Gedächtnistheorie und Neues Testament: Eine methodisch-hermeneutische Einführung 3825259048, 9783825259044

Mit seinem innovativen Ansatz erschließt das Lehrbuch erstmals die Erkenntnisse interdisziplinärer Forschung zu Gedächtn

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German Pages 372 [374] Year 2022

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Table of contents :
Frontmatter
Cover
Impressum
Inhalt
I.1 ‍Einführung und Begriffsklärung
Gedächtnis und Erinnerung in der Bibel und im frühen Christentum
Gedächtnis und Erinnerung in der Kulturwissenschaft
Gedächtnis und Erinnerung in der Bibelwissenschaft
I.2 ‍Individuelle Erinnerung
Alltagskommunikation und die Weitergabe von Erfahrungen
Erfahrung, Erinnerung und narrative Versprachlichung: Geschichten erzählen
Semantisches und episodisches Gedächtnis
Körperliches Gedächtnis und ausgelagertes Gedächtnis
I.3 Formen sozialer Erinnerung
Soziales und kollektives Gedächtnis (Maurice Halbwachs)
Kollektives und kulturelles Gedächtnis (Aleida und Jan Assmann)
Generational Gap und Neues Testament: Die Predigt des Stephanus (Apg 6,8–7,60)
Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis im Modell
I.4 Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel
Ein Blick auf die Gegenwart
Mediale Aushandlung und Vermittlung
Generationen und Krisenzeiten: Von Ostern aus gedacht
Die unterschiedlichen Perspektiven frühchristlicher Texte
Paulus
Matthäus
Polykarp
I.5 ‍Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte
Generation als heuristische Kategorie in der Bibelwissenschaft
Unterschiedliche Generationen und veränderte Problemlagen
Texte und Textsorten der dritten Generation
Die frühchristlichen Generationen im Überblick
I.6 ‍Fast wie ein Familienalbum: Neutestamentliche Texte als Momentaufnahmen
Familienalben und Familiengeschichte
Einzelanekdoten und Erzählzusammenhänge
Von den Familiengeschichten zur Familienchronik
Elementare Erzählformen
Das Neue Testament als Sammlung frühchristlicher Momentaufnahmen
I.7 ‍Das Neue Testament als kulturellen Text lesen
Notwendige Vorentscheidungen
Neutestamentliche Texte als Gedächtnistexte lesen
Methodisches Vorgehen
Konkrete Arbeitsschritte
II.1 ‍Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater
Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte
Der aktuelle Stand
Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen
Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung
II.2 Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser
Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte
Der aktuelle Stand
Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen
Irritationen und Inkongruenzen
Abgleich mit Vergleichstexten und Sekundärliteratur
Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung
II.3 ‍Traditionen erzählen: Das Markusevangelium als Erzähltext
Erste Orientierung über das Markusevangelium: Struktur und Einzelepisoden
Der Anfang des Markusevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen
Erzählerische Gestaltung von Mk 1,1–3,6
Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung
II.4 ‍Traditionen weiterentwickeln: Das Lukasevangelium als zweiter Entwurf
Der Anfang des Lukasevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen
Erzählstimme und Gestaltung der Erzählung
Kulturelle Rahmen im Lukasevangelium
Erzählfiguren im Lukasevangelium
Jesus im Lukasevangelium
Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung
II.5 ‍Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte
Der Anfang der Apostelgeschichte (1,1–12)
Inhalt und Textstruktur der Apostelgeschichte
Erzählerische Gestaltung
Inhalt und Zweck der Reden in der Apostelgeschichte
Verhältnis der Apostelgeschichte zum Lukasevangelium
Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung
II.6 ‍Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief
Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte
Der aktuelle Stand
Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen
Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung
II.7‍ ‍Weiterführende Beobachtungen nach den exemplarischen Lektüren
III.1 ‍Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese
Historische Jesusforschung und kulturwissenschaftliche Exegese: Abgrenzungen
Kritische Anfragen an kulturwissenschaftliche Exegese
Weitere mögliche Arbeitsfelder kulturwissenschaftlicher Exegese
III.2 ‍Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich
Die Thessalonicherkorrespondenz in kulturwissenschaftlicher Perspektive
Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Leseerwartungen
Untersuchungsfragen
Beobachtungen am Ersten Thessalonicherbrief
Beobachtungen am Zweiten Thessalonicherbrief
Auswertung
III.3 ‍Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese
Rezeptionskategorie oder Aussage über die Textproduktion?
Das „Wunder von Bern“ und die Entwicklung von Rezeptionskategorien
Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Rezeptionskategorien
III.4 ‍Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken
Rezeptionskategorien orientieren sich an den Bedürfnissen derjenigen, die sie entwickeln
Tradentenketten und die Überbrückung des Floating Gap
Generationen und Tradentenfragen
Papias und die Fragen am Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis
III.5 Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis
Hermeneutischer Vorspann: Was ist der Kanon?
Kanon und Interpretationsgemeinschaft
Die Trienter Kanonentscheidung in kulturwissenschaftlicher Perspektive
Die Rezeption der Trienter Kanonentscheidung
Backmatter
IV ‍‍Anhang
Glossar
Literaturverzeichnis
Autorenverzeichnis
Bibelstellenverzeichnis
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Gedächtnistheorie und Neues Testament: Eine methodisch-hermeneutische Einführung
 3825259048, 9783825259044

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Sandra Huebenthal

Gedächtnistheorie und Neues Testament Eine methodisch-hermeneutische Einführung

utb 5904

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh – Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen – Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag – expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main

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23.03.2022 10:23:51

            Prof. Dr. Sandra Huebenthal ist Inhaberin des Lehr‐ stuhls für Exegese und Biblische Theologie an der Universität Passau.

Sandra Huebenthal

Gedächtnistheorie und Neues Testament Eine methodisch-hermeneutische Einführung

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Umschlagabbildung: Novum Instrumentum omne. Diligenter ab Erasmo Rotero‐ damo recognitum & emendatum, non solum ad graecam veritatem, verum etiam ad multorum utriusque lingae codicum ... fidem. Basilea: Froben, 1516. Bayerische Staatsbibliothek; Creative Commons CC0 1.0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

DOI: https://www.doi.org/10.36198/9783838559049 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:in‐ nen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: [email protected] Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5904 ISBN 978-3-8252-5904-4 (Print) ISBN 978-3-8385-5904-9 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5904-4 (ePub)

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Hermeneutische Grundlegung und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I.1

I.2

I.3

I.4

Einführung und Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnis und Erinnerung in der Bibel und im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnis und Erinnerung in der Kulturwissenschaft . . . . . . . . . Gedächtnis und Erinnerung in der Bibelwissenschaft . . . . . . . . . .

15

Individuelle Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagskommunikation und die Weitergabe von Erfahrungen . . . Erfahrung, Erinnerung und narrative Versprachlichung: Geschichten erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semantisches und episodisches Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliches Gedächtnis und ausgelagertes Gedächtnis . . . . . . .

27 27

Formen sozialer Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziales und kollektives Gedächtnis (Maurice Halbwachs) . . . . . Kollektives und kulturelles Gedächtnis (Aleida und Jan Assmann) Generational Gap und Neues Testament: Die Predigt des Stephanus (Apg 6,8–7,60) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis im Modell . . . . .

43 43 49

Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel . . . . . . . . . . . . . . Ein Blick auf die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediale Aushandlung und Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generationen und Krisenzeiten: Von Ostern aus gedacht . . . . . . . Die unterschiedlichen Perspektiven frühchristlicher Texte . . . . . Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 63 66 69 71 72

15 19 23

30 34 38

53 55

6

Inhalt

Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Polykarp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 I.5

Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generation als heuristische Kategorie in der Bibelwissenschaft . Unterschiedliche Generationen und veränderte Problemlagen . . Texte und Textsorten der dritten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . Die frühchristlichen Generationen im Überblick . . . . . . . . . . . . . .

I.6

Fast wie ein Familienalbum: Neutestamentliche Texte als Momentaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Familienalben und Familiengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Einzelanekdoten und Erzählzusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Von den Familiengeschichten zur Familienchronik . . . . . . . . . . . 106 Elementare Erzählformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Das Neue Testament als Sammlung frühchristlicher Momentaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

I.7

Das Neue Testament als kulturellen Text lesen . . . . . . . . . . . . . . . 115 Notwendige Vorentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Neutestamentliche Texte als Gedächtnistexte lesen . . . . . . . . . . . . 121 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Konkrete Arbeitsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

II

Exemplarische Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

II.1

Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater . . . . 139 Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Der aktuelle Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen . . . . 146 Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung . . . . . . . . . 150

II.2

Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

77 77 87 91 95

Inhalt

7

Der aktuelle Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen . . . . 159 Irritationen und Inkongruenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Abgleich mit Vergleichstexten und Sekundärliteratur . . . . . . . . . . 163 Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung . . . . . . . . . 167 II.3

Traditionen erzählen: Das Markusevangelium als Erzähltext . . . 171 Erste Orientierung über das Markusevangelium: Struktur und Einzelepisoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Der Anfang des Markusevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Erzählerische Gestaltung von Mk 1,1–3,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung . . . . . . . . . 185

II.4

Traditionen weiterentwickeln: Das Lukasevangelium als zweiter Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Der Anfang des Lukasevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Erzählstimme und Gestaltung der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Kulturelle Rahmen im Lukasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Erzählfiguren im Lukasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Jesus im Lukasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung . . . . . . . . . 211

II.5

Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . Der Anfang der Apostelgeschichte (1,1–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt und Textstruktur der Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . Erzählerische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt und Zweck der Reden in der Apostelgeschichte . . . . . . . . Verhältnis der Apostelgeschichte zum Lukasevangelium . . . . . . . Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung . . . . . . . . .

II.6

Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief . . . . . . . . . . . . 235 Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Der aktuelle Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

213 214 217 222 223 228 231

8

Inhalt

Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen . . . . 240 Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung . . . . . . . . . 243 II.7

Weiterführende Beobachtungen nach den exemplarischen Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

III

Konkretionen: Potential und Grenzen Kulturwissenschaftlicher Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

III.1 Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Historische Jesusforschung und kulturwissenschaftliche Exegese: Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Kritische Anfragen an kulturwissenschaftliche Exegese . . . . . . . 257 Weitere mögliche Arbeitsfelder kulturwissenschaftlicher Exegese 264 III.2 Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Die Thessalonicherkorrespondenz in kulturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Leseerwartungen . . . . . . . 269 Untersuchungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Beobachtungen am Ersten Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . 273 Beobachtungen am Zweiten Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . 277 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 III.3 Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Flavierthese und das Markusevangelium: Rezeptionskategorie oder Aussage über die Textproduktion? . . . Das „Wunder von Bern“ und die Entwicklung von Rezeptionskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Rezeptionskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285 285 290 296

Inhalt

9

III.4 Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Rezeptionskategorien orientieren sich an den Bedürfnissen derjenigen, die sie entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Tradentenketten und die Überbrückung des Floating Gap . . . . . . 305 Generationen und Tradentenfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Papias und die Fragen am Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 III.5 Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis . . . . . . . 317 Hermeneutischer Vorspann: Was ist der Kanon? . . . . . . . . . . . . . . 318 Kanon und Interpretationsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Die Trienter Kanonentscheidung in kulturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Die Rezeption der Trienter Kanonentscheidung . . . . . . . . . . . . . . 332 IV

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Bibelstellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Vorwort Im Zuge des Cultural Turn haben kulturwissenschaftliche Ansätze – und mit ihnen auch Fragen zu Erinnerung und kollektiven Gedächtnissen – in viele Einzelwissenschaften Einzug gehalten. Theologie und die Bibelwissenschaft bilden dabei keine Ausnahme. Schon seit der Antike ist die Erforschung biblischer Texte mit Fragen zu Erinnerung und Gedächtnis verbunden. Meist war der Blick dabei auf die Prozesse der Bildung und Überlieferung von Traditionen gerichtet, und daher ist es nicht verwunderlich, dass kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie – und ihr anglo-amerikanisches Pendant Social Memory Theory – zuerst von der historischen Jesusforschung aufgegriffen wurde und so das Paradigma des historischen Jesus durch das Paradigma vom erinnerten Jesus ersetzt wurde. Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Wenn man den Blick von den Prozessen auf die Produkte der Erinnerung lenkt, geht es weniger darum, wie Traditionen entstanden sind und weitergegeben wurden; vielmehr geht es darum, konkrete Artefakte wie die Schriften des Neuen Testaments als Produkte kollektiver Gedächtnisse zu verstehen sind. Dieser Zugang ist für Theologie und Bibelwissenschaft noch relativ neu, und daher fehlte eine Einführung in Hermeneutik und Methodik, die Erkenntnisse kultur‐ wissenschaftlicher Gedächtnistheorie für die Arbeit mit biblischen Texten aufbereitet, und außerdem aufzeigt, welche neuen Möglichkeiten sich für die Lektüre und das Studium der Bibel ergeben. Die Anwendung von Erkenntnissen der interdisziplinären Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung auf biblische Texte steht noch am Anfang, eine erprobte und allgemein akzeptierte Methodik existiert noch nicht. Das vorliegende Lehrbuch will also eine Lücke schließen; seine Chance liegt deshalb in dem Versuch, erstmals einen solchen Zugang zu entwicken, zu beschreiben und durchzuspielen. Dazu gehört neben einer allgemeinen Ein‐ führung auch die Darstellung der praktischen Anwendung auf die Lektüre neutestamentlicher Texte. Dabei zeigt sich das Potential eines kulturwis‐ senschaftlich und gedächtnistheoretisch informierten Studiums des Neuen Testaments: Da Produktions- und Rezeptionsseite der Texte mit den gleichen Methoden analysiert werden, wird es für heutige Leserinnen und Leser, die ebenfalls zur Rezeptionsseite gehören, leichter, die neutestamentlichen Texte als identitätsstiftende Texte früher Christen und als Teil ihres eigenen

kulturellen Gedächtnisses zu verstehen und mit eigenen Erfahrungen an die in den Texten beschriebenen Erfahrungen anzuknüpfen. Das vorliegende Lehrbuch erklärt in drei Teilen Begriffe und Konzepte zu Gedächtnis und Erinnerung und zeigt anhand von Beispielen, wie kulturwis‐ senschaftliche Gedächtnistheorie das Verständnis und die Auslegung neu‐ testamentlicher Texte bereichern und ergänzen kann. Exemplarische Lektü‐ ren neutestamentlicher Texte geben Gelegenheit, einzelne Methodenschritte an Textbeispielen zu erproben und die dabei gewonnenen Erkenntnisse auszuwerten. Der Ausblick im dritten Teil untersucht anhand verschiedener Beispiele, wie eine so verstandene kulturwissenschaftliche Exegese ihren Platz im Spektrum der exegetischen Hermeneutiken finden kann, und wie sie andere Zugänge zu den gleichen Texten ergänzt. Das vorliegende Buch entstand im Zusammenhang mit mehreren Lehr‐ veranstaltungen an der Universität Passau. Die Textbeobachtungen von Studierenden und Kollegen zum Neuen Testament und zu Texten des frühen Christentums sowie die Diskussionen zur kulturwissenschaftlichen Exegese mit Studierenden und Kollegen haben dieses Buch an vielen Stellen entscheidend vorangebracht. Mein Dank gilt insbesondere den Mitgliedern des Passauer Oberseminars, des Seminars „Bibel, Erinnerung, Identität: Neutestamentliche Texte lesen“ und der Vorlesung „Biblische Hermeneutik“ für intensive Diskussionen und für die Bereitschaft, sich auf eine neue Hermeneutik einzulassen. Mein ganz besonderer Dank gilt Dr. Manuel Bonimeier, Renate Braun, Verena Grassl, Dr. Bernhard Klinger, Felix Graf Lambsdorff und Eva Mlatílikova für ihre kritischen Rückmeldungen zum Manuskript des Lehrbuchs. Laura Schmidt danke ich herzlich für die pro‐ fessionelle Gestaltung der Graphiken und die Vorbereitung für den Satz. Es war eine Freude, das vorliegende Lehrbuch gemeinsam mit Dr. Kristina Dronsch entwickeln zu können und fast 20 Jahre nach unserer gemeinsamen Zeit im Oberseminar wieder zusammenzuarbeiten. Stefan Selbmann danke ich für den professionellen und trotzdem unkomplizierten Lektoratsprozess und dem Verlag Narr Francke Attempto für die stets gute Zusammenarbeit und das Vertrauen in einen neuen Ansatz. Passau im Mai 2022 Sandra Huebenthal

Hermeneutische Grundlegung und Methodik

I.1 Einführung und Begriffsklärung Das erste Kapitel erläutert die Bedeutung von Gedächtnis und Erinnerung für biblische Texte und erklärt ausgehend von der inter- und transdis‐ ziplinären Forschung wie Gedächtnis/Erinnerung als hermeneutische Kategorie in der Bibelwissenschaft zur Anwendung kommen kann.

Gedächtnis und Erinnerung in der Bibel und im frühen Christentum Gedächtnis1 und Erinnerung sind nicht nur Alltagsbegriffe, sondern auch theologisch aufgeladene Kategorien mit großer Wirkungsgeschichte. Schon im Alten Testament sind Gedächtnis und Erinnerung wichtige theologische Kategorien, da sich das Volk Israel über Erinnerung und Vergegenwärtigung konstituiert. Besonders gut sichtbar wird diese Verbindung in der identitätsstiftenden Erinnerung des Exodusgeschehens, z. B. in Ex 13,3–10: Mose sagte zum Volk: Denkt an diesen Tag, an dem ihr aus Ägypten, dem Sklavenhaus, fortgezogen seid; denn mit starker Hand hat euch der H ERR von dort herausgeführt. Nichts Gesäuertes soll man essen. 4Heute im Monat Abib seid ihr weggezogen. 5Wenn dich der H ERR in das Land der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Hiwiter und Jebusiter geführt hat – er hat deinen Vätern mit einem Eid zugesichert, dir das Land zu geben, wo Milch und Honig fließen –, erfülle diesen Dienst in diesem Monat! 6Sieben Tage sollst du ungesäuerte Brote essen, am siebten Tag ist ein Fest für den H ERRN. 7Ungesäuerte Brote soll man sieben Tage lang essen. Nichts Gesäuertes soll man bei dir sehen und kein Sauerteig soll in deinem ganzen Gebiet zu finden sein. 8An diesem Tag erzähl deinem Sohn: Das geschieht für das, was der H ERR an mir getan hat, als ich aus Ägypten auszog. 9Es sei dir ein Zeichen an der Hand und ein Erinnerungsmal zwischen deinen Augen, damit die Weisung des H ERRN in deinem Mund sei. Denn mit starker Hand hat 3

1

Begriffe, die fett gedruckt sind, werden im Glossar im Anhang genauer erläutert.

16

I.1  Einführung und Begriffsklärung

dich der H ERR aus Ägypten herausgeführt. 10Bewahre diese Satzung, Jahr für Jahr, zur festgesetzten Zeit!

Der für das Judentum zentrale Begriff zachor (Gedenken, Erinnerung, vom hebräischen Verb ‫ )זכר‬begegnet in diesem Textstück gleich zweifach: In 13,3 wird das Volk dazu aufgerufen, sich zu erinnern und in 13,9 ist von einem Zeichen zur Erinnerung die Rede, mit dem die Erinnerung verkörpert und damit ebenso vergegenwärtigt wird wie durch das Ritual, sieben Tage lang ungesäuerte Brote zu essen. Die abschließende Ermahnung, diese Ordnung zu bewahren, stellt sicher, dass die Erinnerung in jedem Jahr wiederum zu einem bestimmten Zeitpunkt vergegenwärtigt wird. Die Erinnerung hat da‐ mit nicht nur ein klares Ziel – Identitätsstiftung –, sondern auch einen klaren Ort im Jahreszyklus der Erinnerungsgemeinschaft, dem Volk Israel, das sich aus der Erinnerung an das konstituierende Ereignis oder Gründungsereignis der Herausführung aus Ägypten, dem Exodus, heraus versteht. Im Christentum spielen Gedächtnis und Erinnerung ebenfalls eine wich‐ tige Rolle. Die Kategorie anamnesis ist ein ähnlich zentraler Begriff wie zachor im Judentum. Das Neue Testament, das in kulturwissenschaftlicher Perspektive die Gründungsurkunde des Christentums darstellt, ist dabei das Scharnier zwischen Gründungsereignis(sen) und vergegenwärtigender Erinnerung bei der Lektüre oder liturgischen Inszenierung der Texte. In den Schriften des Neuen Testament werden für Gedächtnis, Gedenken und Erinnerung unterschiedliche Begriffe verwendet, die alle auf der Wurzel mnē (μνη-) basieren: anamnēsis (ἀνάμνησις, Lk 22,19; 1 Kor 11,24.25; Hebr 10,3), mneia (μνεία, Röm 1,9; 1 Thess 1,2; 3,6; Phil 1,3; Phlm 4; Eph 1,16; 2 Tim 1,3), mnēmē (μνήμη, 2 Petr 1,15), mnēmosynon (μνημόσυνον, (Mt 26,13; Mk 14,9; Apg 10,4) und hypomnēsis (ὑπόμνησις, 2 Tim 1,5; 2 Petr 1,13; 3,1). Die Verwendung des Begriffsfeldes sich erinnern, gedenken beschreibt dabei nicht allein ein innerliches oder geistiges Geschehen, sondern bezeichnet auch Worte oder Handlungen, die „dem Gedächtnis dienen und zur Erinne‐ rung werden“, wie es im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament heißt.2 Diese Form von Gedächtnis/Erinnerung kann sowohl individuell als auch kollektiv sein, sprich: von Einzelnen oder Gruppen ausgeübt werden. Sie dient in den meisten Fällen der Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens, das zu bewahren und weiterzugeben ist. Diese Prozesse sind damit struktu‐ ranalog zum alttestamentlichen zachor. Mit Otto Michel, der den Artikel

2

Otto Michel: Art.: µιννησικοµαι κτλ., ThWNT 4, 678–687.

Gedächtnis und Erinnerung in der Bibel und im frühen Christentum

im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament verfasst hat, lässt sich formulieren, dass die apostolische Verkündigung nicht nur Erinnerung ist, sondern gleichzeitig auch nach Erinnerung verlangt, die bestimmte, mitunter ritualisierte Formen braucht. Erinnerung ist als hermeneutische Kategorie für den Umgang mit den Evangelien und das Verständnis der Evangelien ist fast so alt wie das Nachdenken über die Evangelien selbst. Bereits in der frühen Kirche wurde der Diskurs über die Evangelien mit Begriffen aus dem Wortfeld mnēmoneuō (μνημονεύω) geführt. Die bekanntesten frühchristlichen Au‐ toren, die mit diesen Begriffen arbeiten, sind Justin der Märtyrer (ca. 100–165 n. Chr.) und Papias von Hierapolis (ca. 70–140 n. Chr.), dessen Werk nur noch in Fragmenten vorliegt und beispielsweise bei Euseb von Caesarea (ca. 260–340 n. Chr.) überliefert ist. Justin und Papias bezeichnen die Evangelien als apomnēmoneumata (ἀπομνημονεύματα) oder hypomnē‐ mata (ὑπομνήματα). In der Ersten Apologie erklärt Justin zur Herkunft der Eucharistie: Denn die Apostel haben in den von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien heißen, überliefert, es sei ihnen folgende Anweisung gegeben worden: Jesus habe Brot genommen, Dank gesagt und gesprochen: „Das tut zu meinem Gedächtnis, das ist mein Leib“, und ebenso habe er den Becher genommen, Dank gesagt und gesprochen: „Dieses ist mein Blut“, und er habe nur ihnen davon mitgeteilt.3

Uns geht es hier weniger um den Inhalt seiner Ausführungen als um den Begriff, den er für die Evangelien verwendet: apomnēmoneumata (ἀπομνημονεύματα), eine Wendung aus dem Begriffsfeld „Erinnerung“. Papias von Hierapolis verwendet ebenfalls Wendungen aus dem Begriffs‐ feld „Erinnerung“, wenn er über die Herkunft der Evangelien spricht. Die Evangelien nach Matthäus und Johannes nennt er „Erinnerungen an die Lehre des Herrn“ (tōn toū kyriou diatribōn hypomnēmata, τῶν τοῦ κυρίου διατριβῶν ὑπομνήματα)4 und auch das Markusevangelium gilt ihm als „Erinnerung“, wenngleich aus zweiter Hand. Markus als Hermeneut (her‐ meneutēs, ἑρμηνευτὴς, gerne mit „Dolmetscher“ übersetzt) hat ihm zufolge 3 4

Justin 1 apol. 66,3, nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-1073a/versions/erste-a pologie-bkv/divisions/67 (letzter Aufruf: 25.04.2022). Eus. h.e. III 24,5, nach BKV, bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/kirchengeschich te-bkv-2/divisions/68. Der griechische Text ist unter bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/ versions/kklisiastik-stora/divisions/68 zu finden (letzter Aufruf: 25.04.2022).

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I.1  Einführung und Begriffsklärung

die Lehre des Petrus so aufgeschrieben, wie er sich erinnerte.5 Das Markus‐ evangelium wäre demnach die schriftliche Erinnerung an die mündlich vorgetragene Lehre des Petrus, das Matthäus- und Johannesevangelium Erinnerungen an die Lehre des Herrn. Mit den Erinnerungen aus zweiter Hand erklärt Papias die Unstimmig‐ keiten und die mangelnde Ordnung, die offenbar im Markusevangelium wahrgenommen wurden. Dabei wird noch etwas anderes sichtbar, das für das Verständnis der Evangelien als „Erinnerungen“ und die hermeneuti‐ sche Kategorie der „Erinnerung“ wichtig ist: Papias geht zwar von der authentischen Zeugenschaft des Markus aus, das Markusevangelium ist für ihn aber kein objektiver Bericht. Er geht vielmehr von einer bedarfsund damit hörerorientierten Lehrtätigkeit des Petrus aus, die Markus dann nach seinem Erinnerungsvermögen notiert. Es geht demnach im Markusevangelium nicht um eine strukturierte Gesamtdarstellung der Worte und Taten Jesu in ihrer chronologischen Reihenfolge, sondern um die Erinnerung des Petrus, die in einzelnen ungeordneten Episoden vorliegt und aus seiner eigenen Perspektive erzählt wird. Wenn wir einen Schritt zurücktreten, wird klar, dass bei Papias – und darin ist ihm der Kirchenschriftsteller Euseb gefolgt – im Hinblick auf die Evangelien von Geschichtsschreibung keine Rede ist. Es handelt sich vielmehr um eine Form verkündigender Lehre, die in ihrer schriftlichen Form ebenfalls wieder Verkündigung sein soll. 6 Aus der Verwendung von Begriffen aus dem Wortfeld Gedächtnis/Erin‐ nerung in der Antike lässt sich damit festhalten, dass „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ keine historischen, sondern hermeneutische Kategorien sind. Es geht nicht um das, was geschehen ist, sondern darum, wie Gesche‐ henes verstanden wird.

5 6

Papias Frag. V (Eus. h.e. III 39,15, nach BKV, bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/ kirchengeschichte-bkv-2/divisions/83, griechischer Text: https://bkv.unifr.ch/de/work s/cpg-3495/versions/kklisiastik-stora/divisions/83 (letzter Aufruf: 25.04.2022). Eus. h.e. II 15,2, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/kirchengeschicht e-bkv-2/divisions/32 (letzter Aufruf: 25.04.2022).

Gedächtnis und Erinnerung in der Kulturwissenschaft

Gedächtnis und Erinnerung in der Kulturwissenschaft Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wird disziplinübergreifend zu Ge‐ dächtnis und Erinnerung geforscht. Für unsere Zwecke ist dabei insbeson‐ dere die kulturwissenschaftliche Forschung interessant, doch um sie besser zu verstehen und einordnen zu können, ist es sinnvoll, mit einem Blick auf die Etymologie des Begriffsfeldes Gedächtnis/Erinnerung zu beginnen. Eine sprachliche Herleitung des Erinnerungsbegriffs lässt unterschiedli‐ che Bedeutungsnuancen erkennen, die bereits anzeigen, in welche Richtung Forschung zur Erinnerung gehen kann. „Der Ursprung des Verbs ‚erinnern‘ liegt im ‚inne werden‘ oder ‚innern‘.“7 Das zugrundeliegende semantische Wortfeld erstreckt sich dabei vor allem auf die Bedeutung „ins Bewusst‐ sein bringen“ oder „ins Gedächtnis bringen“, also „an etwas denken oder zurückdenken“. Der Grundgedanke besteht darin, dass bestimmte Inhalte wieder in den Griff des gegenwärtigen Bewusstseins gebracht werden. Diese Bewegung kann reflexiv geschehen im „sich erinnern“, oder auf ein anderes Subjekt bezogen sein. Die Verwendungsgeschichte des Substantivs „Erinnerung“ zeigt vier unterschiedliche Nuancen. Die beiden älteren Nuancen sind einerseits „Mahnung, Aufforderung, Bitte, Hinweis, etwas nicht zu vergessen“, und andererseits „Gedenken, Andenken, und Nachdenken über Vergangenes, Vergegenwärtigung, Rückblick“. Die Bedeutungsnuance „Summe der vor‐ handenen Erinnerungen“ ist hier grundgelegt. Hinzu treten etwa ab dem 18. Jahrhundert zwei weitere Bedeutungsnuancen: „Erinnerung“ steht nun auch für das Erinnerungsvermögen als „Fähigkeit, sich zu erinnern“ und für das Gedächtnis selbst als „Besitz der bisher aufgenommenen Eindrücke“. Wir haben es bei der Erinnerung demnach mit vier unterschiedlichen Bedeutungsfacetten zu tun:8

7 8

Matthias Berek: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen (KSS 2), Wiesbaden 2009, 30. Berek, Kollektives Gedächtnis, 30.

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I.1  Einführung und Begriffsklärung

Erinnerung

Hinweis/Mahnung

Andenken/Rückblick  („Summe“)

Erinnerungsvermögen

Gedächtnis („Besitz“)

Abb. I.1: Bedeutungsfacetten des Begriffs „Erinnerung“

Hinzu kommt die Ausdifferenzierung des Bedeutungsfelds des Begriffs „Gedächtnis“ in die beiden Bereiche „Erinnerungsvermögen“ im Sinne der „Fähigkeit, Sinneswahrnehmungen oder psychische Vorgänge im Gehirn zu speichern, sodass sie bei geeigneter Gelegenheit ins Bewusstsein treten können“ und dem Gedenken im Sinne des ehrenden Andenkens:

Gedächtnis

Erinnerungsvermögen („Speicherkapazität“)

Gedenken/Ehrendes Andenken

Abb. I.2: Ausdifferenzierung des Bedeutungsfelds „Gedächtnis“

Die Besonderheit des Gedächtnisses besteht vor allem darin, dass hier weniger an einen Prozess als eine Struktur, einen Zustand oder eine Momentaufnahme gedacht wird.9 Die Unterscheidung von Speicher- und 9

Berek, Kollektives Gedächtnis, 31.

Gedächtnis und Erinnerung in der Kulturwissenschaft

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Funktionsgedächtnis, die uns im nächsten Kapitel begegnen wird, ist in dieser Unterscheidung bereits angelegt. Wenn man die Begriffe „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ mit ihren Be‐ griffsnuancen genauer anschaut, wird ein weiterer Unterschied sichtbar: Erinnerung wird stärker als Prozess gedacht, Gedächtnis stärker als Struktur. Dabei ist die Konnotation des Begriffs „Erinnerung“ eher aktiv, während das „Gedächtnis“ eher passiv erscheint. Mit Matthias Berek ins Wort gebracht: Mittlerweile herrscht disziplinübergreifend weitgehend Einigkeit darüber, Erin‐ nern als Prozess des Entstehens von Erinnerungen zu begreifen und das Gedächt‐ nis als Fähigkeit dazu oder die veränderliche Struktur dieser Erinnerungen […]. Gedächtnis ist ein bestimmter Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt, es ist die Gesamtheit der in der Gegenwart zuhandenen Wissenselemente über die Vergangenheit. Erinnern ist dagegen der aktive Vorgang, das eigentliche Repro‐ duzieren der vergangenen Wahrnehmungen. Das Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung kommt insofern der bekannten Humboldt’schen Unterscheidung von Werk (Ergon) und Tätigkeit (Energaia) nahe […]. Dem entspricht, dass es im deutschen Alltagsgebrauch für das Nomen ‚Gedächtnis‘ keine dazugehörige Verbform gibt, im Gegensatz zur ‚Erinnerung‘. Vielmehr wird ‚erinnern‘ oft sogar mit ‚ins Gedächtnis rufen‘ gleichgesetzt. Die Erinnerung trägt also im Gegensatz zum Gedächtnis einen deutlich prozessualen Charakter.10

Erinnerung

Gedächtnis passiv

aktiv

Prozess

Struktur

Abb. I.3: Grundlegende Unterschiede der Konzepte „Gedächtnis“ und „Erinnerung“

Schon diese grundlegenden Erkenntnisse lassen vermuten, dass For‐ schung zu „Erinnerung“ und Forschung zu „Gedächtnis“ in ganz unter‐ schiedliche Richtungen gehen kann. Untersuchungen zu Erinnerungs‐ 10

Berek, Kollektives Gedächtnis, 32f.

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I.1  Einführung und Begriffsklärung

prozessen und Erinnerungsweitergabe unterscheiden sich womöglich deutlich von Untersuchungen von Gedächtnistexten, die eher als Speicher oder Strukturierung von Wissensbeständen verstanden werden. Wenn dann noch die Begriffe unscharf verwendet werden, etwa weil etwas als „Erinnerung“ bezeichnet wird, das nach der oben eingeführten Taxono‐ mie eher mit „Gedächtnis“ zu bezeichnen wäre, werden unterschiedliche Forschungsgebiete miteinander verknüpft, die außer dem gemeinsamen Überbegriff „Erinnerung“ womöglich nicht viel miteinander teilen. In der Bibelwissenschaft ist diese Unterscheidung tatsächlich zentral, wenn es um die Anwendung von Gedächtnis/Erinnerung als hermeneutischer Kategorie geht. Die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen herme‐ neutischen Zugängen, die alle unter dem Begriff Erinnerung arbeiten und die uns in Kapitel III.2/III.3 begegnen werden, lassen sich auf die unterschiedlichen Facetten von Gedächtnis und Erinnerung zurückfüh‐ ren. Wie sich dann zeigen wird, besteht ein Unterschied zwischen der Frageperspektive, ob es bei Jesuserinnerungen um den Prozess der Wei‐ tergabe von Erinnerungen verbunden mit dem Erinnerungsvermögen der frühesten Zeugen und der Gedächtnisleistung einzelner Tradenten geht oder um die Analyse und Interpretation von Erinnerungsbildern, die wie die Evangelien in Textform vorliegen. Bleiben wir zunächst noch bei der inter- und transdisziplinären For‐ schung zu Gedächtnis/Erinnerung, die auch die Fragestellungen und Unter‐ suchungsmethoden in der Theologie mitgeprägt hat. Wie unterschiedlich die Zugänge zu Gedächtnis/Erinnerung in den diversen Disziplinen sein können, führt Aleida Assmann in ihrer Einführung in die Kulturwissenschaft auf. Sie formuliert eine Reihe von Unterschieden, die in den einzelnen Disziplinen im Bereich der Definition, aber auch der konkreten Forschung relevant sind. Diese weitere Differenzierung gibt dabei auch einen ers‐ ten Überblick darüber, aus welchen Disziplinen bibelwissenschaftliche Forschung zu Gedächtnis/Erinnerung theoretische, hermeneutische und methodische Anleihen macht. Zu den verschiedenen Disziplinen und ihrem jeweiligen Fokus gehören nach Assmann:11

11

Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fra‐ gestellungen (GrAA 27), Berlin 2006, 183.

Gedächtnis und Erinnerung in der Bibelwissenschaft

Neurologie: neuronale Grundlagen Psychologie: kognitive und emotionale Gedächtnis-Prozesse von Individuen Psychoanalyse/Psychotherapie: Erinnerungsprozesse anlässlich von Lebenskrisen Soziologie: Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften in sozialen Kon‐ texten Geschichte: Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit menschlichen Gedächtnisses im Verhältnis zu schriftlichen Quellen Geschichte/Politologie: Art und Weise, wie Gesellschaften ihre Ver‐ gangenheit in symbolischen Formen nach den Bedürfnissen ihrer Gegenwart und abgestimmt auf ihre Zukunftsorientierungen (re-)kon‐ struieren Literaturwissenschaft/Kunstwissenschaft: Kulturelles Gedächtnis als kulturelles Erbe in Form von Texten, Bildern, Vorstellungen und Praktiken) Die Auflistung verdeutlicht, dass das Forschungsfeld „Gedächtnis/Erinne‐ rung“, insofern es die Einzeldisziplinen übersteigt und nur in einer arbeits‐ teiligen Form erforscht wird, in der Tat transdisziplinär ist. Die einzelnen Disziplinen erforschen unterschiedliche Bereiche, bauen dabei aber auf den Ergebnissen anderer Disziplinen auf. Dazu gehört auch, dass keine der unterschiedlichen Perspektiven das Thema in seiner Gesamtheit oder umfassend abbilden kann. Keine Disziplin – und das betrifft auch die Theologie – hat den Gesamtüberblick. Aus diesem Grund muss auch die Bi‐ belwissenschaft auf die Erkenntnisse der anderen Disziplinen zurückgreifen, um wissenschaftlich diskursfähig zu bleiben. Gedächtnis und Erinnerung in der Bibelwissenschaft Diese Erkenntnis ist für die konkrete Arbeit beim Verständnis und der Auslegung der Bibel von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Wenn die Erkenntnisse und Methoden anderer Disziplinen für die wissenschaftliche Erforschung der Bibel im Feld Gedächtnis/Erinnerung erkenntnisleitend sind, ist es nicht möglich, für die Entstehung und Auslegung biblischer

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I.1  Einführung und Begriffsklärung

Texte Konditionen anzunehmen, die von den individuellen und sozialen Prozessen anderer Kulturen und Kulturkreise abweichen. Anders gesagt: für die Entstehung der biblischen Texte gelten keine Sonderregeln, sondern die Bibel wird verstanden als eine Sammlung kultureller Texte unter ande‐ ren. Ihre spezielle Bedeutung für eine bestimmte Gruppe als Sammlung Heiliger Schriften oder kanonischer Texte wird nicht geschmälert, wenn biblische Text mit den Methoden unterschiedlicher Disziplinen untersucht und biblische Texte mit anderen Zeugnissen aus dem gleichen oder einem verwandten Kulturraum verglichen werden. Die hermeneutische Kategorie Gedächtnis/Erinnerung bezeichnet in der Bibelwissenschaft die Anwendung von Erkenntnissen aus der inter- und transdisziplinären Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung bei Indivi‐ duen und Gruppen und nutzt Forschungsergebnisse aus Disziplinen wie der Neurowissenschaft, der Historischen Psychologie und kulturwissenschaftli‐ chen Gedächtnistheorie für die Erforschung und das Verständnis biblischer Texte. Gedächtnis/Erinnerung bietet damit einen hermeneutischen Zugang für das Verständnis der Prozesse kollektiver Erinnerung, Identitätskonstitution und Traditionsweitergabe und kann bei der Klärung von Erwartungen an Artefakte kollektiver Gedächtnisse wie biblischer Texte im Hinblick auf ihre historische Verortung und/oder ihre Bedeutung für eine bestimmte Erinnerungsgemeinschaft dienen. Nachdem bereits in der frühen Kirche Gedächtnis/Erinnerung als herme‐ neutische Kategorie für das Verständnis der Evangelien genutzt wurde, dürfte es für die Bibelwissenschaft eigentlich kein Problem sein, an die oben skizzierten Erkenntnisse aus der inter- und transdisziplinären Forschung anzuschließen und sie in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive aus‐ zuwerten. Dass es ganz so einfach doch nicht ist, liegt daran, dass im Laufe der Geschichte andere Aspekte stärker nuanciert wurden. Diese waren einerseits die Pragmatik der Texte als Verkündigung und andererseits ihre Autorität, die auf Augenzeugenschaft und/oder einer Traditionskette beruht, wobei die Autorität der Zeugen und die vermeintliche Objektivität des Zeugnisses immer mehr verschmolzen.

Gedächtnis und Erinnerung in der Bibelwissenschaft

Dieser Zusammenhang wurde im Zuge der historischen Jesusforschung mehr und mehr infrage gestellt und es ist vielleicht kein Zufall, dass inter‐ disziplinäre Forschung zu Gedächtnis/Erinnerung seit den 1990er Jahren zuerst in der historischen Jesusforschung heimisch geworden und vor allem dort anzutreffen ist, wo sie als Memory Approach oder Erinnerungsparadigma zur Untersuchung von Traditionsprozessen und Jesusbildern/Jesuserinne‐ rungen genutzt wird. Hier steht deutlich die Facette „Erinnerung“ als Prozess im Hintergrund. Ein weiteres und jüngeres Anwendungsfeld ist die Lektüre neutestamentlicher (und frühchristlicher) Text als kollektive Gedächtnis‐ texte. Dieser Zugang betont die Facette „Gedächtnis“ und fokussiert stärker auf Struktur. Um diesen zweiten Zugang geht es in diesem Lehrbuch. Das Lehrbuch hat drei Teile. Im ersten Teil geht es um die hermeneu‐ tischen Grundlagen für einen kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoreti‐ schen Zugang, der es ermöglicht, neutestamentliche Texte als Artefakte kol‐ lektiver Gedächtnisse – und damit als Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse – zu lesen. In diesem ersten Teil werden Prozesse und Formate individueller und kollektiver Erinnerung ebenso in den Blick genommen wie Prozesse der Weitergabe von Erinnerungen und Traditionen sowie die mit ihnen verbundenen Medien. Der erste Teil endet mit einem systematisierenden Überblick über die neutestamentliche Zeit und einem Vorschlag für die methodische Herangehensweise an neutestamentliche Texte als Gedächtnistexte. Im zweiten Teil werden sechs exemplarische Lektüren neutestamentli‐ cher Texte dargeboten, die zeigen, wie die Lektüre neutestamentlicher Texte als Gedächtnistexte in der Praxis aussehen kann und welches Potential dieser Zugang als Ergänzung historisch-kritischer Exegese bietet. Die ausgewählten Texte stammen aus unterschiedlichen frühchristlichen Gene‐ rationen und unterschiedlichen literarischen Genres und werden in chro‐ nologischer Reihenfolge vorgestellt. Den Anfang macht der Galaterbrief als Dokument der zweiten urchristlichen Generation. Danach folgen der Kolosserbrief und das Markus- und Lukasevangelium als Texte der dritten Generation und schließlich die Apostelgeschichte und der zweite Petrusbrief als Vertreter der Übergangszeit in die vierte Generation bzw. der vierten Generation. Der dritte Teil fasst auf der Basis der Erkenntnisse aus den ersten beiden Teilen den aktuellen Stand zum Potential und den Anwendungs‐ möglichkeiten kulturwissenschaftlicher Exegese für Bibelwissenschaft und Theologie insgesamt zusammen. Den Auftakt bildet ein Vergleich der beiden

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I.1  Einführung und Begriffsklärung

Thessalonicherbriefe in kulturwissenschaftlicher Lesart als Gedächtnistexte unterschiedlicher Generationen. Im dritten Teil wird ferner erläutert, welche Impulse der kulturwissenschaftliche Zugang der Einleitungswis‐ senschaft für die Verortung neutestamentlicher und frühchristlicher Texte in konkreten Entstehungsszenarien geben kann, wie sich die hermeneuti‐ sche Kategorie der Erinnerung zur historischen Rückfrage verhält und was kulturwissenschaftliche Exegese konkret zur Auslegung von biblischen und frühchristlichen Texten beitragen kann. Abschließend wird der Blick auf den biblischen Kanon als Identitätstext und kulturelles Gedächtnis aller Christen geweitet.   Literaturhinweise Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (GrAA 27), Berlin 2006. Berek, Matthias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen (KSS 2), Wiesbaden 2009. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung. Stuttgart 22017. Gudehus, Christian; Eichenberg, Ariane; Welzer, Harald (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung: Ein interdisziplinäres Handbuch Stuttgart 2010.

I.2 Individuelle Erinnerung Das zweite Kapitel zeigt, dass Erinnerung und soziale Identität eng miteinander verknüpft sind. Ausgehend von unterschiedlichen Systemen individuellen Erinnerns wird deutlich, dass persönliche Erfahrungen nicht nur anhand sozialer Rahmen wahrgenommen und gewertet werden, sondern auch die Weitergabe von persönlichen Erfahrungen und Erin‐ nerungen in Abhängigkeit von sozialen Rahmen erfolgt und meist im Medium einer Geschichte weitergegeben wird.

Alltagskommunikation und die Weitergabe von Erfahrungen Beginnen wir unsere Erkundung der Welt der individuellen Erinnerung und ihrer Weitergabe mit einer alltäglichen Szene, die ein Klassiker im weiten und komplizierten Feld der Beziehungskommunikation ist und in dieser oder ähnlicher Form in einer Soap Opera oder romantischen Komödie stattfinden könnte. Zwei Freundinnen treffen sich und eine der beiden hat gerade jemanden kennengelernt. Der standardisierte Dialog könnte folgendermaßen klingen: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■

Weißt du, er ist einfach wunderbar. Klingt prima. Wie ist er denn so? Er ist einfach großartig Und das heißt…? Nichts. Er ist einfach nur großartig. Großartig! Und wie genau? Erzähl mal… Weißt du, er ist einfach phantastisch. Genau der Mann, ich mir immer gewünscht habe.

Es ist offensichtlich, dass dieses Gespräch nirgendwohin führt. Die beiden Freundinnen bekommen keine Verbindung, zumindest reden sie in diesem Teil des Gespräches aneinander vorbei. Um einen gemeinsamen Nenner zu finden und im Gespräch tatsächlich einen Kontakt herzustellen, braucht es mehr als enthusiastische Worte derjenigen, die gerade Mr. Fabulous getroffen

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I.2  Individuelle Erinnerung

hat. Es braucht Bilder, Metaphern oder Geschichten, an die ihre Freundin mit der eigenen Erfahrung anknüpfen kann. Das Gespräch der beiden wird sich dann irgendwann von Beschreibungen wie „wunderbar“, „großartig“ und „fantastisch“ wegbewegen und gewöhn‐ lich mündet diese Bewegung in eine Anekdote, die über den Neuen erzählt wird. Das könnte dann ungefähr so klingen: Oh Mann, er ist einfach so unglaublich aufmerksam. Ich hatte ihn schon öfter mal wo gesehen, aber er hat es irgendwie hingekriegt, dass wir uns an dem Tag im Supermarkt treffen. Du weißt ja, wie ich mich beim Einkaufen anstellen kann, wenn ich nicht so genau weiß, was ich will. Der Typ schien meinen nicht vorhandenen Einkaufszettel besser zu kennen als ich, denn er hat genau vor meinen Lieblingsnudeln gestanden und mich angelächelt. Echt jetzt. Und bevor ich wusste, ob ich lieber Spaghetti oder Linguine nehmen soll, hatte er die Packung schon in der Hand, strahlte mich an und sagte „Wir wär’s damit? Für die Sauce hätte ich auch eine Idee…“

Zugegeben, spätestens an diesem Punkt sind wir mitten im Klischee an‐ gekommen und man hat genügend Fantasie, sich die Szene in all’ ihrer romantischen Peinlichkeit vorzustellen. Das ist kein Wunder, denn wir haben es hier mit einer genretypischen Szene zu tun und im Grunde wartet man bei entsprechenden Filmen nur darauf, dass genau so etwas passiert. Das ist im wahren Leben nicht viel anders, denn die kulturellen Kontexte einer Gesellschaft, zu der auch Literatur und Film gehören, prägen als Muster die Erwartungen an bestimmte Situationen. Die erste Begegnung mit dem Partner fürs Leben – und fast jeder könnte im ersten Moment dieser besondere Mensch sein – sollte filmreif sein. Zumindest aber so, dass man sie als gute Story erzählen kann. Was die geschilderte Szene interessant macht, ist die Tatsache, dass eine der Gesprächspartnerinnen nicht einfach nur erzählt, was passiert ist, sondern direkt eine Interpretation der Ereignisse aus ihrer Perspektive liefert: „Er ist einfach so unglaublich aufmerksam“. „Er hat es irgendwie hingekriegt…“ „Der Typ schien meinen nicht vorhandenen Einkaufszettel besser zu kennen…“ – Die Interpretation der Szene im Supermarkt hätte auch ganz anders ausfallen können, doch das wird die Version sein, die weitererzählt wird und an die sich alle erinnern. Sie wird wahrscheinlich auch die Fassung sein, die als Schlüsselmoment der Beziehung bei der Hochzeit der beiden zum Besten gegeben wird.

Alltagskommunikation und die Weitergabe von Erfahrungen

Wie unterschiedlich die Perspektive auf die geschilderte Szene ausfallen kann, wird in dem Moment klar, in dem das Paar sich trennt. Sowohl die erste Begegnung und der Beginn der Liebesgeschichte als auch die Trennung wird gewöhnlich anhand kleiner Geschichten weitergegeben. Die Begegnung im Supermarkt hat sich nicht verändert, doch sie wird nach einer Trennung völlig anders dargestellt. Zum Beispiel so: ■ Wie geht es Mr. Fabulous? Ich habe Euch schon eine Ewigkeit nicht gesehen. ■ Ey, hör mir bloß mit dem auf. Das ist zum Glück aus und vorbei. ■ Ernsthaft? Ich dachte, dass Ihr wie füreinander geschaffen seid. ■ Ja, wie Feuer und Wasser. ■ Ach komm, der aufmerksamste Mensch, den du dir vorstellen kannst? ■ Der Typ ist nicht aufmerksam, sondern einfach nur dominant. Erinnerst du dich an die Geschichte, als wir uns im Supermarkt zum ersten Mal getroffen haben? Schon damals hat er mich doch einfach nur bevormundet mit dieser blöden Spaghettipackung… Wenn man von den standardisierten Klischees absieht, lässt sich von Alltagsbegegnungen und alltäglichen Gesprächen dieser Art durchaus etwas lernen. Zum einen, dass der Moment, in dem sich Gesprächspartner ernsthaft begegnen und wirklich ins Miteinandersprechen kommen, oft der Moment ist, in dem Bilder, Erfahrungen oder Erzählmuster auftau‐ chen, mit denen beide Gesprächspartner etwas verbinden. In diesem Fall war es das Klischee der ersten Begegnung im Supermarkt. Diese Szene diente nicht nur dazu, vom ersten Treffen und Kennenlernen zu erzählen, sondern auch dazu, die Erfahrung ins Wort zu bringen, wie es ist, jemanden kennenzulernen, der sehr bald ein besonders wichtiger Mensch geworden ist. Sie zeigte auch, dass das gleiche Ereignis, die gleiche Begegnung, unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden kann und die jeweilige Wahrnehmung und Wertung etwas mit der Perspektive und den Bedürfnissen der betroffenen Person zu tun haben. Beide Spuren werden wir weiterverfolgen. Als dritte Erkenntnis aus dem Alltagsgespräch kommt hinzu, dass die Weitergabe von Erfahrung immer eine passende sprachliche Einkleidung braucht. Die alltäglichste und am weitesten verbreitete Form der Erfah‐ rungsweitergabe ist die Geschichte. Das hat eine Menge damit zu tun, dass Menschen ihre Erfahrungen in der Form organisieren und erinnern, die episodisches Gedächtnis genannt wird. Im episodischen Gedächtnis werden – im Gegensatz zum semantischen Gedächtnis, das nur rohes

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I.2  Individuelle Erinnerung

Datenmaterial wie Zahlen, Daten oder Formeln speichert – Erfahrungen in Form von Geschichten enkodiert und mit emotionalen Markern versehen. Ein Großteil unserer Erfahrungen ist im episodischen Gedächtnis gelagert und wird im Medium der Geschichte geteilt und weitergegeben. Alltagserfahrungen ■ Es braucht Bilder, Metaphern oder Geschichten, an die andere mit ihrer eigenen Erfahrung anknüpfen können. ■ Oft erfüllen Anekdoten (Geschichten) diesen Zweck. ■ Kulturelle Kontexte einer Gesellschaft prägen als Muster die Erwar‐ tungen an bestimmte Situationen. ■ Erfahrungsgeschichten sind perspektivisch gebunden. ■ Ein Großteil der menschlichen Erfahrungen ist im episodischen Ge‐ dächtnis gelagert und wird im Medium der Geschichte geteilt und weitergegeben. ■ Analoge Beobachtungen lassen sich in den Erzählungen der neutesta‐ mentlichen Texte machen.

Erfahrung, Erinnerung und narrative Versprachlichung: Geschichten erzählen Die Speicherung und Weitergabe von Erfahrungen in Form von Geschich‐ ten ist keine neuere Errungenschaft moderner Menschen, sondern das, was man auch eine anthropologische Konstante nennt. Sprich: Da die neuronalen Grundlagen sich seit Jahrtausenden nicht verändert haben, ist der Prozess der narrativen Erinnerung und Weitergabe von Erfahrungen etwas, das wir mit unseren Vorfahren teilen und was sich daher auch gut begründet für die Menschen in der Antike annehmen lässt. Entsprechend lässt sich die gleiche Beobachtung auch für die Erzählungen in den Evangelien machen. Spinnen wir daher den Faden aus dem Alltagsbeispiel weiter. Ein Ge‐ spräch zwischen jemandem, der Jesus in Galiläa begegnet ist und jemand, der Jesus noch nicht kennt, ließe sich auf der Grundlage des Musters gut vorstellen und könnte folgendermaßen klingen:

Erfahrung, Erinnerung und narrative Versprachlichung: Geschichten erzählen



Stell dir vor: Wir haben es endlich geschafft, diesem Jesus zuzuhören. Er ist wirklich beindruckend! ■ Was sagt er? ■ Er ist ganz einfach überwältigend. Ihn zu treffen und ihm zuzuhören, hat unser Leben völlig verändert. Er ist einfach authentisch. Der lehrt mit echter Autorität, nicht so wie diese Schriftgelehrten. ■ Das klingt gut. Aber was sagt er denn genau? Was ist seine Botschaft?

Dieser fiktive Dialog klingt nicht zufällig so ähnlich wie Mk 1,21–22f. Das ganze erste Kapitel des Markusevangeliums und ein Großteil des zweiten und dritten Kapitels erzählen nicht explizit, was Jesus lehrt, son‐ dern lediglich, welchen Eindruck er bei den Zuhörern hinterlässt. Das Markusevangelium erzählt davon, dass seine Hörer überwältigt (ekplessō, ἐκπλήσσω, 1,22; 6,2; 7,37; 11,18), erschreckt (thambeō, θαμβέω, 1,27; 9,15) und außer sich (existēmi, ἐξίστημι, 2,12; 3,21; 5,42; 6,52) oder schlicht erstaunt und verwundert (thaumazō, θαυμάζω, 5,20; 12,18) von Jesu Lehre sind. Was er genau lehrt, erfahren die Leser jedoch nicht. Der Inhalt von Jesu Lehre wird erst vergleichsweise spät im Evangelium thematisiert. Die ersten Kapitel werden von der Wirkung Jesu auf seine Zuhörer dominiert, nicht von dem, was er sagt. Jesus wird als charismatische und enigmatische Person mit Autorität vorgestellt: Nach dem Prolog erfah‐ ren die Leser wie Jesus die ersten Jünger, Simon und Andreas (1,16–18) und Jakobus und Johannes (1,19–20) beruft. Als die kleine Gruppe Kafarnaum erreicht, lehrt Jesus in der dortigen Synagoge am Sabbat (1,21–22), treibt einen unreinen Geist aus (1,23–28), heilt die Schwiegermutter des Simon (1,29–31) und nachdem der Sabbat vorüber ist, alle Kranken und Besessenen der Stadt. Früh am Morgen zieht sich Jesus in die Einsamkeit zum Gebet zurück (1,35), wird aber sehr bald gefunden, da jedermann nach ihm sucht und fragt (1,36–37). Bis zu diesem Punkt in der Geschichte haben die Leser Jesus noch nicht besonders viel sagen hören, abgesehen vom Ruf an Simon und Andreas Hierher, hinter mich und ich werde euch zu Fischern von Menschen machen (1,17) und der Bedrohung des Dämons Sei verstummt und komm heraus aus ihm (1,25). Es mutet vor diesem Hintergrund fast schon unlogisch an, wenn Jesus zu denen, die ihn am folgenden Morgen finden, sagt: Lasst uns anderswohin gehen, in die umliegenden Ortschaften, damit ich auch dort verkünde, denn dazu bin ich ausgegangen (1,38). Die Leser fragen sich womöglich noch immer, worin Jesu Botschaft denn eigentlich besteht.

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I.2  Individuelle Erinnerung

Die Erzählstimme fasst zusammen: Und er ging durch ganz Galiläa, verkündigte in ihren Synagogen und trieb die Dämonen aus (1,39). Bis hierher haben die Leser schon mehrfach gehört, dass Jesus in den Synagogen ver‐ kündigt (1,22.27f.39) und dass er das mit Vollmacht tut, doch sie wissen noch immer nicht, was er eigentlich sagt. Der Eindruck, den Jesus hinterlässt, wird deutlich beschrieben, während der Inhalt seiner Reden unklar bleibt. Antike Leser scheinen dieselbe Beobachtung gemacht zu haben und ebenfalls nicht so recht zufrieden damit gewesen zu sein. Es spricht Bände, dass Matthäus die Bergpredigt (Mt 5,1–7,29) genau nach Mk 1,21 in seinen Erzählfaden einfügt, bevor es heißt, dass die Zuhörer von seiner Lehre überwältigt waren, da er mit Vollmacht lehrte, nicht wie die Schriftgelehrten. Lukas fügt an der gleichen Stelle Jesu erste Rede oder, wie es in der Sekundärliteratur manchmal heißt, seine „Antrittspredigt“ in Nazaret (Lk 4,16–30) ein. Der fiktive Dialog über Jesus könnte auch folgendermaßen ausgesehen haben: ■

Stell dir vor: Wir haben es endlich geschafft, diesem Jesus zuzuhören. Er ist wirklich beeindruckend! ■ Wie ist er denn so? ■ Er ist ein charismatischer Mensch mit großer Autorität, nicht wie diese Schriftgelehrten. Er gebietet den Dämonen und sie gehorchen ihm. Stell’ dir vor, was am letzten Sabbat in der Synagoge passiert ist…

In dieser Version wird eine Geschichte erzählt, oder zumindest ein kulturel‐ les Muster eingespielt, mit dem beide Gesprächspartner etwas verbinden. Wenn man sich die Bedeutung von Dämonen und Besessenheit und die Angst davor, die in der Antike weit verbreitet war, vor Augen führt, gibt es kaum eine bessere Möglichkeit, die lebensverändernde Begegnung mit Jesus in eine Geschichte zu verpacken. So gelesen, sind die Exorzismen und Heilungserzählungen der Evangelien nicht (einfach) Berichte von Exorzismen und Heilungen, sondern Reflektio‐ nen über die heilsame und befreiende Begegnung mit Jesus in Form einer Wundererzählung. Berufungsgeschichten folgen einem ähnlichen Muster: Sie erzählen von der lebensverändernden Begegnung mit Jesus im Medium einer Berufungsgeschichte, die – zumindest im Markusevangelium – nicht ohne weitere Zusatzinformationen verständlich ist. Warum sollten erwach‐ sene Fischer jemandem folgen, den sie noch nie zuvor gesehen haben und der ihnen das seltsame Versprechen gibt, sie zu „Fischern von Menschen“ zu machen? Diese Geschichten erschließen sich erst in der Retrospektive:

Erfahrung, Erinnerung und narrative Versprachlichung: Geschichten erzählen

als Versuche, die Erfahrung der heilenden und befreienden Nähe Gottes im Medium sozial akzeptierter narrativer Interpretationsmuster zu versprach‐ lichen. Anders formuliert: Menschen haben Erfahrungen mit Jesus gemacht. Die Begegnung mit ihm und seiner Botschaft hat ihr Leben verändert, und sie wollen diese Erfahrung weitergeben. Von 1,16 an lesen sich die ersten Kapitel des Markusevangeliums als Erzählungen von solchen Erfahrungen. Die Episoden, die in den ersten Kapiteln zusammengeführt werden, geben wenig Auskunft darüber, wer Jesus ist und worin seine Botschaft besteht, doch sie verdeutlichen ganz klar, welche Erfahrungen Menschen mit ihm gemacht haben, welchen Eindruck er bei ihnen hinterlassen hat. In der Literatur ist der Zusammenhang zwischen Erfahrung und narrati‐ ver Versprachlichung ebenfalls bekannt und wurde von einer Reihe von Schriftstellern explizit thematisiert. „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht und nun sucht er nach der Geschichte seiner Erfahrung […]. Man kann nicht mit einer Erfahrung leben, die ohne eine Geschichte bleibt.“12 Der Schweizer Autor Max Frisch hat in seinem Roman Mein Name sei Gantenbein kongenial vorweggenommen, was später durch neurowissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Forschung bestätigt wurde: Menschliche Erfahrung wird narrativ versprachlicht und verarbeitet. Als Schriftsteller war Max Frisch geradezu besessen von der Beziehung von Erfahrung, Wahrheit und Fiktion. Neben seinem literarischen Werk hat er diese Fragestellung in mehreren Vorlesungen, Gesprächen und Interviews thematisiert. An einer Stelle sagt Frisch: Geschichten gibt es nur von außen. Unsere Gier nach Geschichten, woher kommt sie? Man kann die Wahrheit nicht erzählen. Das ist’s. Die Wahrheit ist keine Geschichte, sie hat nicht Anfang und Ende, sie ist einfach da oder nicht, sie ist ein Riß durch die Welt unseres Wahns, eine Erfahrung, aber keine Geschichte.13

Die Vorstellung ist so einfach wie bestechend. In einem anderen Interview führt er aus:

12 13

Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Gesammelte Werke in zeitlicher Folge V, Frankfurt am Main 1976, 1986, 8.11. Max Frisch: Unsere Gier nach Geschichten, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge IV, Frankfurt am Main 1976, 1986. 262–264, 263.

33

34

I.2  Individuelle Erinnerung

„Was wir in Wahrheit haben, sind Erfahrungen, Erlebnismuster. Nicht nur, indem wir schreiben, auch indem wir leben, erfinden wir Geschichten, die unsere Erlebnismuster ausdrücken, die unsere Erfahrung lesbar machen.“14

Die verkürzte Version dieses Gedankens lautet: „Die Erfahrung will sich lesbar machen. Sie erfindet sich ihren Anlass. Und daher erfindet sie mit Vorliebe eine Vergangenheit.“15

Ein ähnlicher Ansatz findet sich auch in Georges Simenons literarischer Fiktion Maigrets Memoiren: Die Wahrheit wirkt niemals wahr. […] Erzählen Sie irgendjemandem irgendeine Geschichte. Wenn Sie sie nicht frisieren, wird man sie unglaubwürdig und unecht finden. Aber wenn Sie sie frisieren, wird sie echter wirken, als sie eigentlich ist.“16

Frischs Erkenntnisse sind zwischenzeitlich sowohl von der neurowissen‐ schaftlichen als auch von der kulturwissenschaftlichen Forschung bestätigt worden, insbesondere, was den Bereich der Erinnerung und der Weitergabe von Erinnerungen betrifft, den wir uns nun genauer anschauen. Semantisches und episodisches Gedächtnis Die für die unterschiedlichen Erinnerungsprozesse von Individuen rele‐ vante Unterscheidung zwischen semantischem und episodischem Gedächtnis stammt aus der Neurologie. Auf der Basis der Forschung von Endel Tulving werden die höheren Systeme des Langzeitgedächtnisses in zwei Kategorien unterteilt: episodisches und semantisches Gedächtnis. Semantisches Gedächtnis bezeichnet dabei den Bereich der Daten ohne Kontext wie mathematische Gesetze oder Vokabeln. All jene Fakten also, die jeder erwachsene Mensch sich im Laufe seines Lebens angeeignet hat. Im seman‐ tischen Gedächtnis werden diese Fakten ohne den Kontext, in dem sie gelernt wurden, gespeichert. Die Anwendung von Vokabeln auf einen fremdsprach‐ lichen Text funktioniert, ohne dass man sich die dazugehörige Situation 14 15 16

Werkstattgespräch mit Max Frisch (1961), in: Max Frisch: „Wie Sie mir auf den Leib rücken“. Interviews und Gespräche, Berlin 2017, 36–37. Frisch, Unsere Gier nach Geschichten, 263. Georges Simenon: Maigrets Memoiren. Zürich 1978, 35 [Original: Les mémoires de Maigret 1950].

Semantisches und episodisches Gedächtnis

oder Lernstrategie bewusstmacht. Diese Art der Information ist wiederum im episodischen Gedächtnis abgelegt. Dieses Gedächtnissystem speichert nicht nur Erfahrungen an sich, sondern auch die mit ihnen verbundenen Zeiten und Orte und in vielen Fällen auch die emotionale Bewertung der entsprechenden Situation. Das semantische Gedächtnis kann verstanden werden als Speicher des persönlichen Weltwissens einer Person und hat den Charakter einer Enzyklopädie. Gelernte Daten werden sicher und verlässlich gespeichert und können gewöhnlich auch nach längeren Zeiträumen ohne nennens‐ werte Veränderung wieder aufgerufen werden. Das ist im Bereich des epi‐ sodischen Gedächtnisses, das einen dynamischen Charakter hat, nicht der Fall. Das Aufrufen von episodischen Erinnerungen ist nicht der gleichen Stabilität unterworfen wie beim semantischen Gedächtnis. Semantisches und episodisches Gedächtnis sind unterschiedliche Systeme: Sie sind in unterschiedlicher Weise organisiert und in unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Gehirns lokalisiert.

rrrr

Semantisches  Gedächtnis

Daten ohne Kontext Mathematische Formeln Vokabeln, Jahreszahlen 

Episodisches  Gedächtnis

Erfahrungen Kontexte (Zeit und Ort) Emotionale Bewertung

Abb. I.4: Semantisches und episodisches Gedächtnis

Es ist interessant zu sehen, dass Informationen aus dem episodischen Gedächtnis, wenn sie aufgerufen werden, als vergangenes Wissen wahr‐

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36

I.2  Individuelle Erinnerung

genommen werden, während semantische Informationen als gegenwärti‐ ges Wissen erscheinen.17 Die unterschiedlichen Formen der Erinnerung lassen zudem vermuten, dass die jeweiligen Daten in beiden Systemen abgelegt werden. Das historische Ereignis von 9/11 oder des Falls der Berliner Mauer würde demnach im semantischen Gedächtnis abgelegt, die persönliche Erinnerung daran, was an diesen beiden Tagen geschehen ist, im episodischen Gedächtnis. Der Unterschied wird offensichtlich, wenn das Ereignis aufgerufen wird. Die meisten Menschen wissen sofort, von welchem Datum die Rede ist und können sich gewöhnlich auch erinnern, wo die Nachricht sie erreicht hat und wie sie sich in diesem Moment gefühlt haben. Letzteres ist meist mit Bildern und kurzen Sequenzen verbunden. Diese Sequenzen sind jedoch nicht in einer bestimmten Reihenfolge gespeichert. Es kommt daher häufig vor, dass Erinnerungen, die auf den 11. September 2001 oder den 9. November 1989 datiert werden, eigentlich an einem anderen Tag davor oder danach stattgefunden haben. Einträge im episodischen Gedächtnis werden niemals als „Fakten“ oder „Daten“ gespeichert, wie es im semantischen Gedächtnis der Fall ist. Sie sind gemeinsam mit ihrem Kontext und einem emotionalen Marker als gedeutete Erfahrungen kodiert, nicht als objektive Eindrücke der Situation. Wenn sie im episodischen Gedächtnis eingespeichert werden, sind die Episoden bereits vom persönlichen Erfahrungssystem und den persönlichen Standards semantisiert und diese Interpretation bleibt er‐ halten, wenn sie wieder aufgerufen werden. Sowohl der Prozess der Einschreibung als auch der Prozess des Wie‐ deraufrufens verläuft nicht störungsfrei. William Stern hat bereits um 1900 herum festgehalten: „fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme“18. Erweitertes Wissen über die unterschiedlichen Erinnerungssysteme und neurowissenschaftliche Forschung haben diese Vermutung bestätigt und der Vorstellung von Erinnerung in hieratischen Blöcken ein Ende gesetzt. Unter Gedächtniswissenschaftlern unterschied‐ licher Disziplinen herrscht mittlerweile breiter Konsens, dass Erinnerung

17 18

Vgl. Hans J. Markowitsch: Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, in: Harald Welzer (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, 219–239, 224. Wilhelm Stern: Zur Psychologie der Aussage. Experimentelle Untersuchungen über Erinnerungstreue, Berlin 1902, 13.

Semantisches und episodisches Gedächtnis

nicht reproduziert, sondern erschafft. 19 Der Aufruf von Einträgen aus dem episodischen Gedächtnis ähnelt daher weniger dem Gang ins Archiv, um ein bestimmtes Bild hervorzuholen, als mehr einer Neuanfertigung dieses Bildes. Im Prozess der (Re-)Konstruktion wird dieses Bild ebenso wie schon beim Prozess der Enkodierung semantisiert – und dabei sehr oft auch verändert. Das erklärt Phänomene wie gegenläufige oder falsche Erinnerungen. Störungen der Erinnerungsprozesse sind notwendige Me‐ chanismen bei der Auswahl und Organisation von Erinnerungen. Diese Prozesse finden völlig unbewusst auf der Ebene des Gehirns statt. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen erinnert sich nicht absichtlich falsch oder gar nicht, sondern nach den jeweiligen Standards und Grenzen des eigenen Gehirns. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs, der im nächsten Kapitel genauer vorgestellt wird, hat die These entfaltet, dass individuelle Erinne‐ rung vom jeweiligen sozio-kulturellen Umfeld geprägt ist. Auch dieser Ansatz nahm spätere Forschung vorweg. Halbwachs vermutete zu Recht, dass die persönliche Erinnerung des Individuums mit dem kollektiven Gedächtnis seiner Peer Group interagiert. Er versteht Erinnerung als soziales Phänomen, das von außen in eine Person hineinwächst und durch die Art und Weise geformt wird, wie das Individuum seine Umwelt, insbesondere nahe Bezugsgruppen wie die Familie oder die eigene Religionsgemeinschaft, erlebt. Individuelle Erinnerung ist daher von der Sprache und den Vorstel‐ lungen der jeweiligen Bezugsgruppe, aber auch deren Kommunikations‐ mustern und Werthaltungen geprägt und geformt. Individuelles Erinnern findet Halbwachs zufolge immer in sozialen Rahmen statt. Diese sozial vermittelten Referenzrahmen dienen als Regulierungsmechanismen für die persönliche Wahrnehmung und Wertung. In der Konsequenz sind Erinnerung und Identität untrennbar mitein‐ ander verbunden. Das gilt sowohl für Individuen als auch für Gruppen und betrifft auch das Teilen und Weitergeben von Erfahrungen. Nicht nur die Erfahrung selbst wird im Einklang mit bestimmten sozialen Rahmen erinnert und semantisiert, sie wird auch entsprechend der geltenden kulturellen Muster und sozialen Rahmen weitergegeben. Wir können das Diktum von Max Frisch daher folgendermaßen erweitern: Die Erfahrung will sich lesbar machen. Sie erfindet sich ihren Anlaß. 19

Vgl. Daniel L. Schacter: The seven sins of memory. How the mind forgets and remembers, New York 2002, 9.

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38

I.2  Individuelle Erinnerung

Und daher erfindet sie mit Vorliebe eine Vergangenheit im Einklang mit akzeptierten sozialen Rahmen. Körperliches Gedächtnis und ausgelagertes Gedächtnis Neben semantischem und episodischem Gedächtnis unterscheiden Ge‐ dächtnisforscher im Anschluss an die Arbeiten von Tulving mittlerweile insgesamt fünf unterschiedliche Langzeitgedächtnissysteme.20 Zum se‐ mantischen Gedächtnis (auch Wissenssystem) und zum episodischen oder autobiographisch-episodischen Gedächtnis treten mit dem pro‐ zeduralen Gedächtnis, dem perzeptuellen Gedächtnis und dem Priming drei weitere Gedächtnissysteme hinzu. Die unterschiedlichen Systeme entwickeln sich nach den Erkenntnissen der Forschung aufein‐ ander aufbauend ab dem Babyalter. Das episodisch-autobiographische Gedächtnis, das es nach bisherigem Kenntnisstand nur bei Menschen gibt, entsteht also zum Schluss, beginnend etwa mit dem 4. Lebensjahr. Semantisches und episodisches Gedächtnis unterscheiden sich von den an‐ deren drei Systemen des Langzeitgedächtnisses in einem entscheidenden Punkt: Einträge in diesen Gedächtnissystemen können externalisiert oder ausgelagert werden, während es sich bei den anderen drei Formen um Körpergedächtnis handelt.

20

Vgl. Hans Markowitsch: Das Gedächtnis. Entwicklung, Funktionen, Störungen, München 2009, 73.

39

Markowitsch, Hans: Das Gedächtnis. Entwicklung, Funktionen, Störungen. München 2009, 73.

Körperliches Gedächtnis und ausgelagertes Gedächtnis

Episodisches und semantisches  Gedächtnis können externalisiert  werden (Speichergedächtnis)

Abb. I.5: Die unterschiedlichen Gedächtnissysteme im Überblick. Aus: Markowitsch, Hans: Das Gedächtnis. Entwickung, Funktion, Störungen. München 2009, 73.

Die Möglichkeit der Auslagerung von Gedächtnisinhalten, beispielsweise in Form von Schrift, hat das menschliche Gedächtnis weder ersetzt, noch, wie schon Platon befürchtete, verkümmern lassen, sondern seinen Umfang eher erweitert. „Der externe Speicher der Aufzeichnungen“, heißt es bei Aleida Assmann, „dehnt das Gedächtnis und entlastet es zugleich; wodurch eine unausweichlich wachsende Diskrepanz zwischen dem verkörperten Gedächtnis und dem externen Archiv entsteht“21. Solche externen Archive sind zunächst einmal nicht mehr als Speicher, aus denen sich Daten abrufen lassen. Das Wissen, wo sich im Zweifel etwas nachschlagen lässt, ersetzt das verkörperte Wissen nicht. Platon hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Speichermedien das funktionale Wissen nicht ersetzen können. Dass sich auf verkörpertes Wissen auch in Zeiten schier unbegrenzter Datenspeicher 21

Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft, 186.

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I.2  Individuelle Erinnerung

nicht verzichten lässt, verdeutlicht ein Alltagsbeispiel: Auch wenn Ärzte alle Wissensbestände grundsätzlich nachschlagen könnten, wird man doch lieber die Ärzte aufsuchen, die nicht erst nachschlagen müssen, welche Knochen oder Organe wo genau angesiedelt sind und welche Symptome üb‐ licherweise welche Ursache haben. Ausgelagertes und verkörpertes Wissen sind dabei die beiden zentralen Stichworte. Das Wissen einer Gesellschaft und Kultur gliedert sich in ein Speichergedächtnis und ein Funktionsge‐ dächtnis, die sich in den Worten von Aleida Assmann „wie Hintergrund und Vordergrund zueinander verhalten“ – oder wie das, was man in Kopf hat, sich zu dem Wissen verhält, das man im Lexikon nachschlagen kann.

Speichergedächtnis

passiver Wissensspeicher muss neu erschlossen werden extern ausgelagert

Funktionsgedächtnis

aktives lebendiges Gedächtnis direkter Zugriff möglich Körpergedächtnis

Abb. I.6: Speicher- und Funktionsgedächtnis

Ein für unsere Gegenwart typischer Irrtum in Bezug auf das eigene Wissen hat mit der Verwechslung von Speicher- und Funktionsgedächtnis zu tun. Viele Menschen, die glauben, dass sie über ein großes Wissen verfügen, haben dieses Wissen nicht im Körpergedächtnis, sondern wissen lediglich, wo sich die entsprechenden Fakten rasch abrufen lassen, sprich: Welchen externen Speicher sie wie befragen müssen. Die Wissensillusion hat sich mit dem mobilen Internet verstärkt, da sich vermittels eines Smartphones länger vermuten lässt, man wisse mehr als man tatsächlich weiß. Aleida Assmann führt zur Unterscheidung zwischen Speicher- und Funk‐ tionsgedächtnis ferner aus: Im Speichergedächtnis werden Quellen, Objekte und Daten gesammelt und bewahrt, unabhängig davon, ob sie von der Gegenwart gerade gebraucht werden […]. Das Funktionsgedächtnis ist demgegenüber das aktive Gedächtnis einer Wir-

Körperliches Gedächtnis und ausgelagertes Gedächtnis

Gruppe. So wie das autobiographische Gedächtnis die Identität eines Individuums stützt, stützt das kulturelle Funktionsgedächtnis die Identität eines Kollektivs. Es enthält eine Auswahl aus der Fülle der überlieferten Bestände, die für die Identität dieser Gruppe relevant ist.22

Die Ausführungen lassen erkennen, dass es nicht nur die Möglichkeit des verkörperten und des ausgelagerten Wissens in Speicher und Funktionsge‐ dächtnis, sondern neben dem individuellen Gedächtnis jedes einzelnen Men‐ schen auch so etwas wie ein kollektives Gedächtnis gibt. Individuelles und kollektives Gedächtnis sind miteinander verbunden und können dennoch voneinander unterschieden werden. Mit den Formen des kollektiven Gedächtnisses beschäftigt sich das nächste Kapitel. Für den Augenblick genügt es festzuhalten, dass die Unter‐ scheidung zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis für die Arbeit mit der hermeneutischen Kategorie der Erinnerung in der Bibelwissenschaft relevant ist, weil beim Ausgriff auf vorausliegende Tradition (das, was als kulturelles Gedächtnis bezeichnet wird) immer wieder Einträge aus dem Speichergedächtnis in das Funktionsgedächtnis geholt werden. Das betrifft beispielsweise die Verwendung alttestamentlicher Traditionen in neutestamentlichen Texten oder auch Verweise auf Praktiken der frühen Kirche in aktuellen theologischen Diskussionen. Die dabei aufgerufenen – und damit aktualisierten – Daten oder Wissensbestände waren nicht „vergessen“, sondern lediglich kein Teil des Funktionsgedächtnisses (mehr), während sie im Speichergedächtnis weiterhin zugänglich waren. Durch ihre Einführung in den jeweiligen Zusammenhang werden sie aktualisiert und dem Arbeitsgedächtnis einer Gruppe wieder zugänglich gemacht. Ob sie dort bleiben oder wieder „vergessen“ werden – also ins Speichergedächtnis zurückehren – ist für jeden Fall neu auszuhandeln.   Literaturhinweise Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 32017. Huebenthal, Sandra: You can’t live with an experience that remains without a story. Memory theory and how Mark’s Gospel narrates experiences with Jesus, in: 22

Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft, 186.

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I.2  Individuelle Erinnerung

Nicklas, Tobias; Kelhoffer, James A. (Hg.): The Gospel of Mark in its historical and theological context, Tübingen 2022 (im Erscheinen). Markowitsch, Hans J.: Das Gedächtnis. Entwicklung, Funktionen, Störungen, Mün‐ chen 2009. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 22008.

I.3 Formen sozialer Erinnerung Während die Existenz des individuellen Gedächtnisses weithin unbestrit‐ ten ist, wurde (und wird) die Existenz kollektiver Gedächtnisse immer wieder infrage gestellt. Das dritte Kapitel stellt den französischen Sozio‐ logen Maurice Halbwachs, der die Begriffe des sozialen und kollektiven Gedächtnisses in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in den sozialwis‐ senschaftlichen Diskurs eingebracht hat, als Vater der sozialen Gedächt‐ nisforschung vor. Um die hermeneutische Kategorie der Erinnerung in der Bibelwissenschaft anwenden zu können, ist es nötig, den Ansatz von Maurice Halbwachs und seine Weiterentwicklung durch Aleida und Jan Assmann zu kennen.

Soziales und kollektives Gedächtnis (Maurice Halbwachs) Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses geht auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurück.23 In seinem Werk Les cadres sociaux de la mémoire hat Halbwachs, wie im letzten Kapitel schon angeklungen ist, die These aufgestellt, dass individuelle Erinnerung von sozio-kulturellen Umfeld der jeweiligen Person geprägt ist. Halbwachs nahm an, dass die Erinnerung des Individuums mit den Erinnerungen der anderen Mitglieder seiner Bezugsgruppe interagiert. Erinnerung wird dadurch zum sozialen Phänomen: Sie wächst gewissermaßen von außen in das Individuum hinein. Für die persönliche Erinnerung spielen wich‐ tige Bezugsgruppen wie die eigene Familie oder Religionsgemeinschaft 23

Die wegweisenden Arbeiten von Maurice Halbwachs sind: Les cadres sociaux de la mémoire, Bibliothèque de l’Évolution de l’Humanité 8, Paris 2001. [Erstausgabe 1925, deutsch: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 3 2006 [1985], zuvor Berlin 1966] und La mémoire collective. Bibliothèque de l’Évolu‐ tion de l’Humanité 28, Paris 1997 [Erstausgabe 1949/1950; deutsch: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967]. Weniger rezipiert, aber ebenfalls sehr erhellend ist La topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte. Étude de mémoire collective, édition discours 21/6, Paris 1941 [deutsch: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003].

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

demnach eine besondere Rolle. Das Gedächtnis des Einzelnen ist durch Sprache und Begrifflichkeit, aber auch durch kommunikative Muster und Wertungen der Bezugsgruppe geprägt, wie wir es beispielsweise auch von Soziolekten kennen. Anders formuliert: die sozialen Rahmen und kultu‐ rellen Muster, die einen Menschen umgeben, steuern seine Wahrnehmung und Bewertung. Erinnerung ist im Sinne von Halbwachs daher immer ein soziales Phänomen. In diesem Prozess interagiert die Erinnerung des Individuums mit den Erinnerungen der anderen Mitglieder seiner Bezugsgruppe. Dabei spielen Emotionen eine zentrale Rolle. Aus der neurowissenschaftlichen Forschung ist bekannt, dass Erinnerungsepisoden immer mit den ihnen zugehörigen emotionalen Markern gespeichert werden. Halbwachs nahm bereits an, dass die Gefühle, die ein Individuum seiner Bezugsgruppe gegenüber hegt, seine Erinnerung prägen und seine Positionierung inner‐ halb dieses sozialen Gefüges bestimmen. Gefühle und Affekte wirken dabei gleichermaßen als Auswahlkriterien und Verstärker: Erinnerungen, die mit stärkeren Emotionen aufgeladen sind, erfahren eine höhere Prä‐ gnanz und bekommen einen höheren Wert zugeschrieben, als solche die weniger stark emotional aufgeladen sind. Überraschenderweise ist es dabei unerheblich, ob die emotionale Ladung positiv oder negativ ausfällt. Die Erinnerungen erhalten ihre Relevanz innerhalb des sozialen Rahmens aufgrund der emotionalen Marker. Sie eröffnen damit einen weiteren Horizont, der dem Individuum sein Selbstverständnis und seine Identitätskonstruktion durch Interaktion mit der Gruppe und innerhalb der Gruppe ermöglicht. Ohne jeglichen Bezug zu einem sozialen Rahmen, schließt Halbwachs, ist die Ausbildung individueller Erinnerungen und einer individuellen Identität nicht möglich. Maurice Halbwachs geht ferner davon aus, dass Erinnerung die Vergan‐ genheit nicht als solche und am Stück bewahrt, sondern lediglich einzelne Teile der Vergangenheit und dass diese Teile ebenfalls perspektivisch ge‐ bunden sind. Diese perspektivische Wahrnehmung, die sich in Gefühlen und Wertungen äußert, betrifft nicht nur den Prozess der Speicherung von persönlichen Erinnerungen im episodischen Gedächtnis, sondern auch ihren Wiederaufruf. Wenn Erinnerungen erneut abgerufen werden, werden die einzelnen Teile demnach nicht einfach wiedergefunden, sondern entspre‐ chend der Bedürfnisse des Individuums, das sie aufruft, neu konstruiert und emotional markiert.

Soziales und kollektives Gedächtnis (Maurice Halbwachs)

Der Ägyptologe Jan Assmann, der in seiner eigenen Forschung zum kollektiven Erinnern auf den Ansätzen von Maurice Halbwachs aufbaut, fasst diesen Gedanken folgendermaßen zusammen: „Die Vergangenheit existiert nur als soziale Konstruktion. Sie wird nur erinnert rekonstruiert, insoweit sie gebraucht wird“24. Das heißt auch, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit, unabhängig davon, ob sie von einem Individuum oder einer Gruppe vorgenommen wird, nicht ohne kreative Elemente auskommt. Diese kreativen Elemente hängen entscheidend davon ab, in welchem Rahmen die Erinnerung aktualisiert wird. Anders formuliert: Da Erinnerung auch eine funktionale Seite hat, wird die Vergangenheit jeweils nach den Bedürfnissen der Gegenwart konstruiert. Oder wie Max Frisch treffend formulierte: Jede Gegenwart schafft sich die Vergangenheit, die sie braucht. Diesen sozialen Rahmen nennt Halbwachs kollektives Gedächtnis. Der Einzelne verortet seine Erinnerungen in diesem Rahmen, um sie verstehen, interpretieren und kommunizieren zu können. Der Akt der Erinnerung selbst wird dabei jedoch nicht vom Individuum auf die Gruppe übertragen, sondern die Gruppe bietet lediglich den Verstehens- und Deutungsrahmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der gleichen Weise wie das einzelne Ereignis seinen Platz und seine Bedeutung nur dadurch gewinnt, dass es im Kontext anderer Ereignisse gesehen wird, sich eine Struktur auch nur dann ausbilden und sichtbar werden kann, wenn mehrere Ereignisse verbunden werden. Diese Interdependenz von Ereignis und Struktur hat zur Folge, dass sich soziale Rahmen verändern können – und mit ihnen entsprechend auch die Erinnerungen. Soziale Rahmen und die in ihnen verorteten Erinnerungen sind damit nicht Ein-für-alle-mal, sondern höchst anfällig für Veränderungen. Wenn die Struktur eines sozialen Rahmens von Ereignissen bestimmt wird, haben neue Ereignisse und neue Erkenntnisse das Potential, diesen Rahmen zu verändern.

24

Jan Assmann: Art. Halbwachs, Maurice, in: Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Hamburg 2001, 247– 249, 248.

45

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

Kollektives Gedächtnis (Maurice Halbwachs)

Individuelle Erinnerung interagiert mit dem durch Erfahrungen, Erinnerungen und Interpretationen der Bezugsgruppe vorgegebenen sozialen Rahmen

Individuelle Erinnerung

Sozialer Rahmen Einzelne verorten ihre Erfahrung und Erinnerung in diesem Rahmen, um sie verstehen, interpretieren und kommunizieren zu können

Soziale Rahmen sind dynamisch und veränderbar: Traditionen werden an die Erkenntnisse und Bedürfnisse der Gegenwart angepasst Neuerungen werden mit vorausliegenden Erkenntnissen korreliert

Abb. I.7: Kollektives Gedächtnis (Maurice Halbwachs)

Auch dieser Zusammenhang lässt sich gut anhand eines Alltagsbeispiels erklären. Früher oder später beschäftigt sich fast jeder mit der eigenen Familiengeschichte und fast unweigerlich stößt man dabei auf Überraschun‐ gen. Wenn beim Aufräumen des Dachbodens alte Fotoalben oder Briefe aus der Großelterngeneration auftauchen, werfen sie nicht selten ein neues Licht auf die eigene Familie. Solche Erkenntnisse werden über kurz oder lang die Familiengeschichte und Geschichten über die Familie verändern. So wurde in einer befreundeten Familie unlängst erst die Mutter des Großvaters rehabilitiert: Sie galt immer als besonders kaltherzige Frau, weil sie ihren Erstgeborenen nicht selbst aufgezogen, sondern schon als Baby zu Pflegeeltern gegeben hatte. Lange nach dem Tod des Großvaters hat die Familie beim Aufräumen die Familiendokumente genauer angesehen und festgestellt, dass die Urgroßmutter noch keine siebzehn Jahre alt war als der Großvater geboren wurde und dieses Ereignis in einer Stadt weit entfernt von ihrer eigenen Familie, ihrem Arbeitsplatz als Dienstmagd und ihrem sozialen Umfeld stattfand. Dass kein Vater auf der Geburtsurkunde steht, ist fast überflüssig zu erwähnen. Die Vorstellung von der kaltherzigen Frau ist rasch dem Mitleid mit einem jungen Mädchen gewichen, das sich seine

Soziales und kollektives Gedächtnis (Maurice Halbwachs)

Jugend sicher anders vorgestellt hatte und sich kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einer fremden Stadt alleine durchschlagen musste. Was für Alltagserfahrungen zutrifft, gilt in gleicher Weise auch für kom‐ plexere soziale Rahmen. Auch sie verändern sich durch Ereignisse oder neue Erkenntnisse. So werden sich auch die Geschichte und die Wahrnehmung der Katholischen Kirche durch die Aufdeckung der Missbrauchsfälle und die MHG-Studie ändern. Dabei handelt es sich aus gedächtnistheoretischer Perspektive um völlig normale Prozesse: Traditionen verändern sich und werden an die Erkenntnisse und Bedürfnisse der Gegenwart angepasst. Ebenso werden Neuerungen mit vorausliegenden Erkenntnissen korreliert. Eine neue Idee wird sich nicht etablieren können, wenn sie nicht irgendwie mit früheren Traditionen verbunden werden kann. Ebenso wenig wird ein Ritual bedeutsam bleiben, das keinerlei Bezug mehr zur aktuellen Struktur hat. Es wird irgendwann abgeschafft werden. Auch hierzu gibt es in der Geschichte der Katholischen Kirche viele Beispiele: So wurde beispielsweise die hierzulande übliche Form des Kom‐ munionempfangs mit der Hand erst 1969 im Nachgang des Zweiten Va‐ tikanischen Konzils durch die Instruktion „Memoriale Domini“ (wieder) eingeführt, die auf den entsprechen Brauch in der alten Kirche Bezug nahm und ihn aus dem Speichergedächtnis der Katholischen Kirche wieder in das Funktionsgedächtnis zurückholte. Ein Beispiel für den umgekehrten Fall wäre der in ländlichen Regionen noch weit verbreitete Wettersegen, in dem um gutes, d. h. für eine gute Ernte hilfreiches Wetter gebetet wird. Dieser Segen ist denjenigen, die in katholischen Großstadtpfarreien sozialisiert sind, in der Regel fremd. Die Arbeiten von Maurice Halbwachs zum sozialen Erinnern sind in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen erklären sie, wie die individuelle Erinnerung durch die Existenz sozialer Rahmen und die Notwendigkeit der Verortung in diesen Rahmen geprägt wird. Diesen Prozess nennt Halbwachs soziales Gedächtnis. Zum anderen erklären Halbwachs’ Erkenntnisse wie soziale Rahmen zur (Re-)Konstruktion von Ereignissen beitragen und wie Erinnerungsgemeinschaften bestimmte Ereignisse durch ihre eigenen Rahmen semantisieren. Diesen Prozess nennt Halbwachs kollektives Ge‐ dächtnis. Beiden Prozessen ist gemein, dass sie mit der Verortung von Erinnerungen in sozialen Rahmen zu tun haben. Der Unterschied besteht zwischen der Verortung von Erinnerungen innerhalb bereits bestehender sozialer Rahmen und der Veränderung von Rahmen bzw. der Verfertigung neuer Rahmen. Während Halbwachs die Verortung innerhalb bestehender

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

Rahmen als soziales Gedächtnis bezeichnet, kann die Verfertigung neuer Rahmen als kollektives Gedächtnis bezeichnet werden.

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Soziales Gedächtnis

Verortung von Erinnerung innerhalb bestehender Rahmen

Kollektives Gedächtnis

Veränderung von Rahmen/ Verfertigung neuer Rahmen

Abb. I.8: Soziales und kollektives Gedächtnis

Eine zentrale Innovation des Ansatzes besteht darin, dass Halbwachs sich mit diesem Konzept vom Gedächtnis als Speicher in Form eines unabänderli‐ chen Aufbewahrungsortes löst und den Aufbau und die Verwaltung von Er‐ innerungen neu denkt. Sein Ansatz bereitet den Weg zu einem dynamischen Verständnis von Erinnerung. Halbwachs hat auf theoretischem Wege er‐ schlossen, was empirische Studien zur Identitätskonstruktion für Individuen und intime Erinnerungsgemeinschaften später nachweisen konnten. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist relativ zu den Bedürfnissen der Gegenwart gestaltet und stellt damit kein Abbild vergangener Zeiten, son‐ dern ein perspektivisch-selektives Konstrukt dar. Erinnern und Vergessen sind in diesem Ansatz prinzipielle gleichberechtigte Partner, auch wenn der Fokus der Erinnerungsgemeinschaften ebenso wie der Fokus der Forschung auf dem Erinnern und nicht auf dem Vergessen beruht. Diese Einsichten sind auch für die Bibelwissenschaft relevant: Wenn man die Evangelien auf der Basis dieser Erkenntnisse betrachtet, geben sie nicht Auskunft darüber, wer Jesus war, sondern zeigen vielmehr wer Jesus

Kollektives und kulturelles Gedächtnis (Aleida und Jan Assmann)

für eine bestimmte Erinnerungsgemeinschaft ist und warum es für diese Gruppe wichtig ist, an ihn zu erinnern. Die Kategorien, in denen Jesus in den neutestamentlichen Texten erinnert und erzählt wird, stammen häufig aus den Heilgen Schriften Israels, die im christlichen Kanon das Alte Testament bilden. Um ihren eigenen Erfahrungen Sinn abzugewinnen, nutzten die ers‐ ten Generationen von Jesusnachfolgern ihre Heiligen Schriften – oder wie Jan Assmann sagen würde, ihr kulturelles Gedächtnis – als Referenzrahmen. Kollektives und kulturelles Gedächtnis (Aleida und Jan Assmann) Dem Ägyptologen Jan Assmann ist die Einführung des Konzepts kultu‐ relles Gedächtnis zu verdanken.25 Assmann verbindet den Ansatz von Halbwachs mit medientheoretischen Beobachtungen und gelangt zu der Erkenntnis, dass Krisenphänomene – als Krise gelten hier Entscheidungs‐ situationen oder Situationen, die Veränderungen erzwingen oder notwen‐ dig machen – innerhalb des kollektiven Gedächtnisses zur Etablierung zweier unterschiedlicher Stufen von kollektiver Erinnerung führen. Diese beiden Stufen nennt er kommunikatives und kulturelles Gedächtnis. Die erste der beiden Stufen, das kommunikative Gedächtnis, steht dabei für eine zumeist noch lebendige und sich im Gespräch befindliche, gleichwohl identitätsformende Erinnerung, die auf einen Zeitraum von drei bis vier Generationen begrenzt ist. Kulturelles Gedächtnis hingegen beschreibt das kanonisierte kulturelle (Erinnerungs-)Gut einer Gruppe, das norma‐ tiv und formativ ihr Selbstverständnis bestimmt – wie beispielsweise die Heiligen Schriften des Volkes Israel. Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis ist flie‐ ßend. Das kommunikative Gedächtnis bleibt auf die Zeit beschränkt, die die Mitglieder einer Erinnerungsgemeinschaft mit episodisch-biographischen Erinnerungen füllen können. Zudem besitzt es die Eigenart, dass kürzer zurückliegende Ereignisse präziser und umfassender (und auch in größerer Varianz) erinnert werden als länger zurückliegende, für die es gewöhnlich übereinstimmende Erinnerungen größerer Gruppen gibt. Das ist insofern 25

Die beiden zentralen Arbeiten sind Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992 und Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000.

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

nicht ungewöhnlich, als sich im Laufe der Zeit durch soziale Aushand‐ lungsprozesse bestimmte Wertungen und Deutungen dieser Ereignisse durchsetzen, die sich als kollektive Rahmen auf die individuelle Erinnerung auswirken. Je länger Ereignisse zurückliegen, desto eher drohen sie aus dem Erinne‐ rungsraster zu fallen, weil die Träger der Erinnerung aus der Gemeinschaft verschwinden. Anders formuliert: Mit dem Tod der Zeitzeugen beginnt sich die Erinnerung an ihre Zeit aufzulösen, wenn sie nicht rechtzeitig in eine andere Form und oft auch in ein anderes Medium überführt wird. Die Erinnerung an die Gründungsereignisse einer Gruppe verändert sich stark, wenn die Gründungsväter und -mütter sie nicht mehr mit Emotionen aufladen und semantisieren können. Die Ereignisse selbst bleiben für die Erinnerungsgemeinschaft weiterhin normierend und formierend, werden jedoch allmählich in die nicht mehr einholbare „graue Vorzeit“ verwiesen, wo ihnen ein eher mythischer Charakter zuwachsen kann. Diese bipolare Er‐ innerungsform erklärt der Ethnologe Jan Vansina damit, dass das historische Bewusstsein nur auf zwei Ebenen arbeitet: der Ursprungszeit und jüngsten Vergangenheit. Das bedeutet für orale Gesellschaften, dass sie einerseits stabile Erinnerungen an die Gründungsereignisse haben und andererseits veränderliche biographische Erinnerungen. Die Lücke zwischen beiden Erinnerungsformen zeigt die Grenze des Generationengedächtnisses an, die sich mit der Erinnerungsgemeinschaft durch die Zeit bewegt. Diese Lücke wird in der Oral-History-Forschung in Anlehnung an Jan Vansina als Floating Gap, als mitwandernder Zeithorizont bezeichnet. Floating heißt dabei zweierlei: Einerseits ist die Lücke selbst alles andere als stabil und kann auch für die gleiche Generation an manchen Orten früher auftauchen als an anderen. Andererseits ist damit gemeint, dass diese Lücke gemeinsam mit einer Erinnerungsgemeinschaft durch die Zeit wandert. Sprich: Ereignisse, die vor 20 Jahren noch Teil des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses waren, sind es heute nicht mehr. Der Floating Gap ist eines von zwei Krisenphänomenen des kommuni‐ kativen Gedächtnisses. Das andere Krisenphänomen ist die so genannte Generationenschwelle oder der Generational Gap, die in der kollektiven Erinnerung nach etwa vierzig Jahren einsetzt. Jan Assmann hat beobachtet, dass nach etwa 40 Jahren die Zeitzeugen, die ein bedeutendes Ereignis als Erwachsene erlebt haben, sich aus dem zukunftsorientierten aktiven Leben zurückziehen und in ein Alter eintreten, in dem nicht nur die Erinnerungen anwachsen, sondern auch der Wunsch, sie zu fixieren und weiterzugeben.

Kollektives und kulturelles Gedächtnis (Aleida und Jan Assmann)

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Ebenso wie der Floating Gap ist auch der Generational Gap als mitwandern‐ der Zeithorizont „floating“, sprich: er ist immer vom aktuellen Standort aus zu denken. Kulturelles Gedächtnis Jan Assmann

Kollektives Gedächtnis

Krisenphänomene

Generational Gap (30-50 Jahre)

Floating Gap (80-120 Jahre)

Kommunikatives Gedächtnis

Kulturelles Gedächtnis

Jüngste Vergangenheit

Ursprungszeit

Lebendiges Dreigenerationengedächtnis, das diskursiv gemeinsam Erinnerung und damit auch Identität aushandelt

Kanonisiertes kulturelles (Erinnerungs-) Gut einer Gruppe, das normativ und formativ ihr Selbstverständnis bestimmt

Abb. I.9: Kulturelles Gedächtnis (Jan Assmann)

Die beiden Zeiträume – vierzig Jahre für die Generationenschwelle und achtzig Jahre für den Floating Gap – klingen idealisiert, werden jedoch durch die Erkenntnisse der Oral-History-Forschung untermauert, und das unabhängig davon, dass die durchschnittliche Lebenserwartung gestiegen ist.26 Die von Jan Assmann genannten vierzig Jahre sind nicht historisierend zu denken, sondern als Umschreibung einer Generation zu verstehen. Nach dieser einen Generation („vierzig Jahre“) kommt die kollektive Erinnerung mit der Generationenschwelle zum ersten Mal an einen kritischen Punkt, nach zwei Generationen („achtzig Jahre“) mit dem Floating Gap zum zweiten und endgültigen Mal.

26

Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 51, verweist hier auf Lutz Niethammer: Lebens‐ erfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“, Frankfurt am Main 1985.

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

Eines der Beispiele, die Jan Assmann verwendet, um die Charakteristika des kulturellen Gedächtnisses zu beschreiben, ist das Buch Deuteronomium. Assmanns Ansatz wurde dadurch in der alttestamentlichen Wissenschaft relativ schnell bekannt und ebenso engagiert wie kontrovers diskutiert. Insbesondere die Idee des Generational Gap, die Assmann in den 40 Wüs‐ tenjahren des Volkes Israel ausgedrückt fand, geriet dabei in die Kritik. Man hat Jan Assmann in diesem Zusammenhang häufig vorgeworfen, die 40 Jahre zu wörtlich genommen zu haben. Das hat nicht nur die Diskussion über Assmanns Ansatz erschwert, sondern es auch weitgehend verunmög‐ licht, dass die zugrundeliegende und für die neutestamentliche Forschung höchst bedeutsame Kategorie des Generational Gap in der exegetischen Wissenschaft diskutiert wurde. Um nicht in den Verdacht einer historisierenden Lesart von Exodus und Wüstenzeit zu geraten und der sich verändernden Lebenserwartung gerecht zu bleiben, empfiehlt es sich daher, den achtzig bis einhundert Jahren des Floating Gap eine Zeitspanne von dreißig bis fünfzig Jahren für den Generational Gap gegenüberzustellen.27 Der Generational Gap ist deshalb für die Arbeit an neutestamentlichen Texten bedeutsam, weil für diese Texte und ihren Abstand zu den Ereignissen, auf die sie erzählerisch ausgreifen, nicht das kulturelle, sondern das kollektive Gedächtnis entscheidend ist. Oder wenn man sich an den jeweiligen Krisenzeiten orientiert: Nicht der Floating Gap nach 80–120 Jahren ist die Krise, die die für uns relevanten Prozesse von Medienwechsel und Textproduktion stimuliert hat, sondern der Generational Gap nach rund 40 Jahren. Der Vorwurf, der Assmann gemacht wurde, ist auch insofern etwas ungerecht, als die 40 Jahre, die er für den Generational Gap annahm, eine urbiblische Kategorie sind. Der Ägyptologe Assmann hat weitgehend mit alttestamentlichen Texten, insbesondere dem Buch Deuteronomium, gearbeitet. So ist ihm womöglich entgangen, dass die 40 Jahre im Alten Testament eine viel bedeutendere Rolle spielen und insbesondere der Autor der Apostelgeschichte unterstützt seine Theorie, dass 40 Jahre das Ende 27

Neben den idealtypischen vierzig Jahren des Volkes Israel in der Wüste lassen als weitere biblische Beiträge zu diesem Phänomen sich auch Gen 25,20; 26,34; Ri 3,11; 5,31; 8,28; 13,1; 1 Sam 4,18; 2 Sam 2,1; 5,4; 1 Kön 11,42; 2 Kön 12,1; 1 Chr 26,31; Ez 29,11ff und Apg 4,22 anführen. Es liegt außerdem nahe, dass die in biblischen Texten häufig begegnenden vierzig Tage an die mit den vierzig Jahren verbundene Vorstellung angelehnt sind, vgl. Gen 7,4.12.17; 8,6; 50,3; Ex 24,18; 34,28; Num 13,25; 1 Sam 17,16; 1 Kön 19,8; Ez 4,6; Jona 3,4; Mt 4,2 par; Apg 1,3.

Generational Gap und Neues Testament: Die Predigt des Stephanus (Apg 6,8–7,60)

einer Generation von Zeitzeugen darstellt. Pointiert formuliert: Stephanus, der „Schutzheilige“ des Generational Gap, ist erst im Neuen Testament unterwegs. Generational Gap und Neues Testament: Die Predigt des Stephanus (Apg 6,8–7,60) Schauen wir uns das etwas genauer an: Unser Held, wenn man so will, ist Stephanus. In Apg 6,13f wird er von falschen Zeugen beschuldigt, die sagen: Dieser Mensch hört nicht auf, zu reden Worte gegen [diesen] heiligen Ort und das Gesetz; denn wir haben ihn sagen hören: dieser Jesus, der Nazarener, wird diesen Ort zerstören, und die Sitten verändern, die Moses uns überliefert hat.

