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German Pages 198 Year 2010
Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie Herausgegeben von Jörg Lauster und Bernd Oberdorfer
Band 40
Michael Bongardt und Ralf K. Wüstenberg (Hrsg.) Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit Das schwere Erbe von Unrechts-Staaten
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/0843416209. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K. Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2010 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG.
Satz: Marco Antulov Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: Klartext GmbH, Göttingen Druck: buch bücher dd-ag, Birkach ISBN: 978-3-7675-7132-7
Inhaltsverzeichnis Einleitung ...................................................................................................... 9 I.
Gesellschaftliche und sozialethische Perspektiven.............................. 15
Joachim Gauck Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe als gesellschaftliche und politische Herausforderungen ..................................................................................... 17 1. Gerechtigkeit ................................................................................................................. 17 2. Strafe ............................................................................................................................... 19 3. Versöhnung....................................................................................................................25 Literatur .........................................................................................................................28 Thomas Hoppe Erinnerung, Gerechtigkeit und Versöhnung. Zur Aufgabe eines angemessenen Umgangs mit belasteter Vergangenheit – eine sozialethische Perspektive.................................................................... 29 1. Recht und Gerechtigkeit.............................................................................................30 2. Reintegration der Belasteten .....................................................................................35 3. Hilfe für die Opfer .......................................................................................................40 4. Aussöhnung – mehr als ein Wort?...........................................................................44 5. Aufgaben für Gesellschaft und Politik.................................................................... 47 Literatur .........................................................................................................................52 II.
Theologische und juristische Perspektiven ......................................... 55
Michael Bongardt Endstation Strafe? Auf der Suche nach einer Kultur der Vergebung ......................................... 57 1. Strafe ...............................................................................................................................58 1.1 Gestörte Ordnung........................................................................................................58 1.2 Vom Wert der Strafe....................................................................................................60 1.3 Problematische Strafe .................................................................................................63 2. Eine christliche Alternative: Der gnädige Gott ....................................................66 2.1 Gerechtigkeit und Barmherzigkeit: Ein biblisches Grundproblem .................66
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2.2 2.3 3.
Inhaltsverzeichnis
Christliche Versöhnungspraxis.................................................................................69 „Wem ihr die Vergebung verweigert…“................................................................... 71 Eine Kultur der Vergebung: Übersetzbarkeit? ......................................................73 Literatur ......................................................................................................................... 76
Ralf Karolus Wüstenberg Gibt es eine Politik der Versöhnung? Theologische Anmerkungen zu den Aufarbeitungsanstrengungen in Südafrika und Deutschland ......................................................................... 79 1. Erscheinungsformen politischer Versöhnung – Die Diskussion von Handlungsoptionen im Kontext Südafrika und Deutschland ..........................79 1.1 Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen (Option 1): .............. 81 1.2 Das Gegenteil von Strafverfolgung: Generalamnestie oder „Ruhen lassen“ (Option 2): ......................................................................................................................83 1.3 Aufklärung vergangenen Unrechts (Option 3):.....................................................85 1.4 Wiedergutmachung für die Opfer (Option 4):.......................................................86 1.5 Sanktionen außerhalb des Strafrechts (Option 5): ............................................... 87 1.6 Fazit der vergangenheitspolitischen Analyse.........................................................88 2. Theologische Anmerkungen zu den politischen Erscheinungsformen von Versöhnung............................................................................................................89 2.1 Theologische Anmerkung zur Strafverfolgung (Handlungsoption 1)............ 91 2.2 Theologische Anmerkung zur Amnestie (Handlungsoption 2)........................92 2.3 Theologische Anmerkungen zur „Wahrheit“ (Handlungsoption 3) ................93 3. Gibt es eine Politik der Versöhnung? ...................................................................... 94 Literatur ......................................................................................................................... 97 Axel Montenbruck Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit in juristischer Perspektive ........................................................................... 99 1. Einführung: Die juristische Perspektive .................................................................99 2. Versöhnung..................................................................................................................100 2.1 Idee der Versöhnung .................................................................................................100 2.2 Versöhnung durch mittelalterlichen Bußvertrag................................................104 2.3 Vorstaatliches Gottes- und Vernunftrecht............................................................105 2.4 Zusammenfassung: Säkulare Elemente der Versöhnung .................................105 3. Strafe .............................................................................................................................106
Inhaltsverzeichnis
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 5. 5.1 5.2 5.3 5.4
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Idee der Strafe.............................................................................................................106 „Sinn und Zweck“ des demokratischen Strafrechts...........................................107 Geständnis und Vereinbarungen im Strafrecht..................................................108 Opferrechte..................................................................................................................109 Versöhnung und Rechtsfrieden .............................................................................. 110 Gerechtigkeit ............................................................................................................... 110 Gerechtigkeit und Recht........................................................................................... 110 Idee der Gerechtigkeit............................................................................................... 111 Gerechtigkeit und Strafe .......................................................................................... 113 „Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit“ .............................................................. 114 Zivilisation als gemeinsame Grundlage ............................................................... 114 Krieg und Aggression ............................................................................................... 119 De- und Re-Humanisierung.....................................................................................120 „Mittelwelt“ des Menschen ......................................................................................122 Literatur .......................................................................................................................125
III. Historische Fallbeispiele ................................................................... 127 Gerhard Werle Das Völkerstrafrecht im Jahrhundert der Weltkriege ................................ 129 1. Einführung ..................................................................................................................129 2. Prolog: Der Friedensvertrag von Versailles..........................................................130 3. Durchbruch: Das Recht von Nürnberg und Tokio............................................ 131 4. Bekräftigung und Stillstand: Völkerstrafrecht im Kalten Krieg ....................134 5. Renaissance: Die Errichtung der Ad-hoc-Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen....................................................................................................135 5.1 Der Jugoslawien-Strafgerichtshof ...........................................................................135 5.2 Der Ruanda-Strafgerichtshof...................................................................................136 6. Verstetigung: Das IStGH-Statut und die Errichtung eines (ständigen) Internationalen Strafgerichtshofes ......................................................................... 137 7. Aktuelle Tendenzen...................................................................................................139 7.1 Die Einrichtung „internationalisierter“ Strafgerichte (hybrid courts) ............ 140 7.2 Implementierung (innerstaatliche Übernahme) des Völkerstrafrechts......... 141 8. Deutschland und das Völkerstrafrecht ................................................................. 142 9. Die Zukunft des Völkerstrafrechts.........................................................................144 Literatur ....................................................................................................................... 145
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Inhaltsverzeichnis
Stefan Rinke Die Gegenwart der Vergangenheit: Chile in den 1990er-Jahren..........................................................................149 1. Der politische und sozioökonomische Wandel ...................................................150 2. Vergangenheit in der Gegenwart............................................................................155 3. Vergangenheitspolitik und politische Kultur ......................................................159 4. Zusammenfassung .....................................................................................................164 Literatur .......................................................................................................................165 Walther L. Bernecker Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien Zwischen Amnesie und kollektiver Erinnerung ......................................... 169 1. Franco-Regime und Erinnerungspolitik...............................................................170 2. Die Verdrängung der Geschichtserinnerung ...................................................... 171 3. Die „andere“ Aufarbeitung in Katalonien und im Baskenland......................175 4. Zwischen Erinnern und Vergessen: Das Spanien der Republik .....................179 5. Zur Repolitisierung der Vergangenheit in der Regierungszeit der Konservativen ............................................................................................................. 181 6. Die Mobilisierung kollektiver Erinnerung um die Jahrtausendwende............183 7. Die Polemik um das Memoria-Gesetz...................................................................185 8. Ausblick........................................................................................................................187 Literatur .......................................................................................................................189 Autoren-Liste..............................................................................................191 Register ................................................................................................... 192
Einleitung „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser erste Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist ein normativer, kein deskriptiver Satz. Er drückt aus, was sein soll, er beschreibt nicht, was ist. Die Wirklichkeit entspricht dem Sollen nicht. Unrecht geschieht. Menschen werden ihre Lebensmöglichkeiten beschränkt, nicht selten geraubt. Die Rechte Unzähliger werden mit Füßen getreten – von Regierungen, von Verwaltungen, von Wirtschaftsunternehmen, von verbrecherischen Gruppen und von Einzelnen. Ihre Würde, die ihnen zukommt, weil sie Menschen sind, wird missachtet und mit Füßen getreten. Das Unrecht tritt immer besonders grell ins Licht, wenn Unrechtsregime überwunden wurden; wenn durch Kriege, Bürgerkriege, Revolutionen ein Regierungswechsel erzwungen oder erreicht wurde. Dann wird vieles sichtbar, was man zuvor, zumindest vor der Weltöffentlichkeit, zu verbergen suchte – und was man der eigenen Bevölkerung nur so weit zur Kenntnis gab, wie es dem Schüren von Angst und Gehorsam dienlich schien. Maßstäbe verändern sich – und werden, so ist zu hoffen, gerade oder wenigstens gerader gerückt. Doch ein politischer Umbruch weist nicht nur in die Zukunft. Auf lange Zeit ist es nach solchen Umwälzungen notwendig, auch ein Verhältnis zu Vergangenheit zu finden. Es ist zu regeln, wie man umgeht mit den Menschen, die in dieser Vergangenheit lebten und starben – mit Verantwortlichen wie mit ihren Opfern. Diese Suche nach der rechten Haltung zum Vergangenen, zum vergangenen Unrecht ist ein höchst kritischer und heikler Prozess. Die Opfer haben ein Recht darauf, dass das, was ihnen angetan wurde, benannt und bekannt wird. Schuldige müssen zur Verantwortung gezogen werden. Es geht darum, das Menschen mögliche Maß an Gerechtigkeit zu erreichen. Man kann ob des Geschehenen nicht zur Tagesordnung übergehen, denn die gerechte Ordnung der Gesellschaft ist brutal verletzt, zerstört worden. Man muss entscheiden, wer künftig von Machtpositionen in der Gesellschaft ferngehalten werden soll. Man muss Regeln finden, wie Menschen Wiedergutmachung leisten können; wie Menschen für das von ihnen verschuldete Unrecht, das sich nicht mehr rückgängig machen lässt, wenigstens eine Form von Entschädigung – was immer dieses Wort bedeutet – leisten können. All das ist nötig, wenn eine Gesellschaft nicht an ihre Vergangenheit gekettet bleiben, sondern unter neuen Bedingungen eine Zukunft haben soll. Und es scheint, dass das noch nicht genug ist. Denn selbst wenn alles Genannte gelingt, ist die Gefahr groß, dass Opfer und Schuldige in Verletzung und Strafe aneinander gefesselt bleiben. Und dann ändern sich die Verhältnisse nicht – sondern es werden nur die Rollen vertauscht in einem immer gleichen Spiel. Befreien würde erst Versöhnung. Aber wie ist sie möglich? Ist sie nicht das Gegenteil von Gerechtigkeit? Oder vielleicht doch eher deren Voraussetzung? Oder gar deren Folge? Fragen über Fragen. Eine Universitätsvorlesung an der Freien Universität Berlin ist diesen Fragen im Wintersemester 2007/2008 nachgegangen. Sie wurde verant-
