia der Fall ist. Dadurch erklärt sich die Neigung der Derivate zur futurischen Lesart, die Neigung der Simplizia zum Gegenwartsbezug. Dass es sich dabei allenfalls um Tendenzen handelt, zeigen einerseits der forschungsgeschichtliche Dissens und andererseits die empirischen Annäherungsversuche. Dort, wo der – wenigstens potenzielle – Gegensatz von Gestivität und Faktivität nicht mehr gegeben ist, lassen sich die temporalsemantischen Verteilungsmuster ebenfalls kaum mehr nachweisen. Das wird etwa beim hochfrequenten Verb gilouben bei Otfrid sichtbar, dessen faktive Grundbedeutung aufgrund eines Ameliorisierungsprozesses zwar noch rekonstruiert, aber im Ahd. nicht mehr nachvollzogen werden kann. Die ehemals spezifische Semantik der Handlungsbetroffenheit ‚jem. preisen, etwas billigen‘ ist soweit abgebaut worden, dass das Lexem in seiner pragmatischen Verwendung in die Nähe der Emotionsverben rückt. Aus temporalsemantischer Hinsicht verhält sich gilouben ähnlich wie die gestiven Verben und nicht wie die restlichen gi- Derivate: Von den 26 Belegen weisen nur zehn eine futurische Lesart auf. Da es sich bei diesem Lexem im Ahd. aber um einen Sonderfall handelt und der Abbau des Präfixes in den meisten Fällen keine vorangehenden Lexikalisierungsprozesse bedingt, lassen sich daraus keine validen Prognosen über das weitere Schicksal der präsentischen Derivate ableiten. Von einer temporalen Funktion von gi- kann im Ahd. jedenfalls auch in präsentischen Kontexten nicht gesprochen werden. Das as. Präsens unterscheidet sich funktional nicht von jenem des Ahd., aufgrund der andersgearteten Quellenlage sind die überlieferten Kontexte des Heliand allerdings weniger heterogen und vor allem deutlich weniger zahlreich als in Otfrids Evangelienharmonie. Wie die bisherigen Auswertungen ergeben haben, scheint zudem das gi-Präfix nicht nur seltener im Präsens als im Präteritum belegt zu sein, sondern dort auch schneller abgebaut zu werden. Für die hier fokussierten Fragestellungen bedeutet das, dass für die Beschreibung von temporalsemantischen Verteilungsstrukturen auf insgesamt deutlich weniger aussagekräftige Daten zurückgegriffen werden kann, als das für das Ahd. der Fall ist. Das zeigt sich bereits in Art und Umfang des Inventars zur temporalsemantischen Textgliederung, vgl. Tabelle 39. Der offensichtliche Unterschied, der im Vergleich mit dem ahd. Material zutage tritt, ist vor allem der andersgeartete Umfang der einzelnen temporalsemantischen Muster. Im Vergleich zu Otfrid gibt es im Heliand mit über 50% Häufigkeit deutlich mehr Kontextangaben mit potenziellem Zukunftsbezug, wobei erneut than(en) ‚dann‘ mit Abstand die höchste Verwendungsfrequenz
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
229
Tabelle 39: Textgliedernde Angaben im präsentischen HS im Heliand (IND/SR). HELIAND
Bedeutung
Beleg
PRÄT –gi n (%)
PRÄT + gi n (%)
GZ
‚lange (Weile)‘
langa (huile) lango lang the thiu nu er noh gio nio oft
(,%) (,%) (,%)
− − − − − − − −
‚sofort‘ ‚fürderhin‘ ‚in Ewigkeit‘ ‚dann‘
aftar (thiu) eft san furðor simbla than(en)
(,%) (,%) (,%) (,%) (,%)
− − − − −
−
−
−
−
(%)
(%)
‚nun, jetzt‘ ‚zuerst‘ ‚noch‘ ‚je‘ ‚nie‘ ‚oft‘ NZ
VZ Gesamt
‚daraufhin, danach‘
aufweist. Es drängt sich die Frage auf, ob zukünftige Sachverhalte im Heliand generell öfter beschrieben werden als bei Otfrid oder futurische Lesarten nur häufiger explizit markiert werden. Der Anteil des Adverbs nu, die im As. ebenfalls als prototypischer Marker der mit der Sprechzeit zusammenfallenden Referenzzeit gilt, ist ähnlich hoch wie bei Otfrid. Allgemeingültige bzw. immerwährende Verbalhandlungendürften deutlich seltener sein, wie die verhältnismäßig selten gebrauchten Adverbien gio ‚je‘ oder oft ‚oft‘ vermuten lassen. Auffällig ist trotz der geringen Belegzahl, dass das Adverb nu offenbar mit gi-präfigierten Verben im Indikativ kompatibel zu sein scheint. Alle drei Belege in dieser Kontextumgebung stehen in funktionaler Opposition zu einem Simplexverb (gisehan, gihorian, gitruon), auch wenn sie im Heliand meistens präfigiert verwendet werden. Es handelt sich also nicht um Lexikalisierungen, bei denen die Festlegung auf die eine oder andere Perspektive eine Kontrastierung verhindern würde. Der Gegenwartsbezug ist durch das Adverb nu auch bei den Derivaten grundsätzlich gegeben, vgl. Beleg (61): (61) Nu ik theses thinges gitrûon; uuerðe mi aftar thînun uuordun, al sô is uuilleo sî, hêrron mînes; (H 285–287)
230
5 Empirische Untersuchung
‚Nun vertraue ich dieser Sache, werde mir nach deinen Worten, wie es sein Wille sei, des Herren mein.‘ Das faktive Derivat as. gitruon ‚vertrauen (auf)‘ beschreibt den Sinneswandel der zweifelnden Maria nach der Verkündigung des Herrn durch den Erzengel Gabriel, wodurch die Wirkmächtigkeit der Offenbarung unterstrichen wird, die in diesem Kontext vor allem als Aufforderung zu Gefolg- und Dienerschaft verstanden werden muss. Zwar ist der Moment der Überzeugung abgeschlossen, die Verbalhandlung selbst hat aber zudem prospektiven Charakter: Auch in Zukunft wird das Vertrauen ungebrochen sein. Die zusätzliche Kontextangabe nu verankert das potenziell zukünftige Geschehen aber innerhalb des gegenwärtigen Erfahrungshorizonts der Figuren, um einen unmittelbaren inhaltlichen Anschluss an die vorangehenden Ereignisse zu gewährleisten, die evaluiert und negiert werden.159 Derartige Fälle sind zwar eine Seltenheit, aber für sich betrachtet nicht ungewöhnlich. Dass bei Otfrid entsprechende Belege zumindest im Indikativ gänzlich fehlen, ist wohl eher dem Zufall geschuldet. Wie im Ahd. begegnen in der Umgebung von nu größtenteils prototypische gestive Verben, vor allem Modalverben (n = 34) und Kopulaverben (n = 23). Auch unter den restlichen Vollverben finden sich einige Simpliziatanta wie geban ‚geben‘ oder findan ‚finden‘. Die wenigen Simplizia, die zumindest diachron in funktionaler Opposition zu einem Derivat stehen, sind gestiv aufzufassen. Sie dienen zur Beschreibung psychischer oder physischer Zustände, die den Handlungsträger charakterisieren. Auffällig ist, dass ihre jeweiligen präfigierten Partner aber oft nicht nur im Präsens nicht mehr verwendet werden, sondern im As. überhaupt nicht mehr belegt sind. Das gilt etwa für die stativen bzw. additiven Verben as. libbian ‚leben‘ oder liggian ‚liegen‘, deren jeweilige ahd. und got. Kognate noch einer präfigierten Variante zugeordnet werden können, auch wenn die Simplexverwendung überall der Normalfall ist. Der faktive Perspektivenpol ist bei diesen Verben stark markiert, da ein von der Verbalhandlung potenziell betroffener Aktant nur selten vorliegt. Dass in diesen Fällen im As. oft nur mehr das Simplex belegt ist, mag also, wie bereits an anderen Stellen vermutet wurde, nicht nur mit der Überlieferungslage zusammenhängen, sondern mit generellen Auflösungserscheinungen, die zuerst nicht-prototypische Kontexte erfassen, in denen die einstige Systematik nicht mehr nachvollziehbar ist. Wie im Ahd. Im Heliand ist kein Simplex *truon im Präsens belegt. Die funktionale Opposition ist durch die präteritalen Belege gesichert (H 2069 und H 5680). Beide Verwendungen weisen prototypische gestive Merkmale der subjektinternen Charakterisierung auf, die mit den zusätzlichen Adverbien thiu bat ‚noch besser‘ und mer ‚mehr‘ verdeutlicht werden.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