Durch die gedächtnistheoretische Brille betrachtet, wird Stephanus beschul‐ digt, den gemeinsamen kulturellen Referenzrahmen zu missachten und damit aus der Interpretationsgemeinschaft herauszufallen. Tora und Tempel sind insofern „kanonisch“ als sie identitätskonstitutiv für die Religion des Zweiten Tempels sind. Apg 6,13f bringt gut auf den Punkt, dass es hier um die Verortung in kulturellen Referenzrahmen geht oder um die Frage: Wie verhält man sich zu seinem Erbe? Diese Verortung ist – wenn man die Kategorien von Maurice Halbwachs anwendet – ein Spezifikum des sozialen Gedächtnisses im Unterschied zum kollektiven: Soziales Gedächtnis heißt, dass Identitäts‐ bildung innerhalb vorgegebener sozialer und kultureller Rahmen stattfindet, während kollektives Gedächtnis neue Rahmen für künftige Prozesse von Identitätskonstruktion verfertigt und bereitstellt. Es geht im ersten Fall ganz eindeutig auch um den Ausgriff auf das Funktionsgedächtnis. Im zweiten Fall kann auch mit dem Speichergedächtnis gearbeitet werden. In der Stephanus-Episode geht es für die Erzählfiguren um den Prozess der Behauptung und Verteidigung ihrer Identitätskonstruktion innerhalb eines bestimmten sozio-kulturellen Rahmens. Diese Identitätskonstruktion wird als nicht gruppenkonform angefragt. Für die Anhänger des Weges (Apg 9,1), wie Lukas die frühen Jesusanhänger nennt, ist es lebenswichtig, nicht aus dem Verbund der Religion des Zweiten Tempels herauszufallen. Denn diese Zugehörigkeit ist wichtiger Teil ihrer Identität. Die Predigt des Stephanus in Apg 7 ist ein gutes Beispiel für die Tendenz des frühen Christentums, sich in die normative und formative Tradition der Religion

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

des Zweiten Tempels einzuschreiben. Stephanus predigt „kanonisch“, weil er in emischer Perspektive auf Mose als gemeinsame Tradition, als gemeinsa‐ men Referenzrahmen ausgreift. Die Tora ist für ihn „Kanon“ insofern sie identitätskonstitutiv ist. Ähnliches versucht Petrus in den Predigten in Apg 2–4, wenn er Jesus im Rückgriff auf die Geschichte Israels deutet. Doch bleibt es bei Stephanus nicht bei der „Einschreibung“ in den gemeinsamen Referenzrahmen, sondern er verwendet einzelne Teile wie Prophetenverfol‐ gung und Kultkritik, um die Ereignisse um Jesus in diesem Rahmen zu verorten und ihn so – ganz im Einklang mit Halbwachs’ Erkenntnissen zur Interdependenz von Ereignis und Rahmen – zu verändern. Im sozialen Aushandlungsprozess, den er damit anstößt, unterliegt Stephanus und es deutet sich an, dass sich die Wege der Jesusnachfolger und der Synagogen‐ gemeinden trennen werden. Was die Predigt in Apg 7 für die kulturwissenschaftlich-gedächtnistheore‐ tische Lektüre besonders reizvoll macht, ist der Umstand, dass Stephanus mit dem Konzept des Generational Gap spielt, wenn er in seiner Argumentation die Spanne von 40 Jahren dienstbar macht. Die Apostelgeschichte ist nicht der einzige Text, der diese Zeitspanne nutzt, doch Stephanus tut dies in un‐ erwarteter Weise, wenn er das Leben Mose in drei Perioden von je 40 Jahren einteilt. Seine Zuhörer – die Erzählfiguren in der Apostelgeschichte ebenso wie seine heutigen Rezipienten – wissen aus dem Buch Deuteronomium, dass Mose im Alter von 120 Jahren gestorben ist. Entsprechend wundert sich niemand, wenn Stephanus sagt, dass Mose im Alter von 40 einen Ägypter umgebracht hat und ihm im Alter von 80, nachdem er 40 Jahre in Midian verbracht hat, wo ihm zwei Söhne geboren wurden, in der Flamme eines brennenden Dornbuschs ein Engel erschien. Beide Zahlen tauchen jedoch nirgends im Alten Testament auf – lediglich die 40 Jahre in der Wüste, die noch zum vollen Lebensalter des Mose fehlen, werden erwähnt. In seiner Predigt klassifiziert Stephanus drei Zeiträume von je vierzig Jahren, jeder etwa eine Generation. Die Logik dieser Einteilung funktioniert, weil die Gesamtzahl stimmt und man sich bildlich vorstellen kann, dass Mose erst als erwachsener Mann sein Coming-Out als Israelit haben konnte. Ebenso, dass er sich nach der Tötung des Ägypters zumindest so lange wieder versteckt halten musste, wie die Zeugen lebten – oder um auf der sicheren Seite zu sein: eine Generation lang. Dieselbe Begründung wird im Num 14,33f.32,13; Jos 5,6 und Ps 95,10 für die 40 Jahre in der Wüste gegeben: Gott ließ die Israeliten vierzig Jahre lang in der Wüste umherirren, bis die ganze Generation ausgestorben war, die getan hatte, was böse in den

Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis im Modell

Augen des Herrn war. Die 40 Jahre – oder eine Generation – sind tief in der biblischen Tradition verwurzelt und Stephanus nutzt diese Tradition in seiner Predigt. Die Apostelgeschichte ist auch sonst ein interessantes Betätigungsfeld für gedächtnistheoretische Lektüren, da hier Beobachtungen auf zwei Ebenen möglich sind. Auf der Figurenebene geht es, wie wir gerade gesehen haben, um soziales Gedächtnis oder die Verortung innerhalb existierender Rahmen. Auf der Ebene des Makrotexts oder des Werkganzen geht es jedoch um kollektives Gedächtnis oder die Verfertigung neuer Rahmen für künftige – christliche – Identitätsentwürfe. Den primär heidenchristlichen Lesern der Apostelgeschichte wird über die Predigten (hier Stephanus, sonst: Petrus und Paulus) ihre neu ererbte Identität vergegenwärtigt. Die jüdische Tradition, die nie Teil ihres kulturellen Erbes war, wird durch den Glauben an Christus nun Teil ihrer kulturellen Identität als Jesusnachfolger. Ähnliches lässt sich – wie in den exemplarischen Lektüren II.3–II.5 gezeigt wird – auch für andere Erzähltexte des Neuen Testaments beobachten: Indem Evangelien und Apostelgeschichte soziales Gedächtnis erzählen, schaffen sie kollektives und bilden so einen neuen Referenzrahmen für frühchristliche Identitätskonstruktionen. Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis im Modell Aus den Überlegungen zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis lässt sich festhalten, dass beide keine statischen Komplexe sind, sondern dynamische Formationen, die prinzipiell im Fluss sind. Sowohl im kollektiven als auch im kulturellen Gedächtnis führen Krisenerfahrungen zur Transformation der Erinnerungen und zu ihrer Überführung in andere Medien. Das Phänomen des Floating Gap, das zur Ausbildung kultureller Gedächtnisse führt, hat im Generational Gap ein strukturanaloges Gegenüber. Auch diese Krise führt zu Veränderungen des Erinnerungsprozesses, die Repräsentation und Kommunikation gleichermaßen betreffen. Traditionen werden normalerweise nicht verschriftlicht. Geschieht das doch, so liegt es zumeist an einer Krise. Traditionen haben keine Tendenz zur Verschriftlichung im Sinne einer inneren Entwicklungslogik. Der natürliche Weg der Tradition führt nicht zur Schrift, sondern zur Gewohnheit, nicht zur Explikation, sondern zum Implizit-Werden, zur Habitualisierung und Unbewußtmachung. Der Anstoß zur Verschriftlichung kommt von außen,

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

und wo er kommt, verändert er Traditionen. Daher ist es sinnvoll, nach sol‐ chen äußeren Anstößen der Verschriftlichung zu fragen.28 Jan Assmann hat formuliert, dass Traditionsbrüche gewöhnlich Verschriftlichungsschübe nach sich ziehen.29 Auch hier lassen sich die am kulturellen Gedächtnis gewonnenen Beobachtungen auf das kollektive Gedächtnis zurückspiegeln. Auch im kollektiven Gedächtnis bewirken Brüche und Umstürze innerhalb der Erinnerungsgemeinschaft die Veränderung und Verlagerung von Erin‐ nerung – und sei es, dass die nachfolgende Generation noch im Angesicht der Zeitzeugen zu einer alternativen Deutung kommt, die für ihre Iden‐ titätskonstruktion nötig ist. Diese neuen Entwürfe müssen als mögliche neue Rahmen wiederum sozial ausgehandelt werden, bevor sie von einer größeren Gruppe akzeptiert werden. Das frühe Christentum ist – wie sich an den Überlegungen zur Apos‐ telgeschichte erkennen ließ – hierfür ein gutes Beispiel. Doch lässt sich noch einen Schritt weitergehen: Während die ersten Generationen von Je‐ susnachfolgern Jesus im Lichte ihrer Bibel, sprich: der Heiligen Schriften des Volkes Israel, verstanden haben, verstehen Christen im dritten Jahrhundert Jesus bereits im Lichte jener Texte, die später Neues Testament genannt werden. Diese Texte sind ursprünglich verfasst, um der lebensverändernden Begegnung mit Jesus und seiner Botschaft Sinn abzugewinnen. Im Laufe der Zeit wurden sie – nicht ohne Aushandlungskonflikte – allgemein als Rahmen für adäquates Jesusverständnis akzeptiert. Mit Halbwachs und Assmann könnte man auch sagen, dass das kollektive Gedächtnis im Laufe der Zeit zum kulturellen Gedächtnis geworden ist. In den unterschiedlichen Phasen hinterlassen Erinnerungsgemeinschaf‐ ten Zeugnisse oder Externalisierungen ihrer jeweiligen sozialen Erinnerung. Diese Zeugnisse können von späteren Generationen angeeignet und unter‐ sucht werden. Auch wenn es nicht möglich sein dürfte, für jeden Einzelfall zu entscheiden, ob eine solche Externalisierung eher in den einen oder anderen Bereich gehört – oder auch in mehrere, je nach der zeitlichen Distanz, mit der sie betrachtet wird –, ist es hilfreich, die Konzepte sozialen Erinnerns in seinen unterschiedlichen Formen zu trennen, um sie als analytisches Werkzeug zu verwenden. Die Dreiteilung in soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis, die Aleida Assmann unter Aufgabe des kommunikativen Gedächtnisses 28 29

Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 82. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 88.

Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis im Modell

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vorgeschlagen hat, ist eine gute Basis für das Verständnis der unterschied‐ lichen Formen sozialen Erinnerns, wie sie auch in der Bibelwissenschaft verwendet werden. Das folgende Modell zeigt die nur idealtypisch zu differenzierenden unterschiedlichen Formen sozialen Erinnerns, die beiden Krisenzeiten des Generational Gap und Floating Gap, sowie ihre jeweils wichtigsten Charakteristika im Hinblick auf Medienwechsel und Kano‐ nisierungsprozesse: Kulturelles Gedächtnis

Unmittelbare Vergangenheit (3-4 Generationen)

Unmittelbare Vergangenheit (3-4 Generationen)

Absolute Vergangenheit („Graue Vorzeit“)

Nicht-intentionale Beschäftigung mit der Vergangenheit Verortung in innerhalb vorgegebener soziokultureller Rahmen

Die Vergangenheit wird bewusst aufgerufen und geformt. Verfertigung neuer Rahmen

Medienwechsel Eine leitende Perspektive setzt sich durch

Floating Gap (≈ nach 80-120 Jahren)

Kollektives Gedächtnis

Generational Gap (≈ nach 30-50 Jahren)

Soziales Gedächtnis

Die Vergangenheit wird als vorgegebene Tradition erlebt Kanonisierung der „neuen” Rahmen

(Erneuter Medienwechsel) (Die leitende Perspektive wird kanonisiert)

Abb. I.10: Idealtypisches Modell: soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis

In diesem Modell orientiert sich die Unterscheidung zwischen sozialem und kollektivem Gedächtnis an den Kategorien von Maurice Halbwachs; die Unterscheidung zwischen kollektivem und kulturellem Gedächtnis an den Kategorien von Jan Assmann. Die Verbindung dieser Einteilung mit der Annahme des Generational Gap innerhalb des kollektiven Gedächtnisses und des Floating Gap zwischen kollektivem und kulturellem Gedächtnis ermöglicht die Visualisierung eines idealtypischen Modells. Kollektives Gedächtnis wird in diesem Modell als die Zeitspanne ver‐ standen, in der die Gründungserzählung einer Gruppe ihre vorläufige

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

feste Form erhält und in der der Strom unterschiedlicher Versionen (oder Traditionen) sich allmählich auf eine Version hin verdichtet. Die Dinge sind noch immer im Fluss, bewegen sich aber mehr und mehr auf eine leitende Perspektive im Umgang mit der Vergangenheit und eine stabile Version der Gründungsereignisse hin, die sozial geteilt wird und ihren eigenen Ausdruck in Externalisierungen wie Texten findet, die auch einen Medienwechsel beinhalten. Die weitere Ausdifferenzierung des Modells fußt auf den Erkenntnissen von Aleida Assmann. In Bezug auf das soziale Gedächtnis hält sie fest, dass es zeitlich begrenzt ist und sich gewöhnlich im Medium des Gesprächs ausbildet. Mit dem Tod (oder Weggang) seiner Träger löst es sich auf und hat daher ebenfalls einen mitwandernden Zeithorizont. Der Charakter des sozialen Gedächtnisses ist eher inoffiziell, und er wird von denjenigen geteilt, die mehr oder weniger zufällig in eine bestimmte Gruppe hineingewachsen sind. Man kann daher auch sagen, dass das soziale Gedächtnis einerseits den Erfahrungsschatz einer Gruppe darstellt, auf den ausgegriffen wird, andererseits begegnet das soziale Gedächtnis in der materiellen Welt der alltäglichen Dinge, der städtischen Umgebung usw. Auch hier liegt es nahe, an das Funktionsgedächtnis zu denken. Das kollektive Gedächtnis hingegen ist entfristet; die mentalen Bilder werden zu Ikonen, die Erzählungen zu Mythen. Im kollektiven Gedächtnis setzt sich eine der unterschiedlichen Perspektiven durch, wohingegen das soziale Gedächtnis noch von Multiperspektivität bestimmt ist. Die Erfahrun‐ gen werden im kollektiven Gedächtnis von den konkreten Bedingungen ihres Entstehens gelöst und zu zeitenthobenen Geschichten umgeformt. Entsprechend unterscheiden sich Dauer und Ausbreitung des kollektiven Gedächtnisses von denen des sozialen. Während das soziale Gedächtnis von den Trägern abhängt und mit deren Verschwinden untergeht, ist das kollek‐ tive Gedächtnis von der Bedeutung seiner Inhalte abhängig. Geschichten verbleiben im kollektiven Gedächtnis, solange sie für die Gruppe funktional sind. Wenn sie dysfunktional werden, werden sie durch andere Geschichten ersetzt. Von seinem Charakter her ist das kollektive Gedächtnis eher offiziell und Aleida Assmann weitet es auf Religion und Nation aus. Die Teilhabe an diesem Gedächtnis erfolgt durch die Teilhabe an Riten und Fest- und Gedenktagen, die meist auf eine bestimmte Art strukturiert sind. Der Unterschied zwischen sozialem und kollektivem Gedächtnis lässt sich gut an Familiengedächtnissen verdeutlichen. Von ihrer Anlage und Ausbreitung her handelt es sich bei ihnen um soziale Gedächtnisse, die zwar

Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis im Modell

über ein größeres Repertoire an Einzelgeschichten, aber nicht über die Fami‐ liengeschichte am Stück verfügen. Anders als bei kollektiven Gedächtnissen setzt für gewöhnlich kein Verschriftlichungsprozess ein, und Familienge‐ dächtnisse referieren auch nicht auf eine Founding Story (Gründungsge‐ schichte), die im Laufe der Zeit eine immer festere Form erhalten hat. Im Gegenteil ist es für Familiengedächtnisse wichtig, dass die narrative Wahrheit einer Geschichte – selbst, wenn sie in einer bestimmten, relativ festen Form erzählt wird – diskursiv aushandelbar bleibt. Dennoch bleibt die scharfe Trennung zwischen beiden Gedächtnisformen hypothetisch. In beiden Fällen ist das Gruppengedächtnis noch formbar. Es hat noch nicht die endgültige Abgeschlossenheit des kulturellen Gedächtnisses, doch die Übergänge sind fließend. Die Frage nach Mündlichkeit und Schriftlich‐ keit ist damit noch nicht berührt. Es liegt jedoch nahe, dass im kollektiven Gedächtnis bereits Externalisierungsprozesse stattfinden, die der Dauer, Festlegung und Verbreitung des kollektiven Gedächtnisses dienen. Es er‐ scheint folgerichtig, dass auf dieser Stufe die Textproduktion einsetzt, die den unterschiedlichen Fassungen der erinnerten Ereignisse eine vorläufigendgültige Form gibt, die freilich noch einem Auswahl- und Umgestaltungs‐ prozess unterworfen sein kann. Das ist in der kanonisierten Form des kulturellen Gedächtnisses zumindest für Einzeltexte nicht mehr möglich. Formen sozialen Erinnerns ■ Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis sind keine statischen Formationen, sondern dynamische Formationen, die prinzipiell im Fluss sind. ■ Krisenerfahrungen führen zur Transformation der Erinnerungen und zu ihrer Überführung in andere Medien. ■ Traditionen haben keine Tendenz zur Externalisierung (z. B. Ver‐ schriftlichung), sondern zur Internalisierung oder Habitualisierung/ Unbewusstmachung. ■ Verschriftlichungsschübe entstehen gewöhnlich durch Traditionsbrü‐ che (Generational Gap/Floating Gap). ■ Bedeutung für die Bibelwissenschaft: Abfassung der neutestamentli‐ chen Texte als Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsdiskurse (Gründungserzählungen/Founding Stories).

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

Für bibelwissenschaftliche Arbeit im Bereich des Neuen Testaments ist das soziale Gedächtnis weniger relevant als kollektives und kulturelles Gedächt‐ nis. Zeitlich gesehen, liegt es weitgehend parallel zum kollektiven Gedächtnis, hat aber eine andere Dynamik. Dennoch ist zu vermuten, dass die echten Paulusbriefe als Zeugnisse des sozialen Gedächtnisses zu lesen sind, denn in ihnen versucht Paulus seine Erfahrungen und die Fragen, auf die er eingeht, im vorgegebenen kulturellen Rahmen der Schriften Israels zu verorten. Das heißt freilich nicht, dass sich nicht auch bei Paulus grundsätzliche Überlegungen finden, die stärker Richtung „Verfertigung neuer Rahmen“ und damit Richtung kollektives Gedächtnis gehen. Diese Frage wird bei den exemplarischen Lektüren anhand der Briefe an die Galater (II.1) und Thessalonicher (III.2) in den Blick genommen. Die übrigen Schriften des Neuen Testaments scheinen hingegen den Charakter von Artefakten oder Externalisierungen des kollektiven Gedächtnisses zu haben. Jenseits der unterschiedlichen Formen kollektiver Erinnerung sind auch die beiden Krisenphänomene Generational Gap und Floating Gap für bibelwissenschaftliches Arbeiten interessant. Sie sind ein Schlüssel zur Entstehung und zum Verständnis der neutestamentlichen Literatur. Der Generational Gap ist insofern bedeutsam als die neutestamentlichen Texte und ihre zeitliche Distanz zu den Ereignissen, die sie reflektieren, nicht in die „graue Vorzeit“, also die Zeit des kulturellen Gedächtnisses, gehören, sondern in die jüngste Vergangenheit, also die Zeit des kollektiven Gedächtnisses. Andersherum formuliert: Nicht der Floating Gap rund 80–120 Jahre nach dem bedeutsamen Ereignis stimuliert die relevanten Prozesse von Medien‐ wechsel und Textproduktion, mit denen sich die neutestamentliche Wissen‐ schaft beschäftigt, sondern eher der Generational Gap 30–50 Jahre nach den Ereignissen. Wenn man die Erkenntnisse kulturwissenschaftlicher Gedächt‐ nistheorie als Folie über die Ergebnisse der Einleitungswissenschaft zur Entstehung der neutestamentlichen Schriften legt, lassen sich Phänomene wie die Verschriftlichung von Gründungserzählungen oder Pseudepi‐ graphie als Gesprächsbeitrag im Aushandlungsprozess frühchristlicher Erinnerungskultur und Identitätsbildung lesen.  

Emotionale Ladung (abhängig von den Trägern) Charakteristik zeitlich befristet, Erfahrungsschatz einer Gruppe,  multiperspektivisch, inoffiziell, nicht  institutionalisiert/fokussiert, alltäglich, diskursiv,  episodisch, Vergangenheitskonstruktion en  passant, memory talk, streng mündlich  Größe kleine soziale Gruppen wie Familien, die den  Rahmen für individuelle Erinnerung liefern, z.B.  Schulklassen, Militär, Reisegruppen und andere  Peergroups Zeitlicher Rahmen Gegenwart, unmittelbare Vergangenheit (recent past), Zeit der Zeitzeugen, löst sich mit dem  Weggang oder Tod der Träger auf Formen individuelle Traditionen  und Alltagskommunikation Code eher primordial Erzählungen diskursive Verfertigung von Einzelepisoden, bei  denen unterschiedliche Perspektiven  nebeneinanderstehen können, keine  chronologische Anordnung der Episoden  („Familiengedächtnis“), sozial vermittelte  Organisationsprinzipien für Narrative Identitätsbildung durch Aufrufen einzelner Episoden  (Vergegenwärtigung durch Erzählen), diskursive  Verfertigung von Identität

Soziales Gedächtnis

Identitätsbildung durch Annahme und „Einschreibung“ in die Gesamt‐ narration, z.B. durch Teilhabe an Riten, Festen und Gedenk‐ tagen (auch Vollzüge wie Festzug oder gemeinsames Mahl)

Zeitlicher Rahmen unmittelbare Vergangenheit  (recent past), achtzig bis einhundert Jahre, mitwandernder  Zeithorizont von drei bis vier Generationen Formen individuelle Traditionen und Alltagskommunikation  Code eher traditional Erzählungen Verfertigung einer Gesamtnarration in einem spezifischen  Medium (z.B. Text), in der sich eine Perspektive durchsetzt,  zeitliche Verortung der Einzelepisoden in einem größeren  Rahmen, dadurch (Re‐)Kontextualisierung und/oder  (Re‐)Historisierung in der und durch die Gesamtnarration 

Prägnante Gestaltung (abhängig von der Funktion) Charakteristik entfristet, Fokussierung, eine Perspektive setzt sich durch,  beginnende Etablierung/ Verfestigung einer gemeinsamen  Geschichte („Gründungsmythos“), Bilder werden zu Ikonen,  Erzählungen zu Mythen, Verschriftlichung setzt ein oder hat  eingesetzt  Größe Erinnerungsgemeinschaften, eher größer als Familien, nicht  jedes Mitglied muss alle anderen Mitglieder kennen,  mitunter sogar Nationen

Kollektives Gedächtnis

Identitätsbildung durch Auseinandersetzung mit und  Positionierung zu dem geltenden Konzept

Formen hoher Grad an Formalisierung, zeremonielle  Kommunikation Code eher universalistisch Erzählungen Kanonisierung der Erzählungen,  insbesondere des „Gründungsmythos“ und  anderer wichtiger Texte

Zeitlicher Rahmen absolute Vergangenheit in Form einer  mythischen Urzeit  („graue Vorzeit“)

Institutionelle Festigung (abhängig vom Kanon) Charakteristik entfristet, kodifiziert und kanonisiert,  gestiftet: Weitergabe durch Erziehung/ Bildung, braucht spezialisierte  Gedächtnisträger und Ausleger, hierarchisch  strukturiert Größe größere Gruppen wie Nationen, Staaten,  Religionen und  ethnische Gruppen 

Kulturelles Gedächtnis

Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis im Modell 61

FLOATING GAP NACH ETWA ACHTZIG BIS EINHUNDERT JAHREN

GENERATIONAL GAP NACH ETWA DREIßIG BIS FÜNFZIG JAHREN

Abb. I.11: Formen sozialen Erinnerns: ausführliche Matrix. Vgl. Sandra Huebenthal: Das

Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253). Göttingen 22018, 143.

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I.3  Formen sozialer Erinnerung

Literaturhinweise Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identi‐ tät in frühen Hochkulturen, München 52005. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 22004. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 32017. Huebenthal, Sandra: Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253), Göttingen 22018, 77–156. Vansina, Jan: Oral Tradition as History, Madison 1985. Welzer, Harald et. al. (Hg.), „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 62008.

I.4 Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel Kollektives und kulturellen Gedächtnis sind keine statischen, sondern dyna‐ mische Formationen, die prinzipiell im Fluss sind. Sowohl im kollektiven als auch im kulturellen Gedächtnis führen Krisenerfahrungen zur Transfor‐ mation der Erinnerungen und zu ihrer Überführung in andere Medien. Im vierten Kapitel werden diese mitwandernden Zeithorizonte genauer in den Blick genommen. Beispiele aus der deutschen Geschichte trainieren den Blick für typische Prozesse und Phänomene und bereiten den Einsatz von kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie als Werkzeug für die Lektüre von neutestamentlichen Texten vor.

Ein Blick auf die Gegenwart Traditionsbrüche ziehen gewöhnlich Verschriftlichungsschübe nach sich – so Jan Assmann. Seine an Phänomenen des kulturellen Gedächtnisses gewonnenen Beobachtungen lassen sich in ähnlicher Form auch für das kollektive Gedächtnis ausmachen. Auch im kollektiven Gedächtnis bewirken Brüche und Umstürze innerhalb der Erinnerungsgemeinschaft die Veränderung und Verlagerung von Erinnerung. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die nachfolgende Generation noch im Angesicht der Zeitzeugen zu einer alternativen Deutung kommt, die für ihre Identitätskonstruktion nötig ist. Solche neuen Entwürfe müssen als mögliche neue Rahmen zunächst sozial ausgehandelt werden, bevor sie von einer größeren Gruppe akzeptiert werden. Um diese Phänomene noch besser verstehen und intuitiv nachvollziehen zu können, lohnt es sich, sie anhand der eigenen Gegenwart und des eigenen kulturellen Rahmens durchzuspielen, bevor sie als Werkzeug für das Verständnis des Neuen Testaments und des frühen Christentums zum Einsatz kommen. Die Vorgehensweise ist einfach: Wir nehmen das im letzten Kapitel vorgestellte Modell für kollektives und kulturelles Gedächtnis, sowie die beiden Krisenzeiten Genrational Gap und Floating Gap und wenden es für die eigene Gegenwart an. Die zentralen Fragen lauten dabei:

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I.4  Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel



Wann endet das lebendige Dreigenerationengedächtnis, oder: Wo ist der Floating Gap anzusetzen, der den Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis markiert? ■ Wann ist ungefähr der Einschnitt des Generational Gap anzusetzen, der als Krisenphänomen des kollektiven Gedächtnisses gewöhnlich die Veränderung und Verlagerung von Erinnerungen bedingt?

Für unsere eigene historische Verortung würde schematisch folgende Zeit‐ struktur gelten: Heute

Generational Gap

Floating Gap Kulturelles Gedächtnis

1880 1890 1900

1910 1920 1930

Kollektives Gedächtnis

1940 1950

1960 1970 1980

Kollektives Gedächtnis

1990 2000 2010

2020

Abb. I.12: Kollektives, kulturelles Gedächtnis und die Gaps aus heutiger Perspektive

In den Bereich des sozialen und kollektiven Gedächtnisses fällt – ganz idealtypisch gesehen – die Zeitspanne zwischen heute und allem, was 80 bis 120 Jahre zurückliegt. Das kollektive Gedächtnis unserer eigenen Zeit erstreckt sich demnach theoretisch bis in die letzten Jahre des wilhelmini‐ schen Kaiserreiches, wobei festzuhalten ist, dass bereits der Erste Weltkrieg faktisch nicht mehr Teil des kollektiven Gedächtnisses ist. In den Bereich des kulturellen Gedächtnisses fällt für die Gegenwart entsprechend alles, was jenseits des Floating Gap liegt und nicht mehr zum kollektiven Gedächtnis gehört. Dazu zählen die Kaiserzeit und der deutschfranzösische Krieg, Bismarcks Sozialgesetzgebung, aber auch das Erste Vatikanische Konzil. De facto sind das Ende des Ersten Weltkriegs ebenso

Ein Blick auf die Gegenwart

wie die Oktoberrevolution und der erste Waffenstillstand von Compiègne (11.11.1918) bereits Teil des kulturellen Gedächtnisses. Besonders interessant ist der Blick auf die beiden Krisenzeiten des kollek‐ tiven Gedächtnisses. Der Generational Gap – etwa vierzig Jahre nach einem Ereignis – wäre für unsere Gegenwart der Beginn der 1980er Jahre. Wenn man die Spanne weiter fasst, ließe sich der Generational Gap zwischen 1975 und 1985 ansiedeln. Welche Ereignisse fallen in diese Zeit und wie werden sie heute wahrgenommen? Drei Beispiele seien exemplarisch aufgeführt: Das Zweite Vatikanische Konzil als womöglich wichtigstes Ereignis der Katholischen Kirche im 20. Jahrhundert liegt bereits jenseits dieser Schwelle. Entsprechend ist zu vermuten, dass man sich in der Katholischen Kirche bereits weitgehend auf eine bestimmte Rezeption dieses Ereignisses verständigt hat. Wer sich dieser Rezeption nicht anschließt, bewegt sich am Rand der Katholischen Kirche und ist womöglich auf dem Weg aus der Kirche hinaus. Ereignisse im Nachgang des Konzils wie die Würzburger Synode (1971–1975) fallen ebenfalls in diese Zeit. Hier wird allerdings noch um die rechte Deutung gerungen, was sich auch an der sehr unterschiedlichen Rezeption des Synoda‐ len Wegs innerhalb Deutschlands wie der Weltkirche zeigt. Aus kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischer Perspektive ist we‐ nig überraschend, dass mehr als 40 Jahre nach dem Beginn der Umweltbe‐ wegung – und 40 Jahren nach der Gründung der Grünen als Partei im Januar 1980 – der Umweltschutz nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch in der Katholischen Kirche angekommen ist. Die Thematik der Enzyklika Laudato Si (2015) ist auch jenseits der Tagespolitik und des Zeitgeists nicht unbedingt überraschend. Auch die Climate-Change-Bewegung Fridays for Future passt in diese Zeit. Etwa 40 Jahre nach der ersten Panik über das Ozonloch bewegt eine neue Klimaschutzwelle die Gesellschaft weltweit. Je nachdem wie alt die eigenen Gesprächspartner sind, liegt der Fall der Berliner Mauer bereits jenseits des Generational Gap. Auch wenn das Ereignis erst 30 Jahre zurückliegt, ist es für die jüngere Generation bereits Geschichte und kaum noch nachvollziehbar. Das hat unter anderem zur Folge, dass der Unrechtsstaat der DDR bisweilen verklärt wird und die heutige Bundesrepublik in Sachen Überwachung und Pressefreiheit in einer bestimmten politischen Ecke gerne mit ihm verglichen wird. Der Floating Gap, der Einschnitt etwa drei Generationen oder 80 bis 120 Jahre nach einem Ereignis, beginnt aus heutiger Perspektive in den 1930er Jahren. Was rund um die Nazizeit, die Shoah und den zweiten Weltkrieg bislang nicht in einer sozial ausgehandelten Weise kollektiv erinnert wird,

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I.4  Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel

droht in den nächsten eins, zwei Jahrzehnten endgültig in Vergessenheit zu geraten. Auch hierzu drei Beispiele: Der Erste Weltkrieg und seine Erinnerung sind bereits im kulturellen Gedächtnis angekommen, was sich deutlich an der Art der Gedenkfeiern und Gedenkausstellungen anlässlich des Endes des Ersten Weltkrieges quer durch Europa gezeigt hat. In den Ländern, die an diesem Krieg beteiligt waren, wurde er in überraschend ähnlicher Form erinnert und bewertet. Auch für den Zweiten Weltkrieg trifft das mehr oder weniger zu. Mitunter lässt sich durch die Abwesenheit von kulturellen Erinnerungen auch etwas lernen: Ein gutes Beispiel für etwas, das nicht zum kulturellen Gedächtnis geworden ist, ist der Salonwagen von Compiègne. Dieser Wagen ist im Zweiten Weltkrieg noch klarer Teil des kollektiven Gedächtnisses – anders lässt sich seine Bedeutung für die Unterzeichnung der Kapitulation Frankreichs (dem „Zweiten Waffenstillstand von Compiègne“, 22.06.1940) nicht erklären. Der Wagen wird hier zum kollektiven Symbol und weit mehr als nur ein Salonwagen. Wenn Nazideutschland den Krieg gewonnen hätte, wäre der zwischenzeitlich nach Berlin überführte Wagen vermutlich ins kulturelle Gedächtnis eingegangen und zum Erinnerungsort ausgebaut worden, statt 1986 verschrottet zu werden. Doch so, wie die Geschichte sich entwickelt hat, war ihm nur ein kurzes kollektives Gedächtnis vergönnt. Ins kulturelle Gedächtnis eingegangen sind stattdessen Stalingrad und der Spiegelsaal von Versailles. In Frankreich steht übrigens ein baugleicher Wagen tatsächlich noch im Museum als Erinnerung an die Friedensschlüsse – allerdings wird der Waffenstillstand von 1940 als „Waffenstillstand von Rethondes“ erinnert. Hier sind die unterschiedlichen kulturellen Gedächt‐ nisse der beiden Länder deutlich zu erkennen. Ein anderes Fahrzeug, dem ein anderes Schicksal zuteilwurde, ist der Bus, in dem Rosa Parks 1955 in Montgomery im US-Bundesstaat Alabama nicht für einen Weißen aufstand. Dieser Bus – oder zumindest ein baugleiches Modell – steht im Henry-Ford-Museum in Dearborn/Michigan. Er ist auf dem besten Weg, als Erinnerungsort ins kulturelle Gedächtnis der Vereinig‐ ten Staaten von Amerika einzugehen. Mediale Aushandlung und Vermittlung Die beiden letztgenannte Beispiele – der Salonwagen von Compiègne und der Bus von Rosa Parks – zeigen, dass Erinnerung auf sehr unterschiedliche

Mediale Aushandlung und Vermittlung

Art und Weise ausgehandelt und inszeniert werden kann und sich in unterschiedlichen Medien manifestiert. Bei Jan Assmann war zu lernen, dass Traditionsbrüche gewöhnlich mit Medienwechseln einhergehen und eine bestimmte Perspektive auf Ereignisse der eigenen Geschichte anbieten, die als wichtig oder fundierend wahrgenommen werden. Ob diese Perspektive dann allgemein übernommen wird, wird in sozialen Aushandlungsprozes‐ sen geklärt, die sich den gleichen oder anderer Medien bedienen können. Auch hier zeigt ein Blick auf die eigene Lebenswelt, wie Generationen und Medienwechsel durch Identifikationsangebote Erinnerung formen. Als Beispiele hierfür werden im Folgenden die TV-Serie Die Deutschen und der Kinofilm Der Baader-Meinhof-Komplex vorgestellt. Die Fernsehserie Die Deutschen (2008) bestand als historische Dokumen‐ tation aus zehn jeweils 45-minütigen Folgen.30 Aus gedächtnistheoretischer Perspektive betrachtet, handelt es sich um den Versuch, eine kollektive nationale Identität über das Medium Fernsehen zu etablieren, und damit um einen Ausgriff auf das Kulturelle Gedächtnis. Die Serie beginnt in der absoluten Vergangenheit im Jahr 936 n. Chr. und endet 1918, und damit deutlich vor dem Floating Gap der zeitgenössischen Bundesrepublik. Die Themen der einzelnen Folgen und ihre mediale Präsentation sind sehr interessant: Otto der Große, der vermeintlich den Grundstein des deutschen Zusammengehörigkeitsgefühls gelegt hat, Martin Luther als Reformer und Patron der deutschen Sprache und die Demokratiebewegung, die zur Revo‐ lution von 1848 führte. Die Deutschen verbindet Auszüge aus historischen Quellen mit animierten Bildern, Landkarten und Zeitachsen, die mit histo‐ rischen Gemälden und fiktionalen Inszenierungen historischer Ereignisse überblendet werden. Die Serie ist entsprechend emotional aufgeladen und zielt weniger darauf ab informativ zu sein als formativ. Die letzte Episode endet mit der Ausrufung der Weimarer Republik (9.11.1918) und stellt den Versuch dar, Identität durch Erinnerungsfiguren und Symbole entstehen zu lassen, die suggerieren, dass Die Deutschen eine Nation von Demokraten sind. Es ist offensichtlich, dass hier eine kollektive Identität konstruiert werden soll, die durch Episoden vermittelt wird, welche durch ihre Aus‐ wahl und Anordnung bestimmte Gefühle wecken und eine bestimmtes Geschichtsverständnis fördern. Es ist kein Zufall, dass eine Zeitspanne 30

Die Serie wurde vom ZDF produziert und 2008 ausgestrahlt. Eine zweite Staffel, die den gleichen Zeitraum von 1000 Jahren abdeckt, wurde 2010 erstausgestrahlt: https://www .zdf.de/dokumentation/terra-x/die-deutschen-140.html (letzter Aufruf: 25.04.2022).

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I.4  Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel

von insgesamt 1000 Jahren gewählt wurde und die Serie aus zehn Teilen besteht. Auch der emotional aufgeladene Titel soll dazu beitragen, diese Serie als Referenzrahmen für die Identitätskonstruktion junger Deutscher zu platzieren. Die Serie lädt ihre Zuschauer dazu ein, die dargestellten Ereignisse als Teil ihrer gemeinsamen Gründungsgeschichte zu erkennen und als Teil ihrer gemeinsamen Identität anzunehmen, auf der sich eine gemeinsame Zukunft als Mitbürger aufbauen lässt. Der Baader-Meinhof-Komplex (2008), ursprünglich ein Kinofilm, ist hin‐ gegen ein Versuch, das kollektive Gedächtnis in eine bestimmte Richtung zu lenken. Der Film beschreibt die Zeit der ersten Generation der Roten Armee Fraktion und die Ereignisse von 1977, die bereits als Deutscher Herbst ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Anders als die Serie beschäftigt sich der Film mit der unmittelbaren Vergangenheit, die zur Produktionszeit etwa 30 Jahre zurückliegt. Das Charakteristikum des Films, das ihn für eine gedächtnistheoretische Analyse interessant macht, ist der Anspruch der Filmemacher, nicht einfach nur einen Film zu produzieren, sondern den Eindruck zu vermitteln, dass die bekannten Zeitungs- und Fernsehbilder aus der Zeit zu laufen beginnen – und damit ein objektives Bild vermitteln. Der ikonische Zugang war äußerst erfolgreich, nichtsdestotrotz erzählte er nicht die wahre Geschichte des Deutschen Herbstes, sondern eine bestimmte Ver‐ sion, wie die Ereignisse aus dem Herbst 1977 verstanden werden konnten. Eine solcher Versuch der Verengung auf eine bestimmte Rezeptionsweise ist ein typisches Phänomen des kollektiven Gedächtnisses, insbesondere um die Generational Gap herum. Auch wenn weiterhin konkurrierende Versionen eines Ereignisses im Umlauf sind, beginnt allmählich der Kampf um die Deutungshoheit, der sich auch in der Frage materialisiert, welche Version denn nun die richtige sei. Allein die Fragestellung lässt erkennen, dass die Tradition hier noch im Fluss ist, und die Klagen der Witwe Jürgen Pontos gegen den Film, der die Wirklichkeit verzerre, zeigen deutlich, dass eine gemeinsame Version der Vergangenheit noch ausgehandelt werden muss.31 Analoge Beispiele aus der Welt der biblischen Wissenschaft, die das Potential dieses Zugangs zeigen, lassen sich mit diesem Hintergrundwissen relativ leicht finden. So ist einerseits der Ausgriff der neutestamentlichen Texte auf die Heiligen Schriften Israels gut in den Kategorien des kulturellen 31

Die Diskussion um den Film lässt sich bei Wikipedia – ebenfalls ein Medium des kollektiven Gedächtnisses – sehr gut nachverfolgen: https://de.wikipedia.org/wiki/De r_Baader_Meinhof_Komplex (letzter Aufruf: 25.04.2022).

Generationen und Krisenzeiten: Von Ostern aus gedacht

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Gedächtnisses zu fassen, während die Verschriftlichung des Markusevange‐ liums in zeitlicher Nähe zum Generational Gap, die zusätzlich einen Medi‐ enwechsel impliziert, als typisches Phänomen des kollektiven Gedächtnisses verstanden werden kann. Das schauen wir uns nun im Detail an. Generationen und Krisenzeiten: Von Ostern aus gedacht Um besser zu verdeutlichen, wie sich mit diesem Modell im Blick auf das Neue Testament und frühe Christentum arbeiten lässt, wechseln wir zunächst die Perspektive und schauen vom Gründungsereignis nach vorne, sprich von Ostern in die Zukunft. Jesu Leben, Tod und Auferstehung Generational Gap

Kollektives Gedächtnis

30

40

50

60 Phil Gal

Floating Gap Kulturelles Gedächtnis

Kollektives Gedächtnis

70 Kol Mk

90

80 Mt

100 Lk

110 Joh Apg

120

130

140

PolPhil

150

160

Martyrium Polykarp

170 Martyrium Justin

Abb. I.13: Kollektives, kulturelles Gedächtnis und die Gaps von Ostern aus gesehen

■ Ostern als das Gründungsereignis des Christentums wird gewöhnlich um das Jahr 30 n. Chr. datiert. Wenn wir das Jahr 30 als Ausgangspunkt nehmen, kommen wir rein rechnerisch auf einen Generational Gap zwischen 60 und 80 n. Chr., und einen Floating Gap zwischen 110 und 150 n. Chr. Die Zeit des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses würde sich dementsprechend bis in das zweite Jahrhundert erstrecken und es darf vermutet werden, dass es zwischen 60 und 80 n. Chr. größere

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I.4  Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel

Veränderungen im kollektiven Gedächtnis der Jesusnachfolger gibt, die auch mit Medienwechseln einhergehen. ■ Dabei ist freilich die Einschränkung zu machen, dass es nicht den einen Generational Gap oder Floating Gap gibt, der sich jeweils für alle zur gleichen Zeit auftut. Es handelt sich nicht um ein „One-sizefits-all“-Modell. Die jeweilige „Lücke“ kann sich, vielmehr ähnlich wie es auch beim Beispiel des Falls der Berliner Mauer heute der Fall ist, an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten auftun. Das erklärt Ungleichzeitigkeiten und unterschiedliche Geschwindigkeiten und macht nur dann Probleme, wenn man auf fixen Daten besteht, wie es in der älteren Forschung manchmal der Fall war. Wer ein fixes Datum für die Trennung von Kirche und Synagoge (mitunter schon um 70 n. Chr.) sucht oder eine Synode von Javne als Datum für den Kanonschluss des Alten Testaments annimmt, gerät angesichts mancher Texte in Erklärungsnöte. Hier ist ein Modell, das Prozesse und Ungleichzeitigkeiten mit einkalkuliert, deutlich stärker. Es ist überraschend, wie gut sich die Texte des Neuen Testaments in die Zeitspanne des kollektiven Gedächtnisses einpassen. Die Passgenauigkeit wird noch überraschender, wenn man die beiden Krisenzeiten mit einbe‐ zieht. Dann zeigt sich, dass die Texte, die zeitlich später als die Paulusbriefe liegen, allesamt zwischen dem Generational Gap und dem Floating Gap zu verorten sind. Wenn man berücksichtigt, dass diese Texte mit Ausnahme der Offenbarung anonym oder pseudepigraph sind, ist das schon erstaunlich. Die Überraschung ist jedoch nicht ganz so groß, wenn man bedenkt, welche Bedeutung die beiden Krisenzeiten haben. Beide markieren gewöhnlich (starke) Veränderungen der Struktur sozialer Gedächtnisse. Sie sind häufig Katalysatoren für die Veränderung von Form oder für Medienwechsel, was den Beginn von Textproduktion ebenso einschließt wie die gesteigerte Produktion neuer Gattungen (vgl. I.5). Pseudepigraphie und Evangelien als anonyme Großnarrative lassen sich gut als Folgen des Generational Gap verstehen. Ebenso gut wird die Rückkehr zu orthonymen Texten nach dem Floating Gap verständlich – und zwar unabhängig von weiteren historischen Ereignissen, die diese Entwicklung sonst begünstigt haben. Man könnte durchaus so weit gehen zu sagen, dass bestimmte Weiterentwicklungen innerhalb eines kollektiven Gedächtnisses zu einer bestimmten Zeit „in der Luft“ liegen und es die Art des Ereignisses ist, die bestimmt, wohin die Reise geht. Ohne das Civil Rights Movement wäre Rosa

Die unterschiedlichen Perspektiven frühchristlicher Texte

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Parks’ Bus nicht zu einer Ikone des US-amerikanischen kulturellen Gedächt‐ nisses geworden und würde längst friedlich auf einem Autofriedhof vor sich hin rosten. Diesen Punkt werden wir im nächsten Kapitel genauer betrachten. Zunächst versuchen wir, den jeweiligen zeitlichen Standort neutestamentlicher Autoren besser zu verstehen. Die unterschiedlichen Perspektiven frühchristlicher Texte Wenn wir nach Ostern auf der mentalen Zeitachse weitergehen, bewegt sich der Horizont für kollektives und kulturelles Gedächtnis ebenfalls. Es ist sinnvoll, jetzt die Blickrichtung wieder zu wechseln und statt nach vorne zurückzuschauen. Dabei verändern sich die absoluten Zeitpunkte einzelner Ereignisse nicht (der Tod Jesu wird weiter um 30 n. Chr. datiert), wohl aber die relativen Zeitpunkte oder zeitlichen Standorte derjenigen, die auf diese Ereignisse schauen, weil sie zeitlich unterschiedlich weit von ihnen entfernt sein können. Die Perspektive auf die Vergangenheit ändert sich von Paulus über Matthäus bis zu Polykarp deutlich: Kollektives Gedächtnis Paulus Kollektives

Gedächtnis Matthäus

Generational Gap Tod  Jesu

30

Phil

40

50

Mt

Kol/Mk

60

70

80

90

Kulturelles Gedächtnis Kollektives Gedächtnis

Apg

100

PolPhil

110

120

Mart.Pol

130

140

Kollektives Gedächtnis Polykarp

Floating Gap

Generational Gap

Abb. I.14: Der mitwandernde Zeithorizont im frühen Christentum

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I.4  Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel

Die zeitliche Verortung von Jesu Tod und Auferstehung – das Datum wenn man so will – verändert sich dabei natürlich nicht, aber die zeitliche Ver‐ bindung oder Distanz der neutestamentlichen Autoren zu diesem Ereignis. Was für Paulus 25 Jahre zurückliegt, liegt für Matthäus bereits um die 50 Jahre zurück und für Polykarp von Smyrna um die 100 Jahre. Alleine die zeitliche Distanz vermag zu erklären, warum die drei unterschiedlich mit den Ereignissen und ihrer Wirkung umgehen – und warum sie in unterschiedlichen Textgattungen arbeiten. Paulus Für Paulus sind Jesu Tod und Auferstehung, die Formation der Jerusalemer Gemeinde, seine eigene Missionstätigkeit und die Gründung der Gemeinden in Galatien und in Thessalonich unmittelbare Vergangenheit. Dies alles ist zu seinen Lebzeiten geschehen und zum Teil war er aktiv daran beteiligt. Er kennt Petrus und Jakobus persönlich und hat sich mit ihnen über die Frage der Heidenmission gestritten hat. Dies alles ist für ihn, wenn man so will, Teil des sozialen oder kollektiven Gedächtnisses. Für die Apostelgeschichte stellt sich die Lage ganz anders dar. Ob ihr Autor Petrus, Paulus und Jakobus persönlich gekannt hat, und eigene Erinnerungen an den Zwist um die Heidenmission und die damit verbun‐ denen Regeln hat, ist unklar. Die zeitliche und emotionale Distanz könnten neben textpragmatischen Überlegungen und dem Wissen darum, wie die frühchristliche Geschichte sich entwickelt hat, zusätzlich erklären, warum das Jerusalemer Treffen dort so beschrieben wird, wie es beschrieben ist und warum die (vermutlich gescheiterte) paulinische Kollekte ebenso ausgespart wird wie der Antiochenische Zwischenfall. Paulus widersteht Petrus in der Apostelgeschichte nicht ins Angesicht – hier überwindet Petrus seine Zweifel mittels einer Vision. Die Fragen, die für Petrus, Paulus und Jakobus noch „heiß“ sind, haben sich für den Autor der Apostelgeschichte längst abgekühlt. Hier geht es um andere Themen, die zwar auf der Folie der Gründergeneration thematisiert werden, die Entwicklung, die seither statt‐ gefunden hat, aber mit einbeziehen. Gleiches gilt für die Deuteropaulinen. Auch hier werden auf der Folie einer Paulusnarration spätere Themen behandelt. In beiden Fällen wird Paulus als Autorität aufgebaut, wenngleich die Apostelgeschichte um eine ausgewogene Darstellung bemüht ist, in der die Jerusalemer Säulen nicht allzu schlecht wegkommen.

Matthäus

Matthäus Wechseln wir den Schauplatz. Wenn wir das Matthäusevangelium mit dem Mainstream der Bibelwissenschaftler zwischen 80 und 90 n. Chr. datieren, sehen die Dinge ganz anders aus als für Paulus. Die erste und Teile der zweiten Generation der Christusnachfolger sind tot, der Tempel zerstört und die christliche Botschaft hat sich – nicht zuletzt dank der paulinischen Mission – um das Mittelmeer herum ausgebreitet, auch wenn die Christus‐ nachfolger weiterhin eine zu vernachlässigende Minderheit im Römischen Reich bleiben. Das frühe Christentum muss ein kleines Netzwerk entstehen‐ der Gemeinden gewesen sein, vergleichbar der Größe uns bekannter New Religious Movements, die sich von ihren Muttergemeinschaften lösen und beginnen, ihr eigenes, klar identifizierbares Profil zu entwickeln. Die Synoptiker, insbesondere Markus, aber ebenso Matthäus schreiben in oder kurz nach der Zeit des Generational Gap und schauen auf die Gründungsereignisse des Christentums bereits als eine weniger unmittel‐ bare Vergangenheit zurück. Sie leben in einer Zeit, in der Jesuserinnerung und Deutung der Gründungsereignisse ganz anders aufgerufen und sozial ausgehandelt werden. Es ist eine Zeit, in der neue Formen und Medien entstehen und erste Traditionen gebildet und verteidigt werden. Ein Zeitgenosse von Markus und dem ältesten Evangelium wäre die Person, die die Bibelwissenschaft Deutero-Paulus nennt. Sie ist eine wissen‐ schaftliche Fiktion. Dass die deuteropaulinischen Briefe alle von der gleichen Hand geschrieben wurden, behauptet niemand (mehr) ernsthaft. Nichtsdes‐ totrotz ist etwa der Autor des Kolosserbriefs, der gewöhnlich ungefähr zeitgleich mit dem Markusevangelium datiert wird, mit ganz ähnlichen Schwierigkeiten beschäftigt wie das Evangelium und wählt dennoch einen ganz anderen Anweg. In beiden Fällen geht es neben anderen Fragen auch ganz entscheidend um die praktische Frage des Umgangs mit der Abwesenheit der Gründer- oder Autoritätsfigur, die erinnert wird. Einfach gesagt, bearbeitet das Markus‐ evangelium auch das Problem des abwesenden Christus, der Kolosserbrief das Problem des abwesenden Paulus (und der dadurch entstehenden Lücke). In beiden Fällen tritt der Text an die Stelle des Abwesenden. Für das Markusevangelium hat das David du Toit überzeugend gezeigt.32 Im Hinblick 32

David S. Du Toit: Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewälti‐ gung der Abwesenheit des Auferstandenen (WMANT 111), Neukirchen-Vluyn 2006.

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I.4  Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel

auf den Kolosserbrief ist es mittlerweile gängig zu argumentieren, dass die zeitliche Distanz durch die räumliche Distanz ersetzt wird – es also kein Zufall ist, dass die Verfasserfiktion des Kolosserbriefs Paulus im Gefängnis verortet. Das Konzept, dass der Text an die Stelle der Person tritt, findet sich in modifizierter Form beispielsweise auch bei Euseb (ca. 260–340 n. Chr.). Als Anlass für die Abfassung des Matthäusevangeliums gibt er in seiner im vierten Jahrhundert verfassten Kirchengeschichte an, dass der Text den Adressaten das ersetzen sollte, was diese durch den Weggang des Matthäus verloren. Dort heißt es: Matthäus, der zunächst unter den Hebräern gepredigt hatte, schrieb, als er auch noch zu anderen Völkern gehen wollte, das von ihm verkündete Evangelium in seiner Muttersprache; denn er suchte denen, von welchen er schied, durch die Schrift das zu ersetzen, was sie durch sein Fortgehen verloren.33

Der Unterschied zwischen den Deuteropaulinen und den Evangelien be‐ steht auch darin, dass die Evangelien anonyme Erzählungen sind, die die Geschichte der fundierenden Ereignisse erinnern, die hinter der christlichen Botschaft stehen. Ein pseudepigrapher Brief wie der Kolosserbrief hingegen, der im Namen einer bekannten Person geschrieben ist, während er aktuelle Probleme behandelt, ruft die frühere Generation indirekt auf und macht so einen der Gründungsväter und seine Bedeutung zum Thema. Wenn man den Kolosserbrief als Erzählung liest, ist eine Menge darüber zu erfahren, wie der Verfasser Paulus und seine Wirkung versteht, wie Paulus und sein Lebenswerk erinnert und weitergeführt werden sollen und wie vor diesem Hintergrund christliche Identität entworfen werden kann (vgl. II.2). Polykarp Wechseln wir noch einmal den Schauplatz. Ohne sich in Datierungsfragen zu verlieren, kann man sagen, dass für Polykarp von Smyrna ca. (ca. 70/80–155 n. Chr.) die Zeit Jesu und der Apostel bereits der entfernten Vergangenheit angehört. Die Gründungsereignisse des Christentums sind für ihn bereits im Floating Gap oder auf dem besten Wege dorthin. 33

Eus. h.e. III 24,6, nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/kircheng eschichte-bkv-2/divisions/68 (letzter Aufruf: 25.05.2022).

Polykarp

Wenn wir unsere eigene Situation zum Vergleich nehmen, ist die Kreu‐ zigung Jesu für Polykarp etwa so weit entfernt wie für uns das Ende des Ersten Weltkriegs. Die Gründung der Gemeinde von Philippi, an die er sich in seinen Brief richtet, ist für ihn so weit entfernt wie für uns die Anfänge des Civil Rights Movement und Rosa Parks’ Weigerung von ihrem Platz aufzustehen. Wenn man sich diese zeitliche Distanz vor Augen führt, ist im Vergleich mit unserer eigenen Distanz zu den genannten Ereignissen unmittelbar eingängig, dass sich die Erinnerung an sie ebenso wie die Kommunikation über sie in der Zwischenzeit stark verändert haben (müssen). Dem Polykarpbrief ist anzumerken, dass die Vergangenheit der Gemeinde und insbesondere ihre Gründung durch Paulus, ebenso wie die Rolle, die Paulus gespielt hat, Teil der gemeinsamen Geschichte sind und auch die Beziehung zwischen Paulus und den Philippern prägen. Anders als die deuteropaulinischen Autoren kann Polykarp auf die Paulustradition als echte Paulustradition zurückgreifen – und tut das auch. So heißt es bei ihm: Denn weder ich, noch ein anderer meinesgleichen vermag der Weisheit des seligen und berühmten Paulus nahezukommen, der bei euch war, persönlich unter den damaligen Menschen, und genau und zuverlässig das Wort von der Wahrheit lehrte, der euch auch in die Ferne Briefe schrieb, durch die ihr, wenn ihr euch darin vertieft, erbaut werden könnt zu dem Glauben, der euch verliehen wurde; er ist ja unser aller Mutter, wobei die Hoffnung folgt, die Liebe zu Gott, Christus und zum Nächsten vorangeht (PolPhil 3,2–3).34

Wenn man mit unserer Perspektive eines christlich geprägten Kontexts und 2000 Jahren Abstand auf diese Zeit schaut, ist es mitunter schwer zu glauben, wie vermeintlich wenig sich auch nach vier Generationen entwickelt hat. In den Zeiten von Polykarp hatten die Christen in Kleinasien längst die Führungsposition übernommen (und der Jerusalemer Urgemeinde den Rang abgelaufen). Nichtsdestotrotz bleiben die Christen eine kleine Gruppe. Helen Rhee geht von etwa 40.000 Christusanhängern im Jahr 150 n. Chr. aus, das wären etwa 0,07% der Gesamtbevölkerung im Römischen Reich.35 Die soziale 34 35

Zitiert nach: Die Apostolischen Väter. Eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von Joseph A. Fischer (Schriften des Urchristentums I), Darmstadt 2004, 227–265. Vgl. Rhee, Helen: Loving the Poor, Saving the Rich: Wealth, Poverty, and Early Christian Formation. Grand Rapids 2012, 43. Rhee schätzt die Zahl der Christen im Römischen Reich zum Ende des ersten Jahrhunderts auf etwa 40.000, was ungefähr 0,07% der

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I.4  Generationen, Krisenzeiten und Medienwechsel

Situation dieses New Religious Movement hat sich seit ihrem Beginn deutlich weniger verändert, als wir uns das gerne vorstellen. Was ähnlich schwer nachzuvollziehen ist: Die Perspektive Polykarps auf das Gründungsereignis des Christentums ist unserer eigenen nicht unähn‐ lich. Für ihn wie für heutige Christen sind Kreuzigung und Auferstehung Ereignisse der entfernten Vergangenheit, zu der es keine lebendige Verbin‐ dung mehr gibt. Anders gesagt: Sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses.   Literaturhinweise Huebenthal, Sandra: “Frozen Moments” – Early Christianity through the Lens of Social Memory Theory, in: Butticaz, Simon; Norelli, Enrico (Hg.): Memory and Memories in Early Christianity (WUNT I 398), Tübingen 2018, 17–43.

Gesamtbevölkerung wären. Für das Jahr 225 nimmt sie 760.000 an, was 1,27% der Gesamtbevölkerung entspräche. Für das Jahr 300 geht sie von 6.300.000 aus, etwa 10,5%.

I.5 Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte Die Beschäftigung mit Generationen, Gaps und Medienwechseln zeigt, dass kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie ein hilfreiches Werkzeug zur Analyse und dem Verständnis unterschiedlicher Diskurse ist. Gene‐ rational Gap und Floating Gap sind dabei zentrale Landmarken. Auch wenn sie wenig mehr sind als grobe Einteilungen von Generationen, helfen sie zu verstehen, welche Fragen eine bestimmte Generation gewöhnlich beschäftigt. Dadurch werden konkrete Phänomene zwar nicht direkt prognostizierbar, doch bestimmte Entwicklungen überraschen nicht mehr so sehr. Anders formuliert: Was in einer Erinnerungsgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert, wird erklärbar. Dieses Kapitel nimmt den Faden der frühchristlichen Texte als Identitätstexte wieder auf und betrachtet orthonyme, aber pseudepigraphe und anonyme Texte als Generationenphänomene.

Generation als heuristische Kategorie in der Bibelwissenschaft Im vorhergehenden Kapitel wurde deutlich, dass für bibelwissenschaftliches Arbeiten sowohl die unterschiedlichen Formen kollektiver Erinnerung als auch die beiden Krisenphänomene Generational Gap und Floating Gap relevant sind. Sie scheinen geradezu ein Schlüssel zur Entstehung und zum Verständnis der neutestamentlichen Literatur zu sein. Der Generational Gap ist insofern bedeutsam als die neutestamentlichen Texte und ihre zeitliche Distanz zu den Ereignissen, die sie reflektieren, nicht in die „graue Vorzeit“, also die Zeit des kulturellen Gedächtnisses, gehören, sondern in die jüngste Vergangenheit, also die Zeit des kollektiven Gedächtnisses. Wir können daraus schließen, dass es nicht der Floating Gap rund 80–120 Jahre nach einem bedeutsamen Ereignis und an der Grenze des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses ist, der die relevanten Prozesse von Medienwechsel und Textproduktion stimuliert, mit denen sich die

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

neutestamentliche Wissenschaft beschäftigt, sondern der Generational Gap 30–50 Jahre nach diesen Ereignissen. Wenn man die Erkenntnisse kultur‐ wissenschaftlicher Gedächtnistheorie als Folie über die Ergebnisse der Ein‐ leitungswissenschaft zur Entstehung der neutestamentlichen Schriften legt, lassen sich Phänomene wie die Verschriftlichung von Gründungserzählun‐ gen, oder Pseudepigraphie als Gesprächsbeitrag im Aushandlungsprozess frühchristlicher Erinnerungskultur und Identitätsbildung lesen. Auch hier sind unterschiedliche Generationen das Schlüsselkonzept. Nicht nur Stephanus argumentiert in seiner Predigt mit Generationen. Generationen oder Epochen werden auch sonst gerne herangezogen, wenn es darum geht, die eigene Geschichte zu verstehen. Krisenzeiten und Ver‐ änderungsszenarien gelten nicht nur in der Bibelwissenschaft als Motoren für Textproduktion und Medienwechsel. Keine Heimat wird so viel beschrieben, bedichtet und besungen wie die verlorene Heimat. Es ist daher kein Zufall, dass der Exodus und die Wüstenwanderung als Gründungsmythen des Volkes Israel ebenso wie die wichtigsten Identitätsmarker Sabbat, Beschneidung und Speisegebote im Babylonischen Exil (587–539 v. Chr.) besondere Bedeutung erlangen. Auch hier haben wir es – ebenso wie bei der Wüstenwanderung – wieder mit einer Generation zu tun. Ein Feld, in dem sich die Erklärungsmuster „Generation“ und „Epoche“ häufig finden, ist in der neutestamentlichen Wissenschaft die Pseudepi‐ graphieforschung. Pseudepigraphen sind Schriften, die nicht unter dem Namen des echten Verfassers publiziert werden, sondern unter einem Pseudonym. Das kommt häufiger vor als man denkt. Das Neue Testament ist eine Sammlung von 27 Schriften unterschiedli‐ cher Länge, die nach auf den ersten Blick nicht ganz transparenten Kriterien geordnet sind: Das Neue Testament beginnt mit den vier Evangelien, gefolgt von der Apostelgeschichte, die vom gleichen Verfasser stammt wie das Lukasevangelium – zumindest stellt sie sich so vor. Schon hier zeichnet sich ab, dass nicht immer zusammensteht, was zusammengehört oder zusammen entstanden ist. Auf die Evangelien und die Apostelgeschichte folgt das Corpus Paulinum oder die Paulusbriefe. Gewöhnlich werden 13 Paulusbriefe gezählt und der Hebräerbrief bildet den Abschluss. Die Briefe sind weder nach Abfassungs‐ datum noch nach Bedeutung oder Name der Adressaten geordnet, sondern nach Länge. Den Anfang macht der Römerbrief mit über 16 Kapiteln, den Schluss der Philemonbrief. Es wird ferner unterschieden zwischen

Generation als heuristische Kategorie in der Bibelwissenschaft

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Briefen an Gemeinden und Briefen an Einzelpersonen. Auf das Corpus Paulinum folgen die Katholischen Briefe, die traditionell Aposteln oder anderen wichtigen Personen der frühen Kirche zugeordnet werden: Dem Herrenbruder Jakobus, dem Apostel Petrus, dem Lieblingsjünger Johannes und dem Herrenbruder Judas. Den Abschluss der Sammlung bildet die Offenbarung des Johannes. Evangelien und Apostelgeschichte Evangelium nach  Matthäus

Evangelium nach  Markus

Evangelium nach  Lukas

Evangelium nach  Johannes

Apostelgeschichte Corpus Paulinum Brief an die Römer

1. Brief an die  Korinther

2. Brief an die  Korinther

Brief an die Galater

Brief an die Epheser

Brief an die Philipper

Brief an die Kolosser 

1. Brief an die  Thessalonicher

Brief an Titus

Brief an Philemon

2. Brief an die  Thessalonicher 1. Brief an Timotheus 2. Brief an Timotheus Brief an die Hebräer Katholische Briefe Jakobusbrief

1. Petrusbrief

2. Petrusbrief

1. Johannesbrief

2. Johannesbrief

3. Johannesbrief

Offenbarung Offenbarung des  Johannes Abb. I.15: Die Bücher des Neuen Testaments

Bei allen Texten stellt sich die Fragen, ob sie unter eigenem Namen (ortho‐ nym), unter falschem Namen (pseudonym) oder ohne Namen (anonym) überliefert sind. Dabei erlebt man in Bezug auf neutestamentliche Texte bei genauerem Hinsehen eine Überraschung nach der anderen: Zum einen sind einige Texte zunächst anonym überliefert und erst später bestimmten Autoren zugeschrieben worden. Das betrifft neben den Johannesbriefen mit den Evangelien und der Apostelgeschichte alle narrativen Texte des Neuen Testaments (hellgrüne Felder). Der Hebräerbrief ist insgesamt ein Sonderfall, da ihm nie ein Autor zugeschrieben wurde. Orthonym – also unter dem

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

richtigen Namen – sind die Offenbarung und die Paulusbriefe überliefert (dunkelgraue Felder). Doch auch hier ist Vorsicht geboten, denn von den 13 vermeintlichen Paulusbriefen sind nur 7 sicher von Paulus. Die übrigen Briefe, die seinen Namen tragen gelten als Deuteropaulinen (Kol, Eph, 2 Thess) und Pastoralbriefe (1 Tim, 2 Tim, Tit). Ebenfalls pseudepigraph, sprich: unter anderem Namen als dem des wirklichen Verfassers, sind die Katholische Briefe. Bei ihnen ist keiner aus der Feder der Person, für die sich der Autor ausgibt (hellrote Felder). Anders formuliert: Wir haben es überall mit Autorenfiktionen zu tun. Warum das Phänomen der Pseudepigraphie auftaucht, hat die Bibel‐ wissenschaft seit der Aufklärung umgetrieben und wird gerne mit den Bedürfnissen der Gemeinden zu bestimmten Zeiten erklärt. Es gilt – knapp gesagt – als Generationenfrage. Ein Beispiel für die Mehrheitsmeinung zur Entstehung und Pragmatik der neutestamentlichen Pseudepigraphie findet sich in Udo Schnelles Standardwerk Einleitung in das Neue Testament, wenn er neutestamentliche Texte mit nicht-neutestamentlichen Texten wie dem 1. Klemensbrief und den Ignatiusbriefen vergleicht. Die Argumentation findet sich in ähnlicher Form in vielen Einleitungswerken: Die ntl. Pseudepigraphie ist zeitlich deutlich eingrenzbar, die meisten pseudepi‐ graphischen Schriften entstanden zwischen 60/70 und 100 n. Chr., wobei die Protopaulinen und der 1Klemensbrief (ca. 96 n. Chr.) sowie die Ignatiusbriefe (ca. 110 n. Chr.) die jeweilige Grenze bilden. Der genannte Zeitraum stellt innerhalb der Geschichte des Urchristentums eine Epoche des Umbruchs und der Neuorientierung dar. Die Generation der ersten Zeugen war gestorben, eine gesamtkirchliche Organisation existierte noch nicht, innergemeindliche Ämter bildeten sich erst heraus, die Problematik der Parusieverzögerung trat voll in das Bewusstsein, es gab erste umfassende Verfolgungen und schließlich bestimmten sowohl die schmerzliche Loslösung vom Judentum als auch die intensive Auseinandersetzung mit Irrlehrern in den eigenen Reihen jene Zeit. […] Weil es keine Persönlichkeiten mehr gab, die eine gesamtkirchliche Autorität besaßen, griffen die Verfasser pseudepigraphischer Schreiben auf die Autoritäten der Vergangenheit zurück, um ihren jeweiligen Zielen in der sich wandelnden kirchengeschichtlichen Situation einen adäquaten Ausdruck zu verleihen. Pseu‐ depigraphie war ebenso wie Anonymität ein literarisches Mittel, um in den Problemen und Konflikten des letzten Drittels des 1. Jhs. n. Chr. Einfluss zu gewinnen und sachgemäße Lösungen zu finden. […]

Generation als heuristische Kategorie in der Bibelwissenschaft

Die ntl. Pseudepigraphie war somit in eine ganz bestimmte zeitgeschichtliche Situation eingebunden und muss als gelungener Versuch der Bewältigung der zentralen Probleme der dritten urchristlichen Generation gesehen werden. Das Ziel der ntl. Pseudepigraphie bestand nicht nur darin, die Kontinuität der aposto‐ lischen Tradition in der Zeit nach dem Tod der Apostel sicherzustellen. Vielmehr sollte vor allem die Autorität der Apostel in der Gegenwart neu zur Sprache gebracht werden. Indem die Verfasser sich auf die Ursprünge der Tradition beriefen, begründeten sie den Verbindlichkeitsanspruch ihrer Neuinterpretation angesichts der in der Gegenwart neu aufgebrochenen Probleme.36

Die Argumentation ist genretypisch: Die Tendenz zur Periodisierung findet sich in vielen Standardwerken der Einleitungswissenschaft. Pseudepigra‐ phie wird gewöhnlich in die dritte urchristliche Generation datiert und als verständliches und notwendiges „historisches und theologisches Phäno‐ men“ (so die Kapitelüberschrift bei Schnelle) bezeichnet: die neutestamentliche Pseudepigraphie muss als der theologisch legitime und ekklesiologisch notwendige Versuch angesehen werden, die apostolische Tradi‐ tion in einer sich verändernden Situation zu bewahren und zugleich notwendige Antworten auf neue Situationen und Fragen zu geben.37

In vielen Modellen zur Entstehung der neutestamentlichen Schriften folgt auf eine Phase orthonymer Textproduktion (Paulusbriefe) eine Phase pseu‐ depigrapher und anonymer Textproduktion (Briefe und narrative Texte), bei der die anonymen Evangelien auf die erste und die Pseudepigraphie auf die zweite christliche Generation zurückgreifen. Erst in der vierten Generation, so die Argumentation, nachdem bereits eine Tradition geschaffen wurde, auf die rekurriert werden kann, trauten sich gewissermaßen die Urenkel wieder unter eigenem Namen zu schreiben. Bei den unterschiedlichen Versuchen, die Zeit der Pseudepigraphie als eine Generation oder Epoche zu beschreiben, ist der Trend zu beobachten, dass die relevante dritte Generation zumeist klar und deutlich von der ihr folgenden vierten Generation abgesetzt wird. Einigermaßen verblüffend ist, dass Udo Schnelle und viele andere Neutestamentler eine Zeitspanne von 40 Jahren ansetzen und mit dem Begriff der Generation argumentieren. Bei Jürgen Roloff, der mit anderen Zahlen arbeitet, heißt es:

36 37

Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 92017, 358–359. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 360.

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

Es handelt sich bei dieser Pseudepigraphie um ein spezifisches Phänomen der dritten christlichen Generation, das im Zusammenhang mit der Autoritätskrise der Zeit zwischen 80 und 120 zu sehen ist.38

Es gibt einen Konsens, die Kirchenschriftsteller zeitlich später zu verorten und zudem deutlich von der Zeit der Pseudepigraphie absetzen. Wir haben es also auch mit der Tendenz zu tun, die Pseudepigraphie möglichst als Phänomen des ausgehenden ersten Jahrhunderts zu beschreiben versuchen („letztes Drittel“, „60–100“) und die Jahrhundertgrenze als Epochengrenze wahren. Die Tendenz, die Jahrhundertwende als Epochengrenze zu definie‐ ren, findet sich nicht nur in Bezug auf die Pseudepigraphie. Der englische Neutestamentler Francis Watson hat das gleiche Phänomen auch für die Verschriftlichung der Evangelien festgehalten: Auch sie sollen unter allen Umständen in der dritten Generation verortet werden.39 In beiden Fällen ist die Tendenz oder der unabsichtliche Versuch zu konstatieren, dass getrennt werden soll, was sich im Grunde nicht trennen lässt, nämlich die Ungleichzeitigkeit sozialer Prozesse, die uns bereits bei den Krisenzeiten Generational Gap und Floating Gap begegnet ist. Im Falle der Pseudepigraphie heißt das, dass es durchaus möglich ist, dass an einem Ort weiterhin pseudepigraphe Texte verfasst werden, während andernorts diese Phase bereits abgeschlossen ist. Ähnlich wie bei der Frage des Parting of the Ways gibt es hier kein festes Datum, sondern wir haben es mit einem Prozess zu tun. Wenn man unterschiedliche Einleitungswerke genauer betrachtet, wird das anhand der Datierung der einzelnen Schriften deutlich. So kommt es durchaus vor, dass der Zweite Petrusbrief auf 110–130 n. Chr. datiert wird, während im gleichen Werk festgehalten wird, dass die Zeit der Pseudepigraphie mit dem Ende des ersten Jahrhunderts vorüber ist und Kirchenschriftsteller wieder unter eigenen Namen schreiben. Nicht selten wird der Zweite Petrusbrief zeitgleich zu oder sogar nach den Ignatiusbriefen und dem Polykarpbrief datiert. Eine zweite Auffälligkeit beim Argument für eine klar abgegrenzte Epo‐ che der Pseudepigraphie betrachtet besteht darin, dass zumeist ausschließ‐ lich emisch, d.h. aus der Perspektive eines Gruppenmitglieds argumentiert wird, statt etisch, d.h. aus der Perspektive eines Außenseiters, wie man es für eine wissenschaftliche Herangehensweise erwarten würde. Damit wird

38 39

Jürgen Roloff: Einführung in das Neue Testament, Ditzingen 1995, 194. Francis Watson: Gospel writing. A canonical perspective, Grand Rapids 2013, 5.

Generation als heuristische Kategorie in der Bibelwissenschaft

die neutestamentliche Pseudepigraphie zum frühchristlichen Spezifikum. Dabei kommt allerdings nicht in den Blick, dass a) Pseudepigraphie als Strategie und b) die Probleme der dritten Generation auf die pseudepigraphe Texte antworten, auch jenseits der Entwicklung des frühen Christentums relevant sein könnten. Anders formuliert: Es handelt sich dabei nicht um eine christliche Spezialität, sondern um ein typisches Phänomen, das kulturübergreifend auftaucht. Eine etische Perspektive auf das Phänomen der Pseudepigraphie als Beispiel für typische Entwicklungsprozesse eines New Religious Movements wird in der Biblischen Einleitungswissenschaft jedoch fast nie eingenommen. Ein kulturwissenschaftlicher Blick auf das Phänomen wird immer auch den Vergleich suchen, ohne damit gleich das spezifisch Christliche der neutestamentlichen Pseudepigraphie zu leugnen. Anders gesagt: Der emischen Perspektive auf die Einzigartigkeit der neu‐ testamentlichen Pseudepigraphie wird nichts genommen, wenn sie um eine etische Perspektive erweitert wird. Ein Versuch, die frühchristlichen Perioden mit den Erkenntnissen der kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Forschung zu verknüpfen findet sich Martin Ebners Beitrag „Von den Anfängen bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts“ in der Ökumenischen Kirchengeschichte: Trotz dieser Leerstellen und Grauzonen ist folgende Kategorisierung möglich, die zugleich zu einer Periodisierung der Geschichte des Urchristentums führt: Die Schriften der ersten Phase lassen sich als Gebrauchsliteratur charakterisieren, exemplarisch repräsentiert durch die (authentischen) Paulusbriefe. Sie behandeln konkrete Gemeindeprobleme und ersetzen die mündliche Kommunikation. Die Schriften der zweiten Phase lassen sich als Memoria-Literatur begreifen […]. Die Zäsur der Memoria-Literatur fällt ungefähr mit dem Tod der großen Apostel zusammen (Jakobus: 62 n. Chr.; Paulus und Petrus vermutlich während der großen neronischen Verfolgung: 64 n. Chr.). Kulturanthropologisch gesehen trifft die Verschriftlichung des Erbes ziemlich genau mit dem Zeitraum vom 40 Jahren zusammen, in dem die Zeitzeugen aussterben und die Erinnerung deshalb vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis überführt werden muss. Historisch gesehen war das Jahr 70 n. Chr. für das Urchristentum entscheidend: Mit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem fiel einerseits das Identitätssymbol des Judentums in Schutt und Asche, andererseits wurde die Unheilsprophetie Jesu gegen den Tempel, die ihm den Tod eingebracht hat, in für das jüdische Volk erniedrigender Form eingelöst. Für alle, die sich auf den Juden Jesus beriefen,

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

stellte sich damit die Frage nach ihrer Einstellung zu ihren jüdischen Wurzeln und der theologischen Verarbeitung dieser Katastrophe. Während diese erste Zäsur deutlich hervortritt, ist die zweite Zäsur die dann das Ende der urchristlichen Zeit anzeigt, schwierig zu fassen. Inhaltlich lässt sie sich am besten daran festmachen, dass christliche Schriftsteller – jetzt wieder eindeutig identifizierbar – bewusst nach außen treten, für ihre religiöse Einstel‐ lung um Verständnis werben bzw. sie verteidigen, auf jeden Fall aber den Dialog mit der paganen Bevölkerung suchen, wie es in den Schriften der Apologeten, beginnend mit Justin, ab etwa 150 n. Chr. der Fall ist.40

Wenn man die Beobachtungen Ebners mit der referierten Tendenz kombi‐ niert, stellt sich die urchristliche Zeit etwa folgendermaßen dar: Zeit

Texte/Genres

30-70

Authentische Briefe (Paulus)

70-150

Evangelien (Anonyme Literatur) Deuteropaulinen, Pastoralbriefe und Katholische Briefe (Pseudepigraphie)

Ab 150

Authentische Briefe (Apostolische Väter): 1 Clem (96-100), Ignatius (110-114), PolPhil (120?)

Pragmatik

Gründungsereignis: Leben, Wirken; Tod und Auferstehung Jesu Gebrauchsliteratur: behandelt konkrete (Gemeinde-) Probleme und ersetzt die mündliche Kommunikation

Tod der Augenzeugen, Tempelzerstörung Memoria-Literatur: Erinnert an das Erbe Jesu, schreibt Traditionen fort

Undeutliche Zäsur Gebrauchsliteratur: behandelt konkrete (Gemeinde-) Probleme und ersetzt die mündliche Kommunikation

Gemeindeordnungen/Kirchenordnungen Identitätssicherung nach innen, im Rückgriff auf die Gründerzeit (Apostel) Apologien

Dialog nach außen

Abb. I.16: Perioden frühchristlicher Literatur (Martin Ebner)

40

Martin Ebner: Von den Anfängen bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts, in: Thomas Kaufmann / Raymund Kottje / Bernd Moeller / Hubert Wolf (Hg.): Von den Anfängen bis zum Mittelalter (Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 1), Darmstadt 2006, 15–57, 16.

Generation als heuristische Kategorie in der Bibelwissenschaft

Interessant sind hier insbesondere die beiden Zäsuren. Martin Ebner setzt die erste Zäsur nach 40 Jahren – mit Stephanus und Jan Assmann könnte man sagen: nach einer Generation – an, die zweite eher unscharf aber dennoch deutlich um 150 – was rein rechnerisch 120 Jahre nach dem Grün‐ dungsereignis wäre. Die erste Zäsur wird in diesem Ansatz als kongruent mit dem Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis gesehen. Mit den Erkenntnissen aus den vorangegangenen Kapiteln lässt sich diese Übersicht kulturwissenschaftlich erweitern und modifizieren. Wie hilfreich eine solche Modifikation ist, zeigt sich, wenn man die beiden Krisenzeiten Ge‐ nerational Gap und Floating Gap in ein solches Generationenmodell miteinbe‐ zieht. Dabei ist – wie im letzten Kapitel schon ausgeführt – die Einschränkung zu machen, dass es nicht den einen Generational Gap oder Floating Gap gibt, der sich jeweils für alle zur gleichen Zeit auftut. Die Stärke des kulturwissen‐ schaftlichen Zugangs liegt darin, dass er Ungleichzeitigkeiten besser erklären kann als ein starres Modell. Der Zweite Petrusbrief, der nach dem klassischen Modell nach dem offiziellen Ende der Pseudepigraphie entstanden wäre, kann hier als Dokument aus der Zeit des Floating Gap verstanden werden, die manche Orte bereits erreicht hatte und andere noch nicht. Wenn man das skizzierte Modell auf der Grundlage der Beobachtungen von Martin Ebner und anderen Erkenntnissen aus der Einleitungswissen‐ schaft um die kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse erweitert, hermeneu‐ tische Ungenauigkeiten auflöst und als Schablone über die Zeit der frühen Jesusnachfolger legt, ergibt sich ein überraschend kongruentes Bild: Modell Ebner

Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie

Zäsur I nach 40 Jahren (um 70)

Generational Gap Nach ca. 40 Jahren

kommunikatives => kulturelles Gedächtnis

Veränderung innerhalb des kollektiven Gedächtnisses (z.B. Medienwechsel) Floating Gap Nach 80-120 Jahren

Zäsur II (nach 120 Jahren) um 150 ???

kollektives => kulturelles Gedächtnis (Kanonisierungstendenzen)

Abb. I.17: Periodisierung frühchristlicher Literatur im Vergleich

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

Die erste Zäsur, die auch vom Mainstream der neutestamentlichen Exegese gesehen wird, ist die Veränderung nach etwa einer Generation oder 40 Jahren, also das, was wir als Generational Gap kennen. Die zweite Zäsur nach 80–120 Jahren, die in der Einleitungswissenschaft viel schwerer zu fassen ist, entspräche dem uns bekannten Floating Gap. Erst hier lässt sich vom Übergang vom kommunikativen bzw. kollektiven ins kulturelle Gedächtnis sprechen. Bei allen Phänomenen davor handelt es sich um Prozesse innerhalb des sozialen oder kollektiven Gedächtnisses. Die kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretische Folie über die Frage der Entstehung neutestamentlicher Texte zu legen, ist auch deshalb attrak‐ tiv, weil sie einerseits bestimmte Phänomene wie Medienwechsel hin zu narrativen Großgattungen erklären kann und gleichzeitig hilft, Erklärungen anderer Modelle tiefer zu erfassen. Ihre Stärke ist, dass sie nicht mit einer eigenen Theorie zur Datierung aufwartet, sondern vielmehr hilft, unter‐ schiedliche Datierungsvorschläge besser zu verstehen und einzuordnen. Das Potential, Erkenntnisse unterschiedlicher neutestamentlicher wie patristi‐ scher Herangehensweisen zu verbinden, macht diesen Zugang gerade im interdisziplinären Diskurs zu einem sehr hilfreichen Werkzeug. Der jüdisch-römische Krieg und die Tempelzerstörung gelten ebenso wie das Verschwinden der Augenzeugen als gängige Erklärungen für die Entstehung der Evangelien (und das bereits in der Antike, wenn wir Papias von Hierapolis ernst nehmen, vgl. auch III.4). Die genannten Ereignisse verbindet, dass sie allesamt in den Generational Gap fallen. Sie können daher zusammengenommen und im größeren Rahmen der Veränderungen, Krisen und Traumata gesehen werden, die Prozesse der Verschriftlichung oder des Medienwechsels initiiert haben. Der zentrale Punkt ist, dass nicht mehr ein bestimmtes Ereignis Auslöser ist, also keine monokausalen Ursachen den Prozess steuern, sondern ganze Ursachenbündel diskutiert werden können, die in den gleichen Rahmen fallen. Anders gesagt: Die Verschriftlichung der Evangelien wurde nicht durch die Tempelzerstörung oder der jüdischrömische Krieg oder das Sterben der Zeugen der ersten Generation, stimu‐ liert, sondern diese drei (und weitere Ereignisse) sind Teil eines größeren Rahmens von Krisenphänomenen. Wenn man die Erkenntnisse aus der Einleitungswissenschaft mit kul‐ turwissenschaftlichen Beobachtungen zusammennimmt, lässt sich das ur‐ sprüngliche Modell deutlich erweitern und im Sinne eines Epochenmodells Frühes Christentum als transdisziplinäre Lesehilfe für neutestamentliche Texte nutzen:

Unterschiedliche Generationen und veränderte Problemlagen

Zeit

Text/Genre

Pragmatik

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Gedächtnistheoretische Terminologie

Gründungsereignis: Leben, Wirken, Tod und Auferstehung Jesu 30-70

70-150

150-300

Authentische Briefe (Paulus)

Gebrauchsliteratur: behandelt konkrete (Gemeinde) Probleme und ersetzt die mündliche Kommunikation. Die Autorität kommt aus der Apostolizität

Verortung der Ereignisse und Erfahrungen in bekannten soziokulturellen Rahmen, begrenzte Reichweite. Eher soziales als kollektives Gedächtnis

Generational Gap (30-50 Jahre) (Gängige Erklärungsmuster: Tempelzerstörung, Tod der Augenzeugen) Evangelien (anonym) Identitätsvergewisserung: Erinnerung an Entwurf/»Auffinden« von Traditionen, Gründungsereignis, Identitätsentwurf im Spiegel der Verfertigung neuer Rahmen für künftige Jesuserinnerung Identitätskonstruktionen Deuteropaulinen, Pastoral- Identitätsvergewisserung: Erinnert und die briefe, Katholische Briefe Gründungsgeneration, Identitätsentwurf im Spiegel Einzelne Texte als Momentaufnahmen in (pseudepigraph) apostolischer Erinnerung einem längeren Prozess der Herausbildung Authentische Briefe Gebrauchsliteratur: behandelt konkrete (Gemeinde) frühchristlicher Identitäten (Apostolische Väter) Probleme im Rückgriff auf existente Tradition(en) und ersetzt die mündliche Kommunikation Floating Gap (80-120 Jahre) (Wird in der Literatur üblicherweise als Zäsur verstanden, Kriterien sind meist unscharf) Authentische Briefe Gebrauchsliteratur: behandelt konkrete (Gemeinde) Die Tradition(en) sind gängig und weitgehend (Apostolische Väter) Probleme im Rückgriff auf existente Tradition(en) akzeptiert. Es lässt sich auf sie als und ersetzt die mündliche Kommunikation gemeinsame (Gründungs-)geschichte Märtyrerakten Identitätssicherung nach innen, Aufbau von zurückgreifen und von dort her gemeinsame verlässlichen Zeugen im Rückgriff auf existente Identität begründen. Tradition(en) in neuen Situationen. Neue Fragen brauchen neue Antworten Die Traditionen müssen nicht historisch, die Gemeindeordnungen/ Identitätssicherung nach innen, im Rückgriff auf Erzählungen nicht faktual sein, um zu wirken. Kirchenordnungen vermeintliche Autoritäten. Texte greifen wieder auf Im Gegenteil werden sie selten infrage die Gründerzeit (Apostel) zurück, je später, desto gestellt (z.B. »Stunde 0«, »Wunder von blumiger Bern«, vgl. III.3) Apologien Dialog nach außen: Christentum begibt sich auf den Markt der Philosophie

Abb. I.18: Epochenmodell Frühes Christentum

Unterschiedliche Generationen und veränderte Problemlagen Das Epochenmodell zeigt deutlich, dass in den verschiedenen Epochen Texte unterschiedlicher Genres produziert werden, die jeweils auch eine andere Pragmatik haben. Insbesondere in den beiden Krisenzeiten scheinen sich die Situation und die Bedürfnisse der Jesusnachfolger zu verändern und die einzelnen Gruppen sind mit neuen und anderen Problemen konfrontiert. Wie sich die Problemlagen verändern, zeigt bereits ein kursorischer Blick auf paulinische und deuteropaulinische Briefe. Wenn man sozialgeschicht‐ lich an Briefe wie den Kolosserbrief herangeht, merkt man rasch, dass sich innerhalb der Gemeinden und ihrer Sozialstruktur etwas zu verändern scheint. Im Brief an Philemon rät Paulus dem Philemon noch, Onesimus als einen Bruder aufzunehmen und mit Aufgaben in der Verkündigung zu betrauen. Im Römerbrief begegnen Frauen in leitenden Aufgaben und im Galaterbrief finden sich Aussagen, die andeuten, dass es Paulus zumindest

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

innerhalb der Gemeinden ernst war mit der Überwindung der Unterschiede und Statusgrenzen: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus (Gal 3,28). Der Kolosserbrief ist zeitlich (und womöglich auch örtlich) nicht weit von diesen Texten entfernt und setzt Kenntnis der paulinischen Theologie voraus. Dennoch klingt das, was der Kolosserbrief zur Gleichheit der Mitglieder der Gemeinde zu sagen hat, anders: (Ihr) habt den neuen Menschen angezogen, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen. Da gibt es dann nicht mehr Griechen und Juden, Beschnittene und Unbeschnittene, Barbaren, Skythen, Sklaven, Freie, sondern Christus ist alles und in allen. (Kol 3,10–11).

Es fällt sofort auf, dass in Kol 3,11 gegenüber Gal 3,28 die Gleichheit von Männern und Frauen fehlt. Darüber hinaus ist der Kreis der Gleichen um Barbaren und Skythen erweitert. Die Integration von Barbaren und Skythen in die Gruppe der Christusnachfolger stellt in Kleinasien zu dieser Zeit eine starke Irritation der Erwartungen an soziale und ethnische Identitäten dar. Barbaren und Skythen gelten als unzivilisierte Wilde und denkbar weit entfernt. Dass diese Gruppen in die Nachfolgegemeinschaft integriert werden sollen, stellt eine heftige Provokation dar, die heutige Leserinnen und Leser kaum noch wahrnehmen.41 Es ist nicht falsch zu vermuten, dass die frühen Christen mit der Öffnung auf die Heiden bereits eine Herkulesaufgabe zu bewältigen hatten, die nicht ohne Schmerzen und Verluste abging. Ob sie danach wirklich noch die Energie hatten und die äußeren Bedingungen vorfanden, um weitere soziale Grenzen und Rollenmuster wie die zwischen Mann und Frau zu überwinden, lässt sich mit Recht fragen. Ereignisse wie der jüdisch-römische Krieg oder die veränderte Lage der Christen durch die schrittweise Trennung von der Synagoge (während Claudius 49 n. Chr. noch nicht zwischen Christen und Juden unterscheiden kann, hat Nero 64 n. Chr. das Problem nicht mehr, denn er kann gezielt Christen verfolgen) haben diese inneren Entwicklungen womöglich wegen dringlicherer äußerer Probleme zurückgestellt.

41

Lukas Bormann: ‚Nicht mehr Barbar, Skythe, Sklave, Freigeborener‘ (Kol 3,11). Per‐ sonenrechtlicher Status, Geschlecht und Ethnizität in Colossae, in: Annali di storia dell’esegesi 36 (2019), 393–412.

Unterschiedliche Generationen und veränderte Problemlagen

Auch wenn wir nur Spuren dieser Veränderungen finden, hat sich ganz of‐ fensichtlich etwas von Paulus zur nächsten Generation verändert. Das zeigt sich einerseits in einer veränderten Sozialstruktur innerhalb der Gemeinden, andererseits aber auch an den Fragen, mit denen die Gemeinden nach außen zu kämpfen haben. Wenn wir uns die neutestamentliche Briefliteratur unter dieser Fragestellung anschauen, finden sich zwei unabhängig von ihrem jeweiligen Standort unterschiedliche Typen von Gemeinden, die offenbar nacheinander entstanden sind und darauf hindeuten, dass sich frühchristli‐ che Gesellschaftsformen auch an den Umständen und Gegebenheiten ihrer Umwelt orientiert haben. In der zweiten Generation sind in den Paulusbriefen Gemeinden paulini‐ schen Typs zu erkennen, die als Hausgemeinden oder Versammlung der Glaubenden am Ort als Leib Christi zu verstehen sind. Diese Gemeinden entstehen Mitte des ersten Jahrhunderts als die Christen intensiv Heiden‐ mission betreiben und sich Gemeinden in den Städten zu bilden beginnen. Vor allem die Mission des Paulus bringt das Christentum in Städte wie Korinth, Philippi und Ephesus. Dort entstehen die Gemeinden zunächst im Anschluss an die Synagoge. Erst mit der Lösung von der Synagoge sucht man nach einem eigenen Modell. Die neue Gemeindestruktur orientiert sich am antiken Vereinswesen, das vielen bekannt ist: Eine Gruppe wählt einen Gott als Patron und veranstaltet in seinem Namen regelmäßig Festmahlzei‐ ten in Privathäusern oder an anderen Orten. Die städtischen Gemeinden übernehmen diese Struktur. Die Kirche ist hier die jeweilige örtliche Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Stellung empfan‐ gen am gemeinsamen Tisch den Leib Christi und werden so hineingenom‐ men in die Gemeinschaft, die durch Teilhabe entsteht. Die Versammlung ist eine im eucharistischen Mahl begründete Lebens- und Glaubensgemein‐ schaft, Christus ist im geschwisterlichen Miteinander gegenwärtig. Der zentrale Ort, wo „Kirche“ sich ereignet, ist der Gottesdienst (Gläubige kom‐ men zu Wort und Eucharistie zusammen). Kirche ist hier ortsbezogen, wenn Paulus „Versammlung“ (ekklēsia, ἐκκλησία; in vielen Bibelübersetzungen „Kirche“) schreibt, hat er eine konkrete Gemeinde im Blick. Hinzu kommen übergemeindliche Versammlungen, wenn es mehrere „Kirchen“ an einem Ort gibt. In diesen Gemeinden bildet sich langsam eine Leitungsstruktur heraus, die von Vereinswesen bestimmt ist: die Gemeinden haben egalitäre Züge, was sich an der Stellung der Sklaven und Frauen ablesen lässt. Gleich‐ zeitig kommt den Hausbesitzern als Gastgebern eine besondere Stellung

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zu. Begriffe wie Episkopos (ἐπίσκοπος, Vorsteher) und Diakonos (διάκονος, Bevollmächtigter/Helfer) bilden sich. In der dritten Genration ist in den nachpaulinischen Briefen eine andere Gemeindestruktur zu erkennen, die sich als Gottes geordnetes Haus oder patriarchalisch geordnetes Hauswesen Gottes beschreiben lässt und sich stark von den Gemeinden paulinischen Typs unterscheidet. Erste Spuren sind schon im Kolosserbrief zu erahnen und ab dem Epheserbrief wird deutlich, dass sich diese neue Sozialform des Glaubens aus dem Modell der städtischen Hausgemeinde entwickelt hat. In der dritten und vierten urchristlichen Generation (ab 80 n. Chr., besonders deutlich um 100 n. Chr.) wird eine Neubestimmung der Jesusnachfolger gegenüber der Synagoge und dem antiken Vereinswesen nötig. Auch die unterschiedliche finanzielle Lage der Gemeindemitglieder spielt eine Rolle. Dieses „überarbeitete“ Modell ist am patriarchalen Leitbild der Institutio‐ nen antiker Gesellschaft ausgebildet. Die Ortsgemeinde wird zum „Haus Gottes“, ist nun geordnet wie eine Großfamilie mit abgestuften Rechten und Kompetenzen. Die Leitung des Hauses hat der Hausvater (pater familias) inne, er ist oberste Instanz und vertritt das Haus auch nach außen. Auch das Gemeindeverständnis ändert sich: nicht mehr das christusgeprägte Verhältnis der einzelnen Gemeindemitglieder, sondern ihr Verhältnis zum Gemeindeleiter bestimmt das Gemeindeleben. Hier entsteht auch der Suk‐ zessionsgedanke: Der Auftrag kommt von Christus über die Apostel vermit‐ telt an den Amtsträger. Die Amtsträger bauen nun weiter an der Kirche, ihre Verkündigung ist an die apostolische Norm gebunden, und auch das Verhalten der Amtsträger ist am Leitbild Christi orientiert. Es handelt sich bei diesen Veränderungen nicht einfach um theologische Entwicklungen, die sich logisch oder organisch ergaben, sondern viel stärker um den Ver‐ such, die Probleme und Anforderungen der Gegenwart institutionsbildend umzusetzen. Die Lektüre der nachpaulinischen Briefe zeigt gut, dass sich die zweite und die dritte urchristliche Generation mit unterschiedlichen theologischen Fragen ebenso wie mit Fragen der Organisation und Außenwirkung herum‐ schlagen, die in der Folge auch unterschiedliche Antworten erfordern. Das hat sehr viel mit Identitätssuche in veränderten sozialen und politischen Kontexten zu tun. Ganz knapp und holzschnittartig lässt sich sagen: In der zweiten Ge‐ neration sehen dominant judenchristliche Gemeinden eher wie Synago‐ gengemeinden aus, deren Identitätsmarker Sabbat, Beschneidung Speise‐

Texte und Textsorten der dritten Generation

vorschriften sind. Dominant heidenchristliche Gemeinden, die auf diese Identitätsmarker verzichten, wirken eher wie antike Vereine. Die Gefahr für die zweite Generation ist bei der Suche nach einer genuin christlichen Identität der Rückfall in jüdische Muster. In der dritten frühchristlichen Generation, in der es immer weniger Judenchristen gibt, besteht die Gefahr im Rückfall in heidnische Muster. Man könnte auch sagen: Für die zweite urchristliche Generation geht es um die Positionierung gegenüber der Synagoge. Einerseits ist es für sie gesellschaftlich hilfreich, „jüdisch“ auszusehen, andererseits debattiert sie heftig die Frage, wie jüdisch man sein oder werden muss, um Jesusnachfol‐ ger – wir würden heute sagen: „Christ“ – zu sein. Die dritte urchristliche Generation hat das umgekehrte Problem: Für sie ist es in den Zeiten nach der Tempelzerstörung und in einem stärker paganen Umfeld eher hilfreich, zwischen den vielen antiken Vereinen nicht aufzufallen. Je „normaler“ die Christen in einem antiken Vereinskontext wirken, je weniger sie sozial auffallen, umso besser. Hier stellt sich eher die Frage, wie heidnisch man bleiben oder werden darf, ohne aufzuhören, Christ zu sein. Das patriarchal strukturierte Haus als Organisationsform ist nur ein Aspekt dieser Fragestel‐ lung und wird dadurch gelöst, dass die Regeln im Haus christlich begründet werden. Texte und Textsorten der dritten Generation In solch unsicheren Zeiten wie sie die dritte Generation der Jesusnachfolger erlebt, suchen Gruppen gewöhnlich Anschluss an vorausliegende Traditio‐ nen oder versuchen, eigene Traditionen zu entwickeln. Beides geht oft Hand in Hand. Eckart Reinmuth und Klaus-Michael Bull nehmen an, dass die Aufnahme von Traditionen in die Texte die Autoren einerseits bewusst in die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der theologischen Väter einreiht, und sie andererseits der Legitimation der eigenen Position dient und dabei helfen kann, Interpretationen zu korrigieren.42

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Eckart Reinmuth / Klaus-Michael Bull: Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen-Vluyn 2006, 52.

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Texte der dritten Generation

Frühchristliche Gruppen suchen Anschluss an die Tradition oder entwickeln eigene Traditionen − Einreihen in die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der theologischen Vorgänger − Legitimation der eigenen Position − Korrektur von Interpretationen

Aufnahme von Traditionen − Aufnahme alttestamentlicher Bezüge − Fortschreibung eigener Traditionen (Kol => Eph) − Fortschreibung eines Autors (Paulus => Deuteropaulinen)

Abb. I.19: Charakteristika von Texten der dritten Generation

Kulturwissenschaftlich gedacht, ist es kaum zu übersehen, dass es hier nicht nur darum geht, die eigene Position in den vorgegebenen Rahmen der eigenen kulturellen Tradition (oder des eigenen kulturellen Gedächtnisses) zu verorten – was ein typischer Prozess innerhalb des sozialen Gedächtnisses wäre – sondern auch darum, eigene Positionen als neue Rahmen für Iden‐ titätskonstruktionen zu verfertigen, was ein typischer Prozess innerhalb des kollektiven Gedächtnisses ist. Dieses Phänomen wird uns noch häufiger begegnen und schon jetzt ist es sinnvoll, im Kopf zu behalten, dass hier einer der wichtigsten Anhaltspunkte für die Kontextualisierung von Traditionen und Texten in den unterschiedlichen Generationen liegt. Als Faustregel lässt sich formulieren: Texte, die jenseits des Generational Gap entstehen, haben eine deutlich stärkere Tendenz zu Verfertigung neuer Rahmen als Texte, die davor entstehen. Diese Tendenz ist deutlicher zu erkennen, je weiter sich die Texte Richtung Floating Gap bewegen. Die Aufnahme von Tradition in diesen Texten kann indes sehr unter‐ schiedlich aussehen. Das Aufrufen von alttestamentlichen Bezügen, das sich schon in den Paulusbriefen findet, ist dabei nur eine Möglichkeit. Eine andere Möglichkeit ist die Fortschreibung eigener Traditionen, wie es beispielweise die Haustafel des Epheserbriefs (Eph 5,21–6,9) mit der Haustafel des Kolosserbriefs macht (Kol 3,18–4,1). Dass Teile eines Textes fortgeschrieben werden, ist keine Seltenheit. Ein weiterer Fall aus der neu‐ testamentlichen Briefliteratur ist der Zweite Petrusbrief, der den Judasbrief fast komplett nutzt und weiterschreibt, ohne ihn als Quelle zu nennen. Auch

Texte und Textsorten der dritten Generation

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bei den Erzähltexten des Neuen Testaments kommt diese Strategie vor: Matthäus und Lukas schreiben Markus weiter. Ein anderer Fall von Weiterschreiben begegnet uns in der Pseudepigra‐ phie. Der Unterschied zu den Evangelien besteht darin, dass hier nicht ein Text weitergeschrieben wird, sondern ein Autor. Der Kolosserbrief, um bei diesem Beispiel zu bleiben, schreibt Paulus weiter. Pseudepigraphie lässt sich damit als Versuch verstehen, einerseits die Geschichte der zweiten Generation weiterzuerzählen und andererseits durch Rückpro‐ jektion in die Zeit des guten Anfangs die eigenen Probleme schon in der früheren Generation als gelöst dazustellen – frei nach dem Motto: Was würde Paulus in dieser Situation tun? Wir werden diese Strategie in der exemplarischen Lektüre des Kolosserbriefs (vgl. II.2) genauer in den Blick nehmen.

Aktuelle Fragen werden in die Zeit der Zeitzeugen zurückprojiziert und dort durch deren Autorität gelöst

Rückgriff auf das Zeugnis vom Evangelium (3. Generation) „Paulus“

„Gemeinde"

Paulus

Gemeinde

Zeitzeugen: Zeugnis vom Evangelium (2. Generation)

Schaffung einer Tradition, auf die die „Gemeinde“ zurückgreifen kann

Jesus: Verkündigung des Evangeliums (1. Generation)

Abb. I.20: Pseudepigraphie als Strategie

Pseudepigraphe Briefe sind allerdings nicht die einzige neutestamentliche Textgattung, die in der dritten urchristlichen Generation entstehen: Auch die zunächst anonym überlieferten Evangelien entstehen in dieser Zeit. Kul‐ turwissenschaftlich stellt sich die Frage, welche Strategien sie im Umgang mit den Herausforderungen ihrer Zeit bereithalten. Ein weiteres Mal hilft der Blick auf die Pseudepigraphie. Im Kolosser‐ brief wird das Problem des abwesenden Apostels Paulus dadurch gelöst, dass er die unüberwindbare zeitliche Distanz – Paulus ist bereits tot

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

– durch eine unüberwindbare örtliche Distanz – Paulus ist andernorts im Gefängnis – ersetzt. Im Hinblick auf die Evangelien wird in der alten Kirche ein ähnliches Szenario konstruiert. So heißt es bei Euseb von Caesarea in seiner Kirchengeschichte im Hinblick auf das Matthä‐ usevangelium: Matthäus, der zunächst unter den Hebräern gepredigt hatte, schrieb, als er auch noch zu anderen Völkern gehen wollte, das von ihm verkündete Evangelium in seiner Muttersprache; denn er suchte denen, von welchen er schied, durch die Schrift das zu ersetzen, was sie durch sein Fortgehen verloren.43

Auch wenn man nicht alles für bare Münze nehmen darf, was Euseb im vierten Jahrhundert über das erste Jahrhundert spekuliert, hat er den zen‐ tralen Punkt getroffen: Auch die Evangelien kompensieren Abwesenheit. Euseb zufolge ist es ebenfalls die Abwesenheit des Apostels (der in der Tradition mit dem Evangelisten verschmolzen ist), tatsächlich geht es aber um die Kompensation anderer Verlusterfahrungen. In beiden Textgattungen – anonymen Evangelien wie pseudepigraphen Briefen – geht es neben der aktuellen Situation unausgesprochen auch um etwas ganz Anderes: Die Frage, wie mit Abwesenheit umzugehen ist – mit der Abwesenheit Jesu, der Zeitzeugen, des Paulus, aber auch des Tempels. Und auf der Metaebene kommt noch hinzu: Die fehlende Sicherheit einer langen Tradition, einer angesehenen und geschützten Religion nach der Zerstörung des Zweiten Tempels. Wir begegnen hier genau dem, was die Kulturwissenschaft „Krisenphänomen“ nennt. Im Neuen Testament finden sich demnach ganz unterschiedliche Strate‐ gien für den Umgang mit Abwesenheit, die jede für sich genommen, kreativ und in kulturwissenschaftlicher Lesart höchst plausibel ist: ■

Die Pseudepigraphie arbeitet mit dem Konzept des abwesenden Apos‐ tels und die zeitliche Distanz wird durch eine andere, etwa die örtliche, überwunden. Beispiele für diese Strategie sind beispielsweise der Ko‐ losserbrief (II.2) und der Zweite Petrusbrief (vgl. II.6). ■ Im Markusevangelium wird der Schluss – die aus kanonischer Perspek‐ tive „fehlenden“ Erscheinungsgeschichten – in das Leben der Adressa‐ ten hinein erzählt. Der Leib Christi, der nicht im Grab zu finden ist,

43

Eus. h.e. III 24 nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/kirchenges chichte-bkv-2/divisions/68 (letzter Aufruf: 25.04.2022).