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Einleitung
wortet von den von uns geleiteten Instituten für Evangelische Theologie und für Vergleichende Ethik. Ziel war es, in einer Verschränkung von konkreten Beispielen und theoretischen Erwägungen aus verschiedenen Fachperspektiven das Thema zu beleuchten. Denn nur beides gemeinsam – der Blick aufs Einzelne und der Versuch der Zusammenschau – lässt erkennen, wie heikel, wie notwendig und wie komplex die Aufgabe ist, die Fesseln des Unrechts zu überwinden. Die Ouvertüre zur Vorlesungsreihe wie zum vorliegenden Band kommt von Joachim Gauck, evangelischer Theologe, von 1990 bis 2000 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und damit prägender Leiter einer Behörde, die im Volksmund bald schon seinen Namen trug. Der hoch reflektierte Erfahrungsbericht über seine Zeit als Pfarrer in der DDR, seine spätere Tätigkeit zur Aufarbeitung dieser Zeit und seine zahllosen internationalen Kontakte bezeugt seine hohe Sensibilität: für das Leben der Menschen unter einer Diktatur – und für ihre Schwierigkeiten in einem anderen Leben nach deren Überwindung. Diese Sensibilität führt ihn nicht nur zu einer differenzierten Einschätzung der Situation zwanzig Jahre nach dem Mauerfall. Sie ist auch der Grund, dass Gauck vor jeder zu einfachen Lösung warnt. Er macht – unter anderem unter Rückgriff auf das 1946 von Karl Jaspers veröffentlichte Buch über „Die Schuldfrage“ – deutlich, dass Unrecht nur überwunden werden kann, wenn es in juristischer, ethischer, gesellschaftlicher und gegebenenfalls religiöser Perspektive angeschaut und bearbeitet wird. Dieser „Vierklang“ durchzieht dann auch sämtliche nachfolgenden Beiträge. Thomas Hoppe, katholischer Theologe mit dem Schwerpunkt Sozialethik in Hamburg, legt die Latte für eine angemessene Praxis der Erinnerung, Gerechtigkeit und Versöhnung sehr hoch. Anhand einer Vielzahl eindrücklicher historischer Beispiele macht er deutlich, wie eng die Grenzen sind, innerhalb derer sowohl die Bestrafung der Täter wie die Entschädigung der Opfer sich nur vollziehen können. Politische, juristische und psychologische Rahmenbedingungen – die in jedem konkreten Fall spezifisch anders sich darstellen – lassen die Versöhnung zwischen Verantwortlichen und Geschädigten zu einem nicht herstellbaren, eher seltenen Glücksfall werden. Umso wichtiger, so Hoppes Schlussfolgerung, ist es im Interesse einer besseren Zukunft, angemessene Formen der Erinnerung an das Geschehene zu finden. Diese Erinnerung hat einherzugehen mit der Etablierung politischer und gesellschaftlicher Strukturen, die neuem Unrecht wehren können. Michael Bongardt, katholischer Theologe und an der Freien Universität Berlin für die Ausbildung künftiger Ethiklehrerinnen und -lehrer verantwortlich, untersucht vor einem kultur- und religionsgeschichtlichen Hintergrund die Idee, durch Strafe ließe sich Gerechtigkeit wiederherstellen. Dabei wird deutlich, dass die Strafe das gewaltsame Unrecht selbst wiederum gewaltförmig beantwortet. Damit aber initiiert sie einen Kreislauf, der schnell zur aufsteigenden Spirale der Gewalt zu werden droht. Im Kontrast dazu untersucht Bongardt die Möglichkeiten eines
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Umgangs mit geschehenem Unrecht, die jenseits einer Strafordnung liegen, ohne die bedeutsamen Aspekte des Strafens zu vernachlässigen. In der über Jahrhunderte entwickelten kirchlichen Bußpraxis findet er solche Möglichkeiten – und stellt sich abschließend dem Problem, ob und wie die in einem religiösen Rahmen gefundenen Wege auch in einer säkularen Umgebung beschritten werden können. Für den Umgang mit überwundenen Unrechts-Regimes gibt es, wie die politikwissenschaftliche Forschung nachgewiesen hat, durchaus unterschiedliche Formen und Optionen; so etwa die Strafverfolgung, die Amnestie, die Suche nach der Wahrheit über das Geschehene, die Wiedergutmachung oder auch Sanktionen außerhalb des Strafrechts. Ralf Wüstenberg, evangelischer systematischer Theologe, bis zu seinem Wechsel zur Universität Flensburg an der Freien Universität Berlin tätig, hat intensiv die Aufarbeitungsbemühungen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid und in Deutschland nach dem Ende der DDR erforscht. In seinem Beitrag macht er deutlich, dass die jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen den Ausschlag gaben bei der Wahl zwischen den oben genannten Optionen. Wege, die in Deutschland offenstanden, etwa die Strafverfolgung Verantwortlicher, wären in Südafrika, wo man sich für die Einrichtung von „Wahrheitskommissionen“ entschied, vermutlich wenig hilfreich gewesen – und umgekehrt. Im zweiten Teil seines Beitrags untersucht Wüstenberg einige der in den genannten Ländern beschrittenen Wege in theologischer Perspektive. Seine Orientierung an Luthers „Zwei-ReicheLehre“ führt ihn zu der Einsicht, dass politisch-juristische Mittel eine Versöhnung nie herstellen, ihr aber wohl den Weg ebnen können. Nach diesen Beiträgen, in denen die christliche Theologie zwar nie die einzige, aber stets eine wichtige Perspektive ist, eröffnet Axel Montenbruck, Lehrer für Strafrecht an der Freien Universität Berlin, die Gruppe der Beiträge, die aus anderen Wissenschaften nach dem Umgang mit Schuld in politischen Systemen fragen. Er legt in seinem Artikel eine historisch und transdisziplinär weit ausgreifende Untersuchung der Begriffe „Versöhnung“, „Strafe“ und „Gerechtigkeit“ vor. So kann er zeigen, dass allein die „Strafe“ eindeutig dem Recht zuzuordnen ist. Dagegen ist „Versöhnung“ eher in einem vorgerichtlichen Raum interpersonaler Begegnung und Mediation anzusiedeln, während es sich bei „Gerechtigkeit“ um einen genuin philosophischen Begriff handelt. Auf der Grundlage dieser Analyse sucht Montenbruck nach einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Versöhnung und Strafe unter den Bedingungen eines demokratischen Staates. Ein an den Leitideen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität orientiertes Handeln hat dabei stets auf die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens hinzuwirken. Da einem solchen Zusammenleben viele natürliche und (anti-)soziale Strebungen des Menschen entgegenstehen, kommt dem Recht mit seinen Strafoptionen, so Montenbruck, eine durchaus friedenssichernde Funktion zu. Gerhard Werle, Experte für Völkerstrafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, zeichnet in seinem Beitrag die Entstehung des Völkerstrafrechts und den Ausbau entsprechender Institutionen und Gerichte nach. Er kann diese Geschich-
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te durchaus als Erfolgsgeschichte schreiben. Vom Versailler Vertrag, der eine erste Idee des Völkerrechts entwickelte, über die Nürnberger Prozesse bis zur Verabschiedung des „Völkerstrafgesetzbuches“ in Deutschland reicht bisher die Entwicklung. In ihrem Verlauf wird nicht nur die juristische Begründung für ein solches Recht immer weiter entwickelt, sondern auch eine internationale Gerichtsbarkeit, die „Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression“ wirksam zu ahnden vermag. Gleichwohl gibt es im Völkerrecht noch unerledigte Aufgaben, auf die Werle abschließend verweist. Der auf Lateinamerika spezialisierte Historiker Stefan Rinke von der Freien Universität stellt in seinem Beitrag einen politischen Prozess dar, der von den bisher in diesem Band dargestellten deutlich abweicht: die Transformation in Chile nach der Pinochet-Diktatur. Die neunziger Jahre, die im Fokus des Artikels stehen, sind durch die Tatsache geprägt, dass die Eliten und Mächtigen der Diktatur auch nach der Rückkehr zur Demokratie politisch, militärisch und juristisch einflussreich blieben. Denn diese Rückkehr war mit ihnen ausgehandelt, ihnen abgerungen worden – und in diesem Prozess wussten sie ihr Positionen geschickt zu sichern. So wurden nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Vergangenheit und deren strafrechtliche Ahndung erheblich erschwert. Mindestens ebenso stark aber wurde der Transformationsprozess durch die ökonomischen Höhen und Tiefen beeinflusst, die das Land durchschritt. Zudem lässt Rinkes Beitrag erkennen, wie das komplexe Gefüge von kulturellen, gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Aktivitäten den Wiederaufbau der Demokratie negativ wie positiv beeinflusste. Auf den ersten Blick mag man enge Parallelen zwischen der chilenischen und der spanischen Situation nach dem Ende der jeweiligen Diktaturen vermuten. Wurde das Ende der Franco-Diktatur doch ebenfalls durch politische Verhandlungen und Zugeständnisse erreicht, die die Präsenz der ehemaligen Machteliten in Politik und Gesellschaft auch noch nach dem Tod des Diktators zur Folge hatte. Doch der Historiker Walter Bernecker von der Universität Erlangen kann zeigen, dass und warum die letzten 30 Jahre in Spanien ganz anders verliefen als in Chile. Die franquistische Diktatur war in den dreißiger Jahren hervorgegangen aus einem Bürgerkrieg, in dem es auf beiden Seiten zu einer großen Zahl von Opfern, aber auch von Verbrechen gekommen war. Die Erinnerung an diesen Krieg, die unter Franco allein als Siegergeschichte geformt war, spaltet bis heute die spanische Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund, so Bernecker, kann im Rückblick eine Entscheidung am Beginn der demokratischen Republik durchaus als klug bezeichnet werden: die Vereinbarung, die Geschichte von Krieg und Diktatur nicht zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen zu machen. Die noch ungefestigte Demokratie hätte an einer solchen Kraftprobe leicht zerbrechen können. Dass aber mit dieser Vereinbarung das letzte Wort über die Verbrechen der Vergangenheit noch nicht gesprochen worden sein konnte, wird in den erregten und kontroversen Disputen deutlich, die seit einigen Jahren in Spanien geführt werden
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– wie es scheint, auf dem sicheren Boden einer Demokratie, die sich in dreißig Jahren gefestigt hat. Die Vielfalt der in diesem Band versammelten Beiträge lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Ihnen ist kein „Rezept“ zu entnehmen, wie eine Gesellschaft am besten mit einer von Unrecht und Verbrechen geprägten Vergangenheit umzugehen hat. Zu vielfältig sind die zu berücksichtigenden Fragen, zu unterschiedlich die je konkreten Bedingungen des Übergangs und der neuen politischen Ordnung, als dass sich allgemeingültige Regeln für ein angemessenes Erinnern, Ausgleichen und Wiedergutmachen finden lassen würden. Doch gerade im Aufweis dieser unhintergehbaren Unterschiedlichkeit bewährt sich die eingangs beschriebene Verschränkung von Einzelfalluntersuchungen und theoretischen Entwürfen. Gemeinsam können sie dabei helfen, genauer hinzusehen, die Notwendigkeit des Handelns zu erkennen und zwischen dessen möglichen Optionen situationsgerecht zu wählen. Die „großen Worte“ des Titels – „Versöhnung“, „Strafe“ und „Gerechtigkeit“ – erweisen sich als geeignet, unverzichtbare Elemente jedes Aufarbeitungsprozesses zu benennen. Doch sie sind je neu der Konkretisierungen bedürftig, die zwar nicht zu einem Schlussstrich führen können unter das Unrecht, das Menschen angetan wurde, aber dennoch in der je spezifischen Konstellation einen gesellschaftlich-politischen Neuanfang zu stabilisieren vermögen. Dieses Vorwort kann und will nicht enden ohne unseren Dank. Er gilt vor allem all denen, die ihre Forschungsergebnisse und Gedanken zu diesem Buch beigessteuert haben. Das sind vor allem, aber nicht nur die Autoren. Erwähnt seien auch die zahlreichen Besucherinnen und Besucher der Ringvorlesung, die durch ihre kritischen wie konstruktiven Fragen wesentlich zum Gelingen dieser Veranstaltung beigetragen haben. Viele ihrer Anregungen sind in die Druckfassung der Beiträge eingeflossen. Dank gilt der Freien Universität Berlin für die organisatorische und finanzielle Unterstützung der Vorlesungsreihe sowie für einen Zuschuss zu dieser Publikation. Herr Dr. Marco Antulov hat mit Umsicht und Geschick die Druckvorlage für dieses Buch erstellt, wofür wir ihm herzlich danken. Nicht zuletzt haben sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Institute, namentlich Roberto Behrendt und Johannes Schneider, um dieses Buch verdient gemacht. Damit die Mühe all der Genannten und Ungenannten nicht umsonst war, hoffen wir, dass dieser Band einen Beitrag dazu leisten kann, Menschen, deren Leben unter Diktaturen gelitten hat, einen Weg in eine freiere Zukunft zu öffnen. Berlin, im Oktober 2009 Michael Bongardt Ralf K. Wüstenberg
I.
Gesellschaftliche und sozialethische Perspektiven
Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe als gesellschaftliche und politische Herausforderungen Joachim Gauck Dem philosophischen, juristischen und theologischen Thema „Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe als gesellschaftliche und politische Herausforderungen“ nähere ich mich als Zeitzeuge der Transformationsphase der ostdeutschen Gesellschaft – einer Gesellschaft, die 56 Jahre geprägt war von diktatorischer Herrschaft, Ohnmacht der Masse der Bevölkerung und einem sehr defizienten Rechtsverständnis der Herrschenden. Betrachtet man die Geschichte der Begriffe Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe, zeigt sich, dass sie im religiösen Kosmos verschiedener Kulturkreise sehr viel länger beheimatet waren als in politischen, soziologischen oder juristischen Diskursen. Bevor es Wissenschaft im heutigen Sinn gab, galten Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe als elementare Dinge, von denen die Gemeinschaften in stärkerem Maß durchdrungen waren, als es heute der Fall ist.
1.