231
sind diese Verben prädestiniert für Lesarten der temporalen Gleichzeitigkeit von Sprechzeit, Ereigniszeit und Referenzzeit, vgl. (62): (62) nu ligid hie uuundon siok, diopa bidolƀan. ‚Nun liegt er siech [mit] Wunden, tief begraben.‘ Mit der temporalsemantischen Charakteristik korreliert auch eine aspektuelle, wie viele Verben im Präsens zeigen. Es ist durchaus möglich, den meisten Belegen mit Gegenwartsbezug auch eine imperfektive Lesart zu attestieren, besonders wenn die temporale Situiertheit durch entsprechende Kontextangaben klar bestimmt werden kann. Das ist bei additiven bzw. atelischen Verben wie in (62) häufig der Fall. Aber auch zukünftige Sachverhalte sind nicht den non-additiven Verben vorbehalten, vgl. (63): (63) Than brêdid an thes breostun that gibod godes, thie luƀigo gilôbo, sô an themu lande duod that korn mid kîðun, thar it gikund haƀad […] (H 2474–2476) ‚Dann wird sich in deiner Brust ausbreiten, das Gebot Gottes, der feste Glaube, wie es auf der Erde tut das Korn mit Keimen, wenn es guten Boden hat […]‘ Das Adverb than situiert das Geschehen in einem zukünftigen Zeitabschnitt. Die Präpositionalphrase an thes breostun begrenzt zwar die Verbalhandlung mittels einer natürlichen Endgrenze, so dass eine Art potenziell realisierbares Accomplishment vorliegt, gerade im Kontext des nachgestellten Gleichnisses liegt hier aber keine temporale Abgeschlossenheit vor. Eine solche ist bei nonadditiven bzw. telischen Verben meistens gegeben, weswegen diese auch häufiger einen zukünftigen Zeitbezug ausdrücken. Wie sich aufgrund der dürftigen Beleganzahl im As. aber andeutet, ist nicht davon auszugehen, dass die gi-Präfigierung im Präsens wesentliche systemrelevante temporalsemantische Funktionen erfüllen kann. Zwar sind die Derivate wie im Ahd. häufig telische bzw. non-additive Verben, eine futurische Lesart liegt allerdings auch ohne entsprechende temporale Kontextangabe nicht immer vor, vgl. (64):
232
5 Empirische Untersuchung
(64) Ic gisihu that gi sind eðiligiburdiun cunnies fon cnôsle gôdun: […] (H 557) ‚Ich erkenne, dass ihr edler Herkunft seid, des Geschlechts von gutem Stamm: […]‘ Der Beleg zeigt erneut, dass den gi- Derivaten in erster Linie eine im Verhältnis zum Simplex spezifischere Bedeutung zukommt, während sie sich hinsichtlich temporaler oder aspektueller Hinsicht zwar nicht immer neutral, aber oft uneindeutig verhalten. Die Übersetzung in das Gegenwartsdeutsche ist dabei eher mit einer lexikalischen Entscheidung verbunden als mit einer grammatischen. Es ist daher nicht überraschend, dass sich auch unter Einbezug der Verben, die nicht durch eine zusätzliche Kontextangabe spezifiziert werden, keine eindeutigen Tendenzen hinsichtlich der temporalsemantischen Beschaffenheit der Derivate ausmachen lassen, wie Tabelle 40 zeigt:160 Tabelle 40: Temporale Lesarten des Präsens im Heliand (HS/IND/NR). HELIAND GZ NZ Gesamt
PRÄS – gi n
% ,% ,% %
PRÄS + gi n
% ,% ,% %
Insgesamt weist der Heliand einen höheren Anteil nachzeitiger Kontexte auf, als das bei Otfrid der Fall war. Darauf haben Anzahl und Art der temporalen Angaben bereits hingewiesen, obwohl diese einen deutlicheren Unterschied vermuten lassen hätten. Der as. Dichter legt offenbar mehr Wert auf die konkrete Markierung zukünftiger Zeitverhältnisse, was die Analyse in vielen Fällen erleichtert. Unter der Einschränkung der methodischen Schwächen hinsichtlich der Tests zur Bestimmung einzelner Temporalwerte kann zumindest gesagt werden, dass auch im Heliand das Präsens des Hauptsatzes größtenteils dazu verwendet wird, Simultanität von Ereigniszeit und Sprechzeit anzuzeigen. Die gi-präfigierten Verben sind im indikativischen Hauptsatz so selten vertreten, dass ihr abweichendes Verhalten keinen Einfluss auf die Zahlen insgesamt hat. Im Vergleich zu den ahd. Daten lassen sich keine Hinweise auf eine temporalsemantische Gebundenheit der as. Präfigierung finden. Der Anteil der Derivate an Kontexten der Nachzeitigkeit ist sogar etwas geringer als bei Otfrid, was aber
Für die Auswahl der Verben gelten dieselben Kriterien wie bereits für Tabelle 38.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
233
angesichts der absoluten Zahlenverhältnisse nicht überbewertet werden sollte. Mit sechs Vorkommen des Verbs gilobian ‚glauben‘ und einem Beleg von giwitan ‚sich fortbewegen‘ sind immerhin mehr als ein Viertel der 26 Derivate als Lexikalisierungen anzusehen, deren Temporalwert eher jenem der Simplizia entspricht. Eine gewisse Tendenz der gi-Präfigierung zu Kontexten der Nachzeitigkeit lässt sich im Präsens wie vermutet zwar bestätigen, erneut bleibt allerdings die Erkenntnis, dass diese sich andeutenden Muster nur in Ansätzen auch als mereologische Überschneidungsbereiche zu verstehen sind. Eine einsetzende Profilierung dieser Korrelationsmuster lässt sich dabei in der Diachronie ebenso wenig nachweisen wie in der Synchronie. Es ist nicht zu erwarten, dass sich durch den Einbezug der präsentischen Verben in der Subordination dieses Urteil revidieren lässt. Um dem deskriptiven Anspruch dieser Arbeit gerecht zu werden, ist allerdings eine entsprechende abschließende Betrachtung notwendig. 5.2.2.2 Die Funktionen des Präsens im Nebensatz (IND/SR) Die temporalsemantischen Funktionen des Präsens in der Subordination unterscheiden sich von jenen in Hauptsatzverwendung nicht, sind aber aufgrund vorliegender textstruktureller Merkmale meistens leichter zu erkennen bzw. objektivierbar. Da Kontexte der relativen Vorzeitigkeit für das Präsens generell ausgeschlossen werden können, beschränken sich die potenziellen temporalen Lesarten auf jene der Gleichzeitigkeit und der relativen Nachzeitigkeit im Verhältnis zum Verbalgeschehen des übergeordneten Matrixsatzes, das seinerseits dabei nicht eindeutig bestimmt werden muss.161 Mit einiger Sicherheit kann daher gesagt werden, dass additive Verben im Ahd. häufiger Gleichzeitigkeitslesarten indizieren, non-additive bzw. telische Verbalereignisse dagegen Nachzeitigkeitslesarten, vgl. (65) und (66): (65) er thánana ni wénkit soso imo rát thunkit: […] (O II, 12, 42) ‚Er wird dann nicht wanken, so ihn der Rat gut dünkt: […]‘ (66) Bihéizist thih niwíhtes, thaz thú thaz irríhtes, sar in théru noti in thrío dágo zíti! (O II, 11, 39)
Immerwährende und allgemeingültige Sachverhalte sind dabei notwendigerweise als gleichzeitig zu werten.