Die frühchristlichen Generationen im Überblick

taucht ferner im gebrochenen Brot und im Text selbst auf. Der Text tritt an die Stelle des Protagonisten (vgl. II.3). ■ Das Matthäusevangelium endet mit der Versicherung, dass Jesus alle Tage bis ans Ende der Zeit bei ihnen sein wird. Das ist ein ähnliches Konzept wie im Markusevangelium: Der Schluss wird in das Leben der Leserinnen und Leser erzählt, doch während das Markusevangelium mit seinem negativen Schluss mobilisieren will, verbreitet das Matthä‐ usevangelium mit seinem Happy End Stabilität und Sicherheit. ■ Die Apostelgeschichte schreibt die Geschichte der Jesusnachfolger einer entsprechenden Ankündigung des Auferstandenen am Ende des Lukasevangeliums (II.4) durch die Sendung des Geistes fort und schlägt damit ein neues Kapitel auf, in dem der Geist an Jesu statt die Gruppe führt (vgl. II.5). ■ Im Johannesevangelium treten der Lieblingsjünger als Zeuge und Ga‐ rant der Tradition sowie der Paraklet – der Tröster oder Geist – als Verarbeitungshilfen auf und sichern so die Kontinuität. In allen Fällen geht es um den Rückbezug auf fundierende Ereignisse. Die Strategie des guten Anfangs und die Erzählung von Gründungsge‐ schichten findet sich demnach nicht nur in den Briefen, sondern auch in den Evangelien. Lediglich der Zeitraum ist ein anderer: Während die pseudepigraphen Briefe in die zweite Generation der Jesusnachfolger zurückschauen, blicken die anonym überlieferten Evangelien in die Grün‐ dungsgeneration zurück. Die frühchristlichen Generationen im Überblick Wenn wir die Beobachtungen zusammentragen, lassen sich tatsächlich wenigstens zwei Generationen mit unterschiedlichen Fragestellungen er‐ kennen, die mit ihren Textzeugnissen in das Neue Testament Eingang gefunden haben. In diesem Punkt bestätigt der kulturwissenschaftliche Blick die Erkenntnisse der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft. Darüber hinaus lässt sich aber noch mehr sagen. In der neutestament‐ lichen Forschung gibt es bei der Datierung der meisten Büchern einen ungefähren Konsens. Das ist bei den Paulusbriefen und den Evangelien der Fall. Andere Bücher werden ungenauer datiert („letztes Drittel erstes Jahrhundert“, usw.). Deutliche Unterschiede in der Datierung gibt es vor

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

allem bei den Deuteropaulinien (wer sie für authentisch hält, datiert sie früher) und bei der Offenbarung (Domitian oder Trajan – 90er oder 110er Jahre). Wenn man eine Übersicht über die Datierungen der neutestamentlichen Schriften durch die Brille kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie liest, und sowohl die verschiedenen Generationen als auch die beiden Krisenzeiten Generational Gap und Floating Gap mit hinzunimmt, ergibt sich eine zusätzliche Verstehenshilfe für diese Texte. Man bekommt eine Vorstellung davon, welche Fragen diese Generation hauptsächlich be‐ schäftigen und welche Textsorten wann entstehen: die echten Paulusbriefe in der zweiten Generation, die anonym überlieferten Evangelien und die Pseudepigraphie eher in der dritten Generation und – wie sich zeigt – auch in der vierten. Erst danach kommen wir langsam in die frühchristliche Zeit, in der christliche Identität sich soweit gefestigt hat, und man auf eine entsprechende Tradition zurückgreifen kann, dass Lehrerpersönlichkeiten hervortreten. Nun erschließen sich die betrachteten Strategien als typische Phänomene für die Externalisierungen kollektiver Gedächtnisse und die Verengung des Traditionsstroms auf eine Perspektive oder erste vorläufig-endgültige Entwürfe von Gründungsgeschichten. Pseudepigraphie und das Verfassen narrativer Gründungstexte sind dabei zwei Seiten der gleichen Medaille. Dass diese Prozesse mit dem Floating Gap allmählich an ein Ende kommen, leuchtet ebenfalls ein. Nun sollte die Tradition – gut gefunden – stabil genug sein, um auf ihr aufzubauen. Wenn man die Erkenntnisse bündelt und visualisiert, könnte das folgen‐ dermaßen aussehen:

Die frühchristlichen Generationen im Überblick

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Neutestamentliche Textgruppen und ihre zeitliche Einordnung 2. Generation

3. Generation

4. Generation

5. Generation

EVANGELIEN Mk

Mt

Lk Apg

Lukanisches Doppelwerk

Generational Gap

Jak

Joh Johanneische Schriften

1 Petr Jud

2 Joh 3 Joh 1 Joh

2 Petr

KATHOLISCHE BRIEFE Offb

Echte Paulusbriefe 1 Thess 1 Kor Phil - Phlm - 2 Kor Gal Röm

Kol

Eph

Deuteropaulinen 2 Thess Pastoralbriefe 1 Tim Tit 2 Tim

Floating Gap

Hebr

PAULUSBRIEFE 50

60

70

80

90

100

110

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130

Abb. I.21: Neutestamentliche Textgruppen und ihre zeitliche Einordnung

Dass die anonym überlieferten Evangelien im zweiten Jahrhundert Autoren zugeschrieben werden, die in der ersten Generation der Jesusnachfolger eine Rolle gespielt haben, überrascht nun nicht mehr. Jenseits des Floating Gap wird damit Kontinuität hergestellt. Anders formuliert: Durch die Zu‐ schreibung an Autoren aus der ersten Generation wird der Floating Gap überbrückt und die späteren Generationen haben über die Texte eine direkte und personalisierte Verbindung zu den Ursprüngen (vgl. III.4).   Literaturhinweise Bormann, Lukas: ‚Nicht mehr Barbar, Skythe, Sklave, Freigeborener‘ (Kol 3,11). Personenrechtlicher Status, Geschlecht und Ethnizität in Colossae, in: Annali di storia dell’esegesi 36 (2019), 393–412. Ebner, Martin: Von den Anfängen bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts, in: Kaufmann, Thomas; Kottje, Raymund; Moeller, Bernd; Wolf, Hubert (Hg.): Von den Anfängen bis zum Mittelalter (Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 1), Darmstadt 2006, 15–57.

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I.5  Eine Generationenfrage: orthonyme, anonyme und pseudepigraphe Texte

Huebenthal, Sandra: Pseudepigraphie als Strategie in frühchristlichen Identitätsdis‐ kursen? Überlegungen am Beispiel des Kolosserbriefs, in: SNTU.A 36 (2011), 63–94. Reinmuth, Eckart; Bull, Klaus-Michael: Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen-Vluyn 2006. Schnelle, Udo: Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 92017. Watson, Francis: Gospel writing. A canonical perspective, Grand Rapids 2013.

I.6 Fast wie ein Familienalbum: Neutestamentliche Texte als Momentaufnahmen Um sich dem Neuen Testament als Sammlung kultureller Texte zu nähern, ist der Vergleich mit Familiengedächtnissen und ihren Externalisierun‐ gen in Familiengeschichten und Familienalben hilfreich. Ähnlich wie Familiengeschichten und Familienalben perspektivisch gestaltet sind, gilt das auch für die neutestamentlichen Texte. Der Blick auf typische Mechanismen und Strukturen von Familiengedächtnissen, ihre Formen und Externalisierungen in verschiedenen Medien sowie Medienwechsel schärfen den Blick für analoge Prozesse im Neuen Testament.

Familienalben und Familiengeschichte Das Neue Testament mit einem Familienalbum zu vergleichen, in dem die einzelnen neutestamentlichen Bücher ähnlich wie Momentaufnahmen betrachtet werden können, mag zunächst ungewöhnlich erscheinen. Man kann sich durchaus fragen, was neutestamentliche Texte mit Familienbil‐ dern oder Familienalben verbindet. Tatsächlich ist der Vergleich gar nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Wer an alte Familienalben denkt, hat womöglich Bilder wie diese im Sinn:

den Isaak. Abb.Abraham I.22:zeugte Familienalbum

Isaak zeugte den Jakob. Jakob zeugte den Juda und seine Brüder. Juda zeugte den Perez und den Serach aus der Tamar. Perez zeugte den Hezron. Hezron zeugte den Ram. Ram zeugte den Amminadab. Amminadab zeugte den Nachschon. Nachschon zeugte den Salmon. Salmon zeugte den Boas aus der Rahab. Boas zeugte den Obed aus der Rut. Obed zeugte den Isai. Isai zeugte den David, den König. David zeugte den Salomo aus der des Uria. Salomo zeugte den Rehabeam. Rehabeam zeugte den Abija.

Hiskia zeugte den Manasse. Manasse zeugte den Amon. Usija zeugte Amon zeugte den den Jotam. Josia. Jotam zeugte den Ahas. und seine Brüder um die Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Josia zeugte den Jojachin Ahasder zeugte den Hiskia. Gefangenschaft zeugte Jojachin den Schealtïl. Nach babylonischen Schealtiël zeugte den Serubbabel. Serubbabel zeugte den Abihud. Abihud zeugte den Eljakim. Eljakim zeugte den Asor.Asor zeugte den Zadok. Zadok zeugte den Achim. Achim zeugte den Eliud.

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I.6  Fast wie ein Familienalbum: Neutestamentliche Texte als Momentaufnahmen

Bei Familienalben gibt es freilich Unterschiede: Viele Alben sind chronolo‐ gisch geordnet und ordentlich beschriftet. Das ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, Familienerinnerungen zu gestalten. Andere Alben sind eher thematisch geordnet und zeigen dadurch noch stärker den perspektivischen Blick auf die Vergangenheit und die Familie. Wieder andere Alben sind scheinbar gar nicht geordnet: Einige Bilder kommen mehrfach vor und an‐ dere Bilder wurden erkennbar später hinzugefügt, weil an einer Stelle noch Platz im Album war, sie zu den anderen Bildern passen oder denjenigen, die diese Bilder später hinzufügen, besonders wichtig waren.

Abb. I.23: Familienalbum mit späteren Hinzufügungen

Was Familienalben interessant macht, ist, dass sie Momentaufnahmen aus der Geschichte einer Familie festhalten und diese damit grundsätzlich auch Außenstehenden – unabhängig davon, ob es sich dabei um Freunde und Bekannte oder um spätere Generationen handelt – zugänglich machen. Je näher diese außenstehenden Betrachter zeitlich und örtlich an den Aufnahmen sind, desto besser können sie sie einordnen, weil sie Personen, Orte, Kleidung oder Gegenstände erkennen und zeitlich oder örtlich kon‐ textualisieren können. Das eigene Weltwissen wird in solchen Prozessen

Familienalben und Familiengeschichte

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mit den Aufnahmen verknüpft, um ihnen Sinn abzugewinnen. Wenn sich eine Familie oder Gruppe über solche Alben beugt, werden individuelle Er‐ innerung und Gruppengedächtnis miteinander abgeglichen und verknüpft. Fast unweigerlich führt das Betrachten von Familienalben zu Gesprächen über die Familie. Wenn wir die Überlegungen von Maurice Halbwachs hinzuziehen, lässt sich sagen, dass solche Gespräche in den Bereich des sozialen Gedächtnisses fallen und helfen, Gruppenidentität herzustellen. Wenn man einen Text wie Mt 1,2–17, neben Familienbilder legt, lässt sich gut erkennen, dass das Genre „Stammbaum“ ähnlich funktioniert wie ein Familienalbum, das die Familienmitglieder gemeinsam anschauen: Abraham zeugte den Isaak. Isaak zeugte den Jakob. Jakob zeugte den Juda und seine Brüder. Juda zeugte den Perez und den Serach aus der Tamar. Perez zeugte den Hezron. Hezron zeugte den Ram. Ram zeugte den Amminadab. Amminadab zeugte den Nachschon. Nachschon zeugte den Salmon. Salmon zeugte den Boas aus der Rahab. Boas zeugte den Obed aus der Rut. Obed zeugte den Isai. Isai zeugte den David, den König. David zeugte den Salomo aus der des Uria. Salomo zeugte den Rehabeam. Rehabeam zeugte den Abija. Abija zeugte den Asa. Asa zeugte den Joschafat. Joschafat zeugte den Joram. Joram zeugte den Usija. Usija zeugte den Jotam. Jotam zeugte den Ahas. Ahas zeugte den Hiskia. Hiskia zeugte den Manasse. Manasse zeugte den Amon. Amon zeugte den Josia. Josia zeugte den Jojachin und seine Brüder um die Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Nach der babylonischen Gefangenschaft zeugte Jojachin den Schealtïl. Schealtiël zeugte den Serubbabel. Serubbabel zeugte den Abihud. Abihud zeugte den Eljakim. Eljakim zeugte den Asor. Asor zeugte den Zadok. Zadok zeugte den Achim. Achim zeugte den Eliud. Eliud zeugte den Eleasar. Eleasar zeugte den Mattan. Mattan zeugte den Jakob. Jakob zeugte den Josef, den Mann der Maria, aus der gezeugt wurde Jesus, der Christus genannt wird. Mt 1,2-17

Abb. I.24: Familienalbum und Stammbaum im Vergleich

Die Bilder oder Namen derjenigen, die abgebildet sind oder erwähnt werden, liefern beim Familienalbum wie beim Stammbaum Stichworte für Gespräche über die jeweilige Person und damit einen ersten Eindruck, wer zusammen‐ gehört und warum das so ist. Dabei werden gewöhnlich keine Daten aus dem semantischen Gedächtnis wie Geburts- Hochzeit- oder Sterbedaten ausge‐ tauscht, sondern der Ausgriff erfolgt zunächst auf das episodische Gedächtnis. Die Familienmitglieder erzählen sich Geschichten über die Personen, die

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I.6  Fast wie ein Familienalbum: Neutestamentliche Texte als Momentaufnahmen

sie erkennen oder zu erkennen glauben. Auf die Erkenntnis „Das ist ja die Hildegard“ folgt als Erklärung weniger ein Satz wie „das ist die, die 1917 in Neubaumbach geboren wurde und 1926 in unser Dorf kam“. Vielmehr wird ein Bezug zu bekannten Familienmitgliedern hergestellt („Das ist die erste Frau vom Franz“) oder eine Geschichte erzählt („Die Hildegard ist doch die, mit der unsere Großmutter immer im Sommerurlaub war und von der sie das Rezept für die Mokkacreme hatte, mit der sie dann den Helmut bezirzt hat“). Zu allen Mitgliedern einer Familie können Anekdoten dieser Art erzählt werden. Wenn eine Familie zu einer Person keine Geschichten (mehr) erzählen kann, wird diese Person gewöhnlich nicht (mehr) als Teil der Familie wahrgenommen. Die Summe oder das Netz der Geschichten und Anekdoten, die zu Personen oder Situationen erzählt werden können, konstituiert Familienidentität. Im Gespräch wird diese Familienidentität aufgerufen und ausgehandelt. Das ist bei biblischen Texten nicht viel anders. Wenn Menschen sich treffen, erzählen sie einander Geschichten. Die Jesusnachfolger der ersten Generationen erzählten sich bei ihren Treffen Jesusgeschichten, ebenso wie wir bei Familientreffen Familiengeschichten erzählen. Familiengeschichten haben zudem die Eigenheit, dass niemals nur Ge‐ schichten erzählt werden, sondern gleichzeitig immer auch etwas darüber, wie die Familie sich selbst versteht. Bei den Anekdoten aus der Familienge‐ schichte, die bei Familienzusammenkünften erzählt werden, geht es in den seltensten Fällen darum, sich daran zu erinnern, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr darum, Gemeinschaft herzustellen. So ist die Wahrheit der Geschichten, die erzählt werden, auch eine soziale Übereinkunft – man erzählt die Geschichten so, wie sie zur Familie passen.44 Maurice Halbwachs hat bereits festgestellt, dass alle Familien und Erin‐ nerungsgemeinschaften ähnlicher Größe solche Netzwerke von Anekdoten oder Erinnerungsgeschichten haben, die erzählt oder angetippt werden, wenn man sich trifft. Klassentreffen und Treffen in kleineren Vereinen (vom Karnevalsverein über den Kirchenchor bis zum Schachclub oder einer Reisegemeinschaft) kommen früher oder später auf solche Geschichten zu sprechen, die immer auch der Identitätsvergewisserung dienen: Wer 44

Vgl. die Untersuchungen von Kenneth Gergen, Erzählung, Moralische Identität und historisches Bewusstsein, in: Jürgen Straub (Hg.): Erzählung, Identität, Historisches Bewusstsein, Frankfurt am Main 1998, 170–202, und Angelika Keppler: Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergesellschaftung am Beispiel der Konversation in Familien, Frankfurt am Main 21995.

Einzelanekdoten und Erzählzusammenhänge

sind wir? Die Themen der Geschichten sind dabei vom Anlass bestimmt, der die Gruppe zusammengebracht hat. Bei Familien ist es die Familienge‐ schichte, Studienkollegen erzählen sich Geschichten aus der Studienzeit und Veteranen aus dem Krieg. Analog lässt sich folgern, dass Jesusnachfolger Geschichten von Jesus oder ihren Erfahrungen mit ihm und seiner Botschaft erzählten. Einzelanekdoten und Erzählzusammenhänge Der Schatz dieser gemeinsamen Erinnerungsgeschichten liegt in den un‐ terschiedlichen Gruppen, die auch als Erinnerungs- und Erzählgemein‐ schaften bezeichnet werden können, gewöhnlich unstrukturiert und als loses Netzwerk vor. Die Speicherung der einzelnen Geschichten im episodi‐ schen Gedächtnis der Gruppenmitglieder legt diese Form der Erinnerung nahe. Um die einzelnen Anekdoten zeitlich verorten zu können, ist häufig ein Ausgriff auf das semantische Gedächtnis nötig, in dem die Lebensdaten der Familienmitglieder gespeichert sind. Um verschiedene Anekdoten kon‐ textualisieren und womöglich miteinander verbinden zu können, braucht es neben der Anekdote selbst weitere Daten. Versuchen wir uns das anhand eines Beispiels zu verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, in der Verwandtschaft Ihres besten Freundes werden bei den Familienfesten immer wieder die Geschichten erzählt: a. wie Onkel Egon den Mercedes in den See gefahren hat, b. dass Nichte Hetty Mutters Mehlvorräte in den Steinway geschüttet hat und c. wie Tante Irmgard während der Kur eine nicht ganz geklärte Beziehung zu einem russischen Starpianisten hatte. Vermutlich machen diese Anekdoten Sie neugierig und Sie fragen sich, wann das jeweils war und ob die Geschichten ursächlich zusammenhängen. Für die Frage, wann das war, werden die Familienmitglieder in aller Regel eine externe Chronologie heranziehen, etwa wenn sie überlegen, ob das vor oder nach dem Krieg, der Währungsunion, dem Fall der Mauer oder einem anderen prägenden Ereignis war. Ein solches prägendes Ereignis kann natürlich auch aus der Familiengeschichte selbst stammen: Neben Hochzeiten, Todesfällen und Geburten kann es sich auch um die Schulzeit der Kinder, einen bestimmten Urlaub, den Umzug an einen anderen Ort oder

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I.6  Fast wie ein Familienalbum: Neutestamentliche Texte als Momentaufnahmen

ein geliebtes Haustier handeln. In diesen Fällen wird dann meist überlegt, ob die Anekdote vor oder nach dem prägenden Ereignis zu verorten ist. Dabei gilt, dass nicht alle dieser prägenden Ereignisse im semantischen Gedächtnis abgelegt sind. Gerade wenn es sich um emotional aufgeladene Ereignisse handelt, liegt es sogar nahe, dass zur Kontextualisierung zunächst das episodische Gedächtnis herangezogen wird und erst im übernächsten Schritt der Abgleich mit historischen Daten erfolgt. Anders formuliert: Die Antwort auf die Frage „Wann war das?“ besteht selten in einer Jahreszahl, sondern häufig in einem längeren Exkurs wie beispielweise „Lass’ mich mal kurz überlegen. Wir hatten den Hund noch, die Franzi war aber schon in der Schule und Gerda und Günther hatten noch nicht geheiratet. Das muss so um 1968 herum gewesen sein“. Meist ist bei einer solchen Antwort mehr über die Familiengeschichte als über die Anekdote selbst zu erfahren, vor allem, wenn ein anderes Familienmitglied das ganz anders sieht, im Sinne von „Das kann nicht sein. Das war, bevor wir das neue Haus gebaut haben und das war doch erst als der Toni mit der Lehre fertig war und der Hans von der Bundeswehr zurückkehrte. Warte mal, wir sind im Dezember 1965 eingezogen, lass’ das mal 1963 gewesen sein“. In solchen Momenten lässt sich das Aushandeln von Familienerinnerungen direkt beobachten und die gleiche Begebenheit kann sehr unterschiedlich platziert und datiert werden. Erst wenn man sich über die Datierung einig geworden ist – und diese Übereinkunft muss nichts mit dem realen Datum zu tun haben – kann weitererzählt werden. Wenn es sehr kontrovers wird, verständigt sich die Familie womöglich einfach darauf, dass das alles irgendwann in den 60er Jahren war. Die Frage danach, ob und wie die drei Ereignisse zusammenhängen, kön‐ nen die Familienmitglieder meist leichter beantworten (insbesondere, wenn Onkel Egon, Tante Irmgard und Nichte Hetty gar nicht zusammengehören). Weiter entfernte Verwandte oder Gäste, die nicht so genau informiert sind, stellen fest, dass ganz automatisch Fragen zum Zusammenhang aufkommen, wenn diese Geschichten erzählt werden. Das passiert auch, wenn die ein‐ zelnen Anekdoten nicht mit Operatoren wie „bevor“, „nachdem“, „während“, „deshalb“ oder „unabhängig davon“ verbunden sind. Je nachdem, in welchen zeitlichen Zusammenhang unsere drei Beispiela‐ nekdoten gebracht werden, ergeben sich völlig unterschiedliche Einsichten in die Familiengeschichte. Wenn c) vor b) und a) erzählt wird, könnte Tante Ingrids ungeklärter Flirt in der Kur zum Auslöser der anderen beiden Ereignisse werden und man fragt sich, ob Nichte Hetty und Onkel Egon

Einzelanekdoten und Erzählzusammenhänge

vielleicht einfach darauf reagiert haben (und der Mercedes vielleicht gar nicht Onkel Egon, sondern dem russischen Starpianisten gehört hat). Wenn umgekehrt a) vor b) und c) erzählt wird, ist man vielleicht geneigt, eine gewisse Sympathie für Tante Irmgard zu empfinden, deren Mann aus ungeklärter Ursache einen Mercedes im See versenkt. Ist er psychisch krank oder war es eine Kurzschlusshandlung? Hat Tante Irmgard womöglich nach der Geschichte mit dem Mercedes und dem Mehl einen Nervenzusammen‐ bruch und muss deshalb zur Kur? Dann erscheint der Kontakt mit dem russischen Starpianisten plötzlich im anderen Licht und man fragt sich eher, was mit Onkel Egon los ist. Bleibt die Nichte Hetty: Steht das Mehl im Flügel am Anfang, in der Mitte oder am Ende? Und wie alt ist sie eigentlich bei dieser Episode – vier oder vierzehn? Ist das die hilflos-trotzige Reaktion eines Kleinkindes auf die Abwesenheit der Mutter oder die irrational-überzogene Reaktion eines Teenagers, der auf sich aufmerksam machen will? Sei es, weil sie nicht mehr Klavierspielen möchte, Angst um die Ehe der Eltern hat oder beleidigt ist, weil der russische Starpianist, für den sie schon lange schwärmt, sich nicht für sie, sondern für ihre Mutter interessiert. Wie auch immer – in den meisten Familien liegen einzelne Anekdoten unverbunden vor, was dann auffällt, wenn man fragt, ob Onkel Egon den Mercedes im Teich versenkt hat, bevor oder nachdem Hetty das Mehl in den Steinway geschüttet hat und ob das vor, während oder nach der Kur von Tante Irmgard und dem Flirt mit dem russischen Starpianisten war. Wenn die Geschichten nicht zusammenhängend erzählt werden, zeigt sich, dass die Familienmitglieder das häufig nicht wissen und ihnen oft auch gar nicht klar ist, dass sich völlig unterschiedliche Gesamtgeschichten ergeben, wenn die einzelnen Episoden unterschiedlich geordnet werden. Für den Eindruck „wir haben schon eine ziemlich irre Verwandtschaft“ reicht das lose Netz an Geschichten allemal. In den Evangelien werden die einzelnen Anekdoten oder Episoden aus dem Leben Jesu in einem festen erzählerischen Rahmen dargeboten. Dass die Anordnung dieser Episoden auch eine Botschaft über die Einzelepisode hinaus transportiert, wird erkennbar, wenn man größere Abschnitte eines Evangeliums re-episodisiert und neu anordnet. Dafür bieten sich Mk 1,14– 3,6 und Mk 6–8 besonders gut an. Je nachdem, wie man die einzelnen Episoden (der Einfachheit halber kann man sich an den Perikopen der eigenen Bibelausgabe orientieren, sollte aber die Überschriften weglassen)

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anordnet, entstehen unterschiedliche Meta-Geschichten, die mitunter wenig mit der Aussage des kanonischen Markusevangeliums zu tun haben. Wenn man den Erkenntnissen von Maurice Halbwachs folgt, hat jede Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft einen bestimmten Grundbestand von Anekdoten, die immer wieder erzählt werden, und die zumeist durch einen oder mehrere charakteristische Punkte miteinander verbunden sind, die bei näherem Hinsehen für das Selbstverständnis der Gruppe zentral sind. Auch deswegen werden sie immer wieder erzählt: Anhand dieser Geschichten vergewissert sich die Gruppe – gerade, wenn sie sich nicht ständig trifft – ihrer eigenen Identität. Grundsätzlich trifft dieser Mechanismus für alle Gruppen zu, die eine überschaubare Größe haben. Genaue Daten gibt es hier nicht, grundsätzlich sind Gruppengrößen von einem Paar bis zu einer Groß‐ familie mit 40–50 Mitgliedern denkbar, wobei sich bei größeren Gruppen wiederum Untergruppen bilden werden. Es kann hier schon vorweggenom‐ men werden, dass auch die Gruppen der frühen Jesusnachfolger als solche Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften verstanden werden können. Von den Familiengeschichten zur Familienchronik Die Anekdoten oder Erinnerungsgeschichten kleinerer Gruppen werden selten geordnet und strukturiert aufgeschrieben. Sie bleiben damit verän‐ derlich und die Identität der Familie „im Fluss“. Entsprechend können solche Geschichten auch „umgeschrieben“ werden, wenn sich die Gruppen‐ struktur ändert. Kleine Details machen aus Fremden Menschen, die schon immer irgendwie zur Familie gehört haben, weil sie bestimmte Charakter‐ eigenschaften teilen, während andere allein dadurch aus den Geschichten herauserzählt werden, dass man sie nicht mehr erwähnt oder hinzufügt, dass ja schon immer klar war, dass sie nicht so richtig dazugehört haben. Wenn Familien sich durch Heirat oder Geburt vergrößern oder durch Trennung oder Tod verkleinern, lässt sich dieses Phänomen besonders gut beobachten. Wenn die Erinnerungsgeschichten hingegen in Form einer Familien‐ chronik aufgeschrieben werden, werden sie nicht nur in eine bestimme Form, sondern auch in eine zeitliche Reihenfolge gebracht und aus einer bestimmten Perspektive erzählt. Die Vielschichtigkeit und Unmittelbar‐ keit, die lose Episodennetzwerke haben, bei denen im Grunde jedes Mitglied die eigene Fassung der Geschichte einbringen kann, geht in einer solchen Familienchronik verloren. Da muss ausgewählt und angeordnet

Von den Familiengeschichten zur Familienchronik

werden und es braucht jemanden der diese Aufgabe übernimmt. Häufig genug entstehen dann Kontroversen darum, ob die Geschichte so oder so erzählt werden muss und ob man sie nicht besser weglässt, weil sie ja eigentlich gar nicht wichtig ist. Noch schwieriger ist es, einzelne Akteure wieder aus solchen festen Erzählzusammenhängen zu lösen oder sie neu einzuführen, wenn eine Anekdote oder eine Geschichte aus mehreren Anekdoten erst einmal schriftlich fixiert ist. Aus diesem aber auch aus vielen anderen Gründen werden Familiengeschichten selten und wenn, dann mit großem Abstand aufgeschrieben. Die verstorbenen Generationen können sich nicht mehr dagegen wehren, dass man die Geschichten anders erzählt als sie sie erlebt haben. Wie wir in Kapitel I.4 gesehen haben, konnte Jürgen Pontos Witwe noch gegen die Macher des Baader-Meinhof-Komplexes klagen und ihnen begründet vorwerfen, sie würden die Geschichte nicht so erzählen, wie sie war. In der nächsten Generation ist dieses Wissen vermutlich nicht mehr vorhanden. Das Aufschreiben von Erinnerungsgeschichten einer Familie, also der Schritt vom Familiengedächtnis zur Familienchronik – und damit die Über‐ führung in ein anderes Medium: vom gesprochenen Wort zum Text – geschieht gewöhnlich nicht einfach so, sondern braucht einen konkreten Anlass. Hierfür können ganz unterschiedliche Aspekte ausschlaggebend sein. Drei Möglichkeiten legen sich in besonderer Weise nahe: a. Es handelt sich bei der Familie um eine Dynastie mit einer besonderen Bedeutung und/oder langen Geschichte. Adelshäuser haben ebenso wie Unternehmerdynastien, die es seit mehreren Generationen gibt, meist eine Familienchronik und sehen deren Fortführung als Teil der Traditionspflege. Eine Vorstufe der ausformulierten Familienchronik sind genealogische Aufzeichnungen, wie sie sich in Stammbäumen oder Familienbibeln finden. Bei ihnen handelt es sich nicht um nar‐ rative Familienchroniken, sondern eher um Datensätze zur Familie, die ähnlich funktionieren wie die beschriebenen Fotoalben oder die neutestamentlichen Stammbäume. b. In der Familie oder Erinnerungsgruppe steht ein Jubiläum oder besonde‐ rer Gedenktag an und man möchte sich aus diesem Grund noch einmal vergegenwärtigen, wann alles begonnen hat. Ein klassischer Zeitraum sind in diesem Falle 50 Jahre – egal, ob es sich um Geburtstage, Jahres‐

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tage wie Goldene Hochzeiten, Goldene Kommunion, Goldenes Abitur oder das fünfzigste Firmenjubiläum handelt. Ebenfalls ein typischer Einschnitt ist bei Firmen oder anderen intergenerationellen Gruppen die Marke von 100 Jahren. c. Ein dritter sehr häufiger Grund sind Krisen oder ganz allgemein uner‐ wartete Ereignisse, die zu dramatischen (und mitunter auch traumati‐ sierenden) Veränderungen führen: Katastrophen, Kriege, Anschläge, Flucht, um nur einige zu nennen. In diesem dritten Fall dient die Überführung der Erinnerungserzählungen in ein anderes, festeres Me‐ dium der Bewältigung des Traumas, das Festhalten der verlorenen oder bedrohten Welt, der Vergewisserung der eigenen Identität und nicht selten auch einfach dem Versuch, zu verstehen und den Ereignissen einen Sinn abzugewinnen.

Familiengeschichten Erinnerungsgeschichten werden in Familien anekdotisch erinnert und sind im episodischen Gedächtnis gespeichert Das Aufschreiben oder anderweitige Festhalten von Familiengeschichten (Medienwechsel) geschieht nicht ohne Anlass (z.B. Tradition, Jubiläum, Trauma) und/oder dass eine gewisse Zeit vergangen ist Wenn Familiengeschichten aufgeschrieben werden, bekommen sie eine bestimmte Form und Chronologie und werden aus einer bestimmten Perspektive erzählt Erinnerungsgeschichten kleinerer Gruppen werden selten aufgeschrieben – sie bleiben veränderlich und die Identität der Gruppe „im Fluss“ und auf neu Hinzukommende offen Um einzelne Episoden kontextualisieren zu können braucht es einen Ausgriff auf das semantische Gedächtnis Abb. I.25: Charakteristika von Familiengeschichten

Elementare Erzählformen

Entsprechend der unterschiedlichen Anlässe für das Entstehen von ver‐ schriftlichten Familienchroniken gibt es auch unterschiedliche Arten, Fa‐ miliengeschichten zu erzählen, so wie es generell unterschiedliche Mög‐ lichkeiten gibt, den gleichen Stoff zu erzählen. Man spricht in diesem Zusammenhang von bestimmten Erzählgattungen. Elementare Erzählformen Der historische Psychologe Kenneth Gergen hat die klassische Gattungs‐ einteilung für Erzählungen Komödie, Romanze, Tragödie und Satire um die elementaren Formen stabilisierend, progressiv oder regressiv erwei‐ tert. Dadurch werden auch erweiterte Muster wie eine komödienartige Ro‐ manze oder eine Heldensage begrifflich fassbar. Für die Untersuchung von Erinnerungsgeschichten und Identitätstexten sind Gergens Erkenntnisse, insbesondere die elementaren Erzählformen stabilisierend, progressiv und regressiv von großem Wert, da sie Rückschlüsse auf die Situation der jeweiligen Gruppe und ihr Erzählinteresse erlauben. Gergen zufolge bleiben Erzählung und Gemeinschaft eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig, sodass die Wahrheit einer Geschichte, wie es schon bei den Familiengedächtnissen sichtbar wurde, eine soziale Übereinkunft hat. Bei der narrativen Strukturierung spielen die Bildung und Aushandlung von Identität daher eine zentrale Rolle. Gergen hat die Erzählformen stabilisierend, progressiv und regressiv auf ihre Wechselwirkung auf zwischenmenschliche Beziehungen hin akzentu‐ iert und kam dabei zu folgenden Ergebnissen: In engen Beziehungen sind stabilisierende Erzählungen das wichtigste Mittel, Gewissheit zu erlangen, dass die anderen sind, was sie scheinen. Im Anfangsstadium von Bezie‐ hungen ist daher eher der Gebrauch von progressiven Erzählungen zu beobachten, um die Besonderheit und den Wert der Beziehung zu betonen und Zukunftsverheißungen zu etablieren. Regressive Erzählungen erfüllen hingegen meist eine Kompensationsfunktion: Sie werben um Empathie oder dienen dazu, Kraft und Motivation zu wecken, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es ist entsprechend zu erwarten, dass Familienchroniken grundsätzlich stabilisierende Erzählungen sind, wenngleich die eine oder

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andere progressive oder auch regressive Episode in die Gesamterzählung mit eingebunden sein kann.45 Elementare Erzählformen und Beziehungen ■ Stabilisierend: Die anderen sind, was sie erscheinen, oder: „Es ist gut so, wie es ist.“ ■ Progressiv: Eine große Zukunft steht bevor, oder: „So wird es noch besser.“ ■ Regressiv: So darf das nicht enden, oder: „Wir müssen etwas tun, dass es so nicht wird.“ Wenn man Gergens Beobachtungen auf die Evangelien anwendet, lässt sich sagen, dass das Markusevangelium zwar als progressive Erzählung beginnt und einen Start in eine große und gute Zukunft verheißt, doch der Subtext von Verlust, Verrat und Scheitern von Anfang an hörbar ist und zum Ende hin so stark wird, dass die positive Botschaft von der Auferstehung Jesu nicht progressiv, sondern regressiv erzählt wird. Wenn man die von Gergen postulierte Kompensationsfunktion regressiver Geschichten ernst nimmt, lässt sich ferner sagen, dass der regressive Schluss des Markusevangeliums auch dazu dient, Hörer und Leser dazu zu bewegen, das Ziel einer gelebten Nachfolgegemeinschaft angesichts der angebrochenen Königsherrschaft Gottes trotz aller Widrigkeiten nicht aufzugeben. Damit wird einsichtig, warum das Markusevangelium analog zur Jüngerflucht am Ölberg mit der Flucht der Frauen vom Grab endet. Wenn es stimmt, dass das Markusevan‐ gelium eine progressive Geschichte ist, die regressiv erzählt wird, darf es keine Erscheinungsgeschichten geben. Die Wucht der Erzähldynamik und die Pragmatik würden damit gleichermaßen untergraben. Der Impuls „So darf das nicht enden“, der sich auch heute noch Hörern einstellt, wenn das Markusevangelium als Ganzschrift vorgetragen wird und in 16,8 endet, funktioniert nur mit diesem Schluss. In der Tat: Es ist noch nicht vorbei. Die Geschichte des Evangeliums geht im Leben der Hörer und Leser des Markusevangeliums weiter. Der Text ist im wahrsten Sinne des Wortes nur 45

Vgl. Kenneth Gergen, Erzählung, Moralische Identität und historisches Bewusstsein, in: J. Straub (Hg.): Erzählung, Identität, Historisches Bewusstsein, Frankfurt am Main 1998, 170–202, 177–181.

Das Neue Testament als Sammlung frühchristlicher Momentaufnahmen

der Anfang des Evangeliums von Jesus, dem gesalbten Gottessohn und Boten der angebrochenen Königsherrschaft Gottes. Im Vergleich zur eher regressiven Erzählform des Markusevangeliums sind die übrigen kanonischen Evangelien anders konstruiert. Insbesondere das Matthäusevangelium und das Lukasevangelium mit ihren jeweiligen Erzählbögen vom Immanuel zum Ich-bin-bei-euch-alle-Tage (Mt) bzw. vom Gebet eines Einzelnen im Tempel zum Gebet der Gruppe im Tempel (Lk), aber auch das Johannesevangelium sind stabilisierend erzählt und vermitteln so Gewissheit und Geborgenheit. Exegetisch gewendet ließe sich formulie‐ ren, dass die Textpragmatik des Markusevangeliums alleine aufgrund der Erzählform eine andere sein muss als die der übrigen Evangelien. Das Neue Testament als Sammlung frühchristlicher Momentaufnahmen Wir sehen in der unterschiedlichen Art, wie die Evangelien erzählen, demnach vier unterschiedliche Perspektiven auf die gleiche fundierende Erfahrung oder – um im Bild des Familienalbums zu bleiben – vier unterschiedliche Aufnahmen des gleichen Motivs aus unterschiedlichen Blickwinkeln und zu unterschiedlichen Zeiten. Das Motiv selbst hat sich nicht verändert, doch der Blick darauf ist – bedingt durch die Gegenwart und die Bedürfnisse derer, die es betrachten – ein anderer geworden. Während jedes einzelne Bild seine eigene Geschichte erzählt, werden die vier Evangelien in der Zusammenschau zu Momentaufnahmen, die einerseits die Geschichte der für die Erinnerungsgemeinschaften zentralen Erfahrung der Begegnung mit Jesus und seiner Botschaft erzählen, darüber hinaus aber auch festhalten, warum diese Erfahrung für sie zentral und wichtig ist. Anders formuliert: Mit ihrem speziellen Blick auf die Ereignisse und Erfahrungen erzählen sie nicht, wer Jesus an sich war, sondern wer Jesus jetzt für sie ist. Wenn man die Evangelien als Zeugnisse des kollektiven Gedächtnisses ver‐ steht, lesen sie sich als vier unterschiedliche Fassungen der Jesusgeschichte, die entsprechend auch vier unterschiedliche frühchristliche Identitätskonst‐ ruktionen spiegeln, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort entstanden, also situativ gebunden sind. Wir könnten auch sagen, dass die Evangelien als Zeugnisse des kollektiven Gedächtnisses das Ringen um die eigene (und später gemeinsame) Vergangenheit, die die Gegenwart und

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I.6  Fast wie ein Familienalbum: Neutestamentliche Texte als Momentaufnahmen

die Zukunft der Erinnerungsgruppe konstituieren, als Momentaufnahme festhalten. Dieser Zugang lässt sich freilich nicht nur auf die Evangelien anwenden, sondern in gleicher Weise auf alle neutestamentlichen Texte. Auch die Apostelgeschichte, die Briefliteratur und die Offenbarung sind in kultur‐ wissenschaftlicher Lesart Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsbil‐ dungsprozesse, die jeweils zu einer konkreten Zeit an einem konkreten Ort entstanden sind. Interessant wird es, wann man die unterschiedlichen Einzelbilder, die sich im Neuen Testament finden, nicht nur für sich, sondern auch im Zusammenspiel als eine Art Familienalbum betrachtet. Das Neue Testament zeigt dann Momentaufnahmen aus der Geschichte der frühen Christen, die für alle späteren Generationen Teil der eigenen Familiengeschichte ist und selbst für Außenstehende, die einen Zugang zu dieser Familie finden wollen, einzelne Stationen der Identitätsfindung und Identitätsbildung der ersten Generationen der Jesusnachfolger an unterschiedlichen Orten doku‐ mentieren. Dabei gilt das Gleiche, was auch beim Betrachten von familiären Fotoalben heute gilt: Je näher die Betrachter zeitlich und örtlich an den Bildern sind und je mehr sie sich mit der (eigenen) Familiengeschichte und den zeitlichen Umständen beschäftigt haben, desto mehr werden sie auf den Bildern erkennen und desto besser werden sie sie lesen können. Ebenso wie auch in Familienalben die Familien auf eine bestimmte Weise inszeniert sind oder sich selbst inszenieren, trifft dies auch für die sorgfältig komponierten Momentaufnahmen im Neuen Testament zu. Dabei lohnt es sich, genau hinzuschauen, statt sich darauf zu verlassen, dass man das entsprechende Bild oder die dazugehörige Geschichte ja kennt. Bei einer langsamen und genauen Lektüre neutestamentlicher Texte merkt man oft, dass man nicht den Text selbst liest, sondern eine Harmonie der synoptischen Varianten im Kopf hat oder etwas in einen Text hineinliest, das gar nicht ihn ihm vorkommt, wie beispielsweise die Herbergssuche, der Stall und Ochs und Esel in der lukanischen Weihnachtsgeschichte. Ein aufmerksamer Blick vermag in diesen Bildern eine Reihe von un‐ terschiedlichen Strategien zur Formung und Beeinflussung dieser Gedächt‐ nisse zu erkennen, die im Prozess sich konstituierender Identitäten nicht ungewöhnlich sind, ebenso wie sich auf Familienbildern aus dem ausgehen‐ den 19. und frühen 20. Jahrhundert ganz bestimmte Moden und Accessoires finden. Bei den neutestamentlichen Texten reichen diese Strategien von unterschiedlichen Erzählformen über motivische Wiederaufnahmen und

Das Neue Testament als Sammlung frühchristlicher Momentaufnahmen

das Weiterschreiben von Autoren und Texten bis hin zur Pseudepigraphie und sind in den neutestamentlichen Texten sichtbar. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre der neutestamentlichen Familien‐ bilder auf der Basis gedächtnistheoretischer Erkenntnisse hat das Ziel, diese Bilder sowohl als Einzelaufnahmen als auch in ihrer Zusammenschau noch tiefer zu verstehen und zu erfassen. Entsprechend trainiert eine kulturwis‐ senschaftliche Analyse neutestamentlicher Texte mit dem entsprechenden methodischen Handwerkszeug den Blick für die in den Momentaufnahmen eingefrorenen Prozesse frühchristlicher Identitätsbildung, die auch für spä‐ tere Generationen und ihr Selbstverständnis relevant sind – ganz so, wie ein Blick in die alten Familienalben auch etwas über die eigene Familie und die eigene Identität auszusagen vermag.   Literaturhinweise: Gergen, Kenneth: Erzählung, Moralische Identität und historisches Bewusstsein, in: Straub, Jürgen (Hg.): Erzählung, Identität, Historisches Bewusstsein, Frankfurt am Main 1998, 170–202. Keppler, Angelika: Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergesellschaf‐ tung am Beispiel der Konversation in Familien, Frankfurt am Main 21995. Polkinghorne, Donald E.: Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. Bezie‐ hungen und Perspektiven, in: Straub, Jürgen (Hg.): Erzählung, Identität und histo‐ risches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Erinnerung, Geschichte, Identität 1, Frankfurt am Main 1998, 12–45. Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001. Welzer, Harald u. a. (Hg.): „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 62008.

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I.7 Das Neue Testament als kulturellen Text lesen Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die theoretische Grundlage für die Lektüre neutestamentlicher Texte als Zeugnisse des sozialen und kollektiven Gedächtnisses gelegt wurde, klärt dieses Kapitel, wie eine kulturwissenschaftliche Exegese im Einzelnen aussehen kann. Dazu wer‐ den zunächst drei notwendige Vorentscheidungen erläutert und danach in fünf Durchgängen konkrete Arbeitsschritte für die Lektüre neutesta‐ mentlicher Texte vorgestellt.

Notwendige Vorentscheidungen Bevor die Arbeit am biblischen Text beginnt, steht eine Selbstvergewisse‐ rung, welches Ziel die Analyse hat. Dazu gehört die Klärung der eigenen Leseperspektive und die Entscheidung, ob der Text a) in etischer oder emischer Perspektive gelesen werden soll, ob der Fokus b) auf die Produktion oder die Rezeption des Textes gelegt werden soll und ob der Text c) als Zeugnis des sozialen/kollektiven oder als Zeugnis des kulturellen Gedächt‐ nisses verstanden wird. a) Etische und emische Lektüre

Ein zentraler Unterschied zwischen dem Familienalbum der eigenen Fami‐ lie und den neutestamentlichen Texten besteht darin, dass man bei den neutestamentlichen Texten im Grunde alte Familienalben einer anderen Familie betrachtet. Das verbindet die Arbeit von Neutestamentlern mit der Arbeit von Historikern: Beide haben eine etische Perspektive, lesen also aus der Perspektive eines Außenseiters. Sobald man das Neue Testament jedoch als Christ liest und damit zum Teil des eigenen kulturellen Gedächt‐ nisses oder der eigenen Familiengeschichte macht, tut man dies mit einer emischen Perspektive, also aus der Sicht eines Gruppenmitglieds, und die Dinge werden ein ganzes Stück komplexer. Ein Teil der Vorarbeit oder des Geheimnisses beim Bibellesen besteht darin, zunächst Rechenschaft über die eigene Perspektive und die Fragen, die mit ihr verbunden sind,

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I.7  Das Neue Testament als kulturellen Text lesen

abzulegen. Die Differenzierung zwischen einer etischen und einer emischen Perspektive ist weder unerheblich noch so trivial, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Als Nachgeborene mit zeitlicher und örtlicher Distanz zu den neutestamentlichen Texten lesen wir sie aus etischer Perspektive, als Christen, die die Urkunde ihres Glaubens studieren, aus emischer. Beides auseinanderzuhalten, ist nicht immer leicht. b) Kollektives und kulturelles Gedächtnis

Mit der Entscheidung für eine etische oder eine emische Lektüre verbunden, aber nicht gleichbedeutend, ist die Frage, ob man die Texte des Neuen Testaments als Artefakte des kollektiven Gedächtnisses oder als Teil des eigenen kulturellen Gedächtnisses liest. Diese Entscheidung mag für Texte des Neuen Testaments vergleichsweise einfach erscheinen, sobald man aber Texte des Alten Testaments hinzunimmt, wird es ungleich komplexer, denn hier gilt es, unterschiedliche Ebenen auseinanderzuhalten. So lassen sich Texte des Alten Testaments einerseits als kulturelles Gedächtnis der eigenen christlichen Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft lesen, was die Mehrzahl der Fälle ausmachen dürfte. Wenn man anderer‐ seits neutestamentliche Texte als kollektive Gedächtnisse liest, die auf die heiligen Schriften Israels als kulturellen Referenzrahmen oder kul‐ turelles Gedächtnis ausgreifen, ist nicht entscheidend, wie wir heute das Alte Testament verstehen, sondern wie die Jesusnachfolger im ersten und zweiten Jahrhundert die heiligen Schriften Israels als Teil ihres eigenen kulturellen Gedächtnisses verstanden haben (könnten). Dieses Wissen liegt nicht einfach vor, sondern kann lediglich näherungsweise in Form von Wirklichkeitskonstruktionen zweiter Ordnung aus den neutestament‐ lichen Texten erhoben werden. c) Produktionsorientierte und rezeptionsorientierte Perspektive

Die dritte Vorentscheidung betrifft schließlich die Frage, ob die Lektüre mit einem Fokus auf die Produktion oder die Rezeption des jeweiligen biblischen Textes geschehen soll. Bei einem produktionsorientierten Fokus geht es um die Beziehung zwischen dem Text und den in ihm beschriebenen Ereignissen oder Erfahrungen, beispielsweise wie der Tod Jesu im Johannes‐ evangelium erzählt und gedeutet wird. Bei einem rezeptionsorientierten Fokus geht es hingegen um die Beziehung zwischen den realen oder imagi‐ nierten Lesern und dem Text (und den in ihm beschriebenen Ereignissen

Notwendige Vorentscheidungen

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oder Erfahrungen). Hier würde man danach fragen, wie die Erzählung und Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium von unterschiedlichen Lesern aufgenommen wurde oder werden könnte (etisch) oder wie die eigenen Interpretationsgemeinschaft sie heute versteht (emisch). Wenn man die drei Stufen der Unterscheidung zwischen ■ einer etischen oder einer emischen Perspektive, ■ dem Text als Zeugnis des kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses, ■ und einem produktionsorientierten oder rezeptionsorientierten Fokus zusammennimmt, entsteht eine Heuristik, die nicht nur unterschiedliche Lesestrategien für biblische Texte kartographiert, sondern auch Phänomene und Fragestellungen im bibelwissenschaftlichen und theologischen Diskurs erklärt. Die folgende Matrix hilft, die unterschiedlichen möglichen Frage‐ perspektiven besser nachzuvollziehen.

Altes Testament

Beziehung Text – Ereignis

Kulturelles Gedächtnis

etisch

produktions‐ orientiert

Beziehung Leser – Text  (+Ereignis)

etisch Kulturelles Gedächtnis

rezeptions‐ orientiert

Beziehung Text – Ereignis

emisch

Kollektives Gedächtnis

etisch

Kulturelles Gedächtnis

etisch

Neues Testament

produktions‐ orientiert

Beziehung Leser – Text  (+Ereignis) rezeptions‐ orientiert

Kollektives Gedächtnis

etisch

etisch Kulturelles Gedächtnis emisch

Welche Texte und Kanonformationen existieren und  Rezeptiongeschichte/ wie sind sie entstanden?  Wirkungsgeschichte Wie formen und reflektieren sie die Identität der hinter  ihnen stehenden Interpretationsgemeinschaft? Kanonische Exegese Wie wurden diese Texte und Kanonformationen in  unterschiedlichen Interpretationsgemeinschaften durch  die Geschichte hindurch verstanden/ hätten sie  verstanden werden können? Wie wurde unser Kanon zu unserem Kanon? Wie ist unsere Identität durch unseren Kanon  bestimmt? Wie verstehen wir die Texte heute? Wie sind die Texte entstanden und was bedeuten sie in  ihren historischen Kontexten? Wie spiegeln/reflektieren die Texte die Ereignisse und  welche Rahmen zu Identitätskonstruktion bieten sie  an? Welche Texte und Kanonformationen existieren und  wie sind sie entstanden? Wie formen und reflektieren sie die Identität der hinter  ihnen stehenden Interpretationsgemeinschaft?

Rezeptionsgeschichte/ Wirkungsgeschichte Kulturwissenschaftliche und Kanonische Exegese Kanonische Exegese Biblische Theologie/  Theologische und   Geistliche Auslegung(en) Historisch‐kritische Exegese Kulturwissenschaftliche Exegese

Wie wurden diese Texte in unterschiedlichen  Interpretationsgemeinschaften durch die Geschichte  hindurch verstanden/hätten sie verstanden werden  können? Wie wurden diese Texte und Kanonformationen in  unterschiedlichen Interpretationsgemeinschaften durch  die Geschichte hindurch verstanden/hätten sie  verstanden werden können? Wie wurde unser Kanon zu unserem Kanon? Wie ist unsere Identität durch unseren Kanon  bestimmt? Wie verstehen wir die Texte heute?

Rezeptionsgeschichte

Abb. I.26: Heuristik: Lesestrategien für biblische Texte

Rezeptionsgeschichte/ Wirkungsgeschichte Kanonische Exegese

Kulturwissenschaftliche Exegese Rezeptionsgeschichte/ Wirkungsgeschichte

Kanonische Exegese Biblische Theologie/  Theologische und   Geistliche Auslegung(en)

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I.7  Das Neue Testament als kulturellen Text lesen

Grundsätzlich ist bei der Lektüre einerseits zu unterscheiden zwischen der zeitlichen Beziehung vom Text und dem Ereignis, das er beschreibt, sprich: Handelt es sich um die unmittelbare oder die absolute Vergangen‐ heit? Sind wir noch innerhalb des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses oder schon jenseits des Floating Gap? Die andere Unterscheidung ist die zeitliche Beziehung von Leser oder der Interpretationsgemeinschaft und dem beschriebenen Ereignis. Auch hier geht es wieder um den Unterschied zwischen unmittelbarer und absoluter Vergangenheit. Als Faustregel lässt sich hier festhalten, dass die Beziehung zwischen Text und Ereignis bei Texten des Alten Testaments grundsätzlich in den Bereich kulturelles Gedächtnis fällt, da die Texte des Alten Testaments jenseits des Floating Gap entstanden sind und nicht auf die unmittelbare, sondern auf die absolute Vergangenheit schauen. Wenn der Leser eine Entscheidung zugunsten einer Lektüre eines bi‐ blischen Textes als Zeugnis des kulturellen Gedächtnisses trifft, muss er sich im nächsten Schritt entscheiden, ob er von außen (etisch) oder von innen (emisch) auf den Text schaut. Hier könnte man beispielsweise den Unterschied zwischen Historikern und Theologen sehen: Die einen schauen von außen, die anderen von innen auf den Text. Als Faustregel mag dabei die Erkenntnis helfen, dass wir auf Texte, die nicht aus der eigenen Zeit stammen, zunächst einmal keine emische Perspektive haben und sich eine emische Perspektive auf solche Texte – unabhängig davon, ob es sich um kollektives oder kulturelles Gedächtnis handelt, nur rezeptionsorientiert etablieren lässt. Ein Beispiel: Wenn ich in meiner Rolle als Neutestamentlerin kulturwis‐ senschaftlich an die Texte des Neuen Testaments herangehe, lese ich sie als Artefakte kollektiver Gedächtnisse in einer etischen Perspektive. Wenn mich dabei die Frage umtreibt, wie diese Texte die Ereignisse und Erfahrungen, von denen sie Zeugnis ablegen, verstehen, habe ich einen produktionsorien‐ tierten Fokus. Kulturwissenschaftlich – oder kulturwissenschaftlich-gedächtnistheore‐ tisch – zu lesen, heißt mit einer bestimmten Vorstellung von den Prozessen zu arbeiteten, die der Textproduktion zugrunde liegen, ohne zu versuchen, sie genau zu datieren. Ein solcher Zugang ist kein rein synchrones Unternehmen und unterscheidet sich dennoch deutlich von historischkritischen Lektüren. Die diachrone Perspektive ist dadurch präsent, dass mit Vorstufen des vorliegenden Textes gerechnet wird. Ohne weitere Daten ist es jedoch unmöglich, diese früheren Stadien zu rekonstruieren. Eine

Notwendige Vorentscheidungen

kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretische Lektüre neutestamentlicher Texte als Artefakte kollektiver Gedächtnisse unternimmt den Versuch zu verstehen, wie Identität geformt wird und wie Texte Rahmen für künftige Identitätsbildungsprozesse bereitstellen. Damit hat eine kulturwissenschaft‐ liche Lektüre neutestamentlicher Texte andere Erkenntnisziele als eine historische oder theologische Lektüre. Methodisch bedeutet eine solche Lesehaltung auch, dass es nicht möglich ist, zu sagen, wie genau die Ereignisse, die in den Texten erinnert und gedeutet werden, konkret ausgesehen haben. Hier liegt ein Unterschied zur historischen Lektüre. Die kulturwissenschaftliche Lektüre versucht Einblick in die Situation einer Erinnerungsgemeinschaft und ihrer Iden‐ titätsbildungsprozesse zu gewinnen: In neutestamentlichen Texten wird der Versuch greifbar, die Gründungsereignisse und ihre Wirkung für die jeweilige Erinnerungsgemeinschaft zu verstehen. Dabei wird auch sichtbar, wie die Gründungsgeschichte der jeweiligen Gruppe aussieht. Dass sie für unterschiedliche neutestamentliche Gruppen sehr unterschiedlich ausfallen kann, verstärkt den Eindruck, dass das Neue Testament eine Sammlung von Bildern – Schnappschüssen oder eben ein Familienalbum – frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse an unterschiedlichen Orten ist. Das Neue Testament hingegen als ein Artefakt des kulturellen Gedächt‐ nisses zu lesen, ist eine völlig andere Herangehensweise. Hierbei geht es darum, Position zur überlieferten Tradition der eigenen Interpretationsge‐ meinschaft zu beziehen und sie als Teil der eigenen Identität zu verstehen – das, was eine theologische Lektüre ausmacht. Da unsere heutige zeitliche Verortung zu den neutestamentlichen Texten – unabhängig davon, ob man Christ ist oder nicht – die des kulturellen Gedächtnisses ist, ist es nicht ver‐ wunderlich, dass die Texte des biblischen Kanons in den unterschiedlichen christlichen Interpretationsgemeinschaften auch als kulturelles Gedächtnis gelesen werden, sprich: identitätsbegründende Texte aus der absoluten Vergangenheit, die vorgegeben sind und zu denen man sich verhalten muss. Die Perspektive der neutestamentlichen Wissenschaft schert aus diesem Konsens der Interpretationsgemeinschaft aus, wenn wir als Exegeten neu‐ testamentliche und frühchristliche Texte mit Blick auf ihre Entstehungssi‐ tuation lesen. Oder noch sauberer formuliert: Wenn wir sie mit unserer Vorstellung oder Konstruktion einer antiken Enzyklopädie aktualisieren. In dieser Perspektive werden die Texte fast schon automatisch zu Artefakten des kollektiven Gedächtnisses. Frühchristliche Texte mit einer antiken Enzyklopädie zu aktualisieren, heißt also auch, sie mit einer etischen Per‐

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I.7  Das Neue Testament als kulturellen Text lesen

spektive als Texte des kollektiven Gedächtnisses zu lesen. Das ist nicht gleichbedeutend mit einer rezeptionsorientieren Perspektive, sondern auch als produktionsorientierter Zugang möglich. Die Heuristik zeigt auch, dass nicht alle Frageperspektiven möglich sind: Bei einer produktionsorientierten Betrachtung der Beziehung zwischen Text und Ereignis kann es für nachgeborene Leser keine emische Perspektive geben. Spätere Generationen sind automatisch etische Leser, die von außen auf den Text schauen, selbst wenn sie sich als gläubige Christen den Autoren der Texte verbunden fühlen. Das Gleiche trifft auch für die Lektüre neu‐ testamentlicher Texte als kollektive Gedächtnisse und Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsbildung aus einer rezeptionsorientierten Perspek‐ tive zu. Auch hier kann es per Definition keine emische Lektüre für Leser späterer Zeiten geben. Sie sind automatisch und unabhängig von ihrem Glauben etische Leser. Neutestamentliche Texte sind antike Texte, die in anderen Situationen und zu anderen Fragestellungen entstanden sind als unsere heutigen. Diese Distanz kann nicht einfach überbrückt oder religiös kurzgeschlossen werden. Wer suggeriert, er könne eine emische Lektüre neutestamentlicher Texte als kollektive Gedächtnisse simulieren, muss entweder zugeben, dass er spekuliert (und womöglich eher im Bereich der Fiktion unterwegs ist), einem Zirkelschluss unterliegt, oder einen Kategorienfehler begeht. Das ist jedes Mal der Fall, wenn jemand behauptet, dass die Adressaten eines Paulusbriefes oder die Adressaten eines Evangeliums den Text in einer ganz bestimmten Weise verstanden hätten, ohne dafür textexterne Belege zu liefern. Auch wenn es sich für gläubige Christen richtig anfühlt, die neutesta‐ mentlichen Texte aufgrund der eigenen Glaubens- und Gemeindeerfahrung zu lesen, ist es wichtig, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass man dabei Gefahr läuft, die eigenen Erfahrungen, das eigene Weltwissen und die eigenen Kontexte in die Texte hineinzuprojizieren. Häufig geschieht das unbewusst, wenn sich beispielweise eigene Erfahrungen mit Gemeinde und Gemeindeleitung in die Vorstellungen der Abfassungsprozesse der Evangelien einschleichen. Wer einen Gemeindepfarrer hat, der zufällig auch

Neutestamentliche Texte als Gedächtnistexte lesen

noch Professor für Neues Testament ist, muss aufpassen, dass nicht sofort dieses Bild im Kopf entsteht, wenn es heißt, dass Matthäus, Markus oder Lukas ihr Evangelium für ihre Gemeinde verfasst hätten. Ähnlich verhält es sich, wenn von den Gemeinden in Korinth, Ephesus oder Philippi die Rede ist: Auch sie unterscheiden sich in ihrer Struktur und Verfasstheit nicht nur voneinander, sondern auch massiv von den Gemeinden heute. Gerade wenn es sich aufgrund von ähnlicher Begrifflichkeit oder Erfahrungen nahezulegen scheint, neutestamentliche Texte intuitiv zu verstehen, ist es nötig, sich der doppelten Kontextgebundenheit von Text und Leser bewusst zu bleiben. Neutestamentliche Texte sind antike Texte, die in anderen Situa‐ tionen und zu anderen Fragestellungen entstanden sind als unsere heutigen. Diese Distanz kann nicht einfach überbrückt oder religiös kurzgeschlossen werden. Die letzte Spalte der Matrix gibt an, welche hermeneutischen Zugänge in Wissenschaft und Kirche welche Fragestellungen diskutieren. Damit hilft die Matrix auch, einige spezifische Charakteristika in der bibelwis‐ senschaftlichen Landschaft zu verstehen. Beispielsweise wird so leichter verständlich, warum es in aller Regel Alttestamentler sind, die kanonische Exegese betreiben: Sie sind immer im Bereich des kulturellen Gedächtnisses unterwegs, insbesondere, wenn sie die literarische Endgestalt der Texte be‐ trachten. Ebenfalls besser verständlich wird, warum rein emische Zugänge wie Theologische Auslegung oder Geistliche Lektüre bei vielen Fragen zu kurz greifen: Sie können keine produktionsorientierten Fragen beantworten und sind automatisch konfessionell gebundene Lektüren, die nur für einen begrenzten Bereich Geltung beanspruchen können. Neutestamentliche Texte als Gedächtnistexte lesen Die zentrale Aufgabe der Neutestamentlichen Wissenschaft ist die Lektüre neutestamentlicher Texte als Zeugnisse kollektiver Gedächtnisse. Die Per‐ spektive ist damit automatisch etisch und man muss sich lediglich entschei‐ den, ob man eher produktionsorientiert oder eher rezeptionsorientiert liest. Die Fragen, die uns bei einer kulturwissenschaftlichen Lektüre beschäftigen sind damit:

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I.7  Das Neue Testament als kulturellen Text lesen



Wie spiegeln die Texte die Ereignisse und Erfahrungen, von denen sie Zeugnis geben und welche Rahmen zur Identitätskonstruktion bieten sie an? ■ Wie wurden diese Texte in unterschiedlichen Interpretationsgemein‐ schaften durch die Geschichte hindurch verstanden oder wie hätten sie verstanden werden können?

In diesem Buch geht es vor allem um das Handwerkszeug zum ersten der beiden Zugänge, dem produktionsorientierten Blick, und um exemplarische Lektüren neutestamentlicher Texte in dieser Perspektive (Kapitel II). Der zweite Zugang, der bislang im wissenschaftlichen Diskurs noch weniger präsent ist, wird im dritten Kapitel (III.3) zumindest kurz thematisiert. Die zentrale Idee einer kulturwissenschaftlichen Lektüre neutestamentli‐ cher Texte als Zeugnisse kollektiver Gedächtnisse ist es, sie als Momentauf‐ nahmen frühchristlicher Identitätsbildung in einem konkreten historischen Kontext zu verstehen und dieses Verständnis so zu präsentieren, dass die Texte für heutige Leserinnen und Leser nicht nur verständlich, sondern auch anschlussfähig sind, ohne dass sie durch diese Rezipienten, ihr Weltwissen und ihre Bedürfnisse vereinnahmt werden. Im Hintergrund steht dabei die Vorstellung der doppelten Kontextgebundenheit von Verstehensprozessen, die in der kulturwissenschaftlichen Exegese erkenntnisleitend ist. Zum kulturwissenschaftlichen Zugang gehört es, die Texte aus ihren zeit- und sozialgeschichtlichen Kontexten heraus zu verstehen. Das heißt auch, die emische Perspektive der heutigen Gläubigen, für die die biblischen Texte Teil ihres kulturellen Gedächtnisses und – insbesondere im Falle der neutestamentlichen Texte – Ur-Kunde ihres Glaubens sind, zu vermeiden. Kulturwissenschaftliche Bibellektüre arbeitet mit einem Perspektivwechsel hin zu einem etischen Blick auf die biblischen Texte, der gerade auch die Sper‐ rigkeit und Anstößigkeit der Bewegung der Jesusnachfolger und ihrer Texte für die Mehrheitsgesellschaft im römischen Imperium sichtbar macht. Das Ziel der Auslegung ist daher nicht, die biblischen Texte in ihrer Vertrautheit als Glaubensgut zu erklären (emische Perspektive), sondern ihre Fremdheit ebenso wie ihre Entstehung in einem ambivalenten Kontext sichtbar und sie so für heutige Leser und ihre Erfahrungen neu anschlussfähig zu machen (etische Perspektive).

Neutestamentliche Texte als Gedächtnistexte lesen

Kulturwissenschaftliche Lektüre  Versteht neutestamentliche Texte aus ihren eigenen zeit‐ und sozialgeschichtlichen Kontexten heraus. 

Nimmt die doppelte Kontextgebundenheit von Verstehensprozessen ernst 

Will biblische Texte nicht als Glaubensgut erklären (emisch), sondern ihre Entstehung verständlich machen (etisch)

Greift zeit‐ und sozialgeschichtliches Wissen über Entstehungskontexte auf und verbindet es mit einem  narratologischem Zugang im Rahmen einer Metatheorie

Bricht mit der Tradition der Perikopenauslegung

Fragt nicht danach, wie es gewesen ist, sondern was erinnert wird und Identität stiftet

Sieht in neutestamentlichen Texte unterschiedliche Facetten von Jesusnachfolge in den ersten Generationen

Abb. I.27: Charakteristika kulturwissenschaftlicher Lektüre

Biblische Texte sind weder museale Texte noch Handlungsanweisungen, die heutigen Gläubigen sagen, wie sie handeln sollen. Sie zeigen vielmehr auf, wie Menschen zu anderen Zeiten im Vertrauen auf Gott ihr Leben und Handeln strukturiert haben. Vor diesem Hintergrund lässt sich das eigene Leben und Handeln neu entdecken: in Übereinstimmung, in Abgrenzung oder einfach nur mit Neugier auf alte Geschichten, die spannend sind, weil sie menschlich sind. Die doppelte Kontextgebundenheit von Autoren und Lesern wird dabei gleichermaßen ernstgenommen. Der kulturwissenschaftlich-exegetische Zugang, wie er in diesem Lehrbuch vorgestellt wird, greift zeit- und sozial‐ geschichtliches Wissen über die Entstehungskontexte der biblischen Texte auf, verbindet es mit einem narratologischen Zugang zu Ganzschriften und betrachtet beides durch die Brille kulturwissenschaftlicher Gedächtnisthe‐ orie. Weil man am ganzen Text mehr sieht als an kleineren Ausschnitten, werden gewöhnlich ganze Bücher gelesen, nicht einzelne Perikopen. Die kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretische Auslegung biblischer Texte bricht ferner bewusst mit der Tradition, Perikopen als Lehrstücke oder

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I.7  Das Neue Testament als kulturellen Text lesen

katechetische Unterweisungstexte zu verwenden. Gleichzeitig wird – gerade bei den neutestamentlichen Texten – die historische Rückfrage nach den Ereignissen hinter dem Text und der ipsissima vox Jesu hintenangestellt. Es geht nicht darum, was geschehen ist, wie es wirklich gewesen ist, sondern darum, was erinnert und erzählt wird und wie es Identität stiftet. Dass das mitunter stark von dem abweichen kann, was tatsächlich passiert ist, ist eine kulturwissenschaftliche Binsenweisheit, die bereits Max Frisch kongenial ins Wort gebracht hat. Auch bei biblischen Texten schafft die Gegenwart sich die Vergangenheit, die sie benötigt. Das verbindet heutige Leser mit denjenigen, die die Texte der Bibel, insbesondere die des Neuen Testaments, verfasst haben. In den 27 Bü‐ chern des Neuen Testaments werden auf engem Raum unterschiedliche Überzeugungen und Sozialformen der Jesusnachfolge sichtbar. So steht beispielsweise das, was in der Bibelwissenschaft als paulinisches oder johan‐ neisches Christentum bekannt ist, im Kanon des Neuen Testaments ebenso selbstverständlich wie unvermittelt nebeneinander. Jesusnachfolge zeigt sich in unterschiedlichen Facetten genauso, wie sich auch die Zugehörigkeit zum Gottesvolk des Sinaibundes in sehr unterschiedlicher Form ausprägen konnte. Die Vielfalt der jüdischen Religionsgruppen zur Zeit des Zweiten Tempels, von der das Neue Testament ein fernes Echo vernehmen lässt, zeigt das deutlich. Im Alten Testament sind die unterschiedlichen Glaubens- und Sozialformen der Weggemeinschaft mit Gott ebenfalls deutlich zu erkennen. Bei der kulturwissenschaftlichen Exegese neutestamentlicher Texte ha‐ ben wir es fast ausschließlich mit Zeugnissen des kollektiven Gedächtnisses zu tun. Die einzige Ausnahme ist die Textgruppe der authentischen Pau‐ lusbriefe, bei denen es sich eher um Zeugnisse des sozialen Gedächtnisses handeln dürfte. Wie sich dieser Unterschied manifestiert, werden wir an‐ hand der Thessalonicherkorrespondenz untersuchen (vgl. III.2). Unabhängig davon lässt sich als Arbeitsdefinition für die Lektüre von neutestamentli‐ chen Texten als identitätskonkreten Texten des kollektiven Gedächtnisses festhalten: Ein identitätskonkreter Text des kollektiven Gedächtnisses ist eine an bereitliegenden Formen und Deutungsmustern orientierte perspektivische Erzählung, die aufgrund ihrer leitenden Perspektive und ihrer offenen Stellen auf die Erzählgemeinschaft hin transparent ist. Sie ist auf die Zu‐ kunft hin orientiert, stellt Rahmen für künftige Identitätskonstruktionen bereit und lädt so zur Familiarisierung ein. Die Herkunft des Textes aus der

Methodisches Vorgehen

Mündlichkeit kann noch an einer episodischen Struktur erkennbar sein, doch die Bedeutung des Textes liegt nicht in den einzelnen Episoden oder Ereignissen, auf die verwiesen wird, sondern in der Struktur, Organisation und Evaluation des übergeordneten narrativen oder argumentativen Kontexts, der die leitende Perspektive des Textes spiegelt. Methodisches Vorgehen Für die konkrete Arbeit am neutestamentlichen Text im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Analyse hat sich ein Analysetool bewährt, das auf der Untersuchung von Erzähltexten als Texten des kollektiven Gedächtnisses basiert. Dieses Analysetool arbeitet in fünf Schritten: 1. Analyse des Makrotextes und seiner Struktur 2. Analyse von Motiven, intertextuellen Dispositionen und kulturellen Rahmen 3. Analyse der verschiedenen Welten im Text und ihrer Beziehung/ihren Verbindungen 4. Analyse der Erzählinstanz, der Perspektivenstruktur und der leitenden Perspektive 5. Vergleich der Textwelt mit Welten außerhalb des Textes Im Grunde gehen wir bei einer kulturwissenschaftlichen Analyse in fünf Durchgängen durch den Text, wobei mit „Text“ hier der jeweilige Makrotext gemeint ist, also das gesamte biblische Buch, nicht nur einzelne Perikopen oder Kapitel. Erst dann lassen sich die Methoden tatsächlich sinnvoll und gewinnbringend anwenden. Insbesondere kulturelle Rahmen und die Perspektivstruktur lassen sich nur erheben, wenn jeweils der gesamte Text – vor allem auch Anfang und Ende – gelesen wird. Der fünffache Durchgang durch die Texte verbindet historische und narratologische Methodenschritte mit der Analyse von Motiven und inter‐ textuellen Dispositionen. Die meisten Analyseschritte sind daher nicht neu, sondern werden lediglich anders kombiniert und in einen anderen hermeneutischen Rahmen gestellt als dies bei einer historisch-kritischen oder einer narrativen Analyse der Fall ist. Wenn die Charakteristika des kollektiven Gedächtnisses ernst genommen werden, sind fundierende Texte zu erwarten, bei denen die leitende Perspektive, die zur Familiarisierung einlädt, klar zu erkennen sind. Der Analyse der Perspektivenstruktur wird so

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I.7  Das Neue Testament als kulturellen Text lesen

viel Raum eingeräumt, damit die leitende Perspektive und die Erfahrungen, Diskussionen und Konflikte, die mit ihr verbunden sind, besser erkannt und beschrieben werden können. Die Vergleiche der unterschiedlichen Per‐ spektiven und Ebenen im Text haben dabei das gleiche Ziel: die spezifische Perspektive und das einzigartige Profil des Textes sichtbar zu machen. 1. Durchgang: Analyse des (Makro-)Textes und seiner Struktur

Im ersten Durchgang steht ein Blick auf den gesamten Text und seine Struktur auf dem Programm. Die zentralen Fragen sind dabei: a. um was für eine Art bzw. Genre/Gattung von Text es sich handelt, sprich, ob wir es eher mit einem narrativen Text (wie den Evangelien und der Apostelgeschichte) oder einem argumentativen Text (wie einem Brief) zu tun haben; b. was im Text erzählt wird und was nicht erzählt wird: sprich welche Themen werden erwähnt oder auch nicht erwähnt, und c. wie erzählt wird. Dazu gehören Fragen nach den Erzählelemente und Erzählformen, der Struktur und ggf. wiederkehrenden Mustern, sowie nach offenen Stellen, beispielweise in Form von Zeit- und Handlungs‐ sprüngen. Neben einer Übersicht über die Themen des Textes wird in diesem Durch‐ gang hauptsächlich mit narrativen Analysekategorien gearbeitet, die nach Erzählelementen und der Erzählstruktur, aber auch der Organisation des Textes und seiner Zeitstruktur fragen 2. Durchgang: Analyse von Motiven, intertextuellen Dispositionen und kulturellen Rahmen

Der zweite Durchgang nimmt Motive, intertextuelle Dispositionen und kulturelle Referenzrahmen in den Blick und bedient sich dabei Methoden aus der Traditions- und Motivkritik sowie der intertextuellen Analyse. Dabei wird nicht nur geprüft, welche Motive und Verweise auf andere Texte – im Neuen Testament sind das hauptsächlich Texte aus dem Alten Testament – und Gestalten (z. B. Mose, Abraham oder Propheten wie Jesaja) überhaupt vorkommen, sondern auch, auf welcher Ebene sie liegen. Handelt es sich bei Zitaten aus dem Alten Testament beispielsweise um Passagen, die von der Erzählinstanz verwendet werden oder sind es umgekehrt bestimmte Erzählfiguren, die auf das Alte Testament verweisen? Wird ein Verweis auf

Methodisches Vorgehen

die fünf Bücher Mose als Verweis auf „Mose“, „das Gesetz“ oder „die Schrift“ eingespielt und tun das die Erzählinstanz und die Figuren in gleicher Weise? Sind Verweise auf die jüdischen oder auf römische Traditionen markiert oder nicht? Gibt es Wendungen, die häufiger auftauchen als andere? Die Analyse der unterschiedlichen intertextuellen Dispositionen, kultu‐ rellen Rahmen und Motive ist der größte Schritt weg von der Anwendung traditioneller Methoden in der Bibelwissenschaft. Eine kulturwissenschaft‐ liche Analyse erwartet eine perspektivische Erzählung, die an in der Umwelt bereitliegenden Formen und Mustern orientiert ist und die sich im Text manifestieren. In anderen Worten suchen wir nach dem, was Maurice Halbwachs die sozialen Rahmen genannt hat, die Wahrnehmung und Erinnerung formen. Es geht also nicht einfach um Querverweise oder Belegstellen, sondern es ist vielmehr zu erwarten, dass Muster und intertextuelle Dispositionen mit den vorliegenden sozialen oder kulturellen Rahmen interagieren und sie nutzen, um den im Text beschriebenen Ereignissen und Erfahrungen Sinn abzugewinnen. Bei neutestamentlichen Texten sind Externalisierungen kollektiver Gedächtnisse (in diesem Fall in Textform) zu erwarten, die nicht nur mit vorliegenden sozialen Rahmen interagieren, sondern auch neue Verstehens-/Interpretationsrahmen bereitstellen, die sich in neuen Identitätskonstruktionen manifestieren können. In der traditionellen Termi‐ nologie würde man hier von der „Theologie“ des jeweiligen Textes sprechen. 3. Durchgang: Analyse der verschiedenen Welten im Text und ihren Verbindungen

Im dritten Durchgang werden die Ebenen im Text noch stärker differenziert. Dabei kommen Kategorien der Possible Worlds Theory zum Einsatz, wenn zwischen der erzählten Welt und der Welt der Erzählinstanz (oder der Erzählerwelt) unterschieden wird. Bei einer detaillierten Untersuchung der unterschiedlichen Textwelten im Sinne der Possible Worlds Theory würden ferner die Welten der wichtigsten Erzählfiguren, ihr Wissen, ihre Werte, Wünsche und Intentionen analysiert. Diese Untersuchung ist jedoch sehr kleinteilig, wenngleich sie (wie wir beim Markusevangelium in II.3 sehen werden), interessante Ergebnisse zutage fördern kann. Doch da sich bereits durch den Vergleich der erzählten Welt mit der Welt der Erzählinstanz hilfreiche Beobachtungen machen lassen, ist es zunächst ausreichend, diese beiden Welten zu erkunden und zu vergleichen.

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Die genauere Untersuchung und Beschreibung der erzählten Welt und der Welt der Erzählinstanz ist in zweifacher Hinsicht hilfreich. Zum einen hilft die Auseinandersetzung, wie die erzählte Welt gestaltet ist und welche Gesetze in ihr gelten dabei, die Distanz zum Text – und damit eine etische Perspektive – zu wahren und ist damit ein wirksames Instrument gegen die Vereinnahmung des Textes durch die Leser. Zum anderen schärft die Differenzierung zwischen der erzählten Welt und der Welt der Erzählinstanz den Blick für unterschiedliche Perspektiven auf die im Text beschriebenen Ereignisse und Erfahrungen. So kann die Erzählstimme eine Erfahrung mit ganz anderen Kategorien beschreiben und auswerten als einzelne Erzählfiguren. Sie verrät dadurch nicht nur die eigene Perspektive, sondern gibt auch wertvolle erste Einblicke in die Textpragmatik. Bei Briefen, in denen es in narratologischer Perspektive aus Genregrün‐ den keine vermittelnde Erzählinstanz, sondern ausschließlich Figurenrede gibt, sieht dieser Durchgang etwas anders aus. In diesem Fall wird statt‐ dessen die Welt des Absenders untersucht und beschrieben. Dazu gehört auch, welche Geschichte des Absenders mit den Adressaten und welche (gemeinsame) Glaubensgeschichte erzählt werden. 4. Durchgang: Analyse der Erzählinstanz, Perspektivenstruktur und leitenden Perspektive

Der vierte Durchgang widmet sich der Analyse der Perspektivenstruktur im Text. Diese Methode stammt ebenfalls aus der Erzählforschung, näherhin dem multiperspektivischen Erzählen. Auf der Basis der Analyse der Welten im Text wird nun die Struktur der Perspektiven im Text, d. h. die konkreten Perspektiven der Erzählinstanz und einzelner Figuren bzw. Figurengruppen untersucht. Dabei stellt sich die Frage, wer wie zu Wort kommt, wie die einzelnen Beiträge eingeleitet und moderiert werden und ob und wie sie z. B. durch die Erzählinstanz oder andere Erzählfiguren explizit oder implizit gewertet werden. Bei diesem Durchgang ist der Blick auf den gesamten Text besonders wichtig, da sich häufiger auftauchende Figuren(gruppen) und ihre Perspek‐ tive, aber auch ihre Konflikte und deren Bewertung durch die Erzählinstanz verändern können. Die Frage, ob alle (Figuren-)Perspektiven gleichberech‐ tigt nebeneinanderstehen oder ob – und wie – sie miteinander vermittelt werden, gibt auch Aufschluss darüber, inwieweit sich im Text eine leitende Perspektive erkennen lässt. Dieser Punkt ist insbesondere für die Frage, ob

Konkrete Arbeitsschritte

es sich um einen Text aus dem Bereich des sozialen oder aus dem kollektiven Gedächtnis handelt, relevant und wird uns beispielsweise bei der Frage nach den authentischen Paulusbriefen im Vergleich zur Pseudepigraphie begegnen. 5. Durchgang: Vergleich der Textwelt(en) mit den Welten außerhalb des Textes

Beim fünften Durchgang wird die Grenze zwischen Text und außertextlicher Wirklichkeit insofern überschritten, als hier gefragt wird, wie sich die erzählte Welt zu dem verhält, was über die außertextliche Wirklichkeit und die sozialen Kontexte aus der Zeit, von der der Text erzählt, bekannt ist. Dabei handelt es sich nicht um eine historische Rückfrage (Was ist passiert?), sondern um eine historische Kontextualisierung (wie verhalten sich erzählte Welt und unsere Wirklichkeitskonstruktion von dieser Zeit zueinander?). Zur Diskrepanz zwischen erzählter Welt und außertextlicher Wirklichkeit kann gehören, dass der Text auf historische Ereignisse verweist, die nicht oder nicht in der Weise stattgefunden haben, wie es im Text beschrieben ist, wie beispielsweise der Kindermord zu Bethlehem (Mt 2,16–18) oder die Enthauptung Johannes des Täufers (Mk 6,14–29). Sobald textexterne Daten oder weitere Quellen vorliegen, ermöglicht der Abgleich mit ihnen auch ein besseres Verständnis der leitenden Perspektive und gibt so auch Einblick in die Pragmatik des Textes. Konkrete Arbeitsschritte Die fünf Durchgänge durch den Text im Zuge einer kulturwissenschaftli‐ chen Analyse sind anspruchsvoll und zeitaufwendig, daher ist es gerade am Anfang wichtig, sich nicht in den einzelnen Schritten zu verlieren. Über jeden Durchgang ließen sich ganze Bücher schreiben, was umso mehr gilt, je umfangreicher das untersuchte biblische Buch ist. Entsprechend ist es wichtig, die einzelnen Arbeitsschritte gut zu planen und zu strukturieren. Wir werden bei den exemplarischen Lektüren im II. Teil nie alle fünf Durchgänge komplett abgehen und allen möglichen Spuren nachgehen, sondern ausgewählte Beobachtungen genauer betrachten, um einen Ein‐ druck von den Möglichkeiten zu bekommen, die kulturwissenschaftliche Exegese bietet. Für diesen ersten Eindruck – und die eigene Arbeit am Text

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– ist folgendes Programm, das sich an den fünf Durchgängen orientiert, ausreichend: Lesen Sie den ganzen Text im Zusammenhang und notieren Sie Auffälligkeiten und offene Fragen. Versuchen Sie, dabei Ihr Vorwissen auszublenden und schauen Sie nur auf den Text. Bearbeiten Sie danach anhand des Textes folgende Fragen 1. Gibt es Auffälligkeiten in Hinblick auf die Textstruktur? Handelt es sich um einen narrativen oder argumentativen Text? Worum geht es grob? 2. Welche Motive und kulturelle Rahmen fallen Ihnen auf? 3. Wie ist das Beziehungsgeflecht im Text? o Bei Briefliteratur: Identifizieren Sie Absender und Empfänger. Wie ist das Beziehungsverhältnis von Absender und Adressat(en)? Welche (gemeinsame) Geschichte wird erzählt? o Bei Erzähltexten: Welche Figuren/Figurengruppen kommen im Text vor? Was kann man über die Erzählinstanz sagen? Wie sind die Beziehungen zwischen den Figuren dargestellt? 4. Wie wird die Erzählung vermittelt? o Bei Briefliteratur: Welche Perspektiven und Argumentationslinien lassen sich am Text erkennen? Wie sind sie vermittelt? o Bei Erzähltexten: Welche Erzählerkommentare, Perspektivenwechsel und Leserlenkung lassen sich erkennen? Wie sind sie vermittelt? 5. Fallen Ihnen Unstimmigkeiten im Text oder zwischen den im Text erzählten Ereignissen und extratextuellen Daten auf? Wie werden sie im Text verarbeitet und worauf könnten sie hindeuten? o Bei Briefliteratur: Wirken die im Text suggerierten Beziehungsverhältnisse zwischen Autor und Adressat authentisch und überzeugend? o Bei Erzähltexten: Auf welche historischen Ereignisse und Gegebenheiten wird referiert? Erscheinen die Schilderungen authentisch oder stilisiert? Gleichen Sie in diesem Schritt die Welt des Textes mit Erkenntnissen von außerhalb des Textes wie weiteren biblischen oder außerbiblischen Quellen sowie wissenschaftlicher Sekundärliteratur ab. Hier können Sie auch ihre Eingangsnotizen nutzen.

Abb. I.28: Übersicht: Konkrete Arbeitsschritte für eine kulturwissenschaftliche Lektüre

Die beiden Checklisten im Anhang des Kapitels bieten mit ihren Leitfragen ein vertieftes Programm für die Untersuchung von Erzähltexten und Briefen. Sie sollen dabei helfen, die einzelnen Durchgänge zu strukturieren und sind als ebenfalls als Impulse zu verstehen, nicht als abgeschlossenes Arbeitsprogramm oder minutiös abzuarbeitende Liste. Bei allen Arbeitsschritten ist es zentral, die Beobachtungen zunächst stichwortartig festzuhalten, wobei es sich bei der Untersuchung der erzähl‐ ten Welt und der Welt der Erzählinstanz lohnen kann, die Beschreibungen auszuformulieren und nebeneinanderzulegen. Bei der Arbeit in einer grö‐ ßeren Gruppe kann es den Erkenntnisfortschritt beschleunigen, wenn sich eine Gruppe der erzählten Welt und eine andere Gruppe der Welt der Erzählinstanz widmet und sich die Gruppen die Ergebnisse gegenseitig vorstellen. Ebenso ist es für eine vertiefte Arbeit mit einem biblischen Text denkbar, dass neben der erzählten Welt und der Welt der Erzählinstanz auch einzelne Figurenwelten analysiert werden, um die Konfliktlinien oder den Plot eines Textes besser zu verstehen. So ließen sich beispielsweise beim Matthäusoder Markusevangelium die Perspektiven von Jesus, den Jüngern und unter‐

Konkrete Arbeitsschritte

schiedlichen Gegnergruppen durch einzelne Arbeitsgruppen untersuchen und vorstellen. Dabei wird besser verständlich, in welchen Welten die Figuren leben, wie sie „ticken“ und im Rückgriff auf welche kulturellen Referenzrahmen sie ihr Weltbild formen und in Auseinandersetzungen argumentieren. Dieser Perspektivwechsel ist ebenfalls eine gute Methode, einer emischen Vereinnahmung von biblischen Texten vorzubauen. Die Auswahl und Auswertung einzelner Beobachtungen aus den fünf Durchgängen ist ein eigener Arbeitsschritt, für den es keine festgelegte Form gibt. Wie er aussehen kann, zeigen die Lektüren im II. Teil des Lehrbuches exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. In den einzelnen Kapiteln werden jeweils Beobachtungen und Auswertungen aus allen Durchgängen vorgestellt, zu die weiteren eigenen Beobachtungen anregen sollen.   Literaturhinweise Huebenthal, Sandra: Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253), Göttingen 22018, 156–354. Huebenthal, Sandra: A possible new world. How the Possible Worlds Theory can enhance understanding of Mark, in: Annali di Storia dell’Esegesi 32 (2015), 393– 414. Huebenthal, Sandra: “Frozen Moments” – Early Christianity through the lens of Social Memory Theory, in: Butticaz, Simon; Norelli, Enrico (Hg.): Memory and memories in Early Christianity (WUNT I 398), Tübingen 2018, 17–43. Reinmuth, Eckart; Bull, Klaus-Michael: Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen-Vluyn 2006. Rhoads, David M.; Dewey, Joanna; Mitchie, Donald: Mark as Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Minneapolis 21999.

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Checkliste Methodenschritte für Erzähltexte 1. Analyse des (Makro-)Textes und seiner Struktur ■ Um was für eine Art/Genre von Text handelt es sich (Erzählung, Brief, etc.)? ■ Was wird erzählt: Welche Themen hat der Text (Was wird erzählt, was wird nicht erzählt)? ■ Wie wird erzählt: Welche unterschiedlichen Erzählelemente und Erzähl‐ formen lassen sich im Text finden? Wie ist der Text organisiert (grobe Übersicht über die Struktur und Hinweise auf Muster innerhalb dieser Struktur)? ■ Welchen logischen Aufbau, welche Erzählstruktur und welche Themen befördern die einzelnen Elemente innerhalb der Makrostruktur? Gibt es offene Stellen, Zeit- und Handlungssprünge? 2. Analyse von Motiven, intertextuellen Dispositionen und kulturel‐ len Rahmen ■ Welche intertextuellen Dispositionen, kulturellen Rahmen und Motive begegnen im Text? ■ Wie manifestieren sie sich? Wie lassen sie sich wahrnehmen? ■ Aus welcher Ebene (erzählte Welt oder Welt der Erzählinstanz) sind die intertextuellen Dispositionen verortet und wie werden sie vorgestellt? ■ Lassen sich Präferenzen für bestimmte Texte, Motive oder Rahmen er‐ kennen? Nutzt der Text (verstärkt) Erfüllungszitate, bestimmte Formeln oder literarische Formen? ■ Welche Referenzrahmen werden aufgespannt? Werden eigene Traditio‐ nen entwickelt oder wird in vorliegende eingepasst? 3. Analyse der verschiedenen Welten im Text und ihrer Bezie‐ hung/ihren Verbindungen ■ Beschreibung der erzählten Welt ■ Beschreibung der Welt der Erzählinstanz ■ Beschreibung der Inkongruenzen und Konfliktpunkte zwischen beiden Welten

Konkrete Arbeitsschritte

4. Analyse der Erzählinstanz, der Perspektivenstruktur und der leitenden Perspektive ■ Welche Art von Erzählinstanz hat der Text und wie wird sie sichtbar? ■ Welche Perspektiven sind zu erkennen? Wie können sie unterschieden werden? ■ Gibt es eine leitende Perspektive? Wie ist sie organisiert und wie wird sie sichtbar? ■ Sind im Text noch Ausläufer einer multiperspektivischen Darstellung zu finden, und wenn ja, wie werden diese erzählerisch vermittelt? Wel‐ cher Choreographie folgt die Erzählung, und wo entsteht ein Sinnüber‐ schuss, den einzelne Elemente erst in der vorliegenden Erzählordnung erhalten? ■ Gibt es eine Form der Leserlenkung, und wenn ja, wie stellt sich diese dar? ■ Welche Pragmatik lässt der Text erkennen? 5. Vergleich der Textwelt(en) mit den Welten außerhalb des Textes ■ Vergleich des Textes mit Ko- und Kontexten aus derselben Zeit/Epoche, historischen Daten und den Erkenntnissen der Sozialgeschichte ■ Auf welche extratextuellen historischen Ereignisse wird referiert? ■ Weicht der Text von extratextuellen Daten ab, und wenn ja, wie werden diese Diskrepanzen im Text verarbeitet?

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Checkliste: Methodenschritte für Briefliteratur 1. Analyse des (Makro-)Textes und seiner Struktur ■ Was wird erzählt: Welche Themen hat der Text (Was wird erzählt, was wird nicht erzählt)? ■ Wie wird erzählt: Welche unterschiedlichen Erzählelemente und Erzähl‐ formen lassen sich im Text finden? Wie ist der Text organisiert (grobe Übersicht über die Struktur und Hinweise auf Muster innerhalb dieser Struktur)? 2. Analyse von Motiven, intertextuellen Dispositionen und kulturel‐ len Rahmen ■ Welche intertextuellen Dispositionen, kulturellen Rahmen und Motive begegnen im Text? ■ Wie manifestieren sie sich? Wie lassen sie sich wahrnehmen? ■ Lassen sich Präferenzen für bestimmte Texte, Motive oder Rahmen er‐ kennen? Nutzt der Text (verstärkt) Erfüllungszitate, bestimmte Formeln oder literarische Formen? ■ Welche Referenzrahmen werden aufgespannt? Werden eigene Traditio‐ nen entwickelt oder wird in vorliegende eingepasst? 3. Analyse der verschiedenen Welten im Text und ihrer Bezie‐ hung/ihren Verbindungen ■ Beschreibung der Welt der/des Absender/s: Welche Geschichte mit den Adressaten wird vorausgesetzt? Welche (gemeinsame) Glaubens‐ geschichte wird vorausgesetzt? 4. Analyse der Erzählinstanz, der Perspektivenstruktur und der leitenden Perspektive ■ Welche Perspektiven sind zu erkennen? Wie können sie unterschieden werden? ■ Gibt es eine leitende Perspektive? Wie ist sie organisiert und wie wird sie sichtbar? ■ Welche Pragmatik lässt der Text erkennen?

Konkrete Arbeitsschritte

5. Vergleich der Textwelt(en) mit den Welten außerhalb des Textes ■ Vergleich des Textes mit Ko- und Kontexten aus derselben Zeit/Epoche, historischen Daten und den Erkenntnissen der Sozialgeschichte ■ Auf welche extratextuellen historischen Ereignisse wird referiert? ■ Weicht der Text von extratextuellen Daten ab, und wenn ja, wie werden diese Diskrepanzen im Text verarbeitet?

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II Exemplarische Lektüren In den Kapiteln des zweiten Teils werden sechs Bücher des Neuen Tes‐ taments als Momentaufnahmen aus dem frühchristlichen Familienalbum betrachtet und analysiert. Das Vorgehen ähnelt dabei dem Blättern in einem fremden Familienalbum. Auch hier schaut man die Bilder genauer an, um einzuschätzen, wer darauf abgebildet ist und wo sie hingehören. Kleine Spuren in der Komposition und technischen Ausgestaltung ebenso wie in der Inszenierung helfen, (Familien-)Bilder zeitlich und örtlich zu kontextualisieren, aber auch ihrer Aussageabsicht nahezukommen, und ihre (womöglich unabsichtlichen) kleinen Fehler zu entdecken. Analoge Beob‐ achtungen lassen sich auch für die Familienbilder aus dem Neuen Testament machen, um die es bei den nun folgenden exemplarischen Lektüren geht.

Abb. II.1: Stilisierte neutestamentliche Familiengalerie

Für die exemplarischen Lektüren wurden verschiedene Textgattungen aus unterschiedlichen Generationen der Jesusnachfolger ausgewählt: die Briefe an die Galater und Kolosser, die Evangelien nach Markus und Lukas, die Apostelgeschichte und der Zweite Brief des Petrus. Das methodische Handwerkszeug, mit dem diese Texte analysiert werden, wurde im ersten Teil bereitgestellt und in I.7 konkretisiert. In diesem zweiten Teil wird nun anhand des jeweils vorliegenden bi‐ blischen Textes mit den Fragen und zugehörigen Methodenschritten aus I.7 gearbeitet. Bei den exemplarischen Lektüren werden nie alle der vor‐ gestellten möglichen Arbeitsschritte aus I.7 durchgeführt, sondern immer nur einzelne Aspekte betrachtet, um langsam ein besseres Verständnis für den Zugang und die einzelnen Methodenschritte zu bekommen und die praktische Arbeit mit ihnen einzuüben. Der Fokus liegt auf der Arbeit am Text und der gedächtnistheoretischen Auswertung der Textbeobachtungen. Sekundärliteratur wird in diesem Teil nur vereinzelt eingespielt, wenn sie die Textbeobachtungen in besonderer Weise ergänzt. Ziel ist, Sicherheit bei der eigenen Bibellektüre zu bekommen und die Beobachtungsfähigkeiten am Text zu trainieren. Für eine erste Orientierung über die Beispieltexte ist es vollkommen ausreichend, mit einer Übersetzung zu arbeiten. Die exemplarischen Lek‐ türen nutzen, wenn nicht anders angegeben, den Text der Revidierten Einheitsübersetzung. Der griechische Text wird eingespielt, wo es dem bes‐ seren Verständnis dient oder sich anhand des griechischen Texts besondere Beobachtungen machen lassen. Die Zitate aus dem biblischen Text sind jeweils kursiv gesetzt. Da es bei den exemplarischen Lektüren vor allem darum geht, ein Gefühl für die Texte zu bekommen und den Blick für Strukturen und Argumentationen, Perspektiven und Motive zu schärfen, wird theologisches Vokabular (z. B. christologisch, ekklesiologisch, soteriologisch) ebenso bewusst vermieden wie Überlegungen zum Textwachstum. Wer praktisch mitarbeiten und die eigene Lesekompetenz schärfen will, ist eingeladen, zuerst selbst das jeweilige biblische Buch zu lesen, die am Anfang des Kapitels angegebenen Arbeitsschritte durchzuführen und die eigenen Ergebnisse danach mit den Beobachtungen zu vergleichen.

II.1 Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater Der Galaterbrief spiegelt eine Auseinandersetzung um Familienidentität am Übergang vom sozialen zum kollektiven Gedächtnis. Neue Famili‐ enmitglieder stellen die Familienidentität und ihre Ausdrucksformen infrage, die nun innerhalb des gemeinsamen sozio-kulturellen und reli‐ giösen Bezugsrahmen ausgehandelt werden muss – mit offenem Ausgang. Beim Galaterbrief handelt es sich um einen Brief und damit um einen argumentativen Text, der jedoch auch narrative Passagen enthält, in denen Paulus seine eigene Geschichte und die gemeinsame Geschichte mit den Galatern erzählt. Worum es im Brief geht und ob es sich eher um ein Zeugnis des sozialen oder des kollektiven Gedächtnisses handelt, wird in diesem Kapitel anhand der folgenden Fragen erarbeitet: 1. Wie ist das Beziehungsverhältnis von Absender und Adressaten? Welche (gemeinsame) Geschichte wird erzählt? 2. Welches konkrete Problem wird im Brief behandelt? 3. Welche Perspektiven und Argumentationslinien lassen sich am Text erkennen und wie werden sie vermittelt? Findet eine argu‐ mentative Einordnung in bestehende kulturelle Rahmen statt oder werden neue Rahmen konstruiert? Diese Fragen werden nun im Einzelnen am Text bearbeitet. In einem vierten Schritt werden die Beobachtungen gebündelt und auf der Basis der Erkenntnisse zu Gedächtnis und Erinnerung aus Teil I ausgewertet.

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II.1  Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater

Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte Als Absender des Briefes stellt sich Paulus vor (1,1) und nennt alle Brüder (ἀδελφοί, adelphoi), die bei ihm sind, als Mitabsender (1,2). Der Brief richtet sich an die Gemeinden (ἐκκλησίαι, ekklēsiai) in Galatien (1,2). Die Adressaten sind ehemalige Heiden, die Paulus selbst zum Glauben an Christus geführt hat. Der Brief enthält jenseits des Wunsches, die Angelegenheit im persön‐ lichen Gespräch klären zu können (4,20), weder Besuchspläne noch Grüße an die Gemeinde. Lediglich der Schluss In Zukunft soll mir niemand mehr solche Schwierigkeiten bereiten (6,17) deutet darauf hin, dass Paulus und die Gemeinde irgendwie miteinander verbunden bleiben werden. Obwohl Paulus Mitabsender nennt, tauchen sie im Brief nicht eigens auf, auch wenn Paulus immer wieder einmal von „uns“ und „wir“ spricht. Diese Stellen verweisen allerdings nicht eindeutig auf die Absender. Vielmehr scheint es, als würde Paulus im ersten Briefteil (1–3) mit der ersten Person Plural Juden und jüdische Jesusnachfolger meinen, während die erste Person Plural im zweiten Teil (4–6) eher ihn und die Galater, mithin die heidnischen Jesusnachfolger, zu bezeichnen scheint. Paulus und die Galater kennen sich persönlich und gut. Paulus hat die galatischen Gemeinden selbst gegründet (1,8; 4,13f.19) und war in diesem Zusammenhang längere Zeit bei ihnen. In dieser Zeit war er offenbar von gesundheitlichen Problemen geplagt, was aber weder der Mission noch der guten Beziehung Abbruch getan hat. Im Gegenteil: Ihr wisst aber, dass ich euch in der Schwachheit des Fleisches das Evangelium damals verkündet habe, ihr aber habt auf meine Schwäche, die für euch eine Versuchung war, nicht mit Verachtung und Abscheu geantwortet, sondern mich wie einen Engel Gottes aufgenommen, wie Christus Jesus. Wo also ist eure Seligpreisung? Ich bezeuge euch: Wäre es möglich gewesen, ihr hättet euch die Augen ausgerissen, um sie mir zu geben (4,13–15).

Ob Paulus geplant hatte, die Galater zu missionieren oder nur gezwungen war, bei ihnen Station zu machen, geht aus dem Brief nicht hervor. In jedem Falle stieß er auf gastfreundliche Aufnahme und große Hilfsbereitschaft, was die Mission vereinfacht hat. Das Verhältnis scheint insgesamt persönlich und herzlich gewesen zu sein und dergestalt, dass es ein offenes Wort aushält (3,1; 6,17). Entsprechend direkt ist Paulus und spielt die eine oder andere Polemik ein (2,4; 5,12).

Der aktuelle Stand

Offenbar ist er ebenso besorgt wie wütend. Auch wenn der Galaterbrief nicht gerade ein Freundschaftsbrief ist, scheint das gute Verhältnis noch immer durch (4,20; 5,7). Die Galater werden weiterhin als Brüder und Schwestern (ἀδελφοί, adelphoi) angesprochen, insgesamt neun Mal in sechs Kapiteln. Der Verweis auf unseren Vater (1,3; vgl. 4,6) unterstreicht zusätzlich die Verbindung als Gleichgestellte und Glaubensgeschwister. Im Rückblick auf die gemeinsame Geschichte bei der Missionierung bezeichnet Paulus die Galater auch als meine Kinder (τέκνα μου, tekna mou), für die ich von Neuem Geburtswehen erleide (4,19) und bedient sich auch hier einer Familienmeta‐ pher. Die Vorstellung von Paulus als Elternteil für die Gemeinde bezieht sich allerdings nur auf die Christianisierung und konstituiert kein Autoritätsoder Abhängigkeitsverhältnis. Wenn der Duktus des Briefes Rückschlüsse auf die Beziehung und die Kommunikation zwischen Paulus und den Galatern zulässt, dann ist zu vermuten, dass er vor allem durch sein persönliches Zeugnis gewirkt hat und die Galater an seinem (Glaubens-)Leben hat teilhaben lassen. Die Beziehungsebene findet sich auch in der Argumentation des Briefes, wenn es zunächst nicht um inhaltliche Fragen geht, sondern um seine Beziehung zu den Galatern: Mit ich wundere mich (θαυμάζω, thaumazō, 1,6) setzt Paulus emotional ein und die Ausführungen über sein Leben vor und nach der Berufung transportieren unterschwellig auch die Botschaft: Ihr kennt mich doch besser als das, was da von mir erzählt wird. Dass die persönlichen Ausführungen unmittelbar der Argumentation dienstbar gemacht werden, erschließt sich jedoch erst später im Brief. Neben Paulus kennen die Galater offenbar auch Barnabas (2,13), der womöglich mit ihm gemeinsam unterwegs war. Wenn das zutrifft – und wir extratextuelles Wissen aus Apg 13–14 einspielen –, dürften Paulus und Barnabas die Gemeinde auf der ersten Missionsreise gegründet haben, was zum Zeitpunkt des Briefes gut 10 Jahre her sein dürfte. Der aktuelle Stand Schon zu Beginn wird klar, dass es ein theologisches Problem gibt und eine existenzielle Frage zur Diskussion steht (1,6–9). Doch worum es genau geht, erschließt sich erst viel später. In 4,21 spricht Paulus endlich Klartext: Sagt mir, die ihr euch dem Gesetz unterstellen wollt, habt ihr niemals das Gesetz gehört? Erst in den letzten Zeilen des Briefes, die Paulus nicht diktiert, sondern selbst

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II.1  Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater

schreibt (und ihnen so mehr Gewicht gibt), bringt er das Problem auf den Punkt und entlarvt es nicht als theologisches, sondern als politisches: Jene Leute, die im Fleisch nach Anerkennung streben, nötigen euch nur deshalb zur Beschneidung, damit sie wegen des Kreuzes Christi nicht verfolgt werden. Denn obwohl sie beschnitten sind, halten sie selbst das Gesetz nicht; dennoch dringen sie auf eure Beschneidung, damit sie sich eures Fleisches rühmen können (6,12–13).

Offensichtlich ist seit dem letzten Besuch des Paulus bei den Galatern einiges passiert. Die Gemeinden scheinen Besuch bekommen zu haben, und zwar von Vertretern der strikten hebräisch-judenchristlichen Gruppe, die Beschneidung und Gesetzestreue für nicht verhandelbare Voraussetzungen für die Jesusnach‐ folge halten – und zwar auch bei Heiden, die sich zu Jesus Christus bekehrt haben. Paulus fasst das im Brief so, als sei den Galatern durch die Besucher ein anderes Evangelium verkündet worden und sie seien im Begriff, vom paulinischen Evangelium abzufallen. Es klingt, als stünden einige Mitglieder der galatischen Gemeinden kurz vor der Beschneidung (1,6; 4,9.17.21; 5,4). Theologisch geht es um die Frage, ob Rettung (1,4) oder Rechtfertigung (2,16) durch Christus allein geschieht oder ob noch andere Elemente wie Beschneidung, Gesetzeserfüllung oder ethische Bewährung hinzukommen müssen, ohne die die Rettung unvollkommen oder gar unwirksam wäre. Doch das ist nicht alles. Die Antwort auf diese Frage hat auch Auswirkungen auf die Identität der galatischen Gemeinden, und zwar sowohl nach innen als auch nach außen. Wenn die Galater sich beschneiden lassen und dem Gesetz unterstellen, werden sie als heidnische Jesusnachfolger zu jüdischen Jesusnachfolgern, für die andere Regeln gelten. Nach außen hin wären sie als Synagogengemeinde wahrnehmbar, d. h. in den Augen ihrer Nachbarn, Freunde, Geschäftspartner und ihrer Verwaltung wären sie plötzlich keine Heiden mehr, sondern Juden. Das hat freilich auch eine politische Dimension und es liegt nahe, dass die Besucher der Galater eine eigene Agenda hatten, wie Paulus es auch ausdrückt: Sie nötigen euch nur deshalb zur Beschneidung, damit sie wegen des Kreuzes Christi nicht verfolgt werden (6,12). Wenn von Verfolgung die Rede sein kann, dann handelt es sich – auch hier muss man extratextuelles Wissen einspielen – nicht um Christenverfolgung durch römische Behörden, sondern um innerjüdische Auseinandersetzungen. Neben theologischen Differenzen, die einst auch Paulus selbst dazu bewogen hatten, die Jesusnachfolger zu verfolgen (1,13), gibt es auch einen ganz prakti‐ schen Grund. Solange die Jesusnachfolger gesetzestreu leben, unterscheiden sie sich nicht von Synagogengemeinden und gelten damit als Juden. Das heißt auch,

Der aktuelle Stand

dass zumindest die gewohnheitsrechtlichen Privilegien, die Juden im Römischen Reich genossen und die ihnen von den lokalen Verwaltungen immer wieder neu gegeben wurden, ebenfalls für die Gemeinden der Jesusnachfolger galten. Zwist zwischen den beiden Gruppen – Synagogengemeinden und Gemeinden von Jesusnachfolgern – konnte leicht zum Anlass größerer Verwerfungen werden, die dann auch die lokalen Machthaber auf den Plan riefen. Das bekannteste Beispiel ist das Claudius-Edikt (49 n. Chr.) mit dem Sueton zufolge der Kaiser auf einen Zwist zwischen römischen Juden und Jesusnachfolgern reagierte (Sueton. Claudius 25,4; vgl. Apg 18,2). Im Übrigen kamen die Privilegien auch Paulus selbst sehr gelegen. Die Kollekte für Jerusalem (2,10) kann er nur deshalb sicher quer durch die Provinzen des römischen Reiches an ihren Bestimmungsort transportieren, weil sie sich gewissermaßen als jüdische Tempelsteuer „tarnen“ lässt: Caesar und Augustus hatten den Juden ausdrücklich das Recht gewährt, Geld und Edelmetall aus der Diaspora nach Jerusalem zu transferieren. Paulus spielt hier also auch mit dem Vorwurf, dass es den Besuchern weniger um theologische Fragen – sprich: das Evangelium – als um ihre eigene Sicherheit gegangen sein könnte. Nichtsdestotrotz steht für ihn das Evangelium in seiner beschneidungsfreien Version auf dem Spiel, und da es sich dabei um seine Überzeugung und sein Lebensthema – oder besser: seine Identität – handelt, reagiert Paulus entsprechend gereizt. Das Problem und die Diskussion kommen ihm unangenehm bekannt vor: Das alles hat er einige Jahre zuvor bereits in Antiochia erlebt (2,11–14), nachdem er die Frage der Beschneidung und der gesetzesfreien Heidenmission bereits durch das Jerusalemer Treffen (2,1–10) geklärt sah. Wenn er dieses Treffen und die dortigen Vereinbarungen beschreibt, bedient Paulus sich mehrerer Autori‐ sierung- bzw. Absicherungsstrategien: a) Er ging aufgrund einer Offenbarung (ἀποκάλυψις, apokalypsis, 2,2; vgl. 1,13) nach Jerusalem, um sein Evangelium von den Jerusalemern absichern zu lassen, b) die Jerusalemer erkennen, dass Gott Paulus die Kraft (ἐνεργέω, energeō) zum Aposteldienst gegeben hat und die Gnade (χάρις, charis), die ihm verliehen ist (2,7–9), c) die Jerusalemer Säulen (Petrus, der Herrenbruder Jakobus und Johannes) geben ihm zum Zeichen der Gemeinschaft die Hand und d) auch sein heidnischer Begleiter Titus wird nicht mit Beschneidungsforderungen konfrontiert. Mit anderen Worten: Die Jerusalemer stimmen seiner beschneidungsfreien Version des Evangeliums, die bereits in Antiochia identitätsstiftend ist, zu.