Gerechtigkeit
Wie schnell sich der Begriff der Gerechtigkeit verwandeln kann, wenn er aus seinem politischen Kontext gelöst wird, habe ich selbst erlebt. Ich bin unsicher in der Frage, ob ich, bevor ich zum ersten Mal an freien, gleichen und geheimen Wahlen teilnehmen konnte, eine Bürgerexistenz führte. Viele meiner Landsleute, die in der DDR-Diktatur lebten, haben Mühe damit, ihre frühere mit ihrer heutigen Existenz in Beziehung zu setzen und die Unterschiede zu erkennen. Sie verhalten sich, als hätte sich kaum etwas geändert. Bei genauem Hinsehen jedoch erscheinen Defizite: Sie zeigen sich in Deformationen von Strukturen, Individuen, Haltungen und Mentalitäten. Ein Leben in politischer Ohnmacht prägt die Menschen und verschafft ihnen eine andere Haltung als die eines in einer Zivilgesellschaft aufgewachsenen Bürgers. Gerade in der Ferne von Freiheit und Recht, in Gesellschaften, in denen Macht und Ohnmacht perpetuiert sind, entwickelt sich eine große Intensität gegenüber solch zentralen Begriffen wie dem der Gerechtigkeit. In den Argumentationen von Ohnmächtigen hat der Begriff der Gerechtigkeit nicht bloß deskriptiven Charakter, sondern stets auch einen appellativen Teil. Schon die Verwendung des Begriffs Gerechtigkeit stellt in einer Diktatur ein Ärgernis für die Regierung dar. Texte über Gerechtigkeit aus Zeiten von Diktaturen widmen sich keineswegs nur der Beschreibung des Begriffs; sie stellen immer auch einen ver-
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Joachim Gauck
borgenen oder offensichtlichen Angriff auf die herrschenden ungerechten Verhältnisse dar. Gerechtigkeit ist heute für viele Ostdeutsche eine Frage ihrer hinlänglichen Alimentation. Diese kostbare und unsere Gesellschaft tragende Säule droht in einer Debatte um ‚Ein-Bisschen-Mehr’ oder ‚Ein-Bisschen-Weniger’ unter zu gehen. Gerechtigkeit bedeutete in der Politikgeschichte die gleichberechtigte Teilhabe an Recht, Chancen, Würde sowie einer Rolle im Gemeinwesen. Erst später wuchsen dem Gerechtigkeitsbegriff andere Bedeutungen zu. Der Kampf um Gerechtigkeit in den Diktaturen ist, betrachtet man die politischen Debatten, ein Kampf um die Wiederherstellung der bürgerlichen Existenz. Man sieht das sehr schön an einem politischen Slogan der 1989er Revolution: „Wir sind das Volk“. Ich halte diesen Satz aus vier Wörtern für den wichtigsten politischen Satz, der in unserer Nationalgeschichte hervorgebracht wurde, weil hier von einer Bevölkerung, die 56 Jahre gelernt hat, Untertan zu sein, der Wille formuliert wird, die politische Agenda neu zu betreten und zu bevölkern – und zwar nicht als Kommandierte, sondern als Subjekte eines freien Gemeinwesens. „Wir sind das Volk“ – das bedeutet: Wir haben entdeckt, dass wir Bürger sein können. Doch was waren wir vorher? Die Bezeichnung Untertan ist nicht ganz stimmig, da sie eher an die Zustände einer Feudalherrschaft erinnert. Als Bürger wiederum können nur Menschen gelten, welche auch Bürgerrechte besitzen – zuvorderst das Recht, ihre Regierung zu wählen oder abzuwählen. Sie ist also eine ebenso unpassende Bezeichnung für Bewohner einer unfreien Gesellschaft. Staatsbewohner wäre ein wertfreier Begriff. Jedoch verfehlt man mit diesem Euphemismus den Sachverhalt, dass der Bewohner eines Hauses nach eigener Entscheidung selbiges betreten und verlassen kann. Die Menschen, die in der DDR lebten, hatten die Freiheit dieser Entscheidung nicht. Sie waren also nicht einfache Bewohner, obwohl sie irgendwo wohnten. Sie hatten den Schlüssel nicht. Die Bezeichnung Insasse halte ich daher für zutreffender. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass wir eigentlich, politisch geurteilt, Staatsinsassen waren. Diese Bezeichnung stößt insbesondere bei denjenigen, die meinen, dass in diesen Verhältnissen eine politische Alternative verborgen gewesen sei, auf Widerstand. Dennoch verhält es sich so, dass nur Insassen einer Anstalt oder eines Gefängnisses nicht Herren ihres Kommens und Gehens sind. Nicht jeder ist in der Lage, sich diesen Umstand immer wieder vor Augen zu führen. Die menschliche Neigung sich nicht fortwährend selbst zu verletzen ist der Grund dafür, weshalb ein exaktes Erinnern in Form des Durcharbeitens (wie Psychologen sagen würden) oder des Aufarbeitens (wie im politischen Diskurs bezeichnet) weitgehend unbeliebt ist. Jedenfalls sehen wir, dass in schwierigen Zeiten die Menschen dazu neigen, sich an gute Dinge aus schlechten Zeiten zu erinnern. Die beschönigende Rede über vergangene Zustände erfolgt nicht immer aus Bosheit. Wohl gibt es die gezinkte, nostalgische Erinnerung als politische Bosheit (als welche sie heftig zu bekämpfen ist), aber es gibt sie auch als die viel menschlichere, ganz unpolitische Neigung, das Erinnerungsvermögen auf die guten Dinge im
Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe
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Leben zu richten. Wenn man in den öffentlichen Raum schaut und der Nostalgie begegnet, erscheint nicht nur politische Ranküne, sondern auch die ganz menschliche Regung, sich der unangenehmen Dinge wenigstens im Gedächtnis zu entledigen und so zu tun, als käme man in der Rückschau ohne Schmerzen, Leiden, Trauer und Scham aus. In der öffentlichen Debatte über kritikwürdige Zustände (wie diktatorische) ist eine solche Herangehensweise schrecklich und hindert die Menschen an geistiger Freiheit und Lebensfreude. Sie hindert die Menschen daran, sich selbst zu finden. Im Osten Deutschlands wurden einige Schritte kultureller Wandlung nach der Nazizeit, die im Westen getan wurden (zunächst die mühsame Verneinung, dann das Akzeptieren und schließlich das Bearbeiten der Nazivergangenheit, gefolgt von Betrauern und dem Herausbilden einer kollektiven Identität, einer Nicht-Mehr-Leugnung von Schuld), nur in kleinen Bereichen vollzogen. Sie wurden nicht durch die staatliche Kultur, sondern durch UntergrundGruppen, Künstler oder Kirchenleute, die sich dem westlichen Diskurs anschlossen, initiiert. Eine dem Westen vergleichbare umfassende Form der Auseinandersetzung mit Schuld einer Nation ist im Osten unbekannt geblieben. Es war eher eine Art Staatsaufklärung, die in Bezug auf das Dritte Reich über ihn kam. Diese Staatsaufklärung hat die Menschen in der Regel nicht in der Tiefe getroffen und sie ebenso wenig verändert. Menschen, die fern von Freiheit und Recht leben, haben eine besonders intensive Beziehung zur Gerechtigkeit: Sie kannten die Gerechtigkeit zwar nicht, aber sie sehnten sich nach ihr. Viele Menschen, welche eine Diktatur erlebten, sind mit einer unzerstörbaren Sehnsucht nach besseren Verhältnissen ausgestattet. Was sie weniger gut kennen, ist die Phase der Einübung in die Aufgaben, die mit einem Thema wie Gerechtigkeit verbunden sind.
2.
Strafe
Nach der Überwindung von Diktatoren gewinnt für viele Menschen aus Gerechtigkeitsgründen das Thema Strafe an zentraler Bedeutung. Mit dem Wunsch nach Strafe können einige nur mühsam ihren ganz ursprünglichen, menschlichen Impuls nach Rache verbergen. Natürlich gehört es nicht in einen wissenschaftlichen Diskurs philosophischer oder juristischer Art, von Rache zu sprechen. Doch muss man davon ausgehen, dass Menschen, die verletzt sind, ein Bedürfnis haben, diese Verletzung wieder gut zu machen. Der ursprüngliche Impuls, eine Verletzung mit einer Gegentat zu beantworten, wurde auch durch die Aufklärung nicht aus der Welt geschafft. Vielmehr beobachtet man an vielen Stellen des privaten und öffentlichen Lebens, dass der Mensch noch immer solche Antriebe kennt – wenn auch gezähmt durch die Rechtsordnung. Ursprünglich ist vielen Menschen, denen Unrecht geschehen ist, die sich als ohnmächtige Opfer einer übermächtigen Willkür-
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Joachim Gauck
instanz gefunden haben, dass sie Strafe wollen. Strafe wäre dann ein Surrogat für die eigene Rache. Da sich nicht jeder rächen kann und Selbstjustiz schlecht ist, gibt es von Rechts wegen eine Instanz, die für Recht und Ordnung sorgt: die Rechtsordnung. Menschen fragen in der Regel aber nicht danach, was die Rechtsordnung leisten kann und was nicht, sondern haben ein Bedürfnis nach Ausgleich. Sie erwarten von der Rechtsordnung, also auch vom Strafrecht, eine Art Wiedergutmachung für geschehenes Leid. Hinter der Suche nach Strafe steckt der ganz menschliche Versuch, ein durch einen Täter in Unordnung gebrachtes Verhältnis zwischen Menschen durch bestimmte Regularien wieder in Ordnung zu bringen. Was Rache durch einen Überschwall von Gefühl angeblich besorgt, soll durch das Einhalten der Rechtsordnung und das Zusprechen von Strafe auf eine kultivierte, gezähmte Weise organisiert werden. Eigentlich geht es um das Organisieren einer friedlichen Koexistenz von unterschiedlichen Individuen in einer offenen Gesellschaft. Das ist der Sinn unseres Strafrechtes. In alten Zeiten, in denen noch alle Menschen religiös waren und die Recht setzenden staatlichen Instanzen in den Augen der Menschen im Auftrag Gottes handelten, bedeutete jede negative Tat und jede Schuld auch die Zerstörung der Beziehung zur Sinn setzenden Instanz (Gott). Diese Menschen konnten das Handeln eines irdischen Gesetzgebers und Richters als von Gott gewollt betrachten. In einer postreligiösen Gesellschaft ist das nicht mehr unmittelbar möglich. Deshalb hat die politische Moderne auch weitgehend davon abgesehen, die Rechtsordnung religiös zu begründen. Sie wächst vielmehr aus den Interessen der Menschen durch Vertragshandlung und Vertragsgestaltung hervor. Wenn alle Menschen, so die Absicht des Strafrechts, sich den Normen, für die sie sich gemeinsam entschieden haben, unterwerfen, dann ist das Zusammenleben geregelt. Und da Menschen auch zu negativem Streben und Handeln im Stande sind, muss das Verletzen von Normen strafrechtlich bewertet werden, auch mit dem Ziel der Prävention. Diejenigen, die nicht hören, folgen und denken wollen, sollen durch Strafe an die Innehaltung der Normen gewöhnt werden. Nun könnte man folgern: Wenn alle, die in einer Diktatur Verantwortung getragen haben, abgestraft sind, beginnt das Zeitalter des Friedens, weil die zerstörten Verhältnisse aus der Diktatur durch Strafen wiederhergestellt wurden. Die Debatte um Schuld nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, besonders nach dem 2. Weltkrieg, hat jedoch hinreichend gezeigt, dass es so einfach nicht ist. Der Philosoph Karl Jaspers stellt in der unmittelbar nach dem Krieg entstan1 denen Schrift „Die Schuldfrage“ vier Dimensionen von Schuld vor: (a) Die strafrechtliche Schuld, die bereits thematisiert wurde. (b) Die Schuld, die uns begegnet, wenn wir miteinander leben und umgehen, die überhaupt nicht strafrechtlich zu fassen ist und dennoch Schuld genannt wird, ist die moralische Schuld. (c) Ebenfalls wurde bereits erwähnt, dass für gläubige Menschen Schuld immer auch ein religi1
Jaspers, Karl, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946.