234
5 Empirische Untersuchung
‚Du versprichst nichts, [wenn du behauptest,] dass du das vollbringen wirst, sogleich in dieser Not innerhalb von drei Tagen!‘ Im übergeordneten Hauptsatz in Beleg (65) wird ein Verbalereignis indiziert, das in seiner Lesart zwischen allgemeingültig und zukunftsbezogen schwankt, wobei eine futurische Lesart durch die Kontextangabe thanana gestützt wird. Unabhängig von der genauen temporalen Verortung der Handlung im Hauptsatz kann jedenfalls gesagt werden, dass die durch die subordinierte Präsensform thunkit indizierte Ereigniszeit mit dieser zusammenfällt. Die telische Verbalform irrihtes in (66) dagegen bringt ein nachzeitiges Temporalverhältnis zum Ausdruck: Christus fordert den Abriss des Jerusalemer Tempels, um ihn innerhalb von drei Tagen wiederaufzubauen. Das Volk ist darüber empört und bezichtigt ihn der Lüge. Der Vorwurf paraphrasiert das zuvor angekündigte Wunder, wobei der Vollzug der Verbalhandlung den vorgelagerten Akt des Versprechens bedingt. Da der Tempel allerdings gar nicht zerstört wird, bleiben die versprachlichten Sachverhalte in der Sphäre der Nicht-Ausführung verhaftet. Eine rein temporale Lesart ist dementsprechend nur schwer zu rechtfertigen.162 Gerade das Präsens im Nebensatz wird ohnehin vergleichsweise selten zur Darstellung temporaler Sachverhalte verwendet. Das spiegelt sich auch in der Verteilung der Nebensatzarten im Präsens bei Otfrid wider, vgl. Tabelle 41: Tabelle 41: Verteilung der Nebensatzarten im Präsens bei Otfrid (IND/SR). OTFRID REL OBJ KOND MOD FIN TEMP SUBJ KONS
PRÄS – gi n
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
PRÄS + gi n
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
Gesamt n
In diesem Zusammenhang ist auch das Urteil von Dahm (1909: 33) zu sehen, der den giDerivaten im Ahd. auch „verallgemeinernde“ Funktion zuspricht. Ähnliches stellt Eroms (1989: 29–30) für das Mhd. fest. Das Präfix als Marker der „Denkmöglichkeit“ ist unter der Annahme einer faktiven Funktion naheliegend: Theoretische Erörterungen haben eine starke Neigung zur Darstellung konditionaler Bezüge. Sachliche Urteile werden üblicherweise argumentativ begründet und mit Beispielen angereichert, wodurch sich die Notwendigkeit ergibt, wenn-dannBeziehungen in die Erörterung miteinzubeziehen.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
235
Tabelle 41 (fortgesetzt ) OTFRID LOK KAUS KONZ ∑Verben NS
PRÄS – gi n
PRÄS + gi n
% ,% ,% ,% ,%
− −
%
Gesamt n
,% ,% ,% ,%
Die meisten Nebensätze sind als Relativsätze zu klassifizieren, gefolgt von Objekt- und Modalsätzen. Wie auch in präteritalen Kontexten verzeichnen die gi-Derivate in temporalen und finalen Nebensätzen überdurchschnittliche Anteile. Auffällig ist darüber hinaus ein erhöhtes Vorkommen der Präfixe in Konditionalsätzen, die mit dem Präteritum weitestgehend unvereinbar schienen. Da explizit markierte konditionale Bezüge üblicherweise als Domäne der NichtAusführung von Verbalhandlungen gelten, haben diese Kontexte eine ausgeprägte Affinität zu konjunktivischen und präsentischen Verbalformen, während eine durch indikativische Präterita bezeichnete konkret temporale Vergangenheitslesart untypisch ist. Erwartungsgemäß stellen die Präfixe in keiner Gruppe die absolute Mehrheit.163 Auch wenn die temporalen Nebensätze keine prototypische Kontextumgebung für das Präsens insgesamt darstellen, sind sie aufgrund des meist eindeutigen Temporalwerts der jeweiligen Subjunktion zur Darstellung seines temporalsemantischen Potenzials geeignet. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die quantitativen Verhältnisse auch einfach auf andere Satzarten übertragen werden können. Augenscheinlich dienen die meisten temporalen Komplementierer, die präsentische Nebensätze einleiten, der Indizierung von relativen zukunftsbezogenen Sachverhalten, wie Tabelle 42 zeigt: Tabelle 42: Verteilung der temporalen Konnektoren im präsentischen NS bei Otfrid (IND/SR). OTFRID
Bedeutung
so (sliumo so) unz thanne sar
‚als, sobald‘ ‚solange, bis‘ ‚dann‘ ‚sobald‘
PRÄS – gi n
% ,% ,% ,% ,%
PRÄS + gi n
% ,% ,% ,% ,%
Wie im Präteritum würde eine Unterscheidung zwischen einfachen Simplizia, Simpliziatanta, gi- Derivaten und sonstigen Derivaten die Zahlenverhältnisse deutlich verschieben.
236
5 Empirische Untersuchung
Tabelle 42 (fortgesetzt ) OTFRID
Bedeutung
er thar sid nu Sonstige Gesamt
‚ehe‘ ‚als, während‘ ‚seit‘ ‚nun‘ −
PRÄS – gi n
%
PRÄS + gi n
,% ,% ,% ,% ,% ,%
− − − − −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
Nur die mit nu und thar eingeleiteten Nebensätze bezeichnen ein potenzielles gleichzeitiges Temporalverhältnis, während sich so (wie auch vereinzelt unz) uneinheitlich verhält und alle weiteren Komplementierer zukünftige Verbalereignisse anzeigen. Es ist daher nicht überraschend, dass den meisten gipräfigierten Verben im temporalen Nebensatz eine mehr oder weniger futurische Bedeutung attestiert werden kann, vgl. (67): (67) Nu thu thaz árunti so hárto bist formónanti: nu wird thu stúmmer sar, unz thú iz gisehes álawar; (O, I, 4, 66) ‚Nun da du die Botschaft so hart zurückweist: Nun wirst du stumm sein, bis du es sicher erkennst.‘ Die meisten Verben im präsentischen Nebensatz sind inhärent non-additiv, während hier die grenzbezogene telische Semantik kontextuell bedingt ist. Eine futurische Lesart wird dadurch in vielen Fällen stark begünstigt. Das gilt allerdings bis zu einem gewissen Grad auch für alle restlichen Verben. Eine spezielle temporale Bedeutung von gi- lässt sich ein weiteres Mal nicht nachweisen. Beleg (68) etwa zeigt, dass auch bei Derivaten nachzeitige Temporalverhältnisse nicht immer vorliegen: (68) „Dúet“, quad ér tho ubarlút, „thaz hiar gisízze ther líut; unz er hiar giréstit, thes brótes in ni brístit.“ (O III, 6, 32) ‚Macht“, sagte er da laut, „dass sich das Volk hier niederlasse; Solange sie hier rasten, mangelt es ihnen an Brot nicht.‘ Zwar könnte man die beiden Präsensformen girestit und bristit auch mit einer neuhochdeutschen werden-Konstruktion übersetzen, am relativen gleichzeitigen Temporalverhältnis ändert sich dadurch aber nichts.