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II.1  Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater

Autorisierung des gesetzesfreien Evangeliums beim Jerusalemer Treffen: ■ Paulus geht aufgrund einer Offenbarung nach Jerusalem. ■ Die Jerusalemer erkennen seinen Apostolat und seine Gnade an. ■ Die Jerusalemer Säulen (Jakobus, Petrus, Johannes) reichen Paulus die Hand. ■ Der Heide Titus wird nicht mit Beschneidungsforderungen konfrontiert. Dass es ganz so einfach dann doch nicht war, geht aus 2,1–14 hervor: Als Petrus sich in Antiochia aufhielt und dort ganz selbstverständlich mit den heidnischen Jesusnachfolgern am Tisch saß, kamen Leute aus dem gesetzesstrengen Kreis um den Herrenbruder Jakobus und waren not amused. Wenn Paulus in Gal 2,4 von falschen Brüdern schreibt, Eindringlinge, die sich eingeschlichen hatten, um die Freiheit, die wir in Christus haben, auszuspähen und uns zu versklaven, geht es um hebräisch-judenchristliche Jesusnachfolger, die auf Beschneidung und Gesetzestreue pochen – Identi‐ tätsmarker, die die Gemeinde in Antiochia längst hinter sich gelassen hat. Das Stichwort „versklaven“ (καταδουλόω, katadouloō), das Paulus an dieser Stelle für die Forderung, das Gesetz (die Tora) zu halten, benutzt, verwendet er in 5,1 wieder, wenn er die Galater davor warnt, sich erneut das Joch der Sklaverei (ζυγῷ δουλείας, zygō douleias) auferlegen zu lassen.

Abb. II.2: Identitätsmarker unterschiedlicher Gruppen im 1. Jahrhundert n. Chr.

Der aktuelle Stand

An dieser Stelle wird deutlich, dass sich nicht nur für die Galater etwas seit dem letzten Treffen mit Paulus verändert hat, sondern offenbar auch für Paulus selbst. Nicht nur, dass ihm das Evangelium für die Heiden anvertraut ist, er scheint sich selbst auch von der Erfüllung der Tora abzuwenden: Werdet wie ich, denn auch ich bin wie ihr geworden, ich bitte euch darum, Brüder und Schwestern (4,12), lässt sich einerseits so lesen, als würde Paulus die Galater dazu aufrufen, ihn nachzuahmen (werdet wie ich), und andererseits so, als würde Paulus selbst mittlerweile gesetzesfrei leben (denn auch ich bin wie ihr geworden). Mit seiner Abkehr vom Gesetz auf der Basis der Auslegung des Gesetzes hat Paulus sich in der Tat nicht nur weit von seinem früheren Selbst als Pharisäer entfernt, sondern auch von den hebräisch-judenchristlichen Wurzeln der Jesusnachfolge. Der Satz, den er Petrus ins Gesicht geschleudert haben will: Wir, die wir von Geburt Juden sind und nicht Sünder aus den Heiden, wissen, dass der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerecht wird, sondern aus dem Glauben an Jesus Christus; so sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gelangt, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Fleisch gerecht (2,15–16),

weist ebenso in diese Richtung wie der Abschluss seiner Argumentation zu Abraham in 3,27–28: Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.

Im Kreuz sieht Paulus das Gesetz überwunden, entsprechend hält auch er es nicht mehr und sieht für die Galater nur diesen Weg, wie er in aller Deutlichkeit festhält: Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen (5,2). Wir können also knapp festhalten: Paulus versucht in seinem Brief, die Galater davon zu überzeugen, den Argumenten ihrer Besucher, sich beschneiden zu lassen und dem Gesetz zu unterstellen, nicht nachzugeben, da sie damit ihre Identität als heidenchristliche Jesusnachfolger aufgeben und die Gemeinschaft mit ihm aufkündigen würden. Die Frage ist nun, wie er das macht.

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II.1  Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater

Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen Wenn man den Brief und die paulinische Argumentation verfolgt, erscheint es, als ob Paulus viel Raum brauche, um ein Autoritätsargument aufzubauen, was auch heißt, dass er seine Autorität erst begründen muss und sie nicht einfach hat. Anders formuliert: Die Rolle des Paulus muss angesichts der veränderten Situation, aber auch der gemeinsamen Geschichte neu gefüllt werden. Aus dem Glaubensbruder wird mit einem Male (wieder) der Glaubenslehrer, der stark beziehungsorientiert und von seiner eigenen Erfahrung her argumentiert. Das Verhältnis zwischen Paulus und den Galatern war vor dem Galater‐ brief persönlich und emotional: Paulus konnte durch seine Person, seine Erfahrung und die Beziehung zu den Galatern im persönlichen Gespräch wirken. Nun steht er vor dem Problem, dass ihm diese Ebene im Brief nicht so recht zur Verfügung steht, zumindest nicht so, wie er es von den Begegnungen mit den Galatern gewohnt war (Gal 4,20). Hinzu kommt, dass die Situation offenbar aufgeheizt ist und Paulus sich womöglich mit einer komplexen theologischen Argumentation konfrontiert sieht, auf die er reagieren muss. Um die Situation zu entschärfen, muss Paulus theologisch und grundsätzlich werden, und das heißt auch: mit Autorität auftreten. Das eigene Lebenszeugnis alleine reicht nicht aus, wenn es nicht mit Autorität aufgeladen wird. Entsprechend beginnt Paulus nicht mit der Argumentation selbst, son‐ dern nimmt sich erst einmal zwei Kapitel Zeit, seine eigene Person und Erfahrung zu autorisieren. Er beginnt damit, dass er nicht von Menschen oder durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und durch Gott, den Vater zum Apostel berufen wurde (1,1) und führt in 1,10–24 weiter aus, wie er das Evangelium durch eine Offenbarung Jesu Christi empfangen hat: Gott selbst hat in Paulus seinen Sohn offenbart, damit Paulus ihn unter den Völkern verkündet (1,11–16). Damit ist freilich noch nicht gesagt, wie genau seine Mission der Heiden aussehen wird. Zunächst wird bekräftigt, dass ihn Gott gesandt hat. Diese Sendung bekräftigten auch die Jerusalemer beim Jerusalemer Treffen (2,7–9), zu dem Paulus aufgrund einer Offenbarung (2,2) gegangen sein will. Die dreimalige Verwendung von Offenbarungsvokabu‐ lar (1,12.16; 2,6) und der Hinweis, dass die Jerusalemer erkennen, welche Gnade Paulus verliehen wurde (2,9), dienen seiner Legitimation und dem Aufbau der Autorität für den kommenden Argumentationsgang.

Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen

Abb. II.3: Unterschiedliche Autorisationsstrategien des Paulus bei den Galatern

Den konkreten Inhalt seiner Version des Evangeliums, die gesetzesfreie Heidenmission, führt Paulus erst danach ein, und zwar im Zusammenhang mit einem Zwischenfall in Antiochia, wo die Gemeinde bereits gesetzesfrei lebt. Aufhänger ist hier zwar nicht die Beschneidung, doch die Frage der Tischgemeinschaft geht in dieselbe Richtung. Als Petrus und Barnabas die Tischgemeinschaft mit den Heiden aufkündigen, will Paulus Petrus coram publico vorgehalten haben: Wir, die wir von Geburt Juden sind und nicht Sünder aus den Heiden, wissen, dass der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerecht wird, sondern durch die feste Beziehung zu Jesus Christus; 46 so sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gelangt, damit wir gerecht werden durch diese feste Beziehung zu Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Fleisch gerecht (2,15–16).

46

Vgl. Stefan Schreiber: Streitfall „Identity Markers“, in: Bibel und Kirche 71 (2016), 95–99, 98: „Gal 2,16 stellt eine scharfe Opposition auf: Die Basis der Gerechtsprechung bilden nicht mehr die ‚Werke des Gesetzes‘, sondern die ‚feste Beziehung mit Christus‘, so dass Paulus selbst ‚Vertrauen zu Christus Jesus gefasst hat‘. Den griechischen Ausdruck pistis Iesou Christou (meist übersetzt mit ‚Glaube an Christus‘) gebe ich, gemäß der Bedeutung des Wortes pistis (Vertrauen, Treue, Zuverlässigkeit innerhalb von Beziehungen, Überzeugung), als ‚feste Beziehung zu Jesus Christus‘ wieder, wobei die Gegenseitigkeit dieser Beziehung wichtig ist.“ (Hervorhebung im Original).

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II.1  Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater

Ob Paulus diesen Satz, der ganz hervorragend auch auf die Situation bei den Galatern passt, wirklich in Antiochia zu Petrus gesagt hat, ist unklar, doch er führt bestens die kommende Argumentation zusammen: Das Gesetz – und mit ihm die Beschneidung – hat für heidnische wie jüdische Jesusnachfolger seine Heilsbedeutung verloren. Im Grunde verfolgt Paulus im Galaterbrief eine doppelte Argumentations‐ strategie: Zum einen legitimiert er sein Evangelium von einer Offenbarung, also einem göttlichen Ursprung her, der von den Jerusalemer Autoritäten bestätigt wird, und zum anderen leitet er die Argumentation sekundär aus der Schrift her. Kurz: Am Anfang steht die Erfahrung, die Begründung wird später nachgereicht und reicht von der Intensität und der Sicherheit, die sie Paulus vermittelt, nicht an die Erfahrung selbst heran. Diese Erfahrung, dass Christus in ihm offenbart wurde (1,11.15–16) und er aus einer so festen Be‐ ziehung zu Christus lebt (2,16), dass Christus gleichsam in ihm lebt (2,20) und Paulus dadurch geradezu christusförmig geworden ist (5,17), wünscht er sich auch für die Galater (4,19). Doch lassen sich Gnade und Offenbarung nicht erzwingen, so muss das im Augenblick der Offenbarung als unverrückbar richtig Erkannte nachträglich noch aus der Schrift legitimiert und dadurch argumentativ abgesichert werden. Diese Argumentation liefert Paulus in Gal 3–5 nach. Auch hier setzt er bei der Erfahrung der Galater mit dem Geist an: Habt ihr den Geist durch die Werke des Gesetzes oder durch das Hören der Glaubensbotschaft empfangen? (3,2) und: Warum gibt euch denn Gott den Geist und bewirkt Machttaten unter euch? Aus Werken des Gesetzes oder aus dem Hören der Glaubensbotschaft? (3,5). Diese Erfahrung der Galater verknüpft Paulus mit der Erfahrung Abrahams und nutzt die Schrift als kulturellen Referenzrahmen, in den er die Galater quasi einschreibt (So auch bei Abraham, 3,6). Paulus sichert seine Argumentation durch allerlei Schriftzitate aus der Tora und den Propheten ab und spielt zusätzlich mit dem Testament (3,15) noch eine Analogie aus der profanen Rechtspraxis ein. Dabei modifiziert er den Referenzrahmen an einer entscheidenden Stelle: Der in Gen 13,15; 17,8 und 24,7 verheißene Nachkomme Abrahams ist nicht Isaak, sondern Christus (3,16), wobei Paulus zugutekommt, dass das hebräische Wort zæra‘ (= Samen/Nachkommenschaft) zwar im Singular steht, de facto aber als singulare tantum verwendet wird, weshalb in der Seputaginta auch ebenfalls ein Singular steht und aus deinen Nachkommen tatsächlich dein Nachkomme (τω σπερματί σου, tō spermati sou, eigentlich: deine Nachkommenschaft) werden kann. Paulus

Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen

begeht hier im Grunde einen grammatikalischen Fehlschluss, wenn er aus der Nachkommenschaft ein einziges Samenkorn macht. Diese bewusste Veränderung des Referenzrahmens braucht Paulus jedoch, um die zeitlich begrenzte Funktion des Gesetzes als Erzieher auf Christus hin (3,24) plausibel zu machen. Danach landet er wieder sicher bei der Erfahrung der Galater: Durch ihre Taufe sind sie selbst mit Christus eins geworden und erleben die Überwindung aller trennenden Hindernisse, aller ethnischen und sozialen Schranken: Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus (3,27–28).

Mit der Hagar-Sara-Allegorie (4,21–31) nimmt Paulus ein zweites Mal Bezug auf den kulturellen Referenzrahmen Schrift, den er hier „Gesetz“ nennt, um die Galater daran zu erinnern, dass sie selbst als Heiden das Gesetz nicht kennen: Sagt mir, die ihr euch dem Gesetz unterstellen wollt, habt ihr niemals das Gesetz gehört? Es steht doch geschrieben… (4,21–22). Die nun folgende Allegorie biegt sich indessen den Referenzrahmen ordentlich zurecht. Dass Hagar für den Bundeschluss am Sinai – und damit für die Sklaverei des Gesetzes – steht (4,24–25), ist in der Schrift nirgends zu finden, auch nicht sinnbildlich. Ebenso wenig hat Ismael Isaak verfolgt (4,29), doch Paulus braucht diesen Kunstgriff, um die Galater Kinder der Verheißung wie Isaak (4,28) zu nennen und gleichzeitig auszusagen, dass die Nachkommen Isaaks als Kinder der Freien auch vom Gesetz frei sind. Dies alles wird der Argumentation dienstbar gemacht und direkt auf die Galater angewendet: Ihr, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, seid von Christus getrennt; ihr seid aus der Gnade (χάρις, charis; vgl. 2,9) herausgefallen (5,4). Die Lösung ist ganz einfach: in Christus Jesus vermag weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt (5,6). Damit lässt sich dann doch noch das Gesetz erfüllen: das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! (5,14). In diesem Geist sollen die Galater nun wandeln, unbeschnitten, aber voller Liebe zu den Nächsten und so das Gesetz Christi (τὸν νόμον τοῦ χριστου, ton nomon tou christou; 6,2) erfüllen. Wer also partout nicht gesetzesfrei leben will, ist eingeladen, sich dem Gesetz Christi zu unterstellen, allerdings ohne Beschneidung, die mit „dem Fleisch“ gleichgesetzt und „dem Geist“ gegenübergestellt wird.

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II.1  Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater

Hier angekommen, holt Paulus die Galater wieder ab und erinnert sie an die gemeinsame Geschichte: Ich sage euch voraus, wie ich es früher vorausgesagt habe (5,21). Die Tonlage ändert sich, und Paulus geht wieder auf die Beziehungsebene zurück, wo er sich auf Augenhöhe mit den Galatern sieht: Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im Geist wandeln! Lasst uns nicht prahlen, nicht einander herausfordern und einander nicht beneiden! (5,25–26)

und Lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun; denn wenn wir darin nicht nachlassen, werden wir ernten, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Deshalb lasst uns, solange wir Zeit haben, allen Menschen Gutes tun, besonders aber den Glaubensgenossen (6,9–10).

Im Schlussteil ist Paulus wieder auf Augenhöhe mit den Galatern angekom‐ men und guter Hoffnung, dass sie sich aufgrund ihrer eigenen Glaubensge‐ schichte und ihrer Erfahrung mit ihm auch seiner Argumentation anschlie‐ ßen werden. Welche politische Agenda der Besucher er vermutet, schreibt er dann fast schon theatralisch eigenhändig. Analog zum unterschwelligen Ihr kennt mich doch besser ist hier ein Ihr habt es wahrscheinlich schon geahnt zu vernehmen. Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung Wenn wir nach dieser intensiven Arbeit am Text einen Schritt zurück‐ treten und die Erkenntnisse zu Familiengeschichten und Familienalben heranziehen, wird das, was im Galaterbrief geschieht, noch einmal anders verständlich. Im Gesamt des Neuen Testaments ist der Galaterbrief eine Moment‐ aufnahme frühchristlicher Identitätsbildung und erzählt davon, wie neu Hinzukommende eine Familie herausfordern. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Wie stark müssen die neu Hinzukommenden die Identitätsmarker der Familie übernehmen, um echte Familienmitglieder zu werden? Ist eine völlige Anpassung nötig oder können sie zumindest einzelne Aspekte ihrer eigenen Identität behalten? Diese Frage stellt sich auf zwei Seiten, für die Familie ebenso wie für diejenigen, die zu einer Familie hinzukommen. Das Verbindende in der

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

neuen Familie der Jesusnachfolger ist der Glaube: die Rettung durch die feste Beziehung zu Christus. Sie verbindet alle Familienmitglieder. Für die neu hinzukommenden heidnischen Familienmitglieder stellt sich die Frage, wie die feste Beziehung zu Christus sich abbilden kann, sprich: wie erkennbar wird, dass sie (vollwertige) Familienmitglieder sind. Die klar abgegrenzte Gruppenidentität der jüdischen Jesusnachfolger mit ihrer klaren Symbolsprache und ihren Identitätsmarkern Beschneidung, Speise‐ gebote und Torabefolgung könnten dabei ebenso attraktiv gewesen sein wie die Privilegien, die Synagogengemeinden besaßen. Die feste Beziehung zu Christus, die Taufe und der Geistbesitz allein könnten als Identitätsmarker weniger attraktiv gewesen sein, da sie nach außen deutlich schlechter sichtbar sind. Auch für die Familie stellt sich die Frage, wie die neu Hinzukommenden am besten integriert werden können. Es erscheint einfach, ihnen die gleichen Regeln aufzuerlegen, die die Familie bereits hat und die sie nach außen sichtbar als Familie konstituieren. Dabei ist allerdings auch zu bedenken, dass sich die Familie ohnehin schon stark verändert hat: Hellenistische, sprich: griechischsprachige Familienmitglieder haben sich längst von dem Gedanken verabschiedet, dass die Neuen ihnen in allem gleich werden müssen, da sie in Christus eine Grenzen überschreitende Erfahrung gemacht haben. Auf der Basis dieser Erfahrung argumentiert Paulus und sie fördert einen Familienzwist über die Familienidentität, der sich über ein größeres Gebiet erstreckt und von der Familie als existentiell wahrgenommen wird. Die Argumentation in diesem Familienstreit verläuft entlang der familiär akzeptierten Linien, also innerhalb des sozialen Gedächtnisses. Dabei ist die Schrift als Referenzrahmen ebenso erlaubt wie der Verweis auf Offen‐ barungen. Paulus fungiert hier gewissermaßen als Brennglas: Er hat eine mystische Erfahrung gemacht, in der Gott in ihm seinen Sohn geoffenbart und das Evangelium für die Heiden anvertraut hat, von der allein her er aber in seinem Brief – und innerhalb der Familie – nicht argumentieren kann, weil seine Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes den Rahmen sprengt.47 Offenkundig reicht bei einer so entscheidenden Frage der Rekurs auf eine

47

Die gleiche Konstellation findet sich – im Übrigen zum gleichen Thema – in Apg 10–11: Hier ist es Petrus, der nach seiner Vision den Jerusalemern Rede und Antwort stehen muss. Auch bei ihm reicht die Vision alleine nicht aus, sondern der Rekurs auf ein Herrenwort löst den Konflikt.

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II.1  Von eigenen Erfahrungen erzählen: Der Brief an die Galater

göttliche Offenbarung nicht aus, zumindest dann nicht, wenn sie nicht aus dem sozialen Gedächtnis der Gruppe – hier der Schrift – in Einklang gebracht werden kann. Diesen Schritt sehen wir im Galaterbrief: Paulus ist weit davon entfernt seine jüdische Identität aufzugeben, sondern versucht vielmehr, die Er‐ kenntnis, die ihm in der Offenbarung zuteilgeworden ist und die nun zu seiner gelebten Erfahrung gehört, aus dem Referenzrahmen her zu begründen. Der Brief zeigt, wie stark er dabei an seine Grenzen stößt, wenn er sich die Schrift an mehreren Stellen so zurechtlegen muss, dass sie zu seiner Argumentation passt. Im Großen und Ganzen argumentiert Paulus auf der Basis der Schrift gegen das Gesetz, das in Christus für Heiden überwunden ist. Wir sehen hier auch, wie eine Gruppe mit ihrem eigenen kulturellen Bezugsrahmen hadert. Inkulturation, um ein modernes Wort zu bemühen, das hier aber passt, weil es sich nicht um Einzelne, sondern eine größere Gruppe handelt, stellt auch Anfragen an die aufnehmende Gruppe und ihre Selbstverständlichkeiten. Durch das Kreuz und die Auferstehung Jesu Christi ist eine neue Situation eingetreten, die die Gruppe herausfordert; heidnische Jesusnachfolger verschärfen die Krisensituation noch. Man könnte auch sagen: Wir sehen beim Galaterbrief ein Zeugnis aus der späten Zeit des sozialen Gedächtnisses am Übergang zum kollek‐ tiven Gedächtnis. Einerseits spielt die Verortung der eigenen Situation und Erfahrung innerhalb vorgegebener sozio-kultureller Rahmen noch eine Rolle und Identitätsbildung geschieht – zumindest im Hinblick auf Paulus und die Galater – noch durch das Aufrufen von Einzelepisoden der (gemeinsamen) Vergangenheit. Andererseits wird deutlich, dass die Erinnerungsgemeinschaft nun viel größer ist und die Bezugsgruppe nicht mehr die Galater allein, sondern eine Gemeinschaft von Christusgläubigen ist, in der sich nicht mehr alle persönlich kennen. In der Argumentation ruft Paulus die Vergangenheit und die kulturellen Referenzrahmen sehr bewusst auf und sein Umgang mit dem Gesetz und der Abrahamtradition bewegt sich auf eine so starke Veränderung der Referenzrahmen und Identitätsmarker zu, dass sich zumindest von Ansätzen zur Konstitution neuer Rahmen sprechen lässt.

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

Soziales Gedächtnis

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Kollektives Gedächtnis

Emotionale Ladung (abhängig von den Trägern)

Prägnante Gestaltung (abhängig von der Funktion)

Nicht‐intentionale Beschäftigung mit der Vergangenheit,  Vergangenheitskonstruktion en passant

Die Vergangenheit wird bewusst aufgerufen und geformt

Verortung der eigenen Situation und Erfahrung in innerhalb  vorgegebener sozio‐kultureller Rahmen  Identitätsbildung durch Aufrufen einzelner Episoden  (Vergegenwärtigung durch Erzählen), diskursive Verfertigung  von Identität

Betrifft die unmittelbare Vergangenheit (recent past),  mitwandernder Zeithorizont von drei bis vier Generationen

Erinnerungsgemeinschaften, eher größer als Familien, nicht  jedes Mitglied muss alle anderen Mitglieder kennen 

Verfertigung einer Gesamtnarration in einem spezifischen  Medium, in der sich eine Perspektive durchsetzt, zeitliche  Entfristung durch Verortung von Einzelepisoden in größerem  Rahmen: (Re‐)Kontextualisierung/ (Re‐)Historisierung in der  und durch die Gesamtnarration, beginnende Etablierung einer  gemeinsamen Geschichte („Gründungsmythos“) Verfertigung neuer Rahmen für künftige Interpretationen und  Identitätskonstruktionen 

FLOATING GAP NACH ETWA ACHTZIG BIS EINHUNDERT JAHREN

Diskursive Verfertigung von Einzelepisoden, bei denen  unterschiedliche Perspektiven nebeneinanderstehen können,  keine chronologische Anordnung der Episoden  („Familiengedächtnis“), die Organisationsprinzipien für  Narrative sind sozial vermittelt

GENERATIONENSCHWELLE NACH ETWA DREIßIG BIS FÜNFZIG JAHREN

Betrifft die Gegenwart oder unmittelbare Vergangenheit  (recent past), Zeit der Zeitzeugen (löst sich mit dem Weggang  oder Tod der Träger auf) Kleine soziale Gruppen wie Familien oder Peergroups, die den  Rahmen für individuelle Erinnerung liefern, lebendiger  Erfahrungsschatz einer Gruppe, multiperspektivisch,  inoffiziell/ nicht institutionalisiert, dadurch alltäglich,  diskursiv, episodisch, zeitlich befristet

Identitätsbildung durch Annahme und „Einschreibung“ in die  Gesamtnarration, z.B. durch Teilhabe an Riten, Festen,  Gedenktagen oder Vollzügen wie gemeinsamen Mählern

Abb. II.4: Spuren von sozialem und kollektivem Gedächtnis im Galaterbrief (vgl. Abb. III.7)

Das Plädoyer des Galaterbriefs für die gesetzesfreie Heidenmission und (implizit) die Aufgabe des Gesetzes insgesamt kann als Versuch gelesen werden, die neue Situation im alten Rahmen zu verorten. Auch wenn es im Galaterbrief nirgends so ausgeführt wird, könnte die Formel Aufgabe des Gesetzes unter Beibehaltung der Verheißungen der Schrift der Lösungs‐ versuch gewesen sein. Gedächtnistheoretisch formuliert werden dabei die nicht mehr praktikablen Rituale und Regelungen aufgegeben und aus dem Funktionsgedächtnis in das Speichergedächtnis verschoben. Paulus sieht Beschneidung und Gesetz als zentrales Merkmal jüdischer Identität – allerdings nur so lange, bis er mit dem Evangelium konfrontiert wurde. Die spannende Frage, wie sich die Situation mit den Galatern weiterent‐ wickelt hat, lässt sich auf der Basis des Galaterbriefs nicht beantworten. Er ist eben nicht mehr als eine Momentaufnahme. Wenn man andere Texte des Neuen Testaments hinzuzieht, wird klar, dass die existenzbedrohende Frage, welche Identitätsmarker die Familie hat, schlussendlich im Sinne des Paulus gelöst wurde und sich im Laufe der Zeit eigene christliche Referenzrahmen entwickelten, zu denen die Schrift und ihre Verheißungen dazugehören. Vom Galaterbrief lässt sich auch lernen, welche Herausforderung eine Erfahrung darstellt, die nicht in den eigenen Referenzrahmen passt, und wie soziale Aushandlungsprozesse in einem solchen Fall aussehen können.

II.2 Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser Der Kolosserbrief zeigt exemplarisch, wie eine nachgestellte Familienauf‐ nahme aus späterer Zeit, die eine frühere Generation abbildet, in einem Familienalbum den Eindruck einer ungebrochenen Familientradition suggerieren kann und dadurch Kontinuität herstellt, die der jetzigen Generation in ihren aktuellen Fragen Sicherheit gibt. Beim Kolosserbrief handelt es sich ebenfalls um einen Brief und damit um einen argumentativen Text. In ihm wendet sich Paulus an die Heiligen in Kolossä, teilt ihnen etwas über sich selbst und über sie mit und gibt ihnen angesichts einer konkreten Bedrohung Verhaltensregeln für ein christliches Leben. Worum es in diesem Schreiben genauer geht und ob es sich eher um ein Zeugnis des sozialen oder des kollektiven Gedächtnisses handelt, wird in diesem Kapitel anhand der folgenden Fragen erarbeitet: 1. Wie ist das Beziehungsverhältnis von Absender und Adressaten? Welche (gemeinsame) Geschichte wird erzählt? 2. Welches konkrete Problem wird im Brief behandelt? 3. Welche Perspektiven und Argumentationslinien lassen sich am Text erkennen und wie werden sie vermittelt? Findet eine argu‐ mentative Einordnung in bestehende kulturelle Rahmen statt oder werden neue Rahmen konstruiert? 4. Sind im Text Inkongruenzen festzustellen? 5. Abgleich der Inkongruenzen mit biblischen Texten und Sekundär‐ literatur Diese Arbeitsschritte werden nun im Einzelnen am Text bearbeitet. Nach dem Abgleich der Beobachtungen mit Vergleichstexten und Ansätzen aus der Sekundärliteratur werden die Erkenntnisse gebündelt und gedächtnis‐ theoretisch ausgewertet. Da für den Kolosserbrief mehr Arbeitsschritte vorgesehen sind als für den Galaterbrief, werden die Beobachtungen weni‐ ger detailliert dargestellt.

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II.2  Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser

Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte Als Absender des Briefes stellen sich Paulus und Timotheus vor. Adressiert ist er an die Heiligen in Kolossä, die Brüder und Schwestern (ἀδελφοί, adelphoi), die an Christus glauben.48 Der Brief stellt sich also als Paulusbrief vor und will aus einer Situation der Gefangenschaft heraus verfasst sein: Wie spät im Brief zu erfahren ist, liegt der Apostel in Fesseln (4,3.10.18). Zuvor ist bereits vom Leiden des Apostels (1,24) und von seinem schweren Kampf die Rede, den ich für euch und die Gläubigen in Laodikeia zu bestehen habe, auch für alle anderen, die mich von Angesicht nie gesehen haben (2,1). Damit ist auch geklärt, dass sich Absender und Adressaten nicht persönlich kennen. Der Brief erzählt, dass Paulus (und sein Begleiter) von den Geschwistern in Kolossä und ihrem Glauben gehört haben (1,4.9). Aus 1,7 geht hervor, dass Paulus nähere Nachrichten über die Gruppe von Epaphras erhalten hat, der die Kolosser zum Glauben an Christus geführt hat und damit das Apostelamt an Pauli Stelle ausfüllt: So habt ihr es von Epaphras, unserm geliebten Mitknecht, gelernt. Er ist an unserer Stelle ein treuer Diener Christi und er hat uns auch von der Liebe berichtet, die der Geist in euch bewirkt hat. Epaphras begegnet am Ende des Briefes auf der Grußliste noch einmal als Knecht Christi Jesu, einer von euch (4,12) und Paulus fügt hinzu: Immer kämpft er für euch im Gebet, dass ihr vollkommen werdet und ganz durchdrungen seid vom Willen Gottes. Ich bezeuge ihm, dass er sich große Mühe gibt um euch und um die Gläubigen in Laodikeia und Hiërapolis (4,12–13). Epaphras bemüht sich oder „kämpft“ demzufolge im Gebet für die Jesusnachfolger in Kolossä und die benachbarten Städte Laodikeia und Hiërapolis. Das wirft zum einen ein Licht auf den schweren Kampf des Paulus für euch und die Gläubigen in Laodikeia (2,1), der dadurch zum Ringen im Gebet wird, und zum anderen wird deutlich, dass die Heiligen in Kolossä in einem Netzwerk von anderen Gruppen von Jesusnachfolgern gesehen werden. In 4,15–16 werden die Brüder in Laodikeia, auch Nympha und die Gemeinde in 48

Die sprachliche Gestalt von Kol 1,2 lässt mehrere Übersetzungsmöglichkeiten zu. So kann der Brief an die heiligen und gläubigen Brüder in Christus, die in Kolossä sind (RevEÜ), an die heiligen Brüder in Kolossä, die an Christus glauben (EÜ) oder an die Heiligen in Kolossä, die Brüder und Schwestern, die an Christus glauben (RevLut) adressiert sein. Da die Heiligen im Text mehrfach wiederbegegnen, wird hier diese Version verwendet.

Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte

ihrem Haus gegrüßt und Paulus schreibt weiter: und wenn der Brief bei euch vorgelesen worden ist, sorgt dafür, dass er auch in der Gemeinde von Laodikeia vorgelesen wird und dass ihr auch den aus Laodikeia lest. Im Verbund mit den Grüßen an Archippus (4,17) entsteht der Eindruck eines lebendigen Austauschs zwischen den Gruppen, zu dem auch der Austausch von Briefen gehört. Insgesamt ist die Beziehung zwischen Paulus und den Kolossern lose und eher einseitig. Der Brief setzt voraus, dass die Adressaten wissen, wer Paulus ist, und nennt mit Epaphras und Onesimus, die aus Kolossä stammen sollen, gemeinsame Bekannte. Eine Vertiefung der persönlichen Beziehungen oder ein Besuch des Apostels sind nicht vorgesehen. Auch stellt Paulus sich nicht noch einmal vor, sondern geht im Brief direkt in die Argumentation über. Nach dem Brief geht der Kontakt in andere Hände über: Was mich betrifft, wird euch Tychikus, der geliebte Bruder und treue Diener und Mitknecht im Herrn, alles berichten. Ihn habe ich eigens zu euch gesandt, damit ihr alles über uns erfahrt und er eure Herzen ermutige. Er kommt mit Onesimus, dem treuen und geliebten Bruder, der ja einer von euch ist. Sie werden euch über alles berichten, was hier vor sich geht (4,7–9).

Tychikus, („der Glückliche“) wird mit Onesimus allerdings nicht zu den Kolossern gesandt, damit sie Paulus bei ihrer Rückkehr von den Kolossern berichten können, sondern er bringt, ganz im Gegenteil, den Kolossern weitere Anweisungen. Nicht Paulus will sich also durch den Besuch seiner Mitarbeiter ein Bild von der Gemeinde machen, sondern die Gemeinde soll sich durch den Brief und den angekündigten Besuch seiner Gesandten ein Bild von ihm machen. Dadurch wirkt Paulus merkwürdig weit weg und entrückt. Dieser Eindruck verstärkt sich bei der Lektüre des Briefes: Denn wenn ich auch leiblich fern von euch bin, im Geist bin ich doch bei euch. Mit Freude sehe ich, wie fest und geordnet euer Glaube an Christus ist (2,5). Ganz offensichtlich ist der Apostel abwesend und es stellt sich schon die Frage, wie er „sieht“, dass der Glaube der Kolosser so fest und geordnet ist – und warum er überhaupt zur Feder greift, wenn doch alles scheinbar in bester Ordnung ist.

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II.2  Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser

Der aktuelle Stand Paulus und Timotheus haben Kunde von den Kolossern bekommen: Wir haben von eurem Glauben in Christus Jesus gehört und von der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt wegen der Hoffnung, die für euch im Himmel bereitliegt (1,4–5). Die Hinweise auf die Liebe zu den Heiligen und die Hoffnung, die im Himmel bereitliegt, erschließen sich nicht direkt, wenngleich die Kolosser zu Beginn selbst als Heilige gegrüßt werden und nicht als Ekklesia (ἐκκλησία, ekklēsia; vgl. 4,15). Inwiefern es hier eine Verbindung gibt, erschließt sich erst später im Brief. Ferner haben die Absender viel Gutes über die Adressaten zu vermelden: Das Evangelium ist zu ihnen gekommen, und wie in der ganzen Welt, so trägt es auch bei euch Frucht und wächst seit dem Tag, an dem ihr den Ruf der göttlichen Gnade vernommen und in Wahrheit erkannt habt. (1,6). Allerdings, so könnte man sagen, ist dabei noch deutlich Luft nach oben, deshalb kommen die Absender auch rasch zum Punkt: Ihr sollt ein Leben führen, das des Herrn würdig ist und in allem sein Gefallen findet. Ihr sollt Frucht bringen in jeder Art von guten Werken und wachsen in der Erkenntnis Gottes (1,10). Das Problem scheint zu sein, dass die Adressaten das Evangelium zwar angenommen haben, aber irgendetwas noch nicht stimmt. Die Kolosser sind Neubekehrte, offensichtlich heidnischer Provenienz, die sich von den Elementarmächten49 zum Glauben an Christus bekehrt haben (2,20). Die Schwierigkeiten, mit denen sie kämpfen, sind allerdings völlig andere als bei den Galatern. Weder Beschneidung noch Tischgemein‐ schaft stehen als Themen im Raum, sondern eine nicht näher definierte Philosophie und leerer Trug […], die sich nur auf menschliche Überlieferungen stützen und sich auf die Elementarmächte berufen (2,8). Anders formuliert: Es gibt offenbar ein verführerisches Alternativ- oder Ergänzungsangebot zum Christusglauben, das die Kolosser beschäftigt. Wie genau es aussieht, darüber äußert sich der Brief nur vage. Aus 2,8–23 lässt sich vorsichtig schließen, dass es um eine spezielle Art der Verehrung von Engeln – himm‐ lischen Gestalten – geht und möglicherweise Visionen, die den Initiierten zuteilwerden (2,18), die sich in einer speziellen Form von Frömmigkeit und Askese üben (2,16.20–23).

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Als Elementarmächte gelten die Divinisierungen der Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft.

Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen

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Selbstverständnis der Christusgläubigen

„Kolossische Philosophie“

 Heil durch Christusglauben und Taufe  Durch die Taufe sind die Gläubigen mit Christus begraben und mit ihm auferstanden, haben ein neues Leben als Heilige und Teil des kosmischen Leibes Christi und sind damit den Himmelsbewohnern gleichgestellt.

 Christusglauben und Taufe sind nur der erste Schritt zum Heil, das nicht sicher ist, da der Kosmos noch zerbrechen könnte.  Um sicher zu sein, braucht es zusätzliche Frömmigkeitskomponenten wie die Verehrung von Himmelsbewohnern (Engeln) und bestimmte Formen von Askese.

 Heilsgewissheit durch Erlösungshandeln in Christus.

Gottes

 Aufgabe der Christusgläubigen ist es, sich der neuen Identität gemäß zu verhalten, das Irdische hinter sich zu lassen und sich am Himmlischen zu orientieren.

widerspricht sich

 Heilsgewissheit durch Visionen, die den Initiierten zuteil werden.  Nur die Befolgung der zusätzlichen Regeln, die aus der heidnischen Vergangenheit bekannt sind, kann die eine wirkliche Heilssicherheit gewährleisten.

Abb. II.5: Selbstverständnis der Christusgläubigen und „Kolossische Philosophie“

Viel genauer wird es nicht. Paulus hat entweder so genaue Informationen, dass die Adressaten auch mit diesen Versatzstücken verstehen, worum es geht, oder der Text bleibt an dieser Stelle bewusst vage und offen. Die Bedrohung der Kolosser erscheint für spätere Leser reichlich diffus. Eines ist jedoch glasklar: Die Kolosser scheinen mit einem Angebot konfrontiert zu sein, das das Evangelium als nicht ausreichend darstellt, anders lässt sich die Argumentation des Paulus nicht erklären. Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen Insgesamt ist zu vermerken, dass Paulus im Kolosserbrief nicht beziehungs‐ orientiert, sondern rein inhaltlich argumentiert und der Text durch das Einspielen von anderen Textgattungen wie dem hymnischen Lobpreis (1,15– 20) und der Haustafel (3,18–4,1), die in die Argumentation eingebaut werden, strukturiert und komponiert ist. Ebenfalls auffällig ist das kosmologische Vokabular, das Himmel/Himm‐ lisches und die Elementarmächte/Irdisches einander gegenüberstellt. Im Hymnus (1,15–20) stellt Paulus den Kolossern einen kosmischen Christus (1,18.20) vor Augen und skizziert das Heilshandeln von dort her: Der Auferstandene, der nun zur Rechten Gottes sitzt (3,1), ist der Mittler der Schöpfung (und mithin auch alles Irdischen) und das Haupt der Ekklesia, die sein Leib ist (1,18), in dem Gott mit seiner Fülle wohnen will. Durch

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II.2  Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser

seinen Kreuzestod hat er alle Schuld (1,20) – auch die, die Kolosser als Heiden auf sich geladen hatten (1,22) – getilgt und ihnen so den Weg zum Heil in seinem ekklesialen Leib, dessen Teil sie werden und so auch die Fülle Gottes erfahren können, eröffnet. Durch die Taufe sind die Jesusnachfolger – und damit auch die Kolosser – mit Christus begraben und mit ihm auferstanden (2,12; 3,3). Sie sind nun Teil des Leibes Christi, der Ekklesia, und leben als Erlöste bereits in der Endzeit. Kurz gesagt: Paulus versichert den Kolossern, dass alles Heilsrelevante bereits geschehen ist und es nun gilt, dass sie sich diesem Status entsprechend verhalten: Ihr habt also Christus Jesus als Herrn angenommen. Darum führt auch, wie es ihm entspricht, euren Lebenswandel! Bleibt in ihm verwurzelt und auf ihn gegründet, gefestigt durch den Glauben, in dem ihr unterrichtet wurdet! Seid voller Dankbarkeit (2,6–7).

Es braucht nichts weiter – und genau das scheint der springende Punkt zu sein. Insgesamt fällt ebenfalls ein geradezu dualistisches Denken auf, das zwischen Irdischem (Bereich der Weltmächte) und Himmlischem (Christus und die Heiligen) unterscheidet: Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so strebt nach dem, was oben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt! Richtet euren Sinn auf das, was oben ist, nicht auf das Irdische (3,1–2).

Die antithetische Gegenüberstellung ergibt sich daraus, dass das Alternativoder Ergänzungsangebot von der Angst vor dem Zerbrechen des Kosmos geleitet ist und Christus alleine eben nicht genügt: Zusätzlich sollen andere vermeintliche Mächte wie die Elemente der Welt (Elementarmächte; 2,8.20) verehrt werden. Auch der besondere Dienst an Engeln (2,18) scheint heils‐ relevant zu sein. Dem begegnet Paulus durch eine strikte Trennung der Bereiche und eine negative Sicht auf das Irdische, sogar Aufforderung zum Töten dessen, was irdisch an euch ist (3,5). Das sich wiederholende Thema ist, dass alles Heilsrelevante bereits geschehen ist und sich die Kolosser nur noch demgemäß verhalten müssen:

Irritationen und Inkongruenzen

Ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und habt den neuen Menschen angezogen, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen (3,9–10).

Damit sind die Kolosser in die Universalität der Gemeinschaft der Christus‐ nachfolger (1,20) hineingenommen, die sich in der Ekklesia als Leib Christi (1,18; 3,15–17) materialisiert. Wenn sie den alten Lebenswandel (3,5–8) abgelegt, die trennenden Differenzen überwunden (3,11) und die neuen Gewänder als Erwählte Gottes, Heilige und Geliebte (3,12) angelegt haben, gelten für ihr Zusammenleben als Glieder des Leibes Christi klare Regeln, die Paulus den Kolossern als Haustafel (3,18–4,1) kommuniziert. Wenn wir festhalten, welche Quellen und kulturellen Referenzrahmen im Text erscheinen, wird deutlich, dass es sich hauptsächlich um eine Fehl‐ anzeige handelt. Weder die Schrift noch andere jüdische Referenzrahmen werden eingespielt. Lediglich die Beschneidung (2,11), Sabbate, Neumonde und Feste (2,16) tauchen auf, sowie zeitweilige Tabus im Rahmen einer freiwilligen Frömmigkeit und Unterwürfigkeit (2,23): Berühre das nicht, iss das nicht, fass das nicht an (2,21), die sich nicht unbedingt auf die jüdischen Speise- und Reinheitsgebote zurückführen lassen. Ebenfalls vergeblich sucht man nach Herrenworten, die zur Argumentation oder Autorisierung heran‐ gezogen werden. Was wir hingegen finden, ist ein christlicher Bezugsrahmen, der nicht argumentativ hergeleitet, sondern lediglich weiterkommuniziert und damit eingeführt wird. Selbst für den Hymnus und die Haustafel, die sicher nicht eigens für diesen Brief komponiert wurden, sondern bereits vorlagen, werden keine Quellen angegeben. Die einzige Autorität, die im Brief zu finden ist, und mit der argumentiert wird, ist die des Paulus. Irritationen und Inkongruenzen Wenn man nur den Kolosserbrief liest, ist das vielleicht überzeugend, doch im Vergleich mit anderen Paulusbriefen irritiert diese Vorgehensweise sehr. Der erste Eindruck, dass mit dem Kolosserbrief irgendetwas nicht stimmt, ergibt sich demnach im Vergleich mit den anderen Paulusbriefen. Insbeson‐ dere Vergleiche von Sprache, Theologie und Umfeld des Kolosserbriefs mit den anderen Paulusbriefen lassen stutzen.

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II.2  Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser

Bei Sprache und Stil ist das sehr deutlich: Der Autor des Kolosserbriefes schreibt nicht so wie Paulus. Anders als der echte Paulus argumentiert er nicht in präzisen, klaren Sätzen, sondern eher assoziativ, mit vielen Rela‐ tivsätzen, Synonymen und erläuternden Genitivkonstruktionen. Dadurch wirkt der Kolosserbrief nicht so unmittelbar und präsent wie ein echter Paulusbrief, sondern eher langatmig und „blumig“ und eine Phrase wie 1,3–8 kennt man von Paulus nicht. Auch das Vokabular des Kolosserbriefs unterscheidet sich stark von dem der übrigen authentischen Paulusbriefe. Nicht nur, dass viele Worte verwendet werden, die im Neuen Testament sonst nicht vorkommen, auch tauchen im Kolosserbrief Vokabeln auf, die zwar von anderen neutesta‐ mentlichen Autoren verwendet werden, aber nicht von Paulus. Außerdem fehlen dem Kolosserbrief typisch paulinische Charakteristika. Besonders auffällig ist, dass die Anrede ἀδελφοί (adelphoi, Geschwister) fehlt, die sonst in allen Paulusbriefen zu finden ist. Der Paulus des Kolosserbriefs schreibt und argumentiert ganz anders als der echte. Dies zeigt sich auch im Umgang mit seinen (vermeintlichen) Gegnern, der sich vom Stil der authentischen Paulusbriefe deutlich abhebt. Während Paulus dort deren Argumente aufnimmt und in seine Argumentation einbaut, häufig auch mit der Schrift argumentiert, fehlt hier beides völlig. Irritationen und Inkongruenzen im Kolosserbrief ■ Sprache und Stil weichen stark von anderen Paulusbriefen ab. ■ Anders als in den Paulusbriefen steht nicht mehr der gekreuzigte, sondern der auferstandene Christus im Zentrum der Argumentation. ■ Es geht nicht mehr um Einzelgemeinden, sondern die Gesamtheit aller Gläubigen konstituiert als Gemeinde den Leib Christi, dem Christus als Haupt gegenübersteht. ■ „Paulus“ maßregelt eine ihm völlig unbekannte Gruppe von Jesus‐ nachfolgern. ■ Im Brief werden widersprüchliche Aussagen über die Festigkeit des Glaubens der Adressaten getroffen: mal ist sie lobenswert, mal defizi‐ tär. ■ Die christliche Haustafel passt weder zur Auflösung der Standesunter‐ schiede in Christus noch zur Gemeindeleitung durch eine Frau.

Abgleich mit Vergleichstexten und Sekundärliteratur

Auch in der Theologie des Kolosserbriefs finden sich einige Verschiebun‐ gen gegenüber den authentischen Paulusbriefen. So steht nicht mehr der gekreuzigte Christus im Zentrum der Argumentation, sondern der erhöhte Auferstandene, der zum kosmischen Christus und triumphierenden Sieger über die (Elementar-)Mächte wird. Zudem kennt der Kolosserbrief keine Naherwartung der Wiederkunft Christi oder eine futurische Eschatologie. Ganz im Gegenteil betont er eine präsentische Eschatologie: Mit der Auf‐ erstehung Christi und der Taufe der Gläubigen ist die Versöhnung schon geschehen, die Gläubigen sind jetzt schon erlöst. Besonders deutlich wird das beim Vergleich von Röm 6 und Kol 2. Und schließlich hat die Ekklesia im Kolosserbrief einen anderen Charakter als in den authentischen Paulus‐ briefen: Nicht mehr im Plural, sondern im Singular ist von ihr die Rede. Es sind nicht mehr die einzelnen Ortsgemeinden im Blick, sondern die Rede ist von einer universalen Kirche als Leib Christi, der Christus als Haupt gegenübersteht, wie der direkte Vergleich des Kolosserbriefs mit 1 Kor 12,12–31 zeigt. Das erklärt vielleicht auch, warum Paulus nicht die Ekklesia, sondern die Heiligen in Kolossä adressiert. Doch auch ohne den Blick auf die anderen Paulusbriefe lassen sich einige Inkongruenzen feststellen. Zunächst stellt sich die Frage, wie Paulus überhaupt auf die Idee kommt, einer Gemeinde, die er nicht kennt und von der er nur aus zweiter Hand weiß, einen derartig autoritativen Brief zu schicken und sie so zu maßregeln. Das kann eigentlich nur eine akzeptierte übergeordnete Autorität. Der Brief ist zudem gleichermaßen vage und über‐ raschend konkret, sodass man sich fragt, woher Paulus die Informationen hat, auf deren Basis er seinen Brief entwirft. Es ließe sich ebenfalls inhaltlich fragen, wozu es die paulinische Ermahnung überhaupt braucht, wenn der Glaube der Kolosser so fest ist, wie er im Eingangsteil von Paulus gelobt wird. Zum Ende des Briefes fragt man sich, was eigentlich aus Timotheus geworden ist, der doch als Mitabsender des Briefes genannt wird, und schließlich: Wie passen die leitenden Rollen, die Onesimus und Nympha in ihren Ekklesien spielen, zu den Bestimmungen der Haustafel? Abgleich mit Vergleichstexten und Sekundärliteratur Um hier weiterzukommen, geht es nicht ohne Sekundärliteratur, die einerseits Licht in das Verhältnis des Kolosserbriefs zu den anderen Paulusbriefen bringt und andererseits historische Kontexte zu Kolossä und den dortigen

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II.2  Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser

Jesusnachfolgern liefert. Als Frage steht dabei im Raum, ob es sich beim Kolosserbrief überhaupt um ein von Paulus verantwortetes Schreiben handelt. Die Rekonstruktion der Geschichte der Gemeinde von Kolossä stützt sich ausschließlich auf die Daten aus dem Kolosserbrief, die mit Angaben aus dem Philemonbrief abgeglichen werden. Der Kolosserbrief gibt nicht nur an, dass Epaphras die Gemeinde gegründet hat (1,7; 4,12), sondern suggeriert auch, dass der Sklave Onesimus, der durch seinen Aufenthalt bei Paulus Auslöser des Philemonbriefes war, aus Kolossä stammt. Der Brief führt ferner ein Netzwerk von Gemeinden – vertreten durch die Gemeinde im Haus der Nympha und die Brüder in Laodizea (4,15–16) – vor Augen, das sich untereinander austauscht, und in dem Frauen und Sklaven eine führende Rolle spielen. Somit scheint sich der Kolosserbrief gut in das Universum der anderen Paulusbriefe einzufügen, insbesondere in das des Philemonbriefes, mit dem er auffällig viele Personen gemeinsam hat. Laut Anschrift und Gruß haben Paulus und Timotheus den Brief gemeinsam zu einer Zeit verfasst, zu der Paulus im Gefängnis sitzt. Mehr ist aus dem Kolosserbrief zwar nicht zu erfahren, doch in der Zusammenschau mit anderen neutestamentlichen Schriften entsteht folgendes Bild: Paulus ist nicht weit vom Wohnort des Philemon entfernt, da Onesimus ihn besucht. Als Ort der Gefangenschaft kommt Ephesus infrage und Paulus hätte den Kolosserbrief um 54 n. Chr. in dieser Gefangenschaft verfasst haben müssen. Das würde einerseits klären, woher Paulus so intime Kenntnis der Situation der Gemeinde hat, und andererseits gut zum außerbiblischen Wissen zu Kolossä passen. Die kleinasiatische Stadt Kolossä lag im Lykostal an einer wichtigen OstWestverbindung, die Ephesus und Sardes mit Tarsus in Kilikien verband. Wichtige Nachbarstädte von Kolossä waren Laodizea, das ebenfalls im Neuen Testament eine Rolle spielt, und Hierapolis. In allen drei Städten haben christliche Gemeinden existiert. Kolossä war die unbedeutendste der drei Städte. Das etwa 15 km entfernt liegende Laodizea war Bezirkshauptort und Zentrum der Gegend. Hierapolis lag mit 25 km etwas weiter entfernt und war aus zwei Gründen bekannt: Zum einen wegen seiner warmen Quellen und zum anderen, weil es ein Zentrum des Kybele-Kultes war. Aus antiken Quellen geht hervor, dass Erdbeben im Jahr 60 und 61 n. Chr. Kolossä und Laodizea vernichtet haben. Während Laodizea wohl rasch wiederaufgebaut wurde – eines der sieben Sendschreiben der Offenbarung des Johannes (Offb 3,14ff.) richtet sich an die dortige Gemeinde –, gibt es aus Kolossä keine weiteren Nachrichten. Ob und wann sich die Stadt wieder

Abgleich mit Vergleichstexten und Sekundärliteratur

erholt hat, ist ungewiss. Auch die archäologischen Befunde sind spärlich: Hierapolis und Laodizea wurden teilweise ausgegraben, die Überreste von Kolossä sind jedoch weitgehend unerforscht. Wenn der Kolosserbrief also 54 in Ephesus verfasst worden wäre, so würden die Daten wunderbar zusammenpassen. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Situation die echte Abfassungssituation des Kolosserbriefs spiegelt oder lediglich diejenige, die der Autor für sein Schreiben entworfen hat. Auch hier geht es ohne Textvergleiche und sekundäre Quellen nicht weiter. Ein Vergleich der Grußlisten des Kolosserbriefs und des Philemonbriefs zeigt, dass die Verbindung zwischen beiden Schreiben tatsächlich gar nicht so eng ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Zwar werden die meisten der im Kolosserbrief genannten Personen auch im Philemonbrief erwähnt, doch die Beziehungen, in denen sie in den jeweiligen Briefen stehen, unterschei‐ den sich deutlich, sodass der Eindruck entstehen kann, das Personeninventar des Philemonbriefs werde im Kolosserbrief lediglich genutzt, um einen möglichst authentischen Paulusbrief zu fingieren. Wenn man den Kolosserbrief neben den Philemonbrief legt, scheint er diesen sogar in gewisser Hinsicht fortzuschreiben: Weil Onesimus einer von euch (Kol 4,9) genannt wird, ist die logische Schlussfolgerung, dass der Phi‐ lemonbrief ebenfalls nach Kolossä ging und die Hausgemeinde des Philemon dort angesiedelt war. „Mit der Bezugnahme auf die Personenkonstellation des Phlm“, schreibt Martin Ebner, „soll auf der Seite des Paulus die gleiche Situation, für die Hausgemeinde in Kolossä dagegen einer Weiterentwicklung im Sinne des Phlm suggeriert werden. Onesimus ist tatsächlich von Philemon für die Evangeliumsverkündigung ‚frei‐ gestellt‘ worden. Archippus versieht weiterhin seinen Dienst, der zumindest in der Bezeichnung schärfere ‚amtliche‘ Konturen bekommen hat.“50

Die Story funktioniert fast zu gut, um wahr zu sein. „Bedenkt man zusätzlich“ schreibt Ebner weiter, „dass Kolossä im Jahr 61 n. Chr. durch ein Erdbeben zerstört worden ist […] so schildert der pseudepigraphische Autor, zeitlich anzusetzen zwischen 70 und 80 n. Chr. im Kol Verhältnisse, die in seiner Gegenwart nicht mehr gelten – und auch nicht überprüfbar sind. Es könnte der Glaubwürdigkeitsfiktion sogar

50

Martin Ebner: Der Philemonbrief, in: Martin Ebner / Stefan Schreiber (Hg.): Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 394–407, 403.

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II.2  Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser

entgegenkommen, dass die vom Autor vorausgesetzten Konstellationen einer Hausgemeinde des Philemon in Kolossä mit Archippus als ‚Diakon‘ und Onesi‐ mus als pln Gesandten zu der Zeit, als der vermeintlich von Paulus stammende Kol auftaucht, gerade nicht mehr verifizierbar sind, weil diese ‚paulinische‘ Vergangenheit von einem Erdbeben überrollt wurde und die entsprechenden Personen das Weite gesucht haben.“51

Die Kommunikationssituation des Kolosserbriefs, wie „Paulus“ sie schildert: Die Heiligen in Kolossä

überbringt Brief

Paulus (+ Timotheus)

Epaphras Gemeinde gegründet von Epaphras

berichtet

Gefängnis/ (Ephesus 54?)

Vermutliche „echte“ Kommunikationssituation: Einige Zeit nach dem Tod des Paulus (60/64 n. Chr.) verfasst, vermutlich 70-80 n.Chr. Die zeitliche Distanz zu Paulus (Tod) wird durch räumliche (Gefängnis) überbrückt, Kol will jedoch als echter Paulusbrief gelesen werden Abb. II.6: Fiktive Kommunikationssituation des Kolosserbriefs

Mit anderen Worten: Wir haben es nicht mit einem Paulusbrief, sondern einem pseudepigraphen Schreiben aus der dritten Generation zu tun. Es geht nicht mehr um den lebendigen Apostel, sondern darum, seine Autorität für die Argumentation zu nutzen. Wenn sein Tod (wohl zwischen 60 und 64 n. Chr.) als Leiden für die Christen und die Kirche (1,24) verstanden wird, ist Paulus nicht nur Apostel, sondern auch Märtyrer, was ihm eine größere Autorität verleiht. Die zeitliche Distanz des vermeintlichen Autors Paulus zu seinen Adressaten (durch seinen bereits zurückliegenden Tod) wird im

51

Ebd.

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

Kolosserbrief durch eine räumliche Distanz (in Form seiner Gefangenschaft) aufgelöst. Der Zweck der Übung erscheint dann fast schon banal: Ein Brief des Märtyrers, der an eine untergegangene Gemeinde gerichtet ist, lässt sich auch später in eine Sammlung authentischer Paulusbriefe einschmuggeln. Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung Was bleibt, ist die Frage, warum jemand, im Namen eines anderen, der nicht mehr lebt (1,24), einen Brief an jemanden schreibt, der nicht mehr existiert, um womöglich Probleme zu verhandeln, die ganz andere betreffen? Anders gefragt: Wenn es sich um ein pseudepigraphes Dokument aus der dritten Generation handelt, warum wird ausgerechnet ein Brief des Apostels Paulus nach Kolossä fingiert? Beim Blick auf seine Struktur und Argumentation wird deutlich, dass der Kolosserbrief eher als Textzeugnis des kollektiven als des sozialen Gedächtnisses zu verstehen ist. Auch wenn der Text an eine konkrete Gruppe adressiert zu sein scheint, ist keine spezifische Beziehung zu dieser Gruppe festzustellen. Zum einen wirkt die Gemeinde als Platzhalter, zum anderen liest sich der Text weniger als Brief denn als Unterweisung, da die persönliche Ebene fehlt. Fragen werden nicht gemeinsam ausgehandelt, sondern Lösungen und Normen sind vorgegeben. Dabei wird lediglich auf Paulus als Autorität zurückgegriffen. Dem Kolosserbrief geht es nicht um das Einschreiben in bereits vorhandene Rahmen, sondern er konstruiert neue Rahmen zur genuin christlichen Identitätsbildung, die auf paulinischer Theologie aufruhen und die möglichst viele Adressaten erreichen sollen. Dazu ist ein fingierter Paulusbrief, der Paulus als Autorität aufbaut, unter den Gemeinden ausgetauscht wird und so womöglich Eingang in eine Paulusbriefsammlung findet, ein gutes Mittel. Wenn man einen Schritt zurücktritt und den Kolosserbrief als Story liest, lässt sich folgendes festhalten: Es ist im Kolosserbrief von Gläubigen die Rede, die vom Evangelium gehört und es angenommen haben und die nun versuchen, ihr Leben daran auszurichten. Der Wille ist dabei größer als der Erfolg und die Unsicherheit, was das neue Leben in Christus bedeutet und ob der Glaube an – Paulus würde sagen: die feste Beziehung zu – Christus allein ausreicht für das Heil. Das Problem wäre damit eine nicht vollständig vollzogene Hinwendung zum Christusglauben, die verhindert, dass die Gläubigen, die für ihre neue Identität nicht mehr nötigen Selbstver‐

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II.2  Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser

168

ständlichkeiten ihres Herkunftsmilieus loslassen können, damit sich ihre christliche Identität festigt und in ihrem Alltag abbildet. Es geht damit um eine Grenzziehung nach außen. Der Brief schärft ein, was nicht oder nicht mehr heilsrelevant für die Gruppe ist und was die Adressaten getrost hinter sich lassen können, da sie in ihrer neuen Identität als Heilige und Teil des kosmischen Leibes Christi im wahrsten Sinne des Wortes darüber erhaben sind. Dieses Problem ist nicht singulär, sondern womöglich weit verbreitet. Deswegen soll das Schreiben zirkulieren. Wenn wir den Kolosserbrief als echte Pseudepigraphie lesen, die weder von Paulus stammt, noch sich an die Kolosser richtet und ein Problem dieser Gruppe lösen soll, liest sich der Text ganz neu: nicht als Brief, sondern als Geschichte, die erzählt, wie Paulus ein solches Problem gelöst hätte.

„Paulus“ • • • •

„Die Heiligen in Kolossä“

Text des Kolosserbriefs

über sich selbst über die Kolosser angesichts einer konkreten Bedrohung Verhaltensregeln für ein christliches Leben [Erzählte Welt: Nur Figurenrede]

[Erzählerwelt: Keine erzählerische Vermittlung]

Autor

Leser

Abb. II.7: Unterschiedliche Ebenen im Kolosserbrief

Auf diese Weise wird es möglich, den Kolosserbrief, obwohl er ein Brief ist, auch als Geschichte zu verstehen, mit Methoden aus der narrativen Analyse zu untersuchen und den Text als Gesprächsbeitrag im sozialen Aushandlungsprozess um eine frühchristliche Identität zu verstehen. Auf der Ebene der Kolosserkorrespondenz greift der Autor dann exemplarisch das Problem von Neubekehrten auf, die sich noch nicht vollends in ihre

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

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Identität als Christen eingefunden haben und in alte Gewohnheiten zurück‐ zufallen drohen, da sich die Konfrontation mit dem Evangelium (noch) nicht nachhaltig in ihrer Lebens- und Alltagspraxis abgebildet hat. Das vorrangige Interesse ist nicht, paulinische Theologie zu bewahren oder neu zu interpretieren, sondern es geht eher um ein pastorales Anliegen, das gelöst werden soll. Dazu wird eine Geschichte aus einer früheren Zeit erzählt, mit der die Adressaten sich identifizieren können: Offenbar hatte Paulus schon einmal mit einem ganz ähnlichen Problem zu tun wie sie jetzt.

Strategie des Kolosserbriefs als Pseudepigraphie Gegenwart der Adressaten (3. Generation) Aktuelle Fragen werden in die Zeit der Zeitzeugen zurückprojiziert und dort durch deren Autorität gelöst

„Paulus“

„Kolosser“

Paulus

Gemeinden

=> Schaffung einer Tradition, auf die rekurriert werden kann

Zeitzeugen: Zeugnis vom Evangelium (2. Generation) Jesus: Verkündigung des Evangeliums (Gründungsgeneration) Ziel

• Fortschreibung der Paulustradition unter einer bestimmten theologischen Zielsetzung • Orientierung für die Empfänger des Briefes durch Anschluss an einer Tradition

Abb. II.8: Strategie des Kolosserbriefs als Pseudepigraphie

Wie in I.5 schon beschrieben, wird dabei zum einen die Geschichte der zweiten Generation weitererzählt und zum anderen wird durch die Rück‐ projektion in die frühere Generation eine Lösung für die eigenen Probleme präsentiert, die den Adressaten als Teil ihrer Tradition (und damit ihrer Identität) an die Hand gegeben wird. Anders formuliert: Im Rückgriff auf Paulus und durch das Vorverlegen der Problemlage werden eine Autorität und eine Tradition sichtbar, an die sich auch jetzt anknüpfen lässt. Als Bild im Familienalbum gleicht der Kolosserbrief eher einer nachge‐ stellten Aufnahme, die eine Familiensituation in der Vergangenheit fingiert, um den Familienzusammenhalt zu stärken und sich der jetzigen Familien‐ identität zu vergewissern. Er erscheint wie ein Bild der Großeltern, die man

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II.2  Traditionen finden: Der Brief an die Kolosser

nie kennengelernt hat und von denen man nichts weiß, die man jetzt aber braucht, um den Enkeln einen vollständigen Familienstammbaum und eine zusammenhängende Familiengeschichte präsentieren zu können.

II.3 Traditionen erzählen: Das Markusevangelium als Erzähltext Das Markusevangelium mag als Momentaufnahme im frühchristlichen Familienalbum zunächst wie ein Schnappschuss aussehen, de facto han‐ delt es sich jedoch um ein sorgfältig komponiertes Bild. In diesem Kapitel wird besonders auf die Komposition geachtet und zudem untersucht, wie das Bild aufgebaut und gestaltet ist, und welche Botschaft es dadurch vermittelt. Das Markusevangelium ist der erste Erzähltext, der die Ereignisse um Jesu Leben, Tod und Auferstehung verarbeitet. Der Text entsteht etwa eine Generation nach den Ereignissen und ist anonym überliefert. Wer genau hinter dem Text steht, bleibt ebenso wie Entstehungsort und Zielpublikum des Markusevangeliums unklar. Die Überschrift „Evangelium nach Markus“ ist dem Text erst eine bis zwei Generationen nach seiner Entstehung sekundär zugewachsen und spiegelt Traditionen des zweiten Jahrhunderts (vgl. III.4). Mit dem Markusevangelium begegnen wir nach zwei Briefen einer neuen Textgattung. Schon aufgrund des Umfangs ist es nicht sinnvoll, das Werk in seiner Gänze im Detail zu analysieren Aus diesem Grund wird in diesem Kapitel ein überschaubarer Textabschnitt (Mk 1,1–3,6) mit wenigen Schritten narrativ analysiert. Neben den Rahmen und Motiven geht es vor allem um die Vermittlung der Erzählung und ihre Perspektivenstruktur. Eine der größten Herausforderungen bei Erzähltexten ist es, die Ebenen auseinanderzuhalten, sprich: zwischen Erzähl- und Figurenebene zu unter‐ scheiden, um so die Perspektivenstruktur herauszuarbeiten. Diese Aufgabe stellte sich beim Galaterbrief (II.1) und Kolosserbrief (II.2) nicht, da es sich aus erzähltheoretischer Perspektive bei Briefen um Figurenrede handelt und keine Erzählebene im Text vorliegt, wie wir sie im Markusevangelium deutlich erkennen. Daher steht in diesem Kapitel die narrative Analyse im Vordergrund.

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II.3  Traditionen erzählen: Das Markusevangelium als Erzähltext

1. Struktur und erste Orientierung über den Text: Welche Art von Geschichten wird über Jesus erzählt? Gibt es dabei Auffälligkeiten? 2. Welche Leseerwartung weckt der Anfang (Mk 1,1–15) und welches Vorwissen braucht man, um ihn zu verstehen? 3. Wie ist Mk 1,1–3,6 erzählerisch gestaltet? Diese Arbeitsschritte werden nun im Einzelnen am Text abgegangen und zum Abschluss werden die Beobachtungen gebündelt und gedächtnistheo‐ retisch ausgewertet. Zur Orientierung und zum Abgleich mit den eigenen Ergebnissen findet sich am Ende des Kapitels das betrachtete Textstück 1,1–3,6 in bearbeiteter Form. Erste Orientierung über das Markusevangelium: Struktur und Einzelepisoden Ein erster Überblick über das Markusevangelium zeigt, dass der Text die Geschichte von Jesus von der Taufe bis zum Grab erzählt und sich grob in drei Teile teilen lässt, von denen der erste in Galiläa spielt (1,16–8,26), der zweite auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem (8,27–10,52) und der dritte in Jerusalem (11,1–16,8). Die Erzählung ist episodisch organisiert, d. h. einzelne kleinere narrative Einheiten sind aneinandergereiht und bilden miteinander den Erzählfaden. Unter den Episoden finden sich Heilungsgeschichten, Erzählungen von Jesu Lehre, Gleichnisse, Wundererzählungen, Zeichenhandlungen und Be‐ gegnungsgeschichten. Dazu kommt die Passionserzählung, die ebenfalls episodisch organisiert ist, und bei der die Episoden enger miteinander ver‐ zahnt scheinen als in den Teilen davor. Einiges wird sogar mehrfach erzählt: Es gibt zwei Speisungserzählungen (6,30–44; 8,1–9), zwei Blindenheilungen (8,22–26; 10,46–52), drei Leidensankündigungen (8,31; 9,31; 10,33–34), drei Tötungsbeschlüsse (3,6; 14,1.64), sowie zwei Verhöre bzw. Verhandlungen (14,53–65; 15,2–15) während des Prozesses. Die Heilungsgeschichten lassen sich nochmals unterteilen in Heilungen und Dämonenaustreibungen und finden sich von einer Ausnahme (9,14–29) abgesehen nur im ersten Teil (1,16–8,26). Erzählungen von der Lehre Jesu finden sich im ganzen Text, beginnend mit dem Eingangsstatement 1,14–

Erste Orientierung über das Markusevangelium: Struktur und Einzelepisoden

15. Die erste Heilung (1,21–28) wird sogar als Lehre deklariert. Längere Lehrsequenzen Jesu finden sich in den Kapiteln Mk 3, 4, 9, 10, 12 und 13. An zwei Stellen werden Gleichnisse erzählt, einmal im ersten (4,1–34) und einmal im dritten Teil (12,1–12). Insgesamt sind es nicht mehr als vier Gleichnisse. Wundererzählungen oder Offenbarungen Jesu finden sich ebenfalls nur in den ersten neun Kapiteln mit einem Schwerpunkt auf dem ersten Teil; die Verklärung (9,2–10) schließt diesen Bogen ab. Anders als Wundererzählungen finden sich Zeichenhandlungen, von der Wahl der Zwölf (3,13–19) einmal abgesehen, nur im dritten Teil. Das Markusevangelium besteht aus unterschiedlichen Typen von Erzählepisoden: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■

Geschichten von Heilungen und Dämonenaustreibungen Erzählungen von Jesu Lehre Gleichnisse Wundererzählungen Zeichenhandlungen Begegnungsgeschichten Passionserzählung

Einige Elemente begegnen mehrfach: Speisungserzählungen, Blindenhei‐ lungen, Leidensankündigungen, Tötungsbeschlüsse und Verhöre Strukturell überwiegen im ersten Teil deutlich die Heilungen, in den beiden anderen Teilen die Lehre. Heilungen und Lehre sind eng miteinander verbunden: Jesus tritt als Lehrer auf, der auch heilen kann und wird von den anderen Erzählfiguren eher als Heiler wahrgenommen und aufgesucht. Die Frage, für wen die Leute Jesus halten, stellt sich mehrfach (6,14–16; 8,27–30). Am Übergang vom ersten zum zweiten Teil gibt Petrus die Antwort: Du bist der Christus (8,27). Danach beginnt die eigentliche Unterweisung der Jüngergruppe. Offenbar ist das richtige Verständnis Jesu für die Weggemein‐ schaft mit ihm entscheidend. Die Dubletten sind ein interessantes Phänomen: Wenn sie nicht aus Unachtsamkeit doppelt erzählt werden, müssen sie einen Sinn haben. Bei genauerem Hinsehen haben einige der Doppelungen strukturelle, andere in‐ haltliche Bedeutung. Die beiden Speisungserzählungen stehen im Anfangs‐

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II.3  Traditionen erzählen: Das Markusevangelium als Erzähltext

teil, in dem es um die Konstitution der Gemeinschaft der Jesusnachfolger geht. Diese besteht aus Juden und Heiden. Das wird erzählerisch dadurch verdeutlicht, dass jüdische und heidnische Erzählfiguren die gleichen Erfah‐ rungen mit Jesus machen, dazu gehören Heilungen, Dämonenaustreibungen und Speisungen. Die beiden Blindenheilungen rahmen den Weg-Teil in der Mitte (8,27–10,52), in dem es vor allem um die Regeln für die Gemeinschaft der Jesusnachfolger geht, und sind Aufmerksamkeitssignale: Achtung, hier gibt es noch etwas zu verstehen, hier braucht es sozusagen noch mehr Durchblick, bevor man wirklich Jesus bekennen und nachfolgen kann. Die drei Leidensankündigungen stehen ebenfalls im Mittelteil, also dort, wo es etwas zu lernen gibt, und vertiefen das zu Lernende: Das Kreuz gehört zur Nachfolge dazu. Jesus kann nur adäquat erkannt und bekannt werden als der Gekreuzigte, das wird auch der Jüngling im Grab sagen (16,6). Dass die Geschichte Jesu von Anfang an unter dem Schatten des Kreuzes steht, zeigt der erste, sehr frühe Tötungsbeschluss (3,6), der in der Passion bestätigt und umgesetzt wird. Die zwei Verhöre sind hingegen den historischen Umständen geschuldet und haben keine besondere Bedeutung. Der Anfang des Markusevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen Das Markusevangelium beginnt wie viele antike Werke mit einem Prolog. Dieser Vorspann dient dazu, in den Text einzuführen und erfüllt zudem den Zweck, den wir heute von Paratexten kennen. Bei der Entscheidung, ob ein Buch für uns interessant ist, helfen Paratexte wie Format, Gestaltung des Covers, Gattung, Klappentext und Autorinformation, um auf einen Blick zu erkennen, ob es sich um ein Sachbuch, einen Roman, einen Krimi, ein Kinderbuch oder ein Kochbuch handelt. Diese Information verbirgt sich bei antiken Texten im Prolog. Um herauszufinden, mit was für einer Art von Text man es mit dem Markusevangelium zu tun hat, ist es daher am einfachsten, die ersten Verse zu lesen. Unsere erste Annäherung an den Text führt demnach über Mk 1,1–15. Als Analysefragen legen sich nahe: Welche Leseerwartung weckt der Anfang (Mk 1,1–15) und welches Vorwissen (und damit auch: welche Referenzrahmen) benötigt man, um ihn zu verstehen? Aufgrund dieser Beobachtungen lässt sich auch überlegen, an wen der Text sich richtet. In

Der Anfang des Markusevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen

unserem Fall sind als mögliche Zielgruppen Juden und Heiden denkbar, die Jesusnachfolger sein können, aber nicht müssen.

Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn. Wie geschrieben steht beim Propheten Jesaja – Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her; der deinen Weg bahnen wird. 3 Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen! 4 – so trat Johannes der Täufer in der Wüste auf und verkündigte eine Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden. 5 Ganz Judäa und alle Einwohner Jerusalems zogen zu ihm hinaus; sie bekannten ihre Sünden und ließen sich im Jordan von ihm taufen. 6 Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften, und er lebte von Heuschrecken und wildem Honig. 7 Er verkündete: Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich; ich bin es nicht wert, mich zu bücken, und ihm die Riemen der Sandalen zu lösen. 8 Ich habe euch nur mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen. 9 Und es geschah in jenen Tagen, da kam Jesus aus Nazaret in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. 10 Und sogleich als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel aufriss und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. 11 Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden. 12 Und sogleich trieb der Geist Jesus in die Wüste. 13 Jesus blieb vierzig Tage in der Wüste und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm. 1

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Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes 15 und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! 14

Der Anfang des Markusevangeliums verwendet eine Reihe von Begriffen, die nicht eingeführt, sondern einfach vorausgesetzt werden. Dazu gehören: Evangelium, Christus, Sohn Gottes, Prophet, Jesaja, Johannes der Täufer, Wüste, Taufe, Sünde, Umkehr, Geist, Satan, Versuchung, überliefern und verkündigen. Die Frage, welches Vorwissen und welche religiösen und kulturellen Referenzrahmen mit diesen Begriffen vorausgesetzt werden, lässt sich relativ leicht beantworten: jüdische. Wer eine jüdische Enzyklopädie aus der Zeit des Zweiten Tempels mit‐ bringt und sich in den Heiligen Schriften Israels auskennt, wird eine Reihe von Themen und Motiven (wieder-)erkennen. Bereits das erste Wort, „Anfang“ (ἀρχή, archē), stellt eine Verbindung zum ersten Wort der Tora (Gen 1,1) her. Ein Gesalbter (χριστός, christos), der eine frohe Botschaft verkündet (εὐαγγελίζω, euangelizō), kommt bereits prominent im Buch Jesaja vor (Jes 61,1). Entsprechend wird der Prophet Jesaja als bekannt vorausgesetzt, ebenso das Buch, das mit seiner Prophetie verbunden wird, und die Hoffnung auf einen Gesalbten, der die Geschicke des Gottesvolkes wenden wird. Aus der eigenen Geschichte heraus ist klar, was ein Prophet ist. Durch die Kenntnis von Elija (2 Kön 1,8) ist Johannes der Täufer in seinem Kamelhaarmantel gut als Prophet in der Tradition der biblischen Propheten zu erkennen. Auch der Jordan spielt in der Geschichte Israels eine Rolle: Durch den Jordan hindurch sind die Israeliten nach der vierzigjährigen Wüstenzeit einst ins Gelobte Land gezogen (Jos 3–4). Auch wenn Jesus nur vierzig Tage in der Wüste bleibt, wird auch hier die Erinnerung an den Exodus und die Wüstenzeit des Volkes Israel wachgerufen. Aus der Wüstenzeit, aber auch der Zeit danach, kennt das Volk die Verstrickung in Sünde und Rituale, um sich zu entsündigen – und natürlich auch den Satan als Gegner und Versucher. Um es kurz zu machen: Für jüdische Leser ist der Beginn des Markusevangeliums voller Anspielungen auf die Schriften Israels und offenkundig von diesen her zu lesen.

Der Anfang des Markusevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen

Bei heidnischen Lesern ist das anders. Wer die Traditionen und Hei‐ ligen Schriften Israels nicht kennt, sondern eine römisch-hellenistische Sozialisation mitbringt, erkennt zwar, dass ein jüdischer Referenzrahmen vorausgesetzt wird, kann die einzelnen Anspielungen aber nicht verstehen. Dafür ist anderes auffällig: Der Text stellt sich als Evangelium (εὐαγγέλιον, euangelion) vor und klingt damit wie eine Botschaft des Kaisers, der ebenfalls zu besonders freudigen Anlässen ein Evangelium verlautbarte. In diesem Kontext ist auch ein Gottessohn (υἱός θεοῦ, hyios theou) nicht ungewöhnlich. Seit Augustus seinen Adoptivvater vom Senat hatte divinisieren lassen und sich so als divi filius bezeichnen konnte, war das Konzept eingeführt und viele römische Kaiser wurden divinisiert. Dass Gott Jesus seinen Sohn nennt, passt gut in diese Vorstellungswelt; ebenso, dass Jesus ein Evangelium von der (guten) Königsherrschaft Gottes verkündet. Und selbst wenn heidnische Leser die Feinheiten des intertextuellen Gewebes in den ersten Versen nicht durchdringen und nur das rudimentäre Wissen mitbringen, dass in religiösen Schriften gerne Propheten auftauchen, werden sie dennoch nicht alleine gelassen: Auch ohne eine jüdische Enzyklopädie lässt sich der Text verstehen. Getaufte Leser, unabhängig davon, ob sie einen jüdischen oder einen heidnischen Hintergrund haben, finden noch einen weiteren Anknüpfungs‐ punkt, weil sie mit Jesus die Erfahrung der Taufe teilen. Für sie hat das Leben in der Nachfolge wie bei Jesus mit dem Hören der (Umkehr-)Botschaft begonnen, sie haben in der Taufe eine existentielle Veränderung ihrer Identität erlebt und sind womöglich vor Anfeindungen und Versuchungen durch ihr Umfeld nicht gefeit. Was die Taufszene (1,9–11) ebenfalls zu einem besonderen Moment macht, ist die Tatsache, dass hier ein Wechsel der wahrnehmenden Instanz stattfindet. In 1,10 wechselt die Wahrnehmung vom Erzähler auf Jesus und die Leser sehen mit Jesus, wie der Himmel auf‐ reißt, der Geist wie eine Taube auf Jesus herabkommt und hören mit ihm die Himmelsstimme. Narratologisch gesprochen findet in 1,10–11 ein Wechsel von Nullfokalisierung auf interne Fokalisierung (Perspektivwechsel) statt, und die Leser erleben das Geschehen aus der Perspektive Jesu. Der Moment ist sehr intim, denn Jesus wird von der Stimme etwas Wichtiges über sich selbst mitgeteilt, dass seine Identität zutiefst verändert. Dabei ist die Frage nicht, ob Jesus vorher schon der geliebte Sohn Gottes war, sondern ob er darum wusste. Dieses (neue) Wissen teilen die Leser nun mit Jesus und haben damit gegenüber den anderen Erzählfiguren einen entscheidenden Wissensvorsprung. Durch die Überschrift (1,1), die nicht Teil der erzählten

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Welt ist, und die Taufszene wissen sie, wer Jesus ist und wie man ihn verstehen muss. Wenn man den Text als Erstleser ohne Vorwissen über Jesus liest, er‐ schließt er sich zwar, doch einigermaßen mühsam. Wer Johannes der Täufer ist und was es mit seiner Auslieferung auf sich hat, auf die angespielt wird (1,14), bleibt ebenso unklar wie die Frage, was eine Taufe ist und warum sie ein so entscheidender Moment sein soll. Der Text stellt dar, aber er erklärt nicht. Damit ist er als Erstbegegnung mit und Einführung in die Botschaft von Jesus und dem kommenden Gottesreich eher ungeeignet. Welche Leseerwartung hat man nach dem Vorspann? Im Praxistest haben unvoreingenommene Erstleser nach der Lektüre der ersten Verse tatsächlich ähnliche Schwierigkeiten kommuniziert. Sie haben wenig verstanden und brauchten Erklärungen für die Begriffe, die der Anfang des Markusevange‐ liums voraussetzt. Der Leseeindruck nach 15 Versen war ferner, dass die Geschichte nicht gut enden wird und dass sie eine Botschaft an die Leser bereithält: Wenn Jesus nach der Auslieferung des Johannes an dessen Stelle tritt, das Evangelium Gottes verkündet und die Leser in die Perspektive Jesu hineingenommen werden, liegt die Erwartung nahe, dass sie in die Fußstapfen Jesu treten und die Verkündigung übernehmen sollen, wenn er nicht mehr da ist. Das Markusevangelium erschien ihnen als Geschichte über Jesus, die sich an Eingeweihte richtet und sie zu einer bestimmten Haltung motivieren will. Zusammenfassend lässt sich sagen: Um den Beginn des Evangeliums Jesu Christi zu erzählen, greift das Markusevangelium auf Bekanntes zurück. Es nutzt vor allem den kulturellen Bezugsrahmen der Jesusnachfolger im Palästina des 1. Jahrhunderts n. Chr. Das setzt sich im Text selbst fort: Die erzählte Welt des Markusevangeliums ist über weite Strecken eine jüdische Welt und dennoch können sich auch heidnische Leser in den Erzählungen wiederfinden und an die Erfahrungen der Erzählfiguren anknüpfen. Dabei wird jedoch fein differenziert und der Unterschied liegt darin, wie gut die Vernetzungen in andere Texte und ihre Welten zu greifen sind. Auf Texte der Heiligen Schrift wird durchgehend zurückgegriffen, während der Bezug auf hellenistisch-römische Kontexte eher unterschwellig ist und nur an einzelnen Stellen aufscheint. In der Erzählung selbst machen jüdische und heidnische Erzählfiguren die gleichen Erfahrungen mit Jesus, ohne dass der Text beide Gruppen zusammenbringt und als Gemeinschaft von Jesusnach‐ folgern abbildet. Selbst wenn die Welt des Erzählers eine Gemeinschaft aus

Erzählerische Gestaltung von Mk 1,1–3,6

Juden und Heiden in der Nachfolge Jesu kennt, ist das in der erzählten Welt und der Erfahrung der Erzählfiguren nicht der Fall. Erzählerische Gestaltung von Mk 1,1–3,6 Beim genaueren Blick auf Mk 1,1–3,6 liegt die Aufmerksamkeit nicht darauf was geschieht – also der erzählten Welt –, sondern darauf, wie erzählt wird, sprich: der Erzählerwelt. Nachdem im Vorspann lose Beobachtungen zur Er‐ zählerwelt zusammengetragen wurden, geht es nun um eine systematische Analyse. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie das Markusevange‐ lium erzählt und ob sich die Beobachtungen aus 1,1–15 als Trend erweisen, wird im Folgenden der Text bis zum ersten Tötungsbeschluss in 3,6 mit Methoden aus der narrativen Analyse untersucht. Im Einzelnen werden Erzählstimme, Zeit und Modus untersucht.

Abb. II.9: Übersicht: Analyse der Erzählerwelt

Erzählstimme Jede Erzählung vermittelt eine Vorstellung davon, wer spricht und wer etwas wahrnimmt (sieht, hört, riecht, etc.). In der Narratologie werden diese Instanzen unpersönlich beschrieben, da es sich nicht um Personen, sondern um Erzählstrukturen handelt. Deswegen wird gewöhnlich nicht vom Erzäh‐ ler gesprochen, sondern die sprechende Instanz wird Erzählstimme genannt und die wahrnehmende Instanz Fokalisierung.

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Bei der Analyse der Erzählstimme sind für unsere Zwecke zwei Punkte entscheidend: der Zeitpunkt des Erzählens und die Stellung der Erzähl‐ stimme zum erzählten Geschehen. Bei der Stellung lässt sich zwischen auktorial und aktorial unterscheiden. Aktoriale Erzählstimmen sind am Geschehen beteiligt, auktoriale sind es nicht. Der Zeitpunkt beschreibt den zeitlichen Standort der Erzählstimme im Hinblick auf die Erzählung, der vor, parallel oder nach dem Geschehen liegen kann. Die Erzählstimme des Markusevangeliums ist erkennbar auktorial mit Standort nach den Ereignissen. Der erste Vers zeigt, dass die Erzählinstanz nicht nur den Ausgang der Geschichte kennt, sondern bereits eine Perspektive hat, wie sie zu verstehen ist. Zeit Jede Geschichte besteht aus einer bestimmten Abfolge von Ereignissen, die einmal oder mehrfach stattgefunden und eine bestimmte Zeit gedauert haben. Die erzählerische Darstellung kann in jedem der drei Punkte abwei‐ chen: der Ordnung, der Dauer und der Frequenz. Um diese Abweichungen zu bestimmen, unterscheidet man in der Narratologie zwischen der Erzählzeit (der Zeit in der Erzählwelt oder als Faustregel: der Zeit, die es braucht, um die Geschichte zu erzählen) und der erzählten Zeit (der Zeit, die in der erzählten Welt vergeht). Bei der Ordnung stellt sich die Frage, ob sich die Erzählstimme bei der Darstellung an die Ordnung der Ereignisse in der Geschichte hält oder von ihr abweicht. Solche Abweichungen können Vorgriffe auf spätere Ereignisse (Prolepse) oder Rückblicke auf zurückliegende Ereignisse (Analepsen) sein. Das Markusevangelium hält sich im Großen und Ganzen an die Ordnung der Ereignisse. Eine Ausnahme ist die Erzählung vom Tod Johannes des Täufers (Mk 6,17–29), die im Rückblick erzählt wird, und eine Analepse darstellt. Bei der Dauer oder dem Erzähltempo geht es darum, wie viel Zeit den Ereig‐ nissen in der Darstellung eingeräumt wird. Dabei gibt es drei Möglichkeiten: Entweder die Geschichte wird zeitdeckend erzählt, dann ist das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ausgewogen, wie in Szenen mit wörtlicher Rede. Wenn die Erzählzeit schneller abläuft als die erzählte Zeit, spricht man von gerafftem Erzählen oder einer Raffung. Das ist zum Beispiel bei Summarien der Fall, die deutlich schneller erzählt werden als Szenen. Die Extremform des gerafften Erzählens ist die Ellipse oder der Zeitsprung: Hier pausiert die Erzählzeit, während die erzählte Zeit weiterläuft und zu

Erzählerische Gestaltung von Mk 1,1–3,6

einem späteren Zeitpunkt wiedereinsetzt. Wenn die Erzählzeit langsamer abläuft als die erzählte Zeit, spricht man von gedehntem Erzählen oder einer Dehnung. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn lang und umständlich beschrieben wird, wie sich jemand hinsetzt, zur Tür hereinkommt oder in ein Stück Brot beißt. Der Extremfall des gedehnten Erzählens ist die Pause oder der Stillstand der erzählten Zeit, während die Erzählzeit weiterläuft, wie es beispielweise bei Erzählerkommentaren der Fall ist. In 1,1–3,6 haben wir es in der Regel mit einem ausgewogenen Erzähl‐ tempo zu tun, das zwischen Raffung und zeitdeckendem Erzählen oszilliert. An einigen Stellen finden sich Ellipsen, die gut an den zeitlichen Neuein‐ sätzen („in jenen Tagen“, „nachdem Johannes ausgeliefert worden war“, „als er am See von Galiläa entlangging“) zu erkennen sind und helfen, einzelne Episoden zu unterscheiden. Daneben finden sich Summarien und Erzählerkommentare. Die Frequenz gibt an, wie oft ein Ereignis stattgefunden hat und wie oft es erzählt wird. Beim singulativen Erzählen werden die Ereignisse genauso oft erzählt, wie sie stattgefunden haben. Beim iterativen Erzählen werden Ereignisse, die sich wiederholt so oder so ähnlich abgespielt haben, entweder exemplarisch oder summarisch nur einmal erzählt, und beim repetitiven Erzählen wird ein Ereignis, das einmal geschehen ist, wiederholt erzählt. In unserem Textstück haben wir es hauptsächlich mit singulativem Erzählen zu tun, lediglich die Summarien bieten iterative Erzählmomente. Modus Der Modus beschreibt einerseits den Grad der Mittelbarkeit einer Erzäh‐ lung, der durch die Einmischung der Erzählstimme, die Detailliertheit der Darstellung, sowie die Darbietung von Worten und Gedanken zustande kommt. Dieser Aspekt gilt als Distanz. Hinzu kommt, dass das, was erzählt wird, auch von einer der Erzählfiguren wahrgenommen werden kann, die wahrnehmende Instanz also nicht die Erzählstimme ist. Hierbei spricht man von der Fokalisierung. Fokalisierung beantwortet somit die Frage: „Wer sieht?“ oder besser: „Wer nimmt wahr?“ Die Wahrnehmungsinstanz kann zeitweise oder dauerhaft mit einer Erzählfigur zusammenfallen oder unabhängig von Figuren sein. Dabei ist wichtig, dass die Wahrnehmungsperspektive sich nur in fiktio‐ nalen Texten von der Erzählerperspektive unterscheiden kann. In der Narratologie unterscheidet man zwischen einer Nullfokalisierung, interner

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und externer Fokalisierung. Bei Nullfokalisierung ist keine der Erzählfi‐ guren Wahrnehmungsinstanz und die Erzählstimme weiß mehr als die Erzählfiguren, ähnlich wie ein allwissender Erzähler, daher wird sie oft auch als „auktorial“ bezeichnet. Kennzeichen für eine Nullfokalisierung sind Informationen im Text, die den Erzählfiguren nicht zugänglich sind oder die sie nicht wissen (können). Bei der internen Fokalisierung ist die Wahr‐ nehmung an eine Figur delegiert und der Leser erhält Informationen über das Innenleben, die Gedanken und Gefühle dieser Figur. Wenn die interne Fokalisierung durchgehalten wird, weiß die Erzählstimme nicht mehr als die Erzählfigur, daher wird sie mitunter auch als „aktorial“ bezeichnet. Bei der externen Fokalisierung ist die Wahrnehmung zwar nicht an eine Erzählfigur gebunden, kommt aber aus der erzählten Welt, d. h. es gibt keinen Einblick in das Innenleben der Figuren und der Standpunkt des Erzählers muss parallel zu den Ereignissen sein. In diesem Falle weiß die Erzählstimme sogar weniger als die Erzählfiguren, da sie ihr Innenleben nicht kennt. Das Markusevangelium scheint grundsätzlich eine Nullfokalisierung zu haben, allerdings wird diese immer wieder aufgebrochen, wie es in 1,10–11 der Fall ist, wenn Jesus zur Wahrnehmungsinstanz wird. Diese Brüche sind nicht auf den Vorspann beschränkt, direkt in 1,16.19 ist es wieder Jesus, durch dessen Augen die Leser die ersten Jünger sehen. Es zeigt sich bald, dass Jesus nicht nur Gefühle wie Mitleid (1,41) hat, sondern kardiognostische Fä‐ higkeiten: Er kann den Menschen ins Herz sehen und erkennt ihren Glauben (2,5) sowie ihre Gedanken (2,8) und kann darauf reagieren. Jesus ist nicht der Einzige, der zur Wahrnehmungsinstanz wird: Auch die Wahrnehmung der Gegner – Pharisäer und Schriftgelehrte – wird erzählt (2,7.16; 3,2). Dadurch erhalten die Leser Einblick in die gegnerische Position und können den Konflikt, der entsteht, besser nachvollziehen als die anderen Erzählfiguren, die in 2,6–11 nichts vom Vorwurf der Gotteslästerung und der theologischen Frage, wer eigentlich Sünden vergeben kann, erfahren. Die Distanz bewegt sich zwischen den beiden Polen „mittelbar“ – vollstän‐ dige Vermittlung der Geschichte durch eine sehr gut wahrnehmbare Erzähl‐ instanz – und „unmittelbar“ – völliges Zurücktreten der Erzählinstanz in einer Szene mit wörtlicher Rede. Unmittelbare Darstellungen werden daher auch als dramatischer Modus bezeichnet, während mittelbare Darstellungen im narrativen Modus sind. Der dramatische Modus lässt sich gut daran erkennen, dass Kommentare und Reflexionen fehlen, die Wahrnehmungs‐ instanz einer Erzählfigur ist (innere Fokalisierung), viel Wert auf Details

Erzählerische Gestaltung von Mk 1,1–3,6

gelegt wird, um eine möglichst realitätsnahe Darstellung zu erreichen und viele Szenen mit wörtlicher Rede eingespielt werden. Der narrative Modus lässt sich hingegen daran erkennen, dass sich viele Erzählerkom‐ mentare finden und die Erzählinstanz auch die Wahrnehmungsinstanz ist (Nullfokalisierung). Die Distanz einer Erzählung bewegt sich gewöhnlich zwischen diesen Polen und kann mehr dem einen oder mehr dem anderen zugeneigt sein. Beim Markusevangelium haben wir es ebenfalls mit einer Mischung aus narrativem und dramatischem Modus zu tun. Es gibt zwar viele Einzelepisoden, die szenisch gestaltet sind, doch die Erzählinstanz ist ebenfalls stark präsent, vor allem durch Erzählerkommentare, auch wenn diese nicht immer sofort auffällig sind. Erzählerkommentare sind Teil der Erzählwelt. Sie richten sich an den Rezi‐ pienten und sind damit ein Teil der Leserkommunikation. Als Faustregel, wie man Erzählerkommentare erkennt, lässt sich festhalten: Bei Erzähler‐ kommentaren steht die erzählte Zeit still und sie enthalten Informationen, die den Erzählfiguren bekannt sind, nichts bringen oder nichts mit der Story selbst zu tun haben. Häufig werden sie mit Konjunktionen wie „denn“, „nämlich“ oder „weil“ eingeleitet. Manchmal ist es nicht ganz einfach zwi‐ schen stark geraffter Erzählzeit und Erzählerkommentar zu unterscheiden. In diesem Fall gilt: Alles, was man nicht sehen oder miterleben kann, ist ein Kommentar. Erzählerkommentare sind Teil der Leserkommunikation Bei Erzählerkommentaren steht die erzählte Zeit still und sie enthalten Informationen, die den Erzählfiguren bekannt sind, nichts bringen oder nichts mit der Story zu tun haben. Kommentare werden häufig mit Konjunktionen wie „denn“, „nämlich“ oder „weil“ eingeleitet. In unserem Textabschnitt finden sich einige Erzählerkommentare, die mit den Hintergrundinformationen auch Wertungen transportieren: Dass die Schriftge‐ lehrten nicht mit Vollmacht lehren (1,22) und deshalb nicht ernst zu nehmen sind, weiß der Leser, bevor sie in 2,6 zum ersten Mal auftauchen. Dass die Pharisäer ein verstocktes Herz haben (3,5) erfährt der Leser ebenfalls durch einen Erzählerkommentar. Auch dass sie nach einem Grund suchen, Jesus anzuklagen (3,2). Alles das erfahren die anderen Erzählfiguren nicht. Sie erfahren ebenfalls nicht, wer Jesus ist, denn weder der Vorspann (1,1–3) noch die Binnenperspek‐

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tive Jesu (1,10–11) oder der Grund für das Schweigegebot für die Dämonen (1,34) wird ihnen offengelegt. Aus der Szene 1,23–27 geht hervor, dass unreine Geister und Dämonen als Wesen, die im antiken dreistöckigen Weltverständnis zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre in der numinosen Sphäre zuhause sind (ebenso wie Engel), Jesus als Gottessohn erkennen. Dieses Wissen dürfen sie jedoch nicht weiterverbreiten, weil es den anderen Erzählfiguren zu diesem Zeitpunkt (noch) nichts bringt. Interne Fokalisierungen sind zwar keine Erzählerkommentare, transpor‐ tieren in 1,1–3,6 aber ebenfalls Informationen, Wertungen und Wissen, das sie nur mit Erzählstimme und Leser teilen. Im Markusevangelium sind in internen Fokalisierungen immer wieder wichtige Informationen und Wertungen versteckt, wie sich z. B. in 2,7–8 zeigt: Der Vorwurf der Gottesläs‐ terung ist zu diesem Zeitpunkt nur in der Gedankenwelt der Schriftgelehrten und kein allgemein geteiltes Wissen der erzählten Welt. Auch hier hat der Leser gegenüber den Erzählfiguren einen Vorsprung: Er erkennt viel früher den Konflikt um die richtige Wahrnehmung Jesu, der sich hier abzeichnet. Interne Fokalisierung im Verbund mit einem Erzählerkommentar wie in 3,2 ist in Sachen Leserkommunikation besonders wirkungsvoll. Auch davon bekommen die anderen Erzählfiguren nichts mit, entsprechend weiß nur der Leser, dass es nach 3,6 nicht gut ausgehen kann.

Abb. II.10: Übersicht: Ebenen und Perspektiven im Text

Wenn wir die Ergebnisse der einzelnen Analysen zusammenfassen und aus‐ werten, ergibt sich ein stimmiges Bild: Im betrachteten Textstück nutzt die Erzählstimme mehrere erzählerische Werkzeuge, um einerseits die Geschichte zu erzählen und andererseits dem Leser Zusatzinformationen zu vermitteln, die nicht nur das Verständnis, sondern auch die Wertung erleichtern und

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

klar leserlenkend sind. In der erzählten Welt stehen sich zwei Antagonisten gegenüber: Jesus und die Schriftgelehrten und Pharisäer. Die Sympathie der Erzählstimme liegt klar bei Jesus, dessen Perspektive sich die Leser zu eigen machen sollen. Die Gegner werden noch bevor sie auftreten als defizitär eingeführt, damit ist ihre Perspektive vornherein für die Leser diskreditiert, egal wie viel Ansehen sie in der erzählten Welt haben. Dass die Leser sich mit der Perspektive Jesu, seinen Ideen und Zielen identifizieren, sprich: ihm nachfolgen sollen, heißt jedoch nicht, dass sich Erzählstimme und Erzählfigur einig sind. In 1,1–3,6 gibt es einige überraschende Abweichungen: Während die Erzählstimme Jesus als Gesalbten und Gottessohn (1,1.11) einführt und erzählt, dass er das Evangelium Gottes verkündet (1,14), sieht Jesus sich eher als Menschensohn (2,10–27) und verkündet das Reich Gottes als Evangelium. Der Unterschied erscheint zunächst vielleicht marginal, doch die Linie ist im gesamten Evangelium durchgehalten, so lange Jesus lebt: Die Erzählstimme spricht nie vom Menschensohn oder vom Reich Gottes, umgekehrt kommt der Gottessohn nicht in der Figurenwelt an. Erst mit dem Tod ändert sich das: Der Hauptmann unter dem Kreuz erkennt den Gottessohn (15,39) und Josef von Arimathäa wartet ebenfalls auf das Reich Gottes (15,43). Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung Kehren wir aus der kleinteiligen Arbeit zurück in eine Überblicksperspek‐ tive. Wenn wir die Beobachtungen zusammenführen, stellt sich das Mar‐ kusevangelium als zusammenhängende episodisch strukturierte Erzählung mit einer klaren Erzählerperspektive dar, von der vermutet werden kann, dass sie zu einer leitenden Perspektive ausgebaut ist und eine bestimme Rezeptionshaltung vorgibt. Die Ereignisse werden nicht einfach neutral erzählt, sondern immer mit einer Wertung. Selbst wenn die Erzählstimme diese Wertung nicht immer explizit kommuniziert, ist sie so stark im Text präsent, dass an ihr kein Weg vorbeiführt. Wenn wir die Beobachtungen aus I.2 zum episodischen und semantischen Gedächtnis hinzuziehen, zeigt sich auch, dass in den einzelnen Episoden die Erinnerung an die Erfahrungen, die Menschen mit Jesus gemacht haben, aufgehoben ist. Gerade durch die episodische Gestaltung trägt das Markus‐ evangelium noch erkennbar Züge des sozialen Gedächtnisses, in dem ein Schatz an Erinnerungsepisoden vorliegt, der von den Mitgliedern einer Familie oder anderen Erinnerungsgemeinschaft im Gespräch aufgerufen und aktua‐

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lisiert wird. Welcher Grund zur Verschriftlichung dieser Einzeltraditionen geführt hat, kann aus dem analysierten Textstück nicht erhoben werden, wenngleich der Moment der Krise bereits in 1,14 durchscheint. Um dies genauer zu erheben, bräuchte es eine Untersuchung des Textes auf diese Frage hin und einen Abgleich mit textexternen Quellen und der Sekundärliteratur. Als katalytische Faktoren lassen sich Generationenwechsel, der Weggang oder Tod der Gründergeneration und einschneidende traumatische Erlebnisse wie der jüdisch-römische Krieg und die Zerstörung des Jerusalemer Tempels vermuten. In einer solchen Situation werden die umlaufenden Jesustraditionen zum ersten Mal zu einer Gesamtgeschichte zusammengefasst und (theologisch) reflektiert. Damit ist das Markusevangelium ein Textzeugnis aus dem kollek‐ tiven Gedächtnis mit einem klaren Ziel: Neben einer erzählenden Deutung der Ereignisse mit und um Jesus widmet sich die Gesamtgeschichte in Form einer Gründungserzählung auch der Frage, wie dieser Jesus am besten zu verstehen sei, sprich: es wird identitätskonkret erzählt, wer Jesus für die Gruppe ist. Dazu werden vor allem im ersten Teil (bis Mk 9) unterschiedliche Jesusbilder diskutiert. Die Frage, wer Jesus eigentlich ist, steht dabei genauso im Raum wie die Frage nach dem Umgang mit seiner Botschaft und dem traumatischen Ereignis seines Verbrechertodes am Kreuz. Geht es weiter oder nicht? Und wenn ja: Wie geht es weiter? Lässt sich vor allem dem jähen und schmachvollen Ende Jesu irgendein Sinn abgewinnen? Kann seine Geschichte im sozio-kulturellen Rahmen des Judentums so erzählt werden, dass sie keine zutiefst verstörende Geschichte ist? Und was ist mit der Botschaft Jesu? Geht sein Evangelium, seine Botschaft von der Ankunft der Gottesherrschaft, auch ohne ihn weiter? Braucht es Jesus, um zu dieser einmaligen Beziehung zu Gott zu finden, die er vorgelebt hat? Bei der Lektüre unter dem Gesichtspunkt: Wer ist dieser Jesus? und Wie lässt sich seinem Schicksal Sinn abgewinnen? zeigt sich, dass die Jesusgeschichte stark in jüdischen, insbesondere alttestamentlichen Kategorien verstanden wird. Auch wenn heidnische Leser einen Zugang zu Jesus aufgrund ihres eigenen Erfahrungshintergrundes finden, wird schnell klar, dass es ohne Vertrautheit mit dem jüdischen Kontext nicht geht. Schon aus diesem Grund wird Jesaja direkt zu Beginn eingespielt und im Text immer wieder genannt und zitiert. Ist Jesus der wiedergekommene Elija, ein neuer Mose, ein Prophet, ein von Dämo‐ nen Besessener, der endzeitliche Bote der Gottesherrschaft, der König der Juden oder ein politischer Messias? Diese Vorstellungen werden in der Erzählung diskutiert und wenn man die Erzählkommunikation des Markusevangeliums ernst nimmt, bleiben von den unterschiedlichen Jesusbildern am Ende zwei

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

übrig: Gesalbter und Sohn Gottes, die bereits in der Überschrift stehen. Diese beiden Titel sind sowohl für jüdische als auch für nicht-jüdische Rezipienten unmittelbar verständlich, auch wenn sie unterschiedlich gefüllt werden. Das Ergebnis ist, dass man Jesus am besten als gesalbten Gottessohn versteht. Jesu Selbstbezeichnung als Menschensohn ist in dieser Perspektive aufgehoben, denn am Ende der Zeiten wird der wiederkommende Menschensohn als der Gesalbte offenbar werden. Mit diesem Verständnis können jüdische und nichtjüdische Jesusnachfolger leben. Spätere Generationen wie schon Matthäus und Lukas werden diese Begriffe interpretieren und neu füllen. Das Markusevangelium lie‐ fert demnach einen ersten zusammenhängenden Entwurf von Jesus und seiner Botschaft, mit der sich jüdische und heidnische Jesusnachfolger identifizieren können. Auch wenn der Text beide Gruppen nicht zusammenbringt, liegt es aufgrund der gleichen Erfahrungen, die sie mit Jesus machen, nahe, dass sie als Erinnerungsgemeinschaft eine gemeinsame Gruppe sind. In seiner ältesten Form endet das Markusevangelium in 16,8 mit der Flucht der Frauen vom Grab und dem Satz, dass sie (zunächst) niemandem etwas davon erzählten, weil sie sich fürchteten. Die Leser stehen am Ende der Geschichte genau bei diesen Fragen und der Text ist so strukturiert, dass der erste Impuls sein sollte: „das darf doch so nicht enden“. Auch wenn diese Situation strukturell schon am Anfang (1,14) anklingt, ist sie damit noch nicht gelöst, aber die Erwartung an die Leser ist umso deutlicher: Auch in schwierigen Zeiten für die Weitergabe der Reich-Gottes-Botschaft zu sorgen. Im Markusevangelium wird die progressive Geschichte des Anfangs des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes demnach regressiv erzählt mit dem Ziel, die Adressaten für die Weiterführung dieses Projekts zu gewinnen. Zu einer Gründungserzählung gehört neben der Darstellung der fundie‐ renden Ereignisse auch die Frage, was es heißt, Teil der Gemeinschaft zu sein, die sich auf diese Ereignisse beruft. Im Markusevangelium wird daher nicht nur verhandelt, wie man Jesus und seine Botschaft vom Anbruch der Gottesherrschaft am besten versteht, sondern auch, was dieses Verständnis für das eigene Leben bedeutet. So gelesen, liefert das Markusevangelium einen Interpretationsrahmen nicht nur für die Geschehnisse mit Jesus, sondern auch einen sozialen Rahmen, in dem frühchristliche Identitäten entworfen werden können. Als Identifikationsfigur und Vorbild dient dabei Jesus selbst. Am Beispiel Jesu und seiner besonderen Beziehung zu Gott, in die die Leser in der Tauferzählung hineingenommen werden (1,10–11), erzählt der Text von der Einladung an alle Menschen, in eine solche Beziehung zu Gott einzutreten. Zusätzlich wird am Beispiel Jesu erzählt, wie sich die Ankunft des Gottesreiches

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in der Welt manifestiert (Exorzismen, Heilungen und Wunder) und wie eine dieser Wirklichkeit adäquate Sozialform aussehen kann, sprich: Wer mit wem spricht, wer wen berührt und wer mit wem isst. Als Familienbild zeigt das Markusevangelium, wie sich aus dem Verständ‐ nis Jesu und seines Schicksals für die Erzählgemeinschaft eine gemeinsame Identität konstituiert, zu der auch neue Familienmitglieder hinzutreten können, sofern deren Erfahrungen zu denen der Gruppe passen und sie ihr Jesusbild teilen. Die Darstellung des Markusevangeliums zeigt damit vor allem, wie die Gruppe die Erfahrungen mit Jesus und seiner Botschaft versteht, und sich und ihre Aufgabe vor diesem Verständnis entwirft.