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öses Phänomen ist. Man könne in dem Zusammenhang mit Jaspers auch von metaphysischer Schuld sprechen. Das heißt, derjenige, der gegen seine Mitmenschen handelt, versündigt sich gegen die Gebote Gottes, beziehungsweise gegen das Liebesgebot der göttlichen Instanz. (d) Eine weitere Dimension der Schuld findet sich in der politischen Verantwortung. Zwar überlappen sich diese verschiedenen Dimensionen von Schuld teilweise, doch bleibt für Jaspers die Forderung, dass die Bearbeitung von Schuld in jeder Dimension durch ihre je eigene Instanz stattfinden muss: (a) Für die strafrechtliche Schuld ist diese das Gericht. Hier wird Recht gesprochen und das Strafrecht angewendet. Nach bestimmten Regularien wird Schuld festgestellt oder verneint. Es wird ein Element der Sühne beziehungsweise der Wiedergutmachung oder des Ausgleichs gefunden: die Strafe. (Die Strafe gibt es in verschiedenen Formen, aber es gibt sie.) Mit dieser Strafe oder mit dem Freispruch gilt dann die Schuld als bearbeitet. Die juristische Debatte ist damit abgeschlossen. (b, c) Wenn es sich um eine Beziehungstat handelt, gibt es gleichwohl andere Elemente. Es ist dann auch eine moralische Schuld, die hier zwischen einem Gewalttäter und einem Opfer vorliegt. Es kann sein, dass zwar der Täter den Spruch des Richters akzeptieren musste, weil er gar nicht anders konnte, sich jedoch nicht mit der moralischen Schuld auseinandergesetzt hat, kein Wort des Bedauerns zu seinem Opfer gesprochen, keine Entschuldigung oder gar Wiedergutmachung angestrebt hat. Somit kommt die merkwürdige Situation zustande, dass die Schuld einerseits bearbeitet, andererseits liegen geblieben ist. Dasselbe gilt für die religiöse Schuld, wenn man nicht bereut. Wir finden in alten religiösen Texten ein sehr schönes Schema, wie man Schuld bearbeiten kann: Als erstes ist es wichtig, die Tat zu benennen, als zweites, diese Tat zu bereuen, als drittes, eine Art von Buße zu tun oder Wiedergutmachung anzustreben. Und wenn das alles ernstlich geschieht, darf man von einer Instanz, die mit Liebe gleichgesetzt wird (Gott), das Versöhnungsangebot der Vergebung erwarten. Das wird in religiösen Ritualen symbolhaft verwirklicht. Geht man davon aus, dass in diesem religiösen Schema der Bearbeitung von Schuld etwas sehr Menschliches steckt, dann wird klar, dass auch zwischen Menschen, wenn sie einander Unrecht angetan haben, diese Elemente sehr wohl zu verwenden sind: erstens die Anerkennung der Faktizität des Faktischen, zweitens eine bestimmte Eigenhaltung dazu (nicht des Stolzes, sondern der Reue), und drittens die Absichtsäußerung, Selbiges nicht mehr zu tun und den Schaden nach Möglichkeit wieder gut zu machen. All diese Dinge kann man in die Bearbeitung moralischer Schuld einbetten. Aber sie sind nicht damit identisch. (d) In der Nachkriegszeit und nach der Wiedervereinigung begegnete uns ein weiteres Element: Viele Menschen, die sahen, dass einige Kommandeure des Terrors und des Unrechts nicht vor Gericht gestellt und sogar neue Plätze in Parlament und Wirtschaft einnehmen konnten, hatten den Eindruck, der Rechtsstaat würde nicht funktionieren. Man muss in diesem Zusammenhang berücksichtigen, dass nach unserem Rechtsverständnis das Strafrecht nicht für alle Teile von Unrecht zustän-
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dig ist, jedenfalls nicht, wenn es sich lediglich um politische Verantwortung handelt. Bestimmte Politiker der SED-Diktatur hatten beispielsweise das Recht, Wahlen anzuordnen und zu kontrollieren, sowie die Macht, diese zu fälschen. Wahlfälschung war in der DDR eine Straftat. Diese Tat konnte nach dem Zusammenbruch der DDR vor Gericht behandelt werden. Manches andere Unrecht, welches schon in der DDR nicht in rechtlicher Form geahndet werden konnte (und für das es ein Rückwirkungsverbot gibt), wurde auch später nicht vor Gericht behandelt. Nun hatten viele das Gefühl, man könnte strafrechtlich nicht aufzuarbeitendes Unrecht überhaupt nicht besprechen. Das ist ein Irrtum. Auf Jaspers Kategorien zurückgehend, müssen wir sagen: Eigentlich ist politische Verantwortung nicht vor einem Gerichtshof zu besprechen, sondern im öffentlichen Diskurs. In diesem öffentlichen Gespräch, in der öffentlichen Auseinandersetzung, müssen die Formen von Schuld, welche zu einer ungerechten Herrschaft führten, benannt und delegitimiert werden. So kann es gerecht zugehen, auch wenn sich nicht jeder, der einer Diktatur diente, vor Gericht verantworten muss. Es muss dann nur irgendeine andere Art der Bearbeitung stattfinden. Viele meiner damaligen politischen Freunde forderten Anfang der 90er Jahre angesichts der Erkenntnis, dass nicht alles politische Unrecht vor Gericht zu bringen ist, eine andere Form der öffentlichen Veranstaltung, um den Verantwortlichen zu sagen, was sie getan haben. Dabei wurde die Idee eines „Tribunals“ geboren. Ich möchte hierbei an das in den 1960er Jahren initiierte Russel-Tribunal erinnern: Auf jener Veranstaltung kamen politisch engagierte Menschen zusammen, um bestimmte politische Verhältnisse, die sie als Unrecht empfanden (wie etwa in Vietnam), öffentlich zu verhandeln und quasi abzuurteilen. Damals fanden sich öffentliche Ankläger, die die öffentliche Moral einer politischen Tat debattierten. Der Bevölkerung wird gezeigt: Hier geschieht Unrecht! – eine nicht strafrechtliche Form einer gleichwohl geordneten Aufarbeitung. Zu einer ähnlichen Form der öffentlichen Delegitimierung durch eine Verfahrensform, die kein Gerichtsverfahren darstellt, sollte es im Deutschland der 1990er Jahre nicht kommen, da die Verwendung des Begriffs „Tribunal“ in den Medien missverständlich wirkte. So beschränkte sich die Aufarbeitung von politischer Schuld auf das Publizieren wissenschaftlicher, populärwissenschaftlicher und anderer Artikel in Büchern und Zeitungen, oder sie ereignete sich im Medium der Kunst. Es entstanden Filme oder Bücher, Gedichte oder Liedtexte, die sich mit einstigem Unrecht beschäftigen. Das ist wichtig und notwenig, weil sich dadurch mehr Menschen als diejenigen, die an der Pflege der Rechtsordnung interessiert sind, für die Wiederherstellung von Gerechtigkeit interessieren. Das Element Strafe ist also nur bedingt tauglich für die Wiederherstellung eines inneren Friedens oder gar für die Versöhnung innerhalb einer Gesellschaft. Im Jasperschen Sinne muss darauf geachtet werden, dass jede der vier Dimensionen von Schuld in angemessener und jeweils angezeigter Weise bearbeitet wird. Man kann davon ausgehen, dass, wenn ein Element fehlt, auch insgesamt etwas fehlt. Das soll nicht heißen, dass beispielsweise nichtreligiöse Menschen nur über den
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Weg des religiösen Glaubens zu einer Lösung und Bearbeitung von Schuld gelangen können. Es bedeutet, dass dieser mehrdimensionalen Aufarbeitung sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt und damit auch die Strafjustiz entlastet werden muss. Man könnte auch fragen, ob nicht hinter dem Wunsch, jeden damaligen Verantwortlichen vor einem Gericht zu sehen, letztlich ein Abwehrmechanismus wirkt, der die Menschen davon ablenkt, über ihre eigene Verstrickung nachzudenken. Gerichtliche Prozesse haben ja nicht nur den Sinn, die Rechtsordnung zu festigen und zu pflegen, sondern auch den, andere zu entlasten. Wenn das Licht der Öffentlichkeit auf den Täter fällt, befindet sich alles andere im Aufmerksamkeitsschatten. Den Tätern der Nazidiktatur kam sehr große Aufmerksamkeit zu. Noch heute kann jedes illustrierte Blatt mit einem Hitlerbild aufmachen, um seine Auflage zu steigern. Die Faszination, welche Großtäter ausüben, ist erheblich. Das ist tragisch, weil die Opfer dann oft im Erinnerungsschatten stehen. Ein entlastendes Element für viele Mitläufer und ‚kleine’ Täter liegt aber darin, dass alles, was geschehen ist, den Hauptverantwortlichen zugewiesen wird. Als die ‚Stasidebatte’ die gesamte politische Diskussion über Ostdeutschland dominierte, war es für die Genossen, die irgendeine Verantwortung getragen hatten, relativ einfach zu sagen: „Ich war ja nicht Stasi!“ Die Stasi waren die Widerlinge. Die anderen waren normal. Und so erfüllt die Aufmerksamkeit für ganz bestimmte Tätergruppen (insbesondere für Haupttäter) eine entlastende Funktion für jene, die sich davor verwahren, einen neuen Anfang nach der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld zu suchen (durch innere Einkehr und die Befreiung von alten Irrtümern). Dort zeigt sich ein Mangel an Gleichgewicht bei der Aufmerksamkeit für Täter und Opfer. Ein anderes Beispiel: Es hat in Berlin eine Reihe verschiedener Ansätze gegeben, über Helfer, die in der nationalsozialistischen Zeit Juden versteckten, zu arbeiten. Das Wissen um die Helfer wurde in der Bevölkerung nicht transportiert. Zeitgenossen, die keine Täter, sondern Mitläufer waren (denen man nichts Schlimmes vorweisen konnte), mieden dieses Thema. Für sie war es leichter, über Himmler und Hitler zu sprechen. Im Vergleich mit ihnen erschienen die Mitläufer nicht als Täter: Sie töteten keine Juden, sie verabschiedeten keine Rassengesetze. Sie waren ‚nur’ Mitläufer, haben ‚nur’ die Fahne rausgehängt. Sie waren vielleicht Parteigenossen oder haben gespendet, aber verglichen mit den ‚Großen’ waren sie unschuldig. Und sie fanden es richtig, dass die Täter verurteilt wurden. Mitläufer erscheinen jedoch weniger unschuldig, wenn sie mit Menschen verglichen werden, die Zivilcourage gezeigt oder gar den Märtyrertod akzeptiert haben. Daher vergleichen sie sich lieber mit den ‚großen’ Tätern. Die Prozesse gegen die ‚Großen’ haben, so gesehen, auch eine problematische Dimension. Das sollte aber nicht als Absage an das Prinzip des rechtsförmigen Ausgleichs nach Diktaturen verstanden werden. Keiner der Diktatoren wollte je die Herrschaft des Rechts akzeptieren. Eine ihrer Untaten bestand darin, dass sie sich das Recht einverleibten und für ihre
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Macht instrumentalisierten. Im Nachhinein gilt es, die Rechtsordnung wieder herzustellen. Angesichts ihrer Rolle in einer Gesellschaft, erkennt man ihre Wichtigkeit: Sie beschränkt sich nicht darauf, irgendwelche Normen, seien sie göttlicher oder menschlicher Herkunft, zu befriedigen. Vielmehr erfahren sich die Menschen in der Einhaltung der Gesetze als eine Gemeinschaft von Personen, die zwar anfällig ist, aber dem Chaos, der Anarchie dennoch wehren kann. Die Gesetze haben eine unsichtbare Funktion für die Herstellung eines Grundvertrauens in eine Gesellschaft. Wo man sich auf die Gültigkeit gesetzlicher Normen nicht verlassen kann, wird kein wirkliches Vertrauen entstehen. In der ehemaligen Sowjetunion beispielsweise, wo das Recht immer noch in Händen ehemaliger Despoten liegt, kann es eben jenes Vertrauensverhältnis nicht geben (lediglich kleinere Formen von Vertrauen, etwa im familiären Kreis oder in Geschäftsbeziehungen). Ein Grundvertrauen in die Existenz einer Ordnung, die niemand angreifen darf (was in den modernen Demokratien vorhanden ist), entstand im Zuge der politischen Aufklärung. Es ist das hohe Gut, das es uns nicht gestattet, mit der Anwendung des Rechts nach Beliebigkeit zu verfahren. Es gibt zwar einige Theoretiker, die ausführen, dass das, was eine Gruppe von Menschen gemeinsam akzeptiert, eine eigene Würde gewinnt und dass man auf geschriebene Gesetze ganz gut verzichten kann, wenn es ausgeprägte Techniken eines Interessenausgleichs und eine Anerkennung der gefunden Interessenausgleiche gibt. Wir sind jedoch nicht vertraut mit diesen Formen der Herstellung eines ‚Common Sense’ (wie etwa bei Ausgleichsritualen). Der ‚Common Sense’ reicht als Grundlage für ein allgemeines Vertrauen nicht aus! Wir brauchen normierte Regeln. Wir brauchen die Gesetze und die Hüter der Gesetze. Es wäre ein Defizit, die rechtsförmige Aufarbeitung von Diktatur nicht stattfinden zu lassen. Es gibt bestimmte Situationen, in denen davon abgesehen werden muss, das Recht mit seinem Schwert, seiner Problemlösungsvariante, zum Einsatz kommen zu lassen: In bestimmten gesellschaftlichen Zuständen würde bei voller Anwendung der Rechtsordnung ein solcher Unfrieden über das Land kommen, dass ein Ausgleich innerhalb der Bevölkerung nicht möglich wäre. Zum Beispiel konnte der Diktator Franco am Ende seiner Herrschaft einen Übergang aushandeln: Für die Abgabe seiner Macht bekam er Amnestie – ein Entgegenkommen der neuen demokratischen Strukturen. So wurde ein Schlusspunkt gefunden: ein ‚punto final’. Das Theater sollte beendet werden, das verbunden war mit fürchterlichen Auseinandersetzungen im Bürgerkrieg. Ich kann hier nicht die Berechtigung dieses Schlusspunkts im Kern kritisieren. Von Deutschland aus gesehen ist eine politische Entscheidung für einen ‚Schlussstrich’ jedoch immer mit schwersten Hypotheken belastet. Die Debatten der Nachkriegszeit zeugen davon. Wenn nun in Spanien tatsächlich eine Neuauflage von Bürgerkrieg gedroht hätte, wäre dies möglicherweise eine politische Berechtigung für einen solchen Handel gewesen. Ich selbst halte den Handel für hoch problematisch, unter anderem wegen der vorangegangenen Ausführungen über Strafe.