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
237
Inhärent additive Verben legen oft eine gleichzeitige Lesart nahe, auch wenn sie funktional nicht auf diese Kontextbereiche reduziert werden können. Wie bereits mehrfach festgestellt, ist der Anteil additiver Verben unter den giPräfixen nicht so hoch wie unter den Simplizia, weswegen diese öfter in Kontexten der Gleichzeitigkeit verwendet werden, vgl. (69): (69) bi hiu nintdúat sih iuer múat, thar ih iu zéllu thaz guat? (O III, 18, 6) ‚Warum öffnet sich euer Herz nicht, wenn ich euch vom Guten erzähle?‘ Der Beleg zeigt, dass die Trennung von temporalen und modalen bzw. konditionalen und hier im Speziellen konzessiven Bedeutungskomponenten schwierig ist. Die tatsächliche temporale Verortung ist bei vielen Präsensverwendungen als hintergrundiert anzusehen, während das konstitutive Merkmal des Tempus unabhängig von der jeweils zugrundeliegenden Form jenes der origo-inklusiven Bewusstseinsnähe ist. Korrelationen zwischen einzelnen morphologischen und syntaktischen Erscheinungen einerseits und temporalsemantischen Mustern andererseits deuten sich zwar geringfügig an, können allerdings auf Basis anderer autonomer Kategorieninhalte schlüssig erklärt werden. Eine Gegenüberstellung der quantitativen Verhältnisse einzelner temporaler Lesarten zueinander erscheint vor diesem Hintergrund wenig aussichtsreich und bestätigt allenfalls die Unzulänglichkeit bisheriger Beschreibungs- und Analysemethoden, die vermeintliche temporalsemantische Bedeutungskomponenten des Präfixes überhöhen, vgl. Tabelle 43: Tabelle 43: Temporale Lesarten des Präsens im NS bei Otfrid (NS/IND/SR). OTFRID
PRÄS –gi n
VZ GZ NZ Gesamt
−
% ,% ,% ,% %
PRÄS + gi n −
% ,% ,% ,% %
Die Verteilung der einzelnen temporalen Lesarten korreliert mit der Verteilung der temporalen Konnektoren in Nebensätzen. Die Markierung von unterschiedlichen Zeitverhältnissen in präsentischen Kontexten ist insgesamt ein seltenes Bedürfnis des Autors, da anders als im Präteritum hier keine sequenzielle Handlungsfolge vorliegt. Temporale Bezüge sind daher keine textstrukturelle Notwendigkeit. Wenn ein solcher Bezug aber gegeben ist, handelt es sich notwendigerweise meistens um die Indizierung futurischer Sachverhalte, da zwei
238
5 Empirische Untersuchung
mit dem Sprechzeitpunkt zusammenfallende Verbalhandlungen innerhalb der direkten Rede wie auch im Autorenkommentar selten sind. Keine Gruppe von Verben ist von der einen oder anderen temporalen Lesart ausgeschlossen. Der geringfügige quantitative Unterschied zwischen gi- Derivaten und den restlichen Verben lässt sich dabei erklären, ohne die eine oder andere morphologischen Erscheinung mit temporalen Funktionen in Zusammenhang zu bringen. Auch die Verteilung der Präfixe auf andere Nebensatzarten spiegelt die bisher offengelegten Distributionsmuster der faktiven Derivate wider: Besonders in Konditional- und Finalsätzen finden sie Verwendung, also dort, wo der Verweis auf einen Handlungseffekt in Form von Bedingung und Bedingungserfüllung besonders häufig gegeben ist. Vergleichbare wenn-dann-Beziehungen konnten auch in präteritalen Kontexten als prototypische Funktionsbereiche des Präfixes identifiziert werden. Präsentische Konditionalgefüge sind als syntaktisch manifestierte Emergenzen davon anzusehen, vgl. (70): (70) Árme joh thie ríche so gén iu al gilíche, so waz so in érdu habe líb, thaz si gómman inti wíb, Óba sie thes gigáhent, zi gilóubu sih gifáhent: gidóufit werden álle; (O V, 16, 31) ‚Arme und Reiche gehen alle auf die gleiche Weise, was auch immer auf der Erde lebt, sei es Mann oder Frau, wenn sie danach streben (werden), sich zum Glauben hinzuwenden: Getauft werden alle.‘ Hier liegt wieder eine theoretische Erörterung vor, die eine endgültige temporale Verortung der Verbalhandlung erschwert. Eine futurische Lesart ist möglich, aber nicht ausschlaggebend für die Verwendung des Derivats, dessen faktive Semantik klar durchscheint. Der Effekt der Bedingungserfüllung führt zu weiteren Handlungen. Die inhärent antizipative Markierung des Handlungseffekts in Konditionalsätzen bedingt zwar keine obligatorische Präfigierung des Verbs, sie bietet sich aber in vielen Fällen an. Das Simplex wird dann gesetzt, wenn ein Konditionalgefüge vorliegt, bei dem sich der Bedingung kein unmittelbarer Effekt anschließt, was bei subjektcharakterisierenden Modal- und Kopulaverben meistens der Fall ist. Darüber hinaus lassen sich quasielliptische Gefüge finden, bei denen die tatsächliche Folge der bedingten Handlung vernachlässigbar ist, vgl. (71): (71) Oba thu scówost thaz múat, thánne nist thaz wórt guat, wanta wántun harto thés thaz síe mo batin úbiles. (O III, 20, 139)
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
239
‚Wenn du auf ihren Willen schaust, dann war das Wort nicht gut, denn sie erhofften sich sehr, ihm damit Übles anzutun.‘ In dieser Passage gibt der Autor Handlungsanweisungen zur Identifizierung unehrlicher Absichten. Nicht das Erforschen (hier ‚Schauen‘) des Gemüts bedingt die bösartigen Worte, es führt lediglich zu der Erkenntnis darüber. Die weitere Analyse einzelner Textstellen würde an dieser Stelle keinerlei Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Funktionen des subordinierten Präsens im Ahd. erbringen. Aus tempustheoretischer Sicht bleibt festzustellen, dass das Präsens auch im Nebensatz seine prototypische Funktion innerhalb der sprecherbezogenen Rede erfüllt. Im Zusammenhang mit der gi-Präfigierung scheint die Suche nach temporalsemantischen Funktionen unterschiedlicher Verbalformen und entsprechenden musterbildenden Abhängigkeitsverhältnissen letztlich ein Irrweg zu sein. Das haben die bisherigen Ergebnisse konvergent dargelegt. Auch ein Vergleich mit den Daten des As. ändert daran nichts. Zwar treten bereits mehrfach beobachtete quantitative Unterschiede erneut zutage, funktionale dagegen deuten sich aber nicht an, wie bereits die Verteilung der einzelnen Nebensatzarten im Heliand zeigt, vgl. Tabelle 44: Tabelle 44: Verteilung der Nebensatzarten im Präsens im Heliand (IND/SR). HELIAND REL OBJ MOD KOND TEMP KONS FIN KAUS LOK SUBJ KONZ ∑Verben NS
PRÄS – gi n
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
PRÄS + gi n − − −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,%
Gesamt n
Wie im Ahd. können im As. die meisten Nebensätze als Relativsätze klassifiziert werden, gefolgt von Objekt- und Modalsätzen. Die Abweichungen der Zahlenwerte der gi-präfigierten Verben in Bezug auf den Durchschnittswert sind verhältnismäßig weniger aussagekräftig, da aufgrund der geringen absoluten Werte einzelne Belege den relativen Anteil stark verzerren können. Nichts deutet auf eine auffällige funktionale Verschiebung der Derivate in die-
240
5 Empirische Untersuchung
ser Kontextumgebung hin, die jeweiligen Anteile an einer bestimmten semantischen Klasse sind dort, wo mehr als ein einzelner Beleg vorhanden ist, gleichmäßig verteilt. Im Heliand sind temporale Nebensätze nach relativer Häufigkeit öfter anzutreffen als in Otfrids Evangelienharmonie, ein vergleichbares Verhältnis konnte schon im Präteritum gezeigt werden. Zudem war bereits für den Hauptsatz festgestellt worden, dass dem as. Dichter offenbar an der konkreten Markierung temporaler Zeitverhältnisse eher gelegen war als Otfrid. Das Inventar an temporalen Konnektoren ist im Heliand ähnlich strukturiert und heterogen, es überwiegen zudem ebenfalls die nebensatzeinleitenden Elemente, die einen zukünftigen Zeitbezug herstellen, vgl. Tabelle 45: Tabelle 45: Verteilung der temporalen Konnektoren im präsentischen NS im Heliand (IND/SR). HELIAND