Im folgenden Text sind Erzählerkommentare und interne Fokalisie‐ rungen ausgewiesen, ebenso Zeitsprünge (durch eine Leerzeile) und Summarien. Zur besseren Übersicht ist der Text nach dem Grundsatz gegliedert, dass wörtliche Rede eingerückt ist. 11Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn. Wie geschrieben steht beim Propheten Jesaja – Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg bahnen wird. 3 Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen! –, 4 so trat Johannes der Täufer in der Wüste auf und verkündete eine Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden. 5 Ganz Judäa und alle Einwohner Jerusalems zogen zu ihm hinaus; sie bekannten ihre Sünden und ließen sich im Jordan von ihm taufen. 6 Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften und er lebte von Heuschrecken und wildem Honig. 7 Er verkündete: Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich; ich bin es nicht wert, mich zu bücken und ihm die Riemen der Sandalen zu lösen. 8 Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen. 2

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

Und es geschah in jenen Tagen, da kam Jesus aus Nazaret in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. 10 Und sogleich, als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel aufriss und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. 11 Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden. 12 Und sogleich trieb der Geist Jesus in die Wüste. 13 Jesus blieb vierzig Tage in der Wüste und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm. 9

Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes 15 und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! 14

Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihre Netze auswarfen; sie waren nämlich Fischer. 17 Da sagte er zu ihnen: Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. 16

Und sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm nach. Als er ein Stück weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie waren im Boot und richteten ihre Netze her. 20 Sogleich rief er sie und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit seinen Tagelöhnern im Boot zurück und folgten Jesus nach. 21 Sie kamen nach Kafarnaum. denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat,

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II.3  Traditionen erzählen: Das Markusevangelium als Erzähltext

nicht wie die Schriftgelehrten. 23 In ihrer Synagoge war ein Mensch, der von einem unreinen Geist besessen war. Der begann zu schreien: 24 Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazaret? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes. 25 Da drohte ihm Jesus: Schweig und verlass ihn! 26 Der unreine Geist zerrte den Mann hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei. 27 Da erschraken alle und einer fragte den andern: Was ist das? Eine neue Lehre mit Vollmacht: Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl. 28 Und sein Ruf verbreitete sich rasch im ganzen Gebiet von Galiläa. Sie verließen sogleich die Synagoge und gingen zusammen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und Andreas. 30 Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen sogleich mit Jesus über sie 31 und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie diente ihnen. 29

Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus. 33 Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt 34 und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Und er verbot den Dämonen zu reden; denn sie wussten, wer er war. 32

In aller Frühe, als es noch dunkel war,

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Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. 36 Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, 37 und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich. 38 Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen. 39 Und er zog durch ganz Galiläa, verkündete in ihren Synagogen und trieb die Dämonen aus. Ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du mich rein machen. 41 Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will – werde rein! 42 Sogleich verschwand der Aussatz und der Mann war rein. 43 Jesus schickte ihn weg, wies ihn streng an 44 und sagte zu ihm: Sieh, dass du niemandem etwas sagst, sondern geh, zeig dich dem Priester und bring für deine Reinigung dar, was Mose festgesetzt hat – ihnen zum Zeugnis. 45 Der Mann aber ging weg und verkündete bei jeder Gelegenheit, was geschehen war; er verbreitete die Geschichte, sodass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überallher zu ihm. 40

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II.3  Traditionen erzählen: Das Markusevangelium als Erzähltext

21Als er nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum hineinging, wurde bekannt, dass er im Hause war. 2 Und es versammelten sich so viele Menschen, dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war; und er verkündete ihnen das Wort. 3 Da brachte man einen Gelähmten zu ihm, von vier Männern getragen. 4 Weil sie ihn aber wegen der vielen Leute nicht bis zu Jesus bringen konnten, deckten sie dort, wo Jesus war, das Dach ab, schlugen die Decke durch und ließen den Gelähmten auf seiner Liege durch die Öffnung hinab. 5 Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! 6 Einige Schriftgelehrte aber, die dort saßen, dachten in ihrem Herzen: 7 Wie kann dieser Mensch so reden? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott? 8 Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich dachten, und sagte zu ihnen: Was für Gedanken habt ihr in euren Herzen? 9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben! oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Liege und geh umher? 10 Damit ihr aber erkennt, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben – sagte er zu dem Gelähmten: 11 Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Liege und geh nach Hause! 12 Er stand sofort auf, nahm seine Liege und ging vor aller Augen weg. Da gerieten alle in Staunen; sie priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen. Jesus ging wieder hinaus an den See. Da kamen Scharen von Menschen zu ihm und er lehrte sie. 13

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

Als er weiterging, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Levi auf und folgte ihm nach.

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Und als Jesus in dessen Haus zu Tisch war, da waren viele Zöllner und Sünder zusammen mit ihm und seinen Jüngern zu Tisch; es waren nämlich viele, die ihm nachfolgten. 16 Als die Schriftgelehrten der Pharisäer sahen, dass er mit Zöllnern und Sündern aß, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann er zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? 17 Jesus hörte es und sagte zu ihnen: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder. 15

Da die Jünger des Johannes und die Pharisäer zu fasten pflegten, kamen Leute zu Jesus und sagten: Warum fasten deine Jünger nicht, während die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer fasten? 19 Jesus antwortete ihnen: Können denn die Hochzeitsgäste fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten. 20 Es werden aber Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam weggenommen sein; dann werden sie fasten, an jenem Tag. 21 Niemand näht ein Stück neuen Stoff auf ein altes Gewand; denn der neue Stoff reißt vom alten Gewand ab und es entsteht ein noch größerer Riss. 22 Auch füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche. Sonst zerreißt der Wein die Schläuche; der Wein ist verloren und die Schläuche sind unbrauchbar. Junger Wein gehört in neue Schläuche.

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II.3  Traditionen erzählen: Das Markusevangelium als Erzähltext

An einem Sabbat ging er durch die Kornfelder und unterwegs rissen seine Jünger Ähren ab. 24 Da sagten die Pharisäer zu ihm: Sieh dir an, was sie tun! Das ist doch am Sabbat nicht erlaubt. 25 Er antwortete: Habt ihr nie gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren und nichts zu essen hatten, 26 wie er zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar in das Haus Gottes ging und die Schaubrote aß, die außer den Priestern niemand essen darf, und auch seinen Begleitern davon gab? 27 Und Jesus sagte zu ihnen: Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat. 28 Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. 23

31Als er wieder in die Synagoge ging, war dort ein Mann mit einer verdorrten Hand. 2 Und sie gaben Acht, ob Jesus ihn am Sabbat heilen werde; sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn. 3 Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Steh auf und stell dich in die Mitte! 4 Und zu den anderen sagte er: Was ist am Sabbat erlaubt – Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Sie aber schwiegen. 5 Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz, und sagte zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er streckte sie aus und seine Hand wurde wiederhergestellt. 6 Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Beschluss, Jesus umzubringen.

II.4 Traditionen weiterentwickeln: Das Lukasevangelium als zweiter Entwurf Das Lukasevangelium erschließt sich als gut inszeniertes Familienbild nicht nur aus sich selbst, sondern sogar noch besser, wenn man es mit verwandten Bildern wie dem Markusevangelium vergleicht. Dann erscheint es als selbstbewusste Darstellung einer Familie, die in ihrem Leben als Jesusnachfolger Heimat und Sicherheit gefunden hat. Das Lukasevangelium ist in der dritten urchristlichen Generation entstan‐ den und anonym überliefert. Der genauere Entstehungskontext ist unbe‐ kannt. Der Autor des dritten Evangeliums erzählt in seinem Text die Jesusgeschichte für seine Generation und ihre Bedürfnisse noch einmal neu und setzt dabei andere Akzente als Markus. Wie alle Evangelien ist auch das Lukasevangelium anonym überliefert, und der Titel wuchs ihm erst im zweiten Jahrhundert zu. Im Vorwort wird ein sonst nicht näher bekannter Theophilus als Adressat genannt, der im Grunde in jeder größeren Stadt des Imperium Romanum zuhause sein könnte. Nachdem beim Markusevangelium die kleinteilige Arbeit an einem klei‐ nen Textstück im Vordergrund stand, treten wir beim Lukasevangelium wieder etwas zurück und betrachten den Gesamtentwurf: Was ist nach dem Prolog vom Text zu erwarten und wie gestaltet Lukas seine Erzählung insgesamt? Welche kulturellen Referenzrahmen werden genutzt? Wer trifft Jesus und welche Erfahrungen machen die Erzählfiguren mit ihm? Und schließlich: Wie wird Jesus selbst dargestellt? 1. 2. 3. 4.

Welche Leseerwartung weckt der Anfang (Lk 1,1–4)? Wie ist die Erzählung insgesamt gestaltet? Welche kulturellen Referenzrahmen werden genutzt? Wer trifft Jesus und welche Erfahrungen machen die Erzählfiguren mit ihm? 5. Wie wird Jesus dargestellt?

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II.4  Traditionen weiterentwickeln: Das Lukasevangelium als zweiter Entwurf

Diese Arbeitsschritte werden im Einzelnen am Text abgegangen, danach werden wiederum die Beobachtungen gebündelt und gedächtnistheoretisch ausgewertet. Die Darstellung im Folgenden mag zunächst oberflächlich und im Vergleich mit dem close reading der beiden Briefe in II.1 und II.2 wenig detailliert erscheinen. Da das Lukasevangelium das umfangreichste Buch des Neuen Testaments ist, lohnt es sich jedoch, etwas zurückzutreten, um den ganzen Text wirklich als ein Bild im frühchristlichen Familienalbum wahrzunehmen. Der Anfang des Lukasevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen Das Vorwort, mit dem sich das Lukasevangeliums vorstellt (Lk 1,1–4), ist ähnlichen Proömien in der antiken Literatur nachempfunden. Die sprach‐ liche Gestaltung zeigt, dass der Text sich in der Tradition der gebildeten antiken Literatur versteht. Die vier Verse sind im Griechischen ein einziger Satz, und wir haben es dabei nicht mit Umgangssprache zu tun, sondern mit kultiviertem Koine-Griechisch auf höchstem Niveau. Der Prolog stellt den Text damit als ein Werk für eine breite Öffentlichkeit, aber auch für gehobene Schichten vor. Sprachlich und stilistisch haben wir es nicht mit einem Text zu tun, der von einer sektiererischen Splittergruppe des Judentums stammt, zumindest nicht dem Vorwort nach: Da nun schon viele versuchten, eine Erzählung von den Ereignissen zu verfassen, die sich unter uns erfüllt haben, 2wie sie uns die überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind, 3schien es auch mir gut, der ich allem von Anfang an genau gefolgt bin, es dir, bester Theophilus, genau nacheinander zu schreiben, 4damit du die Sicherheit der Worte erkennst, über die du unterrichtet worden bist.52

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■ Beim Lesen des Vorworts stechen mehrere Dinge ins Auge: Zunächst stellt sich der Autor in eine Tradition, indem er klarstellt, dass er nicht der Erste ist, der sich diesem Gegenstand widmet, sondern Vorläufer hat, die bereits den gleichen Versuch unternommen haben, nämlich eine Erzählung (διήγησις, diēgēsis) von den Ereignissen (πρᾶγμα, pragma) zu verfassen, die sich unter uns erfüllt haben. Während in der Forschung 52

Eigene Übersetzung.

Der Anfang des Lukasevangeliums: Leseerwartungen und Vorwissen

darum gerungen wird, ob diēgēsis eher ein Bericht oder eine Erzählung ist und womöglich als Fachterminus für ein historiographisches Werk verstanden werden muss, ist für uns noch interessanter, dass sich diese Dinge unter uns erfüllt haben. Mit der Formulierung erfüllt haben (πληροφορέω, plērophoreō) kommt religiöses Vokabular in den Text hinein. ■ Von Erfüllung ist im Text an vielen Stellen die Rede: Schon wenig später wird Zacharias gestraft, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, die in Erfüllung gehen (1,20). Jesus, der erfüllt (2,40) ist von Weisheit und auf dem die Gnade Gottes ruht, erklärt zum Ende seiner ersten Rede in der Synagoge von Nazaret, dass sich die Worte des Propheten Jesaja, die er gerade vorgetragen hatte, erfüllt haben (4,21). Nachdem Jesus die Rede in 6,20–49 beendet hat, heißt es, dass er, nachdem er alle seine Worte erfüllt hatte, nach Kapharnaum weitergeht (7,1). Während der Verklärung erscheinen ihm Mose und Elija, die von seinem Ausgang (ἔξοδος, exodos) sprechen, den er in Jerusalem erfüllen sollte (9,31). Entsprechend fasst Jesus den Entschluss, nach Jerusalem zu gehen, als sich die Tage erfüllten, an denen er hinaufgenommen werden sollte (9,51). In seiner Abschiedsrede beim letzten Abendmahl spricht Jesus von den kommenden Ereignissen in Jerusalem, bis der Zeitpunkt (καιρός, kairos) der Heiden erfüllt ist (21,24) und fügt kurz darauf hinzu, dass er das Passahmahl nicht mehr essen wird, bis es im Reich Gottes erfüllt sein wird (22,16). Am Schluss des Textes, kurz vor seiner Aufnahme in den Himmel schärft der Auferstandene den Jüngern noch einmal ein: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Moses, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht (24,44). Erfüllung zieht sich demnach als wichtiges Thema durch den ganzen Text. Wenn der Autor sich zusätzlich noch als jemand vorstellt, der ich allem von Anfang an genau gefolgt ist, wird er als jemand erkennbar, der zwar nicht von Anfang an Teil der Gruppe der Jesusnachfolger war, sich aber durch seine eigene Unterweisung so gut mit ihren Traditionen auskennt, dass er sie (einem) anderen weitergeben kann, um dessen Identität zu stärken: damit du die Sicherheit der Worte erkennst, über die du unterrichtet worden bist. Es bleibt die Frage, wer dieser Theophilus ist, an den das Evangelium adressiert ist? Theophilus erscheint als ein Mann von angesehener sozialer Stellung (κράτιστος, kratistos), der in den Traditionen der Jesusnachfolger unterrichtet (κατηχήθης, katēchēthēs) ist und somit als Christ vorgestellt

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II.4  Traditionen weiterentwickeln: Das Lukasevangelium als zweiter Entwurf

wird. Das Lukasevangelium erscheint damit weder als Missionsschrift für Heiden noch als apologetische oder werbende Schrift für die Jesusnachfol‐ ger. Vielmehr geht es um Identitätsvergewisserung: Theophilus wird der Verlässlichkeit der Lehre – und damit der Identität – vergewissert, in der er unterwiesen wurde und die er zu leben einübt. Damit sind seine Herausforderungen denen der Adressaten des Kolosserbriefs womöglich recht ähnlich (vgl. II.2). So lässt sich festhalten: Der im Vorwort genannte Adressat des Lukasevangeliums ist ein Mann von angesehener Stellung, der bereits Christ ist und durch das Evangelium in seiner christlichen Identität bestärkt werden soll. Ob es um ihn herum eine Gemeinde gibt, wird nicht gesagt. Es ist für die weitere Lektüre festzuhalten, dass der Adressat zu den Reichen und Einflussreichen gehört. Erzählstimme und Gestaltung der Erzählung Wie ist die Erzählerwelt gestaltet? Wenn wir die Fragen, mit denen im letzten Kapitel Mk 1,1–3,6 analysiert wurde, zugrunde legen, lässt sich nach der ersten Lektüre des Lukasevangeliums folgendes festhalten. Wir haben es mit einer Nullfokalsierung zu tun, sprich: einem allwissenden Erzähler, der über der Figurenwelt schwebt, keinen direkten Kontakt zu ihr hat, und mehr weiß als die Erzählfiguren. Das Vorwort zeigt einen Erzählerstandpunkt nach den Ereignissen, der Erzähler weiß also schon wie die Geschichte ausgeht. Dieses – und anderes – Wissen teilt er mit dem Leser in Form von Erzählerkommentaren, die mal sachdienliche Hinweise zum Verständnis geben und ebenso häufig das Geschehen interpretieren. Überraschend häufig, insgesamt gut 150-mal, tauchen im Text Wendungen wie „denn“, „nämlich“ oder „weil“ auf. Nach dem Vorwort sind solche Kommentare jedoch zu erwarten, daher fallen sie weniger auf und die Erzählstimme des Lukasevangeliums wirkt insgesamt, vor allem im Vergleich zum Matthäusund Markusevangelium, eher zurückhaltend. Das Lukasevangelium ist stärker im dramatischen Modus gestaltet als das Markusevangelium und wirkt dadurch unmittelbarer und spannender. Dazu gehört, dass sich die Erzählstimme bei der inhaltlichen Argumentation weitgehend zurückhält und diese den Erzählfiguren überlässt. Bis auf ganz wenige Ausnahmen finden sich alle Zitate aus der Schrift in Aussagen von Erzählfiguren. Erfüllungszitate („das ist geschehen, damit sich erfüllt…“) finden sich überhaupt nicht, nur Jesus sagt in seiner Rede in der Synagoge

Erzählstimme und Gestaltung der Erzählung

in Kapharnaum, dass sich das Schriftwort aus dem Propheten Jesaja, das er gerade vorgetragen hat, heute erfüllt hat (4,21) und erläutert den Jüngern vor seiner Himmelfahrt, dass sich alles erfüllen muss, was über ihn im Gesetz des Mose, den Propheten und den Schriften über ihn geschrieben steht (24,44) und schlägt damit den Bogen zurück zum Prolog und den Dingen, die sich unter uns erfüllt haben (1,1). Der Adressat des Lukasevangeliums wird als reicher und einflussreicher Mann vorgestellt, der bereits Christ ist und durch das Evangelium in seiner christlichen Identität bestärkt werden soll. Dazu erzählt das Lukas‐ evangelium im dramatischen Modus die Geschichte von Jesus und seiner Botschaft. Der Erzählerstandpunkt ist zwar deutlich nach den Ereignissen, doch die Erzählung wirkt dadurch, dass die Erzählstimme sehr zurückhal‐ tend ist, bei der chronologischen Abfolge der Ereignisse bleibt, weitergehend auf Erzählerkommentare und interne Fokalisierungen verzichtet und die inhaltliche Auseinandersetzung in der erzählten Welt belässt, unmittelbar und lebendig, sodass die Leser in die Erkenntnis- und Lernprozesse der Erzählfiguren mitgenommen werden. Die Ereignisse werden entsprechend ihrer Chronologie und singulativ er‐ zählt. Interne Fokalisierungen finden sich selten, was ebenfalls den Eindruck verstärkt, unmittelbar am Geschehen beteiligt zu sein. Besonders auffällig ist, dass im Text „siehe“ verwendet – und damit der Leser einbezogen – wird, wo es auch von einer Erzählfigur heißen könnte „und er sah…“. Die weitge‐ hende Zurückhaltung überlässt den Erzählfiguren die Bühne, dadurch wirkt die Erzählung unmittelbar und lebendig. Namenlose Erzählfiguren wie der Begleiter des Kleopas (24,13–35) erlauben die eigene Einschreibung in den Text und offene Enden wie in 15,32 regen die weitere Auseinandersetzung mit dem Text und seinen Aussagen an. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass der Text nicht belehren, sondern informieren und unterhalten will, und die Belehrungen dem Protagonisten Jesus überlassen werden. Das Lukasevangelium ist dabei nicht geheimnisvoll: Alle Informationen zum richtigen Verständnis Jesu und seines Schicksals sind in der erzählten Welt bekannt und es liegt an den einzelnen Erzählfiguren, ob sie sie nutzen.

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II.4  Traditionen weiterentwickeln: Das Lukasevangelium als zweiter Entwurf

Kulturelle Rahmen im Lukasevangelium Wie geht das Lukasevangelium mit kulturellen Rahmen um? Zunächst nimmt es sich viel Zeit, die Story aufzubauen und stellt in den ersten vier Kapiteln erst einmal die Hauptfigur Jesus in aller Ausführlichkeit vor. Bevor Jesus in der Erzählung seine Botschaft verkündet und Begegnungen mit anderen Erzählfiguren erzählt werden, wendet die Erzählung viel Zeit auf, um sicherzustellen, dass der Leser verstanden und sich vergewissert hat, wer Jesus ist und wie er richtig verstanden werden kann. Die Kapitel 3–4 bieten sich für eine Betrachtung im Hinblick auf Identi‐ tätsbildung sehr gut an. Ein Vergleich zwischen der markinischen und der lukanischen Darstellung der Taufe Jesu zeigt, wie unterschiedlich die beiden Texte sind: Mk 1,9–11 9 Und es geschah in jenen Tagen, da kam Jesus aus Nazaret in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jor‐ dan taufen. 10 Und sogleich als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel aufriss und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. 11 Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefun‐ den. [12Und sogleich trieb der Geist Jesus in die Wüste]

Lk 3,21–22 Es geschah aber, dass sich zusammen mit dem ganzen Volk auch Jesus taufen ließ.

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Und während er betete, öffnete sich der Himmel 22 und der Heilige Geist kam sichtbar in Gestalt einer Taube auf ihn herab und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefun‐ den. [23Jesus war, als er zum ersten Mal öffentlich auftrat, etwa dreißig Jahre alt. Er galt als Sohn Josefs]

Die Taufszene im Markus- und Lukasevangelium im Vergleich

Der größte Unterschied zwischen beiden Versionen ist, dass die Markusfas‐ sung einen Wechsel der wahrnehmenden Instanz hat und die Lukasfassung nicht: Während bei Markus Jesus selbst über seine besondere Beziehung zu

Kulturelle Rahmen im Lukasevangelium

Gott in Kenntnis gesetzt wird, erfahren es bei Lukas alle außer Jesus, der ins Gebet vertieft ist. Der lukanische Jesus weiß, wer er ist, doch damit die Leser dessen versichert werden, folgt nicht direkt die Versuchung in der Wüste, sondern ein Stammbaum (3,23–38), der auch noch einmal festhält, dass das große Missverständnis darin besteht, dass die anderen Erzählfiguren Jesus für den Sohn Josefs halten, aber nicht für den Gottessohn. Jesus, der erfüllt ist vom Heiligen Geist (πλήρης, plērēs, 4,1), kehrt nun in die Wüste zurück, um dort zu fasten und in Versuchung geführt zu werden, bevor er in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurückkehrt (4,14) und schließlich in der Synagoge von Nazaret seinen ersten öffentlichen Auftritt hat. Der Geist, der nach der Taufe auf Jesus herabgestiegen ist (3,22), ist der Grund, warum Jesus nicht nur fähig, sondern gewissermaßen getrieben ist, das zu tun, was er tut (4,1–14.18; 5,17). Der kulturelle Referenzrahmen, innerhalb dessen die Ereignisse zu verorten sind, wird zweimal direkt genannt (3,4–6; 4,16–19) und kommt vom Propheten Jesaja: Jesus ist mit Gottes Geist gesalbt (χριστός, christos) und er ist derjenige, der gesandt ist, um das Gottesvolk zu trösten, zu ermahnen und ihm die frohe Botschaft zu verkünden (εὐαγγελίζω, euangelizō). Dazu zitiert der Text Jes 40,3–5 und Jes 61,1/58,6 mit Verweis auf den Propheten. Zum Ende des vierten Kapitels hält die Erzählstimme noch einmal fest, dass Jesus wirklich der Gesalbte Gottes ist: Von vielen fuhren auch Dämonen aus und schrien: Du bist der Sohn Gottes! Da drohte er ihnen und ließ sie nicht reden; denn sie wussten, dass er der Christus war (4,41). Erst danach kann mit der Berufung des Simon (5,1–11) die Geschichte von Jesus und denen, die durch die Begegnung mit ihm verändert werden, sowie denen, die ihm nachfolgen, beginnen. Jesaja und seine Botschaft spielen eine entscheidende Rolle in den ersten vier Kapiteln. Von den sieben direkten Zitaten aus dem Jesajabuch kommen die beiden ersten und die einzigen, die als Jesajazitate gekennzeichnet sind (3,4–6; 4,18–19), in diesen Teil vor. Ebenfalls auffällig ist, dass sie die einzigen Jesajazitate sind, die nicht zur Figurenrede gehören, sondern Teil der Leserkommunikation sind. Entsprechend geht es nicht darum, das Wissen der Erzählfiguren zu erweitern, sondern sicherzustellen, dass der Leser – Theophilus und alle, die den Text später lesen – Bescheid weiß. Wenn Jesus seine Jünger später fragt, für wen sie ihn halten, bestätigt Petrus, was der Leser – dank der Herabkunft des Heiligen Geistes auf Jesus nach der Taufe, Jesu eigenen Worte zu Jes 61,1 und dem Einblick des Erzäh‐ lers in das Wissen der Dämonen – schon sicher weiß: Jesus ist der Gesalbte Gottes (τὸν χριστὸν τοῦ θεοῦ, ton christon tou theou, 9,20). Nachdem dieses

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Wissen auf der Figurenebene angekommen ist, kann der Rahmen geweitet werden, noch immer auf der Basis von Jesaja: Der Gesalbte Gottes muss leiden, genau wie der Gottesknecht bei Jesaja. Die spezielle Ausgestaltung dieses Leidens mag dem historischen Kontext geschuldet sein, doch die Begründung und das Verstehensmuster, das das Lukasevangelium anbietet, stammen aus den Schriften Israels. Begründung und Verstehensmuster erschließen sich dabei jedoch nur in der Retrospektive, wie die Emmauser‐ zählung (24,13–35) zeigt: Da sagte er zu ihnen: Ihr Unverständigen, deren Herz zu träge ist, um alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Musste nicht der Christus das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht. (24,25–27)

Der kursorische Durchgang zeigt, dass das Lukasevangelium die Geschichte und das Schicksal Jesu in einem jüdischen Referenzrahmen verortet, um ihnen Sinn abzugewinnen. Der Text versteht Jesus auf der Grundlage der Schrif‐ ten Israels und ihren Verheißungen, insbesondere denen der prophetischen Tradition. Jesu Schicksal wird in den Kategorien „Prophetenschicksal“ und „leidender Gerechter“ verortet, die bereits im Markusevangelium greifbar sind und in der Passionserzählung weiter ausgebaut werden (22,13–48). Das Lukasevangelium nutzt die Schriften Israels in zweifacher Weise als sozio-kulturellen Referenzrahmen für die Identitätsbildung der Jesus‐ nachfolge: Sie ist der Bezugsrahmen für die Lehre Jesu und nur auf der Grundlage der Schriften Israels lässt sich wirklich verstehen, wer Jesus ist. Wenn man berücksichtigt, dass die Erzählung in 1,8 im Tempel beginnt und in 24,53 im Tempel endet, lässt sich als erstes Ergebnis festhalten: Das Lukasevangelium nutzt die Schrift als religiösen und kulturellen Referenz‐ rahmen für die Identitätsbildung der Jesusnachfolger. Ein genauerer Blick zeigt, dass die Tora, die Psalmen und Jesaja der Evangelienerzählung vom Beginn im Tempel bis zum Ende im Tempel als Struktur zugrunde liegen. Diese Struktur zeigt sich auf zwei Ebenen: Zum einen nutzt Jesus sie als Referenzrahmen für seine Lehre und zum anderen bietet die Schrift den einzig richtigen Referenzrahmen, um Jesus zu verstehen.

Erzählfiguren im Lukasevangelium

Erzählfiguren im Lukasevangelium Zwei Analysefragen helfen zu verstehen, wie das Verhältnis der anderen Erzählfiguren zu Jesus ist und welche Botschaft über die einzelnen Episoden hinaus kommuniziert wird: a) Welche Erfahrungen machen die Erzählfigu‐ ren mit Jesus? Und: b) Wer sind diejenigen, die diese Erfahrungen machen? Das Lukasevangelium erzählt von einer Reihe von lebensverändernden Begegnungen: Im direkten Kontakt mit Jesus erkennen die Erzählfiguren, wer sie sind, und dass sie sich und ihren Sinn nicht nur verändern müssen (μετάνοια, metanoia), sondern das auch wollen. Dabei ist es nicht Jesus, der die anderen aufsucht und auf ihre Umkehrbedürftigkeit hinweist, sondern sie kommen zu ihm und erkennen diesen Bedarf selbst. Im Rückblick kann dieser besondere Moment in Form einer Wundergeschichte erzählt werden, wie es bei Simon der Fall ist (5,1–11). Die direkte Konfrontation mit Jesu Wort und Tat löst bei ihm einen Selbsterkenntnis- und Veränderungsprozess aus: Geh weg von mir; denn ich bin ein sündiger Mann, Herr! (5,8). Diesen Willen zur Veränderung, der aus der Selbsterkenntnis erwachsen ist, nimmt Jesus an und spricht ihm Mut zu: Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen (5,10). Die Berufung des Simon ist die erste von vielen heilsamen und lebensver‐ ändernden Begegnungen mit Jesus in der erzählten Welt. Die zugrundelie‐ gende Erfahrung ist, dass die Begegnung mit Jesus die Menschen und ihr Leben verändert. Diese Veränderung geschieht hauptsächlich dadurch, dass die Menschen Jesus zuhören, in seiner Gegenwart einen unverstellten Blick auf sich selbst bekommen und gleichzeitig Annahme und Heilung erfahren. Die lebensverändernde Begegnung mit Jesus kann in unterschiedlichen Formen erzählt werden: Als Wunder- und Berufungsgeschichte wie bei Simon, als Mahlgeschichte wie bei Levi (5,27–32), als Heilungsgeschichte wie bei Jaïrus (8,40–56) oder als Begegnung wie bei Zachäus (19,1–10). Viele dieser Begegnungen geschehen im Rahmen eines Mahls oder enden mit Tischgemeinschaft. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Annahme und Aufnahme in die Gemeinschaft auch durch Tischgemeinschaft ausge‐ drückt wird, und andererseits damit, wer die Erzählfiguren sind, was uns zur zweiten Frage bringt: Wer sind diejenigen, die diese Erfahrungen mit Jesus machen? Das Lukasevangelium greift einerseits auf das Markusevangelium zurück und erzählt Begegnungen mit Jesus, die dort überliefert sind, noch einmal neu. Dazu gehören beispielsweise die Berufungen von Simon und Levi und

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die Begegnung mit Jaïrus, der um die Heilung seiner Tochter bittet. Wie sich gut an der Berufung des Simon zeigen lässt, setzt das Lukasevangelium dabei eigene Akzente: Nicht nur, dass die Episode ans Ende des Aufenthalts in Kapharnaum verlegt und Simon erst berufen wird, nachdem er Jesus in der Synagoge lehren und heilen erlebt, und den ihm zu diesem Zeitpunkt noch eher fremden Mann gastfreundlich in sein Haus einlädt, wo er seine Schwiegermutter heilt (4,31–41) – der lukanische Simon ist im Unterschied zum markinischen auch Bootsbesitzer. Dadurch, dass die Berufung des Simon erst nach einer Reihe von Begeg‐ nungen und der Rückkehr nach einer Zeit der Abwesenheit stattfindet (4,42–44), ändert sich auch der Charakter des Besuchs bei Simon (4,38): Jesus geht nicht wie selbstverständlich mit dem Jünger in sein Haus, sondern ist zu Gast bei einem noch fremden, der ihn offenbar eingeladen hat. Kaum merk‐ lich werden damit die Themen Gastfreundschaft und Tischgemeinschaft eingeführt. Auch das Mahl bei Levi nach dessen Berufung verändert sich gegenüber der markinischen Fassung. Während es dort heißt, dass Jesus bei ihm zu Tisch liegt (κατάκειμαι, katakeimai, 2,15), heißt es hier, dass Levi ein großes Gastmahl, einen Empfang (δοχή, dochē, 5,29) gibt. Auch wenn es im Grunde offensichtlich ist, wirkt der lukanische Levi reich, zumindest reicher als der markinische.53 Neben den Veränderungen, die an den markinischen Erzählfiguren vor‐ genommen werden, führt das Lukasevangelium auch eigene Erzählfiguren ein, von denen viele über ein Charakteristikum verbunden sind: Sie sind bessergestellt und nicht selten auch wohlhabend. Der Hauptmann (ἑκατοντάρχης, hekatontarchēs) von Kapharnaum (7,1– 10) ist ein reicher Heide, der sich als Mäzen betätigt und den Juden vor Ort eine Synagoge gebaut hat (7,3–5). Er ist reich, der jüdischen Religion zugewandt, und steht so gut mit den jüdischen Ältesten, dass er sie zu Jesus schicken kann. Es handelt sich nicht nur um einen reichen, sondern auch um einen einflussreichen Mann, der einen todkranken Sklaven hat und Jesus um

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Tatsächlich muss Levi – ebenso wie andere Zöllner – wohlhabend sein, denn Zollund Abgabenpächter kommen in dieser Zeit durch eine jährliche Versteigerung des jeweiligen Gebietes an ihre Einkommensquelle. Sie müssen also für das, von dem vermutet wird, dass sie es einnehmen werden, in Vorleistung treten, was nur dann möglich ist, wenn man bereits einen gewissen Wohlstand hat. Von Zöllnern, die Zollstationen auf Kredit ersteigern, ist nichts bekannt. Vgl. Sandra Huebenthal: „Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen!“ (Lk 15,2). Zur Konstruktion von Sünderrollen im Lukasevangelium, in: SNTU 40 (2015), 15–41.

Erzählfiguren im Lukasevangelium

Hilfe ansucht. Der Synagogenvorsteher (ἄρχων τῆς συναγωγῆς, archōn tēs synagōgēs) Jaïrus und seine Tochter, die im Sterben liegt (Lk 8,40–56), sind spiegelbildlich zum Hauptmann und bekräftigen, was Jesus meint, wenn er den Glauben des Hauptmannes lobt (7,9). Auch die zwölfjährige Tochter von Jaïrus wird gerettet und auch hier braucht es das Vertrauen eines Oberen, der selbst nichts tun kann. An der Schwelle des Todes können die Macht und der Einfluss der Mächtigen nichts mehr ausrichten – ganz egal, welche Rolle sie im Militär oder der Synagogengemeinde spielt und wieviel Einfluss sie haben. Die kurze Notiz über die Frauen im Gefolge Jesu (8,1–3) zeigt, dass der Weg zu Jesus vermittels der Überwindung von Krankheit eröffnet werden kann: In der folgenden Zeit wanderte er von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und verkündete das Evangelium vom Reich Gottes. Die Zwölf begleiteten ihn, außerdem einige Frauen, die er von bösen Geistern und von Krankheiten geheilt hatte: Maria Magdalene, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, Johanna, die Frau des Chuzas, eines Beamten des Herodes, Susanna und viele andere. Sie alle unterstützten Jesus und die Jünger mit ihrem Besitz.

Auch diese Frauen sind nicht arm: Johanna, die Frau des Verwalters des Herodes (Antipas), Susanna und die anderen unterstützen Jesus mit ihrem eigenen Besitz, nicht mit dem ihrer Männer oder Väter. Auch Marta und ihre Schwester Maria gehören zu den Frauen, die Jesus unterstützen. In 10,38 heißt es, dass Jesus, als er in ein Dorf kam, von einer Frau namens Marta aufgenommen wurde. Nicht wenige namhafte Textzeugen lesen, dass Marta Jesus in ihr Haus aufnahm. Marta untersteht also nicht nur keinem Mann, sondern hat offensichtlich auch ein eigenes Haus. Auch sie ist eine Erzählfigur, die nicht arm und hilfsbedürftig ist. Sie mag sich, wie Jesus ihr bestätigt, zu viele Sorgen um das Übrige herum machen (10,41), aber eines hat sie wohl nicht: Geldsorgen. In 14,1 wird Jesus am Sabbat in das Haus eines der Oberen der Pharisäer (ἄρχων τῶν Φαρισαίων, archōn tōn Pharisaiōn) zum Brotessen eingeladen. Es ist nicht die erste Einladung dieser Art: Bereits in 11,37 wurde Jesus von einem Pharisäer zum Essen eingeladen und Simon, der Jesus in 7,36 zum Essen bittet, ist ein Pharisäer. Das Gastmahl bei Simon bleibt im Gedächtnis, weil hier eine Frau auftaucht, die Jesus salbt und seine Füße mit ihren Tränen wäscht (7,36–50). Bei den Tischgesprächen, die im Haus des Oberen der

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Pharisäer (14,1–26) geführt werden, geht es um das rechte Verhalten beim Gastmahl und die rechten Gäste – ein Thema reicher Menschen. Nicht nur bei diesem Gastmahl, auch sonst erzählt der lukanische Jesus in seinen Gleichnissen häufiger von Bessergestellten oder Wohlhabenden: Das Gleichnis vom Verwalter der Ungerechtigkeit (16,1–8) spielt nicht im Milieu der Kleinbauern, sondern im Milieu des internationalen (Groß-)Han‐ dels, und der reiche Mensch, der im Lazarusgleichnis (16,19–31) auftaucht, wird als einer beschrieben, der sich in Purpur und Feinleinen kleidet und täglich glänzend feiert (16,19). Auch die Protagonisten der Gleichnisse vom Gastmahl (14,16–24), vom Turmbau und Kriegführen (14,28–33) und vom anvertrauten Geld (19,11–27) sind keine armen Leute. Als weitere Vertreter der Spezies „reiche Oberschicht“ begegnen im Lukasevangelium ein reicher Oberer (ἄρχων, archōn), der Jesus fragt, was er getan haben muss, um ewiges Leben zu erben (18,18–30), der reiche Oberzöllner (ἀρχιτελώνης, architelōnēs) Zachäus (19,1–10), und sogar der Tetrarch (τετραάρχης, tetrarchēs) Herodes Antipas. Das Lukasevangelium platziert das Interesse Herodes Antipas’ an Jesus mitten in die Passionsge‐ schichte. Pilatus schickt den Galiläer Jesus zu Herodes Antipas, der sich just zu Passah in Jerusalem aufhält: Herodes freute sich sehr, als er Jesus sah; schon lange hatte er sich gewünscht, ihn zu sehen, denn er hatte von ihm gehört. Nun hoffte er, ein von ihm gewirktes Zeichen zu sehen (23,8). Dass Herodes den Wunsch hatte, Jesus zu sehen, ist bereits seit 9,9 bekannt. Nun wird ihm dieser Wunsch erfüllt, doch es geschieht nicht, was Herodes sich von der Begegnung erhofft: Er stellte ihm viele Fragen, doch Jesus gab ihm keine Antwort (23,9). Die drei Begegnungen vermitteln den Eindruck, dass das Interesse der Obersten der Gesellschaft an Jesus völlig normal und nicht negativ konnotiert ist. Es fragt sich lediglich, ob ihre Erwartungen dabei die richtigen sind. Das Lukasevangelium erzählt, wie Menschen zu Jesus kommen, von ihm angenommen werden, und so in seiner Gegenwart einen unverstellten Blick auf sich selbst gewinnen und ihren Sinn verändern. Diese lebens‐ verändernden Begegnungen werden häufig reichen und einflussreichen Erzählfiguren zuteil und sie werden in den Medien von Wunder- und Berufungsgeschichten, Mahl-, Heilungs- und Begegnungsgeschichten im dramatischen Modus episodisch-szenisch dargestellt.

Jesus im Lukasevangelium

Der kursorische Durchgang zeigt, dass sich das Lukasevangelium häufig mit den Reichen und Einflussreichen beschäftigt und sie an prominenter Stelle in den Erzählfaden eingewoben sind. Jesus begegnet einer Reihe von Reichen und Einflussreichen oder verwendet sie in seinen Gleichnis‐ sen als Anschauungsmaterial. Die Gastmähler und „Wirtschaftsgeschich‐ ten“ nehmen eher auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Reichen und Einflussreichen als auf die von Armen Bezug. Im Lukasevangelium wimmelt es geradezu von Reichen und Einflussreichen: Vorsteher wie der Hauptmann, der Synagogenvorsteher, Zachäus, Levi, Pharisäervor‐ steher und reiche Obere begegnen auf Schritt und Tritt. Neben seiner Zuwendung zu den Armen und Ausgegrenzten ist Jesus häufig zu Gast bei Mählern, die von Menschen veranstaltet werden, die nicht arm sind, und er hat dabei keinerlei Berührungsängste. Bei diesen Symposien werden zudem Szenen ins Bild gebracht, an die Reiche und Einflussreiche wie Theophilus anknüpfen können: Auch sie dürften regelmäßig Symposien veranstalten oder bei solchen zu Gast sein. Jesus im Lukasevangelium Die Heiligen Schriften Israels liefern den nötigen Referenzrahmen, um Jesus richtig zu verstehen: Im Rückgriff auf Jesaja wird Jesus im Lukasevangelium als Gesalbter und Gottessohn verstanden. Dieses Verständnis teilen in der Erzählwelt Erzähler und Adressat sowie in der Figurenwelt die Figuren auf der göttlichen und numinosen Ebene (Engel und Dämonen). Die Erzählfi‐ guren auf der menschlichen Ebene müssen sich dieses Verständnis jedoch noch erschließen, und nicht selten geschieht das erst im Rückblick. Von diesen Erkenntnisprozessen erzählt das Lukasevangelium vordergründig. Daneben stellt sich die Frage, wie die Erzählfigur Jesus dargestellt wird und in welchem Kontext sie steht. Vom Markusevangelium herkommend, gibt es hier einige Überraschungen. Zunächst situiert Lukas seine Erzählungen hauptsächlich im städtischen Umfeld, sodass er weniger von der galiläisch-ländlichen Welt Jesu erzählt als vielmehr von hellenistisch geprägten (Groß-)Städten, in denen die römische Kultur und Gesellschaft dominant sind. Wo Jesus bei Markus von Dörfern oder aus ländlichen Gebieten erzählt, sind es bei Lukas Stadtmenschen, die zusammenströmen, um das Sämanngleichnis zu hören und sich etwas über rechtes Zuhören mit auf den Weg geben lassen (Lk 8,4–18). Dabei

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verändert sich auch die Wahrnehmung Jesu selbst. Während der Jesus des Markusevangeliums Städte meidet und fast ausschließlich in Dörfern und auf dem Land unterwegs ist (Mk 1,45), erzählt Lukas, dass Jesus von Stadt zu Stadt und nicht nur von Dorf zu Dorf zieht (8,1–3). Auch die Aussendung der 72 Jünger in Lk 10,1–12 erfolgt in Städte; auch die direkt darauffolgenden Weherufe beziehen sich auf zwei Städte: Chorazin und Betsaida (10,13). Schon bei der Aussendung der Zwölf in 9,5 war von Städten die Rede, während es von den zwölf Jüngern heißt, sie seien von Dorf zu Dorf unterwegs gewesen (9,6). Auch sonst präsentiert Lukas einen Jesus, der anders ist als der des Mar‐ kus- und des Matthäusevangeliums. Wenn man im Hinterkopf behält, dass der im Vorwort genannte Adressat des Lukasevangeliums ein angesehener Mann von hoher sozialer Stellung ist, sind die leichten Veränderungen am Jesusbild, die Lukas vornimmt, noch verblüffender. In seinem Evangelium erzählt Lukas von einem Jesus, der um die Armen besorgt ist, aber nicht von einem armen Jesus. Das Reinigungsopfer anlässlich Jesu Darstellung im Tempel (2,22–40) – zwei Turteltauben oder zwei Junge Tauben – wird im Rückgriff auf die Regelungen im Buch Levitikus (Lev 12,6–8) meist als Ausweis der Armut der Familie Jesu gesehen. Neueren Erkenntnissen der Einleitungswissenschaft zufolge dürfte sich in der Wahl dieser Tiere weniger Armut als die Realität der Opferpraxis seiner Zeit spiegeln. Wolfgang Zwickel hat vorgerechnet, dass der Brandopferaltar im Tempel die Masse der Opfertiere, die jeden Tag in Flammen aufgingen, nicht hätte bewältigen können und deshalb aus praktischen Gründen eher Vögel als Großtiere geopfert wurden.54 Die Familie Jesu verändert sich im Lukasevangelium ebenfalls gegen‐ über Markus: Lukas streicht den Sohn des Bauhandwerkers (τέκτων, tektōn, Mk 6,3), dafür erzählt er davon, dass Jesu Eltern jedes Jahr an Passah nach Jerusalem gehen. Das macht sie nicht nur zu frommen Juden, sondern zeigt auch ihre wirtschaftliche Situation an. Selbst wenn man zu Fuß unterwegs ist, muss man sich die Reise nach Jerusalem leisten können und den Verdienstausfall, der in dieser Zeit entsteht, kompensieren. So ist es nicht überraschend, dass der Jesus des Lukas lesen kann und schriftgelehrt ist, wie sich schon in der Kindheitsgeschichte andeutet (2,46–50). In der Auseinandersetzung mit dem Teufel in der 54

Vgl. Wolfgang Zwickel: Leben und Arbeiten in biblischer Zeit. Eine Kulturgeschichte, Stuttgart 2013, 219.

Jesus im Lukasevangelium

Wüste (4,1–13) zeigt sich, dass Jesus sich bestens in der Tora auskennt und den Angriffen parieren kann, und bei seinem Auftritt in der Synagoge von Nazaret (4,16–30) erscheint Jesus als regelmäßiger Besucher des Synagogengottesdienstes, der es gewohnt ist, durch Schriftlesung und -auslegung eine aktive Rolle zu spielen. Insgesamt erscheint Jesus im Lukasevangelium mehr als ein hellenistischrömischer Stadtmensch als der Jesus des Markusevangeliums, der fast ausschließlich in Dörfern und ländlichen Gegenden unterwegs ist. Im Lukasevangelium kann Jesus nicht nur lesen, sondern erscheint auch als besonders begabt darin, innerhalb seines eigenen religiösen und kulturel‐ len Referenzrahmens zu argumentieren. Er kennt sowohl die jüdischen Schriften und Gebräuche als auch hellenistisch-römische Verhaltensweisen und wirtschaftliche Gepflogenheiten. Im Lukasevangelium geht Jesus ganz natürlich und selbstbewusst gerade auch mit den Menschen und Gruppen um, um die sein markinisches Alter Ego einen größeren Bogen macht: Bei unterschiedlichen sozialen Anlässen trifft er reiche und einflussreiche Leute, nicht selten bei Gastmählern, zu denen er eingeladen wird. Anders als der markinische Jesus, dem mitunter sogar die Zeit zum Essen fehlt (Mk 3,20; 6,31), ist der lukanische Jesus häuft bei Gastmählern eingeladen und liegt dort nicht mit den Armen und Bedürftigen zu Tisch. So ist es nicht verwunderlich, dass Jesus von anderen auch Fresser und Weinsäufer (7,34) genannt wird – ein Label, das im Markusevangelium niemanden im Traum eingefallen wäre. Tischgemeinschaft spielt insgesamt eine große Rolle im Lukasevangelium und es ist überraschend, wie viele Geschichten von Gastmählern erzählt werden und wie oft Jesus in diesem Rahmen lehrt. Selbst das letzte Abendmahl wird bei Lukas als antikes Gastmahl erzählt (22,7–38). Auch wenn es als Passahmahl vorgestellt wird, fehlt ihm der Lobpreis, das Hallel zum Abschluss, das bei Markus noch erzählt wird (14,26). Wenn man bedenkt, wie oft der lukanische Jesus Einladungen annimmt, mit Pharisäern zu Tisch zu liegen (7,36; 11,37; 14,1), ist es fast schon verwunderlich, dass er Freund der Zöllner und Sünder genannt wird (7,34) und nicht Freund der Pharisäer.

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II.4  Traditionen weiterentwickeln: Das Lukasevangelium als zweiter Entwurf

Jesus im Lukasevangelium

Jesus im Markusevangelium

Die Erzählung ist in der Welt hellenistisch geprägter (Groß-)Städte angesiedelt

Die Erzählung ist in der ländlichen Welt Galiläas angesiedelt

Jesus zieht von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt

Jesus zieht von Dorf zu Dorf und meidet Städte

Jesus ist der Sohn einer frommen jüdischen Familie, die es sich leisten kann, jedes Jahr zum Passahfest nach Jerusalem zu pilgern

Jesus ist der Sohn eines Bauhandwerkers und wächst in Galiläa auf. Jerusalem sieht er erstmals am Ende seines Lebens

Jesus kann lesen, ist schriftkundig und beherrscht seinen Referenzrahmen souverän. Er ist es gewohnt, beim Synagogengottesdienst aus der Schrift vorzulesen und eine Auslegung zu geben

Jesus hat Kenntnis der Schrift, jedoch nicht immer ganz sattelfest. Ob er lesen kann, ist unklar. Seine Dämonenaustreibungen in der Synagoge gelten als vollmächtige Lehre

Jesus bewegt sich sicher und souverän im jüdischen und hellenistischen Umfeld. Er nimmt häufig Einladungen in die Häuser von Reichen und Einflussreichen zum gemeinsamen Essen an

Jesus bewegt sich sicher in seinem galiläischen Kontext. Er braucht viel Zeit, um alleine zu sein und manchmal fehlt ihm die Zeit, um zu essen

Gastmähler sind bevorzugter Ort von Jesu Lehre, seine Adressaten sind Reiche und Einflussreiche

Jesus lehrt bevorzugt in Privathäusern oder der freien Natur und richtet sich an alle, die zuhören

Abb. II.11: Die Darstellung Jesu im Lukas- und Markusevangelium im Vergleich

Diese Beobachtungen zusammengenommen und gegen die anderen Synop‐ tiker gelesen, zeigt, dass Jesus im Lukasevangelium „reicher“ wirkt als bei Markus und Matthäus und womöglich auch „reicher“, als er wirklich ist. Ein Grund dafür könnte sein, dass es einfacher ist, sich mit jemandem zu identifizieren, der einem ähnlich ist, als mit jemandem, der aus einer ganz anderen Welt kommt. Man könnte sagen, dass Lukas einen sozial besser gestellten Jesus braucht als er ihn im Markusevangelium vorgefunden hat, damit er Theophilus erreicht. Wenn man das Evangelium unter diesem Blickwinkel betrachtet, hat der lukanische Jesus die Armen und Niedrigen im Blick, doch er predigt ihnen nicht. Seine Botschaft richtet sich an die gut Situierten, Reichen und Einflussreichen, so wie auch Theophilus einer ist. Theophilus (und die Seinen) werden im Vorwort des Evangeliums in ihrer eigenen Diktion angesprochen, ihrer Leseerwartung wird mit dem eleganten Proömium Rechnung getragen. Danach ändert sich der Stil, die Sprache wird einfacher, geerdeter. Die höher Gestellten werden gewissermaßen zu den einfachen Leuten mitgenommen und lernen an Jesu Beispiel, wie man mit ihnen umgehen kann und sollte. Durch die Augen Jesu, der den Lesern ähnlicher ist als den Marginalisierten, denen er im Evangelium begegnet, bekommen die Adressaten einen anderen Blick auf die Armen – und letztlich auch auf sich selbst.

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung Aus gedächtnistheoretischer Perspektive haben wir es beim Lukasevange‐ lium mit einem fundierenden identitätskonkreten Text zu tun, der sich gut in der Zeit des kollektiven Gedächtnisses und der dritten Generation verorten lässt. Die Einordnung fällt beim Lukasevangelium schon aufgrund des Vorworts, das die Pragmatik kommuniziert, leicht. Der Text greift umläufige Traditionen auf und entwickelt sie für seine Gegenwart weiter. Die Jesusgeschichte wird für eine andere Zielgruppe neu erzählt, die in einem städtischen Milieu im ausgehenden ersten Jahrhundert anzusiedeln ist. Das Hauptthema für die Identitätsbildung ist, wie sich Christsein beim Übergang vom eher ländlich geprägten jüdischen Herkunftskontext in hellenis‐ tisch geprägten Städten verändert und wie die Jesusnachfolger ihre spezielle Identität wahren und in welchen Sozialformen sie leben können. Kernpunkt ist Identitätsvergewisserung: Vergewisserung der Verlässlichkeit der Lehre. Zwei Themen sind dabei besonders prominent: zum einen, dass Jesus Christus, der Gesalbte und Gottessohn, nur vor dem Hintergrund der Schrift, der Heiligen Schriften des Judentums des Zweiten Tempels richtig verstan‐ den werden kann. Die Schrift ist dabei nicht nur der Verstehensrahmen für Jesus, sondern auch seine Lehre und seine Forderungen lassen sich nur auf der Basis der Schrift verstehen. Das heißt auch: Selbst, wenn sich das Lukas‐ evangelium an heidnische Leser aus hellenistisch-römischen Städten richtet, bleibt der jüdische Referenzrahmen für sie relevant. Im Lukasevangelium wird Jesus aber nicht einfach in diesen Rahmen eingepasst, sondern der Text liefert einen neuen Identifikationsrahmen auf der Basis der Schrift, aber nicht mehr des Gesetzes. Ähnlich wie es sich schon bei Paulus im Galaterbrief (vgl. II.2) abzeichnete, scheint die Formel zu sein: Schrift ja, Gesetz nein. Das zweite prominente Thema des Lukasevangeliums ist die Frage nach dem Verhältnis von Reichtum und Nachfolge. Auch hier ist der Text differen‐ zierter als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die unterschiedlichen Geschichten zeigen, dass ebenso kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet (14,33) und Verkauf alles, was du hast, und verteil es an die Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach! (18,22) gerade nicht absolut gelten. Weder die reichen Frauen noch der Oberzöllner Zachäus werden dazu aufgerufen, ihren ganzen Besitz aufzugeben. Bei den Frauen ist die finanzielle Unterstützung der mittellosen Jünger um Jesus völlig ausreichend und bei Zachäus ist auch

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II.4  Traditionen weiterentwickeln: Das Lukasevangelium als zweiter Entwurf

die Hälfte genug. Reichtum ist im Lukasevangelium problematisch, wenn er der Nachfolge und einer christlichen Identität im Wege steht, sonst nicht. Der kursorische Blick darauf, wie das Lukasevangelium die Geschichte von Jesus und der Nachfolgegemeinschaft erzählt, bestätigt, dass es der Erzählung (διήγησις, diēgēsis, 1,1) weniger um Geschichte im Sinne von Historiographie geht als um die Verlässlichkeit von Tradition, und damit um Identität. Der Text selbst lässt wenig Zweifel daran, dass das Jesusgeschehen und die Wirklichkeit Gottes nicht durch eine historische Argumentation verständlich gemacht werden können, sondern nur als Einbruch in die Geschichte, der auf Gott und seine Offenbarung zurückgeführt wird. Die historischen Daten dienen demnach nicht der Historisierung, sondern der Kontextualisierung der Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben, die Teil der Geschichte Gottes sind. Die Zielgruppe, vertreten durch Theophilus, ist christlich, zumindest in der christlichen Lehre unterwiesen, und kann sich in dem neuen Rahmen für Identitätskonstruktion, den das Evangelium bietet, verorten. Den Schlüssel dazu liefert Jesus selbst, denn der Auferstandene hat allen, die an ihn glau‐ ben, die Schrift und ihre Bedeutung für das Christusereignis erschlossen. Die Begegnungen mit dem Auferstandenen sind somit der Ausgangspunkt der lukanischen Hermeneutik und der Augenblick, in dem er den Sinn der Jünger für das Verständnis der Schriften öffnet. Hier zeigt sich nicht nur der Abstand des Textes zu den Ereignissen: Zum einen ist die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus relevant, nicht die Begegnung mit dem geschichtlichen Jesus, zum anderen geht es viel stärker um die Interpretation der Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben, als um die Ereignisse selbst. Die Wahrheit der Gründungsgeschichte ist auch hier eine soziale Übereinkunft, was sich gut auch an der veränderten Darstellung der Erzählfigur Jesus zeigt: Es geht nicht darum, wer Jesus an sich war, sondern darum, wer Jesus für uns ist. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Bedürfnisse der Gegenwart die Vergangenheit formen. Insgesamt bietet das Lukasevangelium eine stabilisierende Erzählung, die im Tempel beginnt und im Tempel endet und Theophilus der Identität versichert, in der er unterwiesen wurde (1,4). Im frühchristlichen Familienalbum erscheint das Lukasevangelium als ein ganz bewusst inszeniertes Bild einer Familie mit ihren typischen Erken‐ nungszeichen, die sich gezielt in der christlichen Identität präsentiert, in der sie ihre (neue) Heimat gefunden hat und den Betrachtern Selbstbewusstsein und Sicherheit vermittelt.

II.5 Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte Die Apostelgeschichte schlägt als Nachfolgerin des Lukasevangeliums ein neues Kapitel in der frühchristlichen Familiengeschichte auf. Die neuen Rahmen zur Identitätsbildung sind stabil, vermitteln Sicherheit und Orientierung. Im Rückblick auf eine erfolgreiche Gründerzeit können sich die Jesusnachfolger selbstbewusst als eigenständige religiöse Gruppe inszenieren. Die Apostelgeschichte wendet sich wie das Lukasevangelium an den Adres‐ saten Theophilus und will als Nachfolgerin gelesen werden. Daher ist zu erwarten, dass sich die Linien und Charakteristika, die im Lukasevangelium zu erkennen waren, fortsetzen und der Erzählstil, die Zeichnung von Erzähl‐ figuren und die Behandlung der Themen ähnlich und vielleicht sogar noch etwas profilierter sind. An diesem Punkt setzt dieses Kapitel an und nimmt ausgehend vom Anfang (1,1–12) – kursorisch, da die Apostelgeschichte eines der drei umfangreichsten Büchern des Neuen Testaments ist – die Struktur des Textes, seine erzählerische Ausgestaltung, die Reden und ihre Pragmatik sowie das Verhältnis zum Lukasevangelium in den Blick. 1. 2. 3. 4. 5.

Welche Leseerwartung weckt der Anfang (Apg 1,1–12)? Welche Struktur hat der Text und worum geht es? Wie ist die Erzählung organisiert? Welchen Inhalt und welchen Zweck haben die Reden? Wie ist das Verhältnis zum Lukasevangelium?

Auch in diesem Kapitel werden die Arbeitsschritte am Text abgegangen und zum Abschluss werden die Beobachtungen gedächtnistheoretisch aus‐ gewertet.

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

Der Anfang der Apostelgeschichte (1,1–12) Auf den ersten Blick scheint die Apostelgeschichte genau wie das Lukas‐ evangelium mit einem Vorwort zu beginnen, wenn es heißt: Das erste Wort (λόγος, logos) habe ich gemacht (ποιέω, poieō) über alles, was Jesus anfing (ἄρχω, archō) zu tun (ποιέω, poieō) und zu lehren. Beim Weiterlesen wird jedoch schnell deutlich, dass es ganz so einfach nicht ist: Zwar handelt es sich klar um den Nachfolgeband, doch wo genau das Vorwort nach dem ersten Satz endet, ist nicht so eindeutig. Eine klare Beschreibung, welchen Zweck der Autor mit seinem Text verfolgt, gibt es nicht, sondern es geht direkt hinein in die Schilderung der weiteren Ereignisse. Wenn man den ersten Satz so liest, wie er hier übersetzt ist, ergibt sich eine interessante Dynamik: Anders als im Lukasevangelium präsentiert der Autor kein geschlossenes Werk zur Identitätsvergewisserung, sondern setzt nach dieser Identitätsvergewisserung noch einmal neu ein und erklärt, dass die Taten und die Lehre Jesu nur der Anfang waren. Die Erwartung ist, dass er nun die Fortsetzung der Jesusgeschichte erzählt. Es geht direkt weiter mit der Erinnerung an die Unterweisung der Apostel, bei der auch eine Struktur aufgerufen wird, die die späteren Jesusnachfolger kennen: Erwählung im Heiligen Geist – Begegnung mit dem Auferstandenen – Konfrontation mit der Botschaft vom Reich Gottes – Mahlgemeinschaft – Taufe. Der Geistempfang, der den Aposteln durch Jesus angekündigt wird, ist (wie sich im Laufe der Erzählung zeigen wird) ein Identitätsmarker der Christen (Χριστιανοί, Christianoi, 11,26) und für den oder die Adressaten ebenfalls Realität. Auch was den Standort nach der Himmelfahrt betrifft, sind sie den Aposteln gleichgestellt, denn auch sie leben in einer Zeit, in der der Auferstandene nicht mehr unter ihnen ist. So werden sie gleichsam in die Geschichte hineinerzählt: Was mit Jesus anfing, geht mit den Aposteln und mit ihnen, die die gleichen Merkmale haben wie die Apostel, weiter.

Im ersten Buch, lieber Theophilus, habe ich über alles berichtet, was Jesus von Anfang an getan und gelehrt hat, [Das erste Wort, Theophilus, habe ich gemacht über alles, was Jesus anfing zu tun und zu lehren,] 2 bis zu dem Tag, an dem er in den Himmel aufgenommen wurde. Vorher hat er den Aposteln, die er sich durch den Heiligen Geist erwählt hatte, Weisung gegeben. 1

Der Anfang der Apostelgeschichte (1,1–12)

Ihnen hat er nach seinem Leiden durch viele Beweise gezeigt, dass er lebt; vierzig Tage hindurch ist er ihnen erschienen und hat vom Reich Gottes gesprochen. 4 Beim gemeinsamen Mahl gebot er ihnen:   Geht nicht weg von Jerusalem,   sondern wartet auf die Verheißung des Vaters,   die ihr von mir vernommen habt! 5 Denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet schon in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft werden. 3

Als sie nun beisammen waren, fragten sie ihn: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her? 7 Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. 8 Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde. 9 Als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken. 10 Während sie unverwandt ihm nach zum Himmel emporschauten, siehe, da standen zwei Männer in weißen Gewändern bei ihnen 11 und sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch fort in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen. 12 Dann kehrten sie von dem Berg, der Ölberg genannt wird, und nur einen Sabbatweg von Jerusalem entfernt ist, nach Jerusalem zurück. 6

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

Die Schlüsselverse um die Struktur und die narrative Bewegung der Apostelgeschichte zu verstehen, sind 1,6–8 und die Antwort Jesu auf die Jüngerfrage, ob der Auferstandene jetzt das (König-)Reich für Israel wieder‐ aufrichten werde. Allen nationalistischen und zelotischen Vorstellungen von Großisrael oder einer endzeitlichen politischen Bewegung erteilt jedoch nicht nur der irdische, sondern auch der auferstandene Jesus eine klare Absage: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater bestimmt hat. Für die Apostel ist ein ganz anderes Programm vorgesehen: Sie haben im Heilsplan Gottes zwar keine passive Rolle, aber auch keine der Entscheidung. Sie mögen die Exekutive sein, aber sie sind nicht die Legislative. Der Auftrag, den Gott ihnen zugedacht hat, ist es, Zeugen Jesu in Jerusalem und ganz Judäa und Samaria bis an die Enden der Erde zu sein und dazu wird ihnen Gott seinen Geist senden. Jesu letzte Worte Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde (1,8) sind in zeitlicher, räumlicher und inhaltlicher Hinsicht programmatisch: Die Apostel sollen von der Geistsendung bis zur Wiederkunft Christi Zeugnis von ihm und seiner Botschaft geben. Ihr Zeugnis richtet sich dabei nicht allein an Israel, sondern ist für Israel und die Völker (Heiden) gedacht. So ergibt sich nach dem Anfang folgender Aufbau in drei Etappen:

1,13–8,3 8,3–11,18 11,19–28,31

Die „Urgemeinde“ in Jerusalem Das Evangelium in Judäa und Samaria Das Evangelium in der heidnischen Welt bis Rom

Im Verlauf der Apostelgeschichte wird der Auftrag des Auferstandenen an seine Nachfolger immer wieder durch Visionen, Gebete und Geistsendungen vor Augen gestellt. An den kritischen Stellen, an denen die Apostel nicht weitergehen können oder wollen, greift Gott durch Visionen (z. B. 8,26–27; 9,1–19; 10,1–23, 16,9–10) oder den Heiligen Geist (z. B. 13,2; 16,6) ein und weist ihnen den richtigen Weg.

Inhalt und Textstruktur der Apostelgeschichte

Inhalt und Textstruktur der Apostelgeschichte Die Apostelgeschichte erzählt den Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom. Zentraler Motor dieser Bewegung ist der Heilige Geist, der im Verlauf der Erzählung neben der Taufe zum wichtigsten Identitätsmarker der frühen Christen wird. Visionen und das Eingreifen Gottes durch den Geist sind feste Bestandteile der Erzählung. Der erweiterte Aufbau mit den einzelnen Etappen lässt sich folgendermaßen skizzieren: 1,13–8,3 1,13–5,42 6,1–8,2

Die „Urgemeinde“ in Jerusalem Die Gründungsgruppe wächst nach der Geistsendung Stephanus und die Hellenisten

8,3–11,18 8,4–40 9,1–31 9,32–11,18

Das Evangelium in Judäa und Samaria Verkündigung durch Philippus und Petrus in Samaria Berufung des Paulus Wirken des Petrus und Bekehrung der ersten Heiden

11,19–28,31 11,19–12,25 13,1–14,28 15,1–35 15,36–18,22

Das Evangelium in der heidnischen Welt bis Rom Antiochia und Jerusalem, Paulus und Petrus Erste Missionsreise des Paulus (und Barnabas) Jerusalemer Treffen Zweite Missionsreise des Paulus (mit Silas und ab 16,3 mit Timotheus) Dritte Missionsreise des Paulus (Gefangenschaft des) Paulus in Jerusalem und Caesarea Fahrt des Paulus nach Rom und Aufenthalt in Rom

18,23–20,38 21,1–26,32 27,1–28,31

Erweiterter Aufbau der Apostelgeschichte

Wichtigster Agent in der Apostelgeschichte sind nicht die Apostel, sondern der Heilige Geist. Er ist der Motor aller Weiterentwicklungen und das Gefährt, das das Evangelium bis an die Enden der Erde bringt. Auch im Lukasevangelium hatte der Geist eine zentrale Rolle gespielt: Bei der Taufe Jesu kommt er auf ihn herab (Lk 3,22) und, erfüllt von ihm, widersteht Jesus dem Diabolos in der Wüste (Lk 4,1–13), kommt wieder nach Galiläa (Lk 4,14) und verkündet die Schrift (Lk 4,18). Die Apostelgeschichte nimmt diesen Faden in 1,8 auf, wenn Jesus den Aposteln den Geist verheißt, was im Pfingstereignis eingelöst wird. Ab dann führt der Geist die Jesusnach‐

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

folger. Die Geistsendung findet jedoch nicht einfach statt, sondern muss vorbereitet werden (1,12–26). Dafür sind der Ort – ähnlich wie beim letzten Abendmahl (Lk 22,12) ein Raum im Obergeschoss – und die Gemeinschaft im Gebet wichtig. Zur Gründungsgruppe gehören neben den Elf auch Frauen (Jüngerinnen) sowie die Mutter Jesu und seine Brüder. Der Herrenbruder Jakobus, der später die Jerusalemer Gemeinde leiten wird, ist demnach von Anfang an dabei. Für die Geistsendung muss der Zwölferkreis als Zeichen für die Aufrichtung des eschatologischen Israel jedoch zunächst erst einmal wieder vollständig sein. Dazu erfolgt im Gottesdienst eine demokratische Wahl. Die Initialzündung und das alles verändernde Ereignis ist der Geistemp‐ fang der Gründungsgruppe an Pfingsten (2,1–13). Die Gabe des Geistes wird zum Gründungsereignis der christlichen Gemeinschaft, an der alle Anteil am Heiligen Geist haben, und die sich sofort in einer Vergrößerung der Gruppe manifestiert (2,14–47). Zunächst wächst die Gemeinschaft um jüdische Jesusnachfolger aus Palästina (Hebräer) und der griechischspra‐ chigen Diaspora (Hellenisten) und erst in einem zweiten Schritt um die Heiden. Der Zwölferkreis und die Jerusalemer Urgemeinde mit ihrer Güter‐ gemeinschaft sind die ersten Stationen auf dem Weg des Evangeliums zu den Völkern und haben später keine normative Geltung mehr. Je weiter die Heidenmission fortschreitet, desto mehr tritt der Zwölferkreis in den Hintergrund, wenngleich die Missionsstruktur immer gleichbleibt: erst die Juden, dann die Heiden. Mehrheitliche Entscheidungen werden durch die gottesdienstliche Versammlung getroffen, wie die Wahl des Matthias (1,15– 26), die Wahl der Sieben (6,1–7), die Sendung von Paulus und Barnabas und die Entscheidungen beim Jerusalemer Treffen (15,1–29). Das Jerusalemer Treffen und seine Beschlüsse sind nur der Anfang der Schwierigkeiten mit der Heidenmission; die Problematik wird erst in der Praxis klar und wirft die Frage auf, wie beschneidungsfreies Evangelium und das Zusammenleben von Christen jüdischer und heidnischer Herkunft funktionieren. Wenn die Apostelgeschichte den Weg nachzeichnet, den das Evangelium von Jerusalem nach Rom nimmt, folgt sie der groben Richtung aus 1,8: Jerusalem – Judäa – Samaria – bis an das Ende der Erde. Die geographische Einteilung ist dabei auch eine theologische: von den palästinensischen und hellenistischen Juden über die Samaritaner zu den Heiden. Man kann sich das im Modell konzentrischer Kreise vorstellen.

Inhalt und Textstruktur der Apostelgeschichte

Abb. II.12: Geographische Ausbreitung des Evangeliums in der Apostelgeschichte

Dass die Berufung des Paulus erfolgen muss, bevor sich die Erzählung der Heidenmission widmet, liegt auf der Hand: Die gesetzesfreie Heidenmission ist so eng mit Paulus verbunden, dass es unmöglich ohne ihn geht. Dennoch wird Paulus in der Apostelgeschichte nicht als ihr Initiator erinnert, son‐ dern die Heidenmission geht von Petrus aus und wird von einer Vision initiiert (10,1–23). Nach der Bekehrung der ersten Heiden werden zwei unterschiedliche Formen der Jesusnachfolge anhand von zwei Personen und zwei Orten vorgestellt. Petrus und Paulus als menschliche Protagonisten der Apostelgeschichte werden dazu mit den beiden Orten verbunden, die für die unterschiedlichen Formen von frühem Christentum stehen: Petrus mit Jerusalem und Paulus mit Antiochia. Jerusalem ist dabei der Ort, an dem nach Art der Juden gelebt wird, wie Paulus sagen würde (Gal 2,14) – also der Ort, an dem das Gesetz gehalten wird, wo Beschneidung Normalität ist und Jesusnachfolger jüdischer Provenienz nur dann mit Christusnachfolgern heidnischer Provenienz Tischgemeinschaft haben, wenn diese sich an die jüdischen Speisevorschriften halten. Antiochia hingegen ist der Ort, wo man, ebenfalls mit Paulus gesprochen, nach Art der Heiden lebt. Hier dürfte

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

die gesetzes- und damit beschneidungsfreie Heidenmission entwickelt und theologisch begründet worden sein. Hier hat Paulus seine Basissozialisation in Sachen Christusnachfolge bekommen und von hier gehen die künftig wichtigen theologischen Impulse aus. Dass man die Jünger in Antiochia zum ersten Mal Christen nennt (11,26), mag ein Hinweis sein, dass dies der Ort ist, an dem sich christliche Identität in ihrer gesetzesfreien Spielart zuerst entwickelt hat. Das Bemühen des Lukas, Paulus nicht anstelle von Petrus zum Initiator der Heidenmission zu machen, ist unverkennbar, wenn er festhält, dass Paulus, von dem zuletzt zu hören war, dass er in seine Heimat Tarsus abgeschoben wurde, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie Stephanus (9,3), nun von Barnabas in Tarsus aufgesucht und nach Antiochia gebracht wird, wo Paulus sich an der Lehrtätigkeit des Barnabas beteiligt. Lukas erzählt die Geschichte so, dass in Antiochia bereits Heiden getauft wurden, bevor Paulus von Barnabas dorthin geholt wurde. Die erste Missionsreise des Paulus (und Barnabas) bringt das Evangelium über Zypern, wo sich der Prokonsul Sergius Paulus zu Christus bekehrt (13,4–12), nach Pisidien, Phrygien, Pamphylien, Galatien und in die Asia (13,1–14,28). Nach ihrer Rückkehr verkünden Paulus und Barnabas der Gemeinde in Antiochia was Gott mit ihnen zusammen getan und dass er den Heiden eine Tür zum Glauben geöffnet hatte (14,27). Doch die Freude hält nicht lange an, denn schon bald kommen einige Vertreter aus Judäa und fordern die Brüder (ἀδελφοί, adelphoi) auf, sich beschneiden zu lassen (15,1). Diese Forderung löst Streit aus, sodass die Gemeinde Paulus und Barnabas nach Jerusalem schickt, um die Streitfrage klären zu lassen. Der „Antiochenische Zwischenfall“ (vgl. Gal 2) wird in der Apostelgeschichte demnach nicht im Anschluss an das Jerusalemer Treffen erzählt, sondern wird zu seinem Anlass. In schönster Harmonie einigen sich die Apostel und die Ältesten nach Voten von Petrus und Jakobus auf die beschneidungsfreie Heidenmission und lassen den Geschwistern einen entsprechenden Brief zukommen, den sie mit Paulus, Barnabas, Silas und Judas nach Antiochia schicken. Direkt danach bricht Paulus mit Silas zur zweiten Missionsreise auf, die sie nach Kleinasien und Griechenland führt und in deren Verlauf Gemeinden wie Philippi, Thessaloniki und Korinth gegründet werden (15,36–18,22). In Philippi entsteht die erste Gemeinde auf europäischem Boden. Die nächste Gemeindegründung erfolgt in Thessaloniki, der wichtigsten Hafenstadt Makedoniens. Von dort zieht Paulus nach Athen. Seine Rede auf dem

Inhalt und Textstruktur der Apostelgeschichte

Athener Areopag (17,22–31) ist ein Beispiel christlicher Verkündigung vor philosophisch gebildeten Intellektuellen. Großen Erfolg hat Paulus mit seiner Mission in der damals unbedeutenden Provinzstadt Athen jedoch nicht gehabt. Ganz anders ist es in der Hafenstadt Korinth: Hier missioniert er eineinhalb Jahre (18,11) und gründet eine ansehnliche Gemeinde. Vom Ende der Missionsreise erzählt die Apostelgeschichte nur ganz kurz: Paulus kehrt über Ephesus nach Antiochia zurück und bricht quasi direkt zur dritten Missionsreise auf (18,20–38). Der Missionserfolg der Jesusnachfolger unter den Heiden führt mehr und mehr zu einer Spaltung: Die Gruppe der Jesusnachfolger löst sich immer weiter von dem Teil des Gottesvolkes Israel, der Jesus nicht als Christus, als den Gesalbten und Gottessohn anerkennt. Diese Spannungen bestimmen den letzten Teil der Erzählung. Die dritte Missionsreise endet im Grunde in Jerusalem, wo Paulus im Tempel verhaftet wird und nach einer längeren Verschleppung des Prozesses schließlich aufgrund seiner Appellation an den Kaiser (25,9–11; 26,32) nach Rom überführt wird, wo er nach einer abenteuerlichen Seefahrt (27,1–28,15) ankommt. In Rom bleibt Paulus zwar Gefangener, kann aber alleine wohnen und nutzt auch diese Gelegenheit zur weiteren Verkündigung. Der Ausgang seines Prozesses wird nicht erzählt, dafür der Erfolg seiner Tätigkeit: Er blieb zwei volle Jahre in seiner Mietwohnung und empfing alle, die zu ihm kamen. Er verkündete das Reich Gottes und lehrte über Jesus Christus, den Herrn – mit allem Freimut, ungehindert (28,32).

Der Schluss ist programmatisch: Trotz der Gefangenschaft in Rom und der Ablehnung des Evangeliums durch einen Teil der Juden geht die Verkündigung ungehindert weiter und wird auch weiter erfolgreich sein. Das Evangelium setzt sich durch, auch nach Paulus und über ihn hinaus. Die Verfolgung der Jesusnachfolger wirkt fast immer als Katalysator und zeigt: Die Verbreitung des Wortes Gottes kann von irdischen Mächten nicht aufgehalten werden. Das Wort Gottes verbreitet sich trotz aller Versuche, seine Verbreitung zu unterbinden. Ein erster Hinweis darauf findet sich in den Worten Gamaliels: Wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört werden; stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten; sonst werdet ihr noch als Kämpfer gegen Gott dastehen (5,38–39).

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

Unmittelbar davor hatten Petrus und die Apostel bereits verkündet: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen (5,29). Insgesamt ist die Erzählung der Apostelgeschichte höchst abwechslungs‐ reich gestaltet und gewährt Einblick in unterschiedliche Orte, an denen die Botschaft von Jesus auf ganz unterschiedliche Widerstände stößt. Heilung, Verkündigung und Verfolgung gehen Hand in Hand. Verfolgung und öffent‐ liche Prozesse bringen das Evangelium jedoch weiter, äußerer Druck hat in der Apostelgeschichte fast schon katalytische Wirkung, jedenfalls kann keine Macht außer Gott selbst die Verkündigung behindern. Die Christen, wie sie nach 11,26 heißen, sind im Imperium ein neuer Anbieter auf dem religiösen Markt, und einer, der sehr unterschiedliche Reaktion hervorruft. Was bleibt, ist eine spannende Story voller witziger Momente: Rhode öffnet Petrus vor lauter Begeisterung nicht die Tür (12,13–16), Paulus heilt eine Magd mit dem Wahrsagegeist eigentlich nur, weil er genervt ist (16,16–22), die Jünger in der Nähe von Ephesus haben noch nie etwas vom Heiligen Geist gehört (19,1–7), in Ephesus ruft eine aufgeregte Menge fast zwei Stunden lang Groß ist die Artemis der Epheser (19,32–34) und beim Abschiedsbesuch des Paulus in Troas schläft Eutychus bei der langen Predigt von Paulus ein und fällt aus dem Fenster im dritten Stock (20,7– 12). Lukas schafft es in der Apostelgeschichte, die Leser nicht nur zu informieren, sondern gerade auch in den spannenden Reisebeschreibungen gut zu unterhalten. Erzählerische Gestaltung Was steckt erzähltechnisch hinter diesem Text? Wie schon im Lukas‐ evangelium haben wir es zunächst mit einem allwissenden Erzähler zu tun, dessen Standort nach den Ereignissen liegt und der den Ausgang der Geschichte kennt. Diese Erzählperspektive wird allerdings mehrfach aufgebrochen, die Erzählstimme schaltet vom auktorialen auf aktorialen Modus und schildert die Ereignisse aus der Figurenperspektive. In diesen insgesamt vier Passagen meldet sich ein erzählendes „Wir“ zu Wort, das Paulus begleitet und so für eine noch größere Unmittelbarkeit sorgt: Plötzlich ist der Leser ganz nah an den Ereignissen dran und scheint sie aus erster Hand zu erleben. Die vier „Wir-Passagen“ haben alle mit Übergangssituationen und Reisen zu tun: 16,10–16 schildert den Aufbruch nach Makedonien nach der Vision

Inhalt und Zweck der Reden in der Apostelgeschichte

in Troas und die Ankunft in Philippi, 20,5–15 erzählt von der Reise von Mazedonien über Troas nach Milet, 21,1–17 vom Aufbruch in Milet nach der Abschiedsrede des Paulus und der Reise nach Jerusalem und 27,1–28,16 von der Überstellungsreise des Paulus von Cäsarea nach Rom, die weitgehend per Schiff erfolgt, sowie dem Aufenthalt auf Malta nach Seesturm und Schiffbruch. Ähnlich wie im Lukasevangelium ist die Erzählstimme auch in der Apostelgeschichte zurückhaltend und überlässt die inhaltliche Auseinander‐ setzung den Erzählfiguren, ohne sich mit Erzählerkommentaren zurückzu‐ halten, die ähnlich gestaltet und eingebettet sind wie im Lukasevangelium. Durch den Wechsel von Erzählteilen und Reden, die die Erzählfiguren zu Wort kommen lassen, entsteht das Gefühl einer Unmittelbarkeit, einer Teilhabe an ihrer Gedankenwelt, was durch die Wir-Passagen noch verstärkt wird. Wie schon im Lukasevangelium finden sich keine Erfüllungszitate und die Verweise auf die Schrift finden sich ausschließlich in Figurenrede, sodass die Reden ein besonderes Gewicht bekommen. Inhalt und Zweck der Reden in der Apostelgeschichte Bei der Lektüre der Rede des Stephanus (7,1–53) in I.3 wurde deutlich, wie kulturelle Rahmen genutzt und weiterentwickelt werden können. An‐ gesichts der großen Anzahl von Reden in der Apostelgeschichte und der Tendenz, den Erzählfiguren die Argumentation in den Mund zu legen, die sich schon bei Lukas beobachten ließ, ist es naheliegend, dass die wichtigsten Themen, die in der Apostelgeschichte verhandelt werden, ebenfalls in Form von Figurenrede erzählt werden und die Reden entsprechend eine wichtige Rolle spielen. In der Apostelgeschichte findet sich eine Vielzahl von zum Teil längeren Reden, die hauptsächlich von Petrus und Paulus gehalten werden und in der erzählerischen Organisation dazu dienen, die zentralen Themen weiterzuentwickeln und die Überzeugungen der Jesusnachfolger inhaltlich zu begründen. Die wichtigsten Reden sind im Folgenden in einer Übersicht dargestellt:

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

Stelle

Redner

Adressaten

Thema

1,15–22

Petrus

Kreis der Brüder

Nachwahl des Matthias

2,14–36

Petrus

Juden und Jerusalemer

Pfingstpredigt

3,12–26

Petrus

Menschen auf dem Tempel‐ Erläuterung einer Heilung platz

4,8–12

Petrus/ Hoher Rat Johannes

Verteidigungsrede

5,34–39

Gamaliel

Hoher Rat

Umgang mit den Jesus‐ nachfolgern

7,1–53

Stepha‐ nus

Hoher Rat

Überzeugungen der Jesus‐ nachfolger

10,34–47

Petrus

Kornelius und seine Leute

Evangelium für die Heiden

11,4–17

Petrus

Jüdische Jesusnachfolger in Mission und Taufe von Jerusalem Heiden

13,16–41

Paulus

Synagogengemeinde Antio‐ Jesus als der Messias Israels chien

15,6–21

Petrus/ Jakobus

Apostel und Älteste

Regeln für Heidenmission

18,22–31

Paulus

Athener

Erklärung der christlichen Lehre

20,18–35

Paulus

Gemeinde in Milet/Älteste aus Ephesus

Abschiedsrede

22,1–21

Paulus

Juden im Jerusalemer Tem‐ pel

Berufung des Paulus

24,10–21

Paulus

Statthalter Felix

Verteidigungsrede

26,1–29

Paulus

König Herodes Agrippa II.

Verteidigungsrede

28,17–28

Paulus

Juden in Rom

Juden und Jesusnachfolger

Wichtige Reden in der Apostelgeschichte

Wenn man die Reden analysiert, zeigt sich, dass sie im Gesamtgefüge der Erzählung drei unterschiedliche Ziele verfolgen: Neben a) der theologischinhaltlichen Weiterentwicklung, stellen sie b) die Identitätsmarker der Chris‐ ten dar und vergegenwärtigen und festigen c) den Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich christliche Identität entwickelt. Für eine gedächtnistheoretische

Inhalt und Zweck der Reden in der Apostelgeschichte

Auswertung sind besonders die Punkte Identitätsmarker und Festigung des Bezugsrahmens interessant. Die Reden in der Apostelgeschichte haben mehrere Ziele: ■ Theologische und inhaltliche Weiterentwicklung ■ Darstellung der christlichen Identitätsmarker (Taufe, Geistbesitz, Tischgemeinschaft und Sündenvergebung) ■ Festigung des Bezugsrahmens für die Ausbildung einer christlichen Identität Im Laufe der Apostelgeschichte werden als Identitätsmarker für die Jesus‐ nachfolger neben dem Glauben an Jesus, den Gesalbten und Gottessohn, Taufe, Geistbesitz, Tischgemeinschaft und Sündenvergebung vorgestellt. Die jüdischen Identitätsmarker Tempel, Beschneidung und (Speise-)Gesetz wer‐ den durch sie abgelöst und diese Ablösung durch die Nutzung des gemein‐ samen kulturellen Referenzrahmens, der Schriften Israels, erzählt. Im Gegenüber zu jüdischen und römischen Gesprächspartnern wird fer‐ ner der neue religiöse und kulturelle Referenzrahmen, den das Lukasevan‐ gelium konstituiert hat, vorgestellt und verteidigt: Der christliche Glaube ist schriftgemäß, die Begegnung mit dem Auferstandenen darf nicht folgenlos bleiben und die beschneidungsfreie Heidenmission ist durch Visionen und Geistsendung göttlich legitimiert. Die von den Erzählfiguren vorgebrach‐ ten Schriftargumente überzeugen die jüdischen Gesprächspartner üblicher‐ weise nicht, lediglich die Gruppe der Christusnachfolger versteht sich als schriftgemäß. Schriftbeweise werden damit zum Argument ad intra: Der Jesusglauben ist eine legitime jüdische Richtung in der Endzeit. Für die eigene Identität ist die Verwurzelung in den jüdischen Schriften deshalb wichtig. In der Argumentation zitieren die Erzählfiguren die Schriften Israels selektiv und verwenden für zentrale Themen das gemeinsame kulturelle Gedächtnis in Form von Counter Memory, d. h. sie rufen Stellen auf, die in der jüdischen Community der Zeit eher im Speicher- als im Funktionsgedächtnis sind, und verwenden sie gegen den geltenden Auslegungskonsens. So wird mit der prophetischen Tempelkritik, die in der Stephanusrede (7,42–53) als Argument gegen den Tempelkult verwendet wird, ein Teil des Speicherge‐ dächtnisses prominent ins Funktionsgedächtnis geholt, mit Rekurs auf die

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

Noachidischen Gebote (Gen 9,1–13) im Beschluss des Jerusalemer Treffens (15,28–29) wird die schriftgemäße Eingliederung der Heiden ermöglicht, mit dem Verstockungsmotiv aus dem Jesajabuch (Jes 6,8–13) wird am Ende (28,25–28) schriftgemäß das Trauma bewältigt, dass die meisten Juden den Christusglauben ablehnen, und der Nachweis geführt, dass der Messias leiden und als erster von den Toten auferstehen muss und danach dem jüdischen Volk und Menschen aus allen Völkern die Botschaft vom Licht verkündigt (26,23).55 Durch Zuhören und Mitdenken erhalten die Leser der Apostelgeschichte eine kompakte Einführung in das Selbstverständnis der Jesusnachfolger und ihren religiösen und kulturellen Referenzrahmen: ■ Der christliche Glaube ist schriftgemäß und Grundlage des Selbstver‐ ständnisses. ■ Er ist eine legitime jüdische Richtung in der Endzeit. ■ Die Begegnung mit dem Auferstandenen und seiner Botschaft muss Folgen haben. ■ Die Christen stehen unter der Führung des Heiligen Geistes. ■ Die gesetzesfreie Heidenmission ist durch Visionen und Geistsendung legitimiert. ■ Die Ablehnung des Christusglaubens durch Mitglieder der jüdischen Community lässt sich auf der Basis der Schrift verstehen und bewäl‐ tigen. Die Festigung des Bezugsrahmens geschieht in der Apostelgeschichte fast unmerklich. Während sie gut unterhalten werden, lernen insbesondere heidnische Leser den kulturellen Referenzrahmen kennen, der ihnen durch ihre christliche Identität zugewachsen ist und in dem sie sich als neue Familienmitglieder verorten müssen. Anders formuliert: Wenn die Erzähl‐ figuren in ihren Reden auf die Schriften Israels verweisen und mit ihnen 55

In der Rede vor König Agrippa II. (26,1–29) verbindet Paulus die Motive Christusvision und Schriftbeweis: Die Heidenmission geht auf Visionen zurück, der Auferstehungs‐ glaube ist schriftgemäß (Mose/Propheten) und führt zur Verkündigung der „Botschaft vom Licht“ vor allen Völkern (vgl. Lk 1,78f; 2,32; Apg 13,47 mit Jes 42,6; 49,6; 46,14 als Grundlage). Der „Schriftbeweis“ aus 26,22–23 taucht als Motiv auch in Lk 24,26–27.44– 48 und Apg 2,25–30; 3,18–26; 8,35; 9,22; 13,29–37; 17,2–3,11; 18,28; 24,14; 28,23 auf.

Inhalt und Zweck der Reden in der Apostelgeschichte

argumentieren, geht es nicht einfach darum, die Argumentation zu stärken, sondern auch darum zu zeigen, wie Jesusnachfolger die Schriften lesen und verstehen. Die Argumentation richtet sich damit nicht ad extra, sondern ad intra. Das lässt sich auch gut daran erkennen, dass die jüdischen Erzählfiguren, je weiter die Erzählung voranschreitet, immer seltener von der Argumenta‐ tion überzeugt werden. Die Schriftbeweise, mit denen Petrus, Paulus und Stephanus argumentieren, richten sich auf der Figurenebene zwar an die jüdischen Adressaten, doch auf der Erzählebene haben sie keinen apologe‐ tischen Zweck und wollen nicht Juden von Jesus überzeugen. Vielmehr richten sie sich an die heidenchristlichen Leser wie Theophilus, denen sie die Wege aufzeigen, die Heiligen Schriften Israels, die ihnen zugewachsen sind, zu verstehen. Richard Hays fasst diesen Gedanken zusammen: „So gut wie alle Schriftzitate im lukanischen Doppelwerk sind auf den Lippen der Charaktere zu finden und weniger im Kommentar des Erzählers. Auch hierin zeigt sich die literarische Kompetenz des Lukas: Anstatt die Erzählung mit didaktischen Erläuterungen zu stören, flicht er die biblischen Passagen in die Sprache und Handlung der Erzählung ein. In der Apostelgeschichte sind die meisten ausdrücklichen, schriftlichen Zitate in den Predigten der Apostel gegenüber der jüdischen Zuhörerschaft zu finden. Aber die lukanische Erzählung ermöglicht es den heidnischen Lesern, das Gespräch zu ‚belauschen‘ und so modellhaft zu lernen, wie an das Lesen der Schrift heranzugehen sei.“56

Das Zuhören und Mitdenken bietet demnach eine kompakte Einführung in das Selbstverständnis der Jesusnachfolger, ihre Identitätsmarker und ihren Umgang mit den Heiligen Schriften Israels, die zu ihrem Erbe gehören und die sie im Hinblick auf Jesus immer deutlicher anders lesen und verstehen als ihr jüdischen Umfeld.

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Richard B. Hays: Die Befreiung Israels im lukanischen Doppelwerk. Intertextuelle Narration als kulturkritische Praxis, in: Stefan Alkier / Richard B. Hays (Hg.): Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen/Basel 2005, 117–136, 130 f; vgl. auch Dietrich Rusam: Das Alte Testament bei Lukas (BZNW 112), Berlin 2003, 31.

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

Verhältnis der Apostelgeschichte zum Lukasevangelium Zwischen dem Lukasevangelium und der Apostelgeschichte lässt sich eine ganze Reihe von Parallelen beobachten, bei denen die Apostelgeschichte klar an den Vorgängertext anknüpft. Besonders auffällig ist, dass das, was Jesus im Lukasevangelium gewirkt hat, nun von den Aposteln erzählt wird. Nicht nur Jesus heilt einen Gelähmten (Lk 5,17–26), sondern ebenso Petrus (Apg 3,1–10) und Paulus (Apg 14,8–10). Alle drei Heilungen werden unter Hinweis auf Jes 35,6 als Zeichen der anbrechenden messianischen Heilszeit gedeutet. Gleiches gilt für Totenerweckungen: Jesus erweckt den Jüngling von Naïn und die Tochter eines Synagogenvorstehers wieder zum Leben (Lk 7,11–17; 8,40–56), Petrus die Jüngerin Tabita (Apg 9,36–43) und Paulus Euthychus (Apg 20,7–12). Zwischen Petrus und Paulus werden ebenfalls Parallelen hergestellt: So wie Petrus wundersam aus dem Jerusalemer Gefängnis befreit wird (Apg 12,6–17), auch Paulus aus dem in Philippi (Apg 16,23–39). Den hermeneutischen Rahmen des Lukasevangeliums, dass Jesus und sein Schicksal nur auf der Basis der Schriften Israels verstanden werden können, übernimmt die Apostelgeschichte und entwickelt ihn weiter. Daneben hat die Apostelgeschichte einen zweiten Referenzrahmen, nämlich das Lukas‐ evangelium selbst. Das Schicksal der Apostel, wie die Gefangennahmen von Petrus und Paulus und das Martyrium des Stephanus, wird nicht im Rückgriff auf die Schriften Israels, sondern auf das Leben und Leiden Jesu erzählt. Hier sind die Erzählungen bis in die motivische Ausgestaltung hin analog und erkennbar an der Passion orientiert (7,59; 8,1–3; 12,1–4; 21,27–36; 22,22–30).

Abb. II.13: Gleiche Motive in Lukasevangelium und Apostelgeschichte

Verhältnis der Apostelgeschichte zum Lukasevangelium

Auch sonst führt die Apostelgeschichte Tendenzen aus dem Lukasevange‐ lium fort: Bereits im Lukasevangelium hatten Reiche und Einflussreiche eine besondere Rolle. Dieser Trend setzt sich in der Apostelgeschichte nicht nur fort, sondern sie sind oft auch klar erkennbar römische Stadtmenschen. Dass hier auch Leserkommunikation stattfindet, ist kaum zu verkennen, und dass die Apostelgeschichte hier noch weitergeht als das Lukasevangelium, da sie etwas später entstanden ist und sich die Situation für die jungen Gemeinden entsprechend weiter verändert hat, ist ebenfalls naheliegend. Dabei ist besonders die Annäherung an die Römer auffällig. Sie mag dem Umstand geschuldet sein, dass die frühchristlichen Nachfolgegemeinschaf‐ ten den römischen Behörden im ausgehenden ersten Jahrhundert verdächtig waren, weil sie einen den römischen Bräuchen fremden Kult pflegten, schwer kontrollierbare Versammlungen abhielten und sich teilweise von den üblichen gesellschaftlichen Vollzügen, wie Handlungen des Kaiser- und Staatskultes, abgrenzten. Ein Echo davon findet sich in den Vorwürfen in Philippi: Diese Männer stiften Aufruhr in unserer Stadt. Sie sind Juden und verkünden Sitten, die wir als Römer weder aufnehmen noch befolgen dürfen (16,20–22). Paulus wird vor allem von der römischen Bevölkerung als ein jüdischer Missionar wahrgenommen und mit antijüdischen Vorurteilen belegt. Umso wichtiger war es, die Christen als eine Gruppe darzustellen, deren Überzeugung keineswegs staatsgefährdend oder staatsfeindlich war. Diese Tendenz findet sich schon im Lukasevangelium: Jesu Eltern lassen sich in Steuerlisten eintragen und auch Jesus verteidigt die Entrichtung von Steuern. So zeigen sich Jesus und seine Familie als unauffällige Untertanen des römischen Staates, die gerade nicht staatsgefährdend sind. Diese Botschaft von der politischen Harmlosigkeit Jesu und der Jesus‐ bewegung bindet Lukas an vielen Stellen in sein Doppelwerk ein. Als erster klar erkennbarer Römer begegnet in Lk 7,1–10 der Hauptmann (ἑκατοντάρχης, hekatontarchēs) von Kapharnaum (Lk 7,1–10). Der Mäzen der jüdischen Gemeinde ist der erste von mehreren Hauptmännern, die in beiden Texten auftauchen. Der Hauptmann unter dem Kreuz Jesu er‐ kennt in ihm einen Gerechten und löst damit bei den Umstehenden eine emotionale Reaktion aus (Lk 23,47–48). Der erste Heide, der sich in der Apostelgeschichte zu Christus bekehrt, ist mit Kornelius wiederum ein Hauptmann (10,1–48). Daneben tauchen drei weitere Hauptmänner in der Apostelgeschichte auf, die die Botschaft transportieren, dass römische Mili‐ tärs Schutz bieten. Als Paulus in Jerusalem (22,25–26) und Cäsarea (24,23) in Gefahr ist, sind es zwei Hauptmänner, die für seinen Schutz sorgen. Für die

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

Überführung des Paulus nach Rom ist ebenfalls ein Hauptmann zuständig: Julius, aus der kaiserlichen Kohorte (27,1), der Paulus beim Schiffbruch vor Malta sogar retten will (27,43). Auch der Soldat (στρατιώτης, stratiōtēs), der Paulus in seiner Mietwohnung (μίσθωμα, misthōma) bewacht (28,16–31), wirkt nicht bedrohlich. Darstellung von Römern Lukasevangelium

Apostelgeschichte

Hauptmann von Kafarnaum (Lk 7,1‐10) • Gottesfürchtiger Mäzen der Synagoge in Kapharnaum

Hauptmann Kornelius in Cäsarea (Apg 10,1‐47) • Fromm und gottesfürchtig: erster Heide, der sich zum  Christusglauben bekehrt

Hauptmann unter dem Kreuz (Lk 23,47‐48) • erkennt in Jesus einen Gerechten

Hauptmann in Jerusalem (Apg 22,25‐26) • schützt Paulus vor jüdischen Übergriffen Hauptmann in Cäsarea (Apg 24,23) • schützt Paulus vor jüdischen Übergriffen Hauptmann Julius der Kaiserlichen Kohorte (Apg 27,1‐43) • auf der Fahrt nach Rom für Paulus zuständig

Pontius Pilatus stellt drei Mal die Unschuld Jesu fest  (Lk 23,4.14.22)

Aus Sicht des römischen Rechts ist Paulus unschuldig und  müsste freigesprochen werden (Apg 25,25; 26,31) Jesusnachfolger werden von römischen Behörden vor  jüdischen Übergriffen geschützt (Apg 19,23‐40; 23,29;  25,25, 26,31) Römische Behörden verhalten sich Jesusnachfolgern  gegenüber korrekt (18,12‐17; 25,18.25)

Abb. II.14: Darstellung von Römern in Lukasevangelium und Apostelgeschichte

Auch Paulus selbst wird als römischer Bürger dargestellt und sein Bür‐ gerrecht wird von den römischen Behörden selbstverständlich akzeptiert (16,37f; 22,25–29). Es sind mehrfach die römischen Behörden, die Paulus vor den Übergriffen der Juden schützen (23,10.27) und ihm in Rom leichtere Haftbedingungen und freie Kommunikation erlauben (28,16.30). Aus Sicht des römischen Rechts ist Paulus unschuldig und müsste eigentlich freigelas‐ sen werden (25,25; 26,31). Die Feststellung der Unschuld durch einen Römer findet sich schon im Evangelium: Im Prozess Jesu stellt Pilatus dreimal seine Unschuld fest (Lk 23,4.14.22), und die Szene der Verspottung durch römische Soldaten fällt in der lukanischen Passion komplett aus. Ebenso wie Paulus werden auch andere Jesusnachfolger von den römi‐ schen Behörden vor jüdischen Übergriffen geschützt (19,23–40; 23,29; 25,25; 26,31). Römische Behörden, so zeigt die Apostelgeschichte verhalten sich anders als die jüdischen (12,1–14) gegenüber den Jesusnachfolgern korrekt, wie sich in der Episode vor Gallio (18,12–17), aber auch vor Portius Festus

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

(25,18.25) zeigt: Die Botschaft vom Evangelium erscheint nicht als verbre‐ cherisch oder staatsgefährdend, und in innerjüdische Fragen über Lehre und Namen und das Gesetz (18,15) mischen sich römische Behörden nicht ein, bis dahin, dass Paulus in Rom in seiner Mietwohnung freimütig und ungehindert die Botschaft vom Reich Gottes verkünden kann. Insgesamt lässt sich eine starke Verbindung zwischen Lukasevangelium und Apostelgeschichte erkennen, die so weit geht, dass das Lukasevan‐ gelium den Rahmen bildet, in den sich die Apostelgeschichte einpasst. Entsprechend ist ihr Diskursuniversum – die grundlegenden Annahmen und pragmatischen Setzungen des Textes – gegenüber dem Lukasevange‐ lium nicht erweitert und sie bewegt sich innerhalb der dort vorgegebenen Identitätskonstruktion. Damit wird die Apostelgeschichte auch zum ersten Werk, das sich an bestehenden christlichen Rahmen orientieren kann. An‐ ders formuliert: Die neuen Rahmen für Identitätskonstruktionen, die das Lukasevangelium konstituiert, sind so weit stabilisiert, dass sie die neue Welt bilden, in der die Erzählung der Apostelgeschichte sicher verortet werden kann. Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung Die Apostelgeschichte richtet sich an die gleichen Adressaten wie das Lukasevangelium und erzählt die Geschichte, die hinter Texten wie dem Philipperbrief oder dem Galaterbrief steht, noch einmal anders. Der Autor der Apostelgeschichte skizziert in den letzten 20 Jahren des ersten Jahrhun‐ derts die Gründungsgeschichte des Christentums von den Nachfolgern des Weges (9,2; 16,17; 18,25–26; 19,9.23; 22,4; 24,14.22) bis zum neuen Namen Christen (11,26) als Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom. Die Apostelgeschichte ist die einzige Quelle über die erste Zeit der Mission und der Ausbreitung des Evangeliums. Da sie gut zwei Generationen nach den Ereignissen entstanden ist, ist kaum anzunehmen, dass wir es mit einem detailgetreuen, objektiven Bericht zu tun haben. Die Distanz des Verfassers der Apostelgeschichte zum Beginn des Christentums entspricht ungefähr unserem Abstand zum Zweiten Weltkrieg und in beiden Fällen ist zwischen‐ durch eine ganze Menge passiert. Wenn wir heute einen Rückblick auf das Ende des Zweiten Weltkrieges und den Wiederaufbau der Bundesrepublik in den 1950er Jahren schreiben wollten, würden wir uns schwertun, all das, was wir über die über 70 Jahre, die seither vergangen sind, wissen,

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

nicht mit in die Darstellung einfließen zu lassen. Anders als die Menschen in den 1950er Jahren wissen wir beispielsweise, dass zwischen den beiden deutschen Staaten eine Mauer gebaut werden und wieder fallen würde und dass es irgendwann nur noch einen deutschen Staat gibt. Zwar ist noch immer die eine oder andere Mauer in den Köpfen vorhanden, doch es ist zu erwarten, dass sie in 40 Jahren verschwunden sein wird. Bei Lukas ist das nicht viel anders: Themen, die für Petrus und Paulus noch virulent sind, haben sich eine Generation später beruhigt und sind einer für alle akzeptablen Lösung zugeführt worden. Das erklärt auch, warum Lukas in der Apostelgeschichte viele Dinge ganz anders erzählt als wir das von Paulus, insbesondere aus dem Galaterbrief kennen. Lukas kennt das Ende schon und kann deswegen ganz anders erzählen. Er blickt, wenn man so will, zurück auf die Gründungsjahre des Christentums, die alles in allem doch eine Erfolgsgeschichte sind – allen Schwierigkeiten und Anfeindungen zum Trotz. Zwei Punkte sind hier festzuhalten: Einerseits hat der Weg, wie Lukas die neue Richtung innerhalb des Judentums nennt, ein eigenständiges Profil gewonnen: Die Anhänger des Weges heißen nun Christen. Andererseits ist die Botschaft von und über Jesus aus ihrem jüdischen Herkunftsmilieu herausgewachsen und hat begonnen, in neuen geographischen und kulturellen Räumen Fuß zu fassen. Nicht nur, dass sich Heiden zu Christus bekehren, das Evangelium kommt auch nach Europa und hinein ins Zentrum des römischen Reiches: nach Rom selbst. Diese Geschichte erzählt Lukas in der Retrospektive. Er erzählt sie als Geschichte des erfolgreichen Aufbaus einer christlichen Identität, die auf der jüdischen Herkunft Jesu und der ersten Jesusnachfolger aufbaut und sich von dort aus sukzessive weiterentwickelt. Die Apostelgeschichte erzählt den Weg des Evangeliums von Jerusalem bis ins Zentrum der Welt in Rom als Geschichte des erfolgreichen Aufbaus einer christlichen Identität, die mit der jüdischen Herkunft Jesu und seiner ersten Nachfolger beginnt und sich von dort aus kontinuierlich unter der Führung des Heiligen Geistes weiterentwickelt: Sie gewinnt ein eigenes Profil, wächst aus ihrem Herkunftsmilieu heraus und fasst in neuen geographischen und kulturellen Räumen Fuß.