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Bei einem Gespräch mit Erzbischof Desmond Tutu über die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission („Truth and Reconciliation Commission“, kurz: TRC) erklärte ich ihm, dass ich die Regelung, die wir in Deutschland mit dem Stasiunterlagengesetz gefunden haben, für eine sehr gute Lösung halte; sie stellt nämlich die Mehrheit der Unterdrückten besser als die Minderheit der Unterdrücker. Diese Lösung hätte in Südafrika so nicht gefunden werden können, da sonst, wie sich Tutu ausdrückte, ein „brennendes Land“ zurückgeblieben wäre. Man kann nicht ein ganzes Land erneut ins Chaos stürzen bei dem Versuch, die Gerechtigkeit aufgrund der Rechtsordnung wieder herzustellen. Es muss Übergangsmöglichkeiten geben und Verfahren, in denen andere Elemente der Aufarbeitung von Schuld das Recht ein Stück weit ersetzen. Auch in Südafrika wurde weiter Recht gesprochen, obwohl es die TRC gab. Denn Versöhnung oder Strafnachlass in Form von Amnestie gab es nur gegen Wahrheit. Täter, die vor der Kommission nicht die Wahrheit sagten, konnten gleichwohl vor Gericht gestellt wer2 den. Das Element „Ruhe für Wahrheit“ lässt sich als Zwischenstufe verstehen. Die Gesellschaft (der Staat) verzichtete nicht auf die Ermittlung der Wahrheit, konnte aber unter der Voraussetzung der Anerkennung der Wahrheit auf die Strafverfolgung und die Zumessung von Strafe für die Rechtsbeugung verzichten. Das heißt, die Tat wird als eine Straftat bewertet, aber der Staat verzichtet für einen bestimmten historischen Moment auf die Ausübung seines Rechtes (Sanktionierung der Straftat), und spricht statt dessen eine Amnestie aus. Wenn das Element, die Nation zusammenzubringen, so wichtig ist, dass das Element des rechtsförmigen Ausgleichs dahinter zurückstehen muss, kann man es so praktizieren. Jedoch ging dies auch in Südafrika mit schweren Problemen einher: Die Interessen der Unterdrückten kamen zu kurz. Ich erlebte, wie eine schwarze alte Dame vor der TRC stand und weinte. Zwanzig Jahre war es her, dass man ihren Sohn tötete. Sie kam aus bitterer Armut und ging zurück in bitterste Armut. Der Leutnant, der ihren Sohn erschoss (inzwischen Oberst), ging zurück in seine Villa, nachdem er ein bisschen Wahrheit gegeben hatte. Eine ideale Lösung war das nicht. Jedoch gefiel mir der öffentliche Charakter dieses Verfahrens. Der Schuldige wurde öffentlich schuldig genannt. Es entstanden bewegende Szenen, in denen die Täter Beschämung zeigten und ihren Weg zu den Opfern fanden. Es hat jedenfalls einen Versuch gegeben, in einer öffentlichen, strukturierten und verhandlungsähnlichen Art und Weise mit dem Thema Schuld fertig zu werden. In Anlehnung an die TRC Südafrikas konnten in einigen Staaten Südamerikas so etwas wie Wahrheitskommissionen ins Leben gerufen werden, um die Verbrechen einiger südamerikani2
Vgl. zur Amnestiegesetzgebung ausführlicher: Wüstenberg, Ralf K., Aufarbeitung oder Versöhnung? Ein Vergleich der Vergangenheitspolitik in Deutschland und Südafrika, Internationale Probleme und Perspektiven, Bd. 18, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 2008, 17 f.
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scher Diktaturen zu verhandeln und zu dokumentieren. Viele der Militärs, die sich noch in allzu guten Positionen befinden, verhindern ein weiteres Vorgehen. Gerichtsverfahren erleben wir bisher nur in ein oder zwei Ländern Südamerikas. Das Aufweisen der Wahrheit, die Sicherung der Faktizität der Fakten durch Wahrheitskommissionen ist ein Teilschritt bei der Bearbeitung von Schuld in Transformationsgesellschaften. Eine Aufarbeitung, sei sie verortet in der rechtsförmigen oder jeder anderen Dimension der Bearbeitung von Schuld, ist niemals im Stande, wiederherzustellen, was einmal gewesen ist. Menschen machen nicht nur Fehler, sondern laden schwerste Schuld auf sich. Sie nehmen anderen Menschen das Leben. Wir können alles Mögliche wiedergeben, aber nicht das Leben. Menschen nehmen anderen Menschen die Würde. Manchmal kann man sie zurückgeben, aber so manche Verletzung der Würde eines Menschen gräbt sich als unlöschbares Trauma in dessen Seele ein (in der medizinischen Sprache als posttraumatisches Belastungssyndrom bekannt). Aber weit über den Kreis der so erfassten hinaus gehen die Traumata aus Zeiten der Ohnmacht mit den Transformationsgesellschaften mit. Diktaturen haben lange Schatten. Wenn wir nun versuchen, eine Instanz zu erfinden oder meinen, dass eine der genannten Instanzen allein im Stande wäre, so etwas wie Versöhnung zu schaffen, dann sehen wir unsere Grenzen. Dem Menschen ist zwar allerhand möglich, aber er ist nicht Gott. Am Rande einer Konferenz erkundigte ich mich bei einem der Initiatoren der TRC, Prof. Charles Villa-Vicencio, über den Fortgang der Kommission, worauf er sagte: „Mit der Versöhnung haben wir uns wohl etwas vergriffen. Versöhnung, wer kann das denn kommandieren? Wer kann das organisieren? Vielleicht zwischen zwei Menschen, wenn eine Frau ihrem Mann wirklich vergibt, oder umgedreht geht das vielleicht. Dann sind beide Beteiligten da.“ Kann der Staat Versöhnung organisieren? Begäbe er sich dann nicht in die Rolle einer göttlichen, alles in Ordnung bringenden Instanz? Der Staat wäre überfordert. Es ist schwer, solchen Ansprüchen zu genügen. Und wir müssen diese Rollenzuschreibungen fürchten, weil sie nur zu Frustration führen. Auf meine Fragen: „Was ist ihr Begriff? Wofür würden sie heute kämpfen? Wie würden sie Ihren Versuch der Aufarbeitung heute nennen?“, antwortete Villa-Vicencio: „Wir hätten schon viel erreicht, wenn wir eine friedliche Koexistenz so unterschiedlicher Menschen garantieren könnten.“ Kleinere Worte und kleinere Programme beinhalten manchmal größere Möglichkeiten. Versöhnung zu schaffen oder anzuordnen, wer will sich dessen anheischig machen? Eine friedliche Koexistenz einfordern, die Regeln dafür entwickeln, die Verletzungen sanktionieren, sind jedoch menschliche Maßgaben. Von daher bekam ich eine neue, freilich schon länger existierende große Neigung, zu unserem auch mangelhaften Rechtssystem. Ich weiß, wie spröde die Erfahrungen mit unserer Rechtsordnung, mit dem Strafrecht angesichts großer Menschheits- und Völkerverbrechen sind. Dennoch ist mir vor dem Hintergrund dieses Themas die kurz nach der Wende von Bärbel Bohley abgegebene Bemer-
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kung – „Wir haben Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat erhalten“ – neu suspekt geworden. Wenn man sich anheischig macht, eine neue Gerechtigkeit zu erfinden und durchzusetzen, dann ist man nicht weit von denen entfernt, die ihr einst neues Verständnis von Recht als Diktatoren durchgesetzt haben. Ich bin dankbar dafür, als Bürger in einer Rechtsordnung zu leben. Zudem erwarte ich von geschriebenem und vollzogenem Recht, dass es einen Nexus zur Gerechtigkeit hat. Indem das Strafrecht seine elementare Beziehung zur Idee der Gerechtigkeit jederzeit nachweist, ohne diese Idee hundertprozentig definieren zu können, tut jeder an seinem Ort, ob Jurist, Lehrer, Politiker, Psychotherapeut oder Seelsorger, das ihm persönlich Aufgetragene. Insofern stellt sich uns Versöhnung als Programm in einer posttotalitären Gesellschaft dar, an dem wir uns leicht vergreifen können. Es ist dennoch eine Aufgabe, vor der wir nicht weglaufen dürfen. Wir müssen uns in breiter Front und in mehreren Dimensionen mit ihr beschäftigen, um die friedliche Koexistenz zwischen Schuldigen und Unschuldigen, Haupt- und Nebentätern sowie die Erneuerung einer Gesellschaft voranzubringen.
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Literatur Jaspers, Karl, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. Wüstenberg, Ralf K., Aufarbeitung oder Versöhnung? Ein Vergleich der Vergangenheitspolitik in Deutschland und Südafrika, Internationale Probleme und Perspektiven, Bd. 18, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 2008.
Erinnerung, Gerechtigkeit und Versöhnung. Zur Aufgabe eines angemessenen Umgangs mit belasteter Vergangenheit – eine sozialethische Perspektive Thomas Hoppe Nach dem Ende von Phasen organisierter Gewaltanwendung zwischen Staaten bzw. massiver Repression innerhalb von Staaten, richtet sich die Aufmerksamkeit öffentlicher Debatten oftmals nach vorn, in die Zukunft. Die meisten Fragen, die in diesen Zusammenhängen gestellt werden, verweisen dabei auf Herausforderungen, denen sich anscheinend durch politische Pragmatik hinreichend begegnen lässt. So geht man häufig stillschweigend von der weitgehenden Herstellbarkeit der erwünschten Verhältnisse aus. Stattdessen wäre Skepsis am Platze: Es gilt damit zu rechnen, dass einmal erreichte Fortschritte reversibel und dadurch gefährdet bleiben – mit unter Umständen verhängnisvollen Auswirkungen für das Leben von Millionen von Menschen. Nur in solcher Skepsis lässt sich der umprägenden Erfahrung angemessen Rechnung tragen, die mit konkreten Begegnungen mit den „Schatten der Vergangenheit“ inner- und außerhalb Europas verbunden ist. Man kann sich der Last dieser Vergangenheit auf längere Sicht nicht dadurch entledigen, dass Formen pragmatischer Kooperation entlang einem Zielkatalog gemeinsamer Interessen verabredet werden. Die Definition einer „Stunde Null“ erweist sich als Fiktion. Zumindest gilt für diejenigen, die selbst oder deren Familien zu Opfern schwerwiegenden Unrechts wurden, dass sie die Erinnerungen an diese tief greifende Zäsur in ihr Leben nicht verlieren können. Vielmehr wurde ihr individuelles wie kollektives Selbst- und Weltverständnis grundlegend dadurch geprägt. Diese Erfahrung wirkt bis in die Gegenwart nach, und der Umgang mit ihr bestimmt zugleich Reichweite wie Grenzen jedes Versuchs, durch Konzepte, die vor allem bei der Schaffung veränderter struktureller Arrangements in der Politik ansetzen, das Klima innerhalb einer Gesellschaft wie in den internationalen Beziehungen zu verbessern. Bemühungen um einen angemessenen Umgang mit durch Unrecht und Schuld belasteter Vergangenheit sehen sich häufig in einem Spannungsfeld zwischen Verfolgungseifer einerseits, gesellschaftlicher und politischer Amnesie andererseits. Dabei sind beide Extreme offensichtlich abzulehnen, weil sie aufgrund ihrer jeweiligen Einseitigkeiten der Wirklichkeit nicht gerecht werden: Verfolgungseifer droht zu verkennen, dass in der Weise des Umgangs mit belasteter Vergangenheit stets auch auf die sozialen Rückwirkungen jeder individuellen Verfolgung von Unrecht
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mit strafrechtlichen Mitteln zu achten ist – dies gilt nicht zuletzt für die Aussicht auf gelingende Prozesse der Aussöhnung. Wenn andererseits in Gesellschaft und Politik eine Schlussstrichmentalität die Oberhand gewinnt, besteht die Gefahr, dass große Komplexe schuldhaften Handelns einfach verdrängt werden. Doch lassen sich nicht nur gute Argumente gegen solche Haltungen nennen, sondern zunächst scheint manches durchaus für diese konträren Positionen zu sprechen. Wer mit den konkreten Auswirkungen schwerwiegender Verletzungen grundlegender Menschenrechte im Einzelfall konfrontiert ist, dem wird es schwer, für etwas anderes zu plädieren als für eine harte Bestrafung der Täter und ihrer Hintermänner. Ist das schon Verfolgungseifer, oder bedeutet es nicht vielmehr einen Ruf nach Gerechtigkeit, der sich im Angesicht der Opfer und ihrer oft fortdauernden Leiden geradezu aufdrängt? Andererseits: Wer aus aufrichtigen, d.h. nicht auf Kalkülen des „Täterschutzes“ beruhenden Gründen gegen eine umfangreiche Strafverfolgung plädiert, mag ebenfalls geltend machen, dass es sehr schwierig werden kann, im Bemühen um justizielle Aufarbeitung den zum Teil überaus verschiedenartigen Einzelfällen annähernd gerecht zu werden. Die folgenden Ausführungen gelten daher zunächst der Verhältnisbestimmung von Recht und Gerechtigkeit. Sie fragen sodann nach Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Reintegration von belasteten Personen, insbesondere nach den Voraussetzungen dafür, dass eine solche Wiedereingliederung gelingen kann. Anschließend geht es darum, wie denjenigen Opfern von Systemunrecht, deren Leid durch rechtsförmige Verfahren nur teilweise oder gar nicht kompensiert wird, mehr Gerechtigkeit widerfahren kann. Dies ist auch im Kontext der Suche nach möglicher Aussöhnung zwischen Tätern und Opfern wichtig, der einige Überlegungen gelten werden. Über die individuelle Täter-Opfer-Situation wie über den Rahmen des Rechts hinaus weist schließlich eine Skizze verbleibender Herausforderungen für Gesellschaft und Politik.