Bedeutung
than so (hwan so) antthat so lango so er (than) ef be that sîðor thar Sonstige Gesamt
‚als, während‘ ‚als, sobald‘ ‚bis‘ ‚so lange wie‘ ‚ehe‘ ‚wenn‘ ‚bei‘ ‚seit‘ ‚als, während‘ –
PRÄS – gi n
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% %
PRÄS + gi n − − − − − − −
% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% ,% %
Kein temporaler Konnektor verweist eindeutig auf ein gleichzeitiges temporales Verhältnis, die meisten dagegen auf im Verhältnis zur Sprechzeit zukünftige Ereignisse und Handlungen. Auch allen vier gi-Derivate im temporalen Nebensatz kann eine futurische Lesart attestiert werden. Neben zwei Belegen von gihorian ‚hören‘ und einem Beleg von gisehan ‚sehen‘, die als Verba dicendi bereits anhand vorheriger Analysen als prototypische Rückzugsgebiete des Präfixes im As. identifiziert werden konnten, ist mit giwerđan ‚werden‘ nur ein weiterer Beleg vorhanden, der in potenzieller Opposition zu einem Simplexverb steht. Eine Gegenüberstellung mit diesem zeigt exemplarisch, dass auch im präsentischen Nebensatz der Temporalwert nicht mit der An- oder Abwesenheit des Präfixes zusammenhängt, vgl. (72) und (73): (72) Huand sô huan sô that geuuirðid, that uualdand Krist, mâri mannes sunu mid theru maht godes,
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
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kumit mid thiu craftu kuningo rîkeost […] than sculun tharod heliðo […] (H 4378) ‚Denn sobald das wird, dass der waltende Christus, der gelobte Menschensohn, mit der Macht Gottes, kommt mit seiner Kraft, der Könige reichster […] dann sollen dort die Helden […] (73) Nu ik iu iuuues drohtines scal uuilleon seggian, that ik an thesaro uueroldi ni môt mid mannun mêr môses anbîten furður mid firihun, êr than gifullod uuirðid himilo rîki. (H 4566) ‚Nun soll ich euch des Herren Willen sagen, dass ich in dieser Welt mit Leuten nicht mehr Essen kosten (darf) fortan mit Menschen, ehe denn erfüllt wird das himmlische Reich. Auf den ersten Blick sind sich die beiden Passagen recht ähnlich, nicht nur in Bezug auf temporalsemantische Eigenheiten, sondern auch hinsichtlich der zusätzlichen konditionalen Bedeutungskomponenten, die sich sowohl in (72) (‚wenn X eintritt, soll X geschehen‘) und (73) (‚X wird nicht geschehen, bevor X eintritt) finden. Das Derivat giwerđan fungiert hier als Korrelat, das einen Zustandswechsel der Handlungsträger antizipiert, auf dem durch den einleitenden Nebensatz das emphatische Gewicht der Aussage liegt.164 In (73) dagegen wird durch den negierten Sachverhalt keine Bedingung der Verwirklichung einer nachgelagerten Handlung angezeigt. Das Urteil darüber, was bis zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht oder wie in diesem Fall nicht geschieht, ist nicht durch das zu erwartende Ereignis determiniert. Da der Sprecher (bzw. der Autor) grundsätzlich die Wahl hat, ob er ein Simplex oder ein Derivat setzt, ist es durchaus denkbar, dass gerade vor dem Hintergrund der sich auflösenden Opposition von Gestivität und Faktivität die Entscheidungen mangels eindeutiger Kontrastierbarkeit nicht immer stringent ist, sodass im Zweifelsfall im As. eher das Simplex Anwendung findet.165
Vgl. auch ahd. giwerdan in (2). Zwei weitere Belege von as. werđan (H 165, H 3470), die sich in temporalen Nebensätzen finden lassen, weisen in ihrer Semantik starke Ähnlichkeit zu den hier diskutierten Beispielen auf.
242
5 Empirische Untersuchung
Auch im Heliand sind die meisten Verben im präsentischen temporalen Nebensatz inhärent non-additiv bzw. telisch, weshalb eine futurische Lesart unabhängig vom jeweiligen Konnektor oft naheliegend ist, wie Tabelle 46 veranschaulicht: Tabelle 46: Temporale Lesarten des Präsens im NS im Heliand (IND/SR). HELIAND VZ GZ NZ Gesamt
PRÄS – gi n −
% ,% ,% ,% %
PRÄS + gi n − −
% ,% ,% ,% %
Auch im As. mag die Affinität der gi-präfigierten Präsensformen zu Kontexten der Nachzeitigkeit nicht von der Hand zu weisen sein. Wie in der Hauptsatzverwendung handelt es sich dabei aber erneut allenfalls um funktionale Überschneidungsbereiche. Auch wenn der Anteil der Präfixe insgesamt rückläufig ist, erweist sich die Subordination allerdings als ein verhältnismäßig stabiler Rückzugsraum im As. Unabhängig von ihrer Kategorisierung haftet vielen Nebensätzen im Präsens eine wie auch immer geartete konditionale Semantik an, die das Setzen eines Derivats begünstigt. Im Gegensatz zu den Verhältnissen im Ahd. ist für das As. festzustellen, dass die faktive Semantik des gi-Präfixes wohl so weit an Gehalt eingebüßt hat, dass es in vielen Fällen zusätzliche Stützkontexte benötigt, die es in Nebensätzen eher vorfindet als in Hauptsätzen. 5.2.2.3 Zwischenfazit Die Ergebnisse zu Funktion und Distribution der Verbalformen in präsentischen Kontexten bestätigen insgesamt das sich durch die theoretische Vorarbeit und die Analyse der präteritalen Kontexte andeutende Bild der temporalsemantischen Strukturiertheit des ahd./as. Verbalsystems: Als Haupttempus des Dialogs ist das ahd./as. Präsens innerhalb der sprecherbezogenen Rede grundsätzlich durch die Parameter E = R & E = S charakterisiert und steht damit dem Präteritum funktional gegenüber. Zudem konnte aber festgestellt werden, dass das Präsens deutlich häufiger als erwartet eine potenziell futurische Lesart aufweist: Sowohl im Ahd. als auch im As. verfügen etwa ein Drittel der Belege über eine solche. Ausschlaggebend dafür ist neben etwaigen Temporaladverbien vor allem das inhärente aspektuelle Potenzial des jeweiligen Verbs. Non-additive bzw. telische Verben verhindern meist einen eindeutigen Gegenwartsbezug, während sich additive bzw. atelische Verben diesbezüglich neutral verhalten. Das erklärt auch
5.2 Das Präfix gi- und das prototypische Tempussystem
243
die Affinität der gi-präfigierten Verben zu futurischen Kontexten, da telische Verben eine faktive Perspektive begünstigen: Die Mehrphasigkeit der Verbalhandlung impliziert oft einen eintretenden Effekt, der hervorgehoben werden kann. Auch für die präsentischen Kontexte gilt, dass die unterschiedlichen funktionalen Muster von Gestivität und Faktivität am deutlichsten über die syntaktische Einbettungsebene sichtbar wird, wobei die jeweiligen temporalsemantischen Charakteristiken der basalen Funktion untergeordnet bleiben.
6 Ergebnisse Im Verlauf dieser Arbeit wurde offensichtlich, dass die Suche nach einem Erklärungsmodell, das auf unifizierende Weise die fokussierten Phänomene und Entwicklungen darzustellen in der Lage ist, nicht zielführend ist. Die verbalgrammatischen Inhalte, die dem Präfix ahd./as. gi- zugeschrieben werden konnten, erwiesen sich als weitgehend autonom und unabhängig von denen anderer Kategorien. Die deskriptiven empirischen Befunde hinsichtlich der Verteilung der zueinander in Opposition stehenden Formen ließen diesbezüglich keine Zweifel offen. Der Erkenntnisgewinn der durchgeführten Analysen geht allerdings über jenen der negativen Evidenz hinaus: Das Distributionsverhalten von gi- zeigte nicht nur, warum bisherige tempus- und aspekttheoretische Erklärungsansätze allenfalls fragmentarisch Auskunft über das Wesen des Präfixes geben konnten, sondern auch, warum solche Ansätze aufgrund konvergenter pragmatischer Verhaltensweisen der einzelnen kategorialen Entsprechungen zunächst naheliegend waren, eine entsprechende Harmonisierung aber nie geglückt ist. Auch dieser Arbeit mag dadurch mitunter kompilatorischer Charakter attestiert werden, wodurch eine abschließende Konfrontation der im Folgenden zunächst separat zusammengefassten Ergebnisse notwendig erscheint.