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

Die Schrift als Referenzrahmen spielt dabei eine doppelte Rolle: Einerseits kann Jesus nur auf der Basis der Schriften Israels richtig verstanden werden und andererseits lassen sich die Christen ebenfalls nur innerhalb dieses Referenzrahmens verstehen. Anders gesagt: Wenn man den jüdischen Re‐ ferenzrahmen braucht, um Jesus als Gesalbten und Gottessohn zu erkennen und zu verstehen, dann ist dieser Referenzrahmen auch nötig, um die Erinnerungs- und Nachfolgegemeinschaft in seinem Namen zu verstehen. Die Heiligen Schriften Israels werden damit gleichermaßen zur Vorgabe, um Jesus zu verstehen, und zur Grundlage christlichen Selbstverständnisses. Die Apostelgeschichte zeigt, dass dieses Verständnis unabhängig davon ist, ob man sich selbst innerhalb dieses jüdischen Referenzrahmens verortet. So steht die Frage im Raum, wie stark die Bindung an diesen Rahmen für die sein muss, die Mitglieder der christlichen Gemeinschaft werden wollen. Im Laufe der Zeit wurde es für heidnische Newcomer in der christlichen Familie immer weniger wichtig, innerhalb des jüdischen Referenzrahmens zu stehen. Die Frage der Heidenmission und ihrer Voraussetzungen, wie sie in der Apostelgeschichte verhandelt wird, zeigt das recht gut. Auf der einen Seite wird das jüdische Erbe zum christlichen Identitätsmarker gerade auch gegen jene, die dieses Erbe wie Markion für irrelevant halten. Die Frage beschäftigt christliche Gruppen noch heute: Wenn es nicht mehr nötig ist, innerhalb des jüdischen Referenzrahmens zu stehen, wird dieser Rahmen überhaupt noch benötigt, und wenn ja, in welchem Sinne? Aus gedächtnistheoretischer Perspektive fällt die Antwort leicht: Er wird noch immer benötigt, weil er in die Gründungstexte der Erinnerungsgemeinschaft eingeschrieben ist. Weil Jesus jenseits des kollektiven Gedächtnisses des frühen Christentums nicht richtig verstanden werden kann, bleibt die Verbindung zu diesem kulturellen Rahmen zentral. Für die frühen Christen sind die Schriften Israels Teil ihres kulturellen Gedächtnisses und damit identitätskonkrete religiöse und kulturelle Referenzrahmen. Mit Aleida Ass‐ mann gesprochen gehören sie damit zum Funktionsgedächtnis der frühen Christen und werden der Identitätsbildung dienstbar gemacht, ohne dabei exklusiv zu sein. Um Jesus nachzufolgen ist es nicht nötig, Jude zu werden. Der Autor des Lukanischen Doppelwerks entwickelt und stabilisiert den Rahmen für christliche Identitätskonstruktionen so überzeugend, dass sie auch heute noch eine wichtige Rolle im christlichen Selbstverständnis spielt und das Kirchenjahr entscheidend mitgeprägt hat. Die Feste Verkündung des Herrn, Weihnachten, Darstellung des Herrn, Himmelfahrt und Pfingsten haben ebenso wie der Emmausgang hier ihren Ursprung. Auch die Tagzeitenlitur‐

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II.5  Traditionen stabilisieren: Die Apostelgeschichte

gie schöpft aus dieser Quelle: Benedictus, Magnificat und Nunc Dimittis stammen aus der lukanischen Kindheitsgeschichte (Lk 1–2). Im frühchristlichen Familienalbum schlägt die Apostelgeschichte ein neues Kapitel auf: Die Familie ist sicher in ihrer neuen Identität angekom‐ men und inszeniert sich und ihre Botschaft souverän in der Auseinander‐ setzung mit unterschiedlichen Kontexten. Sie bildet einzelne Situationen ab, in denen Familienmitglieder (und ihre Nachkommen) erkennen und nachvollziehen können, was es heißt, wie es aussieht und sich anfühlt, ein Teil dieser Familie zu sein.

II.6 Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief Der Zweite Petrusbrief spiegelt die Situation, in die jede Familie nach mehreren Generationen kommt, und die sich auf die Frage zuspitzen lässt, was man mit dem Erbe der Urgroßelterngeneration anfängt, zu dem es keine lebendige Verbindung mehr gibt: Ist es weiter identitätsstiftend für das Selbstverständnis der Familie oder kann man es getrost aufgeben? Mit dem Zweiten Petrusbrief kehren wir zum Abschluss des II. Teils wieder zur Briefliteratur zurück. Der Brief stellt sich als Schreiben und Testament des Apostels Petrus vor, der sich in einer schwierigen Situation zu Wort meldet, in der es bei den Adressaten um die Frage der Abgrenzung oder Öffnung gegenüber der hellenistisch-römischen Kultur und um ein stärkeres Hineinwachsen in eine christliche Identität mit starken jüdischen Wurzeln geht. Schon in der frühen Kirche wurde die Pseudonymität des Schreibens vermu‐ tet (Eus. h.e. III 1,4; 25,3). Über den Autor und die Adressaten des Briefes ist nichts bekannt, ebenso bleiben Ort und Zeit der Abfassung im Dunkeln. Sprache und Argumentation des Briefes lassen eine Vertrautheit mit der paulinischen und judenchristlichen Tradition erkennen. Der Verweis auf erste Sammlungen von Paulusbriefen spricht dafür, dass der Text verhältnismäßig spät verfasst wurde, wohl erst in den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts. Unter den Auslegern gilt der Zweite Petrusbrief fast einhellig als die jüngste Schrift des Neuen Testaments. Worum es in diesem Schreiben genauer geht, wie der Text seine Autorfiktion selbst durchbricht und welches Ziel damit verfolgt wird, erarbeitet dieses Kapitel anhand der folgenden Fragen: 1. Wie ist das Beziehungsverhältnis von Absender und Adressaten? Welche (gemeinsame) Geschichte wird erzählt? 2. Welches konkrete Problem wird im Brief behandelt? 3. Welche Perspektiven und Argumentationslinien lassen sich am Text erkennen und wie werden sie vermittelt?

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II.6  Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief

Diese Arbeitsschritte, die analog zu den Arbeitsschritten für den Galaterbrief und den Kolosserbrief gestaltet sind, werden nun im Einzelnen am Text abgegangen und anschließend gedächtnistheoretisch ausgewertet. Dabei steht auch die Frage im Raum, warum ausgerechnet Petrus als Autorfiktion gewählt wurde. Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte Der Absender nennt sich Simon Petrus und stellt sich als Sklave (δοῦλος, doulos) und Apostel Jesu Christi (1,1) vor. Er richtet sein Schreiben nicht an eine konkrete Gruppe, sondern an jene, die einen uns gleichwertigen Glauben erlangen in der Gerechtigkeit unseres Retters Jesus Christus. 57 Das Kriterium „einen uns gleichwertigen Glauben“ ist ein erstes Aufmerksamkeitssignal und zeigt, dass das Schreiben, selbst wenn es an einen konkreten Ort gerich‐ tet wäre, nicht alle vor Ort gleichermaßen betrifft, sondern nur jene, die die Entscheidung für eine ganz bestimmte Form des Christusglaubens gewählt haben. Die Anrede ist so allgemein, dass sie sich von unterschiedlichsten Adressaten zu eigen gemacht werden kann. Ihnen tritt der Absender, obwohl er sich als Einzelperson vorstellt, nicht als Einzelperson gegenüber, sondern ist Teil eines „Wir“ oder einer Tradition, die dem „Ihr“ der Adressaten gegenübergestellt wird. Dieser Traditionsbezug zeigt sich bereits im Namen des Absenders, der auf die Veränderung des Simon verweist, die durch die Nachfolge und den Glauben an Jesus geschehen ist, und ihm den Namen „Petrus“ beschert hat, den Jesus selbst ihm gegeben hat (Mk 3,16; Mt 10,2). Dieses Wir hat Bedeutung für das Ihr: Dem Wir wurden die kostbaren und überaus großen Verheißungen geschenkt, damit ihr durch diese Anteil an der göttlichen Natur erhaltet (1,4). Anders formuliert: Die frühere Generation, zu der auch Simon Petrus gehört, hat durch ihre Begegnung mit und ihre Verwandlung durch Jesus und den Glauben an ihn der jetzigen Generation überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, ein Teil dieser Gemeinschaft im Glauben zu werden und – in der Folge – dem Verderben zu entfliehen, das in der Welt herrscht. Es gilt nun, diese Möglichkeit, nicht leichtfertig zu verspielen. Deshalb folgen ethische Ermahnungen und der Hinweis darauf, dass es immer wieder 57

Übersetzung nach dem Münchener Neuen Testament.

Die Beziehung zwischen Absender und Adressaten und ihre gemeinsame Geschichte

an diesen Zusammenhang und die sich aus ihm ergebenden Konsequenzen zu erinnern gilt – bis hin zu diesem Brief, der sie in einem schriftlichen Medium für die Adressaten fixiert (2,12–15), und dies schon zum zweiten Mal (3,1). Die Kommunikation durch schriftliche Medien wird als Normalfall für die Verbindung zwischen Absender und Adressaten vorgestellt. Entspre‐ chend fehlen im Brief alle Hinweise auf eine lebendige Beziehung zwischen Absender und Adressaten, da jegliche Kommunikation durch schriftliche Kommunikationsmedien vermittelt ist. Der Zweite Petrusbrief versucht erst gar nicht, eine lebendige Beziehung zwischen Absender und Adressaten zu suggerieren, sondern lässt klar erkennen, dass die Verbindung zwischen der Gründergeneration, die der Gruppe den Weg zum Heil überhaupt eröffnet hat, und der jetzigen Generation nur durch Briefe und Briefsammlungen medial vermittelt ist. Der Hinweis auf die Paulusbriefe Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen (3,15–16) verstärkt den Eindruck, dass die Adressaten nicht mit Petrus und Paulus in Verbindung stehen, sondern nur durch die Briefe mit paulinischer und petrinischer Tradition in Kontakt gekommen sind. Wenn der Absender sich als Mitglied der Gründungsgeneration vorstellt (2,16–18), die bereits verstorben ist (3,4), verdeutlicht er auch den Abstand zu den Adressaten: Sie sind deutlich später anzusiedeln und kennen ihn nicht aus lebendiger Erinnerung innerhalb des sozialen Gedächtnisses ihrer Gemeinschaft. Das entfernt sie weit vom Gründungsgeschehen: Wenn es keine lebendige Erinnerung (mehr) an die Gründungsgeneration gibt, muss die zeitliche Distanz mehrere Generationen betragen. In diese Situation hinein spricht der Text, der sich zwar als Brief (3,1) vorstellt, aber mehr ein Testament (2,12–15) als ein Brief ist. Entsprechend wird das Briefformat auch nicht vollständig durchgehalten: Statt eines Schlussgrußes endet der Brief mit einer Schlussmahnung (3,17–18): Gebt acht, dass ihr nicht von dem Irrtum (πλάνη, planē) der Frevler (ἄθεσμος, athesmos) mitgerissen werdet und eure Standfestigkeit verliert. Wachset in der Gnade (χάρις, charis) und Erkenntnis (γνῶσις, gnōsis) unseres Herrn und Retters Jesus Christ und einer Schlussdoxologie (3,18), Ihm gebührt die Herrlichkeit, jetzt und in Ewigkeit, die klar auf den Anfang zurückverweist.

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II.6  Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief

Der Zweite Petrusbrief liest sich insgesamt weniger als Brief denn als Katechese, Predigt oder Testament. Der aktuelle Stand Dieses Testament spricht in eine Situation der Krise bei den Adressaten hinein: Obwohl sie eigentlich in der Wahrheit gefestigt sind (1,12), werden sie durch Falschlehrer (ψευδοδιδάσκαλος, pseudodidaskalos) irritiert, die eine Wahl (αἵρεσις, hairesis,)58 des Verderbens einführen, die auch den Gebieter verleugnet, der sie erkauft hat.59 Diese andere Lehrmeinung oder Auffassung vom Christsein scheint sich auf die paulinische Tradition (3,16) zu stützen und unter dem Stichwort der Freiheit (ἐλευθερία, eleutheria, 2,19), die von Paulus als Freiheit vom Gesetz bekannt ist, typisch (juden-)christli‐ che Identitätsmarker aufzugeben, indem sie Mahlgemeinschaft mit Heiden pflegt (2,13) und in die alten Schandtaten der Welt (μιάσματα τοῦ κόσμου, miasmata tou kosmou, 2,20), sprich: heidnische Lebensgewohnheiten und Verhaltensmuster, zurückfällt und so vom Weg der Gerechtigkeit (ὁδός τῆς δικαιοσύνης, hodos tēs dikaiosynēs) und den heiligen Geboten (ἁγιαί ἐντολαί, hagiai entolai) abkommt (2,21). Ihre Anhänger lehnen offenbar auch die aus der jüdischen Apokalyptik stammende Vorstellung von der machtvollen (endzeitlichen) Parusie Christi mit Hinweis auf ihr bisheriges Ausbleiben ab (3,3–4,9). Sie halten sie für einen Mythos (μῦθος, mythos, 1,16) und schlussfolgern entsprechend – und offenbar sehr attraktiv – dass man es sich in dieser Situation in der Welt einrichten und mit der Welt arrangieren muss, in der man ganz offensichtlich noch länger verweilen wird. Im Gegensatz zu seiner eigenen Identität als Sklave Jesu Christi (1,1) bezeichnet der Absender die Anhänger dieser Tradition als Sklaven des Verderbens (2,19), über die sich das Gericht schon lange vorbereitet (2,3). Die

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Das griechische Wort αἵρεσις (hairesis), das oft als „Irrlehre“ oder „Sekte“ verstanden wird, bezeichnet eine Wahl, eine Neigung, Überzeugung, Anschauung oder einen Grundsatz und trägt keinerlei negative Wertung in sich. Eine hairesis ist nicht grund‐ sätzlich irrig oder falsch, sondern wird es erst durch externe Zuschreibung. Nach dem Münchener Neuen Testament. Anders als die Einheitsübersetzung mit und den Herrn verleugnen, der sie freigekauft hat suggeriert, bietet die griechische Fassung keinerlei Vokabular, das sich auf das alttestamentliche Befreiungshandeln Gottes beziehen könnte. Statt vom Herrn (κύριος, kyrios) ist von einem Gebieter (δεσπότης, despotēs) die Rede.

Der aktuelle Stand

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Polemik in der Darstellung und Verurteilung dieser Gruppe (2,1–22) spiegelt dabei weniger deren wahre Verderbtheit als die Temperatur des Konflikts. Es ist ein „heißer“ Konflikt, bei dem es um nicht mehr und nicht weniger als die Identität der Nachfolgegemeinschaft geht, und der sich üblicher polemischer Topoi gegenüber Abweichlern wie dem Vorwurf der moralischen Laxheit und des Libertinismus bedient und sie mit schillernden Farben ausmalt. „Sklave(n) Jesu Christi“ (1,1)

„Sklaven des Verderbens“ (2,19)

Verbleib im jüdischen Referenzrahmen

Aufgabe des jüdischen Referenzrahmens

Den ersten Generationen wurden die kostbaren Verheißungen geschenkt, durch die alle späteren Generationen Anteil an der göttlichen Natur erhalten.

Der Christusglauben, den die heidnische Gruppe angenommen hat, verheißt ihr Rettung. Dieser Glaube allein genügt, das Gesetz ist nicht relevant.

Die jetzige Generation muss sich dieser Tradition und Wahrheit gemäß verhalten und in der Gnade und Erkenntnis des Retters Jesu Christi wachsen. Zur Identität der Jesusnachfolger gehören die Verheißungen der Schrift, der jüdische Referenzrahmen mit seinen apokalyptischen Vorstellungen und ein bestimmtes ethisches Verhalten. Das Gesetz spielt hingegen keine Rolle.

widerspricht sich

Die jetzige Generation muss die Zeichen der Zeit erkennen: Die Parusie ist bislang ausgeblieben, entsprechend gelten diese Traditionen nicht (mehr). Zur Identität der Jesusnachfolger gehören weder das Gesetz noch die Verheißungen der Schrift, zu denen es keine lebendige Verbindung gibt. Auf der Linie der paulinischen Argumentation ist die Gruppe in ihrem ethischen Verhalten frei.

Abb. II.15: Unterschiedliche Identitätskonsstruktionen im Zweiten Petrusbrief

Wenn man die Polemik abzieht, bleibt ein Richtungsstreit stehen, bei dem es um Abgrenzung oder Öffnung gegenüber der hellenistisch-römischen Kultur geht und in dem der Absender ein noch stärkeres Hineinwachsen in ein christliches Leben mit jüdischem Nährboden vertritt. Es geht ähnlich wie beim Kolosserbrief (vgl. II.2) auch hier um den Umgang mit attraktiven Alternativen und einer instabilen Identität. Im Gegensatz zur Problemlage der zweiten Generation, die wie der Galaterbrief (vgl. II.1) damit ringt, wie jüdisch Jesusnachfolger aus den Völkern werden müssen, um Mitglieder der Nachfolgegemeinschaft werden zu können, geht es der dritten und vierten Generation darum, wie heidnisch Jesusnachfolger bleiben oder werden dürfen, ohne ihre Identität als Christen aufzugeben.

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II.6  Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief

Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen In diesem Richtungsstreit vertritt der Absender eine Position, die an die Argumentationslinie Gesetz nein, Schrift ja erinnert, die uns bereits in den anderen Briefen und dem Lukanischen Doppelwerk begegnet ist. Eine Ar‐ gumentation für das Halten des Gesetzes, Beschneidung oder Speisegebote lässt das Schreiben nicht erkennen, besteht aber deutlich auf der bleibenden Bedeutung der Verheißungen, die aus der Schrift und der jüdisch-apokalyp‐ tischen Tradition kommen und die Parusie mit Weltgericht beinhalten, aus dem sich ein klarer moralischer Verhaltenskodex ableitet. Die Freiheit vom Gesetz ist nicht gleichbedeutend mit einem anything goes, sondern hat klare Grenzen und Regeln, die durch die Erlösungstat Christi begründet werden. Die Argumentation des Zweiten Petrusbriefs besteht aus drei Teilen: Zunächst wird die Autorität das Petrus aufgebaut (1,12–21), der im Folgenden als Augenzeuge der Verklärung Christi einerseits die Tradition verbürgt, in der die Gruppe steht, und andererseits die bleibende Geltung der jüdischen Anteile der christlichen Identität bezeugt, die im dritten Teil am Beispiel der endzeitlichen Parusie durchgespielt wird (3,1–13). Der zweite und mittlere Teil der Argumentation besteht hauptsächlich in einer Polemik gegenüber den Gegnern, die mit Rückgriffen auf Beispiele aus der Tora arbeitet: gefallene Engel (Gen 6,1–4), Noah (Gen 7,13; 8,18), Lot (Gen 19) und Bileam (Num 22). Mit Ausnahme von Bileam stammen die gewählten Beispiele alle aus dem Buch Genesis, und könnten damit auch Adressaten bekannt sein, die eben erst beginnen, sich mit dem jüdischen Hintergrund der christlichen Botschaft auseinanderzusetzen. Dazu passt, dass die Verweise auf das murrende Volk in der Wüste (Num 14; Jud 5) und die Henochtradition aus der Vorlage (Jud 7) gestrichen sind. In der Forschung ist weitgehend unbestritten, dass der Zweite Petrusbrief literarisch vom Judasbrief abhängig ist; von den 25 Versen des Judasbriefs werden 15 Verse im Zweiten Petrusbrief aufgenommen. Die Autorität, mit der der Absender argumentiert, wird dadurch aufge‐ baut, dass dieser sich als Angehöriger der Gründungsgeneration vorstellt und Augenzeuge der Verklärung (Mk 9,2–9; Mt 17,1–8) war (1,18), die – und es liegt nahe, dass die Schlüsselszene genau aus diesem Grund gewählt wurde – in besonderem Maße auf die endzeitliche Stellung Jesu verweist und damit auch auf die Parusie. Wenn der Absender sich nicht nur als Augenzeuge der Verklärung, sondern auch als Ohrenzeuge der Himmels‐ stimme Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe vorstellt, legitimiert er sich doppelt: Nicht nur als Zeuge Christi, sondern

Perspektiven, Argumentationslinien und kulturelle Rahmen

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auch als einer, der die Stimme Gottes, die Jesus legitimiert, gehört hat. Mehr Autorität lässt sich gegen die ausgedachten Geschichten, die er den Falschlehrern unterstellt, nicht in die Waagschale werfen. Dieser Petrus spricht in seinem Testament zu den Adressaten. Er will sie erinnern so lange ich noch in diesem Zelt lebe, und euch dadurch wachhalten, denn ich weiß, dass mein Zelt bald abgebrochen wird, wie mir auch unser Herr Jesus offenbart hat (1,13–14) und tut das durch ein Schreiben, das, weil es durch seinen Medienwechsel in Text, der eine zeitliche Entfristung der Botschaft ermöglicht, auch für künftige Generationen bewahrt werden kann: Ich will aber auch dafür sorgen, dass ihr euch auch nach meinem Tod jederzeit daran erinnern könnt (1,15). Das gewährleistet ein greifbarer Text, den man sehen und anfassen kann und der zusammen mit der Sammlung der Paulusbriefe, auf die 3,15–16 anspielt, aufbewahrt wird. Der Zweite Petrusbrief erhebt zwar den Anspruch, das Testament des Petrus zu sein (2 Petr 1,1.13–15), und begründet ihn durch einen Rückver‐ weis auf den Ersten Petrusbrief (2 Petr 3,1), durch den Anspruch des Absenders, bei der Verklärung Jesu zugegen gewesen zu sein (1,18) und durch das geradezu kollegiale Verhältnis mit Paulus (3,15–16), der als „unser geliebter Bruder, der mit der ihm geschenkten Weisheit Briefe geschrieben hat“, durchaus etwas gönnerhaft behandelt wird. Das vorgegebene Autorbild erscheint jedoch als Fiktion, die „Petrus“ selbst durchbricht, wenn er vom Entschlafensein der „Väter“ spricht, zu denen auch Petrus gehört (3,4).

Verklärung Jesu Stimme Gottes

Herrlichkeit Jesu sieht

hört

Petrus

Gründungsgeneration

Direkte Glaubensweitergabe durch das gesprochene Wort und lebendiges Zeugnis

2. Generation

3. Generation

Erinnerung an Gründungsereignisse in Schriftform. Stabilisierung des Zeugnisses durch Medienwechsel

Abb. II.16: Durchbrechung der Autorfiktion im Zweiten Petrusbrief

4. Generation

5. Generation

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II.6  Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief

Dass der Absender seine eigene Autorfiktion durchbricht, stört dabei nicht, denn die Traditionskette für die Überlieferung des Glaubens funktioniert be‐ reits dadurch, dass die Gründungsgeneration der jetzigen durch ihr Wirken und Zeugnis den Zugang zum Glauben eröffnet und sie in diesem Glauben unterwiesen hat. Der Brief als Testament des Petrus erinnert lediglich noch einmal an diese Verbindung, wie er auch selbst sagt: Darum will ich euch immer daran erinnern, auch wenn ihr es schon wisst und in der Wahrheit gefestigt seid, die jetzt gegenwärtig ist (1,12). Der Zweite Petrusbrief argumentiert nicht gegen die abgelehnten Falsch‐ lehrer, sondern begnügt sich damit, sie zu diskreditieren, abzuqualifizieren und als ohnehin dem Gericht verfallen darzustellen. Das Ziel ist, die Adres‐ saten auf einem Kurs zu halten, der als apostolisch verbürgt dargestellt und am Beispiel der Parusieerwartung durchgespielt wird. Es geht dabei nicht darum, ob die Erwartung sachlich richtig oder falsch ist, sondern ob sie zur eigenen Identität gehört. Anders als die Gegenposition, die mit dem jüdischen Gesetz auch den ganzen jüdischen Referenzrahmen aufgeben will, pocht der Absender darauf, dass der jüdische Referenzrahmen untrennbar zur Identität der Jesusnachfolger gehört. Auch wenn sie nicht explizit verwendet wird, begegnen wir auch hier wieder der Denkfigur Gesetz nein, Verheißung ja. Der Absender stellt die Erwartung der Parusie als typologische Entspre‐ chung von Sintflut (als Gericht und Vernichtung) und Endgericht dar und verweist auf die andere Zeitrechnung Gottes, für den ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind (3,8; vgl. Ps 90,4). Doch nicht die Zeit, die noch vergehen wird, ist entscheidend – darauf könnte man sich einstellen, die konkreten Vorbereitungen auf später verschieben und sich so verhalten wie die Falschlehrer, die dann eine durchaus rationale Position vertreten würden –, sondern die Ungewissheit, wann die Parusie genau eintreten wird: Der Tag des Herrn wird aber kommen wie ein Dieb (3,10). Deshalb ist Wachsamkeit angeraten und deshalb gilt es, sich schon jetzt darauf vorzubereiten, auch wenn es scheinbar keine Anzeichen für ein baldiges Ende der Welt und einen geradezu stoischen Weltenbrand am Ende der Zeiten (3,10–12) gibt. Das Bild aus der heidnischen Enzyklopädie verweist wie auch sonst die Diktion des Schreibens darauf, dass sein Autor sich ebenfalls gut in der umliegenden Kultur auskennt; insgesamt wird für die Argumentation aber deutlich aus dem jüdischen kulturellen Referenzrahmen geschöpft. Daneben findet sich eine ganze Reihe von Quer‐ verbindungen zum Matthäusevangelium, die in die Zeit (nach) der dritten

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

Generation und auf den theologischen Standort innerhalb des jüdischen Referenzrahmens verweisen. Zahlreiche Berührungspunkte mit dem Matthäusevangelium verweisen in die dritte Generation und damit eine spätere Zeit als kurz vor dem Tod des Petrus: ■ ■ ■ ■ ■

die Verklärung (2 Petr 1,17/Mt 17,5) der „Weg der Gerechtigkeit“ (2 Petr 2,21/Mt 21,32) „Hunde“ und „Schweine“ als Schimpfworte (2 Petr 2,22/Mt 7,6) die sechste Vaterunser-Bitte (2 Petr 2,9/Mt 6,13) die Verschlimmerung des Zustands nach dem Rückfall (2 Petr 2,20/Mt 24,37–39) ■ Sintflut/Sodom – Endgericht (2 Petr 2,5.6f/Mt 24,37–39) ■ Querverbindungen zur Endzeitrede (2 Petr 2,13/Mt 24–25)

Das Angebot an diejenigen, die Gefahr laufen, sich der anderen Position anzuschließen (oder sich ihr bereits angeschlossen haben), lautet, dass jetzt noch Zeit ist zur Umkehr, bevor es zu spät ist und die endzeitliche Erneue‐ rung der Wirklichkeit durch Gott als Richter und Schöpfer geschieht. Das Bild vom neuen Himmel und der neuen Erde, eine jüdisch-apokalyptische Endzeiterwartung, wird nochmals vor Augen gestellt und die Leser werden aufgerufen, dieses Bild anzunehmen. Die Motivation zum guten Leben be‐ steht darin, dass die adäquate oder „richtige“ Lebenspraxis jetzt dafür sorgt, dass man sich beim Kommen des Herrn und dem Endgericht keine Sorgen mehr machen muss, denn dann wird offenbar werden, dass die Mitglieder der Gruppe auf der richtigen Seite stehen, zum Herrn gehören. Auch hier wird allein aus dem jüdischen Referenzrahmen heraus argumentiert. Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung Der Zweite Petrusbrief lässt sich als Dokument lesen, in dem die heiden‐ christliche Gruppe mit dem jüdischen Referenzrahmen ringt, der ihrer Identität durch den Christusglauben zugewachsen ist. Die übergeordnete Frage scheint dabei zu sein, warum sie eine Familientradition der (Ur-)Groß‐ elterngeneration aufrechterhalten soll, zu der es keine lebendige Verbindung

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II.6  Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief

und für die es keine Zeugen gibt. Über die Autoritätsfigur Petrus, die klar zu dieser Tradition und Identität gehört, wird nun eine Verbindung zum jüdischen Nährboden und Entstehungskontext des frühen Christentums hergestellt, die die Adressaten als legitime Erben in die Reihe einordnet. Dass die Kenntnis des Matthäusevangeliums, des Judasbriefs und des Buches Genesis im Grunde ausreichen, um den Brief zu verstehen, macht ihn auch für Jesusnachfolger verständlich, die in keiner langen Tradition stehen und (noch) keine stabile christliche Identität haben. Wenn man sich mit der neutestamentlichen Briefliteratur befasst, kann leicht der Eindruck entstehen, dass es im Grunde immer um das Gleiche geht und man es mit einer „Standardsituation“ zu tun hat, die sich in den Texten in „Standardeinstellungen“ manifestiert. Die Einführungstexte in den meisten Bibelausgaben und in der exegetischen Sekundärliteratur unterstüt‐ zen den Eindruck, dass die Story immer dieselbe ist: Die angeschriebene Gemeinde ist durch das Auftauchen von Irrlehrern (ψευδοδιδάσκαλος, pseudodidaskalos) und Irrlehren (αἵρεσις, hairesis) in ihrer Existenz bedroht und der Briefschreiber versucht, die drohende Katastrophe zu verhindern und die Gemeinde auf dem orthodoxen Kurs zu halten. Je nachdem mit welcher Häresie oder welchen Häretikern man es zu tun hat, fällt die Auseinandersetzung im jeweiligen Text mehr oder weniger polemisch aus und es wird mehr oder weniger Material aus dem Alten Testament für die Argumentation herangezogen. Aus der Distanz scheint jeder weitere neutestamentliche Brief, den man liest, dieses Muster zu wiederholen und lediglich „more of the same“ zu sein. Es lohnt sich, die Perspektive zu wechseln und zu fragen, ob nicht vielleicht eher die Auslegungsgeschichte in die Klischeefalle geht und lediglich „more of the same“ ist. Wenn dort von Häresien und Irrlehrern die Rede ist, setzt das voraus, dass es bereits eine orthodoxe Lehre gibt, an der man sich orientieren kann. Genau das ist in neutestamentlicher Zeit und bis weit ins zweite und dritte Jahrhundert überhaupt nicht der Fall. Spektakuläre Beispiele wie Markions Kanon und Tatians Diatessaron bestätigen, dass in den ersten Jahrhunderten intensiv darum gerungen wurde, was denn „christlich“ sein würde. Dass die Jünger in Antiochia zum ersten Mal als Christen bezeichnet wurden, wie die Apostelgeschichte (Apg 11,26) festhält, heißt nicht, dass sie bereits Christen mit nizäno-konstantinopolitanischem Glaubensbekenntnis waren, sondern lediglich, dass es an einem Ort einen Namen für die emerging church gab. Christoph Markschies sagt nicht umsonst:

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

Eine kurze Charakterisierung der Jahrhundertschritte könnte so aussehen: Die Christenheit des zweiten Jahrhunderts unterscheidet sich von der des ersten allein schon durch die verschiedenen hochgebildeten Theologen, die sich um das wissenschaftliche Verständnis der neuen Religion bemühen. Auf breitester Front werden in den Großstädten Menschen verschiedenster Schichten gewon‐ nen, und die Kirche wirkt wie ein ‚Laboratorium‘, in dem verschiedene Gestal‐ ten von Theologie, Ämterhierarchie und Ethik ausprobiert werden. Nur sehr allmählich ist eine ‚Mehrheitskirche‘ erkennbar, die abweichende Positionen als ‚häretisch‘ ausscheidet. Dieser Prozess ist im dritten Jahrhundert zu einem gewissen Abschluss gekommen: Bewegungen wie beispielsweise die Gnosis und der Montanismus haben sich von einer ‚Mehrheitskirche‘ getrennt; diese hat ein hierarchisches Amt, Konsens über eine Art von ‚Minimaldogmatik‘, über den Gottesdienst und die ethischen Ansprüche an ein christliches Leben ausgebildet. 60

Die Vorstellung von einem gigantischen Versuchslabor „Christentum“ ist womöglich hilfreich, um die einzelnen Experimente besser einzuordnen und nicht in die Falle einer anachronistischen Lesart zu gehen. Dass die allmähliche Entwicklung hin zu einer Mehrheitskirche nicht ohne Ausein‐ andersetzungen ablief, ist selbstredend. Was im Nachhinein als logisch aufeinander aufbauende Geschichte unter der Führung des Heiligen Geistes verstanden und erzählt wird, entpuppt sich bei näherem Hinsehen gewöhn‐ lich als nachträgliche Konstruktion, die mehr über die Gegenwart derjenigen aussagt, die sie verbreiten, als über das, was sich in der Vergangenheit ereignet hat. Die Rede von der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern und Irrlehren in den neutestamentlichen Schriften ist ein Symptom genau dieses Mechanismus. Im Zweiten Petrusbrief wird eine Gruppe sichtbar, die keinerlei lebendige Verbindung zur Gründungsgeneration mehr hat und deren Verbindung zur zweiten Generation ebenfalls allein auf medial vermittelte Kommuni‐ kation (Briefsammlungen) stützt. Das verbindet sie mit vielen anderen Nachfolgegemeinschaften nach dem Floating Gap. Sie sind eine Gruppe in statu nascendi, die an konkreten Identitätsfragen herumlaboriert, die als theologische Fragen verhandelt werden, und bei der eine Richtungsentschei‐ dung ansteht. Die im Brief abgelehnten Falschlehrer und ihre Positionen

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Christoph Markschies: Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Insti‐ tutionen, München 2006, 42f.

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II.6  Auf Traditionen aufbauen: Der Zweite Petrusbrief

deuten an, um welche Themen es bei dieser Gruppe geht. Wenn man die typische Polemik solcher Schreiben, sprich Topoi wie den Vorwurf des ethischen Laxismus oder Libertinismus abzieht, bleibt stehen, dass es darum geht, ob es den jüdischen Referenzrahmen, aus dem die Jesusnachfolger ursprünglich stammen, überhaupt noch braucht, wenn es keine lebendige Verbindung mehr zu ihm gibt. Diese Identitätsfrage wird anhand der Frage nach der machtvollen Parusie Christi durchgespielt, die als judenchristlichapokalyptisch geprägte Erwartung von einem Teil der Gruppe abgelehnt wird. In dieser Situation wird – so könnte man ganz salopp sagen – Petrus als Autorität aus der theologischen Trickkiste geholt und ein Schreiben in seinem Namen und mit seiner Autorität, das sich als sein Testament ausgibt, soll die Lage klären. Wieder einmal wird eine Tradition gefunden, um eine aktuelle Problemlage zu bewältigen. Wieder einmal schafft sich die Gegenwart die Vergangenheit, die sie benötigt und hier sogar direkt in die Gegenwart einspielt. Ein pseudepigraphes Schreiben mit dem Ziel, die Adressaten mit einer Tradition in Kontakt zu bringen, ist nichts Neues. Was den Zweiten Petrusbrief innerhalb der neutestamentlichen Texte jedoch singulär macht, ist die Durchbrechung der Verfasserfiktion, die es ermöglicht, eine Traditionskette sichtbar zu machen: Der historische Petrus hätte weder von einer Paulusbriefsammlung wissen noch das Ende der Väterzeit konstatieren und auf eine frühchristliche Generationenfolge anspielen können. Bei der Verfasserfiktion fällt die Wahl des Schreibers nicht zufällig auf Petrus, der einerseits als zentrale Figur aus der Gründungszeit mit einer gewissen Autorität sprechen kann und hier vorgibt, seine letzten Worte weiterzugeben. Der Zweite Petrusbrief stilisiert sich damit zum Vermächtnis einer Erinnerungsfigur aus der ersten Generation, die insbe‐ sondere im Lukanischen Doppelwerk auch als Integrationsfigur zwischen judenchristlichen und heidenchristlichen Strömungen dargestellt wird und sowohl Jesus gesehen als auch die Stimme Gottes gehört hat. Petrus ist hier nicht nur der erstberufene Jünger, sondern auch derjenige, der am Beginn der Heidenmission und der Tischgemeinschaft mit den Heiden steht. Petrus ist als Verbindung in die erste Generation außerdem ein Garant für die Verlässlichkeit der überlieferten Worte. Anders als bei Paulus und in der paulinischen Pseudepigraphie kann die Autorfiktion des Zweiten Petrusbrief sich darauf berufen, dabei gewesen zu sein und die

Auswertung und gedächtnistheoretische Einordnung

unverfälschte Botschaft Jesu weiterzugeben, gerade auch im Hinblick auf die Frage der Parusie. Was den Zweiten Petrusbrief außerdem von anderen pseudepigraphen Schreiben unterscheidet ist, dass es hier nicht mehr um die Außenwirkung der Gruppe geht, sprich: ihre Erkennbarkeit als „judenchristlich“ oder „heidenchristlich“, sondern tatsächlich um ein inhaltliches Problem und eine theologische Weichenstellung. Es ließe sich natürlich vermuten, dass mit dem Festhalten an der Parusie(nah)erwartung auch ein eher judenchrist‐ licher Lebenswandel (Beschneidung, Einhalten der Speisegebote und des Sabbats) einhergehen könnte, doch der Brief selbst sagt darüber nichts aus. Er könnte sich ebenso gut auch an eine heidenchristliche Gemeinde richten, die überzeugt werden soll, dass auch das eher fremde, apokalyptische Denken samt Parusieerwartung zum Christusglauben gehört. In unserem neutestamentlichen Familienalbum erscheint der Zweite Pe‐ trusbrief damit als historisches Familienbild, das ein Familienbild nachstellt und dabei gleichzeitig zu erkennen gibt, dass es aus einer anderen Zeit stammt. Dabei geht es weder um Nostalgie noch darum, die Vergangenheit zu fälschen, sondern vielmehr darum, eine Verbindung zur eigenen Tradi‐ tion herzustellen und sich der Herkunft und Wurzeln bewusst zu werden, die die eigene Identität prägen, die sich nicht einfach abstreifen lässt.

247

II.7 Weiterführende Beobachtungen nach den exemplarischen Lektüren Für die exemplarischen Lektüren wurden verschiedene Textgattungen aus unterschiedlichen Generationen ausgewählt. Der Galaterbrief stammt aus der zweiten Generation und vor dem Generational Gap, der Kolosserbrief und das Markusevangelium aus der dritten Generation, das Lukasevange‐ lium aus der Zeit des Übergangs von der dritten zur vierten Generation, die Apostelgeschichte aus der vierten Generation und der Zweite Petrusbrief stammt aus der Zeit des Übergangs von der vierten zur fünften Generation und des Floating Gap. 2. Generation

3. Generation

4. Generation

5. Generation

EVANGELIEN Mk

Mt

Lk Apg

Lukanisches Doppelwerk

Generational Gap

Jak

Joh Johanneische Schriften

1 Petr Jud

2 Joh 3 Joh 1 Joh

2 Petr

KATHOLISCHE BRIEFE Offb

Echte Paulusbriefe 1 Thess 1 Kor Phil - Phlm - 2 Kor Gal Röm

Kol

Eph

Deuteropaulinen 2 Thess Pastoralbriefe 1 Tim Tit 2 Tim

Floating Gap

Hebr

PAULUSBRIEFE 50

60

70

80

90

100

110

120

130

Abb. II.17: Historisch-gedächtnistheoretische Verortung der Beispieltexte

Nach der Lektüre aller Texte zeigt sich, dass die Generationen mit unter‐ schiedlichen Fragestellungen zu kämpfen haben, die sich in der Zusammen‐ schau jedoch auch als Teil einer zusammenhängenden Familiengeschichte lesen lassen. Es geht dabei um Fragen der Identität und wie sich Identität wandelt, wenn die Familie sich im Laufe der Zeit und durch neue Mitglieder

II.7 Weiterführende Beobachtungen nach den exemplarischen Lektüren

verändert. Die große Herausforderung für die Familie der Jesusnachfolger bestand zu Beginn in der Frage, was geschieht, wenn Jesusnachfolger, die nicht aus dem jüdischen Glauben kommen, Teil der Nachfolgegemeinschaft werden wollen. In der Anfangsphase direkt nachdem sie von Paulus den Christusglauben angenommen hatten, scheint es für die Jesusnachfolger in den galatischen Gemeinden keine Probleme zu geben: Sie haben als Heiden den Glauben angenommen und bleiben in ihrer hellenistisch-heidenchristlichen Identität ohne Beschneidung und Torabefolgung. Einen Grund, die Tora zu befolgen, sehen sie als Einzelgemeinden nicht. In der Verbindung zwischen den ein‐ zelnen Gemeinden und aus der Perspektive der hebräisch-judenchristlichen Glaubensgeschwister sieht das ganz anders aus. Für sie als aufnehmende Gruppe stellt sich die Frage, inwiefern die neuen Glaubensgeschwister die Familienidentität verändern und ob sie nicht eigentlich die traditionellen Familienwerte übernehmen müssten. Diese Frage wird anhand der Themen Beschneidung und Torabefolgung ausgehandelt. Die Lösung liegt zunächst darin, dass jeder in dem Stand bleibt, in dem er zum Glauben kam, und das Zusammenleben in Form von Kompromissen geregelt wird. Damit ist das zugrundeliegende Problem jedoch nicht gelöst, das sich verkürzt auf die Frage bringen lässt Muss man nicht erst Jude werden, um Jesus nachfolgen zu können? Wenn die Antwort „ja“ lautet, wäre das ganze Gesetz zu halten, bei „nein“ fragt sich, welche Rolle das Gesetz dann für die jüdischen Jesusnachfolger spielt. Im Galaterbrief ist die Entwicklung zur Formel Verheißung ja, Gesetz nein vorweggenommen, wenn Paulus mit der Schrift gegen die Torabefolgung, aber für die Beibehaltung der Verheißung argumentiert. Der jüdische Referenzrahmen wird nicht aufgegeben, doch es zeichnet sich ab, dass es Modifikationen geben wird. Wenn man in der Zeit weitergeht, verändert sich die Fragestellung erneut. Aus der Perspektive der neuen Familienmitglieder ohne jüdischen Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Annahme des Christusglaubens ohne weitere Regelungen ausreichend ist. Der Kolosserbrief spielt diese Fragestellung durch und endet ebenfalls dabei, dass der jüdische Referenz‐ rahmen für die Jesusnachfolger unhintergehbar ist. Er bietet nicht nur eine ethische, sondern auch eine weltanschauliche Grundlage, die die Basis der (neuen) Identität im Christusglauben ist. Um dies zu erreichen, ruft er einen Zeugen der Vorgängergeneration auf, der als Identitätsgarant fungiert und eine Verbindung zum jüdischen Erbe herstellt, das immer im Hintergrund steht.

249

250

II.7 Weiterführende Beobachtungen nach den exemplarischen Lektüren

Die Texte der dritten Generation zeigen dann: Die Erzählung von der Begegnung mit Jesus Christus und seiner Botschaft, dem rettenden Heils‐ handeln Gottes in Jesus Christus, sprich der Gründungsgeschichte der Jesusnachfolger, kann nur im jüdischen Referenzrahmen erzählt und ver‐ standen werden und nur von dort her lässt sich auch christliche Identität verstehen. Die Evangelien nach Markus und Lukas bieten mit ihren narra‐ tiven Entwürfen identitätskonkrete Geschichten, die zur Familiarisierung einladen und Rahmen für christliche Identität bieten. Wie das Leben in dieser neu gewonnenen Identität aussehen kann, zeigt die Apostelgeschichte. Sie stabilisiert das christliche Selbstverständnis durch Erzählungen, die nicht mehr die Gründungsereignisse erzählen, sondern wie die Geschichte der Jesusnachfolger in unterschiedlichen Kontexten weitergegangen ist, und bietet so Identifikationsmöglichkeiten für Jesus‐ nachfolger im gesamten Imperium Romanum. Die unterhaltsamen und teils spannenden Geschichten stabilisieren nebenbei die christliche Identität, die in den Reden immer wieder argumentativ eingeholt und vergewissert wird. Auch hier gilt: Verheißung ja, Gesetz nein. Je weiter sich die Familie der Jesusnachfolger zeitlich und örtlich von ihren Ursprüngen entfernt, desto drängender wird auch die Frage, ob es wirklich nötig ist, das Familienerbe noch weiter zu pflegen, wenn es keine lebendige Verbindung mehr zu ihm gibt und bisher nichts Dramatisches geschehen ist. Die Fragen der vierten und fünften Generation erinnern entfernt an die Frage der zweiten Generation, da es in beiden Fällen um das jüdische Erbe geht. Am Rande des Floating Gap fragt man sich jedoch nicht mehr, wie jüdisch man werden muss, um Teil der Familie der Jesusnachfolger werden zu können, sondern die Frage lautet, ob Jesusnachfolger, die schon seit Generationen keine lebendige Verbindung (mehr) zum jüdischen Refe‐ renzrahmen haben, ihn wirklich benötigen. Anders als die dritte Generation fragen sie nicht, ob der Rahmen stabil ist und ausreicht, sondern ob es ihn überhaupt noch braucht. Ob der Zweite Petrusbrief die Apostelgeschichte kennt, ist unbekannt. Die Antwort ist in beiden Fällen gleich: Es geht nicht ohne das jüdische Erbe. Das Gesetz mag aufgegeben sein, nicht aber die Verheißungen. In diesem Punkt sind sich alle Beispieltexte einig: Es geht nicht ohne den jüdi‐ schen Referenzrahmen, der in modifizierter Form in den neuen christlichen Referenzrahmen aufgehoben ist. In der Folge ist Schrift bleibender Teil der christlichen Identität.

III Konkretionen: Potential und Grenzen Kulturwissenschaftlicher Exegese Aus den Erkenntnissen des ersten Teils lässt sich festhalten, dass die kultur‐ wissenschaftliche Gedächtnistheorie in der Bibelwissenschaft hauptsächlich drei Aufgaben hat: ■ die Entwicklung eines Modells zum Verständnis biblischer Texte als normierender, formierender und identitätskonkreter Texte, ■ die Auslegung biblischer Texte als Erinnerungstexte, und ■ die kritische Begleitung, Diskussion und Evaluierung der Ergebnisse anderer bibelwissenschaftlicher Teildisziplinen. Um die ersten beiden Punkte haben wir uns in Teil I und II gekümmert. Nun stellt sich die Frage, was kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie für den dritten Punkt beitragen kann. In der Bibelwissenschaft hat die historische Rückfrage – was ist passiert? – einen hohen Stellenwert. Hier kann die Einbeziehung kulturwissenschaft‐ licher Gedächtnistheorie durchaus einen Erkenntniszugewinn beisteuern. Die beiden Hauptarbeitsgebiete mit historischen Fragenstellungen sind (a) der Bereich der Historischen Jesusforschung, wo gedächtnistheoretische Ansätze u. a. für die historische Rückfrage dienstbar gemacht werden und (b) der Bereich der Einleitungswissenschaft, wo die Kenntnis kultur‐ wissenschaftlicher Gedächtnistheorie bei der kritischen Evaluation von Entstehungsszenarien – den typischen Einleitungsfragen – hilft. Zur Diskussion um die Anwendung von Erinnerungstheorie in der (histo‐ rischen) Jesusforschung und den Paradigmenwechsel vom historischen zum erinnerten Jesus gibt es eine Vielzahl von qualitativ hochwertigen Beiträgen. Die fortgeschrittene Diskussion spiegelt sich auch darin, dass die Thematik mittlerweile auf der Ebene der Handbücher und Lehrbücher angekommen ist. Ein wichtiger Punkt bei der Anwendung von Erinnerungstheorie in der Jesusforschung ist, dass sie stärker vom Konzept der Erinnerung als vom Konzept des Gedächtnisses her denkt. Vornehmlich widmet sie sich eher dem Objekt der Erinnerung, hier: der Erinnerungsfigur Jesus und ihren historischen Kontexten, als dem Subjekt der Erinnerung und den

vorliegenden Erinnerungszeugnissen als Momentaufnahmen kollektiver Erinnerungs- und Identitätsbildungsprozesse. Im Bereich der Einleitungswissenschaft hilft kulturwissenschaftliche Ge‐ dächtnistheorie, die Erklärungen anderer Ansätze und Modelle zu Ursprung, Wachstum, Autoren, Adressaten und Entstehungssituation einzelner Tradi‐ tionen und neutestamentlicher Bücher besser zu verstehen und tiefer zu erfassen. Ihre Stärke ist, dass sie nicht mit einer eigenen Theorie zur Kon‐ textualisierung – wie der Datierung und lokalen Verortung – einzelner Texte und Textcorpora aufwartet. Sie hilft vielmehr, unterschiedliche Datierungs‐ vorschläge besser zu verstehen, einzuordnen und ggf. kritisch anzufragen. Um dieses Potential und die Möglichkeit, Erkenntnisse unterschiedlicher neutestamentlicher wie patristischer Herangehensweisen zu verbinden, geht es in diesem dritten Teil. Die Applikation kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie auf Einleitungsfragen zeigt, inwiefern dieser Zugang gerade auch im interdisziplinären Diskurs zu einem hilfreichen Werkzeug werden kann. In den folgenden Kapiteln geht es daher um die Evaluation von Entste‐ hungsszenarien für biblische Texte und die Frage, was sich jenseits des Floating Gap im Hinblick auf Kanonisierungstendenzen tut, und welchen Nutzen kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie für die Auslegung des Neuen Testaments insgesamt haben kann.

III.1 Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese Was leistet kulturwissenschaftliche Exegese und was nicht? Da das Erinnerungsparadigma in der neutestamentlichen Wissenschaft zuerst in der historischen Jesusforschung aufgetaucht ist, steht am Anfang dieses Kapitels eine Klärung des Verhältnisses von Jesusforschung in Zeiten des „Jesus-Memory-Approachs“ und kulturwissenschaftlicher Exegese. Danach geht es um die Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese und kritische Anfragen an diesen hermeneutischen Zugang. Der Ausblick auf weitere Arbeitsfelder leitet in die Kapitel des dritten Teils über.

Historische Jesusforschung und kulturwissenschaftliche Exegese: Abgrenzungen In der exegetischen Wissenschaft wurde das Erinnerungsparadigma zu‐ nächst auf die Frage nach der Weitergabe und Verschriftlichung von Jesuserinnerungen sowie die Frage nach der Verlässlichkeit dieser Traditi‐ onsprozesse angewendet. Ein weiterer Forschungszugang beschäftigt sich mit der Möglichkeit der historischen Rückfrage nach Jesus und löst die Forschungsfrage nach dem historischen Jesus durch das Paradigma des erin‐ nerten Jesus oder Jesus remembered ab. Dabei wird die Möglichkeit erforscht, neutestamentliche Texte als Externalisierungen oder Artefakte kollektiver Erinnerung zu lesen bzw. kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie (im Gefolge von Maurice Halbwachs und Aleida und Jan Assmann) oder Social Memory Theory (im Gefolge von Barry Schwartz) zum Verständnis und der Lektüre neutestamentlicher Texte heranzuziehen. Die wegweisenden Arbeiten von Jens Schröter und James Dunn sind sich bei allen sonstigen Differenzen einig, dass Erinnerung eine zentrale Kategorie für die historische Jesusforschung ist. Beide nutzen Erinnerung methodisch für die historische Rückfrage und sprechen vom „erinnerten Jesus“ (Jens Schröter) oder „Jesus Remembered“ (James Dunn). Anders als es auf den ersten Blick erscheinen mag, besteht bei beiden Ansätzen keine Einigkeit über Konzept und hermeneutisches Vorverständnis, sodass

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III.1  Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese

es im Grunde zwei Zugänge gibt, die mit Erinnerung und einer Form des erinnerten Jesus als hermeneutischer Kategorie arbeiten. Sie lassen sich gut voneinander abgrenzen: Jesus Remembered I versucht, die neutes‐ tamentlichen Quellen als authentische Zeugnisse zu sichern, während Jesus Remembered II sich auf der Basis der Erkenntnisse der Social Memory Theory einerseits gegen ein naives Verständnis von Erinnerung und Traditionsweitergabe und andererseits gegen den Criteria Approach wendet. Jesus Remembered I  (Traditionsweitergabe)

„Erinnerter Jesus“/Jesus Remembered II  (Memory Approach)

Vertreter Birger Gerhardson, Harald Riesenfeld, Samuel Byrskog,  Rainer Riesner (skandinavische Schule), Richard  Bauckham, Robert McIver, James Dunn, Bart Ehrmann

Vertreter Jens Schröter, Christine Jacobi, David Du Toit, Simon  Butticaz, Anthony LeDonne, Chris Keith, Rafael  Rodriguez, Eric Eve, Dale Allison, Tom Thatcher, Alan Kirk

Erkenntnisinteresse  Ereignis und Traditionsweitergabe  Überlieferung, Textentstehung und Verlässlichkeit  Rolle der Augenzeugen und ihrer Erinnerung/ihres  Zeugnisses

Erkenntnisinteresse  Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart  Rekonstruktion der Geschichte auf der Basis des  Wissens der Gegenwart   Jesuserinnerung als Historisches verantwortetes  Porträt von Jesus Methoden Historisch‐kritisch, Memory‐Approach

Methoden Historisch‐kritisch, traditionsgeschichtlich,  kriteriengeleitete historische Rückfrage (Criteria Approach) Erinnerungsbegriff Nuancen c und b, Fokus auf individueller Erinnerung, Verkörpertes Speichergedächtnis wird überführt

Erinnerungsbegriff Nuancen b und d, kein spezieller Fokus auf  Funktionsgedächtnis

Anschluss an Forschungszugänge Neurologie, Psychologie

Anschluss an Forschungszugänge Geschichte, Kulturwissenschaft

Abb. III.1: Vergleich der Zugänge „Jesus Remembered I“ und „Jesus Remembered II“

Im Unterschied zu diesen beiden Ansätzen, die sich hauptsächlich im Bereich der Jesusforschung und näherhin der historischen Rückfrage bewegen, geht es der kulturwissenschaftlichen Exegese, wie sie in diesem Lehrbuch vorgestellt wird um die Frage, was es heißt, die neutestamentli‐ chen Texte als Zeugnisse des kollektiven Gedächtnisses ernst zu nehmen und sie als Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsbildung zu lesen und auszulegen. Auch wenn alle drei Zugänge sich in einzelnen Punkten berühren oder überschneiden, ist festzuhalten, dass sie unterschiedliche hermeneutische Grundlagen, Methoden und Frageperspektiven haben. Mitunter ist eine trennscharfe Einteilung nicht möglich, da jeder Zugang sich im Feld Gedächtnis/Erinnerung verortet. Eine hilfreiche Unterschei‐ dung besteht – zumindest in der deutschen Literatur – darin, dass in der

Historische Jesusforschung und kulturwissenschaftliche Exegese: Abgrenzungen

historischen Jesusforschung hauptsächlich mit dem Begriff der „Erinne‐ rung“ gearbeitet wird, während kulturwissenschaftliche Exegese stärker das Konzept des „Gedächtnisses“ profiliert. Im englischen Sprachraum ist diese Unterscheidung nicht möglich, da beide Konzepte mit memory beschrieben werden. Jesusforschung mit Memory Approach „Erinnerung“ Erkenntnisinteresse • Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart • Rekonstruktion der Geschichte auf der Basis des Wissens der Gegenwart • Jesuserinnerung als historisches verantwortetes Porträt von Jesus

Erinnerungsbegriff Nuancen b und d, kein spezieller Fokus auf Funktionsgedächtnis

Kulturwissenschaftliche Exegese „Gedächtnis“ Erkenntnisinteresse • Einfluss der Gegenwart auf die Konstruktion der formativen und normativen Vergangenheit • Identitätsbildung auf der Basis sozial geteilter Erfahrungen in konkreten kulturellen Rahmen • Neutestamentliche Texte als Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsbildung • Biblische Texte als identitätskonkrete Texte Erinnerungsbegriff Nuancen a und d, Fokus auf kollektivem Erinnern Schnittstelle Speicher- und Funktionsgedächtnis

Methoden Historisch-kritisch, Memory-Approach

Methoden Narratologisch, sozialgeschichtlich, intertextuell, pragmatische Analyse

Anschluss an Forschungszugänge Geschichte, Kulturwissenschaft

Anschluss an Forschungszugänge Soziologie, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft

Abb. III.2: Jesusforschung mit Memory Approach und Kulturwissenschaftliche Exegese

In der kulturwissenschaftlichen Exegese ist nicht Jesus selbst der Betrach‐ tungsgegenstand, sondern die Externalisierungen sozialer Übereinkünfte über die fundierende Vergangenheit einer Erinnerungsgemeinschaft, wie sie beispielsweise in den Evangelien vorliegen. Für eine Untersuchung der Texte unter dieser Hinsicht braucht es einen anderen Zugang und ein anderes Instrumentarium, das auch mit der Frage verbunden ist, ob hier sinnvollerweise statt von „Erinnerung“ besser von „Gedächtnis“ zu sprechen ist, um den Fokus auf ein vorliegendes Produkt statt eines Prozesses zu legen. Der Begriff „Erinnerung“ hatte durchaus das Potential, im Gefolge der antiken Zeugnisse eine leitende Kategorie für das Verständnis und die Analyse der Evangelien zu werden. Dass er im 20. Jahrhundert in die Exegese zurückkehrte, hat auch damit zu tun, dass sich Wissenschaft antithetisch entwickelt. Gerade die Autoritätsfrage, die auf Augenzeugen‐ schaft oder einer Traditionskette beruht, bei der die Autorität der Zeugen und die vermeintliche Objektivität des Zeugnisses immer mehr verschmol‐

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III.1  Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese

zen, geriet dabei in die Kritik. In seinen Überlegungen erteilt Martin Kähler in seinem Vortrag „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische, Christus“ bereits 1892 sowohl einer naiven Inspirationslehre als auch einer positivistischen Darstellung eine Absage: Nicht objektive Urkunden sind ihm die Evangelien, sondern perspektivisch gebundene Erinnerungen. Hier liegt der Jesus Memory Approach ganz auf Kählers Linie. Die Begriffe apomnēmoneumata (ἀπομνημονεύματα) und hypomnēmata (ὑπομνήματα) werden in der exegetischen Diskussion im Sinne der in Kapitel I.1 eingeführten Unterscheidung meist im Sinne von „Erinnerung“ als b) Rückblick, c) Erinnerungsvermögen (oder Gedächtnis im Sinne von Erinnerungsvermögen) verstanden. Die Texte gelten dann als Überführung jeweils individueller Erinnerungen in eine dauerhaftere Form – einen externen Speicher. Beide Spielarten der Jesusforschung im Zuge des Er‐ innerungsparadigmas, Jesus Remembered I und II, tragen diesem Ansatz Rechnung. Wenn das Verständnis von Erinnerung jedoch auf a) Mahnung und d) Gedächtnis geweitet und ein Konzept von kollektiver Erinnerung miteinbezogen wird, dass diese nicht nur als einem externen Speicher sieht, sondern auch als Funktionsgedächtnis, eröffnen sich weitere Verstehensho‐ rizonte. In kulturwissenschaftlicher Lesart lässt sich Kählers Position so reformulieren, dass hier von Vorgängen innerhalb des sozialen Gedächtnisses gesprochen wird und die Bitten der Hörer des Petrus um Verschriftlichung, die bei Euseb den Grund für die Entstehung des Markustextest darstellen, dem Wunsch nach Sicherung und zeitlicher Entfristung seines ephemeren Zeugnisses entspricht. Die Basisannahme kulturwissenschaftlicher Exegese ist, dass es sich bei den neutestamentlichen Texten um Zeugnisse sozialen Erinnerns handelt, die zunächst als solche hermeneutisch zu erschließen und historisch zu verorten sind und danach als Momentaufnahmen – im Falle des Neuen Testaments: frühchristlicher – Prozesse von Identitätskonstitution verstan‐ den und ausgelegt werden können. Aus den Bedürfnissen der Gegenwart heraus entwerfen die jeweiligen Erinnerungsgemeinschaften auf der Basis der sozial ausgehandelten Interpretation ihrer Erfahrungen und Erinnerun‐ gen ihre Identität auf Zukunft hin. Untersuchungsgegenstand kulturwissen‐ schaftlicher Exegese sind daher weder die Erinnerungsprozesse selbst (Jesus Remembered I), noch ihre möglichen Anhaltspunkte in der Vergangenheit im Sinne einer historisch-kritisch verantworteten Rekonstruktion (Jesus Remembered II), sondern im Anschluss an die Erkenntnis, dass Funktion vor

Kritische Anfragen an kulturwissenschaftliche Exegese

Faktizität kommt, werden die Erinnerungszeugnisse selbst analysiert. Im Falle von Texten werden entsprechend ihr Aufbau und ihre Pragmatik unter‐ sucht, aber auch ihre Orientierung an sozialen Interpretationsrahmen und bereitliegenden kulturellen Mustern. Ansatzpunkt für eine solche Lektüre neutestamentlicher Texte als Externalisierungen kollektiver Gedächtnisse ist immer der vorliegende Text. Es geht der kulturwissenschaftlichen Exegese nicht darum, auf der Basis einer kritischen Evaluation des historischen Materials einen vernünftigen, plausiblen Zugang zur Vergangenheit eröffnen wollen, sondern die gedächt‐ nistheoretische Lektüre neutestamentlicher Texte versucht, einen vernünf‐ tigen und plausiblen Zugang zur Gegenwart derjenigen zu eröffnen, die sich in den fundierenden Texten äußern. Der Zugang fokussiert damit auf die Facetten a) und b) des Erinnerungsbegriffs, also Mahnung und Andenken, sowie die zweite Nuance des Gedächtnisses, das ehrende Andenken. Er ori‐ entiert sich hermeneutisch und methodisch stark an soziologischen, kultur‐ wissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Forschungszugängen. Es geht um kollektives Erinnern und seine Externalisierungen in identitäts‐ konkreten Artefakten, und häufig auch um die Schnittstelle von Speicherund Funktionsgedächtnis. Kulturwissenschaftliche Exegese ist als hermeneutischer Zugriff äußerst fruchtbar für die Erforschung frühchristlicher Identitätsentwürfe (und ihrer Entwicklung), wenn neutestamentliche Texte als Artefakte oder Externa‐ lisierungen kollektiver Gedächtnisse gelesen werden. Für spätere Genera‐ tionen von Christusgläubigen werden diese Texte mehr und mehr zum Teil ihres kulturellen Gedächtnisses und damit zum vor- und aufgegebenen Gegenüber eigener Identitätsbildungsprozesse. Kritische Anfragen an kulturwissenschaftliche Exegese Der in diesem Lehrbuch vorgestellte Zugang ist freilich nicht unwiderspro‐ chen geblieben. Die vier häufigsten Kritikpunkte sind, a. dass er unhistorisch und anachronistisch sei, insofern er biblischen Texten eine ihnen fremde Hermeneutik aufzwinge, b. dass bei ihm alles beliebig würde und ja doch nur Konstruktion sei, c. dass er gegenüber der Redaktionskritik keine Innovation darstelle, und

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III.1  Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese

d. dass er eine rein synchrone Endtextexegese sei, die sich nicht für das Wachstum der Texte interessiere. Schauen wir uns die kritischen Anfragen im Einzelnen an. a) Ist kulturwissenschaftliche Exegese nicht anachronistisch, da sie den biblischen Texten eine ihnen fremde Hermeneutik aufzwingt?

Der erste Vorwurf, dass bei kulturwissenschaftlicher Exegese eine fremde Kategorie an die Texte herangetragen würde, ist zutreffend, doch insofern irrelevant, als er allen Forschungszugängen gemacht werden muss, die nach dem zweiten Jahrhundert entstanden sind. Anachronismus ist allein noch kein Argument. Hier gilt, was Ruben Zimmermann für die Gleich‐ nisforschung festgehalten hat, dass man „im heuristischen Sinn […] retro‐ spektiv [durchaus] auch quellenfremde Klassifikationsraster an die Texte herantragen [darf], wenn damit ein Erkenntnisgewinn zu erzielen ist“61. Ob dieser Zugang wirklich geringere Erkenntnisgewinne zutage fördert als eine der mündlichen Überlieferung fremde und rein an Druckerzeugnissen orientierte Hermeneutik, die meint, mündliche Vorstufen der Evangelien zweifelsfrei oder auch nur näherungsweise rekonstruieren zu können, darf angezweifelt werden. b) Ist kulturwissenschaftliche Exegese als konstruktivistischer Zugang nicht eher beliebig?

Zum Vorwurf, dass kulturwissenschaftliche Exegese doch sehr beliebig sei, kommt oft noch ein zweiter Vorwurf. Dieser lautet, dass kulturwissenschaft‐ liche Exegese radikal konstruktivistisch sei, da in einer kulturwissenschaft‐ lichen Lesart gilt, dass ein Ereignis nicht das ist, was passiert, sondern dass, was erzählt werden kann. Das ist zutreffend, doch kein radikaler Konstruktivismus. Es wird gerade nicht generell geleugnet, dass es eine Vergangenheit gibt, sondern die kulturwissenschaftliche Exegese stellt im Rückgriff auf Maurice Halbwachs lediglich infrage, dass es einen direkten und unverstellten Zugriff auf die Vergangenheit gibt.

61

Ruben Zimmermann: Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klas‐ sifikation in „Bildwort“, „Gleichnis“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“, in: Ders. / Gabi Kern (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte (WUNT 231), Tübingen 2008, 383–419, 399.

Kritische Anfragen an kulturwissenschaftliche Exegese

Dabei ist wichtig, Gedächtnis und Geschichte nicht gegeneinander aus‐ zuspielen. Jan Assmann hat zu Recht festgehalten: „Halbwachs bestreitet nicht, dass es einen ‚objektiven‘ Umgang mit der Vergan‐ genheit als solcher gibt, aber das hat für ihn nichts mit Gedächtnis und Erinnerung zu tun.“62

Mit Vertretern der Geschichtswissenschaft wie Hayden White und pro‐ minenten Vertretern des Jesus Memory Approach wie Jens Schröter und Chris Keith geht die kulturwissenschaftliche Exegese selbstverständlich davon aus, dass jeglicher Zugriff auf die Vergangenheit vermittelt ist. Wir haben es nicht mit der vergangenen Wirklichkeit an sich, sondern mit Wirklichkeitskonstruktionen dieser Vergangenheit zu tun, die perspektivisch gebunden sind. Gerade die Erforschung der jeweiligen (leitenden) Perspektive auf die Vergangenheit ist ein zentrales Anliegen kulturwissenschaftlicher Exegese. Der Vorwurf der Beliebigkeit verfängt deswegen nicht, weil kulturwissenschaftliche Exegese kriteriengeleitet und methodisch arbeitet und über jeden Arbeitsschritt Rechenschaft able‐ gen kann. c) Ist kulturwissenschaftliche Exegese nicht einfach nur ein anderer Name für Redaktionskritik?

Der Vorwurf des geringen Innovationspotentials im Vergleich mit der Redaktionskritik ist bis zu einem gewissen Punkt ein Vergleich von Äpfeln und Birnen, da beide Zugänge auf grundlegend unterschiedlichen herme‐ neutischen Basisannahmen beruhen. Wenn man diese ignoriert, können die Zugänge tatsächlich überraschend ähnlich aussehen; ein Eindruck, der sofort verschwindet, wenn man genauer hinschaut.

62

Jan Assmann: Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift, in: Herman Krapoth / Denis Laborde (Hg.): Erinnerung und Gesellschaft. Mémoire et Société. Hommage à Maurice Halbwachs (1877–1945) (Jahrbuch für Soziologiegeschichte), Wiesbaden 2005, 65–83, 73.

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III.1  Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese

Redaktionskritik Erkenntnisinteresse Erforschung der redaktionellen Schritte der  Sammlung und Überarbeitung des Materials die  zum vorliegenden Endtext führen durch die  Identifikation von Textbearbeitungen (Redaktion)  und Klärung ihrer Intention (wann und warum).  Von den Redaktionsstufen wird auf historische  und theologische Entwicklungen im frühen  Christentum geschlossen.

Kulturwissenschaftliche Exegese Erkenntnisinteresse Lektüre und Auslegung neutestamentliche Texte  als Momentaufnahmen frühchristlicher  Identitätsbildung. Der vorliegende Text gibt  Auskunft über den Einfluss der Gegenwart auf die  Konstruktion der formativen und normativen  Vergangenheit und die Identitätsbildung der  Jesusnachfolger auf der Basis sozial geteilter  Erfahrungen in konkreten kulturellen Rahmen.

Zugriff Diachron: Untersucht den Text unter dem Aspekt  seiner Entstehung und versucht, die  Entstehungsgeschichte zu rekonstruieren  Methode Scheidung von Tradition und Redaktion anhand  einzelner Redaktionsstufen Hermeneutische Grundlage Historisch‐kritisches Textmodell: Textwachstum in  rekonstruierbaren Stufen

Zugriff Synchron: Untersucht den Text in der Gestalt, die  er zu einem bestimmten Zeitpunkt hat und  versucht, seine Bedeutung zu verstehen Methode Narratologische, sozialgeschichtliche,  intertextuelle und pragmatische Analysen Hermeneutische Grundlage Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie: Das  konkrete Wachstum von Texten ist nicht  rekonstruierbar

Abb. III.3: Vergleich Redaktionskritik und Kulturwissenschaftliche Exgese

Die Scheidung von Tradition und Redaktion und die Frage nach der Inten‐ tion und Rekonstruktion von Bearbeitungsstufen fällt in der kulturwissen‐ schaftlichen Exegese komplett aus, da sie von anderen hermeneutischen Voraussetzungen und einem anderen Textmodell ausgeht, das auf den Erkenntnissen der interdisziplinären Gedächtnisforschung beruht. Der ent‐ scheidende Unterschied ist, dass in kulturwissenschaftlicher Lesart neue Versionen einer Episode oder Geschichte alte insgesamt überschreiben und die Vorstufe nicht mehr zugänglich ist. Episode und Rahmen, um in der traditionellen Terminologie der historisch-kritischen Exegese zu bleiben, lassen sich deshalb nicht mehr trennen, weil sie zu einer Einheit verschmolzen sind. Der Blick auf dieses Neue ist nicht an der Vorstufe interessiert, sondern daran, sie in der vorliegenden Form und Pragmatik zu verstehen. Anders formuliert: Die Frage nach der Funktionalität für die Erinnerungsgemeinschaft lässt sich nur auf der Basis vorliegender Texte sinnvoll bearbeiten. Redaktionskritik fragt zwar auch nach der Funktiona‐ lität, hat aber einen anderen Fokus: Sie wertet die Wachstumsstufen im Hinblick auf die historische Rückfrage historisch und theologisch aus.

Kritische Anfragen an kulturwissenschaftliche Exegese

d) Ist kulturwissenschaftliche Exegese nicht eine rein synchrone Endtextexegese, die sich nicht für das Wachstum der Texte interessiert?

Der letzte Kritikpunkt ist eng mit dem vorhergehenden verbunden. Da kulturwissenschaftliche Exegese davon absieht, Wachstumsstufen neutesta‐ mentlicher Texte zu erschließen, wird häufig vermutet, dass es sich um eine rein synchrone Endtextexegese handle, die sich nicht für das Textwachstum interessiere. Auch das ist nur bedingt richtig. Eine Lektüre neutestamentli‐ cher Texte als Externalisierungen kollektiver Gedächtnisse ist zwangsläufig „Endtextexegese“, wenn sich nicht anhand des Handschriftenbefundes Ein‐ schränkungen machen lassen müssen, wie bspw. beim klar sekundären Markusschluss, der sich als Kanonisierungsphänomen verstehen lässt. Tatsächlich muss kulturwissenschaftliche Exegese Endtextexegese sein, sonst wird sie ihrem Gegenstand – der Analyse frühchristlicher Identitäts‐ entwürfe auf der Basis von Jesuserinnerungen nicht gerecht. Das heißt nicht, dass nicht eine Entstehungsgeschichte angenommen wird. Sie wird, ganz im Gegenteil, idealtypisch sogar recht klar beschrieben, wie wir in den Kapiteln I.2–I.5 sehen konnten. Die Vorgeschichte eines konkreten Textes lässt sich lediglich auf der Basis dieses Textes allein nicht rekonstruieren. Das ist jedoch insofern nicht problematisch, als es der kulturwissenschaft‐ lichen Exegese nicht darum geht, was in der Vergangenheit geschehen ist, sondern darum, wie die Gegenwart sich ihre Vergangenheit nach ihren Bedürfnissen geformt hat. Das Wissen über die Prozesse von Gedächtnis und Erinnerung sowohl für Individuen als auch für Gruppen, das die interund transdisziplinäre Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung bereitstellt, ermöglicht es, neutestamentliche Texte synchron zu analysieren, ohne ihre Entstehungs- und Wachstumsprozesse zu negieren oder aus dem Blick zu verlieren. Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie ist, ganz im Gegenteil, ein hilfreiches Korrektiv für simplizistische Szenarien für die Textentste‐ hung, die oftmals von linearem Textwachstum ausgehen, wie es erst ab dem Gutenberg-Zeitalter angenommen werden kann. Anders formuliert: die rein von der Schriftlichkeit her denken. Der Unterschied zu einer historisch-kritischen Herangehensweise lässt sich am Beispiel gut darstellen. Im Markusevangelium, das wir in II.3 analy‐ siert haben, begegnen wir Erinnerungen an Jesus und die Konfrontation mit seiner Botschaft. Diese Erinnerungen waren zunächst – sprich: im sozialen Gedächtnis – von ihrer Grundstruktur her in einzelnen Episoden organi‐ siert, die jeweils für einen bestimmten sozialen Bezugskontext Geltung

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III.1  Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese

beanspruchen und sich für einen anderen Bezugskontext verändern können. Dabei ist die narrative Wahrheit der Episoden eine soziale Übereinkunft. Die einzelnen Episoden bildeten in diesem Stadium ein temporal wie kausal unverbundenes narratives Netz, auf das immer wieder ausgegriffen werden konnte, ohne dass die Episoden dabei in eine chronologische Reihenfolge oder einen inneren Zusammenhang gebracht werden (mussten). Bei der Überführung der Episoden in die Gesamterzählung „Markusevangelium“ wurden die einzelnen Elemente nochmals sprachlich und narrativ modifi‐ ziert und durch die Einbindung in den erzählerischen Kontext historisiert und lokalisiert. Aufbau und Anordnung sowie die Perspektive der Gesamt‐ erzählung verbinden die einzelnen Episoden nun strukturell, logisch und inhaltlich miteinander, sodass ihnen ein surplus de sens zuwachsen kann, welcher der Einzelepisode nicht innewohnte. Das Markusevangelium liest sich als Text, der den Menschensohn erin‐ nert, der von der Erinnerungsgemeinschaft als gesalbter Gottessohn und eschatologischer Bote der Gottesherrschaft (βασιλεία τοῦ θεοῦ, basileia tou theou) gesehen wird, aber nur innerhalb der kulturellen Rahmen des Judentums des Zweiten Tempels und der Heiligen Schriften Israels adäquat verstanden werden kann. Die Gruppe, deren Jesuserinnerung im Markus‐ evangelium externalisiert ist, und die Geschichte, die Rituale und die soziale Struktur der Gruppe einschließlich ihrer Sorgen und Begrenzungen spiegelt, kann ebenfalls nur vor diesem Hintergrund verstanden werden. Das sagt nichts darüber aus, wo die Gruppe tatsächlich ansässig ist, sondern lediglich, welche Voraussetzungen sie hat. Die wichtigsten Fragen, die das Markusevangelium thematisiert, sind das adäquate Jesusverständnis und was aus diesem Verstehen für die Gruppe der Jesusnachfolger folgt. Das Evangelium spiegelt ihre Konstitution als Ge‐ meinschaft von Jesusnachfolgern und als Erinnerungs- und Erzählgemein‐ schaft. Der Text spiegelt ferner die Regeln dieser speziellen Gruppe, die auf ihrem Verständnis und ihrer Interpretation der Erfahrungen mit Jesus und seiner Botschaft beruht, und sie von anderen Gruppen unterscheidet. Ein close reading mit der vorgestellten Methodik zeigt auch, welche Strategien die Gruppe im Umgang mit internen und externen Krisen entwickelt hat. Trotz der Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein und die richtige Entscheidung getroffen zu haben, gehören Verrat, Unverständnis und Aus‐ schluss aus früheren Bezugsgruppen zu den Erfahrungen der Gruppen. Eine Strategie im Umgang damit ist Rückzug, Sammlung (insbesondere im Gebet), Neukonstitution und die Fortsetzung (des Tuns) an einem anderen Ort. Diese

Kritische Anfragen an kulturwissenschaftliche Exegese

Strategie gibt Jesus nicht nur den Jüngern mit, als er sie aussendet, sondern auch den Lesern für die Krisensituationen mit denen sie konfrontiert sind. Was die Rituale der Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft hinter dem Markusevangelium betrifft, stellt der Text die Taufe und Gemeinschaftsmäh‐ ler vor, in denen das Brotbrechen eine Tischgemeinschaft in Erinnerung an Jesus konstituiert. Die Gruppe scheint sich ferner von Riten und Gebräuchen ihres jüdischen Referenzrahmens wie Fasten, Reinheits- und Speisegebote verabschiedet zu haben. Mit seinem offenen Ende suggeriert der Text, dass es noch immer möglich ist, dem auferstandenen Jesus zu begegnen und antizipiert solche Begegnungen. Es ist über solche Begegnungen hinaus auch möglich, den abwesenden Jesus im Text selbst und im Brechen des Brotes, sprich: der Tischgemeinschaft in seinem Gedenken, zu begegnen. Welche Herausforderungen die Gemeinschaft der Jesusnachfolger auch zu bewältigen hat, es bleibt deutlich, dass sie nicht hinter die Entscheidung, Jesu mögliche Welt zu der Welt zu machen, in der sie leben, zurückfallen dürfen. Das Eingehen in die Basileia wird weniger als ein Akt der Gnade denn der bewussten Entscheidung dargestellt. Die Gruppe erwartet, dass diese Welt endgültig und vollständig realisiert wird, wenn Jesus am Ende der Zeiten wiederkommt. Die Adressaten sind aufgerufen, sich zu entscheiden, wie sie persönlich zu dieser Welt stehen. Da der Mensch in seiner Entscheidung frei ist und bleibt, ist es ebenso möglich, diese Welt zu begrüßen, wie sie abzulehnen. Die Entscheidungen der Erzählfiguren für oder gegen diese Welt werden damit transparent für die Entscheidungen der Leser und die Konsequenzen dieser Entscheidung in diesem und dem kommenden Zeitalter. Mit diesem Zugang bietet kulturwissenschaftliche Exegese im Fächerka‐ non der Theologie ein vielfältiges Anschlusspotential weit über die neutesta‐ mentliche Forschung hinaus. Ein Mehrwert für die Theologie besteht darin, dass es einen methodisch verantworteten Weg gibt, neutestamentliche Texte als fundierende Texte zu verstehen und auszulegen, und so einen veränderten Blick auf frühchristliche Identitätsbildung zu erhalten, der sich gleichermaßen historisch-etisch und theologisch-emisch auswerten lässt und gleichzeitig eine Basis für hermeneutisch reflektierte Aktualisierungen bietet. Kulturwissenschaftliche Exegese bietet gerade im Bereich der Katho‐ lischen Theologie, die das Verhältnis von Schrift und Tradition anders versteht als die Kirchen der Reformation, vielfältige Anschlussmöglichkei‐ ten für Systematische, Historische und Praktische Theologie.

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III.1  Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese

Weitere mögliche Arbeitsfelder kulturwissenschaftlicher Exegese Was kulturwissenschaftliche Exegese tatsächlich leisten kann, ist mit dieser Skizze freilich nur angerissen. Das Spektrum umfasst alle drei der eingangs genannten drei Aufgabenfelder: Entwicklung eines Modells zum Verständ‐ nis biblischer Texte als normierender, formierender und identitätskonkreter Texte (a), Auslegung biblischer Texte als Erinnerungstexte (b) und kritische Begleitung, Diskussion und Evaluierung der Ergebnisse anderer bibelwis‐ senschaftlicher Teildisziplinen (c). Der letzte Punkt, die kritische Begleitung, Diskussion und Evaluierung bibelwissenschaftlicher Diskurse, lässt sich noch erweitern bzw. vertiefen. Auch wenn es logisch und konsequent erscheint, die neutestamentlichen Texte, die grob zwischen Generational Gap und Floating Gap entstanden sind, als Texte des kollektiven Gedächtnisses zu lesen, muss dennoch untersucht werden, ob diese eher kursorische Einteilung wirklich für alle Texte zutrifft. Gerade bei den echten Paulusbriefen liegt es nahe, dass sie als Texte der zweiten Generation Externalisierungen des sozialen Gedächtnisses sind. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, lässt sich diese Vermutung anhand des 1. Thessalonicherbriefs bestätigen, was nicht heißt, dass sie einfach auf die anderen Paulusbriefe übertragen werden darf. Die Frage, ob wir es mit einem Zeugnis des sozialen oder des kollektiven Gedächtnisses zu tun haben, ist tatsächlich für jeden neutestamentlichen Text eigens zu stellen und zu beantworten. Exemplarisch wird uns diese Frage im nächsten Kapitel beschäftigen, wenn es um die Thessalonicherkorrespondenz geht (III.2). Wenn man auf dieser Spur weitergeht, ließe sich auch überlegen, ob die sogenannten Spruchevangelien wie der (re-)konstruierte Text von Q nicht ebenfalls Externalisierungen des sozialen Gedächtnisses sind. In diesem Fall, wäre anzunehmen, dass sie eine größere Perspektivenbreite aufweisen als die Externalisierungen des kollektiven Gedächtnisses wie das Markusevan‐ gelium und die anderen synoptischen Evangelien. Eine größere Perspekti‐ venvariation ist für alle echten Paulusbriefe anzunehmen. Insgesamt ist die kritische Begleitung, Diskussion und Evaluierung der Ergebnisse anderer bibelwissenschaftlicher Teildisziplinen ein neues und interessantes Feld für die kulturwissenschaftliche Exegese. Zunächst entwi‐ ckelt, um biblische Texte kriteriengeleitet und methodisch abgesichert als Zeugnisse des sozialen, kollektiven und/oder kulturellen Gedächtnisses lesen und auslegen zu können, zeigte sich in der Arbeit an konkreten Texten

Weitere mögliche Arbeitsfelder kulturwissenschaftlicher Exegese

rasch, dass die Erkenntnisse der interdisziplinären Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung auch andere Bereiche der Bibelwissenschaft bereichern können. Da kulturwissenschaftliche Exegese eben nicht nur synchron am Endtext arbeitet, sondern innerhalb eines größeren Modells zur sozialen Aushandlung und intergenerationellen Weitergabe von Erinnerungen und Traditionen, kann sie von diesem Modell aus eine eigene Perspektive auf die Konstruktion von Entstehungsszenarien für neutestamentliche Texte beisteuern. Wie das im einzelnen aussehen kann, zeigt neben dem Blick auf die Thessalonicherkorrespondenz auch der kritische Blick auf die Flavier‐ these als Entstehungsszenario für das Markusevangelium in III.3. Ein weiteres Forschungsfeld ist die Orientierung von Texten und bereitlie‐ genden Mustern, insbesondere, ob und wenn ja, wie sich der Rückgriff auf sie im Laufe der Zeit verändert. Wenn intertextuelle Dispositionen als Verweise auf vorhandene kulturelle Rahmen und Motive verstanden werden, geht es in diesem Forschungsfeld um die Untersuchung von Intertextualität im zeitlichen Längsschnitt. Wenn kulturelle Rahmen einen mitwandernden Zeithorizont haben, sollte das auch für die intertextuellen Dispositionen und ihr Verständnis gelten. Entsprechend ist zu erwarten, dass sich intertextuelle Bezugnahmen über die Zeit verändern, selbst wenn die gleiche Stelle aus den Schriften Israels aufgerufen wird, weil sich beispielsweise das Verständnis des Textes, auf den Bezug genommen oder die Pragmatik der Bezugnahme verändert haben. So ließe sich etwa untersuchen, wie, ob und wenn ja, sich Bezugnahmen auf das Buch Jesaja im Laufe der neutestamentlichen Zeit, aber auch in der Zeit jenseits des Floating Gap verändern. Gerade das vierte Gottesknechtslied, das in der frühen Kirche zu einer wichtigen Verstehenskategorie für das Leiden und den Tod Jesu geworden ist, bieten sich für einen ersten Überblick an. Da eine solche Untersuchung sehr zeitund materialaufwendig ist, gehen wir dieser Spur in diesem Lehrbuch nicht nach.63 In eine ähnliche Richtung geht die Erweiterung der Forschung über den Floating Gap hinaus in die Zeit der Kirchenväter. Die Kanongrenze als Disziplingrenze zwischen neutestamentlicher Exegese und Patristik erweist sich oft als gleichermaßen hinderlich für das Verständnis der Identitätsfin‐ 63

Eine erste Bestandsaufnahme hierzu findet sich in: Sandra Huebenthal: What’s form got to do with it? Preliminaries on the impact of Social Memory Theory for the study of biblical intertextuality, in: David P. Moessner / Matthew Calhoun / Tobias Nicklas (Hg.): The Gospel and ancient literary criticism. Continuing the debate on Gospel genre(s) (WUNT II 451), Tübingen 2020, 145–176.

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III.1  Aufgaben kulturwissenschaftlicher Exegese

dungsprozesse der ersten Generationen der Jesusnachfolger wie für das Verständnis der Zeugnisse dieser Identitätsfindungsprozesse. Einen kleinen Einblick in das Potential kulturwissenschaftlicher Exegese über die Zeit des Neuen Testaments und die Grenzen des Kanons hinaus, um zu vertieftem Verstehen der Geschichte des frühen Christentums zu kommen, werden wir in III.4 gewinnen, wenn es um die Frage der Überbrückung des Floating Gap anhand von Tradentenketten geht. Dieses Forschungsgebiet ist noch vergleichsweise jung, entsprechend dürfte die konsequente Anwendung kulturwissenschaftlicher Exegese im Verbund mit historischer Methodik, die jenseits einer anachronistischen Institutionengeschichte denkt und forscht, noch einige Überraschungen bereithalten.   Literaturhinweise: Dunn, James D. G.: Jesus Remembered (Christianity in the Making 1), Grand Rapids 2003. Huebenthal, Sandra: Die Büchse der Memoria. Evangelium, Erinnerung und der Historische Jesus, in: Häfner, Gerd; Huber, Konrad; Schreiber; Stefan (Hg.): Die historische Rückfrage in der neutestamentlichen Exegese (QD), Freiburg 2021, 28–77. Huebenthal, Sandra: What’s form got to do with it? Preliminaries on the impact of Social Memory Theory for the study of biblical intertextuality, in: Moessner, David P.; Calhoun, Matthew; Nicklas, Tobias (Hg.): The Gospel and ancient literary criticism. Continuing the debate on Gospel genre(s) (WUNT II 451), Tübingen 2020, 145–176. Kähler, Martin: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig 1892. Keith, Chris; Le Donne, Anthony (Hg.): Jesus, criteria, and the demise of authenticity, London 2012. Kelber, Werner H.: Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsge‐ schichte, in: ZNT 22 (2019), 79–134. Schröter, Jens: Der ‚erinnerte Jesus‘. Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung, in: Schröter, Jens; Jacobi, Christine (Hg.): JesusHandbuch, Tübingen 2017, 112–124.

III.2 Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich Wenn wir neutestamentliche Texte als Identitätstexte lesen, stellt sich immer auch die Frage, ob wir es mit Zeugnissen des sozialen oder des kollektiven Gedächtnisses zu tun haben. Die Frage, ob neutestamentliche Texte vor oder nach dem Generational Gap entstanden sind, ist für die Lektüre der Texte im Rahmen kulturwissenschaftlicher Exegese weniger relevant. Sie wird jedoch interessant, wenn es um Fragen der historischen Kontextualisierung und Datierung der Texte geht, um die sich die Ein‐ leitungswissenschaft bemüht. Am Beispiel der Thessalonicherkorrespon‐ denz wird in diesem Kapitel demonstriert, wie kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie bei der Einschätzung von Datierungsvorschlägen hilf‐ reich sein kann. Die Frage nach der Datierung der paulinischen Thessalonicherkorrespon‐ denz – dem Ersten Thessalonicherbrief (1 Thess) und dem Zweiten Thessa‐ lonicherbrief (2 Thess) – ist in der Bibelwissenschaft noch immer ungelöst und wird kontrovers diskutiert. Dabei ist das Problem weniger der 1 Thess, der als authentischer Paulusbrief und ältestes Dokument des Neuen Testa‐ ments gilt, sondern das Schreiben, das wir als 2 Thess kennen, sorgt für Schwierigkeiten. Die Frage der Datierung des 2 Thess ist gewöhnlich untrennbar mit der Frage nach der Autorschaft des Briefes verbunden: Ist er ein orthonymes Schreiben aus der Feder des Paulus oder ein pseudepigraphes, das von einem späteren Autor geschrieben wurde, der sich nur als „Paulus“ vorstellt? Diese Verknüpfung kann eine unvoreingenommene Untersuchung des Briefes erschweren, wenn „pseudepigraph“ mit „gefälscht“ oder „weniger wichtig“ gleichgesetzt wird. Dieses Problem lässt sich umgehen, wenn man die Texte mit dem Instru‐ mentarium der kulturwissenschaftlichen Exegese untersucht. Die Analyse aus der Perspektive kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie interessiert sich nicht für die Frage nach der Autorschaft, sondern für den Text selbst

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

und die Frage, ob er sich als Zeugnis des sozialen oder des kollektiven Gedächtnisses vorstellt. Wir werden uns in diesem Kapitel zunächst nochmals kurz mit der Theo‐ rie beschäftigen und dann Beobachtungen an beiden Thessalonicherbriefen zusammentragen und im Rahmen kulturwissenschaftlicher Gedächtnisthe‐ orie auswerten. Die Thessalonicherkorrespondenz in kulturwissenschaftlicher Perspektive Während sich die Forschung weitgehend einig ist, dass 1 Thess ein authen‐ tischer Paulusbrief ist, der um 50/51 in Korinth verfasst wurde und damit das älteste Schreiben des Neuen Testaments ist, sieht es für den 2 Thess ganz anders aus. Hier gehen die Positionen stark auseinander: Von den einen wird der 2 Thess als authentischer Paulusbrief gelesen, von den anderen als pseudepigraphes Schreiben verstanden, das zum Ende des ersten Jahrhunderts abgefasst wurde, womöglich in Kleinasien, und bei dem nicht einmal klar ist, ob es sich überhaupt an die Jesusnachfolger in Thessalonich richtet. Wenn man diesen Befund mit dem Vokabular reformuliert, das kulturwis‐ senschaftliche Gedächtnistheorie zur Verfügung stellt, lässt sich festhalten, dass der 1 Thess klar in die zweite Generation der Jesusnachfolger datiert wird, während beim 2 Thess darüber diskutiert wird, ob er eher in die zweite oder in die dritte Generation gehört. Wenn man die Überlegungen von Halbwachs und Assmann einbezieht, haben wir es beim 1 Thess mit einem Zeugnis des sozialen Gedächtnisses zu tun, das vor dem Generational Gap entstanden ist und in alltäglicher und eher informeller Kommunikation Erfahrungen innerhalb bestehender kultureller Rahmungen verortet und auftauchende Fragen ebenfalls innerhalb der existierenden kulturellen Rah‐ men diskutiert. Wenn es sich beim 2 Thess ebenfalls um einen authentischen Paulusbrief handelt, gehört er in die gleiche Kategorie. Sollte er jedoch erst als pseu‐ depigraphes Schreiben am Ende des ersten Jahrhunderts verfasst worden sein, wäre er eher ein Artefakt des kollektiven Gedächtnisses. Nach der Generationenschwelle verfasst und eher an den Ausläufern des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses hätten wir es hier mit einem Text zu tun, der Erfahrungen nicht innerhalb der bekannten und vorgegebenen kulturellen

Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Leseerwartungen

Rahmen verortet, sondern neue Rahmen für künftige Identitätskonstrukti‐ onen verfertigt und sich dabei auf eigene Traditionen beruft. Der Entwurf oder das „Auffinden“ von Traditionen wäre ein typisches Charakteristikum für diese Phase.

Thessalonicherbriefe

• • • • •

1 Thess 2 Thess authentischer Paulusbrief um 50/51 in Korinth verfasst Zeugnis der 2. Generation der Jesusnachfolger soziales Gedächtnis, vor Generational Gap entstanden Verortet in alltäglicher und informeller Kommunikation Erfahrungen innerhalb bestehender kultureller Rahmen und diskutiert neu auftauchende Fragen auch in existierenden Rahmen

• • • • •

2 Thess pseudepigraphes Schreiben Ende des 1. Jh. verfasst Zeugnis der 3. Generation der Jesusnachfolger kollektives Gedächtnis, nach Generational Gap entstanden Erfahrungen werden nicht in bekannten/vorgegebenen kulturellen Rahmen verortet, sondern neue Rahmen für künftige Identitätsentwürfe verortet. Dabei werden eigene Traditionen aufgerufen oder eingeführt

Abb. III.4: 1 Thess und 2 Thess als soziales und/oder kollektives Gedächtnis

Anders formuliert: Je nachdem, ob der 2 Thess als Zeugnis des sozialen Gedächtnisses in der 2. oder als Zeugnis des kollektiven Gedächtnisses in der 3. Generation verortet wird, ist ein anderer Umgang mit der Vergangenheit und eine andere Art der Argumentation zu erwarten. Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Leseerwartungen Wenn wir davon ausgehen, dass in den unterschiedlichen Generatio‐ nen vor und nach dem Generational Gap unterschiedliche Textarten produziert werden, müssten sich diese unterschiedlichen Textarten auch anhand relativ klarer Charakteristika oder Merkmale auseinanderhalten lassen. Vor dem Generational Gap rechnen Einleitungswissenschaft und Kulturwissenschaft gleichermaßen mit orthonymen Texten wie die den authentischen Paulusbriefen. Kulturwissenschaftliche Exegese würde

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

sogar noch einen Schritt weiter gehen und annehmen, dass es sich dabei eher um Zeugnisse des sozialen als des kollektiven Gedächtnisses handelt. Nach dem Generational Gap wird auch im Gefolge des angenommenen Medienwechsels eher mit neuen Gattungen und anonymen oder pseu‐ depigraphen Texten gerechnet, sprich: mit Zeugnissen des kollektiven Gedächtnisses. ■

Auch wenn diese Zuordnung in der Theorie unmittelbar einleuch‐ tet, ist die Praxis deutlich komplexer, denn natürlich stellt sich angesichts pseudepigrapher Briefe die Frage, wie sie sich genau von authentischen unterscheiden lassen. Auch im Blick auf die Evangelien stellt sich die Frage, was sie genau als Textzeugnisse des kollektiven Gedächtnisses jenseits des Generational Gap macht. Auch wenn die theoretische Herleitung verständlich ist, reicht es nicht aus, die Datierungen der biblischen Einleitungswissenschaft einfach zu übernehmen. Um einen Zirkelschluss zu vermeiden, ist es vielmehr nötig, auf der Basis der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie Leseerwartungen an textliche Zeugnisse des sozialen wie des kollek‐ tiven Gedächtnisses zu formulieren, die als unabhängiger Zugang den Ergebnissen der Einleitungswissenschaft gegenübergestellt werden können. ■ Dieser unabhängige Zugang dürfte insbesondere bei der Lektüre der neutestamentlichen Briefliteratur und der Frage hilfreich sein, ob die einzelnen Briefe Signale enthalten die eher auf eine Abfassung vor oder nach dem Generational Gap – und damit auf eine Abfassung in der zweiten oder dritten frühchristlichen Generation – hindeuten. Je nachdem, ob ein Text ein Zeugnis des sozialen oder des kollektiven Gedächtnisses ist, ist ein anderer Umgang mit der Vergangenheit und eine andere Art der Argumentation zu erwarten.

Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Leseerwartungen

Leseerwartungen

Soziales Gedächtnis • Alltagskommunikation mit begrenzter Reichweite, die konkrete Fragen behandelt und mündliche Kommunikation ersetzt • Erfahrungen werden innerhalb bekannter kultureller Rahmen/der gemeinsamen Geschichte verortet • Diskursives Aushandeln von Wahrheit unterschiedliche Perspektiven stehen nebeneinander • Identitätsbildung durch Erinnerung an gemeinsame Erfahrungen • Autorität speist sich aus gemeinsamen Erfahrungen und/oder der Begegnung mit Jesus. Legitimation ohne Hierarchisierung

Kollektives Gedächtnis • Identitätsvergewisserung, bei der die Generation der Zeugen aus Verstehenshilfe dient, Fragen werden im Rückgriff auf Traditionen geklärt • Leitende Perspektive ist klar erkennbar, aktuelle Fragen werden grundsätzlich geklärt • Eigene Traditionen und eigene Rahmen zur Verortung von Erfahrungen und Diskussion von Fragen werden sichtbar • Entwürfe einer Gründungsgeschichte • Autorität wird durch den Rekurs auf den Ursprung gewonnen, Traditions-träger sind nicht gleichberechtigt, sondern hierarchisch übergeordnet

Abb. III.5: Leseerwartungen an Texte des sozialen und kollektiven Gedächtnisses

Bei Texten aus dem Sozialen Gedächtnis ist zu erwarten, dass es sich eher um Alltagskommunikation und/oder Gebrauchsliteratur von begrenzter Reichweite handelt, die konkrete Fragen und Probleme einer konkreten Er‐ innerungsgruppe behandelt und eher die mündliche Kommunikation ersetzt als Dinge grundsätzlich und ein-für-alle-mal festzulegen. Die Erfahrungen der Erinnerungsgemeinschaft und was sie aktuell umtreibt, lässt sich in bekannten soziokulturellen Rahmen verorten, innerhalb derer es diskutiert wird. Entsprechend sind Ausgriffe auf den gemeinsamen kulturellen Rah‐ men oder die gemeinsamen Erlebnisse/gemeinsame Geschichte zu erwarten. Bei einer Gruppe mit starker jüdischer Verwurzelung dürfte sich das vor allem im Rückgriff auf die Schrift zeigen. Der Rekurs auf gemeinsame Erfahrungen und die Erinnerung an das lebendige Gespräch mit und in der Gruppe sind ebenfalls Indizien für ein diskursives Aushandeln von Wahrheit. Entsprechend ist auch zu erwarten, dass der Text unterschiedliche Perspektiven nebeneinanderstellt und diskutiert (nicht eine Perspektive vorgibt). Der Bezug auf die unterschiedlichen Perspektiven in der Erinne‐ rungsgemeinschaft kann durch das Nennen von Namen und Gruppen geschehen, die für alle Beteiligten bekannt sind. Identitätsbildung sollte in einem solchen Text entsprechend durch die Erinnerung an gemeinsame Erfahrungen erfolgen und eher diskursiv geschehen, wobei die Vergangen‐

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

heit weniger bewusst als Argumentationsbasis verwendet wird, sondern eher im Zuge der Argumentation aufscheint. Wer in dieser Zeit Autorität beansprucht, bezieht sie aus der gemeinsamen Erfahrung, aber auch aus der Begegnung mit Jesus, die ihn in besonderer Weise als Gesandten (Apostel) Christi legitimiert, ohne ihn deshalb insgesamt hierarchisch auf eine höhere Stufe zu stellen. Bei Texten aus dem kollektiven Gedächtnis ist die Erwartungshaltung eine andere. Nun ist zu erwarten, dass es sich in viel stärkerem Maße um Texte handelt, die der Identitätsvergewisserung dienen und die Generation der ersten Zeugen als Verstehenshilfe aufrufen. Konkrete Fragen werden auf viel grundsätzlichere Weise und im Rückgriff auf eigene Traditionen geklärt, wobei die Gründungsgeneration stärkere Autorität genießt. Statt einer diskursiven Aushandlung von Identität, bei der grundsätzlich alle Perspektiven zunächst gleichwertig sind, haben sich zu diesem Zeitpunkt schon bestimmte Vorstellungen als „leitend“ durchgesetzt, und die Neigung, Fragen grundsätzlich zu klären, nimmt zu. Ein Unterscheidungsmerkmal ist, dass im kollektiven Gedächtnis ein eigener Rahmen sichtbar wird, in dem die Erinnerungsgruppe ihre Erfahrungen verorten und ihre Fragen diskutieren kann. Dabei spielen eigene Traditionen – seien sie nun auf der Basis von Apostelerinnerung entworfen oder anderswo „gefunden“ worden, eine wichtige Rolle. Erste Entwürfe einer Gründungsgeschichte werden sichtbar, ebenso erste festere Formen für Rituale und Teilhabe an dieser Geschichte. Identitätsmarker beginnen sich herauszubilden. Das heißt auch, dass die Erinnerung an die gemeinsame Grunderfahrung oder die ge‐ meinsame Geschichte nicht en passant geschieht, sondern ganz bewusst und intentional. Autorität wird durch den Rekurs auf den Ursprung gewonnen, an den die Traditionsträger ganz bewusst anknüpfen. In der Argumentation erscheinen die Traditionsträger nicht mehr als gleichberechtigter Teil der Gruppe, sondern sind in besonderer Weise herausgehoben und sind klar als Gegenüber zu erkennen. Untersuchungsfragen Die Fragstellung für die Thessalonicherkorrespondenz lautet demnach: Deuten die Beobachtungen, die sich am Text machen lassen, eher auf ein Artefakt des sozialen oder des kollektiven Gedächtnisses? Erst im Anschluss daran ließe sich fragen, ob wir beim 2 Thess einen Text der zweiten oder

Beobachtungen am Ersten Thessalonicherbrief

der dritten Generation vor uns haben und daran anschließend fragen, ob der Text sich als authentischer Paulusbrief plausibilisieren lässt oder nicht. Für die vorgelegte Fragestellung sind nicht alle Analysetools, die wir in I.7 kennengelernt haben, relevant. Tatsächlich sind für einen soliden ersten Eindruck drei Leitfragen ausreichend, die zentrale Unterschiede zwischen Zeugnissen des sozialen und des kollektiven Gedächtnisses sichtbar machen: ■

Welche Geschichte der Absender mit den Adressaten wird vorausge‐ setzt? ■ Welche Themen werden verhandelt und wie werden sie kommuniziert? ■ Wie wird im Text begründet, d. h. welche Referenzrahmen werden ge‐ nutzt? Werden vorliegende Rahmen verwendet oder eigene Traditionen entwickelt oder genutzt?

Als „Kontrolle“ für die Lektüre des 2 Thess lässt sich dabei der authentische 1 Thess verwenden, der in jedem Fall in den Bereich des sozialen Gedächt‐ nisses fällt und sich ebenfalls anhand dieser Fragen durchgehen lässt. Das ist der nächste Schritt. Beobachtungen am Ersten Thessalonicherbrief 1) Welche Geschichte der Absender mit den Adressaten wird vorausgesetzt?

Als Absender des Briefes stellen sich Paulus, Silvanus und Timotheus vor, die an die Versammlung (ἐκκλησία, ekklēsia) der Thessalonicher schreiben (1,1). Die Gruppe in Thessalonich hat sich von ihren eigenen – heidnischen – Wegen ab- und dem Evangelium von Paulus, Silvanus und Timotheus zugewandt (1,9). Als ehemalige Heiden sind sie in eine neue Identität und einen fremden – jüdischen – kulturellen Referenzrahmen hineingekommen. Im Brief wird diese Vorgeschichte eingeholt und die Absender verorten die Thessalonicher in diesem neuen und ihnen fremden kulturellen Rah‐ men, um sie in die Gemeinschaft der Jesusnachfolger zu integrieren. Die Thessalonicher haben das Wort trotz großer Bedrängnis mit der Freude aufgenommen, die der Heilige Geist gibt (1,6), ebenso wie die Absender verkünden sie das Wort des Herrn (1,7–8), sind Vorbilder im Glauben und ihre Mimesis der Gemeinden in Judäa (ihr habt von euren Mitbürgern das Gleiche erlitten wie jene von den Juden, 2,14) stellt sie nicht nur mit den

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

jüdischen Gemeinden der Jesusnachfolger, sondern auch mit den Absendern auf eine Stufe. Durch den gemeinsamen Einsatz für das Evangelium und die gemeinsamen Erfahrungen von Verfolgung und Leid begegnen sich Absender und Adressaten auf Augenhöhe. Dass die Absender die Adressaten zum Evangelium und zum Glauben an Christus geführt haben, konstituiert kein hierarchisches Verhältnis, in dem Paulus, Silvanus und Timotheus den Thessalonichern übergeordnet wären oder etwas voraushätten. Wenn es überhaupt einen Vorsprung der Absender gibt, so ist er zeitlich, nicht inhaltlich begründet: Paulus, Silvanus und Timotheus sind schon länger Jesusnachfolger und haben von dorther eine größere Erfahrung. Die gemeinsame Geschichte besteht in einem „gelungenen Evangeliumsgeschehen“64 und wird auch als solche aufgerufen (1,6–10). Infolgedessen werden die Adressaten als von Gott geliebte Brüder und Schwestern (ἀδελφοὶ ἠγαπημένοι, adelphoi ēgapēmenoi) angesprochen, die mit den Absendern Gott zum Vater haben (1,3). Das war nicht von Anfang an so. In 2,7–12 wird die gemeinsame Geschichte anhand weiterer Familienmetaphern, die Nähe herstellen, vergegenwärtigt. Die Apostel waren den Thessalonichern Amme (2,7)65 und Vater (2,11) und haben sie wie eigene Kinder umsorgt und ermahnt. Das, freilich, ist nun Vergangenheit, denn Absender und Adressaten begegnen sich nun als Ge‐ schwister auf Augenhöhe.66 Die Familienmetaphern schaffen zusammen mit der gemeinsamen Geschichte eine enge Verbindung. Paulus, Silvanus und Timotheus erscheinen als synchron oder auf einer Stufe mit der Gemeinde: Sie erleben das Gleiche, teilen die Nachfolgeherausforderung und sind durch Besuche und Besuchswünsche eng mit der Gruppe verbunden. Der Brief verweist mehrfach auf die gemeinsamen Aufgaben, das geteilte Schicksal der Bedrängnis und den Wunsch verbunden zu bleiben.