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Recht und Gerechtigkeit
Dass mit der individuellen Tatverantwortlichkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen nicht im Sinne einer generellen, voraussetzungslosen Amnestie umgegangen werden darf, ergibt sich bei einem Blick auf die Folgen solcher Straflosigkeit. Gerade die weit verbreitete Praxis der impunidad stellt in Lateinamerika eine der zentralen Ursachen für Verzögerungen in der Entwicklung ehemals autoritär regierter Länder zu demokratischen Rechtsstaaten dar. Zugleich bedeutet sie einen der Hauptgründe für das mangelnde Vertrauen von Opfern politischer Verfolgung in die Dauerhaftigkeit solcher Transformationsprozesse. Amnestien führen dazu, dass alte Hierarchien erhalten werden, ihre Verbrechen folgenlos bleiben, ja sie sich für die Täter womöglich noch auszahlen. Indem zugleich einer großen Öffentlichkeit die Kenntnis der wirklichen Verhältnisse unter dem repressiven System vorenthalten
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wird, entsteht nicht nur die Gefahr, dass sich ähnliche Strukturen von neuem herausbilden. Es entfallen auch die Minimalvoraussetzungen dafür, dass es zu einer Aussöhnung mit den Opfern kommen kann, da sich nicht einmal mehr öffentlich feststellen lässt, dass die Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen des alten Regimes schweres Unrecht bedeuteten. Die Legitimität der neuen politischen Ordnung, die die Zeit der Repression beenden soll, gerät dadurch ins Zwielicht – gerade bei denen, auf deren Unterstützung sie wesentlich angewiesen ist. Die Bedeutung strafrechtlicher Verfahren zur Ahndung von Menschenrechtsverletzungen liegt deshalb hauptsächlich in ihrem Beitrag zur Aufdeckung der historischen Wahrheit einerseits und, damit verbunden, der moralischen und womöglich auch rechtlichen Rehabilitierung von Opfern andererseits. Beides sind essentielle Voraussetzungen dafür, dass der Versuchung widerstanden werden kann, für die Verbrechen der Vergangenheit Rache zu üben, und dass Prozesse auf Versöhnung hin nicht von vornherein unmöglich werden. Strafprozesse machen öffentlich sichtbar, dass dort, wo strafwürdiges Verhalten vorlag, nicht die Täter im Recht waren, sondern ihre Opfer. Diese Klarstellung hat unmittelbar etwas mit 1 der Wiederherstellung der Würde der Opfer zu tun, die man ihnen schuldig ist. 1
Die Rede von der „Wiederherstellung der Würde“ der Opfer mag zunächst befremdlich erscheinen. Im philosophischen und theologischen Kontext versteht man unter der Personwürde eine Eigenschaft jedes Menschen, die mit seinem Menschsein gegeben ist und weder zerstört werden noch verloren gehen noch veräußert werden kann. Man kann allenfalls Menschen so behandeln, dass man diese ihre personale Würde nicht achtet – in bestimmter Hinsicht kann man auch sich selbst gegenüber so handeln. Die Rede von der „Wiederherstellung der Würde“ entstammt demgegenüber einem anderen Sprachspiel. Ihr Gegenbegriff ist „Entwürdigung“, ein Wort, das durchaus zum üblichen Sprachgebrauch gehört. Diese Redeweise bezieht sich auf Selbstbeschreibungen der Opfer im Hinblick auf das, was ihnen widerfahren ist und was sie dabei empfunden haben. Eindrücklich formuliert sie z.B. Améry, Jean, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 31997, 141: „Ich habe versucht, den Prozess zur Wiedererlangung meiner Würde einzuleiten, und das hat mir jenseits des physischen Überlebens eine Minimalchance eröffnet, das Ungeheure auch moralisch zu überstehen“. Hier geht es um die ausgeprägte Wahrnehmung, dass bestimmte Formen der Behandlung einen Menschen demütigen, ihn erniedrigen – unter Umständen so weit, dass seine Selbstachtung dabei vollkommen zerstört wird. Diese Erniedrigung wird deswegen oft als schlimmer empfunden und wirkt länger nach als alle anderen mit dieser Behandlung verbundenen Ängste, Schrecken und körperlichen Schmerzen (vgl. z.B. Butollo, Willi, et al., Kreativität und Destruktion posttraumatischer Bewältigung, Stuttgart 1999, 50f.). Noch schlimmer ist es, wenn das System der Unterdrückung die Opfer zu Handlungen treibt, die nachher in unüberwindbaren Selbstvorwürfen enden. 1963 erschien ein grundlegender Aufsatz von Kurt R. Eissler, der über die Folgeschäden von KZ-Haft psychiatrisch zu gutachten hatte. Er beschreibt die Zusammenhänge, die diese Zerstörung von Selbstachtung bewirken (Eissler, Kurt R., Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?, in: Psyche 5 (1963), 265 f.): „Wenn ein Ethnologe von […] Eingeborenen gefangen und zu Tode gequält wird, so wird er auch in der erbärmlichsten Lage nicht notwendigerweise seinen Selbstrespekt verlieren. Er mag bis zum letzten Augenblick ein berechtigtes Gefühl der Überlegenheit über seine Peiniger bewahrt haben. Anders bei den Opfern der Konzentrationslager. Die Verfolger erschienen dort als die Vertreter des Rechts. B. wurde in Sträflingskleider gesteckt, […] das beste Mittel, das Opfer zu demoralisieren und des Selbstrespektes zu berauben. Der religiöse Märtyrer ist gegen eine solche
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Wo im Blick auf einzelne Fälle und Personen Unrecht festgestellt und sanktioniert werden kann, wird die in ethischer wie juristischer Hinsicht geforderte Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht wieder möglich und zugleich der Blick für individuelle Tatverantwortlichkeit geschärft. Die Legitimität strafrechtlicher Sanktionen ist dabei an die Wahrung der individuellen Personwürde, auch der Angeklagten, rückgebunden. Überdies muss die Verhältnismäßigkeit zwischen Strafmaß und individuell zurechenbarem Vergehen gewahrt bleiben. Hier liegen Grenzen, die weder durch einzelne, inhaltlich entfaltete Rechtsnormen noch durch die Weise der Rechtsanwendung verletzt werden dürfen. Am wenigsten überzeugt die Verhängung von Strafen unter dem Gesichtspunkt der Retribution. Denn der entscheidende sozialethische Aspekt liegt nicht in der Vergeltung für individuelles Fehlverhalten. Eine strafrechtliche Würdigung von Systemunrecht muss darauf abzielen, die Einhaltung eines verbindlichen Rechts durchzusetzen, das individuelle Grundrechte schützt und dadurch dem Wohl eines Gemeinwesens dient. In diesem Sinn ist sie auf einen generalpräventiven Zweck gerichtet. Dabei ist nicht nur an „negative“ Generalprävention („Abschreckung“ potentieller Täter) zu denken, sondern vielleicht mehr noch an „positive“ im Sinn einer Stärkung des Normbewusstseins, d.h. einer Stabilisierung der Nor2 men. Präventiv zu wirken vermag darüber hinaus eine wichtige Eigenschaft strafprozessualer Aufarbeitung: Die Faktenerhebung und -sicherung hinsichtlich dessen, was zur Tatzeit am Tatort geschah, und die Aufhellung des politischen Umfeldes, in dem die Verbrechen sich vollzogen, wirkt einerseits späterer, verharm-
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Verletzung geschützt; auch Verfolgte, die durch ihre politische Überzeugungsstärke gegen Demoralisierung in einem gewissen Ausmaß geschützt waren, befanden sich in einer psychologisch vorteilhafteren Lage. Zumindest am Anfang; man unterschätze aber nicht den Einfluss der Zeit und das resultierende Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Ich kannte eine Frau, die sich in einem Konzentrationslager an ein anderes Mädchen anschloss. Die unzertrennliche Freundschaft erleichterte ihnen das Ertragen der Qualen. Alles, was sie hatten, wurde geteilt. Als sie einmal wegen Mehrarbeit ein Stück Brot als Vergünstigung erhielt, konnte sie, von Hunger gepeinigt, der Versuchung nicht widerstehen und verzehrte das Brot allein. Sie litt noch nach fünfzehn Jahren an einem Schuldgefühl und Selbstvorwürfen […] Mit dem Schuldgefühl [des Überlebens] berühren wir den zweiten Faktor […] ein Vater, der das Konzentrationslager überlebt hat, aber seine zwei Kinder den Feinden überlassen musste und weiß, dass sie ermordet wurden, [kann] nie mehr wieder so schlafen […], wie er es zu ihren Lebzeiten tat. Er weiß, sie sind tot, aber seiner Phantasie ist bezüglich der Umstände, unter denen sie ums Leben kamen, keine Schranke gesetzt. Es ist nicht nur das quälende Schuldgefühl des Menschen, sondern auch die Scham, die Erniedrigung ertragen zu haben. Es ist zweifelhaft, ob man den Fall jenes Mannes, der nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Selbstmord beging, als psychopathologisch im engeren Sinn des Wortes ansehen soll“. – Auch alle Varianten von Folter, durch die Geständnisse erzwungen werden sollen, führen bei den durch die Foltermethoden Überwältigten, die Freunde und Verwandte irgendwann verraten, zu schwersten Scham- und Schuldgefühlen (vgl. z.B. Gurris, Norbert F., Seelisches Trauma durch Folter – Heilung durch Psychotherapie?, in: Graessner, Sepp et al. (Hrsg.), Folter. An der Seite der Überlebenden – Unterstützung und Therapien, München 1996, 49 f.). Gerade spezifische Formen psychischer Folter vollziehen sich zudem bevorzugt über systematisch betriebene, entwürdigende Behandlung der Opfer. Vgl. Werle, Gerhard, Völkerstrafrecht, Tübingen 2003, 36 Rdn. 86.
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losender Legendenbildung entgegen. In Bezug auf die Hauptverantwortlichen für Systemunrecht kann strafrechtliche Verfolgung überdies in einem direkten Sinn spezialpräventiv wirken, weil nur durch ein solches, rechtsstaatlich geordnetes Verfahren der notwendige „Elitenwechsel“ eine Chance hat. Der Vorwurf der „politischen Justiz“ wäre nur dort am Platz, wo in der strafrechtlichen Würdigung von Systemunrecht diese Grundsätze verletzt werden. Allerdings fällt auf, dass angesichts der oftmals vergleichsweise geringen Strafen, die überdies nur in wenigen Fällen verhängt und in noch weniger Fällen zum Vollzug gebracht werden, kaum je etwas dafür spricht, dass die Rede von „Siegerjustiz“ gerechtfertigt ist. Viele Opfer systemisch verursachten Unrechts sind vielmehr enttäuscht, ja empört, weil sie die Geringfügigkeit der verhängten Strafen, gemessen an den Größenordnungen des geschehenen Unrechts, deutlich empfinden. Weil sich dieses Missverhältnis zwischen materiellem Unrecht und strafrechtlicher Sanktionierungsmöglichkeit zugunsten der Täter, nicht der Opfer auswirkt, erscheint ein solches Ergebnis unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten als überaus problematisch – es kann sich wie eine nachträgliche Verharmlosung des verübten Unrechts ausnehmen. Deswegen lässt sich fragen, ob unter bestimmten Umständen nicht das Instrument einer Wahrheitskommission geeigneter ist als Strafverfolgung, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden zu leisten. Allerdings beruht vielerorts die Einrichtung einer solchen Kommission auf einem politischen Kompromiss: Im Übergang von autoritären Systemen hin zu demokratischen Staatswesen war man auf die Kooperation der Vertreter der alten Ordnung angewiesen, die indessen nur zu erhalten war, wenn auf eine strafrechtliche Ahndung der Verbrechen der Vergangenheit verzichtet wurde. Dennoch gelang es zuweilen, den Verzicht auf Strafverfolgung wenigstens an Bedingungen zu knüpfen. So lag das grundlegende Prinzip der südafrikanischen Wahrheitskommission darin, dass ein Täter Straffreiheit erlangen konnte, wenn er seine Vergehen öffentlich eingestand bzw. bei der Aufklärung der repressiven Strukturen und Funktionsweisen des alten Systems mitwirkte. Mit Wahrheitskommissionen dieses Typs war überdies die Hoffnung verbunden, einer möglichst großen Zahl von Opfern durch die Möglichkeit, über das ihnen Widerfahrene öffentlich zu sprechen, etwas von ihrer Würde zurückgeben zu können – nicht nur für sich selbst, sondern ebenfalls für ihre Leidensgefährten. Das Unrecht bleibt, wo es im Rahmen einer Wahrheitskommission festgestellt wird, zwar ungestraft, aber weder verborgen noch vergessen. Doch auch gegenüber diesem Instrument der Wahrheitsfindung lassen sich schwerwiegende Einwände vorbringen. Es ist in Südafrika zwar in hohem Maße gelungen, die gravierendsten Erscheinungsformen systemischen Unrechts und die Weise, wie dieses Menschen zu Opfern machte, aufzudecken; Art, Umfang und Folgen schwerer Menschenrechtsverletzungen offen zu legen; das einst Geschehene gegen rasches Vergessen zu sichern; die Gesellschaft insgesamt für die psychosozialen Folgen der von den Opfern erlittenen Unrechts- und Gewalterfahrungen zu
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sensibilisieren. Gerade am Beispiel Südafrikas wird jedoch der enge Zusammenhang deutlich, der zwischen der Aussagebereitschaft von Tätern und der ihnen drohenden Strafverfolgung bestand, sollten sie keinen Amnestieantrag bei der Wahr3 heitskommission stellen. Die Täter konnten sich dieses Instruments aus rein strategischem Kalkül bedienen – und viele haben es offensichtlich deswegen getan –, d.h. ohne dass es ihnen dabei um die Suche nach Wahrheit und Aussöhnung mit den Opfern bzw. deren Hinterbliebenen ging. Dies ist besonders prekär angesichts der großen Hoffnungen, die der Kommissionspräsident, der anglikanische Erzbischof Desmond Tutu, in diese Arbeit gesetzt hatte, die nicht weniger anstrebte als einen Beitrag dazu, die Wunden der südafrikanischen Gesellschaft zu heilen: Revealing is healing war auf vielen Plakaten zu lesen, die um öffentliche Aufmerksamkeit für 4 die vielfach dezentral durchgeführten Anhörungen warben. Das Ergebnis „Wahrheit ohne Gerechtigkeit – und ohne Bedauern oder gar Reue“, das nicht selten am Schluss einer Anhörung vor der Kommission stand, ist für manche der Opfer unerträglich, besonders wenn zugleich der Täter amnestiert wurde. Von hier her wird zwar verständlich, warum manche von ihnen im Nachhinein nach justiziellen Verfahren rufen; doch erlosch, gemäß dem Mandat der Kommission, durch die Beteiligung der Opfer an den Anhörungen ihr Anspruch auf Strafverfolgung der Täter und auf zivilrechtliche Entschädigung von deren Seite. Auch in Lateinamerika sahen sich Opfer dadurch ein zweites Mal verletzt, dass ihnen Politik und Gesellschaft nicht einmal angesichts der offen gelegten Fakten über die begangenen Verbrechen ein Stück weit Gerechtigkeit zukommen
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Vgl. Nerlich, Volker, Apartheidkriminalität vor Gericht. Der Beitrag der südafrikanischen Strafjustiz zur Aufarbeitung von Apartheidunrecht, Berlin 2002, 294.331. Nerlich macht darüber hinaus auf eine bemerkenswerte Parallele zu Deutschland nach 1945 hinsichtlich der juristischen Basis aufmerksam, auf der in Südafrika sowohl begrenzte Strafverfolgung stattfand wie sich die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission zu vollziehen hatte: „Die legalisierte Staatskriminalität des Apartheidsystems, die sich in Vertreibungen, der Vorenthaltung von politischen Mitwirkungsrechten und der systematischen Benachteiligung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit manifestiert hat, wird entweder – wie in den Strafverfahren – überhaupt nicht, oder – wie durch die Kommission – nur am Rande thematisiert. Im Mittelpunkt stehen stattdessen die Exzesse des Sicherheitsapparats, die, wenn auch von der Staatsführung gewollt, gefördert oder zumindest geduldet, selbst nach südafrikanischem Recht illegal waren. […] Die Wahrheits- und Versöhnungskommission war aufgrund der Bestimmungen des Gesetzes für nationale Einheit und Versöhnung daran gehindert, das legalisierte Apartheidunrecht im großen Umfang zu untersuchen; ihr Mandat schloss das legalisierte Unrecht nicht ein. Die Strafjustiz hingegen war aufgrund der Möglichkeit, auf Tatbestände des Völkerstrafrechts zurückzugreifen, in die Lage versetzt, auch diesen Aspekt der Apartheid zu untersuchen. Dafür fehlte ihr allerdings der Wille“ (ebd., 332f.). Erzbischof Tutu äußerte in einem Fernseh-Interview geraume Zeit nach der Beendigung der Arbeit der Kommission: „Ich bin enttäuscht darüber, dass die politischen Parteien [die das Apartheid-System trugen] eine Gelegenheit verpasst haben. Sie haben nichts dazu beigetragen, dass die tiefen Wunden dieser so traumatisierten Nation heilen können“ (Kap der Guten Hoffnung? Südafrika zehn Jahre nach dem Ende der Apartheid, Film von Stefan Schaaf, ausgestrahlt im Sender „Phoenix“, 25. 4. 2004).