I Die Opposition von Gestivität und Faktivität Die wesentlichste Erkenntnis dieser Arbeit ist jene, dass sich die Verteilungsmuster von Simplizia und Derivaten sowohl im Ahd. als auch im As. auf Basis binärer Funktionszuweisungen erklären lassen, die keinerlei temporal-aspektuellen Systematiken voraussetzen. Mit ‚Gestivität‘ und ‚Faktivität‘ wurden zwei diathetische Perspektiven postuliert, die zur Beschreibung der Kategorieninhalte ausreichend sind: Das gestive Simplex hebt die Beteiligung des Subjekts als Träger der Verbalhandlung hervor, das gi- Derivat das Resultat oder den Effekt an einem betroffenen Aktanten. Da zahlreiche Derivate unbestreitbar gewisse temporalaspektuelle Lesarten aufweisen, die je nach Lehrmeinung als ‚perfektiv‘, ‚terminativ‘ oder ‚komplexiv‘ bezeichnet wurden, mag auf Basis weniger Kontrastivbelege schnell der Eindruck entstehen, es läge ein – wie auch immer geartetes – Aspektsystem vor. Um trotz der augenscheinlichen Differenz zu typologisch gesicherten Verteilungsmustern aspektueller Formen daran festzuhalten, gab es viele komplexe und gut durchdachte Erklärungsansätze, deren (vermeintlich) empirischer Nachweis allerdings nie zu überzeugen wusste. Das gilt letztlich auch für die in dieser
https://doi.org/10.1515/9783111040387-006
I Die Opposition von Gestivität und Faktivität
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Arbeit vorgestellten Daten: Eine Aspektkategorie, die weder in die diskurspragmatische noch in die temporale Strukturiertheit einer Sprache eingreift, ist nicht zu rechtfertigen. Hier etwaige „Aspektauflösungserscheinungen“ (Heindl 2017: 241) oder eine „Freiheit der Sichtweise“ (Schrodt 2004: §2) verantwortlich zu machen, um weiterhin einen ‚germ. Sonderfall‘ im Kontrast zu anderen Aspektsprachen konstruieren zu können, ist wenig überzeugend. Beugt man sich der normativen Kraft des Faktischen, ist dieses altgermanistische Narrativ kaum aufrechtzuerhalten, sofern man nicht jedes wissenschaftliche Sparsamkeitsprinzip aufgeben möchte. Die nicht zu leugnende Tendenz von gi- zu manchen prototypischen Domänen der Perfektivität, etwa der relativen Temporalität, lassen sich ebenfalls durch die basalen kategorialen Merkmale des Präfixes erklären. Ahd./as. gi- zeigt eine starke Neigung zu Kontexten, die im weitesten Sinne als ‚relativ‘ zu einem topikal übergeordneten Ereignis bezeichnet werden können. Diese Form der Relativität ist aber nicht auf die temporale zu reduzieren, auch deuten die Daten keinerlei Entwicklungsdynamiken an, die eine Profilierung und einen Ausbau der temporalen Bedeutungskomponenten oder einen anderen Prozess exaptativer Natur vermuten lassen würden. Im Kontrast zu den Simplizia innerhalb der gleichen syntaktischen und temporalsemantischen Umgebung wird ersichtlich, dass die Opposition von Gestivität und Faktivität gegenüber solchen Kontextfaktoren unsensibel ist und diesbezüglich keine Abhängigkeitsbeziehungen festzustellen sind. Die distributionellen Zusammenhänge mit diesen und jenen verbalgrammatischen oder syntaktischen Parametern sind funktionalen Überschneidungsbereichen geschuldet: Dort, wo eine faktive Semantik am deutlichsten hervortritt, liegen häufig auch telische und transitive Verbalereignisse vor, da ein am Aktanten wahrnehmbarer Effekt oft den Abschluss einer Handlung erfordert. Dieser Abschluss indiziert wiederum oft temporale Lesarten der Vergangenheit. Eine gestive Semantik ist dagegen für subjektcharakterisierende Verben typisch. Diese sind öfter atelisch und intransitiv und zeichnen sich damit durch einen stärkeren Gegenwartsbezug aus. Die prototypischsten gestiven Verben sind Modal- und Kopulaverben, die mit gi- unvereinbar sind. Während den faktiven Derivaten eine Affinität zum Präteritum attestiert werden kann, finden sich gestive Simplizia besonders in präsentischen Kontexten wieder. Dabei handelt es sich allerdings nur um Tendenzen, auch in ihren nicht-prototypischen Umgebungen bleibt die Opposition bestehen, wie sich gezeigt hat. Ein Vergleich der ahd. und as. Verteilung von Simplizia und Derivaten sollte die Frage nach Ausmaß der quantitativen und Gestalt der qualitativen Abbauprozesse des Präfixes beantworten. Dabei konnte zunächst die Annahme eines innovativeren as. Verbalsystems bestätigt werden, während sich das Ahd. nicht nur in dieser Hinsicht deutlich konservativer zeigte: Zwar gibt es keine funktionalen Kontexte mit Derivaten, die nicht in beiden Sprachräumen belegt
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6 Ergebnisse
wären, besonders in den nicht-prototypischen verbalgrammatischen und syntaktischen Umgebungen zeigte sich aber die einsetzende Insuffizienz der as. Systematik. Das betrifft vor allem präsentische Hauptsatzverwendungen, während sich in präteritalen Nebensätzen auch im As. die Abbauprozesse erst andeuten. Eine funktionale Verlagerung der Präfigierung lässt sich dadurch nicht nachweisen, ein Rückzug des Präfixes in Kontexte der relativen Temporalität scheint über die Vielzahl der belegten Kontexte auf den ersten Blick jedoch plausibel. Tatsächlich ist es aber so, dass es keine funktionalen Räume gibt, in denen im As. die Präfigierung ihre Stellung im gleichen Ausmaß wie im Ahd. behaupten oder sie sogar ausbauen kann. Der faktive Perspektivenpol zeigt insgesamt bereits Erosionserscheinungen, die dort am besten sichtbar werden, wo das Präfix ohnehin zu jedem Zeitpunkt seltener Anwendung fand und der semantische Kontrast zwischen Simplex und Derivat weniger deutlich war. Der as. Dichter sah sich notwendigerweise mit zahlreichen Zweifelsfällen oder zumindest pragmatischen Kontexten konfrontiert, in denen aufgrund der undurchsichtig werdenden Funktion von gi- größere Wahlfreiheit herrschte. In solchen Fällen hat er sich tendenziell für das Simplex entschieden. Diese Phase des Abbaus steht dem Ahd. des 9. Jh. noch bevor. Das Bedürfnis, auch in nichtprototypischen Umgebungen faktive Derivate zu setzen, ist bei Otfrid noch deutlich ausgeprägter. Trotz der bereits beobachtbaren oder sich wenigstens andeutenden Schwundprozesse, die das Präfix ahd./as. gi- erfassen, muss abschließend noch einmal auf den grundsätzlich hohen Funktionalitätsgrad der Kategorie hingewiesen werden, der in den jeweiligen Einzelsprachen mit graduellen Abweichungen anhand des faktiven Pols nachweisbar ist. Für beide untersuchten Idiome gilt daher: Die Verwendung von gi- ist, wenngleich nicht immer regulär, in höchstem Grade motiviert. Die Opposition ‚Gestivität: Faktivität‘ prägt das altgerm. Verbalsystem bis zum endgültigen Abbau des Präfixes am Finitum und erweist sich als weitgehend unabhängig von anderen verbalgrammatischen Kategorien.