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Stefan Alkier: Der 1. Thessalonicherbrief als kulturelles Gedächtnis, in: Gerhard Sellin / François Vouga (Hg.): Logos und Buchstabe. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Judentum und Christentum der Antike (TANZ 20), Tübingen/Basel 1997, 175–194, 191. Vgl. Esther Kobel: Alma pater? Zum Topos männlichen Milchspendens im frühen Christentum, in: BZ 65 (2021), 243–265, 245. Die Anrede Brüder und Schwestern (ἀδελφοὶ, adelphoi) wird im 1 Thess insgesamt 15-mal verwendet (1,4; 2,1.6.14.17; 3,7; 4,1.10.13; 5,1.4.12.14.25.26.27), hinzu kommen 4,6, wo es darum geht, den Bruder nicht zu übervorteilen und 4,9, wo um die Bruderliebe (φιλαδέλφια, philadelphia) geht. Auch die Absender stehen auf einer Stufe: In 3,2 wird Timotheus ebenfalls als Bruder bezeichnet.

Beobachtungen am Ersten Thessalonicherbrief

2) Welche Themen werden verhandelt und wie werden sie kommuniziert?

Fragen zum Tag des Herrn als eigentlichem Anlass des Briefes tauchen erst sehr spät in 4,13–18 und 5,1–11 auf und sind eingebettet in grundsätzliche Ermahnungen zur bzw. Erinnerungen an den rechten Umgang miteinander in 4,1–12 und 5,12–20. Bei der Lektüre fällt auf, dass im Grunde nur die Ausführungen in 4,13–18 Neues bieten und der Rest der Ausführungen Bekanntes wiederholt und so festigen will. Dem eher erinnernden als belehrenden inhaltlichen Teil geht, wie schon angedeutet, eine längere Bezugnahme auf die gemeinsame unmittelbare Vergangenheit und die gegenwärtige Situation voraus, aus der aber keine Forderungen abgeleitet werden. Im Gegenteil bemühen sich die Absender um Augenhöhe mit den Adressaten, nehmen die Brüder und Schwestern aber in die Pflicht und geben ihnen eine Linie vor, wie sie ihre Probleme vor Ort selbst bewältigen können (v. a. 5,12–22). Der Ton des Briefes zeigt, dass die die Beziehung zwischen Absendern und Adressaten herzlich und unbelastet ist. Man kennt und schätzt sich. Der Begriff danken fällt in 1,2; 2,13 und 5,18, die Trias Glaube – Hoffnung – Liebe wird im Hinblick auf die Adressaten in 1,3 und 5,8 genannt. Die Begegnung von Absendern und Adressaten auf Augenhöhe schlägt sich auch sprachlich nieder. Nicht nur gelten die Adressaten als Brüder und Schwestern (ἀδελφοὶ, adelphoi), sondern der gemeinsame Wissenstand wird immer wieder explizit aufgerufen. Die Formulierung wie ihr wisst/denn ihr wisst taucht in unterschiedlichen Versionen insgesamt 9-mal auf (1,5; 2,2.4.11; 3,3.5; 4,2; 5,11), ihr erinnert euch/ihr seid Zeuge zweimal (2,9.10). Dass die Absender nichts sagen müssen begegnet einmal (1,8) und dass die Adressaten den Bitten bereits nachkommen, wird in 4,1–10 und 5,11 explizit festgehalten. Spitzenformulierung für die Augenhöhe ist 4,9, wenn die Absender die Adressaten als von Gott Gelehrte (θεοδίδακτοί, theodidaktoi) bezeichnen. Die Verweise auf das gemeinsame Wissen verstärken die soziale Konstruktion der gemeinsamen Geschichte, die im zweiten Teil wieder aufgenommen wird, wo sich Fragen zum alltäglichen Verhalten finden (4,1–12 und 5,5–11) und ein Gruppenethos auf den Weg gebracht wird, das die Fragen zur Endzeit flankiert. Auffällig ist, dass Paulus nur an ganz wenigen Stellen in der 1. Person Singular schreibt, bzw. von sich selbst spricht (2,18; 3,5; 5,27). Sonst wird durchgängig die 1. Person Plural verwendet. Wenn es sich um ein Stilmittel handelt, ist es sehr gut gewählt, denn es stellt nicht einfach die Absender

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

auf eine Stufe mit den Adressaten, sondern erzeugt eine starke Unmittel‐ barkeit, als ob für die Absender die gleichen Fragen dran wären und sie mit ähnlichen Anfechtungen zu kämpfen hätten. Das Gruppenethos wird so zur gemeinsamen Angelegenheit und Anstrengung, entsprechend sollen auch die Geschwister einander ermahnen und trösten. Der häufige Einsatz von ihr wisst und was ihr ja tut vermittelt den Eindruck eines diskursiven Aushandelns, bei dem die Absender nicht einfach gebieten. Die häufigsten Verben für Aufforderungen sind παρακαλέω/parakaleo mit den Bedeutungen „auffordern, ermahnen, bitten“ (2,12; 4,1.10; 5,14), „trösten“ (3,7; 4,18; 5,11) und „stärken“ (3,7), παραμυθέομαι/paramytheomai: „zureden, ermuntern, trösten“: 2,12; 5,14, und ἐρωτάω/erōtaō: „fragen, erfragen“ in 4,1 und 5,12. Imperative kommen vergleichsweise selten vor. Der ganze Brief zählt nur 20, mit der Ausnahme von 4,18 (παρακαλεῖτε/parakaleite) stehen sie allesamt in 5,11–26, wo es darum geht, dass die Thessalonicher ihre Heraus‐ forderungen vor Ort selbst in die Hand nehmen sollen. Ein echtes Gebot begegnet nur in 5,27, wenn Paulus in einer der seltenen Formulierungen die Adressaten beschwört (ἐνορκίζω, enorkizō), den Brief allen Geschwistern vorzulesen. Auch dadurch wird deutlich: Der Brief dient als Ersatz für ein direktes Treffen (und mündliche Kommunikation). Die Beschwörung, den Brief vorzulesen, lässt sich durchaus als Versuch verstehen, noch mehr Unmittelbarkeit herzustellen und die Stimme des Paulus, Silvanus und Timo‐ theus direkt in die sozialen Aushandlungsprozesse der Gruppe einzuspielen. Der Gedanke der Reziprozität (einander vermissen, miteinander leiden, füreinander beten) wird auch in den Schlussversen (5,12–22.27) aufgegriffen. 3) Wie wird im Text begründet, d. h. welche Referenzrahmen werden genutzt? Werden vorliegende Rahmen verwendet oder eigene Traditionen entwickelt oder genutzt?

Die Absender formulieren im Sinne des gemeinsamen Ethos Lebensregeln (was Gott will, 4,3), doch die Thessalonicher als von Gott Gelehrte (theodidak‐ toi, θεοδίδακτοί) müssen eigentlich nicht mehr belehrt werden; außerdem haben sie im Grunde schon alles von den Aposteln gelernt, werden nur wieder daran erinnert. Die Begründung erfolgt im Auftrag Jesu, dem Herrn (4,2), wird aber sofort durch die Aussage, dass die Thessalonicher sich ja bereits so verhalten, abgemildert. Eine Begründung mit einem Herrenwort findet sich explizit in 4,15, und implizit in 5,2f, allerdings je ohne Kontext.

Beobachtungen am Zweiten Thessalonicherbrief

Ferner wird die Nachahmung (μίμησις, mimēsis) der Apostel und Christi durch die Gemeinde (1,6) wird gefordert. Als Referenzrahmen werden vor allem die gemeinsamen Erfahrungen und die gemeinsame Geschichte im Rahmen des „Evangeliumsgeschehens“ aufgerufen. „Evangelium“ ist hier keine „Erinnerung“, sondern lebendiges Geschehen. „Unser Evangelium“ (1,5) wird im Rahmen der Familienmeta‐ pher zum „Evangelium Gottes“ (2,9), in diesem Zusammenhang begegnen auch das Reich und die Herrlichkeit Gottes (2,12). Besonders stark ist die Fa‐ milienmetapher: Durch das gemeinsame Schicksal sind die Thessalonicher auch mit den Gemeinden in Judäa verbunden und auf diesem Wege in einen jüdischen Referenzrahmen eingebunden, der sich allerdings nur sehr diskret zeigt (Prophetie, Satan als Gegenspieler). Eine Einführung in diesen genuin jüdischen Referenzrahmen erfolgt am ehesten in 4,13–5,11, und wird dort durch Herrenworte autorisiert, nicht durch die heiligen Schriften Israels, was zu einer Gruppe passt, die keine jüdischen Wurzeln hat, sondern erst lernen muss, dass ihr durch ihre neue Identität in Christus jüdische Wurzeln zuwachsen. Knapp zusammengefasst: Als Autoritäten gelten Gott, Jesus und der Heilige Geist, sowie gemeinsames Glaubensgut, das diskursiv eingespielt wird. Die Schrift kommt als Autorität nicht vor. Beobachtungen am Zweiten Thessalonicherbrief 1) Welche Geschichte der Absender mit den Adressaten wird vorausgesetzt?

Die Evangelisierung der Gruppe wird nicht als unmittelbar zurückliegend aufgerufen, sondern scheint länger her zu sein. Es wird eine Kommunikation mit den Absendern durch Worte und Briefe (2,2.15; 3,17) vorausgesetzt, an den Aufenthalt der Absender vor Ort wird in 3,7–9 erinnert. Die Erinnerung wird jedoch nicht en passant aufgerufen oder um an die gute Beziehung zwischen Absendern und Adressaten zu erinnern, sondern ist zweckgebunden und wird der Unterweisung dienstbar gemacht. Eine lebendige Verbindung mit den Adressaten zum Zeitpunkt der Abfassung des Schreibens scheint nicht durch: Die Absender erzählen fast nichts von sich (außer Allgemeinplätzen in 1,7 und 3,2), es wird nicht auf eine lebendige gemeinsame Geschichte verwiesen, es gibt keine Pläne, einander

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

wiederzusehen. Die Absender wirken dadurch deutlich distanzierter, fast schon ein wenig entrückt. 2) Welche Themen werden verhandelt und wie werden sie kommuniziert?

Anlass des Schreibens scheint zunächst die Sorge zu sein, dass die Gruppe vom Glauben abfällt (1,3–12; 2,2–3). Diejenigen, die die Gruppe bedrängen, werden bestraft werden, heißt es. Jesus, der Herr, wird Vergeltung üben an denen, die Gott nicht erkennen und dem Evangelium Jesu nicht gehorchen (1,7). Das Thema der Verfolgung (διωγμός, diōgmos) und Bedrängnis (θλῖψις, thlipsis, 1,4–5; vgl. auch 1 Thess 1,6; 3,3.4) taucht auch in 1 Thess auf, ist hier aber noch weiter ausgefaltet. Der Brief erläutert, dass angesichts der Bedrohung gewissermaßen Ruhe die erste Bürgerpflicht ist, daher rufen die Absender die Adressaten dazu auf, sich nicht einschüchtern zu lassen (2,2–3), insbesondere nicht durch Wort, Rede oder Schreiben, die von den Absendern sein sollen. Dabei steht im Raum, dass der Tag des Herrn schon da sei (2,3), doch die Absender wider‐ sprechen diesem Eindruck vehement und lassen die Adressaten wissen: Das dauert noch. Zuvor kommt der Abfall von Gott, der in 2,3–12 beschrieben wird. Was in diesen Versen erläutert wird, klingt fast schon sektenmäßig: Es wird Abfall angekündigt und alles, was passieren muss, bevor es wieder besser wird. Gewarnt wird in 2,3–12 vor der Gesetzeswidrigkeit ἀνομία (2,7) und dem gesetzeswidrigen Menschen (ὁ ἄνομος, 2,8–9), die die Gruppe von außen bedrohen. In 3,6–13 wird dann vor Glaubensgeschwistern gewarnt, die ein unordentliches Leben führen (ἀτάκτως, 3,6.7.11) und dadurch eben‐ falls eine Bedrohung darstellen. Beide Gruppen sind zu meiden und die Adressaten müssen erkennen, dass die Bedrohung von außen und von innen kommt, wobei für die Leser relativ nebulös bleibt, wer genau die Bedrohung von außen (und von innen) darstellt. In dieser Situation der Verfolgung und Anfechtung, dem „Leiden für das Reich Gottes“ kommt es auf Ausdauer und Standhaftigkeit an: Wer standhaft ist, wird am Ende das Reich Gottes erben (1,6–10). Dieser Passus scheint das aufzunehmen und vorauszusetzen, was in 1 Thess 4 und 5 entfaltet wurde, in der Argumentation wird mehrfach darauf verwiesen, dass die Absender die Adressaten bereits mündlich und schriftlich unterwiesen haben (2,2.15): Der Tag des Herrn und die Vereinigung mit Christus bei der Parusie. Als Lösung wird die Mimesis der Absender angeordnet, ihrem Beispiel ist zu folgen. Dazu gehört, sich von denjenigen fernzuhalten, die ein

Beobachtungen am Zweiten Thessalonicherbrief

unordentliches Leben führen (3,11), ohne dass so genau gesagt wird, worin die Unordnung besteht. Die Thessalonicher sollen sich in jedem Falle der Berufung würdig erweisen, damit Jesu Name verherrlicht wird und alle, die der Wahrheit nicht geglaubt haben, müssen gerichtet werden (2,12; 3,14). Es folgt ein Aufruf, an den Überlieferungen festzuhalten, die durch die Absender mündlich oder brieflich erfolgt sind (2,15). Die Aufforderung an die devianten Gruppenmitglieder, ein anderes Leben zu führen, erfolgt durch die Absender, nicht mehr durch die Gemeinde (anders als in 1 Thess 5,12–22, dort haben sich die Mitglieder untereinander in Liebe und Geduld um Unterweisung bemüht). Die Stichworte „Arbeit“ und „Brot“ werden 3,6–12 mehrfach aufgerufen und verbinden die Zeit, als die Absender vor Ort waren, mit den aktuellen Problemen der Adressaten. Offenkundig gibt es soziale Devianz und die Absender fordern die Adressaten auf, dieses Ver‐ halten nicht zu dulden, nicht mit den devianten Mitgliedern zu kooperieren (sprich: sie nicht durchzufüttern) und ansonsten in aller Ruhe das eigene Leben weiterzuführen, wie es eingespielt ist. Für die Adressaten gilt, mit den Abweichlern keine gemeinsame Sache zu machen und sich ansonsten ruhig und unauffällig zu verhalten. Dazu wird das Vorbild der Absender mehrfach aufgerufen und einge‐ schärft (2,15; 3,4.6.10.12.14). Es geht nicht mehr darum, Christus zu imitieren, sondern die Absender (3,7.9); entsprechend wird das Evangelium Jesu (1,7) dann auch zum Evangelium der Absender (2,4). Es sind die Überlieferungen (παραδόσεις, paradoseis, 2,15; vgl. auch 3,6) der Absender, die zu halten sind, ob sie nun mündlich oder schriftlich, also im Brief, erfolgt sind. Das Ziel scheint die Rückkehr der „Unordentlichen“ auf den richtigen Weg zu sein, Pate stehen dafür Lehre und Vorbild der Absender, die sich nirgends als Apostel bezeichnen, sondern nur noch auf ihre Vollmacht (ἐξουσία, exousia, 3,9) verweisen und darauf, dass sie als Typos nachgeahmt werden sollen (τύπος, typos, 3,9). Die Tonlage ist deutlich distanziert, Wertschätzung und Empathie fehlen weitgehend. Insgesamt scheint die Beziehungsebene, die 1 Thess geprägt hat, auszufallen. Die Trias Glaube – Hoffnung – Liebe, die in 1 Thess zweifach im Hinblick auf die Adressaten verwendet wurde, taucht nicht mehr auf. Im ersten Dank in 1,3 werden nur noch der kräftig wachsende Glaube und die gegenseitige Liebe, die bei den Adressaten vermeintlich wächst, genannt. Wir müssen danken klingt in 1,3 und der Reprise 2,13 gleichermaßen floskelhaft. Die Adressaten werden erst gelobt und dann getadelt bzw. gemaßregelt.

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

Der Brief ist durchgehend in Wir-Form geschrieben und bedient sich nur weniger Imperative (2,15 [2x]; 3,1.10.14.15), doch die Tonlage ist deutlich an‐ ders als im 1 Thess: Wenn die Adressaten zu etwas aufgefordert werden, wird gewöhnlich von „befehlen/anordnen“ (παραγγέλλω, parangellō, 3,4.6.10.12) gesprochen, „bitten/ermahnen“ (παρακαλέω, parakaleō) kommt nur einmal in 3,12 in Verbindung mit einer Anordnung vor, „bitten/fragen“ (ἐρωτάω, erōtaō) begegnet ebenfalls nur einmal in 2,1. 3) Wie wird im Text begründet, d. h. welche Referenzrahmen werden genutzt? Werden vorliegende Rahmen verwendet oder eigene Traditionen entwickelt oder genutzt?

Anders als im 1 Thess kann von einem Aushandeln der Fragen und Probleme miteinander oder zumindest auf Augenhöhe keine Rede sein: Die Absender stellen sich deutlich über die Adressaten und werfen ihre eigene Vollmacht in die Waagschale. Die Aufforderung an die Gruppe, sich von denjenigen zu distanzieren, die „unordentlich“ leben (ἀτάκτως, 3,6.7.11), wird durch eine Bitte um Gebet für die Absender vorbereitet, die von „bösen und schlechten Menschen“ gerettet werden sollen, da der Glaube nicht jedermanns Sache sei. Die Aufforderung, sich von den „Unordentlichen“ zu distanzieren, wird mit der Überlieferung durch die Absender und deren Vorbild begründet und dann durch eine Aufforderung „in Herrn Jesus Christus“ autoritativ abgesichert. Ausschlusskriterium ist eine Abweichung von der Lehre der Absender im vorliegenden Schreiben (3,14). Die Absender haben durch Worte und Briefe sowie ihre Zeit vor Ort einen Typos vorgegeben, den die Adressaten nachahmen sollen. Die Begründung ist damit dreistufig: a) Beispiel geben vor Ort (Bezug auf fundierendes Geschehen), b) Unterweisung in Wort und Brief (keine diskursive Aushand‐ lung, sondern schriftliche Anweisung, die bereits vorliegt: es gibt also eine leitende Perspektive) und c) autoritative Absicherung (Rückbezug auf Jesus in 3,6.12; Verweis auf eigene Vollmacht in 3,9). Referenzrahmen sind das Zeugnis der Absender (dem die Adressaten Glauben geschenkt haben, 1,10), ihr Evangelium (2,14) und ihre Überlieferung (3,6). Die Tradition, auf die Bezug genommen wird, ist damit nach außen immunisiert.

Auswertung

Auswertung Nach diesen Beobachtungen lässt sich – ohne die theologische Auswertung des Schreibens und die exegetische Diskussion zu Entstehungsszenarien zu kennen – folgendes erstes Fazit ziehen: Der Erste Thessalonicherbrief erzählt die gemeinsame Geschichte von Absender und Adressaten aus der unmittelbaren Vergangenheit, auf die immer wieder Bezug genommen wird. Es finden sich soziale und diskursive Aushandlungsprozesse, ein gemeinsames Ringen um Wahrheit, das sich auch sprachlich ausdrückt. Der Brief zeugt von einer lebendigen Beziehung mit Auseinandersetzungen auf Augenhöhe, die sich auch in der Offenheit für andere Positionen zeigt. Die Absender versuchen, die Adressaten in ein größeres Netzwerk (und damit in eine bestehende Tradition) zu integrieren. Alle diese Beobachtungen sprechen dafür, dass es sich beim Ersten Thessa‐ lonicherbrief um ein Zeugnis des sozialen Gedächtnisses handelt. Der Zweite Thessalonicherbrief lässt hingegen keine diskursive Aus‐ handlung der anstehenden Fragen erkennen, sondern die Absender ver‐ mitteln den Adressaten mit Autorität die leitende Perspektive, die durchgesetzt werden soll. Die gemeinsame Geschichte von Absendern und Adressaten wird dabei als selbstgeschaffene Tradition aufgerufen und verzweckt: So scheint es in 3,7–10 nicht um zweckfreies Erinnern zu gehen, sondern die Vergangenheit wird nur deshalb aufgerufen, um Regeln zu begründen. Flankierend dazu werden externe Kommunikationsmedien wie Briefe und Überlieferungen als Traditionsgaranten aufgerufen. Das Schreiben lässt keine lebendige Beziehung zueinander erkennen, sondern zeigt ein hierarchisches Gefälle: Die Absender gebieten, die Adressaten sollen befolgen. Diese Beobachtungen, die sich deutlich von denen am Ers‐ ten Thessalonicherbrief unterscheiden, sprechen dafür, dass es sich beim Zweiten Thessalonicherbrief um ein Zeugnis des kollektiven Gedächtnisses handelt. Wenn der 2 Thess als Zeugnis des kollektiven Gedächtnisses erscheint, legt das nahe, dass er eher nach dem Generational Gap und damit in der nächsten Generation entstanden sein muss. Die Frage, wer den Brief verfasst hat und ob er als authentischer Paulusbrief oder pseudepigraphes Schreiben zu verstehen ist, ist damit noch nicht beantwortet, wenngleich sich nahelegt, dass ein Schreiben, das in die dritte Generation verweist, nicht von Paulus stammen kann. Wer den Brief wann und mit welcher Intention verfasst hat, ist eine andere Frage und muss gesondert diskutiert werden. Dazu gehört

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

auch die spannende Frage, warum Paulus (Silvanus und Timotheus) als Absenderfiktion und die Gemeinde in Thessalonich als Adressatenfiktion gewählt wurden.

Fazit nach der Lektüre

1 Thess

• •



Soziales Gedächtnis Gemeinsame Geschichte, Soziale und diskursive Aushandlungsprozesse, gemeinsames Ringen (auch sprachlich) Lebendige Beziehung mit Auseinandersetzung auf Augenhöhe, Offenheit für an-dere Positionen (Adressaten als θεοδίδακτοί/Glaubende) Versuch der Integration in ein größeres Netzwerk (und damit in eine bestehende Tradition)

2 Thess

• • • • •

Kollektives Gedächtnis Keine diskursive Aushandlung der anstehenden Fragen, Leitende Perspektive wird durchgesetzt Keine lebendige Beziehung zueinander, hierarchisches Gefälle Gemeinsame Geschichte wird als selbstgeschaffene Tradition aufgerufen und verzweckt Externe Kommunikations-medien (Briefe) werden als Traditionsgaranten aufgerufen

Abb. III.6: 1 Thess und 2 Thess in gedächtnistheoretischer Perspektive

Was wir nach der Lektüre festhalten können, ist, dass es durch die Analy‐ setools der kulturwissenschaftlichen Exegese jenseits der historisch-kriti‐ schen Methoden einen alternativen Weg gibt, die Frage nach der zeitlichen Verortung von Texten zu stellen und die neuen Werkzeuge eine andere Per‐ spektive auf die Texte ermöglichen, mit der sich exegetisch weiterarbeiten lässt. Die Ergebnisse aus der kulturwissenschaftlichen Analyse sind dabei nicht als Gegensatz zu denen anderer Methoden zu verstehen, sondern komplementär. Sie ergänzen die anderen Ergebnisse und können neue Fragehorizonte und Leseperspektiven eröffnen. Wir haben in diesem Kapitel danach gefragt, ob es sich bei den beiden Thessalonicherbriefen um Zeugnisse des sozialen oder des kollektiven Ge‐ dächtnisses handelt. Der Vollständigkeit halber ist noch zu vermerken, dass sich beide Thessalonicherbriefe bei einer produktionsorientierten Leseper‐ spektive nicht als Artefakte des kulturellen Gedächtnisses lesen lassen, da wir es mit Texten aus der Zeit diesseits des Floating Gap zu tun haben. Nach unserer Analyse stellen sich die Texte so vor und auch in der

Auswertung

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wissenschaftlichen Diskussion wird nirgends behauptet, dass sie erst in der Mitte des zweiten Jahrhunderts oder später entstanden sind. Wir haben es bei „Paulus“ also entweder mit einem Autor aus der eigenen Gegenwart (soziales Gedächtnis) oder einem Autorenpseudonym aus der unmittelbaren Vergangenheit (kollektives Gedächtnis) zu tun. Im zweiten Fall ist der Apostel zwar zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes nicht mehr am Leben, aber noch bekannt. Grundsätzlich ist es natürlich auch möglich, den Ersten Thessalonicherbrief als Zeugnis des kulturellen Gedächtnisses zu lesen (wie sich an einem entsprechenden Beitrag von Stefan Alkier nachvollziehen lässt), doch handelt es sich dabei um eine emische, nicht um eine etische Lektüre.   Die unterschiedlichen Erwartungshaltungen an die Lektüre lassen sich in Anlehnung an die in I.3 formulierte Matrix auch tabellarisch abbilden: Soziales Gedächtnis

Prägnante Gestaltung  (abhängig von der Funktion) Die Vergangenheit wird bewusst aufgerufen und geformt Betrifft die unmittelbare Vergangenheit (recent past),  mitwandernder Zeithorizont von drei bis vier Generationen Erinnerungsgemeinschaften, eher größer als Familien, nicht  jedes Mitglied muss alle anderen Mitglieder kennen 

Verfertigung einer Gesamtnarration in einem spezifischen  Medium (z.B. Text oder Medienwechsel), in der sich eine  Perspektive durchsetzt, in diesem Zusammenhang auch  zeitliche Entfristung durch Verortung von Einzelepisoden in  einem größeren Rahmen: (Re‐)Kontextualisierung und/oder  (Re‐)Historisierung in der und durch die Gesamtnarration,  beginnende Etablierung einer gemeinsamen Geschichte  („Gründungsmythos“) Verfertigung neuer Rahmen für künftige Interpretationen und  Identitätskonstruktionen  Identitätsbildung durch Annahme und „Einschreibung“ in die  Gesamtnarration, z.B. durch Teilhabe an Riten, Festen,  Gedenktagen oder Vollzügen wie gemeinsamen Mählern

FLOATING GAP NACH ETWA ACHTZIG BIS EINHUNDERT JAHREN

Verortung der eigenen Situation und Erfahrung in innerhalb  vorgegebener sozio‐kultureller Rahmen  Identitätsbildung durch Aufrufen einzelner Episoden  (Vergegenwärtigung durch Erzählen), diskursive Verfertigung  von Identität

Kollektives Gedächtnis

GENERATIONENSCHWELLE NACH ETWA DREIßIG BIS FÜNFZIG JAHREN

Emotionale Ladung (abhängig von den Trägern) Nicht‐intentionale Beschäftigung mit der Vergangenheit,  Vergangenheitskonstruktion en passant Betrifft die Gegenwart oder unmittelbare Vergangenheit  (recent past), Zeit der Zeitzeugen (löst sich mit dem Weggang  oder Tod der Träger auf) Kleine soziale Gruppen wie Familien oder Peergroups, die  den Rahmen für individuelle Erinnerung liefern, lebendiger  Erfahrungsschatz einer Gruppe, multiperspektivisch,  inoffiziell/ nicht institutionalisiert, dadurch alltäglich,  diskursiv, episodisch, zeitlich befristet Diskursive Verfertigung von Einzelepisoden, bei denen  unterschiedliche Perspektiven nebeneinanderstehen können,  keine chronologische Anordnung der Episoden  („Familiengedächtnis“), die Organisations‐prinzipien für  Narrative sind sozial vermittelt

Abb. III.7: Tabellarische Übersicht: Leseerwartungen soziales und kollektives Gedächtnis

Literaturhinweise: Alkier, Stefan: Der 1. Thessalonicherbrief als kulturelles Gedächtnis, in: Sellin Gerhard; Vouga, François (Hg.): Logos und Buchstabe. Mündlichkeit und Schrift‐ lichkeit im Judentum und Christentum der Antike (TANZ 20), Tübingen/Basel 1997, 175–194.

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III.2  Soziales oder Kollektives Gedächtnis? Die Thessalonicherbriefe im Vergleich

Huebenthal, Sandra: Erfahrung, die sich lesbar macht. Kol und 2 Thess als fiktionale Texte, in: Luther, Susanne; Röder, Jörg; Schmidt, Eckart (Hg.): Wie Geschichten Geschichte schreiben. Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktio‐ nalität (WUNT II 395), Tübingen 2015, 295–336. Kobel, Esther: Alma pater? Zum Topos männlichen Milchspendens im frühen Christentum, in: BZ 65 (2021), 243–265. Thompson, Trevor: As if genuine. Interpreting the pseudepigraphic Second Thes‐ salonians, in: Frey, Jörg; Herzer, Jens; Janßen, Martina; Rothschild, Clare (Hg.): Pseudepigraphie und frühchristliche Verfasserfiktion (WUNT 246), Tübingen 2009, 471–488.

III.3 Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese In diesem Kapitel geht es darum, wie die Erkenntnisse kulturwissen‐ schaftlicher Gedächtnistheorie als Korrektiv für Entstehungsszenarien neutestamentlicher Texte genutzt werden können. Als Beispiel wird die sog. „Flavierthese“ diskutiert, die argumentiert, dass das Markusevan‐ gelium als Anti-Evangelium zum Aufstieg der Flavier, insbesondere Vespasians, entstanden sei. Der Vergleich mit den Erkenntnissen kultur‐ wissenschaftlicher Gedächtnistheorie zeigt an diesem konkreten Beispiel zwei Dinge. Zum wird im Falle der Flavierthese mit Rezeptionskategorien argumentiert, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Markusevangeliums noch nicht allgemein verbreitet gewesen sein dürften. Zum anderen sagt die Lektüre eines neutestamentlichen Textes mit einer (re-)konstruierten antiken Enzyklopädie mehr über das Interpretationspotential eines Textes als seinen tatsächlichen Entstehungsort aus.

Die Flavierthese und das Markusevangelium: Rezeptionskategorie oder Aussage über die Textproduktion? In den vergangenen beiden Jahrzehnten wurde das Markusevangelium verstärkt im Kontext des Römischen Reiches gelesen und interpretiert. Der exegetische Trend begann zuerst mit der Auslegung einzelner Perikopen wie der Heilung des blinden Mannes bei Betsaida (Mk 8,22–26), die mit ähnlichen Wundern, die von Vespasian berichtet werden, kontextualisiert wurden. Inzwischen ist der Zugang als imperiumskritische Lektüre zu einem Verstehensrahmen für den gesamten Text des Markusevangeliums geworden. Ein Zugang, der sich derzeit besonderer Beliebtheit erfreut, ist die Hypothese, dass es sich beim Markusevangelium um ein Anti- oder Gegenevangelium zum Aufstieg der Flavier handelt. Insbesondere unter katholischen deutschen Neutestamentlern wird dieser Zugang weiterentwi‐ ckelt und als Flavierthese diskutiert.

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III.3  Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese

Der Begriff „Anti-Evangelium“ geht auf den Heidelberger Neutestament‐ ler Gerd Theissen zurück und beschreibt Lesarten, die das Markusevange‐ lium als kritische Auseinandersetzung mit der Propaganda des Imperium Romanum verstehen. Einige Ausleger sehen im Markusevangelium sogar eine direkte Reaktion auf das „Evangelium“ Vespasians. Signalgebend ist dafür der Anfang des Markusevangeliums, insbesondere der Begriff euan‐ gelion (εὐαγγέλιον) in Mk 1,1, der als Zeichen dafür verstanden wird, dass der folgende Text eine Alternative zur imperialen römischen Propaganda darstellt. Das Markusevangelium bietet in dieser Leseart eine Fülle von Anspielun‐ gen auf imperiale Propaganda, die es einerseits kritisiert und andererseits einen Gegenentwurf für die Identität der markinischen Gemeinde bietet. Dieser Gegenentwurf basiere auf Werten, die im Gegensatz zu jenen stehen, die die flavische Dynastie charakterisieren. Auch wenn die unterschiedli‐ chen Lesarten sich im Detail unterscheiden, ist die Grundthese weitgehend identisch: Das Markusevangelium lässt sich am besten als direkte Reaktion auf und Auseinandersetzung mit dem Aufstieg der flavischen Dynastie lesen. Entsprechend lasse es sich nur auf dem Hintergrund des Aufstiegs des homo novus Vespasian zum Römischen Kaiser und der imperialen Propaganda zur Legitimation seiner Herrschaft adäquat verstehen.67 Heißt das, dass das Markusevangelium wirklich in Rom entstanden ist und eine der vielen in der Einleitungswissenschaft kontrovers diskutierten Fragen damit abschließend geklärt ist? Nicht unbedingt. Wenn man mit den Erkenntnissen kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie an die Frage herangeht, sagt die Flavierthese mehr darüber aus, wie das Markusevange‐ lium verstanden werden kann als darüber, wie und warum es entstanden ist. Anders formuliert: Die Flavierthese lässt sich ebenso gut, wenn nicht noch besser als Aussage über Rezeptionsszenarien des Markusevangeliums verstehen. Das nimmt dem Zugang nichts von seiner Faszination und macht ihn auch nicht weniger wissenschaftlich. Er bleibt ganz im Gegenteil ein Meisterstück historisch-kritischer Exegese, auch wenn er im Hinblick auf die exegetische Diskussion im Zuge des Linguistic Turn und des Cultural Turn anders verortet werden muss. Wenn man die Flavierthese als rezeptionsorientierten Zugang versteht, untersucht sie die Frage, wie historische Leser den Text verstanden haben könnten. 67

Einen guten Einstieg in die Thematik bietet: Martin Ebner: Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier, in: Bibel und Kirche 66 (2011), 64–69.

Rezeptionskategorie oder Aussage über die Textproduktion?

Lesarten der Flavierthese

Aussage über den historischen Entstehungskontext des Markusevangeliums

Aussage über ein mögliches Rezeptionsszenario des Markusevangeliums

Rom um 70 n. Chr.

Rom im ausgehenden 1. Jahrhundert n. Chr.

Abb. III.8: Lesarten der „Flavierthese“

Die Attraktivität der Anti-Evangelium-Hypothese liegt darin, dass sie mög‐ liche Rezeptionsszenarien des Markusevangeliums in einem römischen Kontext untersucht, also eine experimentelle Lesart ist. Solche experimen‐ tellen Lektüren bestehen aus einem dreistufigen Verfahren: In einem ersten Schritt wird eine These aufgestellt, in diesem Fall: „Das Markusevangelium ist ein Gegenevangelium zum Aufstieg der Flavier“. Im zweiten Schritt wird auf der Basis des vorhandenen Datenmaterials die Enzyklopädie oder das Weltwissen der angezielten Leserschaft konstruiert, in diesem Fall stadtrömische Jesusnachfolger um 70 n. Chr. Erst im dritten Schritt findet die eigentliche Lektüre des Textes statt, die erhebt, welche Interpretationen und Sinnhorizonte sich ergeben, wenn der biblische Text mit dieser Enzyklopädie aktualisiert wird. Der zweite Schritt, die Konstruktion der Enzyklopädie der angezielten Rezipientengruppe, ist eine komplexe Angelegenheit, insbesondere da Bibel‐ wissenschaftler nicht einfach über antike Enzyklopädien verfügen, sondern lediglich über wissenschaftliche Konstrukte darüber, was Menschen in der Antike möglicherweise wussten und dachten. Um sich antiken Enzyklo‐ pädien anzunähern, gilt es auch, das eigene Weltwissen an die Seite zu schieben. Das ist gewöhnlich der schwierigste Teil der Aufgabe. Denn Bibel‐ wissenschaftler des 21. Jahrhunderts haben naturgemäß ein umfassenderes Wissen und eine größere Distanz zu den Ereignissen als Jesusnachfolger im Rom des ausgehenden ersten Jahrhunderts. Hypothesen darüber, was diese

287

288

III.3  Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese

Leserschaft des Markusevangeliums gewusst haben könnte, bleiben daher immer spekulativ. Was heißt das im Klartext? Im Falle der Flavierthese muss beispielsweise überlegt werden, ob ein Mitglied einer christlichen Gemeinschaft in Rom im Jahre 71 n. Chr. über die vermeintlichen Wunder Vespasians, die Topogra‐ phie der Seeschlacht bei Tarichaea oder Josephus’ Voraussage der Herrschaft Vespasians inklusive ihrer messianischen Anklänge, womöglich sogar in Verbindung mit den Orakeln von Phlegon or Hystaspes, Bescheid wusste. Da Flavius Josephus deutlich nach diesen Ereignissen schrieb und seine eigenen Interessen ebenso deutlich in seinen Werken aufscheinen, ist kaum anzunehmen, dass seine Voraussage der Herrschaft Vespasians ursprünglich jenen Wortlaut hatte, den er im Jüdischen Krieg (Jos Bell 3,401) niedergelegt hat – einmal ganz abgesehen von der Frage, ob der Name Flavius dem Verfasser des Markusevangeliums und seiner Leserschaft überhaupt etwas gesagt hätte. 1 Formulierung eines Verstehensrahmens „Das Markusevangelium ist ein Gegenevangelium zum Aufstieg der Flavier“ Kann mit historischkritischen Methoden nicht falsifiziert werden

2

Konstruktion einer möglichen antiken Enzyklopädie auf der Basis des vorliegenden Datenmaterials Rom um 70 n.Chr.

3

Prüfung des Verstehensrahmens: a) Sind die Identität der Jesusnachfolger um 70 n.Chr. und b) die Rezeption der Flavier bereits so weit gefestigt, dass sich das Markusevangelium als Gegenevangelium zum Aufstieg der Flavier verstehen lässt?

Kriterien aus der Gedächtnistheorie: • Erkenntnisse zu Etappen und Medien sozialen Erinnerns

Prüfung der Enzyklopädie: a) Ist die Enzyklopädie plausibel konstruiert? b) Ist die Enzyklopädie für die angenommenen Zielgruppe wahrscheinlich?

Kriterien aus der Jesusforschung: • Historische Plausibilität • Kontextplausibilität

Lektüre des Textes mit dieser Enzyklopädie

Abb. III.9: Hermeneutische Schritte der „Flavierthese“

Rezeptionskategorie oder Aussage über die Textproduktion?

Die skizzierten Fragen haben gemein, dass sie nicht die Plausibilität dieser Annahmen für die heutige Exegese betreffen, sondern die Wahrscheinlich‐ keit, dass stadtrömische Christen im ausgehenden ersten Jahrhundert dieses Wissen hatten. Schon hier deutet sich an: Hypothesen zu Entstehungssze‐ narien legen nicht nur das Interpretationspotential des jeweiligen Textes offen, sondern auch das Wissen und die Kreativität des jeweiligen Auslegers. Sie können jedoch keine abschließenden Antworten auf die Frage nach der Produktion und Intention des Textes geben und bleiben, mit Peter Lampe ausgedrückt, Wirklichkeitskonstruktionen zweiter Ordnung, die neben die historischen Quellen gestellt werden.68 Von unserer eigenen historischen Verortung aus mögen sie plausibel und überzeugend erschei‐ nen, doch sagt das mehr über unsere eigenen Wirklichkeitskonstruktionen aus als über den wirklichen Autor und die echten Adressaten. Die Kritik an der Flavierthese fokussiert entsprechend nicht die Ausle‐ gung selbst, sondern auf ihre Voraussetzungen. Anders formuliert: Es geht bei der kritischen Diskussion üblicherweise um die (Re-)Konstruktion oder die Plausibilität der vorgeschlagenen Enzyklopädie und damit den zweiten Schritt, nicht um den ersten oder den dritten. Das heißt auch, dass die Flavierthese als Interpretationsrahmen im Rahmen der historisch-kritischen Exegese nicht falsifiziert werden kann. Es lässt sich lediglich darüber diskutieren, ob sie ein plausibles Rezeptionsszenario für eine bestimmte rekonstruierte historische Situation darstellt. Die Kriterien, die dabei ange‐ legt werden, sind alte Bekannte aus der historischen Jesusforschung: das Kriterium der historischen Wirkungsplausibilität und das Kriterium der Kontextplausibilität. Ist das alles, was sich sagen lässt? Mit den Mitteln der historisch-kriti‐ schen Exegese lässt sich hier vielleicht nicht weiterkommen, doch ist es möglich, die kritische Prüfung der These auf der Basis der Erkenntnisse der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie weiterzuentwickeln. Ein erster Schritt ist dabei, den Fragegegenstand zu verändern. Anstatt die Plausibilität der Enzyklopädie zu überprüfen, ist es sinnvoller, den Interpre‐ tationsrahmen selbst zu hinterfragen. Die Frage ist damit nicht, was die römischen Christen um 70 n. Chr. sinnvollerweise über den Aufstieg und die Herrschaft Vespasians gewusst haben könnten, sondern ob es sinnvoll ist anzunehmen, dass zu dieser Zeit die Vorstellung vom Leben und Geschick 68

Peter Lampe: Der Modellfall Auferstehung Jesu. Zu einer konstruktivistischen Theorie der Geschichtsschreibung, in: EvTh 69 (2009), 186–193, 188.

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III.3  Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese

Jesu als Gegengeschichte zum Aufstieg der Flavier verstanden wurde. An‐ ders gefragt: Lässt sich annehmen, dass die Jesusnachfolger im ausgehenden ersten Jahrhundert in Rom bereits über so klare Rezeptionskategorien für die Jesusgeschichte verfügten, dass sie tagesaktuelle politische Ereignisse auf dieser Folie evaluieren konnten? Diese Frage lässt sich nicht aus dem Stand beantworten. Doch wie schon bei der Frage, ob es sich bei den beiden Thessalonicherbriefen um Zeugnisse des sozialen oder des kollektiven Gedächtnisses handelt, helfen Kriterien und Kategorien aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie weiter, denn auch hier geht es um die Frage kollektiver Gedächtnisse und kultureller Rahmen. Genauer hin: Sind a) die Identität der Jesusnachfolger und b) die Rezeption der Flavier um 70 n. Chr. bereits so weit gefestigt, dass sich das Markusevangelium als Gegenentwurf oder Gegenevangelium zum Aufstieg der Flavier verstehen lässt? Als Zeugnis des kollektiven Gedächtnisses gelesen, erscheint das Markus‐ evangelium als fundierende Geschichte einer Erinnerungsgemeinschaft, die im Spiegel ihrer Jesuserinnerungen ihre Identität als Nachfolgegemeinschaft entwirft. Nun fragt sich: Gibt dieser Verstehensrahmen das Verständnis des Textes als Anti-Evangelium her? Sind das Selbstverständnis der Jesusnach‐ folger und ihr Blick auf Vespasian bereits eindeutig geklärt? Um diese Frage zu beantworten, gönnen wir uns einen Blick in die Theorie anhand eines zeitgenössischen Beispiels, in dem es ebenfalls um die Entwicklung von In‐ terpretations- oder Verstehensrahmen geht, und das in seiner Entwicklung gut dokumentiert ist. Das „Wunder von Bern“ und die Entwicklung von Rezeptionskategorien Am 4. Juli 1954 gewann die Westdeutsche Nationalmannschaft die Fußball‐ weltmeisterschaft in Bern. Der Sieg kam völlig überraschend, nachdem die Mannschaft bereits in der Vorrunde vom Finalgegner und Favoriten Ungarn mit 8:3 geschlagen worden war. Acht Minuten nach dem Anpfiff im strömenden Regen lag die deutsche Mannschaft im Berner WankdorfStadion bereits mit 0:2 zurück, und es gab wenig Hoffnung, das Spiel noch zu drehen. 10 Minuten später, in der 18. Spielminute, steht es immerhin 2:2. Die 84. Spielminute verändert jedoch alles: Helmut Rahn erzielt aus dem

Das „Wunder von Bern“ und die Entwicklung von Rezeptionskategorien

Hintergrund den Siegtreffer. Das Erstaunen ist riesig. Niemand hatte auch nur im Traum an einen Fußballweltmeister Deutschland gedacht. Die Fußballweltmeisterschaft 1954 war – anders als gerne verklärt be‐ hauptet wird – nicht der erste Auftritt einer Westdeutschen Nationalmann‐ schaft nach dem Zweiten Weltkrieg (man verließ also nicht gleich beim ersten Auftritt als strahlender Sieger die Bühne). Im Jahr 1950 hatten die Reste des ehemaligen Deutschen Reichs – Westdeutschland, Ostdeutschland und das Saarland – noch nicht der Weltmeisterschaft teilnehmen dürfen. Ebenso war ihnen die Teilnahme an der Olympischen Sommerspielen 1948 in London verweigert worden. An der Sommerolympiade in Helsinki im Jahr 1952 waren Athleten aus Westdeutschland und dem Saarland vertreten gewesen und eine westdeutsche Amateurmannschaft hatte am Fußballwett‐ kampf teilgenommen, bei dem sie den dritten Platz erreichten. Keiner der Spieler wurde 1954 wieder aufgestellt. Es wird heute gemeinhin angenommen, dass der unerwartete Sieg das Land verändert hat und die Deutschen die Ereignisse jenes 4. Juli 1954 kollektiv als Wunder von Bern erinnern. So ist beispielweise im englischen Wikipedia-Eintrag zu lesen: The unexpected win evoked a wave of euphoria throughout Germany, which was still suffering in the aftermath of World War II. This was also the first time since the Second World War that the German national anthem was played at a global sporting event. The 1954 victory is regarded as a turning point in post-war German history by German historians Arthur Heinrich and Joachim Fest.

Einer der interessantesten Wirkungen des Phänomens Wikipedia ist, dass es die Entstehung von Rezeptionskategorien befördert. Sprich: Wikipedia unterstützt als Medium des kollektiven Gedächtnisses die Entwicklung be‐ stimmter Referenzrahmen, in denen Ereignisse, aber auch Texte interpretiert werden. Auch wenn manche dieser Referenzrahmen mit Fug und Recht als Mythen bezeichnet werden dürfen, begegnen sie auch in wissenschaftlichen Publikationen und werden so weiterverbreitet. In einem der wissenschaftli‐ chen Artikel, die als Referenz aufgeführt werden, unterstreicht der Soziologe und Politikwissenschaftler Arthur Heinrich, der zur Fußballgeschichte ar‐ beitet, the importance that the winning of the World Cup tournament in 1954 had for West Germany. Nine years after the defeat of the national socialist regime, this victory in soccer’s most important event heralded West Germany’s entrance

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III.3  Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese

into the international community of nations. The positive result in this forum contributed massively to the creation of a new West German collective identity. An essential ingredient of this identity was a positive orientation towards the newly established Federal Republic as a democratic structure, which – in the wake of this victory in soccer – attained growing acceptance and legitimacy among the West German public.69

Das Wunder von Bern ist ein gutes Fallbeispiel für die Entwicklung von Rezeptionskategorien, denn hier lässt sich die Entwicklung relativ genau nachzeichnen. Die Interpretation der Fußballweltmeisterschaft 1954 als Wunder von Bern und die Vorstellung, dass sie zu einem neuen Selbstbe‐ wusstsein der Deutschen geführt habe, wird heute selten infrage gestellt, insbesondere nicht von der jüngeren Generation. Tatsächlich wurde das Ereignis 1954 nicht so wahrgenommen. Die Rede vom „Wunder von Bern“ ist eine deutlich spätere Entwicklung. In seiner kurzen Studie „Das ‚Wunder von Bern‘. Rezeptionsgeschichte eines Mythos“, beschreibt Jacob Eder einige der Mechanismen und Prin‐ zipien, die hinter dieser Rezeptionskategorie stehen, die er zu Recht als „Mythos“ bezeichnet. Eders Studie ist vor allem deshalb interessant, weil er nachzeichnet, wie das Ereignis in mehreren (west-)deutschen Zeitschriften über einen Zeitraum von 50 Jahren dargestellt wurde. Der Vorteil dieser Quellengattung ist, dass Zeitschriftenartikel nicht im Nachhinein verändert werden können und daher als Momentaufnahmen die Kommunikations‐ muster der betrachteten Zeit entschlüsseln helfen. Eder kommt in seiner Studie zu sehr ernüchternden Ergebnissen hinsicht‐ lich der Vorstellung, der Sieg der Fußballweltmeisterschaft habe massiv zur Entstehung einer neuen kollektiven westdeutschen Identität beigetragen, die sich in dem oft zitierten Motto Wir sind wieder wer niedergeschlagen habe. Ihm zufolge handelt es sich dabei um Projektion und Wunschdenken. Beides wurde Teil eines Mythos, dessen Komponenten erst nach 1994 vollständig zusammengeführt wurden: „Die Euphorie von 1954 wird gleich‐ sam beschworen, reaktiviert und a posteriori in einen modernen Mythos übertragen“70. Auch Eders weitere Erkenntnisse sind faszinierend, wenn sie 69 70

Arthur Heinrich: The 1954 Soccer World Cup and the Federal Republic of Germany’s self-discovery, in: American Behavioral Scientist 46 (2003), 1491–1505, 1491. Jacob Sebastian Eder: Das „Wunder von Bern“. Rezeptionsgeschichte eines deutschen Mythos, 22, www.das-wunder-von-bern.de/Rezeptionsgeschichte.pdf (letzter Zugriff: 25.04.2022).

Das „Wunder von Bern“ und die Entwicklung von Rezeptionskategorien

aus der Perspektive der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie gelesen werden. Was später zum Wunder von Bern wurde, war über mehrere Jahrzehnte Gegenstand des privaten Gesprächs und kam fast überhaupt nicht in der öffentlichen Diskussion vor. Anders formuliert: Es kursierte lediglich im sozialen Gedächtnis. Die ersten Versuche, das Wunder von Bern prominenter zu platzieren, sind erst in den frühen 90er Jahren zu beobachten – 40 Jahre oder eine Generation später. Die Wendung Wunder von Bern selbst stammt tatsächlich aus der Zeit direkt nach der Weltmeisterschaft und kann bis zu einem Interview mit Fritz Walter, dem Kapitän der Mannschaft, zurückverfolgt werden. Der Begriff spiegelt den Sprachgebrauch der Zeit, in der das Wort „Wunder“ häufig begegnet. Der Stolz auf die Leistung der Nationalmannschaft verdrängte diese Perspektive jedoch sehr bald aus der Berichterstattung. Während der unerwartete Sieg eher den Charakter eines „Wunders“ hatte, war das Bedürfnis der Bevölkerung zu dieser Zeit ein anderes – sie brauchten eine Heldengeschichte: Vom Wunder von Bern zu sprechen, verbot schon bald das Selbstbewußtsein. Aber das, was die Männer von Bundestrainer Sepp Herberger bei der Fußballwelt‐ meisterschaft 1954 in der Schweiz und zuletzt im Endspiel im Berner WankdorfStadion zustande gebracht hatten, trug doch alle Züge einer Heldengeschichte, die nur durch das Zusammenwirken mythischer, das heißt durch den Mythos allen Erklärungsversuchen entzogener Kräfte geleistet werden konnte und so als Heldengeschichte für die kollektive Erinnerung zu vereinnahmen ist.71

Es ist daher nicht überraschend, dass die Frage, ob sie sich an das Wunder von Bern oder die Helden von Bern erinnern, Zeitzeugen aus der älteren Generation sich an die Helden erinnern, während die jüngere Generation ganz selbstverständlich vom Wunder spricht. Obwohl es bereits 1954 das Diktum vom Wunder von Bern gab, brauchte es 40 Jahre, um diese Rezeptionskategorie vollständig zu entwickeln und im Bewusstsein der Gesellschaft zu verankern. Damit die Rezeptionskategorie Wunder von Bern ein Mythos werden konnte, mussten mehrere Dinge zusammenkommen. Wichtige Faktoren sind dabei zum einen die Zeit und zum anderen eine veränderte Situation mit veränderten Bedingungen. Die Entstehung eines Mythos bedarf immer spezieller Umstände, wie jenen, die Rosa Parks in eine 71

Jürgen Busche: Der Mythos von 1954, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (1994 B 24), 13–15, 13.

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III.3  Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese

Ikone der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung verwandelten, nicht aber Claudette Colvin. Das gleiche gilt für das Verständnis der Fußballwelt‐ meisterschaft von 1954 und die Entstehung des Wunders von Bern. Ein Katalysator war die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990, die zeitlich mit dem dritten Sieg der Fußballweltmeisterschaft (nach 1954 und 1974) zusammenfiel. Der Gewinn der Weltmeisterschaft hat Peter Kasza zufolge den Deutschen geholfen, mit ihrem bislang eher „abstrakten, unsi‐ cheren Nationalgefühl“72 zurande zu kommen. Eine ähnlich wichtige Rolle weist Jacob Eder dem Tod der „Helden“ in den darauffolgenden Jahren zu, insbesondere dem Tod Fritz Walters (2002) und Helmut Rahns (2003), der mit einer Glorifizierung in den deutschen Medien einherging. Auch andere Faktoren führten dazu, dass die Deutschen zu neuen Konstanten im Sinne einer nationalen Identität suchten. Nach der Wiedervereinigung brauchten sie einen anderen Gründungsmythos als das Wirtschaftswunder, das lediglich für Westdeutschland galt, nicht aber für die DDR, die gerade ein gleichberechtigter Partner der wiedervereinigten Bundesrepublik geworden war. Der Zeitkorridor spielte eine entscheidende Rolle: Der Interpretations‐ rahmen Wunder von Bern wurde in den 1990er Jahren zwar eröffnet, konnte sich aber noch nicht auf voller Breite durchsetzen. Die Zeit dafür war erst etwa ein Jahrzehnt später reif. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch ein Medienwechsel. Zu einer Zeit, als man in der Bundesrepublik nach einer neuen Sozialpolitik suchte, wurde das Wunder von Bern in einem emotionalen und historisch fragwürdigen Film gefeiert,73 der etwa zwei Monate nach dem Tod von Helmut Rahn in die Kinos kam. Der Film half, einen neuen Gründungsmythos auf den Weg zu bringen, der fast völlig unpolitisch und gerade deshalb sehr überzeugend war. Der Film „stellte die ahistorische Verknüpfung zwischen dem Fußballsieg, dem Wirt‐ schaftswunder und eben der angeblichen mentalen Gründung der Republik her, die weder die Zeitgenossen 1954 verspürt hatten noch die sozialhistorische Forschung nachweisen konnte“74.

72 73 74

Peter Kasza: 1954 – Fußball spielt Geschichte. Das Wunder von Bern, Bonn 2004, 208. „Das Wunder von Bern” von Sönke Wortmann (2003). Diethelm Blecking: Das „Wunder von Bern“ 1954. Zur politischen Instrumentalisierung eines Mythos, in: Historical Social Research 40 (2015), 197–208 (doi.org/10.12759/hsr.4 0.2015.4.197-208), 293 (letzter Zugriff: 25.04.2022).

Das „Wunder von Bern“ und die Entwicklung von Rezeptionskategorien

Aus der Sicht der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie ist es nicht unüblich, dass es Ereignisse wie der Sieg der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1954 als fundierende Momente einer Nation dargestellt werden. Ebenso wenig ist es überraschend, dass diese spezielle Lesart erst einige Jahrzehnte nach dem eigentlichen Ereignis einsetzte. Dass es sich um eine Zeitspanne von 40 Jahren handelt und der neue Interpretationsrahmen von einer neuen erzählerischen Präsentation in einem anderen Medium – in diesem Fall einem Kinofilm statt den zuvor dominanten Interviews und Zeitungsartikeln – begleitet wurde, ist ebenfalls normal. Nach einer solchen Zeitspanne – wir begegnen einmal mehr dem Generational Gap – ist zu erwarten, dass die Erinnerung an die Vergangenheit im Hinblick auf die aktuellen Bedürfnisse neu formuliert wird, und dass die Mitglieder einer Erinnerungsgemeinschaft versuchen werden, eine Verstehensweise gegenüber anderen in der Form zu privilegieren, dass sie zum einzig richtigen Verständnis wird. Insgesamt ist es völlig normal, dass vergangene Ereignisse entsprechend der Bedürfnisse späterer Generationen verändert werden und dass dabei eine Interpretation eines Ereignisses andere ablöst. Jacob Eder nennt die Rezeptionsgeschichte des Wunders von Bern „ein Lehrstück über die Funktionsweise von populärer Erinnerungskultur“75. Am 4. Juli 1954 fand kein Wunder statt, sondern lediglich ein Fußballspiel. Das Wunder von Bern ist eine Interpretation dieses Ereignisses. Es ist eine Rezeptionskategorie, die das Ereignis jetzt im allgemeinen Bewusstsein rahmt. Sie wurde sozial ausgehandelt, sozial akzeptiert und im Laufe der Zeit als dominanter Referenzrahmen für ein Ereignis etabliert, das nun weit über die Welt des Sports hinaus in dieser Form „erinnert“ wird. Es handelt sich dabei um einen normalen Prozess, dessen Ergebnisse mehr über die Generation aussagen, die diesen Interpretationsrahmen entwickelt, als über die Generation, die das Ereignis selbst erlebt hat. Der Schlüssel zum Verständnis des Wunders von Bern, das eine volle Bedeutung erst nach der Jahrtausendwende entfaltet hat, liegt nicht in den 1950er, sondern in den 1990er Jahren.

75

Eder, Das „Wunder von Bern“, 23.

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III.3  Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese

Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Rezeptionskategorien Zurück in die Antike und zum Markusevangelium: Was trägt das Wunder von Bern zum Verständnis der Flavierthese bei? Wie das Wunder von Bern ist auch die Flavierthese in kulturwissenschaftlicher Lesart eine Rezeptions‐ kategorie. Als erste Erkenntnis aus der Betrachtung des Wunders von Bern lässt sich festhalten, dass die Entwicklung einer sozial akzeptierten Interpretations- oder Rezeptionskategorie Zeit braucht. Die Entwicklung von sozial akzeptierten Rezeptionskategorien/Verstehens‐ rahmen braucht Zeit: ■ ■ ■ ■

eine veränderte Situation mit gewandelten Bedürfnissen, die Abwesenheit der Protagonisten, einen Medienwechsel, und geschieht im Rückblick auf ein einschneidendes Erlebnis, das identitätskonstitutiv ist.

Diese entscheidenden Elemente – a) eine neue Situation, die andere Be‐ dürfnisse hervorbringt, b) die Abwesenheit der Protagonisten und c) ein Medienwechsel – lassen sich auch für die Abfassungszeit des Markusevan‐ geliums konstatieren. Auch dieser Text blickt auf ein einschneidendes Ereignis zurück – in diesem Falle ein traumatisches, das jedoch umso stärker identitätskonstitutiv ist. Dieses Ereignis wird in einer neuen Form von Text und damit einem anderen Medium erinnert, das Erstling einer neuen Gattung wird: einem Evangelium. Die Überführung dieses Ereignisses in ein neues Medium geschieht etwa eine Generation nach dem Ereignis selbst, und der Text ringt deutlich mit dessen Wirkung. Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Ist es plausibel, dass das Markusevan‐ gelium das tagesaktuelle Ereignis des Aufstiegs Vespasians als Referenzrah‐ men verwendet, um das eine Generation zurückliegende Christusereignis zu verstehen und darauf einen Identitätsentwurf für die Zukunft aufzu‐ bauen? Ist es sinnvoll, die Gründungsgeschichte der Jesusbewegung – als identitätsformende Geschichte – vor dem Hintergrund dieser politischen Entwicklungen zu erzählen? War das wirklich das drängendste Problem der Jesusnachfolger dieser Zeit?

Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Rezeptionskategorien

Eine genauere Untersuchung der Interpretationsrahmen, die das Markus‐ evangelium selbst verwendet, lässt vermuten, dass es dem Text um etwas Anderes geht. Zunächst scheint es das Bedürfnis zu sein, dem Leben und vor allem dem Tod Jesu Sinn abzugewinnen. Zu diesem Zweck verwendet das Markusevangelium jüdische Rezeptionskategorien, insbesondere die heiligen Schriften Israels. Das heißt nicht, dass die Interpretation nicht auch Anleihen bei aktuellen Ereignissen gemacht hat, doch scheinen sie sich nicht in etablierten Rezeptionskategorien niedergeschlagen zu haben. Es ist wahrscheinlicher, dass sich diese Rahmen erst entwickelten und weiter sozial ausgehandelt wurden, und damit gerade noch nicht stabil waren. Selbst wenn das Markusevangelium als Anti-Evangelium wahrgenom‐ men wurde – ähnlich wie Fritz Walter bereits 1954 die Kategorie „Wunder“ verwendet hat –, hat sie sich nicht durchgesetzt, denn sie wird von späte‐ ren Lesarten des Christusereignisses nicht aufgegriffen. Matthäus, Lukas und Johannes lassen keinerlei Beeinflussung durch die Interpretation des Christusereignisses als Anti-Evangelium erkennen. Aus der Perspektive der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie ist das ein Argument gegen diese Rezeptionskategorie. In dieser Lesart ist der Aufstieg Vespasians, der gerade einsetzte, und erst später seine volle Wirkung entfaltete, zeitlich noch zu nah, um als akzeptierte Rezeptionskategorie dienen zu können, mit der sich das Markusevangelium zum Zeitpunkt seiner Verschriftlichung auseinandergesetzt hat. Um 70 n. Chr. war noch nicht klar, was diese neue Dynastie bringen und wie sie das entstehende Christentum beeinflussen würde – ebenso wie 1990 das volle Ausmaß der deutschen Wiedervereinigung noch nicht abgesehen werden konnte. Erst im Laufe der Zeit wurden das wirkliche Potential und die echten Probleme sichtbar, für die Lösungen gesucht werden mussten. In gleicher Weise dürften sich die Veränderungen durch die flavische Dynastie inklusive der sozialen Aufsteigermentalität erst über einen längeren Zeitraum entwickelt haben und auch die Reaktionen darauf brauchten entsprechend Zeit. Daher wäre eine Datierung um 70 n. Chr., ebenso aber auch 73 oder 75 n. Chr. deutlich zu früh für die Annahme, dass das Markusevangelium einen ausgefalteten Gegenentwurf zu Vespasian in Form eines Anti-Evangeliums darstellt, geschweige denn, dass diese Interpretation mit dem traditionellen Material, das das Evangelium ebenfalls bietet, in ein kohärentes Ganzes gebracht wurde, das in beide Richtungen mit Gewinn gelesen werden kann.

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III.3  Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese

Im Vergleich mit der Zeit, die es brauchte, um die Rezeptionskategorie Wunder von Bern zu entwickeln und etablieren, käme das Gegenevangelium im Moment der Erhebung Vespasians eindeutig zu früh, und die kulturwis‐ senschaftliche Forschung mahnt zur Vorsicht, sich diese Hypothese vor‐ schnell zu eigen zu machen. Aus gedächtnistheoretischer Perspektive ist das Fazit damit eindeutig: Die Flavierthese ist als Aussage über den Zeitpunkt und die Umstände der Produktion des Markusevangeliums nicht tauglich, da sie a) eine Rezeptionskategorie voraussetzt, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht entwickelt war und von den unmittelbaren Zeitgenossen nicht weiter tradiert wurde und b) seitens der Jesusnachfolger eine gesicherte Identität annimmt, die es ermöglicht, sich von dieser Rezeptionskategorie abzugrenzen. Das heißt freilich nicht, dass das Markusevangelium und andere neutes‐ tamentliche Texte nicht im historischen Kontext des Römischen Imperiums zu lesen und zu verstehen sind. Im Gegenteil sind Anspielungen auf die römischen Kontexte der neutestamentlichen Texte an vielen Stellen greifbar. Ein Beispiel dafür ist das Lukasevangelium, das in der Kindheitsgeschichte (Lk 1–2) Jesus ganz deutlich Augustus gegenüberstellt und damit auch klar‐ stellt, wer der wahre Retter, Christus und Herr (Lk 2,11) ist. Der Unterschied zwischen Markus- und Lukasevangelium besteht einerseits darin, dass das Lukasevangelium sich mit dem Prinzipat insgesamt auseinandersetzt und das anhand von Augustus tut, gleichzeitig ist es zeitlich deutlich von Augus‐ tus entfernt, bezieht sich also nicht auf tagesaktuelle Ereignisse, sondern auf ein etabliertes politisches Rollenmuster. Das hermeneutische Problem der Flavierthese als Aussage über die Produktionsumstände des Markusevange‐ liums ist damit auch, dass es die imperiumskritischen Anklänge des Textes in unnötiger Weise auf eine ganz bestimmte historische Situation zuspitzt. Das Markusevangelium als Gegenevangelium zum Aufstieg der Flavier zu verstehen, ist demnach eher eine Aussage über das Rezeptionspotential des Textes als über seine Produktionsbedingungen. Wenn wir uns an das Familienalbum aus I.7 zurückerinnern, ist die Flavierthese ein perfektes Beispiel für eine rezeptionsorientierte Lektüre des Markusevangeliums als kollektives Gedächtnis, da sie beantworten kann, wie das Markusevangelium in antiken Interpretationsgemeinschaften wahrgenommen werden konnte. Nachdem mit der Flavierthese Rezeptionsszenarien für Rom untersucht wurden, stellt sich die Frage, wie man den Text wohl in Alexandria, Antiochia, Damaskus, der Dekapolis, Ephesus, Karthago, Korinth oder Philippi verstanden hätte. Da sich die Rezeptionsbedingungen aus Rom nicht

Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Rezeptionskategorien

direkt auf andere Orte übertragen lassen, eröffnet sich hier ein ganz neues Forschungsfeld, das mit den bekannten historischen Methoden und mit einer kulturwissenschaftlichen Hermeneutik bearbeitet werden kann.

Abb. III.10: Übersicht: Rezeptionsorientierte Lektüre in kulturwissenschaftlicher Herme‐ neutik

Auf der Basis einer für diese Orte noch zu erhebenden Enzyklopädie für das ausgehende 1. Jahrhundert ließen sich mögliche Rezeptionsszenarien erheben und mit dem römischen Szenario vergleichen. Alle Szenarien bleiben zwar hypothetisch, fördern aufgrund der für jeden Ort individuell erhobenen speziellen Rezeptionskontexte dennoch ein differenzierteres Verständnis des frühen Christentums.   Literatur Blecking, Diethelm: Das „Wunder von Bern“ 1954. Zur politischen Instrumentalisie‐ rung eines Mythos, in: Historical Social Research 40 (2015), 197–208 (https://doi. org/10.12759/hsr.40.2015.4.197-208; letzter Zugriff: 25.04.2022).

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III.3  Gedächtnistheorie und Entstehungsszenarien biblischer Texte: Die Flavierthese

Busche, Jürgen: Der Mythos von 1954, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (1994 B 24), 13–15. Ebner, Martin: Das Markusevangelium, in: Ebner, Martin; Schreiber, Stefan (Hg.): Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart, 22013, 155–184. Ebner, Martin: Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier, in: Bibel und Kirche 66 (2011), 64–69. Ebner, Martin: Evangelium contra Evangelium. Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier, in: BN 116 (2003) 28–42. Eder, Jacob Sebastian: Das „Wunder von Bern“. Rezeptionsgeschichte eines deut‐ schen Mythos, www.das-wunder-von-bern.de/Rezeptionsgeschichte.pdf (letzter Zugriff: 25.05.2022). Heinrich, Arthur: The 1954 Soccer World Cup and the Federal Republic of Germany’s self-discovery, in: American Behavioral Scientist 46 (2003), 1491–1505. Huebenthal, Sandra: Anti-Gospel revisited, in: Synder, Julia; Zamfir, Korinna (Hg): Reading the ‘political’ in Jewish and Christian texts, in: Biblical Tools and Studies 38 (2020), 137–158. Kasza, Peter: 1954 – Fußball spielt Geschichte. Das Wunder von Bern, Bonn 2004.

III.4 Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken Bei der Aushandlung frühchristlicher Identitäten geht es, je weiter sich die Erinnerungsgemeinschaften von ihrem Ursprung entfernen, auch darum, welche Traditionen und Identitätsentwürfe verlässlich sind und wie sie autorisiert werden. Jenseits des Dreigenerationengedächtnisses droht die lebendige Verbindung zu den Ursprüngen abzureißen, entspre‐ chend braucht es Brücken über den Floating Gap, die eine stabile Verbin‐ dung zu den fundierenden Ereignissen garantieren und so Kontinuität herstellen. Eine Möglichkeit sind dabei autorisierte Traditions- oder Tradentenketten, die im zweiten Jahrhundert eine Rolle spielen und in kulturwissenschaftlicher Lesart als Strategien bei der Identitätsbildung am Krisenpunkt des Floating Gap erscheinen.

Rezeptionskategorien orientieren sich an den Bedürfnissen derjenigen, die sie entwickeln Kulturwissenschaftlich gesehen, werden die meisten Geschichten – und das betrifft besonders Geschichten über historische Ereignisse, die im faktualen Modus versprachlicht werden – nicht erzählt, um Informationen darüber zu transportieren, was passiert ist, sondern um zu erklären, warum die Dinge so sind, wie sie (jetzt) sind. Geschichten sagen üblicherweise mehr über die Gegenwart als über die Vergangenheit aus. Die Erklärung, was passiert ist oder was passiert sein könnte, ist immer vom Bedürfnis getrieben, dem vorliegenden Material Sinn abzugewinnen. Die Vergan‐ genheit wird dabei gemäß den Bedürfnissen der Gegenwart und mittels in dieser Zeit verfügbarer und relevanter Kategorien, Muster und Genres wahrgenommen. Wir bleiben noch ein wenig bei dieser Erkenntnis und nehmen einen anderen Aspekt der These, das Markusevangelium sei als Antievangelium zum Aufstieg der Flavier entstanden, als Ausgangspunkt. Im letzten Kapitel hat sich gezeigt, dass das Potential imperiumskritischer Lektüren

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III.4  Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken

wie der Flavierthese darin liegt, dass sie erheben, wie ein Text von einer bestimmten Leserschaft verstanden worden sein könnte. Ob antike Leser das Markusevangelium tatsächlich so verstanden haben, lässt sich mangels Textzeugnissen nicht verifizieren. Überhaupt haben wir wenige Zeugnisse über das Markusevangelium aus den ersten Jahrhunderten. Das älteste erhaltene Manuskript des Evangeliums, P45, datiert erst aus dem dritten Jahrhundert. Markus, so scheint es, stand in der frühen Kirche nicht hoch im Kurs. Predigten und Kommentare sind eher zu Matthäus überliefert. Die einzigen Aussagen zum Markusevangelium, die etwas älter sind, betreffen nicht die Auslegung, sondern die Entstehung des Textes und ordnen ihn einem konkreten Autor zu, zu dem eine eigene Traditionsge‐ schichte erzählt wird. Die älteste Tradition zur Überlieferung des Markus‐ evangeliums findet sich bei Papias von Hierapolis, (ca. 70–160 n. Chr.) und stammt aus seiner Schrift Erklärung von Herrenworten, die um 110– 130 n. Chr. datiert wird. Damit gehört Papias mit seinem Text in die 5. urchristliche Generation und ist ein Zeitgenosse der jüngsten Schriften des Neuen Testaments. Wie die Graphik zeigt, fallen die Papiasfragmente in den Zeitraum des Floating Gap und das Problem der Traditionssicherung betrifft damit auch ihn. Wie wir im Folgenden sehen werden, löst Papias das Problem über eine Tradentenkettte, die die lückenlose, personalisierte und autorisierte Weitergabe der Tradition garantiert. Bei der Pseudepigraphie haben wir gesehen, dass die Zuschreibung (und damit Autorisierung) einer Tradition an einen Traditionsgaranten aus einer früheren Generation nicht auto‐ matisch heißt, dass es sich um eine authentische oder „echte“ Tradition handelt, sprich: dass es historisch wirklich so gewesen ist. Dieselbe Ver‐ mutung lässt sich auch für Traditionsketten anstellen und dabei zeigt sich, dass auch intuitiv verständliche Traditionen erfunden sein können. Die Arbeit an antiken Beispielen ist dabei zwar mitunter etwas kompliziert, lohnt den Aufwand aber.

Rezeptionskategorien orientieren sich an den Bedürfnissen derjenigen, die sie entwickeln

Abb. III.11: Übersicht: Neutestamentliche Textgruppen und Papiasfragmente

Das fünfbändige Werk zu Erklärung der Herrenworte aus der Feder des Papias ist verloren und nur in einzelnen Fragmenten erhalten, die bei späteren Kirchenschriftstellern überliefert sind. Sprich: Wir bekommen Papias nur aus zweiter Hand, was immer die schlechtere Alternative ist, aber dennoch besser als nichts. In Eusebs Kirchengeschichte, die in mehreren Auflagen zwischen 290 und 325 n. Chr. entstanden ist, ist zu Papias zu lesen: Von Papias werden fünf Bücher überliefert. Sie tragen auch den Titel: „Erklärungen von Herrenworten“. Auch Irenäus erwähnt sie und bemerkt, sie seien das einzige von Papias verfaßte Werk. Irenäus schreibt: „Dies bezeugt schriftlich Papias, ein Hörer des Johannes, ein Freund des Polykarp, ein Mann aus alter Zeit, in seinem vierten Buche. Fünf Bücher hatte er nämlich verfaßt.“ 76

Euseb zitiert Papias nicht direkt, sondern schließt zunächst eine längere Einführung und historische Verortung des Papias, der zeitlich gute 200 Jahre von ihm entfernt ist, an. Auch Irenäus von Lyon (ca. 135–200 n. Chr.), der ebenfalls gute 150 Jahre von Euseb (ca. 260–340 n. Chr.) entfernt ist, wird in diesem Zusammenhang erwähnt. Erst nachdem beide eingeführt sind, widmet sich Euseb dem, was Papias tatsächlich geschrieben hat. Die Vorrede des Euseb wird uns noch beschäftigen, doch schauen wir zunächst, was er zur Entstehung des Markusevangeliums überliefert. Eine Passage ist dabei von besonderer Bedeutung:

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Eus. h.e. III 39,1, nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/kircheng eschichte-bkv-2/divisions/83 (letzter Zugriff: 25.04.2022).

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III.4  Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken

Er schreibt: „Auch dies lehrte der Presbyter: Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht ordnungsgemäß, aufgeschrieben. Denn nicht hatte er den Herrn gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, daß er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Bericht keiner Lüge schuldig zu machen.“ So berichtete Papias über Markus. Bezüglich Matthäus aber behauptete er: „Matthäus hat in hebräischer Sprache die Reden zusammengestellt; ein jeder aber übersetzte dieselben so gut er konnte“.77

Wenn man mit diesen Informationen zur Flavierthese zurückkehrt, ist es noch deutlicher, dass sie zwar eine genaue Vorstellung davon hat, in welchem Kontext das Markusevangelium entstanden ist, wie es gelesen werden will und welche Pragmatik es hat, aber nicht erklärt, wie es genau entstanden ist und wer es mit welcher Intention verfasst hat. Diese Lücke zeigt auch, dass es sich bei imperiumskritischen Lektüren des Markusevangeliums um rezeptionsorientierte Lesarten handelt, und nicht um produktionsorientierte. Die Papias-Tradition spielt für die Flavierthese praktisch keine Rolle. Das mag zunächst überraschen, weil wir es beim Markusevangelium mit der PapiasTradition, die im Autor Johannes Markus einen Petrusschüler sieht, der den Evangelientext in Rom abgefasst hat, mit einer eingängigen Geschichte zu tun haben, die in der Zeit der frühen Kirche als plausibel galt, die weitertradiert wurde und noch immer Teil des christlichen kulturellen Gedächtnisses ist. Bei der Flavierthese geht es weniger um die Person des Markus als um die Umstände der Produktion des Evangeliums, also den literarischen Kontext. Eine der Grundannahmen der Flavierthese ist die Verbindung zur Bios(βίος-) oder Vita-Literatur, von der angenommen wird, dass sie zu dieser Zeit im römischen Imperium en vogue war und eine Fülle von Texten dieses Genres befördert hat. Martin Ebner zufolge war es in der Zeit der flavischen Kaiser (69–96 n. Chr.) gefährlich, Viten zu veröffentlichen, produzieren oder auch einfach nur zu besitzen, die „nicht ‚politisch korrekt‘ ausfielen; Viten, in denen das Lebensbild von Menschen gezeichnet wurde, die den Machtanspruch der flavischen Kaiser in Frage stellten oder ihnen gar die

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Eus. h.e. III 39,15–16, nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/kirc hengeschichte-bkv-2/divisions/83 (letzter Zugriff: 25.04.2022).

Tradentenketten und die Überbrückung des Floating Gap

Stirn boten.“78 Der Zweck einer solchen Vita dürfte es Ebner zufolge gewesen sein, die eigene politische Option zu verteidigen oder gar zu propagieren. Diese Erkenntnis macht die Frage, wer ein Interesse an einem solchen Projekt gehabt haben könnte, sowie die Mittel, sich hier zu engagieren, umso interessanter. Zu diesem Punkt, der Alphabetisierungsquoten, sozialen Status und politische Verbindungen betrifft, aber auch zur Frage, ob christ‐ liche Gruppen in Rom so kurz nach der Neronischen Verfolgung wirklich daran interessiert gewesen sind, weitere Anlässe für Schwierigkeiten zu schaffen, findet sich in der Literatur nichts. Der zentrale Grund dafür dürfte sein, dass wir keine unabhängigen Zeugnisse haben, die die Gruppen der Jesusnachfolger in Rom in der Zeit des jüdisch-römischen Krieges und der Flavier sozial und theologisch kontextualisieren. Wir wissen schlicht nicht, wer zu dieser Zeit welche Rolle in den Gemeinden gespielt hat, und jenseits des Römerbriefs sind Zeugnisse zur Entwicklung der christlichen Gemeinde in Rom, die für unsere Fragen interessant sind, mehr als dürftig (anders gesagt: nicht vorhanden). Tradentenketten und die Überbrückung des Floating Gap Die Kirchenschriftsteller sind dabei, wie wir gleich genauer sehen wer‐ den, keine Hilfe. Es ist daher nicht verwunderlich, dass niemand auf den Gedanken kommt, Bischof Linus sei in den Prozess der Produktion, Rezeption und Verbreitung des Markusevangeliums einbezogen gewesen, obwohl er nach dem Zeugnis – oder besser: der Gründungsgeschichte bzw. dem Masternarrativ – der Kirchenväter zu diesem Zeitpunkt für die Kirche in Rom verantwortlich war. Zu offensichtlich ist, dass Linus eine Erinnerungsfigur aus späterer Zeit ist, die „gefunden“ wurde, um den Bedarf der christlichen Gemeinschaft nach Kontinuität zu bedienen. Mit Linus begegnen wir weniger einer Person als einer Erinnerungsfigur und damit einer antiken Rezeptionskategorie, die deutlich nach den Ereig‐ nissen etabliert wurde und die Bedürfnisse ihrer eigenen Generation im ausgehenden 2. Jahrhundert bediente, in diesem Falle das Bedürfnis nach

78

Martin Ebner: Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichtswer‐ ken. Vitenliteratur im Verhältnis zur Historiographie in hellenistisch-römischer und urchristlicher Literatur, in: Thomas Schmeller (Hg.): Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA 69), Göttingen 2009, 34–61, 50.

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III.4  Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken

einem stabilen Anfang und ungebrochener Kontinuität. Bei Irenäus von Lyon ist in seiner apologetischen Schrift Adversus haereses im Hinblick auf die Geschichte der Kirche Roms zu lesen: Nachdem also die seligen Apostel die Kirche gegründet und eingerichtet hatten, übertrugen sie dem Linus den Episkopat zur Verwaltung der Kirche. Diesen Linus erwähnt Paulus in seinem Briefe an Timotheus. 79

Es ist offensichtlich, dass es Irenäus gut einhundert Jahre nach der Entste‐ hung des Markusevangeliums nicht um plausible Entstehungsszenarien im historischen Sinne oder die Geschichte der römischen Christen geht, sondern darum, eine Verbindung zu den Ursprüngen herzustellen und auf diesem Weg eine Tradition abzusichern. Auch hier zeigt sich, dass es die Gegenwart ist, die die Vergangenheit nach ihren Bedürfnissen formt. Dafür ist eine Person, die in einem neutestamentlichen Text oder zumindest einem Textzeugnis, das in die Gründungsgeneration verweist, wie der Zweite Timotheusbrief (2 Tim 4,21) es tut, höchst willkommen. An anderer Stelle schreibt Irenäus im gleichen Werk: Sollte […] über eine unbedeutende Frage ein Zwiespalt entstehen, dann muß man auf die ältesten Kirchen zurückgehen, in denen die Apostel gewirkt haben, und von ihnen die klare und sichere Entscheidung über die strittige Frage annehmen. Hätten nämlich die Apostel nichts Schriftliches uns hinterlassen, dann müßte man eben der Ordnung der Tradition folgen, die sie den Vorstehern der Kirchen übergeben haben. 80

Es ist nicht zu übersehen, dass das zentrale Thema die Absicherung von Traditionen ist. Ein ähnliches Phänomen, nämlich die Frage danach, wie die Gründungsgeneration eine Frage gelöst haben würde, ist uns bereits bei der Pseudepigraphie begegnet. Hier taucht sie in abgewandelter Form ein zweites Mal auf. Der Unterschied ist, dass die pseudepigraphen Briefe des Neuen Testaments der dritten frühchristlichen Generation zugeordnet werden, während Irenäus in die sechste Generation gehören dürfte. Der Abstand zu den Gründungsereignissen hat sich in dieser Zeit deutlich vergrößert. Während es die neutestamentliche Pseudepigraphie mit dem Generational Gap zu tun hat, treibt Irenäus eher der Floating Gap um.

79 80

Iren. haer III 3,3, nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-1306/versions/gegen-di e-haresien-bkv/divisions/414 (letzter Zugriff: 25.04.2022). Iren. haer. III 4,1, nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-1306/versions/gegen-d ie-haresien-bkv/divisions/417 (letzter Zugriff: 25.04.2022).

Tradentenketten und die Überbrückung des Floating Gap

In kulturwissenschaftlicher Terminologie geht es Irenäus um die Überbrü‐ ckung des Floating Gap. Dazu ist eine Tradentenkette ein probates Mittel. Irenäus ist weder der erste noch der einzige, der mit dieser Strategie arbeitet und vermittels einer Tradentenkette Erinnerungsgeschichte schreibt. Auch ist Linus nicht der Einzige, der bei Irenäus Teil einer Tradentenkette ist. Polykarp von Symrna, von dem in Kapitel I.4 die Rede war, und der gut 80 Jahre nach Paulus ebenfalls einen Brief an die Gemeinde in Philippi geschrieben hat, ist ebenfalls Teil einer solchen Tradentenkette. In seinem Brief an Florinus teilt Irenaeus einige seiner Kindheitserinnerungen an Polykarp: Daher kann ich auch noch den Ort angeben, wo der selige Polykarp saß, wenn er sprach, auch die Plätze, wo er aus- und einging, auch seine Lebensweise, seine körperliche Gestalt, seine Reden vor dem Volke, seine Erzählung über den Verkehr mit Johannes und den anderen Personen, welche den Herrn noch gesehen, seinen Bericht über ihre Lehren, ferner das, was er von diesen über den Herrn, seine Wunder und seine Lehre gehört hatte. 81

Schauen wir noch etwas genauer hin: Der zugrundeliegende Gedanke ist, dass es in der Ekklesia insgesamt eine ungebrochene Kette von Zeugen gibt. In seinem Brief an Florinus erwähnt Irenäus vier Generationen: Jesus – Johannes – Polykarp – und sich selbst. Bei Papias, der Irenäus zufolge nicht nur in zeitlicher, sondern auch in örtlicher Hinsicht ein Zeitgenosse Polykarps ist, da sowohl Hierapolis als auch Smyrna in Kleinasien liegen, findet sich ebenfalls eine Tradentenkette: Petrus – Markus – Presbyter Johannes – Papias. Auch Euseb bietet, wie wir gesehen haben, im Zusammenhang mit dem Markusevangelium die Tradentenkette des Papias. Allerdings tut er das nicht ohne Kontextualisierung, denn im Kapitel zuvor lässt er seine Leser bereits Folgendes zum Markusevangelium wissen: Da sich nunmehr das göttliche Wort dort ausbreitete, erlosch die Macht des Simon und verschwand sofort schon mit seiner Person. So sehr erleuchtete das Licht der Religion die Herzen der Zuhörer des Petrus, daß sie sich nicht damit begnügen wollten, ihn ein einziges Mal nur gehört zu haben, sie wollten von der Lehre seiner göttlichen Predigt auch Aufzeichnungen besitzen. Daher wandten sie sich mit verschiedenen Bitten an Markus, den Verfasser des Evangeliums, den Begleiter des

81

Eus. h.e. V 20 nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/kirchengesc hichte-bkv-2/divisions/136 (letzter Zugriff: 25.04.2022).

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III.4  Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken

Petrus, er möchte ihnen schriftliche Erinnerungen an die mündlich vorgetragene Lehre hinterlassen. Und sie standen nicht eher von den Bitten ab, als bis sie den Mann gewonnen hatten. So wurden sie die Veranlassung zum sog. Markusevangelium. Nachdem Petrus durch eine Offenbarung des Geistes von dem Vorfalle Kenntnis erhalten hatte, soll er sich über den Eifer der Leute gefreut und die Schrift für die Lesung in den Kirchen bestätigt haben.82

Die Schilderung ist insgesamt recht erhellend und setzt einen mehrstufigen Prozess voraus: Markus ist Papias zufolge der Hermeneut (ἑρμηνευτής, her‐ meneutēs: Erklärer oder Übersetzer) des Petrus und hat dessen Lehrvorträge über die Worte Jesu zusammengestellt. Wir haben es demnach mit einer dreigliedrigen Überlieferungskette Jesus – Petrus – Markus zu tun. Auch die Pragmatik des Unternehmens ist klar: Es geht darum, die Worte Jesu für die späteren Generationen, die weder Jesus selbst noch Petrus hören können, zu sichern. Interessant ist hier auch, dass Euseb das Markusevangelium nicht über Papias und sein Zeugnis autoritativ absichert, sondern über eine Offenba‐ rung des Geistes, die Petrus selbst erhalten habe. Der Text wird also durch eine Autorität der ersten Generation (und sogar durch göttliche Autorität) abgesichert. Warum nicht über Papias? Vermutlich, weil Euseb mit Papias ein theologisches Problem hat und keine Gelegenheit auslässt, ihn zu diskreditieren. Der Hintergrund dürfte sein, dass Papias dem Chiliasmus nahestand, den Euseb als Häresie ablehnt. Also scheidet Papias für Euseb als verlässlicher Zeuge aus. Gleichwohl ist die Verbindung Petrus-Markus zu Eusebs Zeiten bereits eine feste Tradition, an der er nicht vorbeikommt. Generationen und Tradentenfragen Die Papiasnotiz ist ein Musterbeispiel für die Schwierigkeiten, die durch die Konstruktion von Traditionen entstehen können. Eine ganze Reihe von Problemen mit dem Markusevangelium entsteht erst, wenn man die MarkusPetrus-Tradition, die zuerst bei Papias auftaucht, ernstnimmt. „Niemand würde hinter der eigenständigen Theologie des Markusevangeliums die

82

Eus. h.e. II 15, nach BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3495/versions/kirchenges chichte-bkv-2/divisions/32 (letzter Zugriff: 25.04.2022).

Generationen und Tradentenfragen

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Person des Petrus vermuten, wenn es nicht jene Papiastradition gäbe!“, sagt Udo Schnelle völlig zu Recht.83 Euseb hätte demnach das Problem einer Tradition, deren Tradenten er nicht gebrauchen kann. Eine kreative Lösung dieses Problems besteht darin, den unzuverlässigen Zeugen einfach zu umgehen, indem die Tradition eine Generation vorverlegt wird. So weit, so gut. Doch das ist nicht das Einzige, was Euseb (260–340 n. Chr.) geraderückt. Er verändert auch die Chronologie des Irenäus von Lyon (135–200 n. Chr.): Irenäus lässt Papias direkt auf den Lieblingsjünger Johannes folgen, den er zu diesem Zweck bis in die Zeit Trajans (98–117 n. Chr.) leben lässt und damit zu einem späten Angehörigen der dritten Generation – und damit des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses – macht. Das muss man nochmals genauer anschauen: Papias selbst sieht sich in der vierten Generation: Jesus – Johannes – der Presbyter Johannes und Aristion – er selbst. Wenn wir die gedächtnistheoretischen Begriffe nutzen, steht Papias damit jenseits des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses und jenseits des Floating Gap 84. Er gehört damit in die Zeit, die auf halbwegs feste Traditionen und Externalisierungen des kollektiven Gedächtnisses samt Verengung des Traditionsstroms und Durchsetzung einer leitenden Perspektive zurückblickt oder diese sichern will. In dieser zeitlichen Veror‐ tung wird sein Werk verständlich: Eine Sammlung von Traditionen und Paratexten, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Autor

1. Generation

2. Generation

3. Generation

4. Generation

Papias

Jesus Jesus

Apostel Johannes

Apostelschüler Aristion/ Johannes der  Presbyter

Papias

Generational Gap

5. Generation

Floating Gap

Abb. III.12: Frühchristliche Generationen nach Papias

83 84

Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 92017, 267. An diesem Beispiel wird deutlich, wie volatil der Floating Gap ist. Während er in den Graphiken bisher idealtypisch eher am Ende der 80–120 Jahre dargestellt wurde, scheint er in diesem Falle früher anzusiedeln zu sein. Um das zu verdeutlichen, wird der Floating Gap in diesem Beispiel auf seine volle mögliche Länge, 80–120 Jahre nach dem Ereignis, in diesem Falle die gesamte 4. Generation, ausgedehnt.

310

III.4  Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken

Für ein Generationenmodell ist Papias ein interessanter Fall, weil er – von Jesus aus gedacht – in die vierte Generation gehört: Jesus – Apostel – Apostelschüler – Nachgeborene, und diese Gruppe in die Zeit, der der Floating Gap gehört, die mit der Sicherung der Traditionen in Form von Medienwechseln befasst ist. Erste Verschriftlichungen sind in Form von Ex‐ ternalisierungen kollektiver Gedächtnisse wie (Paulus-)Briefen, Evangelien und Pseudepigraphie bereits entstanden. Am Ende des Dreigenerationen‐ gedächtnisses ist klar, dass das, was nicht bereits in ein anderes Medium überführt wurde, über kurz oder lang in Vergessenheit geraten und damit für spätere Generationen verloren sein wird. Papias geht hier – wenn sich das überhaupt noch aus den Fragmenten rekonstruieren lässt – den Weg, dass er enzyklopädisch arbeitet. Er scheint sowohl die Jesustraditionen selbst zu sammeln als sie auch mit Paratexten ausführlich zu kommentieren. Seine fünf Bücher über die Auslegung von Herrenworten klingen stark nach einer Quellensammlung von identitätsstiftenden Texten samt Überlieferungsweg und Traditionsgaranten, die erklären, warum es genau diese Texte sind, die als Identitätstexte gelesen und bewahrt werden sollen. Was macht Euseb in seiner Kirchengeschichte? Er „verschiebt“ Papias in die dritte Generation – und damit diesseits des Floating Gap. Papias ist bei Euseb Teil der lebendigen Traditionskette, die Garant für die Authentizität von Traditionen, z. B. die Petrus-Markus-Tradition, ist. Der Knackpunkt scheint dabei zu sein, dass der Floating Gap irgendwie überbrückt werden muss. Eine Möglichkeit sind dafür Texte, die bereits eine gewisse Tradition haben. Eine weitere Option für diese Brücke sind Tradentenketten, die eine gewisse Autorität verleihen. Autor

1. Generation

2. Generation

3. Generation

Papias

Jesus Jesus

Apostel Johannes

Irenäus

Jesus

Johannes

Apostelschüler Aristion/ Johannes der  Presbyter Papias

Generational Gap

4. Generation

5. Generation

Papias

(Irenäus) Floating Gap

Abb. III.13: Frühchristliche Generationen nach Papias und Irenäus

Die Petrus-Markus-Tradition und die Jesus-Johannes-Presbyter-Papias-Tra‐ dition sind nicht die einzigen Tradentenketten des frühen Christentums,

Generationen und Tradentenfragen

311

wenngleich sie – neben der Johannes-Polykarp-Irenäus-Tradition – die bekanntesten sind. Doch nicht nur Autoren, die später als orthodox oder rechgläubig anerkannt wurden, operierten mit solchen Tradentenketten, sondern auch die vermeintlichen Häretiker. Das lässt vermuten, dass Tradentenketten ebenfalls Strategien in frühchristlichen Identitätsdiskursen waren und einen bestimmten Zweck erfüllten. Der zugrundeliegende Gedanke der Traditionsketten ist, dass es in der Kirche insgesamt eine ungebrochene Kette von Zeugen gibt. Solche Traden‐ ten- oder Traditionsketten tauchen im zweiten Jahrhundert an mehreren Stellen auf. In seinem Brief an Florinus erwähnt Irenäus vier Generationen: Jesus – Johannes – Polykarp – und sich selbst. Bei Clemens von Alexandrien werden die Traditionsketten Petrus – Glaukias – Basilides – Gegenwart, und Paulus – Theodas – Valentinus – Gegenwart als ausgedacht – und damit unecht – gescholten (Strom 7,106,4). Die Visualisierung gibt einen Überblick über die Traditionsketten, die uns bislang begegnet sind. Autor

1. Generation

2. Generation

3. Generation

Papias

Jesus Jesus

Apostel Johannes

Jesus Jesus Jesus

Petrus Johannes Johannes Petrus Paulus

Apostelschüler Aristion/ Johannes der  Presbyter Timotheus/Linus Papias Polykarp Glaukias Theodas

Irenäus Irenäus Irenäus Clemens Clemens

Generational Gap

4. Generation

5. Generation

[Papias]

Irenäus Basilides Valentinus

[Gegenwart ] [Gegenwart]

Floating Gap

Abb. III.14: Frühchristliche Generationen nach Papias, Irenäus und Clemens

Offensichtlich handelt es sich um ein verbreitetes Phänomen. Die Frage nach der Bedeutung dieser Traditionsketten wird uns nochmals beschäftigen. Hier geht es zunächst nur darum, dass Papias Teil einer solchen Kette rechtgläubiger Zeugen ist. Im Falle des Papias selbst scheint – soweit sich seine Argumentation aus den Fragmenten noch erheben lässt – der Fall recht einfach: Papias nutzt die Petrus-Markus-Tradition zu Apologiezwecken: Das Markusevangelium als existierender oder umlaufender Text wird angefragt. Ob von innen (= andere Tradition) oder von außen (= generelle Zweifel) ist zunächst einmal irrelevant. In dieser Situation erklärt Papias den Markustext

312

III.4  Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken

nicht für obsolet, sondern „rettet“ ihn. Sein Argument ist die bedarfsorien‐ tierte Predigt des Petrus, die von einem Augenzeugen erinnert wird und damit identitätsstiftend, wenn auch nicht unbedingt historisch zuverlässig ist. Da es aber nicht um Geschichte, sondern um Identität (oder Theologie) geht, ist das nicht allzu tragisch. Papias zufolge bewahrt Markus den Vortrag des Petrus in einem ande‐ ren Medium auf, das freilich nicht so verlässlich ist wie die lebendige Stimme. Die mangelnde Verlässlichkeit des Markus wird bei Papias auf die Ordnung (taxis, τάξις) bezogen und von den exegetischen Forschern gern im Sinne historischer Verlässlichkeit verstanden. Da Papias in der Forschung gerne auf Einleitungsfragen reduziert wurde (die ihrerseits von einer sehr stereotypen Topik geprägt sind), ist es durchaus möglich, dass man hier am eigentlichen (Erkenntnis-)Interesse des Papias vorbei forscht. Wenn Papias lieber die viva vox hört, geht es ihm weniger um historische als um theologische Verlässlichkeit – und damit das gleiche, was auch Lukas in seinem Prolog Lk 1,1–4 ausdrücken will. Die Versicherung, die hier angestrebt wird, ist eine Versicherung der eigenen Identität, die auch auf einschlägigen Traditionsgaranten beruht. Papias bedient sich hier also einer einschlägigen Strategie – der des Traditionsgaranten. Die Frage, warum Papias eine Lanze für Markus gebrochen hat, lässt sich aufgrund der Textbasis demnach befriedigend beantworten: um einen Text qua Einbindung in eine ungebrochene Traditionskette zu autorisieren und gegen Anfechtungen von innen und/oder von außen als authentisch zu erweisen und verteidigen. Der originale Markustext als anonymes Schreiben der dritten Generation hatte, wie wir gesehen haben, dieses Problem nicht. Da sprach der Text noch für sich selbst und war die unangefochtene Gründungserzählung einer Gruppe. Mit dem Auftauchen des Matthäusevan‐ geliums – unabhängig davon, ob dieses zweite Evangelium von Beginn an mit dem Namen Matthäus verbunden war oder nicht – ändert sich die Lage deutlich. Wenn Irenäus Papias nun ins lebendige Dreigenerationengedächtnis und vor den Floating Gap verschiebt, hilft das auch seiner eigenen Argumen‐ tation, denn es macht Papias wiederum zum Teil einer rechtgläubigen Tradentenkette. Euseb hat diesen Bedarf rund 200 Jahre später nicht mehr, denn das viergestaltige Evangelium, das Irenäus noch verteidigen musste, ist nun unangefochten. Sein Problem ist der Tradent Papias, der sich in eine theologisch problematische Richtung entwickelt hat. Doch dieses Problem

Papias und die Fragen am Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis

313

ließ sich leicht beheben, indem Papias wieder in die vierte Generation zurückbefördert wurde. Autor

1. Generation

2. Generation

3. Generation

Papias 

Jesus Jesus

Apostel Johannes

Irenäus Euseb

Jesus Jesus

Johannes Petrus

Apostelschüler Aristion/ Johannes der  Presbyter Papias Markus

Generational Gap

4. Generation

5. Generation

Papias

[Irenäus] Papias Polykarp Ignatius

[Irenäus]

Floating Gap

Abb. III.15: Frühchristliche Generationen nach Papias, Irenäus und Euseb

Papiasʼ gesammelte Herrenworte werden im Laufe der Zeit weniger relevant als seine Kommentare. Die Traditionen sind – so lässt sich vermuten – bereits in andere Identitätstexte wie beispielsweise die Evangelien ein‐ gegangen, die von den Jesusnachfolgern hochgeschätzt werden und die nicht durch Kommentare zu ihrer Entstehung und Überlieferung unterbro‐ chen werden. In kanonisierten und insbesondere Heiligen Texten (wie Identitätstexten allgemein) stören solche Einschübe und sind maximal am Anfang oder Ende eines Werkes vertretbar, wo sie beim Vortrag entweder zelebriert oder weggelassen werden können, wie das bei Lk 1,1–4 oder dem Johannesprolog möglich ist. Papias und die Fragen am Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis Papias hat nach allem was sich rekonstruieren lässt, womöglich einen anonymen Text der dritten Generation gerettet, indem er ihn in eine autoritative Tradition gestellt hat. Am Übergang vom lebendigen Dreige‐ nerationengedächtnis in die nachfolgende Zeit hat er sich offenkundig darum bemüht, so viele Traditionen wie möglich zu sichern. Die Tragik des Papias, die zum Verlust seiner Texte geführt hat, könnte dabei darin liegen, dass er das falsche Genre gewählt hat: Papias hat gewissermaßen ein Kompendium des Wissens um die identitätsrelevanten Traditionen der

314

III.4  Am Übergang zum kulturellen Gedächtnis: Den Floating Gap überbrücken

Jesusnachfolger am Beginn des zweiten Jahrhunderts verfasst. Dafür war in dieser Zeit aber offensichtlich kein Bedarf. Vielleicht, weil es auch jetzt noch keine „Gesamtkirche“ gab. Das ist bei Euseb anders und es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass Papias und Euseb in einem ganz ähnlichen Genre geschrieben haben. Eusebs Zeit hatte diesen Bedarf und die historischen Voraussetzungen für ein Werk, das die orthodoxen Traditionen sichert. Womöglich wäre Papias in einer Zeit, in der auch der Zweite Petrusbrief entstanden ist, mit einem pseudepigraphen Testament, wie beispielweise einem Aristionbrief, besser gefahren. Zum anderen wurde ihm wohl zum Verhängnis, dass er mit dem Chiliasmus einer falschen Lehre anhing und so aus späterer Perspektive doch nicht als Brückenbauer über den Floating Gap taugte. Entsprechend blieben in späteren Texten nur seine Kommentare erhalten und wurden den dortigen Argumentationen dienstbar gemacht, in denen er schließlich zu einem Glied in einer Tradentenkette wurde – und zwar ironischerweise der Tradentenkette für die fundierenden Texte der späteren Christenheit, die in der Orthodoxie überlebt hat. Die kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Tradentenketten lässt sie als Strategien in frühchristlichen Identitätsdiskursen sichtbar werden und ermöglicht so ein neues Verständnis von Traditionsketten. Offenbar dienten solche Ketten von Zeugen in den Diskursen des zweiten (und dritten Jahrhunderts) der Legitimation umlaufender Traditionen. Wie wir es aus der Pseudepigraphie kennen, wird in einer früheren Generation eine Tradition „gefunden“, die für die aktuelle Situation relevant ist. Im Falle der Pseudepigraphie geht es um eine Argumentation ad intra. Paulus wird als Autorität (echt oder konstruiert) in die Argumentation mit aufgenommen. Bei den Zeugenketten, die bei Papias und Irenäus begegnen, erfolgt ebenso wie in der Auseinandersetzung, die Clemens spiegelt, eine Argumentation ad extra: Die Zeugenkette soll die eigene Position im Widerstreit mit anderen christlichen Gruppen absichern. Im Falle von Papias und Polykarp ist das einleuchtend und beinhaltet Zeugen, die auch heute noch bekannt sind. Die bei Clemens erwähnten Zeugen sind jedoch heute weitgehend unbe‐ kannt. Die Diskussion bei Clemens zeigt, dass eine solche argumentative Beweisführung via Zeugen nicht echt sein muss, sondern durchaus auch gut erfunden sein kann. Die Stellen bei Clemens und Irenäus erlauben einen ersten Einblick in die Diskursebene des Papias: Offenbar wurden Traditionsketten bei der Auseinandersetzung mit innerchristlichen Gegnern genutzt, aber nicht bei der apologetischen Auseinandersetzung mit Nicht‐ christen und konnten durchaus auch konstruiert sein. Für Papias heißt

Papias und die Fragen am Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis

das, dass seine Traditionslinie mit einer gewissen Vorsicht zu genießen ist: Nur weil sie sich als orthodox durchgesetzt hat, muss sie noch lange nicht historisch zutreffend sein. Die parallelen Traditionen, in denen Markus als Hermeneut des Petrus auftritt, belegen nicht die Historizität dieser Verbindung, sondern nur ihren Erfolg bei der Argumentation. Daraus lässt sich zweierlei schließen: Zum einen waren solche Zeugenketten offenbar ein gängiges Argument in Auseinandersetzungen und zum anderen gibt es bereits eine Tradition, auf die verwiesen werden konnte. Wir haben es demnach mit einem größeren Abstand zum Gründungsgeschehen zu tun, das bereits jenseits des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses liegt. Für die Frage nach dem Entstehungskontext des Markusevangeliums ist damit wenig Neues gewonnen – außer vielleicht der Erkenntnis, dass die Dinge deutlich komplexer sind, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und die historisch-kritische Exegese zu Recht skeptisch gegenüber den Zeugnissen der Kirchenväter ist, die ihre ganz eigenen Agenden verfolgen. Dass diese Agenden sich zusätzlich über die Zeit verändern, wie sich am Vergleich der Tradentenkette von Irenäus und Euseb zeigt, macht die Sache nicht einfacher und nötigt uns beim Versuch, sie zu verstehen, einiges ab. Die Mühe lohnt sich: Dass Referenzrahmen die Bedürfnisse derer spiegeln, die sie verwenden, wurde in diesem Kapitel ebenso deutlich wie der Umstand, dass an den Ausläufern des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses und am Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis neue Probleme auftauchen und neue Strategien gefunden werden müssen. Zum Beispiel eine Kette von Tradenten.   Literaturhinweise: Ebner, Martin: Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichts‐ werken. Vitenliteratur im Verhältnis zur Historiographie in hellenistisch-römi‐ scher und urchristlicher Literatur, in: Schmeller, Thomas (Hg.): Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA 69), Göttingen 2009, 34–61. Huebenthal, Sandra: Polycarp unchained. How Cultural Studies can enhance Patris‐ tic research, in: Vetera Christianorum 57 (2020), 131–145. Körtner, Ulrich H. J.: Papiasfragmente, in: ders.; Leutzsch, Martin (Hg.): Papiasfrag‐ mente. Hirt des Hermas (SUC 3), Darmstadt 1998, 1–103. Körtner, Ulrich H. J.: Papiasfragmente, in: Pratscher, Wilhelm (Hg.): Die Apostoli‐ schen Väter. Eine Einleitung, Göttingen 2009, 170–191.