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ließen. Darf es überdies Straffreiheit für diejenigen geben, die systematisch Verbrechen angeordnet haben und dafür den größten Teil der Verantwortung tragen? Und umgekehrt: Wie weit soll der Kreis derjenigen ausgezeichnet werden, die direkt für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu machen wären? Wo soll man die Grenze zu so genannten „Bagatelldelikten“ ziehen, die in ihrer Gesamtheit durchaus zur Zerstörung eines Menschen geführt haben können? Die Hoffnungen, dass durch die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission ein Beitrag zur Heilung offener Wunden geleistet werden könnte, kontrastieren mit etlichen Berichten aus Selbsthilfegruppen der Opfer. Diese beklagen, dass ihnen die Anhörungen nur wenig dabei geholfen haben, ihr persönliches Schicksal besser annehmen zu können und mit den damit verbundenen sozialen Folgen leichter zurecht zu kommen. Manche werfen der Kommission sogar 6 vor, die Resultate ihrer Arbeit begünstigten letztlich die Täter. Wiederum wäre von ähnlichen Erfahrungen aus Lateinamerika zu berichten. Wahrheitskommissionen leiden daher an einer erheblichen Ambivalenz, sie sind durchaus kein „Königsweg“ zwischen genereller Amnestie und einer in mancher Hinsicht unzulänglichen Strafverfolgung. Im Licht jüngster Erfahrungen speziell in Südafrika und Deutschland mit den Vorzügen, aber auch gravierenden Mängeln der jeweils angewendeten Verfahren zur Aufarbeitung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit wurde bereits vor längerer Zeit vorgeschlagen, Strafjustiz und Wahrheits7 kommission miteinander zu kombinieren. Die Kooperationsbereitschaft mit der Kommission würde dann nicht strafbefreiend, wohl aber strafmindernd wirken. Zudem böten Wahrheitskommissionen den Vorzug, dass die Aufklärung der vor ihnen verhandelten Sachverhalte wesentlich breitere Teile der Öffentlichkeit erreichen könnte als ein Strafverfahren; die gesamtgesellschaftliche Anteilnahme an 8 der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit würde dadurch erheblich gestärkt.
2.
Reintegration der Belasteten
Inner- wie außerhalb strafrechtlich relevanter Zusammenhänge steht die Frage nach einem angemessenen Umgang mit jenen, die für systemisch verübtes Unrecht 5 6
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Vgl. Huhle, Rainer, Menschenrechte in Lateinamerika, in: Sicherheit + Frieden 1 (2001), 23. Vgl. Ruge, Clarissa, Versöhnung durch Vergangenheitsbewältigung? Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission und ihr Versuch zur Friedenssicherung, Frankfurt/M 2004, 227 f. Vgl. Ulrich, Stefan, Schmerzvolle Wahrheiten, in: Süddeutsche Zeitung 7. 1. 1999, 4. Prinzipiell liegt auch in Südafrika insofern ein Kombinationsmodell vor, als Täter, die vor der Wahrheitskommission ausgesagt haben, denen aber die Amnestierung versagt blieb, anschließend ebenso strafrechtlich verfolgt werden konnten wie solche, die von vornherein keinen Amnestieantrag gestellt haben. Faktisch bestehen dort jedoch nur sehr geringe Aussichten, dass der Versuch strafrechtlicher Ahndung zum Erfolg führt.
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verantwortlich sind, im eingangs benannten Spannungsfeld: Einerseits soll der erwähnten Gefahr der Amnesie entgegengewirkt, andererseits muss ernsthaft nach vertretbaren Möglichkeiten einer Reintegration von Tätern in die Gesellschaft gesucht werden. Welcher Voraussetzungen auf Seiten der Täter, auf Seiten der Opfer und der übrigen Gesellschaft bedarf es dafür? Zunächst muss der Begriff „Täter“ differenziert verwendet werden. Es begegnen sehr unterschiedliche Motive und situative Kontexte, aufgrund derer Menschen sich zur Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen bereit finden. Keineswegs alle Untaten erfolgen aus von Anbeginn manifest verbrecherischer Gesinnung; Opportunismus und Karrieristentum sind hier oft ebenso wirksam. Ideologische Verblendung kann dazu führen, dass sogar schwerste Menschenrechtsverbrechen mit „gutem Gewissen“ begangen werden. Nachhaltige Begrenzungen solcher Einsichtsfähigkeit werden vor allem dort sichtbar, wo indoktrinierte Überzeugungen zu der subjektiven Gewissheit führen, sich in einer Art permanentem Ausnahmezustand zu befinden. Der vermeintlich notwendige Kampf gegen eine umfassende gegnerische Verschwörung zur Destabilisierung des eigenen Lagers kann dann vieles als rechtfertigungsfähig erscheinen lassen, was objektiv den Tatbestand schwerster Menschenrechtsverletzungen erfüllt. Denn die Beanspruchung eines gruppenspezifischen Sonderethos führt immer wieder zur Destruktion aller Schutznormen für die Menschenwürde derer, die der Gruppe der als Feinde Definierten angehören – selbst elementaren Standards von Menschlichkeit wird so ihre universale Geltung abgesprochen. Dies kann sich sogar mit herkömmlichen Vorstellungen bürgerlicher Anständigkeit verbinden, so dass die Mitwirkung an Unrechtssystemen dann als rechtfertigungsfähig erscheint, wenn sie frei von anfechtbaren persönlichen Motiven (z.B. dem Streben nach eigener Bereicherung am Eigentum der Opfer) erfolgt. Zudem vollzieht sich das Handeln der Täter nicht selten unter Umständen, die die Sensibilität für das Leid ihrer Opfer erschweren oder beseitigen können. Die wesentlichen psychosozialen Mechanismen einer schleichenden Gewöhnung an systemisch verursachtes Unrecht lassen sich anhand der Geschichte und Phänomenologie aller modernen Diktaturen weitgehend rekonstruieren. Die Etablierung menschenrechtsverletzender Praktiken bis hin zu organisiertem Massenmord fällt besonders deswegen leicht, weil mit den heute verfügbaren technischen und informationellen Kapazitäten sich Manipulations-, Überwachungs- und Zugriffsmöglichkeiten weit über das aus vergangenen Epochen bekannte Ausmaß hinaus eröffnen. Vor allem folgende sechs Faktoren tragen zur Entfaltung von organisierter 9 10 „Makrokriminalität“ wesentlich bei: Hass, Diktatur, Bürokratie (die z.B. dafür sorgt, dass systematische Menschenrechtsverletzungen flächendeckend und effi9
Vgl. Jäger, Herbert, Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, Frankfurt/M 1989. 10 Vgl. zum Folgenden Wiesenthal, Simon, Einführung, in: ders., Jeder Tag ein Gedenktag. Chronik jüdischen Leidens, Gerlingen 21989, 14 ff.
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zient durchgeführt werden können), moderne Technologie (nicht nur im Bereich der Produktion von Gewaltmitteln, sondern z.B. auch im Mediensektor), eine Ausnahmesituation wie Krise oder Krieg. Propaganda lässt sich gezielt einsetzen, um Minoritäten in die Rolle eines Sündenbocks zu drängen, womit gleichzeitig das zukünftige Opfer definiert wird. Doch auch existenzielle Erfahrungen der Entwurzelung (z.B. durch Krieg oder Bürgerkrieg, Vertreibung, einen grundlegenden Umbruch der sozialen und politischen Verhältnisse) führen nicht selten zu einer gefährlichen Ideologisierung des Denkens. Solche Erfahrungen werden nicht nur individuell beantwortet, sondern zu ideellen Deutungsmustern verarbeitet, die in Konfliktsituationen eine oftmals enorme gruppenbildende und hinsichtlich des politischen Handelns normative Kraft entfalten können. Ihre Gefahr liegt darin, dass man sich zugleich gegenüber ähnlichen Erfahrungen anderer Individuen und Gruppen verschließen kann. Die Anerkennung fremden Leids, womöglich des Unrechts, das die eigene Seite verübt hat, wird dann in extremen Situationen rasch wie ein Verrat gebrandmarkt; der Ruf nach Solidarität angesichts des gemeinsamen erlittenen Leids, jenseits dessen, was noch trennt, wird der „Kumpanei“ mit dem Gegner verdächtigt. Gerade die kollektive Erinnerung daran, was man zusammen mit Leidensgenossen einst zu erdulden hatte, läuft Gefahr, von aggressiven politischen Zielsetzungen instrumen11 talisiert zu werden. Dennoch darf nicht übersehen werden, welche Veränderungen im Bereich des persönlichen Ethos oft zusätzlich stattfinden müssen, um massenhafte Menschenrechtsverletzungen möglich zu machen. Typisch für moderne Diktaturen ist der Versuch, Menschen systematisch in Situationen hineinzutreiben, in denen ihnen scheinbar kein Weg mehr bleibt, der Korrumpierung ihrer Integrität zu entgehen. In vielen Fällen werden Menschen nicht abrupt vor eine solche ultimative Wahl gestellt, sondern eher allmählich und schleichend in Versuchung geführt, schließlich verstrickt. Je länger die Periode der Repression andauert, um so mehr Menschen geraten in Situationen, in denen es schwer wird, sich der durchaus als problematisch empfundenen Kooperation mit den Vollzugsorganen von Menschenrechtsverletzungen zu versagen oder sich aus ihr wieder zurückzuziehen. So werden sie zunehmend zugleich Opfer und Ausführende von Repressionen, bis hin zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die tatsächliche Verantwortung für das Geschehen und seine zerstörerischen Folgen für das Leben konkreter Menschen wird dabei leicht an höherer Stelle festgemacht, gewissermaßen psychologisch dorthin verwiesen. Hingegen empfinden jene, die deutlich die moralischen Dilemmasituationen erkennen, in die sie durch das System gebracht werden, später eine Mitschuld den Opfern dieses Systems gegenüber – eine Mitschuld, die ihnen häufig um so unerträglicher wird, je länger sie mit ihr zu leben gezwungen sind.