II Die temporalen Diskursmuster Bereits in der theoretischen Annäherung an die Kategorie Tempus wurde offensichtlich, dass eine rein zeitreferenzielle Konzeptionalisierung unzureichend ist, um Funktion und Distribution einzelner morphologischer Tempora adäquat zu beschreiben. Als wesentliches und universales Merkmal der deiktischen Bezugsgröße wurde die Differenz von ‚Origo-Inklusivität‘ und ‚Origo-Exklusivität‘ angesehen, die für Inklusion oder Entkoppelung der erfahrbaren egodeiktischen Wirklichkeit von einem (abstrakten) Sprecherstandort aus steht. Um diese diskurspragmati-
II Die temporalen Diskursmuster
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schen Strukturmuster auch auf Basis historischer Texte herausarbeiten zu können, hat sich die binnentextuelle Differenzierung von ‚sprecherbezogener Rede‘ (SR) und ‚nicht-sprecherbezogener Rede‘ (NR) als notwendig erwiesen. Sowohl für das ahd. als auch das as. Verbalsystem konnten entsprechende Oppositionen hinsichtlich der Verteilung der synthetischen Haupttempora festgestellt werden: Das Präsens bezeichnet Zeitspannen und Zeitpunkte in der Gegenwart oder in der Zukunft, die die Sprechzeit inkludieren oder wenigstens berühren. Es ist daher fast ausschließlich in ‚dialogischen‘ Passagen vom Modus SR vorzufinden. Die Verhältnisse in Bezug auf die Distribution der ahd. und as. Präsensformen unterscheiden sich daher nicht von jenen des Mhd. (vgl. Zeman 2010: 252). Das Präteritum versprachlicht Zeitspannen und Zeitpunkte, die vor der Sprechzeit liegen und vom origo-deiktischen Standort des Sprechers entbunden sind. Daraus ergibt sich eine starke Affinität der Präteritumformen zu ‚nicht-dialogischen‘ Passagen vom Modus NR. Allerdings zeigen sowohl die synchronen Unterschiede zwischen dem ahd. und dem as. Teilkorpus als auch die diachronen Unterschiede im Vergleich zu den entsprechenden mhd. Verhältnissen, dass die sprachgeschichtliche Dynamik der Präteritumgruppe quantitativ bereits altsprachlich nachgezeichnet werden kann. So ist das Präteritum als Tempus der Narration und der ‚Bewusstseinsferne‘ zwar größtenteils in der ‚nicht-sprecherbezogenen‘ Rede vorzufinden, im Gegensatz zum Präsens erscheint es allerdings deutlich häufiger in seiner nicht-prototypischen Kontextumgebung des Modus SR. Da das altgerm. Tempussystem insgesamt als minimal beschrieben werden kann, ist der Grad der Polyfunktionalität des Präteritums deutlich höher als in späteren Sprachstufen. Die schrittweise Integration der periphrastischen Verbalformen geht dabei mit pragmatischen Restriktionen einher, denen das Präteritum in den folgenden Jahrhunderten unterworfen wird. Ein Vergleich der ahd. und as. Daten zeigt allerdings, dass der diachrone Rückzug des Präteritums aus sprecherbezogenen Diskurskontexten, der als ‚altgerm. Präteritumschwund‘ bezeichnet wurde, anhand eines synchronen Querschnitts bereits sichtbar wird: Auch wenn die absolute Anzahl an Präterita im Heliand jene des Perfekts deutlich übersteigt, ist der Anteil der periphrastischen Formen an einfachen Vergangenheitskontexten bereits viermal höher als bei Otfrid. Eine ähnliche Differenz ist wiederum zwischen dem as. Heliand und einem repräsentativen Versepos des Mhd. anzusetzen. Die synchron-arealen Unterschiede auf pragmatischer Ebene lassen sich damit als diachrone Schritte deuten, was zu dem methodischen Fazit führt, dass die systematische Kontrastierung des ahd. und as. Verbalsystems dazu geeignet ist, diachrone Lücken in der Geschichte der hochdeutschen Tempora (und darüber hinaus) über eine niederdeutsche Projektionsfläche zu schließen. Dass dies auch auf Basis geringen Belegmaterials möglich wird, ist der separaten Untersuchung einzelner binnentextueller Diskursmodi
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6 Ergebnisse
zu verdanken, die die tatsächlichen Verteilungsmuster unterschiedlicher morphologischer Formen viel eher zu quantifizieren vermag als bisherige Gegenüberstellungen absoluter Zahlenwerte ganzer Texte ohne Rücksichtnahme auf pragmatische Gebrauchskontexte.
III Abschließende Gedanken zum Abbau von gi- und der Entwicklung des germanischen Verbalsystems Die Frage, ob das Präfix gi- für die Entwicklung der altgerm. Tempussysteme eine Bedeutung hat, muss stark verkürzt verneint werden. Um Funktion und Rückzug von ahd./as. gi- nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ beschreiben zu können, wurden unterschiedliche temporalsemantische, pragmatische und syntaktische Parameter in die Analyse miteinbezogen. Eine konstitutive temporale Funktion des Präfixes aus synchroner Perspektive war dabei nicht nachzuweisen. Was die diachrone Dimension betrifft, gibt der fokussierte Ausschnitt diesbezüglich zunächst ebenfalls kaum Anhaltspunkte. Die offengelegten Distributionsmuster verdeutlichten zudem, dass die funktionalen und pragmatischen Charakteristiken der synthetischen Verbalformen insgesamt jenen der frühen analytischen Perfektperiphrasen in einem starken Kontrast gegenüberstehen. Während sich das Perfekt und das Plusquamperfekt in den altgerm. Sprachen im Wesentlichen durch ihren erst ansatzweise durchbrochenen Resultats- und Gegenwartsbezug auszeichnen, ist dieses Merkmal für das polyfunktionale Präteritum zwar nachweisbar, aber nicht prototypisch. Das gilt sowohl für die Simplizia als auch die gi-Derivate, die sich damit in temporalsemantischer Hinsicht klar von den Perfektformen unterscheiden. Die Emergenz des Perfekts und der Abbau des Präfixes gi- am Finitum können damit nicht in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden. Nach der Durchsicht aller präteritalen Belege muss sogar festgehalten werden, dass das Präfix gerade dort am häufigsten anzutreffen ist, wo Perfektformen prototypischerweise zum Einsatz kommen, nämlich in Kontexten der referenziellen temporalen Vorverlagerung im Verhältnis zum narrativen ‚Jetzt‘ des jeweiligen Diskursmusters. Besonders deutlich wird der temporalsemantische Überschneidungsbereich in den Kontexten der relativen Vorzeitigkeit im Nebensatz: Derivate mit plusquamperfektischer Lesart wie auch entsprechende Perfektformen mit präteritalem Auxiliar konstituieren jeweils stabile und koexistierende Funktionsräume in der Subordination, die eine temporalsemantische Deckungsgleichheit aufweisen. Während das Plusquamperfekt allerdings vorrangig distale zeitreferenzielle Entbundenheit im deiktischen System markiert, steht bei den präteritalen Formen die Rolle des Aktanten im Verhältnis zu – häufig vorangegangenen und für den Aktanten unmittel-
III Abschließende Gedanken zum Abbau von gi-
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bar erfahrbaren – Verbalhandlungen im Vordergrund. Allerdings ist gerade das haben-Perfekt, wie sich gezeigt hat, durch seine anfänglich stark transitive Struktur prädestiniert dazu, faktive Verbalereignisse zu transportieren, auch wenn es sich dabei nur um ein sekundäres Merkmal handelt. Umgekehrt fehlen dem Präfix gi- die obligatorischen Merkmale der Transitivität und der temporalen Vorzeitigkeit. Vieles deutet darauf hin, dass gi-Derivate und ein Teil der Perfektformen temporalsemantische Koaleszenzcluster bilden, die wohl mit Zunahme der Grammatikalisierung insbesondere des haben-Perfekts auch aufgrund von semantischen Synkretismen zwangsläufig zu Kollisionsräumen werden. Die wesentlichen Veränderungsprozesse, denen die altgerm. Verbalsysteme unterworfen sind, können damit nicht im Abbau aspektueller Strukturmuster zugunsten von temporaler Ausdifferenzierung gefunden werden. Der größte gemeinsame Nenner aller Entwicklungen ist die Reorganisation der heterogenen Argumentstrukturen: Das akkusativische periphrastische haben-Perfekt durchbricht das ergativisch organisierte Resultativsystem und schafft die Grundlage für einen binären Gegensatz von Aktiv und Passiv. Im synthetischen Bereich beginnen sich die ebenfalls diathetischen Perspektivenpole von Gestivität und Faktivität aufzulösen, die zuvor für eine semantische Rollenzuweisung zwischen der schwach ausgeprägten Markierung von aktiven und passiven Handlungsrichtungen zuständig waren. Im Gegenwartsdeutschen kann durch die Veränderung der Argumentstruktur ein definites Patiens in einer privilegierten syntaktischen Position realisiert werden. Ein agensunfähiges Element wie das direkte Objekt wird zum Subjekt gemacht, um damit in den Fokus des Rezipienten zu rücken. Das Passiv stellt hier also eine Ergativstruktur her, in der die Rolle des topikalisierten Subjekts prototypisch als Patiens aufgefasst wird. Als wesentliche Funktion der Passivierung kann damit nicht die Agensreduktion, sondern vor allem die Perspektivenverlagerung in Bezug auf den jeweiligen Betrachterstandort genannt werden. Es sind diese konzeptionellen Parallelen, die Leiss (1992) aus nachvollziehbaren Gründen Ähnlichkeiten zwischen der Kategorie des Aspekts und der Diathese erkennen lassen haben. Als problematisch hat sich lediglich erwiesen, dass ihr Begriff der aspektuellen Perspektive nicht immer mit den notwendigen temporalaspektuellen Lesarten der jeweiligen Formen korreliert. Wenn wir uns von einem solchen Anspruch aber befreien, wie ich in dieser Arbeit vorgeschlagen habe, ergibt sich ein stimmigeres Bild. Die mereologischen Überschneidungsbereiche von Gestivität und Aktiv auf der einen und Faktivität und Passiv auf der anderen Seite sind deutlich auffälliger als wie auch immer geartete temporale oder aspektuelle Strukturmuster, die sich aus der Verwendung von germ. ✶ga-Derivaten unzureichend ableiten lassen: Unmarkierte Aktivsätze zeichnen sich durch ihre subjektorientierte Perspektive aus, markierte Passivsätze ermöglichen dem Patiens eine vordergrundierte Argumentposition. Anders gesagt: Eine Sprache, die über voll
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6 Ergebnisse
entwickelte akkusativische Strukturen verfügt, die durch sein-Passiv und habenPerfekt konstituiert werden, braucht keine zusätzliche Markierung von Gestivität und Faktivität. Der hier eng gefasste Fokus, der vor allem die Organisation des temporalen Systems im Blick hatte, muss in Zukunft nicht nur auf andere Verbalkategorien, sondern auch auf den nominalen Bereich ausgeweitet werden. So wie das vermeintlich assoziative Verhältnis von Präfigierung und Tempus dekonstruiert werden konnte, bedürfen auch die Entwicklungen der Transitivitätsverhältnisse und der nominalen Definitheit, die hier nur am Rande Beachtung erfahren haben, einer Evaluation und gegebenenfalls einer Revision. Diese Arbeit versteht sich damit als Vorschlag, nicht nur die Entwicklungen des germ. Verbalsystems vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse neu zu erzählen.