315

III.5 Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis In diesem Lehrbuch haben wir uns hauptsächlich mit der Lektüre neutestamentlicher Texte als Zeugnisse des kollektiven Gedächtnisses beschäftigt. Zum Abschluss stellt sich die Frage, was sich verändert, wenn man in der Zeit weiter voranschreitet, sprich: wenn fundierende Ereignisse und Texte zeitlich weiter zurückliegen und aus dem kollektiven ins kul‐ turelle Gedächtnis überführt werden. Bereits im kollektiven Gedächtnis ließen sich Tendenzen zur Einebnung und Vereinheitlichung des Traditi‐ onsstromes erkennen, die sich durchaus als „Kanonisierungstendenzen“ verstehen lassen. Im letzten Kapitel geht es am Beispiel des Konzils von Trient (1545–1563) um eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf das Phänomen des biblischen Kanons, der gewinnbringend auch als kulturelles Gedächtnis verstanden werden kann. Wir kehren zum Abschluss nochmals zurück zu der Vorstellung vom Neuen Testament als Familienalbum. Ein Aspekt der Lektüre des Neuen Testaments als Sammlung von Familienbildern war es, die Entwicklung der Geschichte und Geschichten mit Gott sichtbar zu machen: Wie verändern sich Gottesvorstellung und Selbstverständnis im Laufe der Zeit? Wie werden die Erfahrungen mit Gott, seiner Nähe und seiner gefühlten Abwesenheit, theologisch verarbeitet? Welche Rolle spielen dabei die Kontexte, in denen man lebt? Wie Menschen sich selbst, ihr Umfeld und ihre Geschichte(n) mit Gott erleben, erzählen nicht nur die Bücher des Neuen Testaments, sondern auch die Bibel insgesamt. Wenn man biblische Texte nicht in kanonischer Reihenfolge, sondern im Sinne ihrer Entstehungszeiten chronologisch liest, verstärkt sich dieser Eindruck und vermittelt eine erste Vorstellung davon, wie Gottesglauben und Glaubensgemeinschaft(en) gewachsen sind und sich entwickelt haben. Eine chronologische Anordnung der biblischen Texte macht sichtbar, wie der Glaube an Gott in neuen geschichtlichen und gesellschaftlichen Situationen immer wieder neu er‐ zählt und weiterentwickelt wird. Neue Situationen zwingen dazu, das Alte

318

III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

und Vertraute neu zu durchdenken und sich selbst zu erklären. In diesem Punkt unterscheidet sich die Situation der Israeliten im Babylonischen Exil nicht von der der frühen Jesusnachfolger in der hellenistischen Welt. Die Aufgabe, die eigene Identität angesichts neuer Herausforderungen zu bewahren und zu stärken, ohne dabei starr zu werden, haben sie gleichermaßen. Das betrifft auch konkrete Fragen des Alltags: Wen trifft man, mit wem spricht man, wen berührt man, mit wem teilt man den Tisch und mit wem das Bett? Alle biblischen Texte haben etwas mit der Frage zu tun: Wer sind wir, wer wollen wir sein und wie wollen wir leben? Ob nun mit Amos festgestellt wird, dass die sozialen Zustände nicht haltbar sind oder sich das Deutero‐ nomistische Geschichtswerk nach dem Exil nochmals grundsätzliche Fragen stellt – sozusagen nach der Stunde null die Familiengeschichte sichtet und neu erzählt –, immer geht es um diese Fragen. Aufbruch und Neubeginn spielen dabei eine große Rolle, ebenso Fragen nach Vertrautheit und Grenzen und woran man sie erkennt. Wer ist Freund, wer Feind und wie geht man mit dem Fremden um? Welche Regeln gilt es zu befolgen und wer darf sie aufstellen? Ist ziviler Ungehorsam eine religiöse Pflicht oder ein Aufbegehren gegen Gott? Muss man das womöglich fallweise entscheiden? Und wer liefert dann dafür die Kriterien? Dieses „Familienalbum“ und die Fragen, die es thematisiert, ist den Nach‐ geborenen im Kanon als kulturelles Gedächtnis vor- und aufgegeben. Wenn wir als Christen auf den Kanon des Neuen Testaments schauen, beginnen wir, die Texte nicht nur als kulturelles Gedächtnis zu lesen, sondern auch, sie in emischer Perspektive zu lesen (vgl. I.7). Diese Lektüren als Teil der eigenen Geschichte und Identität sind nicht Gegenstand dieses Lehrbuchs, doch es ist lohnend, zum Abschluss zu fragen, was Kanon als kulturelles Gedächtnis in einer etischen Lesart bedeutet und wie der Kanon der Katholischen Kirche als identitätskonkreter Text entstanden ist. Hermeneutischer Vorspann: Was ist der Kanon? Es gibt viele unterschiedliche Definitionen des Konzepts „Kanon“, und nicht alle sind für unsere Zwecke hilfreich. Um die einfachste Definition, eine Zusammenstellung Heiliger Schriften, die beispielsweise bei Wikipedia zu finden ist, etwas präziser zu fassen, beginnen wir mit zwei Auszügen aus Definitionen, was der Kanon ist.

Hermeneutischer Vorspann: Was ist der Kanon?

Bei Manfred Oeming, einem evangelischen Neutestamentler, ist zu lesen: Unter einem Kanon versteht man eine als vorbildlich, ja dauerhaft verbindlich gedachte Sammlung dichterischer oder künstlerischer Werke, bzw. eine Auswahl mustergültiger Autoren. Der Kanon der Bibel umfasst entsprechend diejenigen Schriften bzw. Autoren, deren Schriften normativ für den christlichen Glauben wurden und die Schriften dessen bilden, was wir heute Bibel nennen. Nur wer diesen Kanon als norma normans kennt, hat einen Maßstab für die ‚gute‘ Literatur, die es wert ist, gelesen zu werden.85

Der katholische Neutestamentler Martin Ebner hat zum Kanon einmal sehr knapp festgehalten: „Die Zusammenstellung eines Kanons im Sinn einer Liste von Schriften, die für das Selbstverständnis einer Gruppe als verbindlich gelten, hat immer mit einem Ausschluss- bzw. mit einem Fixier‐ ungsverfahren zu tun.“86 Die beiden Auszüge zeigen, dass die Frage nach dem Kanon immer auch die Fragen nach der hinter ihm stehenden Lese- und Interpretationsgemein‐ schaft beinhaltet. Die Frage Welcher Kanon? ist damit immer auch die Frage Wessen Kanon? oder, wie es bei Oeming weiter heißt: Bis in die Gegenwart hinein ist der Umfang des Kanons eine Frage der Konfession und der Religion. Dabei geht es nicht um minimale Differenzen an den Rändern, sondern um erhebliche inhaltliche und umfangsmäßige Varianten. Die eine sacra scriptura gibt es nur in der konfessionellen Binnenperspektive. Die ökumenische Weite des Blickes öffnet die Augen für die Tatsache, dass es sacrae scripturae gibt, die jeweils nicht unerhebliche Akzentverschiebungen aufweisen.87

85 86 87

Manfred Oeming: Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes. Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie, in: ZNT 12 (2003), 52–58, 52. Martin Ebner: Der christliche Kanon, in: Martin Ebner / Stefan Schreiber (Hg.): Einlei‐ tung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 9–52, 24. Oeming, Hervorwachsen des Verbindlichen, 52.

319

320

III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

Kanon

Interpretationsgemeinschaft

Welcher Kanon?

Wessen Kanon?

Abb. III.16: Kanon und Interpretationsgemeinschaft

Kanonbildung hat also ganz entscheidend mit einem Identitätsfindungsoder Identitätsbildungsprozess zu tun. Unterschiedliche Kanones geben damit nicht nur Einblick in unterschiedliche theologische Gedanken und Ausrichtungen, sondern indem sie das tun, zeigen sie die Gruppenidentitä‐ ten, von denen her sich diese Ausrichtungen verstehen lassen. Ein Kanon gibt demnach Auskunft über die Verfasstheit der Gruppe, die sich auf ihn bezieht. Das ist es, was Jan Assmann identitätskonkret nennt, wenn er vom kulturellen Gedächtnis spricht. Wie wir in I.3 gesehen haben, bezeichnet kulturelles Gedächtnis Assmann zufolge die kanonisierte Erinnerung einer Gruppe, anhand derer die Gruppe normativ und formativ ihre Identität bestimmt. In diesem Sinne wird das kulturelle Gedächtnis oft auch als Tradition verstanden. Im kulturellen Gedächtnis werden Erinnerungen und Erinnerungsgeschichten stabilisiert und über Generationen hinweg bewahrt. Der zeitliche Rahmen des kul‐ turellen Gedächtnisses ist prinzipiell unbegrenzt, solange die Erinnerung von der Erinnerungsgemeinschaft akzeptiert wird oder die Erinnerungsge‐ meinschaft sich diese Vergangenheit zu eigen gemacht hat. Entsprechend wird das kulturelle Gedächtnis durch soziale Praktiken und Initiationen organisiert, geformt und transportiert. Es manifestiert sich in Texten, Riten, Monumenten, Gedenkveranstaltungen und der Beachtung von Gesetzen und Gebräuchen. Kulturelles Gedächtnis ist nicht beliebig, sondern was immer im aktiven kulturellen Gedächtnis einer Gruppe verankert ist, hat einen rigorosen Selektionsprozess durchlaufen und wird in der Folge für eine lange Zeit in einer bestimmten Art und Weise erinnert und gefeiert werden, wie beispielsweise der Sederabend des Pessachfestes, dessen Feier in der Tora mit den Worten „für die kommenden Generationen macht euch diese Feier zur festen Regel!“(Ex 12,14) festlegt, oder die Eucharistiefeier

Kanon und Interpretationsgemeinschaft

durch die Einsetzungsworten „tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,29; 1 Kor 11,24). Kulturelles Gedächtnis/Tradition ■ kanonisierte Erinnerung einer Gruppe, anhand derer die Gruppe normativ und formativ ihre Identität bestimmt ■ durch soziale Praktiken und Initiationen organisiert, geformt und transportiert. ■ manifestiert sich in Texten, Riten, Monumenten, Gedenkveranstaltun‐ gen und der Beachtung von Gesetzen und Gebräuchen ■ erinnert nicht Geschichte als solche, sondern das geschichtliche Konstrukt einer Gruppe, sofern es Relevanz für die Mitglieder der Gruppe hat Das kulturelle Gedächtnis bezieht sich auf zentrale Punkte der Vergangen‐ heit, die für die Gegenwart (und Zukunft) bewahrt werden. Es ist jedoch keine reine Re-Präsentation einer objektiven Vergangenheit. Die vergange‐ nen Ereignisse werden gewönlich in eine symbolische Gestalt gebracht, die als Erinnerungsträger fungiert. Was auf den ersten Blick wie eine unzulässige Vermischung von Fakt und Fiktion erscheint, wird auf den zweiten Blick sinnvoll: Kulturelles Gedächtnis erinnert nicht Geschichte als solche, sondern lediglich das geschichtliche Konstrukt einer Gruppe, insofern es eine aktuelle Relevanz für die Mitglieder der Gruppe hat. Nicht die Geschichte an sich ist für die Erinnerungsgemeinschaft interessant, sondern die erinnerte Geschichte. Diese ist jedoch nie neutral, und so ist auch die Erinnerung interessegeleitet: Meist wird sie entweder als Motor für Wachstum und Entwicklung oder als Grundlage der Kontinuität verstanden. Kanon und Interpretationsgemeinschaft Wenn Kanon und Interpretationsgemeinschaft zusammengehören, lautet die entscheidende Frage, ob der Kanon die Interpretationsgemeinschaft konstituiert oder die Interpretationsgemeinschaft einen Kanon festlegt, der ihr als normativ gilt. Sowohl die eine wie auch die andere Position wurde im Laufe der Zeit vertreten, was auch zeigt, dass sich die Frage nicht eindeutig klären lässt. Im Anschluss an Maurice Halbwachs und seine Erkenntnis,

321

322

III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

dass Erinnerung immer an sozio-kulturelle Kontexte gebunden ist, die sie bedingen und prägen, wird heute eine Abhängigkeit beider Phänomene vermutet: Rahmen und Gruppe sind interdependent – wechselseitig mit‐ einander verbunden – und erst durch ihre Interaktion entsteht Identität. Demnach lässt sich weder sagen, dass die Kirche den Kanon bestimmt, noch dass der Kanon die Kirche formt, sondern die (kirchliche) Identitätsbildung Teil eines hermeneutischen Zirkels ist.

Kanon Welcher Kanon?

Interpretationsgemeinschaft Wessen Kanon?

Abb. III.17: Interdependenz von Kanon und Interpretationsgemeinschaft

Paul Ricœur hat dieses Prinzip genauer untersucht und auf die Bibel und die mit ihr verbundene(n) Interpretationsgemeinschaft(en) angewendet. Er kommt zu dem Schluss, dass die Entstehung einer Interpretationsgemein‐ schaft und ihres Kanons sich gegenseitig bedingen, eben interdependent sind, und sich an den Bedürfnissen der Interpretationsgemeinschaft orien‐ tieren. In Ricœurs eigenen Worten lässt sich dieses Zusammenspiel auf die griffige Formel bringen: Becoming Canon and becoming Church go hand in hand. The needs and constraints of becoming Church have a profound influence on the process of canonization.88

88

Paul Ricœur: The canon between text and community, in: Petr Pokorný / Jan Roskovec (Hg.): Philosophical hermeneutics and biblical exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 7–28, 16.

Kanon und Interpretationsgemeinschaft

In der kulturwissenschaftlichen Forschung gilt das identitätskonkrete Ge‐ dächtnis einer Erinnerungsgemeinschaft als Kanon. Begriffe wie „Kanoni‐ sierung“ zeigen ferner, dass „Kanon“ nicht als feste Größe verstanden wird, sondern als Prozess. Dass ein Kanon sich „im Fluss“ befinden kann, verdeutlichen die veränderlichen jüdischen und christlichen Kanonlisten ebenso wie auch die evangelischen Bekenntnisse. Eine abschließende Ka‐ nonfestlegung oder ein „Kanonschluss“ ist damit immer eine willentliche Setzung gegen Zeit und Fluss, dann nämlich, wenn eine Gründungsautorität für spätere Generationen und über die Zeit gesichert wird. Die Exegese‐ geschichte nimmt an, dass Kanonlisten immer dann produziert und in Umlauf gebracht wurden, wenn es ein Bedürfnis dafür gab. Was heißt das konkret? Kanon bezeichnet mehr als nur eine Liste verbindlicher Texte oder verbindlicher heiliger Texte. Kanon ist immer identitätskonkret, insofern er die heiligen Texte für eine bestimmte Gruppe festlegt und auf diese Weise einen Ort schafft, von dem her die entsprechende Gruppe ihr Selbstkonzept bezieht. Auf diese Weise ist ein Kanon immer eine Grenzziehung nach innen und nach außen. Kanon ■ Keine feste Größe, sondern ein Prozess ■ Abschließende Kanonfestlegung ist eine willentliche Setzung gegen Zeit und Fluss und sichert eine Gründungsautorität über die Zeit ■ Grenzziehung nach innen und außen (identitätskonkret) Wann ist eine solche Grenzziehung notwendig? Die interdisziplinäre For‐ schung zum sozialen Erinnern hat gezeigt, dass eine Grenzziehung ein identitätskonstitutiver Prozess ist und häufig eine Reaktion auf eine gegen‐ wärtige Krise oder Krisenerfahrung darstellt. Die Forschung von Jan und Aleida Assmann hat ferner ergeben, dass die Einspeicherung von Erinnerung(en) im kollektiven oder kulturellen Gedächtnis ebenso wie ein Wechsel des Mediums der Erinnerung üblicherweise mit einer Krisenerfah‐ rung einhergeht. Im kollektiven Gedächtnis kann beispielsweise der Tod der Zeitzeugen oder der Verlust dessen, was als Heimat verstanden wird, zur Externalisierung oder Speicherung von Erzählungen führen. Genau genommen handelt es sich dabei bereits um einen Kanonisierungsprozess, da der breite Strom unterschiedlicher Versionen (oder Traditionen) auf eine

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III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

leitende Perspektive verengt wird, die als verbindliche Deutungskategorie für ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Erfahrung angeboten wird. Der gleiche Mechanismus lässt sich auch für den Bereich des kulturellen Gedächtnisses beobachten, nur dass dieser sich auf einer anderen Ebene und in einem anderen zeitlichen Rahmen bewegt. Während das kollektive Gedächtnis also den Traditionsstrom einengt, legt das kulturelle Gedächtnis ihn still. Kanonische Texte können als Texte des kulturellen Gedächtnisses demnach (anders als Texte des kollektiven Gedächtnisses) nicht mehr fortge‐ schrieben, sondern lediglich arrangiert und kommentiert werden. Beiden Szenarien gemein ist, dass die Manifestation der Erinnerung identitätskon‐ kret bleibt und mit den Bedürfnissen der Gruppe verbunden ist, die sich auf die jeweiligen Erinnerungen beruft.

Kollektives Gedächtnis

Kulturelles Gedächtnis

Kanonisierung verengt Traditionsstrom

Kanonisierung legt Traditionsstrom still

Erste Entwürfe für fundierende Texte, Fortschreibung möglich

Fundierende Texte können nicht mehr fortgeschrieben werden

Besondere Rolle von Traditionsgaranten

Besondere Rolle von Hütern/Auslegern der Tradition

Abb. III.18: Kanonisierungsprozesse im kollektiven und kulturellen Gedächtnis

Auf der Basis dieser Überlegungen ist es verständlich, dass das Auftauchen eines neutestamentlichen Kanons im zweiten und dritten Jahrhundert in der einen oder anderen Weise als Reaktion auf eine Bedrohung wie beispiels‐ weise den „Kanon“, oder besser: eine Liste mit für verbindlich gehaltenen Texten von Markion, verstanden wurde, die eine massive Anfrage und damit

Kanon und Interpretationsgemeinschaft

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eine Krise darstellte. Wie wir gleich sehen werden, lagen die Dinge im 16. Jahrhundert in Trient anders und waren dennoch nicht unähnlich: Die massive Krisenerfahrung, die durch die Reformation ausgelöst wurde, rief geradezu nach einer Bestätigung des kirchlichen – und in diesem Falle dann katholischen – Selbstverständnisses. Explizit bestätigt dies auch Pius XII. in der Einleitung der Enzyklika Divino afflante Spiritu 1943: Als in unserer Zeit der göttliche Ursprung der heiligen Bücher und ihre richtige Erklärung in hohem Maße gefährdet waren, übernahm sie deren Schutz und Verteidigung mit noch größerer Hingabe und Sorgfalt. So erklärte der heilige Kirchenrat von Trient in einem feierlichen Beschluß, die biblischen Bücher seien ‚ganz, mit allen ihren Teilen, als heilig und zum Kanon gehörig‘ anzusehen, so ‚wie man sie in der katholischen Kirche zu lesen pflegt und die alte allgemein verbreitete lateinische Übersetzung (Vulgata) sie enthält‘ (DH 3825).

Bei der Annäherung an das Phänomen „Kanon“ sind demnach zwei Dinge zu berücksichtigen: Zum einen die Gestalt des betreffenden Kanons und zum anderen die Interpretationsgemeinschaft, die mit ihm verbunden ist bzw. sich auf ihn bezieht. Wenn ersichtlich ist, welche Gründe zur Formation eines bestimmten Kanons geführt haben, wird häufig auch klar, warum der entsprechende Kanon genau diese Ausprägung hat.

Kanon Gestalt

Interpretationsgemeinschaft

Warum hat der Kanon genau diese Form?

Welche Gründe haben zur Formation des Kanons geführt?

Abb. III.19: Kanon: Zusammenhang zwischen Gestalt und Interpretationsgemeinschaft

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III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

Die Trienter Kanonentscheidung in kulturwissenschaftlicher Perspektive Das Konzil von Trient hat im Dekret de canonis scripturis 1546 den für die katholische Kirche verbindlichen Kanon festgelegt. Am Trienter Kanon lassen sich zentrale Charakteristika rund um das Phänomen „Kanon“ und seine Bedeutung zeigen. Wenn man die Vorgeschichte des Trienter Kanons betrachtet, liegt es in der Tat nahe, dass es sich bei dieser Festlegung um eine Antwort auf die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther handelt. Manfred Oeming skizziert die Abläufe folgendermaßen: Im 16. Jh. hat Martin Luther durch seine Kreuzung aus hebräischem Umfang (daran lag ihm als humanistischem Philologen) mit griechischer Abfolge (daran lag ihm aus theologischen Gründen, weil die LXX89 die prophetische Gesamtdeu‐ tung der Schrift propagiert) eine Kanonform kreiert, die es bis dahin noch nicht gab. Im Gegenzug verfiel die katholische Kirche auf den abstrusen Gedanken, eine lateinische Übersetzung aus dem 4. Jh. n. Chr. zur kanonischen Grundlage für alle Fragen des Glaubens und der Sitten zu machen.90

Wenn man die Vorgänge in Trient so liest, klingt es ganz danach, als habe die Katholische Kirche reflexhaft und ohne groß nachzudenken, eine lateinische Tradition absolut gesetzt und zum Dogma erklärt. Die Frage stellt sich, ob das tatsächlich die beste Lesart ist. Der Kirchenhistoriker und Jesuit Klaus Schatz erzählt in seiner allgemeinen Konziliengeschichte eine andere Geschichte: Das Konzil stellte dann den Kanon der Schriften des Alten und Neuen Testaments genau fest und definierte schließlich die Authentizität der Vulgata. Diese oft mißverstandene Entscheidung ist nicht textkritisch-literarisch, sondern dogma‐ tisch zu verstehen. Sie besagt, dass die Vulgata keine Glaubensirrtümer enthält, aber nicht, daß sie den ursprünglichen Sinn einer Stelle immer richtig wiedergibt. Der Rekurs auf den griechischen bzw. hebräischen Urtext wird dadurch nicht überflüssig. Faktisch wirkte sich allerdings diese Entscheidung zuungunsten der Beschäftigung mit dem Urtext aus. Das humanistische Prinzip ‚Zurück zu den Quellen‘ trat im katholischen Bereich zugunsten einer rein dogmatischen 89 90

Das römische Zahlzeichen LXX ist die gängige Abkürzung für die Septuaginta, die griechische Übersetzung der jüdischen Heiligen Schriften, die in der Zeit des Hellenis‐ mus ab dem 3. Jh. v. Chr. in Alexandria entstanden ist. Oeming, Hervorwachsen, 57.

Die Trienter Kanonentscheidung in kulturwissenschaftlicher Perspektive

Sicherheit zurück. Man glaubte, die Vulgata genüge, da sie doch mit Sicherheit das Wort Gottes und die Wahrheit enthalte, und sparte sich weithin den Rückgriff auf den griechischen oder hebräischen Urtext. Erst die Enzyklika ‚Divino afflante spiritu‘ Pius XII. von 1943 – also fast 400 Jahre später – stellte offiziell klar, daß dies nicht der Sinn des Dekrets sei.91

Schatz zufolge ging es in Trient in erster Linie um eine Selbstvergewisserung dessen, was eigentlich katholisch ist. Damit ist die Trienter Entscheidung gar nicht so unähnlich dem, was Oeming für die Entstehung des alttestament‐ lichen Kanons annimmt. Wir hätten es […] mit einer Schrift zu tun, die im Bewusstsein abgefasst wurde, Heilige Schrift und ewige Ordnung für alle Zukunft zu sein. Die Kanonbildung ist Folge der fundamentalen Krise und Instrument zu deren Überwindung.92

Insbesondere der zweite Gedanke passt zur Festlegung des Trienter Kanons: Er wurde in der Zeit einer heftigen Krise formuliert und war dazu gedacht, diese Krise zu überwinden, indem er für die Interpretationsgemeinschaft festlegte, was für sie der verbindliche Referenzrahmen ist. Was heißt das für den Trienter Kanon und seine Interpretationsgemein‐ schaft? Wenn wir mit der Vermutung arbeiten, dass der Trienter Kanon ein identitätskonkretes Artefakt des kulturellen Gedächtnisses ist, lohnt es sich, noch etwas genauer hinzuschauen und zu fragen, wie Identitätskonstruk‐ tion in den Trienter Dekreten gestaltet ist. Dabei dürfte noch klarer werden, was das Trienter Konzil eigentlich intendiert hat. In der Kirchengeschichte wird die Frage häufig folgendermaßen beantwortet: Immer wieder ausgesprochenes Hauptziel war in Trient die eindeutige Ver‐ teidigung und Feststellung der katholischen Lehre gegen die Reformatoren. Grundsätzlich sollte dabei die bisherige Bandbreite und relative Offenheit der katholischen Lehre nicht eingeschränkt werden. Päpste und Legaten betonten immer wieder, daß Schulstreitigkeiten nicht entschieden werden, sondern nur das allen gemeinsame Katholische definiert werden solle. Was vorher unter katholischen Theologen offen und kontrovers war, sollte es also bleiben. Faktisch zeigte sich jedoch an mehr als einem Punkte, dass die gewünschte Eindeutigkeit und Abgrenzung gegenüber der Reformation und die bisherige Offenheit nicht

91 92

Klaus Schatz: Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, Paderborn 1997, 183. Oeming, Hervorwachsen, 55.

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III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

leicht in Einklang zu bringen waren. Bibelhumanistische Ansätze, die einen Brückenschlag gegenüber den Reformatoren boten, aber gerade dadurch auch die ,gegenreformatorische Position‘ verunklarten, blieben mehr als einmal auf der Strecke, so im Verhältnis von Schrift und Tradition sowie bei der ,doppelten Gerechtigkeit‘. In anderen Fällen gelang es mit mehr Erfolg, Türen offen zu halten.93

Die Zusammenfassung von Klaus Schatz zeigt in der Formulierung „Vertei‐ digung und Feststellung der katholischen Lehre“, dass es in Trient darum ging, in der Situation einer Krise das eigene Selbstverständnis zu klären und nach innen und außen zu kommunizieren. Wenn man die Trienter Dekrete mit den Erkenntnissen kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie liest, fand dieser Klärungsprozess im Rückgriff auf das kulturelle Gedächtnis statt und führte zur Annahme eines normativen und formativen Textkorpus – dem Trienter Kanon, der in der Vulgata seine Gestalt als Bibel der Kirche fand. Anders formuliert, konstituierte sich im Rekurs auf das kulturelle Gedächtnis eine Erinnerungs- und Interpretationsgemeinschaft mit klaren Außengrenzen und einem festgelegten Bestand an kanonischen Texten sowie einer leitenden Perspektive, die sich in der Interpretationshoheit über diese Text äußert. Als normativer Ursprung, der im kulturellen Gedächtnis von entscheiden‐ der Bedeutung ist, gilt in den Trienter Dekreten Gott selbst, der „Urheber“ (auctor) des Alten und Neuen Testaments ist. Die Rückbindung an diesen Ursprung, die Bewahrung der Reinheit des Evangeliums und die Weitergabe der Überlieferungen in einer ununterbrochenen Traditionskette ziehen eine Linie von Trient in die mythische Ursprungszeit. Als normativ gelten dem Konzil neben dem Credo und dem Kanon (die beide schriftlich fassbar sind) auch die Überlieferungen („traditiones“), da sie nach Auffassung des Konzils „als aus dem Munde Christi hervorgegangen oder vom Heiligen Geist diktiert […] und in kontinuierlicher Folge („continua successione“) in der katholischen Kirche bewahrt“ (DH 1501) wurden. Auf dieser Basis konzipiert das Trienter Konzil seinen Identitätsentwurf. Die Formulierung ist in zweierlei Hinsicht interessant. Die Vorstellungen, die Überlieferungen seien aus dem Munde Christi hervorgegangen knüpft an die jüdische Vorstellung von der mündlichen Tora an, die Mose den Pirke Avot zufolge am Sinai erhalten hat und die nach der Zerstörung

93

Schatz, Allgemeine Konzilien, 180–181.

Die Trienter Kanonentscheidung in kulturwissenschaftlicher Perspektive

des Jerusalemer Tempels ab 70 n. Chr. in der Mischna aufgeschrieben und so der schriftlichen Tora beigegeben wurde. Auch hier führte eine Krisenerfahrung zur einem Medienwechsel und einem ersten Entwurf für einen (weiteren) normativen und formativen Text, der durch die Gemara im Talmud fortgeschrieben und weiter kommentiert wurde. Das Zueinander von Schrift und Tradition, dass das Trienter Konzil festhält, ist bis heute identitätskonstitutiv für das katholische Selbstverständnis. Anders als in den Kirchen der Reformation, die ihr Selbstverständnis vom reformatorischen Schriftprinzip sola scriptura her beziehen, gelten in der Katholischen Kirche Schrift und Tradition als gleichberechtigte Offenbarungsquellen. Wenn auf die Kanonliste im Konzilsdekret die Versicherung folgt, dass die Festlegung insbesondere eine Offenlegung darstellt, die zeigt, „in welcher Ordnung und auf welchem Wege dieses Konzil, nach der Errichtung des Fundamentes des Glaubensbekenntnisses fortschreiten wird und welcher Zeugnisse und Hilfsmittel es sich bei der Festigung der Glaubenslehren und Erneuerung der Sitten hauptsächlich bedienen wird“ (DH 1505), wird damit auch deutlich gemacht, dass es stärker um das eigene Selbstverständnis als um einen Ausschluss geht – das Dekret richtet sich zunächst deutlich ad intra, aber nicht notwendigerweise ad extra. Mit der Festlegung des Umfangs des Trienter Kanons, wie er in der Vulgata – einem, wie das Konzil festhält, existierenden und traditionsrei‐ chen Text, nicht einer Neuschöpfung wie dem Kanon Luthers – vorliegt und seit der Alten Kirche rezitiert und rezipiert wird (DH 1506), entwirft das Konzil sein Selbstbild. Der Knackpunkt ist bei kulturwissenschaftlicher Lektüre die Rückbindung des Kanons an einen normativen Ursprung, zu dem eine Verbindung sichtbar gemacht wird. Mit der Annahme eines bereits vorhandenen Kanons statt einer Neuschöpfung stellt sich das Konzil in eine Traditionslinie. Es positioniert sich zu diesem Textkorpus, bestätigt ihm in Bezug auf Glauben und Sitten – sprich: das, was für die Gruppe und ihr Selbstverständnis entscheidend ist – Irrtumsfreiheit und nimmt einen göttlichen Ursprung des Textes an. Die Irrtumsfreiheit bezieht sich dabei nicht auf das Verhältnis der Schrift zu den in ihr beschriebenen Ereignissen, sondern auf das Verhältnis der Interpretationsgemeinschaft zu der von ihr rezipierten Schrift, ist also nicht produktionsorientiert, sondern rezeptionsorientiert gedacht. Erst im zweiten Schritt hält die Konstitution Sacrosancta die sprachliche Form des für sie normativen Textkorpus’ fest. Von allen lateinischen Fas‐ sungen, die sich im Umlauf befinden, soll die Vulgatafassung, „die durch

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III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

den langen Gebrauch so vieler Jahrhunderte in der Kirche anerkannt ist, bei öffentlichen Lesungen, Disputationen, Predigten und Auslegungen als authentisch gelten“ (DH 1506/1738). Diese Festlegung richtet sich wiederum ad intra und erfolgt für den Binnenraum der Interpretationsgemeinschaft. In einer Zeit einer Krisis schreibt sie den vermeintlichen Status quo für die binnenkirchlichen Vollzüge „Liturgie“ und „Lehre“ fest. Tatsächlich wurde in der Folge aber nicht die Vulgata kanonisiert, sondern das Messbuch, das freilich auch den Text der Vulgata für die Lesungen bietet.94 An einer Kano‐ nisierung der Vulgata als Vulgata hatte das Konzil kein Interesse, sondern versuchte, ganz im Gegenteil, die Vielfalt der lateinischen Traditionen zu schützen (DH 1506). Im Blick auf die Abfolge der Bücher im Trienter Kanon ist jedoch noch einmal kritisch rückzufragen, wie relevant sie für die Konzilsväter tatsächlich gewesen ist. Das Anliegen des Konzils war es, die Tradition und die liturgische Kommunikation zu sichern, wofür der Umfang und die Sprache der heiligen Bücher relevant sind, aber nicht unbedingt ihre Anordnung. Sich in ein bereits existierendes Modell „einzuschreiben“ oder die Verbindung zu einer alten Tradition als normativ zu betrachten, ist ein verständliches Reaktionsmuster in einer Krisensituation, das auch vor dem Trienter Konzil häufig Anwendung fand. Wie wir gesehen haben, nutzten die Autoren der neutestamentlichen Texte diese Methode ebenfalls im Rückgriff auf das Alte Testament (vgl. I.5). Mit der Formation des Kanons und seiner Rückbindung an einen gött‐ lichen Ursprung, einer ungebrochenen Traditionskette und der vertrauten lateinischen Sprache erschließt das Konzil eine normative Tradition, die sich in der römisch-katholischen Kirche fortsetzt – nicht aber in den Kirchen der Reformation. Die Grenzziehung des Konzils ist hier unübersehbar und kumuliert in der Formulierung anathema sit. Auch dieser Vorgang ist aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ver‐ ständlich. Wenn eine Gruppe ihre Identität konstruiert, muss sie auch sichtbar machen, wo die Grenze ist und wer nicht (mehr) dazu gehört. Krisensituationen spielen hier eine entscheidende Rolle und Anfragen von Innen zwingen mitunter zu einer klareren Grenzziehung und Kommunika‐ tion der Grenzen. Diese Grenzziehung geschieht in Trient durch das Credo und die Kanonliste. Der Kanon, der immer identitätskonkret ist, wird somit zum Identitätsmarker. 94

Durch die Bulle Quo primum von Papst Pius V. zur Einführung des Römischen Messbuches am 14. Juli 1570.

Die Trienter Kanonentscheidung in kulturwissenschaftlicher Perspektive

Trienter Kanon Gestalt: Umfang LXX + NT in lateinischer Sprache

Form: Rückbindung an einen göttlichen Ursprung und ungebrochene Texttradition in vertrauter Sprache

Interpretationsgemeinschaft: Katholische Kirche

Gründe: Klärung des eigenen Selbstverständnisses und der eigenen Grundlagen in einer Krisensituation

Abb. III.20: Trienter Kanon: Gestalt und Interpretationsgemeinschaft

Blicken wir noch einmal zurück auf das Eingangsstatement und die Frage, ob die sich in Trient konstituierende römisch-katholische Kirche mit der Entscheidung, eine lateinische Übersetzung aus dem 4. Jh. n. Chr. zur kanonischen Grundlage für alle Fragen des Glaubens und der Sitten zu ma‐ chen, einem abstrusen Gedanken verfallen ist. Aus gedächtnistheoretischer Perspektive ist die Entscheidung der Interpretationsgemeinschaft für ein Textkorpus als normatives und formatives Identitätskonstitutivum unmit‐ telbar einleuchtend. Welchen Umfang und welche Form dieses Textkorpus hat, ist dabei von der Verfasstheit und den Bedürfnissen der Interpretations‐ gemeinschaft abhängig. Im Falle des Trienter Konzils ist die Wahl der Vul‐ gatafassung – statt beispielsweise der Septuaginta und einer griechischen Fassung des Neuen Testaments – insofern nicht nur verständlich, sondern naheliegend, als die römische Kirche als lateinische Kirche nicht nur bei ihrer Heiligen Schrift, sondern auch bei ihren lehramtlichen Texten und liturgischen Vollzügen auf der lateinischen Sprache fußte, diese also identi‐ tätskonstitutiv für die katholische Kirche war und bleibt. Entsprechend ist es durchaus sinnvoll, die Fassung, mit der die Interpretationsgemeinschaft eine Tradition verbindet, „die sich durch den jahrhundertelangen Gebrauch in der Kirche bewährt hat, bei öffentlichen Lesungen, Disputationen, Predigten

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III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

und Auslegungen als maßgeblich zu betrachten“ (DH 1506) – auch wenn das normative Textkorpus erst nach dieser Entscheidung geschaffen wird. Die Rezeption der Trienter Kanonentscheidung Wie die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Konzils zeigt, war die Trienter Kanonfestlegung nicht unproblematisch, wobei sich die Schwierig‐ keiten eher auf die Rezeption der Entscheidung als die Entscheidung selbst bezogen. Der Bedarf für Nachklärungen wurde im Laufe der Zeit offenbar nicht geringer. In der Enzyklika Divino afflante Spiritu wird 1943 am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils, das mit seiner Offenbarungskonstitution Dei Verbum die Weichen für das Verständnis und die Auslegung der Bibel neu stellte, noch einmal genau das bekräftigt, was die gedächtnistheoretisch fokussierte Lektüre des Trienter Textes angenommen hat: ■

dass der Geltungsbereich der Konstitution nur die eigene Interpretati‐ onsgemeinschaft – sprich: die lateinische Kirche – ist und ■ dass die Authentizität des Textes die Beziehung der Interpretationsge‐ meinschaft zu diesem Text meint, nicht die Beziehung des Textes zu den in ihm referierten und reflektierten Sachverhalten.

Der Trienter Kanon blieb demnach auch innerhalb der Interpretationsge‐ meinschaft erklärungsbedürftig. Ihn als Artefakt des kulturellen Gedächt‐ nisses zu verstehen, ermöglicht jedoch einen Verstehenszugang zu diesem Kanon, der den Zeitpunkt der Festlegung sowie den Umfang und die Formation des Textes verständlich macht. Auch die Stärken und Schwächen dieser Entscheidung, die sich im Laufe der Kirchengeschichte gezeigt haben und von späteren lehramtlichen Texten konkretisiert wurden, sind mit diesem Modell gut zu verstehen und zeigen die Wirkmächtigkeit eines identitätskonkreten Kanons. Schließlich lässt sich am Beispiel der kirchlichen Rezeption des Trienter Kanons noch etwas anderes lernen. Die Enzyklika Divino afflante Spiritu zeigt am konkreten Beispiel, was die Kulturwissenschaft strukturell für alle Kanones formuliert: Auch ein Kanon ist nicht so fest, wie es der Begriff zu‐ nächst glauben machen will. Selbst ein scheinbar in Stein gemeißelter Kanon bedarf der Auslegung und selbst ein für eine Interpretationsgemeinschaft als normativ festgestellter Kanon kann – beispielsweise in seiner sprachlichen Form – modifiziert werden. Divinu afflante Spiritu hat die Authentizität der

Die Rezeption der Trienter Kanonentscheidung

Vulgata nicht infrage gestellt, doch der Urtext galt nun als gleichberechtigt. Diese Linie wurde von der Konstitution Dei Verbum bestätigt und verlängert und hat exegetisches Arbeiten in der Interpretationsgemeinschaft Katholi‐ sche Kirche grundlegend verändert. Damit wird auch deutlich, dass ein Kanon allen dogmatischen Beteue‐ rungen zum Trotz nicht absolut steht, sondern in der Beziehung zu seiner Interpretationsgemeinschaft zu betrachten ist, deren Bedürfnisse immer auch im Kanon aufgehoben sein müssen. Bei Jan Assmann heißt es: Die Pflege des ‚vesten Buchstabs‘ besteht in Deutung oder Sinnpflege. Weil der Buchstabe fest ist und kein Jota geändert werden darf, weil aber andererseits die Welt des Menschen fortwährendem Wandel unterworfen ist, besteht eine Distanz zwischen festgestelltem Text und wandelbarer Wirklichkeit, die nur durch Deutung zu überbrücken ist. So wird die Deutung zum zentralen Prinzip kultureller Kohärenz und Identität. Die normativen und formativen Impulse des kulturellen Gedächtnisses können nur durch unausgesetzte, immer erneuerte Textauslegung der identitätsfundierenden Überlieferung abgewonnen werden. Deutung wird zum Gestus der Erinnerung, der Interpret zum Erinnerer, zum Anmahner einer vergessenen Wahrheit.95

So kehren wir am Ende wieder zu Jan Assmann zurück und können als Aufgabe für identitätskonkrete Lektüren des Kanons, die emische Arbeit von Theologinnen und Theologen, festhalten, dass konfessionelle Bibelwis‐ senschaft und Biblische Theologie auch Traditions- und Kanonpflege sind und Bibelwissenschaftler hier nicht zu Unrecht als Experten innerhalb der eigenen Interpretationsgemeinschaft gelten, sofern der kanonische Text auch ihr eigener kanonischer Text ist. Insofern haben insbesondere Neutestament‐ lerinnen und Neutestamentler eine doppelte Aufgabe oder doppelte Rolle, die es auseinanderzuhalten gilt: Als Fachwissenschaftler sind sie Experten für die etische Lektüre neutestamentlicher Texte als kollektives Gedächtnis und als Biblische Theologen Experten für die emische Lektüre neutestamentlicher Texte als kulturelles Gedächtnis ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft, wie es auch die Päpstliche Bibelkommission in ihrem Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche ausdrückt. Beide Aufgaben sind reizvoll und faszinie‐ rend, und sollten nicht vermischt werden.  

95

Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 59.

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III.5  Das Konzil von Trient: Kanon als kulturelles Gedächtnis

Literaturhinweise: Assmann, Jan: Kanon – zur Klärung eines Begriffs, in: ders.: Das kulturelle Ge‐ dächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 52005,103–129. Assmann, Jan: Fünf Stufen auf dem Weg zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum, in: ders.: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 22004, 81–100. Ebner, Martin: Der christliche Kanon, in: Ebner, Martin; Schreiber, Stefan (Hg.): Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 9–52. Oeming, Manfred: Biblische Hermeneutik. Eine Einführung. Darmstadt 1998. Oeming, Manfred: Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes. Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie, in: ZNT 12 (2003), 52–58. Huebenthal, Sandra; Handschuh, Christian: Der Trienter Kanon als kulturelles Ge‐ dächtnis, in: Hieke, Thomas (Hg.): Formen des Kanons. Studien zu Ausprägungen des biblischen Kanons von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (SBS 228), Stuttgart 2013, 104–150. Päpstliche Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche (VaS 115), Bonn [1993] 21996. Ricœur, Paul: The canon between text and community, in: Pokorný, Petr; Roskovec, Jan (Hg.), Philosophical hermeneutics and biblical exegesis (WUNT 153), Tübin‐ gen 2002, 7–28. Schatz, Klaus: Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, Pader‐ born 1997.

IV Anhang

Glossar

Glossar   Anekdote. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie. Im An‐ schluss an Aleida Assmann lässt sich die Anekdote als Inbegriff einer sprachlich externalisierten Erinnerung verstehen, die jederzeit aufrufbar und reproduzierbar ist. Anekdoten sind demnach Formen von Erinnerungen, die in einem längeren sozialen Aushandlungsprozess in einer bestimmten Form sprachlich kodiert wur‐ den und deren Wahrheitsgehalt ebenfalls sozial bestimmt wurde. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Anekdote und Episode synonym verwendet. Anonym/orthonym/pseudonym. Bezeichnet das Wissen um die Autorschaft eines Textes. Bei orthonymen Texten entspricht der angegebene Autor dem wirklichen Urheber des Textes, pseudonyme Texte wurden von einer anderen Person verfasst als die Autorenbezeichnung angibt; anonyme Texte sind gänzlich ohne Autorenangabe überliefert. Criteria Approach. Fachbegriff aus der historischen Jesusforschung. Beim Cri‐ teria Approach werden spezielle Kriterien auf die neutestamentlichen Zeug‐ nisse/Evangelien angewendet, um eine methodisch kontrollierte Rückfrage nach dem historischen Jesus zu ermöglichen. Die klassischen Kriterien sind das Kriterium der Unähnlichkeit („Differenzkriterium“), das Kriterium der vielfachen Bezeugung und das Kriterium der Kohärenz. Im Zuge der Third Quest, der dritten Phase der historischen Jesusforschung (ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhun‐ derts), hat der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theißen statt der klassischen Kriterien das Historische Plausibilitätskriterium eingeführt. In der Jesusforschung ist die Anwendung der Kriterien seit dem Paradigma des erinnerten Jesus insbe‐ sondere im englischen Sprachraum in die Kritik geraten, da der Criteria Approach die Erkenntnisse von Erinnerungs- und Oralitätsforschung nicht ausreichend berücksichtigt. Cultural Turn. Der Cultural Turn oder die kulturelle Wende beschreibt eine Hinwendung in den Geistes- und Sozialwissenschaften im Zuge der Entwicklung der Kulturwissenschaft im deutschen Sprachraum und der Cultural Studies im englischen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Cultural Turn geht mit einer Veränderung und Erweiterung des Kulturverständnisses einher und bezieht neben der Hochkultur auch Gegenwarts- und Popkultur mit ein. diachron. Von gr. dia-chronos (durch die Zeit). Begriff aus der historisch-kriti‐ schen Exegese. Diachrone Zugänge und Methoden untersuchen in der Bibel‐ wissenschaft Texte unter dem Aspekt ihrer Entstehung und versuchen, ihre

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IV  Anhang

Entstehungsgeschichte zu rekonstruieren. Diachrone Methoden verstehen bibli‐ sche Texte als Teil eines historischen Prozesses, den sie zu beschreiben und rekonstruieren versuchen. Als diachrone Methoden gelten Textkritik, Formkritik, Literarkritik und Redaktionskritik. Dreigenerationengedächtnis. Lebendiges Erinnerungsnetzwerk einer Gruppe, das sich gewöhnlich über drei Generationen oder 80–120 Jahre erstreckt. Einleitungswissenschaft. Unterdisziplin der Bibelwissenschaft, die eine Misch‐ form aus Zeitgeschichte, Archäologie, biblischer Realienkunde, Bibelkunde und Einführung in das jeweilige biblische Buch (dabei auch Frage nach realem Autor und realen Lesern) darstellt. Einleitung ist eine Spezialdisziplin der Bibelwissen‐ schaft, die es in dieser Form in keiner anderen Disziplin gibt. Emotionaler Marker. Begriff aus der Gedächtnistheorie, der beschreibt, dass episodische Erinnerungen nicht als neutrale Fakten im Gehirn abgespeichert werden, sondern zusammen mit den Emotionen, die mit der jeweiligen Situation oder Information verbunden sind, und dass Erinnerungen auch wieder zusammen mit ihrem emotionalen Marker aufgerufen werden. Enzyklopädie. Begriff aus der Semiotik, der auf Umberto Eco zurückgeht, und das Gesamt der außertextlichen Wirklichkeitselemente in (fiktionalen) Texten beschreibt, die ein Text nutzt, um die Textwelt zu konstruieren und zu beschrei‐ ben. Im erweiterten Sinne lässt sich Enzyklopädie als das Weltwissen von realen oder fiktiven Personen oder Personengruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt verstehen. Episode und Rahmen (Gedächtnistheorie). In der kulturwissenschaftlichen Ge‐ dächtnistheorie gilt eine Episode als einzelne Erinnerungserzählung, die isoliert oder in einem Netzwerk aufgerufen und erzählt werden kann. Als Rahmen gelten soziale und kulturelle Bezugsrahmen in denen einzelne Erinnerungen und Episoden mit Bedeutung aufgeladen (= semantisiert) werden. Da individuelle Erinnerung immer in einem sozialen Rahmen stattfindet, dienen diese sozial ver‐ mittelten Bezugsrahmen als ordnender Faktor der persönlichen Wahrnehmung. Episode und Rahmen (historisch-kritische Exegese). In der historisch-kriti‐ schen Exegese gilt eine Episode als eine einzelne in sich abgeschlossene Tradition oder Texteinheit, die allein oder in einer Sammlung überliefert wurde. Im Zuge der Überführung in einen Text wird sie in einen (erzählerischen) Kontext, den Rahmen, gestellt, aus dem sie auch wieder gelöst werden kann. Die historischkritische Exegese nahm lange an, dass die Evangelisten einzelne Jesus-Episoden (Tradition) zusammengestellt und mit einem erzählerischen Rahmen (Redaktion) umgeben haben. Durch die Scheidung von Tradition und (späterer) Redaktion

Glossar

schien es damit möglich, näher an den historischen Jesus und seine Worte heranzukommen. Episodisches Gedächtnis. Begriff aus der Neurowissenschaft. Das episodische (oder autobiographisch-episodische) Gedächtnis ist ein Teil des Langzeitgedächt‐ nisses. Es enkodiert Erfahrungen in Form von Geschichten und versieht sie mit emotionalen Markern. Ein Großteil der menschlichen Erfahrungen ist im episodischen Gedächtnis gelagert und wird im Medium der Geschichte geteilt und weitergegeben. Ereignis/Widerfahrnis. Begriff aus der Gedächtnisforschung. Als Ereignis gilt ein auf einen konkreten Zeitpunkt datierbares momenthaftes Vorkommnis, das aufgrund seiner Bedeutung oder seiner Folgen für eine Person oder Erinnerungs‐ gemeinschaft aus einer Reihe von weniger bedeutsamen Widerfahrnissen oder Vorkommnissen herausgehoben wird. Ein Ereignis ist einmalig und vergänglich, und wird erst aufgrund seiner sprachlichen Einkleidung und Semantisierung erinnerbar und kommunizierbar. Erinnerung/Gedächtnis. Schlüsselbegriffe in der Gedächtnis-/Erinnerungsfor‐ schung. Im kulturwissenschaftlichen Bereich hat sich als Basisverständnis durch‐ gesetzt, Erinnern als Prozess des Entstehens von Erinnerungen zu begreifen im Unterschied zum Gedächtnis als veränderlicher Struktur von Erinnerungen oder der Fähigkeit, sich zu erinnern. Als Faustregel lässt sich formulieren, dass Erinnerung in der Kulturwissenschaft eher als Prozess verstanden wird, Gedächtnis eher als Struktur. Erinnerungsfigur. Von Jan und Aleida Assmann geprägter Begriff aus der kultur‐ wissenschaftlichen Gedächtnistheorie. Erinnerungsfiguren verschmelzen Begriff und Bild und ermöglichen auf diesem Weg sinnliche Erinnerung. Dabei wird ein konkretes Ereignis, ein Ort, eine Person oder eine Erfahrung durch eine Erinnerungsgemeinschaft mit Bedeutung aufgeladen und Teil des kulturellen Re‐ ferenzrahmens dieser Gruppe. Erinnerungsfiguren sind identitätskonkret, raumund zeitkonkret (beziehen sich auf erlebte Zeit und auf belebten Raum), sowie rekonstruktiv: Erinnerungsfiguren stellen die erinnerte Vergangenheit erst her, indem sie Elemente aus der Vergangenheit aufgreifen und sie in einer bestimmten Form semantisieren. Dadurch ist die erinnerte Vergangenheit im Gegensatz zur historischen Vergangenheit veränderbar. Erinnerungsgemeinschaft/Erzählgemeinschaft. Begriff aus der kulturwissen‐ schaftlichen Gedächtnistheorie. Erinnerungsgemeinschaften (die zumeist auch Erzählgemeinschaften sind) sind Gruppen, die sich durch den Rückgriff auf eine gemeinsame erinnerte Vergangenheit oder Gründungserfahrung konstituieren.

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Erzähler/Erzählstimme. Begriff aus der Literaturwissenschaft. Beim Erzähler handelt es sich um die vermittelnde Instanz zwischen dem realen Autor und der Figurenwelt/erzählten Geschichte sowie zwischen der Figurenwelt/erzählten Geschichte und den realen Lesern. Um eine Personalisierung dieser Instanz zu vermeiden, wird in der neueren Literaturwissenschaft eher von der Erzählstimme oder der Erzählinstanz gesprochen. Auktoriale Erzähler blicken aus einer über‐ geordneten Perspektive auf die erzählte Welt, während aktoriale Erzähler Teil der erzählten Welt sind. Erzählerwelt/Welt der Erzählinstanz. Begriffe aus der Erzähltheorie. Bei Erzäh‐ lungen lassen sich grundsätzlich die erzählte Welt (oder Figurenwelt) und die Welt der Erzählinstanz (oder der Erzählerwelt) unterscheiden. Die Unterscheidung ist hilfreich, um die Perspektivenstruktur eines (Erzähl-)Textes besser zu erkennen, indem man Textwelt und die in ihr geltenden Gesetze von der Welt der Erzählin‐ stanz unterscheidet, die zumeist zeitlich später angesetzt ist und den Ausgang der Erzählung gewöhnlich bereits kennt. Bei den Evangelien ist der Standpunkt der Erzählstimme immer nachösterlich, entsprechend geht die Welt der Erzählinstanz notwendig von anderen Voraussetzungen aus und hat ein anderes Wissen als die Erzählfiguren. Erzählformen: progressiv, regressiv, stabilisierend. Begriffe aus der histori‐ schen Psychologie, die auf Kenneth Gergen zurückgehen und mit denen er die klassische Gattungseinteilung für Erzählungen (Komödie, Romanze, Tragödie, Satire) erweitert. Im Hinblick auf ihre Wechselwirkung auf zwischenmenschliche Beziehungen vermitteln stabilisierende Erzählungen die Gewissheit, dass die anderen sind, was sie scheinen, während progressive Erzählungen den Wert von Beziehung betonen oder Zukunftsverheißungen etablieren, und regressive Erzählungen gewöhnlich der Kompensation dienen, indem sie um Empathie werben oder Motivationszwecken dienen. Erzählte Welt/Figurenwelt. Begriffe aus der Erzähltheorie. Bei Erzählungen lassen sich grundsätzlich die erzählte Welt (oder Figurenwelt) und die Welt der Erzählinstanz (oder der Erzählerwelt) unterscheiden. Die Unterscheidung ist hilfreich, um die Perspektivenstruktur eines (Erzähl-)Textes zu besser zu erkennen, indem man Textwelt und die in ihr geltenden Gesetze von der Welt der Erzählinstanz unterscheidet, die zumeist zeitlich später angesetzt ist und den Ausgang der Erzählung gewöhnlich bereits kennt. Bei den Evangelien ist der Standpunkt der Erzählstimme immer nachösterlich, entsprechend geht die Welt der Erzählinstanz notwendig von anderen Voraussetzungen aus und hat ein anderes Wissen als die Erzählfiguren.

Glossar

Etisch/emisch. Begriffe aus der Sozialwissenschaft, die unterschiedliche Perspek‐ tiven oder Blickwinkel auf den Beobachtungsgegenstand bezeichnen. Die emische Perspektive bezeichnet den Standpunkt eines Beobachters, Kulturschaffenden oder einer Textstruktur aus der Binnenperspektive der jeweiligen Gruppe heraus, während die etische Perspektive die eines Außenseiters ist. Externalisierung. Begriff aus der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung. Exter‐ nalisierung oder „Veräußerlichung“ beschreibt die Auslagerung von Gedächt‐ nisinhalten oder Gedächtnisstrukturen aus dem Körpergedächtnis in (externe) Speichermedien. Familiarisierung. Begriff aus der Entwicklungspsychologie. Beim Familiarisieren geht es darum, sich mit etwas vertraut oder sich etwas zu eigen zu machen. In der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie bezieht sich Familiarisierung häufig auf den Prozess, mit dem sich neu zu einer Erinnerungsgemeinschaft Hin‐ zutretende deren Gründungsgeschichte (kollektives Gedächtnis) oder einzelne Erinnerungserzählungen (soziales Gedächtnis) zu eigen machen. Familienalbum/Momentaufnahme. In der Kulturwissenschaft gelten Fotoalben als spezielle Medien des sozialen Gedächtnisses, die zunächst private Erinne‐ rungen von Einzelnen oder (kleineren) Erinnerungsgemeinschaften bildlich organisieren und strukturieren. Familienalben ermöglichen es, Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, die für die Familie/Erinnerungsgemeinschaft wichtig sind, sowie ihre (Herkunfts-)Geschichte zu organisieren, inszenieren und stabili‐ sieren. Da Fotografie zu einem Massenmedium geworden ist, sind Familienalben vergleichbar und austauschbar, und können in der Kulturwissenschaft als eigene Erinnerungsmedien analysiert werden. Als Momentaufnahme gilt zunächst das Festhalten eines Augenblicks oder (besonderen) Moments im Bild. Im übertra‐ genen Sinne kann eine Momentaufnahme auch das Festhalten eines Moments im Gedächtnis oder einem externen Speichermedium wie einem Text sein. In der kulturwissenschaftlichen Exegese können die neutestamentlichen Texte als Momentaufnahmen im Prozess der frühchristlichen Identitätsbildung verstanden werden. Floating Gap. Begriff aus der Oralitätsforschung. Bezeichnet im Anschluss an die Forschung von Jan Vansina die Schwelle rund 80–120 Jahre nach einem bedeut‐ samen Ereignis und die Grenze des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses, auf die entweder Vergessen oder die Überführung der relevanten Erinnerungen einer Gruppe in eine endgültige akzeptierte Form erfolgt. Der Floating Gap ist ein mitwandernder Zeithorizont. Floating heißt dabei, dass a) die Schwelle nicht stabil ist und für die gleiche Generation an manchen Orten früher auftauchen als an anderen, und sie b) gemeinsam mit einer Erinnerungsgemeinschaft durch

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die Zeit wandert, sodass Ereignisse, die vor 40 Jahren noch Teil eines lebendigen Dreigenerationengedächtnisses waren, es eine Generation später nicht mehr sind oder sein müssen. Formativ/normativ. Begriffspaar, das Jan Assmann in die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie eingebracht hat. Assmann zufolge sind die fundierenden Erinnerungen einer Gruppe normativ, indem sie bestimmte Verstehens- und Verhaltensmuster vorgeben, und formativ, indem sie die entsprechende Gruppe konstituieren oder formieren. Founding Story/Gründungsgeschichte/Gründungserzählung. Begriff aus der Kulturwissenschaft. Im kollektiven Gedächtnis wird die erinnerte Vergangenheit in Form einer gemeinsamen Geschichte oder Gründungsgeschichte (engl. Foun‐ ding Story) zur leitenden Perspektive, von der her und auf die hin sich die Erinnerungsgemeinschaft versteht. Die Identitätsentwürfe der Gruppe werden an dieser Gründungsgeschichte orientiert und sind von ihr her zu verstehen. Identitätsbildung vollzieht sich im kollektiven Gedächtnis nicht mehr allein durch das (diskursive) Aufrufen einzelner Episoden, also das gemeinsame Erzählen von Geschichten (wie im sozialen Gedächtnis). Im Rahmen des kollektiven Gedächt‐ nisses geschieht Identitätsbildung stärker durch Familiarisierung, sprich: durch die Annahme und Selbstverortung in der gemeinsamen Geschichte. Das kann je nach Charakter und Externalisierung der Geschichte durch die Identifikation mit anonym bleibenden Figuren, eigene Einträge in offene Stellen oder durch die Teilhabe an Riten und Festen geschehen, in denen die Gründungsgeschichte erinnert wird. Funktionsgedächtnis. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheo‐ rie. Aleida Assmann hat die Begriffe Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis als zwei unterschiedliche Modi der externalisierten Erinnerung in Kulturen geprägt. Im Speichergedächtnis einer Gruppe oder Kultur werden Quellen, Objekte und Daten unabhängig von ihrem Nutzen gesammelt und aufbewahrt, während das Funktionsgedächtnis das aktive Gedächtnis einer Gruppe ist und die für die Identität einer Gruppe relevante Auswahl aus den überlieferten Wissens- und Traditionsbeständen enthält. Gedächtnis/Erinnerung. Schlüsselbegriffe in der Gedächtnis-/Erinnerungsfor‐ schung. Im kulturwissenschaftlichen Bereich hat sich als Basisverständnis durch‐ gesetzt, Erinnern als Prozess des Entstehens von Erinnerungen zu begreifen im Unterschied zum Gedächtnis als veränderlicher Struktur von Erinnerungen oder der Fähigkeit, sich zu erinnern. Als Faustregel lässt sich formulieren, dass Erinnerung in der Kulturwissenschaft eher als Prozess verstanden wird, Gedächtnis eher als Struktur.

Glossar

Generation. Der Begriff beschreibt zunächst ein lebensweltliches Konzept, das jedoch in der Wissenschaft unterschiedlich verwendet wird. In der Biologie ist die Generation eine Grundkategorie zur Beschreibung biologischer Zyklen, während der Begriff in der Kultur- und Literaturwissenschaft eher ein Ordnungskategorie oder einen Differenzbegriff darstellt. Grundsätzlich ist bei der Generation zu unterschieden zwischen a) einer Generation als Zeitmaß für einen Reprodukti‐ onsprozess (diachron) und b) einer sozialen Gruppe, die sich während eines bestimmten Zeitraums als eine von anderen Gruppen unterscheidbare Einheit dif‐ ferenzieren lässt (synchron). In der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie ist die zweite Bedeutung vorherrschend. Hier gilt die Generation als Bezugsgröße für eine kollektive Erfahrung und/oder eine kollektive Identität. Dabei wird der diachrone Aspekt nicht ausgeblendet: Im Anschluss an die Oralitätsforschung und das Dreigenerationengedächtnis gilt eine 30–50 Jahre umfassende Spanne als Generation, idealtypisch wird im Anschluss an Jan Assmann von 40 Jahren gesprochen. Generational Gap. Begriff in Anlehnung an die von Jan Assmann in die kulturwis‐ senschaftliche Gedächtnistheorie eingebrachte „Generationen- oder Epochen‐ schwelle“. Der im Hinblick auf die Verwendung im englischsprachigen Diskurs geformte Begriff bezeichnet den Zeitraum des Übergangs von einer Generation zur Nächsten, der in der kollektiven Erinnerung nach etwa vierzig Jahren einsetzt, wenn die Zeitzeugen, die ein bedeutendes Ereignis als Erwachsene erlebt haben, sich aus dem zukunftsorientierten aktiven Leben zurückziehen, die Verantwortung an die nächste Generation weitergeben und in ein Alter eintreten, in dem nicht nur die Erinnerungen anwachsen, sondern auch der Wunsch, sie zu fixieren und weiterzugeben. Hermeneutik/hermeneutisch. Von gr. hemeneutikē technē, Auslegungskunst, bezeichnet im weiteren Sinne die Fähigkeit und Kunstfertigkeit, später auch die Theorie vom Verstehen, der Auslegung und Interpretation von Texten und Medien sowie Äußerungen aller Art. Im engeren Sinne bezeichnet sie die krite‐ riengeleitete und methodisch richtige Interpretation von Texten. Historie/historisch – Geschichte/geschichtlich. Eng diskursiv mit dem Ge‐ dächtnis/Erinnerung verbundene, aber in sich mehrdimensionale Begriffe: Im deutschen wissenschaftlichen Diskurs werden Geschichte und Historie weitge‐ hend synonym im Sinne von „Geschichtsschreibung“ für drei Bereiche verwen‐ det: a) die Bezeichnung dessen, was einmal geschah, b) die Erforschung dessen, was einmal geschah, und c) die sinnstiftende Erzählung dessen, was einmal geschah (Narration). Zugleich sind beide Begriffe teilweise inkongruent: „Geschichtlich“ bezeichnet zusätzlich v. a. in der Philosophie/Theologie eine menschliche Grund‐

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erfahrung (der Mensch als geschichtliches Wesen). „Historisch“ wird im Sinne von „wirklich in der Vergangenheit geschehen“ und damit der historischen Erforschung zugänglich verwendet; je nach Ausrichtung kann „historisch“ dann so verstanden werden, dass mit Hilfe eines „objektiven“ wissenschaftlichen Prozesses Vergangenheit rekonstruiert wird. Der „geschichtliche Jesus“ wäre damit die reale Person, auf die wir kaum Zugriff haben, der „historische Jesus“ die rekonstruierte Person in der (historischen) Wissenschaft. Historisch-kritische Exegese. Exegetische Hermeneutik, die das Verständnis eines biblischen Textes zum Zeitpunkt seiner Abfassung insbesondere durch Klä‐ rung seiner Entstehung und Rekonstruktion seiner Entwicklungsstufen anhand wissenschaftlicher Methoden untersucht. Identitätskonkret. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie, von Jan Assmann geprägt. Identitätskonkret meint: „auf eine bestimmte Gruppe bezogen und für ihre Identität relevant“. Identitätsmarker. Identitätsmerkmale oder Identitätsmarker sind Merkmale, die insbesondere Gruppen zur (Selbst-)Definition, Abgrenzung und Unterscheidung von anderen entwickelt haben. Typische Identitätsmarker sind Kleidung, Gesten, Bräuche, Symbole etc. In den frühen Generationen der Jesusnachfolger entwi‐ ckeln sich Taufe und Geistbesitz zu Identitätsmarkern, während die jüdischen Identitätsmarker Beschneidung und Speise- und Reinheitsgebote gerade im Hinblick auf Jesusnachfolger aus den Völkern aufgegeben werden. Imperiumskritische Lektüre. Begriff aus dem Postkolonialismus. Postkolonialis‐ tische Ansätze untersuchen Kultur und Identität von Kolonialisierungskontexten geprägter Gruppen und verfolgen durch ihren diskursiven Einfluss auf die Rekonstruktion des kulturellen Wissensbestands zumeist auch emanzipatorische Interessen. Imperiumskritische Lektüren beziehen sich in der neutestamentlichen Wissenschaft gewöhnlich auf das Imperium Romanum und dessen Propaganda, die auf die neutestamentlichen Schriften eingewirkt haben, und in diesen Texten (implizit und explizit) kritisiert werden können. Intertextualität. Begriff aus der Literaturwissenschaft, der die Beziehungen zwi‐ schen Texten beschreibt. Intertextuelle Analysen untersuchen und beschreiben die Beziehungen, die der vorliegende Text zu anderen Texten hat. Intertextuelle Disposition. Begriff, der beschreibt, dass an einer bestimmten Stelle in einem Text eine Verbindung zu einem anderen Text besteht, ohne literarische Abhängigkeiten oder Entstehungsszenarien auszudrücken. Kanon. Von gr. kanōn (Richtschnur, Regel). Kanon bezeichnet neben einer Reihe von anderen Bedeutungen auch eine Liste für überlieferungswürdig erachteter und damit verbindlicher Kulturgüter, insbesondere literarischer oder im Raum der

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Religion heiliger Texte. Damit kann ein Kanon als operationalisiertes Gedächtnis einer Kultur verstanden werden. Kanones sind identitätskonkret und bestimmen normativ und formativ das Selbstverständnis der Gruppe oder Interpretations‐ gemeinschaft, die sich auf einen konkreten Kanon bezieht, d. h. Kanon und Interpretationsgemeinschaft sind aufeinander bezogen. Auch wenn ein Kanon grundsätzlich als geschlossen verstanden wird und kanonische Grenzziehungen für die Identität der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft identitätsstiftend sind, sind viele Kanones de facto offen, zumindest veränderbar. In der Bedeutung einer geschlossenen Autoren- oder Textliste erscheint der Begriff Kanon im Hinblick auf die biblischen Texte zuerst in Eusebs Kirchengeschichte (h.e. VI 13,3; VI 13,25) und wird durch eine verwandte Formulierung in Gal 6,16 legitimiert. Kanonisierungsprozess. Als identitätskonkretes Phänomen entsteht ein Kanon nicht dadurch, dass sich Praktiken, Riten oder Texte aufgrund zeitloser – um bei Texten zu bleiben – literarischer Qualität durchsetzen, sondern ein Kanon ist immer das Ergebnis eines komplexeren Auswahl- und Deutungsprozesses. Das Ergebnis ist nicht vorhersehbar, sondern geschieht durch soziale Aushand‐ lungsprozesse im Zuge derer eine leitende Perspektive für die Erinnerungsge‐ meinschaft festgeschrieben wird, die für die Identität der zugehörigen Gruppe entscheidend ist. Daher ist jeder Kanon, obwohl normativ und formativ für das Selbstverständnis seiner Interpretationsgemeinschaft, kontingent und könnte grundsätzlich auch anders aussehen. Kirchenvater/Kirchenschriftsteller. Identitätskonkreter Begriff aus der Theolo‐ giegeschichte, der das Selbstverständnis der katholischen Kirche spiegelt. Als Kir‐ chenväter gelten christliche Theologen bis zum 8. Jahrhundert, die zu ihrer Zeit wichtige theologische Impulse gesetzt haben und in der Rückschau entscheidend zur Entwicklung der Theologie und der Kirche in ihrer späteren Form beigetragen haben. Ihnen werden ein entscheidender Beitrag zur orthodoxen Lehre und ein heiligmäßiges Leben zugeschrieben; alle Kirchenlehrer sind kanonisiert. Als Kirchenschriftsteller gelten christliche Theologen der (Spät-)Antike, denen die katholische Kirche nicht den Rang eines Kirchenvaters zuerkennt. Kollektives Gedächtnis. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisthe‐ orie. Der Begriff wurde von Maurice Halbwachs geprägt, der annahm, dass alles Erinnern sozial ist, da es innerhalb sozialer Rahmen stattfindet. Halbwachs unter‐ scheidet zwischen dem sozialen Gedächtnis als der Verortung von Erinnerungen in sozialen Rahmen und dem kollektiven Gedächtnis als der Verfertigung von neuen sozialen Rahmen. In einer Weiterentwicklung der Erkenntnisse von Halbwachs lässt sich sagen, dass im sozialen Gedächtnis Identitätsbildung innerhalb vorgege‐ bener sozialer und kultureller Rahmen stattfindet, während kollektives Gedächtnis

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neue Rahmen für künftige Prozesse von Identitätskonstruktion verfertigt und bereitstellt. Kommunikatives Gedächtnis. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächt‐ nistheorie. Jan Assmann definierte das kommunikative Gedächtnis im Gegenüber zum kulturellen Gedächtnis als zumeist noch lebendige und sich im Gespräch befindliche, gleichwohl identitätsformende Erinnerung, die auf einen Zeitraum von drei bis vier Generationen begrenzt ist, während das kulturelle Gedächt‐ nis zeitlich entfristet sei. Beide Begriffe wurden von Assmann ursprünglich als Ausdifferenzierung des kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halbwachs verstanden. Im Zuge der Weiterentwicklung der Theorie wurde der Begriff kommunikatives Gedächtnis zugunsten eines erweiterten Verständnisses von kollektivem Gedächtnis weitgehend aufgegeben. Krise. Begriff in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie. Als Krisen gelten hier Entscheidungssituationen oder Situationen, die Veränderungen erzwingen oder notwendig machen Kriterium der historischen Wirkungsplausibilität. Aspekt des im Zuge der Third Quest der historischen Jesusforschung von Gerd Theißen entwickelten „historischen Plausibilitätskriterium“. Das Kriterium der historischen Wirkungs‐ plausibilität bezieht sich auf das Verhältnis Jesu zum sog. Urchristentum oder den ersten Generationen der frühen Jesusnachfolger und besagt, dass ein stimmiges Bild des historischen Jesus dessen Nachwirkung in den ersten Generationen der frühen Jesusnachfolger erklären können muss. Es besagt, dass Übereinstimmun‐ gen in unterschiedlichen Überlieferungen und Gattungen am besten auf Jesus zurückzuführen sind. Dasselbe gelte für die Überlieferungen, die aus Sicht der Forscher nicht zu den Interessen der Gruppen früher Jesusnachfolger passen, aber dennoch tradiert wurden. Das Kriterium der historischen Wirkungsplausi‐ bilität wird gewöhnlich zusammen mit dem Kriterium der Kontextplausibilität angewendet. Kriterium der Kontextplausibilität. Aspekt des im Zuge der Third Quest der historischen Jesusforschung von Gerd Theißen entwickelten „historischen Plau‐ sibilitätskriterium“. Das Kriterium der Kontextplausibilität bezieht sich auf das Verhältnis Jesu zum Judentum des Zweiten Tempels und besagt, dass ein stimmi‐ ges Bild des historischen Jesus mit den jüdischen Strömungen in Galiläa und Judäa in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts vereinbar sein muss. Daneben müsse Jesus aber individuelle Züge aufweisen, die ihn klar von anderen Strömungen seiner Zeit unterscheidbar machen und nicht auf frühchristliche Traditionsbil‐ dung zurückgeführt werden können. Das Kriterium der Kontextplausibilität wird

Glossar

gewöhnlich zusammen mit dem Kriterium der historischen Wirkungsplausibilität angewendet. Kultureller Referenzrahmen. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächt‐ nistheorie. Als (kulturelle) Referenzrahmen gelten im Anschluss an die Erkennt‐ nisse von Maurice Halbwachs die jeweils vorfindlichen sozialen und kulturellen Gegebenheiten (Rahmen), in denen Individuen und Gruppen Ereignisse und Erfahrungen semantisieren und so Identität konstruieren. Kulturelles Gedächtnis. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisthe‐ orie. Jan Assmann definierte das kulturelle Gedächtnis im Gegenüber zum kom‐ munikativen Gedächtnis als Unterkategorie zu Maurice Halbwachs’ kollektivem Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis beschreibt das kanonisierte kulturelle (Erinnerungs-)Gut einer Gruppe, das normativ und formativ ihr Selbstverständnis bestimmt. Kulturwissenschaftliche Exegese. Liest die neutestamentlichen Texte als Zeug‐ nisse frühchristlicher Identitätsdiskurse (etisch) und als normative und formative Text/kulturelles Gedächtnis des Christentums (emisch). Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie/Social Memory Theory. Sam‐ melbegriffe für die unterschiedlichen Ausprägungen zur wissenschaftlichen Erforschung von Gedächtnis und Erinnerung im deutschen und englischen Sprachraum. Während die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie in der deutschsprachigen Forschung mehrheitlich auf die Erkenntnisse von Maurice Halbwachs und Jan und Aleida Assmann zurückgreift, wird insbesondere im amerikanischen Sprachraum eher mit der Weiterentwicklung der Erkenntnisse von Maurice Halbwachs durch Barry Schwartz und Jeffrey Olick gearbeitet. Leitende Perspektive. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheo‐ rie. Im Anschluss an die Erkenntnisse von Jan und Aleida Assmann wird das kollektive Gedächtnis als die Zeitspanne verstanden, in der die Gründungserzäh‐ lung einer Gruppe ihre vorläufige feste Form erhält und in der der Strom unterschiedlicher Versionen (oder Traditionen) sich allmählich auf eine Version hin verdichtet. Soziale Aushandlungsprozesse führen zu einer dominanten oder leitenden Perspektive im Umgang mit der Vergangenheit und somit eine stabile Version der Gründungsgeschichte hin, die sozial akzeptiert ist. Diese leitende Perspektive lässt sich bei der Analyse von Gründungserzählungen und anderen Texten des kollektiven Gedächtnisses in der Regel gut erkennen. Linguistic Turn. Sammelbegriff, der unterschiedliche Entwicklungen im Denken des 20. Jahrhunderts beschreibt. Verbindendes Element ist eine grundlegende Skepsis gegenüber der Vorstellung, dass Sprache ein transparentes Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit ist. Sprache gilt hier vielmehr

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als unhintergehbare Bedingung des Denkens, sodass alles menschliche Erkennen sprachlich strukturiert ist und Wirklichkeit jenseits von Sprache nicht erreichbar, im Sinne von kommunizierbar, ist. Damit rückt insbesondere in der Philosophie Sprache als Untersuchungsgegenstand in den Mittelpunkt. Literarkritik. Methode innerhalb der historisch-kritischen Exegese. Literarkritik untersucht als diachrone Herangehensweise die literarische Eigenart, Struktur und Herkunft eines Textes, sowie seine Entstehungsgeschichte, um auch seine verschiedenen möglichen Quellen zu rekonstruieren. In der konkreten Praxis versucht sie, Anfang und Ende der großen und kleinen Texteinheiten zu bestimm‐ ten und die innere Kohärenz des Textes zu prüfen. Masternarrativ/Narrativ. Begriff aus der Geschichtswissenschaft, der zum Aus‐ druck bringt, dass sich ein Verständnis von Geschichtswissenschaft als Universal‐ geschichte im Sinne eines objektiv sinnvollen und kohärenten Zusammenhangs nicht mehr aufrechterhalten lässt, und stattdessen in der Postmoderne nur noch narrative Entwürfe mit Gegenwartsbezug möglich sind. An die Stelle einer (als kulturelles Gedächtnis bestimmten) Universalgeschichte tritt der Entwurf von deutenden Großerzählungen, die unter dem Titel „Masternarrativ“ (auch: Meistererzählung) die Vergangenheit/Gegenwart sinnvoll erklären. In der Zeit‐ geschichte der Bundesrepublik ist das bekannteste Gegensatzpaar die Deutung der Zeitgeschichte aus „westlicher“ oder „östlicher“ Perspektive. Medienwechsel. Veränderung des Speichermediums/der Speichermedien für Erin‐ nerungen und Traditionen, beispielsweise aus der Oralität (gesprochenes Wort) in die Materialität (externes Speichermedium unterschiedlicher Art) oder Textu‐ alität (Text). Auch Genrewechsel fallen unter Medienwechsel. Multiperspektivisches Erzählen. Begriff aus der Literaturwissenschaft. Die Erzählforschung versteht multiperspektivisches Erzählen als ein Konzept zur Analyse der erzählerischen Vermittlung ähnlich wie den Point of view oder die Fokalisierung. Von diesen Konzepten wird das multiperspektivische Erzählen als weitere Stufe der narratologischen Theoriebildung folgendermaßen abgegrenzt: Beim Point of View steht die Erzählsituation – und damit die Erzählinstanz – im Zentrum der Aufmerksamkeit. Bei der Fokalisierung geraten mit der Frage „Wer sieht?“ Fokalisierungsinstanzen und Reflektorfiguren in den Blick. Dagegen nimmt das multiperspektivische Erzählen die Perspektiven aller am Erzählvorgang beteiligten Instanzen – also sowohl Erzählinstanz als auch der einzelnen Erzählfiguren – in den Blick. Normativ/formativ. Begriffspaar, das Jan Assmann in die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie eingebracht hat. Assmann zufolge sind die fundierenden Erinnerungen einer Gruppe normativ, indem sie bestimmte Verstehens- und

Glossar

Verhaltensmuster vorgeben, und formativ, indem sie die entsprechende Gruppe konstituieren oder formieren. Oral History. Begriff aus der Kulturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft. Oral History bezeichnet die auf Mündlichkeit beruhende Organisation und Tradierung geschichtlicher Erfahrung. Der Begriff bezieht sich sowohl auf die er‐ innerte und mündlich kommunizierte Geschichtserfahrung (Kulturwissenschaft) als auch auf den Zweig der Geschichtswissenschaft, die diese Praxis (als Quelle) untersucht. Oral History ist insofern mit dem Dreigenerationengedächtnis ver‐ bunden als sie als „lebendige Erinnerung“ mit einer Reichweite von 80–120 Jahren gilt und sich aus den persönlichen Erfahrungen der Angehörigen einer Genera‐ tion oder Gruppe von Zeitgenossen konstituiert, die im Medium des Gesprächs geteilt und weitergegeben werden. Oral History kann damit als Phänomen des sozialen Gedächtnisses verstanden werden, was auch bedeutet, dass es innerhalb der Oral History keinen privilegierten (Beobachter-)Standpunkt gibt. Parting of the Ways. Begriff aus der Bibelwissenschaft, der die Prozesse beschreibt und untersucht, an deren Ende Judentum und Christentum als zwei unterscheid‐ bare und getrennte Religionen stehen. Es geht dabei also darum, wie sich die Wege von Judentum und Christentum als legitime Fortsetzungen der Religion des Zweiten Tempels entwickelt haben. Perspektive. Begriff, der ursprünglich aus der Naturwissenschaft stammt und in anderen Bereichen weiterentwickelt wurde, wie in der Malerei, wo die Perspek‐ tive grob gesagt den Blickwinkel bezeichnet. Diese Bedeutungsnuance wird in der Literaturwissenschaft und der Kulturwissenschaft aufgegriffen und weiterentwi‐ ckelt. Hier bezeichnet Perspektive zunächst den zeitlichen und räumlichen Ab‐ stand der Erzähl- oder Vermittlungsinstanz zum Geschehen (Erzählperspektive). In einer Weiterentwicklung des Begriffs kann Perspektive das Vorwissen, die psychologische Disposition und weltanschauliche Orientierung, oder zusammen‐ gefasst das (fiktive) Voraussetzungssystem der Erzähl- oder Vermittlungsinstanz (Erzählerperspektive) bzw. einer Erzählfigur (Figurenperspektive) bedeuten. Un‐ ter der Erzählerperspektive wird in der Literaturwissenschaft – anders als bei der Erzählsituation oder Erzählperspektive – nicht der Standort der Erzählinstanz oder die erzählerische Vermittlung verstanden, sondern das Wirklichkeitsmodell der Erzählinstanz. Perspektivische Erzählung. Begriff in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis‐ theorie. Als perspektivische Erzählung gilt eine Erzählung die erkennbar von einem bestimmten Standpunkt – Vorwissen, psychologischer Disposition und weltanschaulicher Orientierung, oder zusammengefasst dem Voraussetzungssys‐

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tem – der Erzählinstanz erzählt wird. Grundsätzlich gelten alle identitätskonkre‐ ten Erzählungen als perspektivisch. Perspektivwechsel. Begriff aus der Erzähltheorie. Unter einem Perspektivwechsel wird gewöhnlich eine Veränderung der Fokalisierungsinstanz einer Erzählung („wer sieht?“) verstanden, zumeist von der Erzählinstanz auf eine Erzählfigur oder von einer Erzählfigur auf eine andere. Ein Perspektivwechsel liegt beispielsweise vor, wenn in Mk 1,10–11 die Leser die Situation mit den Augen der Erzählfigur Jesus sehen und in seine Wahrnehmung hineingenommen werden. Perzeptuelles Gedächtnis. Begriff aus der Neurowissenschaft, bezeichnet eine der fünf Funktionen des Langzeitgedächtnisses. Das perzeptuelle Gedächtnis beschreibt das bewusste Wiedererkennen von Reizen aufgrund von Vorerfahrun‐ gen, Bekanntheits- oder Familiaritätsurteilen. Possible Worlds Theory. Literaturtheoretischer Ansatz, der auf den Erkenntnis‐ sen der Analytischen Philosophie basiert und von der sprachphilosophischen Annahme ausgeht, dass die Dinge in der Welt auch anders sein könnten als sie wirklich sind. Im Anschluss an das von G.W. Leibnitz geprägte Konzept der „möglichen Welten“ wird die Wirklichkeit als ein modales System verstanden, das aus einer Vielzahl von Welten besteht: einer tatsächlichen Welt („actual world“) und möglichen alternativen Welten („possible worlds“). Bei der Erzähltextanalyse werden im Zuge der Possible Worlds Theory ebenfalls verschiedene Welten un‐ terschieden: Die Textwelt/Welt der Erzählung gilt tatsächliche Welt („text actual world“), die aber durchaus fiktiv sein kann. Die alternativen (Vorstellungs-)Wel‐ ten der Erzählinstanz und der Erzählfiguren gelten als mögliche Welten („possible worlds“). Priming. Begriff aus der Neurowissenschaft, bezeichnet eine der fünf Funktionen des Langzeitgedächtnisses. Priming oder „Bahnung“ als implizites Gedächtnis bereitet („bahnt“) den Weg dafür, dass kurz zuvor in gleicher oder ähnlicher Weise wahrgenommene Reize mit größerer Wahrscheinlichkeit wiedererkannt werden. Produktionsorientiert/rezeptionsorientiert. Die Begriffe bezeichnen den Fokus einer (wissenschaftlichen) Herangehensweise oder Untersuchung von Medien und interessieren sich dafür, wie bspw. ein Text im Einzelnen entstanden ist (produktionsorientiert) oder wie er auf reale und virtuelle Adressaten wirkt, wirken könnte oder gewirkt hat (rezeptionsorientiert). Prozedurales Gedächtnis. Begriff aus der Neurowissenschaft. Das prozedurale Gedächtnis oder Verhaltensgedächtnis bezeichnet die früheste der fünf Funktio‐ nen des Langzeitgedächtnisses und bezieht sich auf motorische Fähigkeiten (Bewegungen und Bewegungsabläufe), die nach dem Erlernen automatisiert ablaufen.

Glossar

Pseudepigraphie/pseudepigraph. Schriften, die nicht unter dem Namen des echten Verfassers publiziert werden, sondern unter einem Pseudonym Redaktionskritik. Methode der historisch-kritischen Exegese, die die Entstehung eines biblischen Textes anhand seiner Redaktionsstufen (Sammlung und Überar‐ beitung des vorliegenden Materials) erforscht. Semantisches Gedächtnis. Begriff aus der Neurowissenschaft. Das semantische Gedächtnis ist ein Teil des Langzeitgedächtnisses und speichert rohes Datenmate‐ rial ohne Kontext: Zahlen, Fakten, Formeln, Wortbedeutungen, Allgemeinwissen etc. Das semantische Gedächtnis wird auch als „Wissenssystem“ bezeichnet und enthält keine persönlichen Informationen. Sozialer Aushandlungsprozess. Begriff in der kulturwissenschaftlichen Gedächt‐ nistheorie. Soziale Aushandlungsprozesse dienen der Verständigung über die wesentlichen Aspekte der gemeinsamen Erinnerung einer Gruppe und ihrer leitenden Perspektive auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Me‐ dien für solche Aushandlungsprozesse sind nicht festgelegt und können je nach Aushandlungsgegenstand und Gruppe unterschiedliche Formen annehmen und sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen Medien stattfinden Soziales Gedächtnis. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie. Der Begriff wurde von Maurice Halbwachs geprägt, der annahm, dass alles Erinnern sozial ist, da es innerhalb sozialer Rahmen stattfindet. Halbwachs unter‐ scheidet zwischen dem sozialen Gedächtnis als der Verortung von Erinnerungen in sozialen Rahmen und dem kollektiven Gedächtnis als der Verfertigung von neuen sozialen Rahmen. In einer Weiterentwicklung der Erkenntnisse von Halbwachs lässt sich sagen, dass im sozialen Gedächtnis Identitätsbildung innerhalb vorgege‐ bener sozialer und kultureller Rahmen stattfindet, während kollektives Gedächtnis neue Rahmen für künftige Prozesse von Identitätskonstruktion verfertigt und bereitstellt. Speichergedächtnis. Begriff aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie. Aleida Assmann hat die Begriffe Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis als zwei unterschiedliche Modi der externalisierten Erinnerung in Kulten geprägt. Im Speichergedächtnis einer Gruppe oder Kultur werden Quellen, Objekte und Daten unabhängig von ihrem Nutzen gesammelt und aufbewahrt, während das Funktionsgedächtnis das aktive Gedächtnis einer Gruppe ist und die für die Identität einer Gruppe relevante Auswahl aus den überlieferten Wissens- und Traditionsbeständen einer Gruppe enthält. synchron. von gr. syn-chronos (mit der Zeit oder gleichzeitig). Begriff aus der his‐ torisch-kritischen Exegese. Bezeichnet Zugänge und Methoden in der Bibelwis‐ senschaft, die Texte in der Gestalt untersuchen, die sie zu einem bestimmten Zeit‐

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punkt haben und versuchen, ihre Bedeutung zu verstehen. Synchrone Zugänge verstehen, anders als diachrone Zugänge, Texte als Produkt eines historischen oder kommunikativen Prozesses und sind daran interessiert, ihre vorliegende Gestalt zu beschreiben und zu erklären. Zu den synchronen Methoden der Textanalyse gehören Struktur- und Formanalyse, Motiv- und Traditionsanalyse, intertextuelle Analysen, Untersuchungen zur Syntax, Semantik und Pragmatik, sowie narrative Analysen. Tradentenkette. Der Begriff bezeichnet eine lückenlose Reihe von Übermittlern einer bestimmten Tradition, die ihre Rechtmäßigkeit oder Richtigkeit gewährleis‐ ten oder eine Verbindung zu den Gründungsereignissen (häufig über den Floating Gap hinweg) darstellen sollen. Tradentenketten verbürgen dabei nicht unbedingt die historische Richtigkeit, sondern lediglich die autoritative Herleitung einer Tradition und können entsprechend auch konstruiert sein. Tradition. Begriff aus der Kultur- und Sozialwissenschaft, der auch in Bibelwis‐ senschaft und Geschichtswissenschaft begegnet. Tradition bedeutet „Übergabe, Überlieferung“ und bezeichnet zunächst ganz allgemein das kulturelle Erbe einer Gesellschaft, sozialen, ethischen oder religiösen Gruppe. Tradition kann je nach Verwendung die Gesamtheit der aus der Vergangenheit überlieferten Praxen, Rituale, Wertorientierungen und kulturellen Artefakte (inklusive Texten) meinen oder auf einige spezielle Formen eingeschränkt werden. Grundsätzlich ragt die erinnerte oder in Speichermedien festgehaltene Kultur der Vergangenheit durch Traditionen in die Gegenwart hinein und wird bzw. bleibt aktuell für sie relevant. In der Bibelwissenschaft wird der Begriff Tradition gewöhnlich für mündliche Überlieferungen verwendet, die in die biblischen Texte Eingang gefunden haben, z. B. Jesusüberlieferungen in Form von Anekdoten, die in den Evangelien verarbeitet wurden. In der Geschichtswissenschaft wird Tradition als heuristische Kategorie verwendet, mit der Quellen bezeichnet werden: Die Traditionsquelle gilt im Gegensatz zur Überrestquelle als mit der Absicht verfasst, Ereignisse oder Zustände für die Nachwelt zu dokumentieren. Traditions- und Motivkritik/Traditions- und Motivanalyse. Ursprünglich Methoden der historisch-kritischen Exegese mit produktionsorientiertem Fokus: Traditionskritik erforscht mündliche Vorstufen des Textes. Situiert die Texte in den Überlieferungsströmen, deren Entwicklung im Laufe der Geschichte sie zu präzisieren versucht. Motivkritik untersucht (literarische) Motive in biblischen Texten und versucht ihre Herkunft und literarische Abhängigkeiten zu erklären. In der kulturwissenschaftlichen Exegese untersuchen Traditions- und Motiva‐ nalysen Verbindungen zu anderen Texten und Medien, die in gemeinsamen Traditionen und Motiven bestehen, z. B. der verarbeiteten geprägten Gedanken

Glossar

und Vorstellungen oder hintergründiger (inhaltlich-theologischer) Denkmuster und Vorstellungskomplexe. Traditionsbruch. Begriff aus der Kulturwissenschaft. Nach Jan Assmann bezeich‐ net ein Traditionsbruch das Abreißen des Kontakts mit den lebendigen Vorbil‐ dern, bzw. der lebendigen Tradition. Traditionsgarant. Der Begriff bezeichnet in der neutestamentlichen Wissenschaft eine Person aus der unmittelbaren Vergangenheit oder eine Erinnerungsfigur, die die Rechtmäßigkeit oder Richtigkeit einer Tradition verbürgt. Als Traditionsga‐ rant für das Markusevangelium wird in der frühen Kirche Petrus gesehen, als Traditionsgarant für das Johannesevangelium der (anonyme) Lieblingsjünger, der in der neutestamentlichen Wissenschaft zunehmend als literarische Fiktion gilt. Unmittelbare Vergangenheit/Absolute Vergangenheit. Die Begriffe drücken den Standpunkt einer Person, eines Erinnerungsmediums, Texts oder einer Erinnerungsgemeinschaft zum Gegenstand der Erinnerung aus. Die unmittelbare Vergangenheit bezieht sich auf eine bis maximal drei Generationen, die absolute Vergangenheit auf die „graue Vorzeit“, zu der es keine lebendige Verbindung mehr gibt, und die in jedem Fall jenseits des Floating Gap liegt. Wirklichkeitskonstruktion/Wirklichkeitskonstruktion zweiter Ordnung. Begriffe aus dem Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass es nicht die eine „Wirklichkeit an sich“ gibt, die von allen Menschen zu allen Zeit und an allen Orten gleich wahrgenommen wird, sondern Menschen und Gruppen jeweils aufgrund ihrer eigenen Beobachtungen und ihres Vorwissens sowie ihrer Interaktion mit der jeweiligen Umwelt ihre eigene Wirklichkeit konstruieren, wobei die Sprache eine entscheidende Rolle spielt. Wirklichkeitskonstruktionen lassen sich somit auch als Ergebnisse selbstorganisierter Bedeutungs- und Informationserzeugungsprozesse beschreiben. In die Geschichtswissenschaft hat Peter Lampe am Modell der Auferstehung Jesu den Begriff der „Wirklichkeitskonstruktion zweiter Ordnung“ geprägt. Ausgangspunkt ist der Versuch historischer Forschung aus den vorlie‐ genden Quellen zu erheben, wie sich für damaligen Menschen die von ihnen konstruierte Wirklichkeit darstellte, sprich: wie die Menschen damals ihre Welt verstanden und deuteten. Der Versuch, dieses Wirklichkeitskonstrukt anhand von Quellen zu erheben, führt nicht, wie die klassische Geschichtsschreibung vermuten würde, zur Rekonstruktion des damaligen Konstrukts, sondern zu einem Konstrukt zweiter Ordnung, das einerseits perspektivisch gebunden und andererseits eng mit dem Wirklichkeitskonstrukt verknüpft ist, dass der jeweilige Historiker für seine eigene Gegenwart entworfen hat.

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Autorenverzeichnis

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Autorenverzeichnis   Alkier, Stefan  283 Assmann, Aleida  22, 39f., 43, 49, 56, 58, 233, 253, 323, 337, 342, 347, 351 Assmann, Jan  43, 45, 49–52, 56f., 63, 67, 85, 253, 259, 320, 323, 333, 339, 342ff., 346ff., 353 Berek, Matthias  21 Bull, Klaus-Michael  91

Kähler, Martin  256 Kasza, Peter  294 Keith, Chris  259 Lampe, Peter  289, 353 Markowitsch, Hans J.  39 Markschies, Christoph  244 Martin Ebner  84f., 165, 304f., 319 Michel, Otto  16

Clemens von Alexandrien  311, 314 Niethammer, Lutz  51 Dunn, James  253 du Toit, David  73 Ebner, Martin  83f. Eder, Jacob  292, 294f. Euseb von Caesarea  17f., 74, 94, 235, 256, 303, 307–310, 312–315, 345 Flavius Josephus  288 Frisch, Max  33f., 37, 45, 124 Gergen, Kenneth  109f., 340 Halbwachs, Maurice  37, 43–49, 53f., 56f., 101f., 106, 127, 253, 258f., 268, 321, 345ff., 351 Hays, Richard  227 Heinrich, Arthur  291

Oeming, Manfred  319, 326f. Papias von Hierapolis  17f., 86, 302ff., 307–314 Päpstliche Bibelkommission  333 Polykarp von Smyrna  71f., 74ff., 303, 307, 311, 314 Reinmuth, Eckart  91 Rhee, Helen  75 Ricœur, Paul  322 Roloff, Jürgen  81

Irenäus von Lyon  303, 306f., 309–315

Schatz, Klaus  103, 185, 326ff. Schnelle, Udo  80f., 309 Schröter, Jens  253, 259 Schwartz, Barry  253, 347 Simenon, Georges  34 Sueton  143

Justin der Märtyrer  17, 84

Vansina, Jan  50, 341

362

IV  Anhang

Watson, Francis  82 White, Hayden  259

Zimmermann, Ruben  258 Zwickel, Wolfgang  208

Bibelstellenverzeichnis

363

Bibelstellenverzeichnis Altes Testament Gen  1,1  176 6,1–4  240 7,12  52 7,13  240 7,17  52 7,4  52 8,18  240 8,6  52 9,1–13  226 13,15  148 17,8  148 19  240 24,7  148 25,20  52 26,34  52 50,3  52 Ex  12,14  320 13,3  16 13,3–10  15 13,9  16 24,18  52 34,28  52 Lev  12,6–8  208 Num  13,25  52 14  240 14,33f.  54 22  240 32,13  54

Jos  3–4  176 5,6  54 Ri  3,11  52 5,31  52 8,28  52 13,1  52 1 Sam  4,18  52 17,16  52 2 Sam  2,1  52 5,4  52 1 Kön  11,42  52 19,8  52 2 Kön  1,8  176 12,1  52 1 Chr  26,31  52 Ps  90,4  242 95,10  54 Jes  6,8–13  226 35,6  228 40,3–5  201 42,6  226 46,14  226 49,6  226 58,6  201

364

IV  Anhang

61,1  176, 201 Ez  4,6  52

29,11ff  52 Jona  3,4  52

Neues Testament Mt  1,2–17  101 2,16–18  129 4,2  52 5,1–7,29  32 6,13  243 7,6  243 10,2  236 17,1–8  240 17,5  243 21,32  243 24,37–39  243 24–25  243 26,13  16 Mk  1,10  177 1,10–11  177, 182, 184, 187, 350 1,11  185 1,14  178, 185, 187 1,14–15  172 1,14–3,6  105 1,16  33, 182 1,16–18  31 1,16–8,26  172 1,17  31 1,19  182 1,19–20  31 1,21  32 1,21–22  31 1,21–22f.  31 1,21–28  173 1,22  31f., 183

1,23–27  184 1,23–28  31 1,25  31 1,27  31 1,27f.  32 1,29–31  31 1,34  184 1,35  31 1,36–37  31 1,38  31 1,39  32 1,41  182 1,45  208 1,64  172 1,1  177, 185, 286 1,1–15  172, 174, 179 1,1–3  183 1,1–3,6  171f., 179, 181, 184f., 198 1,9–11  177 2,10–27  185 2,12  31 2,16  182 2,5  182 2,6  183 2,6–11  182 2,7  182 2,7–8  184 2,8  182 3  173 3,13–19  173 3,16  236 3,20  209

Bibelstellenverzeichnis

3,21  31 3,2  182ff. 3,5  183 3,6  172, 174, 179, 184 4  173 4,1–34  173 5,20  31 5,42  31 6,14–16  173 6,14–29  129 6,17–29  180 6,30–44  172 6,31  209 6,52  31 6,2  31 6,3  208 6–8  105 7,37  31 8,22–26  172, 285 8,27  173 8,27–10,52  172, 174 8,27–30  173 8,31  172 8,1–9  172 9  173, 186 9,14–29  172 9,15  31 9,31  172 9,2–10  173 9,2–9  240 10  173 10,33–34  172 10,46–52  172 11,18  31 11,1–16,8  172 12  173 12,18  31 13  173

365

14,53–65  172 14,1  172 14,9  16 15,39  185 15,43  185 15,2–15  172 16,6  174 16,8  110, 187 Lk  1,20  197 1,78f  226 1,1  199, 212 1,1–4  195f., 312f. 1–2  234, 298 1,4  212 1,8  202 2,11  298 2,15  204 2,22–40  208 2,32  226 2,40  197 2,46–50  208 3,22  201, 217 3,23–38  201 3,4–6  201 4,14  201, 217 4,16–19  201 4,16–30  32, 209 4,18  201, 217 4,18–19  201 4,21  197, 199 4,31–41  204 4,38  204 4,41  201 4,42–44  204 4,1  201 4,1–13  209, 217 4,1–14  201

366

IV  Anhang

5,10  203 5,17  201 5,17–26  228 5,27–32  203 5,29  204 5,1–11  201, 203 5,8  203 6,20–49  197 7,11–17  228 7,34  209 7,36  205, 209 7,36–50  205 7,1  197 7,1–10  204, 229 7,3–5  204 7,9  205 8,40–56  203, 205, 228 8,1–3  205, 208 8,4–18  207 9,20  201 9,31  197 9,51  197 9,5  208 9,6  208 9,9  206 10,13  208 10,38  205 10,41  205 10,1–12  208 11,37  205, 209 14,16–24  206 14,26  209 14,28–33  206 14,33  211 14,1  205, 209 14,1–26  206 15,32  199 16,19  206

16,19–31  206 16,1–8  206 18,18–30  206 18,22  211 19,11–27  206 19,1–10  203, 206 21,24  197 22,12  218 22,13–48  202 22,16  197 22,19  16 22,29  321 22,7–38  209 23,14  230 23,22  230 23,47–48  229 23,4  230 23,8  206 23,9  206 24,13–35  199, 202 24,25–27  202 24,26–27  226 24,44  197, 199 24,44–48  226 24,53  202 Apg  1,12–26  218 1,15–26  218 1,1–12  213f. 1,3  52 1,6–8  216 1,8  216ff. 2,14–47  218 2,25–30  226 2,1–13  218 2–4  54 3,18–26  226 3,1–10  228

Bibelstellenverzeichnis

4,22  52 5,29  222 5,38–39  221 6,1–7  218 6,8–7,60  53 6,13f.  53 7  53f. 7,42–53  225 7,59  228 7,1–53  223 8,26–27  216 8,35  226 8,1–3  228 9,22  226 9,36–43  228 9,1  53 9,1–19  216 9,2  231 9,3  220 10–11  151 10,1–23  216, 219 10,1–48  229 10,4  16 11,26  214, 220, 222, 231, 244 12,13–16  222 12,1–14  230 12,1–4  228 12,6–17  228 13,29–37  226 13,47  226 13,1–14,28  220 13–14  141 13,2  216 13,4–12  220 14,27  220 14,8–10  228 15,28–29  226 15,36–18,22  220

367

15,1  220 15,1–29  218 16,10–16  222 16,16–22  222 16,17  231 16,20–22  229 16,23–39  228 16,37f  230 16,6  216 16,9–10  216 17,22–31  221 17,2–3,11  226 18,11  221 18,12–17  230 18,15  231 18,20–38  221 18,25–26  231 18,28  226 18,2  143 19,23  231 19,23–40  230 19,32–34  222 19,1–7  222 19,9  231 20,5–15  223 20,7–12  222, 228 21,27–36  228 21,1–17  223 22,22–30  228 22,25–26  229 22,25–29  230 22,4  231 23,10  230 23,27  230 23,29  230 24,14  226, 231 24,22  231 24,23  229

368

IV  Anhang

25,18  231 25,25  230f. 25,9–11  221 26,22–23  226 26,23  226 26,31  230 26,32  221 26,1–29  226 27,43  230 27,1  230 27,1–28,15  221 27,1–28,16  223 28,16  230 28,16–31  230 28,23  226 28,25–28  226 28,30  230 28,32  221 Röm  1,9  16 6  163 1 Kor  11,24  16, 321 11,25  16 12,12–31  163 Gal  1,10–24  146 1,11  148 1,11–16  146 1,12  146 1,13  142f. 1,15–16  148 1,16  146 1,1  140, 146 1,2  140 1,3  141 1–3  140 1,4  142

1,6  141f. 1,6–9  141 1,8  140 2  220 2,10  143 2,11–14  143 2,13  141 2,14  219 2,15–16  145, 147 2,16  142, 147f. 2,20  148 2,1–10  143 2,1–14  144 2,2  143, 146 2,4  140, 144 2,6  146 2,7–9  143, 146 2,9  146, 149 3,15  148 3,16  148 3,24  149 3,27–28  145, 149 3,28  88 3,1  140 3,2  148 3,5  148 3–5  148 3,6  148 4,12  145 4,13–15  140 4,13f  140 4,17  142 4,19  140f., 148 4,20  140f., 146 4,21  141f. 4,21–22  149 4,21–31  149 4,24–25  149

Bibelstellenverzeichnis

4,28  149 4,29  149 4,6  141 4–6  140 4,9  142 5,12  140 5,14  149 5,17  148 5,21  150 5,25–26  150 5,1  144 5,2  145 5,4  142, 149 5,6  149 5,7  141 6,12  142 6,12–13  142 6,16  345 6,17  140 6,2  149 6,9–10  150 Eph  1,16  16 5,21–6,9  92 Phil  1,3  16 Kol  1,10  158 1,15–20  159 1,18  159, 161 1,20  159ff. 1,22  160 1,24  156, 166f. 1,2  156 1,3–8  162 1,4  156 1,4–5  158 1,6  158

369

1,7  156, 164 1,9  156 2  163 2,11  161 2,12  160 2,16  158, 161 2,18  158, 160 2,20  158, 160 2,20–23  158 2,21  161 2,23  161 2,1  156 2,5  157 2,6–7  160 2,8  158, 160 2,8–23  158 3,10–11  88 3,11  88, 161 3,12  161 3,15–17  161 3,18–4,1  92, 159, 161 3,1  159 3,1–2  160 3,3  160 3,5  160 3,5–8  161 3,9–10  161 4,10  156 4,12  156, 164 4,12–13  156 4,15  158 4,15–16  156, 164 4,17  157 4,18  156 4,3  156 4,7–9  157 4,9  165

370

IV  Anhang

1 Thess  1,1  273 1,2  16, 275 1,3  274f. 1,4  274 1,5  275, 277 1,6  273, 277f. 1,6–10  274 1,7–8  273 1,8  275 1,9  273 2,10  275 2,11  274 2,12  276f. 2,13  275 2,14  273f. 2,17  274 2,18  275 2,1  274 2,2  275 2,6  274 2,7  274 2,7–12  274 2,9  275, 277 3,2  274 3,3  275, 278 3,4  278 3,5  275 3,6  16 3,7  274, 276 4  278 4,10  274, 276 4,13  274 4,13–18  275 4,13–5,11  277 4,15  276 4,18  276 4,1  274, 276

4,1–10  275 4,1–12  275 4,2  275f. 4,3  276 4,6  274 4,9  275 5  278 5,11  275 5,11–26  276 5,12  274, 276 5,12–20  275 5,12–22  275f., 279 5,14  274, 276 5,18  275 5,25  274 5,26  274 5,27  274ff. 5,1  274 5,1–11  275 5,2f  276 5,4  274f. 5,5–11  275 5,8  275 2 Thess  1,10  280 1,3  279 1,3–12  278 1,4–5  278 1,6–10  278 1,7  277ff. 2,12  279 2,13  279 2,14  280 2,15  277–280 2,1  280 2,2  277f. 2,2–3  278 2,3  278

Bibelstellenverzeichnis

2,3–12  278 2,4  279 2,7  278 2,8–9  278 3,10  279f. 3,11  278ff. 3,12  279f. 3,14  279f. 3,15  280 3,17  277 3,1  280 3,2  277 3,4  279f. 3,6  278ff. 3,6–12  279 3,6–13  278 3,7  278ff. 3,7–10  281 3,7–9  277 3,9  279f. 2 Tim  1,3  16 1,5  16 4,21  306 Phlm  4  16 Hebr  10,3  16 2 Petr  1,12  238, 242 1,12–21  240 1,13  16 1,13–14  241 1,13–15  241

371

1,15  16, 241 1,16  238 1,17  243 1,18  240f. 1,1  236, 238, 241 1,4  236 2,12–15  237 2,13  238, 243 2,16–18  237 2,19  238 2,20  238, 243 2,21  238, 243 2,22  243 2,1–22  239 2,3  238 2,5  243 2,6f  243 2,9  243 3,10  242 3,10–12  242 3,15–16  237, 241 3,16  238 3,17–18  237 3,18  237 3,1  16, 237, 241 3,1–13  240 3,3–4,9  238 3,4  237, 241 3,8  242 Jud  5  240 Offb  3,14ff.  164

BUCHTIPP Sönke Finnern, Jan Rüggemeier

Methoden der neutestamentlichen Exegese Ein Lehr- und Arbeitsbuch 1. Auflage 2016, 338 Seiten €[D] 26,90 ISBN 978-3-8252-4212-1 eISBN 978-3-8385-4212-6

Die Methoden der neutestamentlichen Bibelauslegung haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Neben die traditionellen Schritte der historisch-kritischen Methode sind neuere Auslegungsansätze aus Linguistik, Literaturwissenschaft oder Psychologie getreten. Während die Bibelwissenschaft schon immer ein ‚Schmelztiegel der Auslegungsmethoden‘ war, gilt das heute noch mehr als früher. Daher legt das vorliegende Lehrbuch Wert auf eine interdisziplinäre textwissenschaftliche Perspektive. Zahlreiche Materialien und detaillierte Stundenverlaufpläne zu allen Kapiteln stehen darüber hinaus zum kostenlosen Download bereit. Ein Buch zum Lernen, Lehren und Arbeiten für Studium und Praxis.

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ [email protected] \ www.narr.de

Theologie / Religionswissenschaft

Mit seinem innovativen Ansatz erschließt das Lehrbuch erstmals die Erkenntnisse interdisziplinärer Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung für die Interpretation des Neuen Testaments. Jenseits der Frage wie es gewesen ist, werden die Texte des Neuen Testaments nicht als historische Berichte, Geschichtsschreibung oder Augenzeugenerinnerung gelesen, sondern als Zeugnisse frühchristlicher Identitätsbildung, die sich sozialen Aushandlungsprozessen verdanken. Neben einer grundlegenden Einführung in die Grundbegriffe kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie bietet das Buch exemplarische Lektüren neutestamentlicher Texte als Identitätstexte, an die Leser:innen mit ihren eigenen Erfahrungen anknüpfen können, und einen Ausblick in das Potential kulturwissenschaftlicher Exegese.

Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.

ISBN 978-3-8252-5904-4

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