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Register Additivität 27, 81 Akkusativ XV, 27–28, 30–32, 119, 126 Aktionsart 10, 14, 16–19, 23, 31–32, 38–41, 45, 47, 71, 205, 216 Altenglisch XV, 44, 72, 120, 124, 134 Altfriesisch XV Altgermanisch XV, 2–3, 6, 8–9, 14, 20, 24, 26–29, 32, 34–36, 38, 43, 46, 51, 54–56, 60, 72, 74, 79, 81, 83, 98–100, 116, 122, 131, 143, 145, 151, 158, 176–178, 202, 222, 246–249 Altkirchenslawisch XV Altnordisch XV, 12, 26, 59, 71, 79, 83, 92, 120, 147, 151, 162, 166, 207, 213, 217, 219, 238 Aorist 100, 106–107, 178 Artikel XV, 28–29, 47, 55, 135, 144 Aspekt-Modalitätskorrelar 26 Atelizität 16, 19, 119, 217, 231, 242, 245 Außenperspektive 11–13, 16–18, 88 Bulgarisch 29 Dativ XV Definitheit XV, 27–28, 32, 44, 250 Deontik 27, 74 Deutsch 2, 8–9, 13–15, 17–18, 28–29, 36–37, 39, 42–43, 50–52, 55, 83–84, 87–88, 92–93, 97, 107, 112, 120, 122–123, 126–127, 130, 132, 178, 198, 201, 222, 249 Diathese 2, 49–50, 53, 69, 81, 112, 123, 171, 225, 249 Durativität 27, 31–32 Englisch 50, 84, 97, 120, 124, 127, 149 Epistemik 27, 74 Ereigniszeit XV, 84–91, 95, 97, 102, 107–108, 178, 195–196, 198, 207, 218, 220–221, 223, 231–232, 234, 242 Exaptation 6, 130, 132–133
https://doi.org/10.1515/9783111040387-008
Frühneuhochdeutsch XV, 82, 94, 109, 128, 176, 220 Generizität 27 Genitiv XV, 2, 27–32, 144 Germanisch XV, 1–2, 5, 9, 18–20, 22, 26, 28–30, 33–41, 43–48, 50, 55–56, 65, 78, 80, 82–83, 88, 98–100, 107, 120–123, 129, 132, 134, 138, 152, 155, 176, 220, 245, 249–250 Gleichzeitigkeit XV, 23–24, 25, 45–46, 90, 97, 102, 181–182, 185, 187, 190–191, 203, 205, 211–212, 220–221, 223, 227, 229, 231–233, 237, 242 Gotisch XV, 1, 3, 8, 34, 36–39, 41, 43–52, 55–56, 62, 64, 67, 72, 74–75, 77, 79, 98–101, 104, 109, 116, 120–123, 152, 230 Grenzbezogenheit 14–16, 17, 32, 57, 136, 216 Griechisch XV, 41, 45, 101, 107 Habitualität 29–30, 32 Homogenität 27, 81 Imperfektivität XV, 12–13, 16, 18–20, 22–23, 25, 27–28, 30–31, 37, 40–42, 81, 152, 224 Inchoativität 19 Indefinitheit 27–29 Indogermanisch XV, 27, 38, 50, 130 Infinitiv XV, 27, 72, 104, 144, 149 Innenperspektive 11–13, 16, 18–19, 88 Intransitivität 48, 119, 123, 127, 245 Kasus 31–32 Keltisch XV Kontinentalwestgermanisch 3, 29, 79, 120, 130, 136, 149 Latein XV, 9, 37–38, 44–46, 52–54, 101, 103, 106, 124–125, 138–139, 146 Lexikalischer Aspekt 16 Ludwigslied 105
270
Register
Mittelhochdeutsch XV, 1–2, 28, 44, 68, 74, 82, 88, 94, 104–105, 107, 109, 116, 128, 134–137, 147, 155, 162, 164–166, 168, 170, 173–174, 182, 185, 191, 194, 201, 209, 216, 218, 234, 247 Mittelniederdeutsch XV, 94, 131 Modalverb 26–27, 72, 74, 93, 104, 144, 148, 157, 159, 167–170, 224, 230
Slawisch XVI, 9, 13, 16, 18–20, 22, 25–26, 28–30, 33, 38, 40–42, 44–47, 81, 163 Spezifizität 27 Sprechzeit XV, 52, 57, 84–91, 94–97, 102, 107–108, 111–112, 127, 141, 178, 182, 195–196, 218, 220–222, 224, 229, 231–232, 240, 242, 247 Stativität 29–30
Nachzeitigkeit XV, 39, 182, 189–191, 203, 211–212, 216, 218, 223, 227, 229, 232–233, 237, 242 Neuhochdeutsch XV, 1, 7, 36–39, 44, 48, 54, 78, 80, 87, 93, 109–110, 132–133, 135, 195, 197, 217 Nominalphrase XV, 28 Nominativ XV
Tamilisch 50 Tatian 44–46, 106, 119, 123, 182–183 Telizität 16, 19, 27–28, 30, 81, 87, 112–113, 116, 152, 180, 201–202, 204, 207, 210, 213–216, 219, 224–225, 228, 231, 233–234, 236, 242–243, 245 Terminativität 16–17, 19, 23, 41, 57, 59, 80–81, 122, 244 Transitivität 48, 51, 56–57, 59, 65, 69, 113, 117, 119, 121, 125–126, 196, 198, 214, 224, 245, 249 Tschechisch 29, 43
Oberdeutsch 4, 82, 92 Origo 5, 12, 83, 90–92, 94, 97, 127, 134, 165, 246 Ostslawisch 13, 25, 28, 108 Partitivität 28–30 Passiv 123 Perfektivität XV, 1, 12–14, 16, 18–20, 22–25, 27–28, 30–32, 37, 40–44, 57, 77, 80–81, 85, 103, 108, 122, 152, 182, 224, 244 Präteritumschwund 82, 92, 247 Referenzzeit XV, 85–86, 87, 88, 89, 90, 91, 95–97, 102, 107–108, 118, 127, 141, 144, 178, 182, 186, 195–196, 211, 218, 220–221, 224, 229, 231, 242 Resultativität 108, 119 Romanisch XV, 29, 92, 124, 127 Russisch 13, 29, 152
Urgermanisch XVI, 1–2, 3, 5, 10, 35–36, 43, 72, 82, 99–101, 106, 124, 178 Urindogermanisch XVI, 99–100, 106, 124 Verbalcharakter 10, 14, 17, 41, 219 Verbum dicendi 56, 102–103, 186, 193–194, 198, 205–206, 212, 215, 240 Vorgermanisch XVI, 100 Vorzeitigkeit XVI, 23, 45, 174, 182, 188–189, 191, 194, 196, 201, 203–204, 209, 211–212, 214, 223, 226, 229, 233, 237, 242, 248 Westgermanisch 1, 3–4, 41, 55, 83, 101, 113, 116, 121–123, 125–126, 138 Wulfilabibel 45, 51