11 Vgl. als eindrückliches Beispiel hierfür Höpken, Wolfgang, ,Vergangenheitsbewältigung’ in Südosteuropa: Chance oder Last?, in: Südosteuropa 11–12 (1999), 623 ff.
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Einer Herrschaftstechnik, die sich gezielt der Ausnutzung menschlicher Schwächen oder moralischer Erpressung bedient, geht es darum, möglichst viele ihrer Opfer selbst zu Tätern zu machen, sie in den Abgrund einer Schuld- und Verstri12 ckungsgeschichte hineinzureißen. Mechanismen autoritärer Herrschaft sind gerade dann erfolgreich, wenn sie – auch nur zeitweise – den Menschen das Empfinden vermitteln, sie könnten sie von ihrer ursprünglichen moralischen Verantwortung entlasten. In einer solchen Fehlwahrnehmung liegt vielleicht der gefährlichste Moment dieser Art von Versuchung. Der durch derartige Methoden angerichtete Schaden, Einzelnen wie einer ganzen Gesellschaft zugefügt, reicht womöglich tiefer, als es äußere Verletzungen, ja selbst das Zerbrechen lebensgeschichtlicher Perspektiven von sich aus vermögen. Freilich sind Mechanismen von Verstrickung nicht charakteristisch für jedwedes Täterprofil. An der Spitze menschenrechtsverletzender Systeme stehen in der Regel Personen, die die Instrumente solcherart subtiler Machtausübung bewusst ins Leben rufen und dafür Sorge tragen, dass deren Funktionsfähigkeit erhalten bleibt, ja womöglich gesteigert wird. Für sie gilt nicht, was für die eben beschriebene große Gruppe von mitschuldig Gewordenen in vielen Fällen gelten mag, auch wenn trennscharfe Zuordnungen schwierig sind und mit gleitenden Übergängen zu rechnen bleibt: Dass ihre Einsichtsfähigkeit in die Tragweite des Bösen, dem sie aufhalfen, trotz allen Wissen-Könnens begrenzt geblieben sein könnte. Zugleich wirkt die Begegnung mit Folterern, die die Perfidie des Systems, dem sie 13 dienen, offensichtlich durchschauen, auf die Opfer besonders demoralisierend. Gleichfalls können sich auf Umstände, die die individuelle Tatverantwortlichkeit im Einzelfall mindern können, diejenigen nicht berufen, die über die gewissermaßen systemisch verordnete Grausamkeit noch hinausgingen und sie nach eigenem Gutdünken zum Exzess trieben. Immer wieder, von überall her, wird dies als eine der furchtbarsten Realitäten innerhalb des Herrschaftsapparats repressiver Systeme berichtet. Und gerade hier gilt, dass strafrechtliche Mittel nur höchst unzurei14 chend ahnden können, was den Opfern angetan wurde. 12 Vgl. Sauerland, Karol, Dreißig Silberlinge. Denunziation: Gegenwart und Geschichte, Berlin 2000, 112 f. 13 Vgl. Ladurner, Ulrich, Der unbesiegte Sieger. Was bleibt von Chiles Diktator Augusto Pinochet? Eine Spurensuche, in: Die Zeit 36 (31. 8. 2000), 3 mit folgender Auskunft über die Verhältnisse unter dem Pinochet-Regime in Chile: „Aber was war, wenn man begriff, dass der Terror von differenzierten Köpfen geplant worden war? Ein Inhaftierter berichtet, dass für ihn alles einstürzte, als er von einem offensichtlich gebildeten Menschen verhört wurde. Erst das hat ihm das Weltvertrauen genommen.“ 14 Wie wenig demgegenüber, auch angesichts einer tatsächlich eintretenden Möglichkeit, sich zu rächen, vielen Opfern die Ausübung von vergeltendem Handeln selbst an den schlimmsten der Täter als eine angemessene, sinnvolle Reaktion auf das ihnen Widerfahrene erscheint, bezeugte die Malerin Lenke Rothman, eine ungarische Jüdin aus kinderreicher Familie, die nur zusammen mit einem ihrer Brüder das Lager überlebt hatte. „Sie fragte: ‚Wenn Gefangene am Tag der Befreiung der Aufforderung der Alliierten folgten, SS-Leute zu nennen, die Sadisten waren oder ihre Familie umgebracht hatten, und die Befreier dann diese Täter abführten, kann man die Opfer
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Nach dem Ende von Phasen der Repression wirkt die Last der Vergangenheit 15 fort. Täter und Opfer können in der Regel nicht miteinander reden. Die meisten, die auf der Seite der Täter standen, verweigern sich auf die eine oder andere Weise dem Versuch etlicher Opfer, Schritte aufeinander zu zu ermöglichen – selbst dort, wo das viel weiter gesteckte Ziel der Aussöhnung (noch) gar nicht angestrebt wird, sondern es „nur“ um die Schaffung von Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz in Gegenwart und Zukunft geht. Ein komplexes Bündel an Gründen mag hierfür ausschlaggebend sein: Furcht vor den sozialen Konsequenzen, wenn man sich wirklich öffnet und preisgibt, für welches Tun man (mit)verantwortlich ist; das Verleugnen dieser Verantwortung vor sich selbst; die hartnäckig verteidigte Überzeugung, trotz allem „auf der richtigen Seite“ gestanden zu haben. Nicht selten begegnet die Deutung der eigenen Situation als tragisches Verhängnis, in welchem die Täter insgesamt als Opfer des Systems erscheinen. Gespräche scheitern u. a. dort, wo der moralische Kontext, in dem sie stehen müssten, durch strategische Kalküle überlagert und dadurch entwertet ist. Wenn solche Kalküle wirksam sind, kann Gesprächsbereitschaft, die von den Opfern signalisiert wird, geradezu als Ausdruck von Schwäche interpretiert werden, die man besser nicht offenbaren sollte. Der Versuch der Reintegration Belasteter, dem solche Gespräche dienen könnten, darf nicht darauf hinauslaufen, dass ehemalige Täter die Gesprächsbereitschaft ihrer Opfer zur stillschweigenden Wiederherstellung der alten Hierarchien und Machtverhältnisse missbrauchen und es unmöglich wird, schweres Unrecht öffentlich als strafwürdig festzuhalten. deshalb mit den Mördern gleichstellen?’ Und sie fügt hinzu, dass sie selbst an diesem Tag kaum mehr genug Kraft hatte, um zu atmen. ‚In meiner Kraftlosigkeit nahm ich die kleine Schale einer Kohlrübe vom Boden auf und wollte sie auf einen der SS-Leute werfen, aber die Schale fiel wieder vor meine Füße, dorthin, von wo ich sie aufgenommen hatte. In meiner Kraftlosigkeit weinte ich lautlos, und mit meiner sechzehnjährigen Klugheit sagte ich mir: Was hat das für einen Sinn, wo doch alle jetzt tot sind? Und es gab viele wie mich, die weder die Kraft noch überhaupt den Wunsch hatten, aggressiv zu werden – und die noch weniger ebenso destruktiv sein wollten wie die Wachen im Lager’“ (Leiser, Erwin, Leben nach dem Überleben, Weinheim 21995, 129). Ähnliches berichtet die ehemalige KZ-Inhaftierte Stanislawa Rachwalowa über die Begegnung mit den brutalen Aufseherinnen von einst in einem polnischen Gefängnis nach dem Krieg, in dem diese Frauen nun selbst Häftlinge waren und Gelegenheit bestand, sich an ihnen zu rächen: „Ich habe nicht auf sie eingeschlagen. Mir wurde bewusst, dass sie Häftlinge waren, dass es eine üble Vergeltung wäre, einen Häftling zu schlagen. Ich wurde von normalem, menschlichem Schamgefühl erfasst, ging in meine Zelle, warf mich auf meinen Strohsack und fing bitterlich an zu weinen. Das war es nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Ich erkannte, dass in der menschlichen Seele eine Bestie schlummert, die nur auf eine passende Gelegenheit lauert. Zugleich wurde mir bewusst, dass ich diese Bestie nicht loslassen durfte, dass ich anderen Gesetzen verpflichtet war“ (Maximilian-Kolbe-Werk (Hrsg.), Fragt uns, wir sind die letzten…, Zeugnisse von Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager und Gettos, Freiburg i.Br. 1998, 44 f.). 15 Vgl. z.B. Peikert, Norbert, Die Täter-Opfer-Problematik aus psychologischer Perspektive, in: Grande, Dieter (Hrsg.), Der deutsch-deutsche Umgang mit der SED-Vergangenheit. Perspektiven kirchlichen Handelns. Dokumentation eines Workshops in der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstrasse in Berlin, Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Dokumentation 42, Bonn 2001, 49–55.
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Dies zeigt, dass es hier zu Zielkonflikten kommen kann. Das Bemühen um eine Reintegration der Belasteten muss mit der Aufgabe, einen wirksamen Systemwechsel auf der politischen Ebene herbeizuführen, vereinbar bleiben. Wirkliche Reintegration wird erst dort möglich, wo Menschen sich bereit finden, über ihre faktische Rolle im alten System selbstkritisch zu reflektieren. Gerade der Umgang mit Menschen, die verstrickt wurden, bedarf dabei sorgfältiger Differenzierung. So ist es verhängnisvoll, wenn sich die Bereitschaft ehemaliger Informanten, sich zu offenbaren und die eigene Verantwortlichkeit anzunehmen, nicht nur nicht zu ihren Gunsten auswirkt, sondern ihnen nochmals gravierend schadet. Wenn sich im Ergebnis die Beweislast gegen sie wendet, hingegen diejenigen, die ihre Verstrickungen geschickt verbergen und ableugnen, dafür noch mit dem Erfolg dieser Strategie belohnt werden, hat dies nicht nur schwerwiegende Folgen für das gelebte gesellschaftliche Ethos. Es untergräbt darüber hinaus die Voraussetzungen dafür, dass Rechtsstaatlichkeit als – trotz aller Unzulänglichkeiten – gerade im Interesse von mehr Gerechtigkeit unverzichtbares Verfassungsprinzip bejaht wird.
3.
Hilfe für die Opfer
Das Bemühen um eine Reintegration ehemaliger Täter darf allerdings nicht gegen die Forderung nach Gerechtigkeit für die Opfer ausgespielt werden. Als ungerecht empfinden diese in der Regel nicht bereits das Bemühen um einen differenzierenden Umgang mit Belasteten. Sie beklagen vielmehr die Verlagerung der öffentlichen Diskurse auf fast ausschließlich dieses Problem, ohne dass zugleich gefragt würde, auf welche Weise man dem beschädigten Leben der Opfer wenigstens ein Stück Gerechtigkeit zuteil werden lassen könnte. Am Beispiel politischer Verfolgung in der ehemaligen DDR sei etwas näher erläutert, welche Auswirkungen die von ihnen erlittenen Verletzungen selbst dort haben können, wo die staatlichen Repressionsorgane auf den Einsatz brutaler physischer Gewalt verzichten. Tatsächlich war diese Form des Terrors gegen Andersdenkende zumindest in den siebziger und achtziger Jahren keineswegs das 16 Mittel der Wahl. Zunehmend konzentrierte sich vielmehr die Staatssicherheit auf eine andere Vorgehensweise, um politische Gegner zu isolieren und auf Dauer in der Bedeutungslosigkeit verschwinden zu lassen: Sie machte sich das Wissen moderner Psychologie um die kognitive, vor allem aber die affektive Beeinflussbarkeit
16 Dies bedeutet nicht, dass solcher Terror nirgendwo stattgefunden hätte, im Gegenteil – „herkömmliche“ Methoden dieser Art fanden in den Gefängnissen der Staatssicherheit, aber auch in „gewöhnlichen“ Haftanstalten der DDR noch immer erschreckend häufig Anwendung. Vgl. z.B. Fritzsch, Günter, Gesicht zur Wand, Frankfurt/M 1976; Müller, Klaus-Dieter, und Stephan, Annegret (Hrsg.), „Die Vergangenheit lässt uns nicht los“ – Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen, Magdeburg 1998.
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von Menschen zunutze, um die Persönlichkeit ihrer Gegner systematisch zu „zer17 setzen“. Im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war der Ausdruck „Operative Psychologie“ zur Bezeichnung dieser Vorgehensweise fest etabliert. Das Ziel bestand darin, die Betroffenen einerseits in ihrem beruflichen und weiteren sozialen Umfeld zu diskreditieren, indem bewusst falsche Informationen über sie verbreitet oder verschieden interpretierbare Informationen gezielt in einer negativen, rufschädigenden Weise kolportiert wurden. Berufliche Misserfolge wurden, ohne dass der Betroffene darum wusste, nach einem vorgefertigten Plan von außen herbeigeführt, um ihn in seinem Selbstwertgefühl zu erschüttern und den Boden für die Wirksamkeit weiterer Versuche des „Griffs nach seiner Seele“ zu bereiten. Parallel hierzu bemühten sich häufig Personen, die zum MfS im Verhältnis eines Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) standen, zum Opfer der Zersetzungsstrategie ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Hierbei ging es nicht nur darum, an weitere Informationen heranzukommen, die sich gegen den Betreffenden verwenden ließen. Es sollten vor allem die Wirkung der zersetzenden Methoden auf das Opfer überprüft und daraus Hinweise für eine Steigerung der Effizienz dieser Strategie 18 gewonnen werden. Die Ausnutzung von Vertrauensverhältnissen einschließlich der Instrumentalisierung von engsten Angehörigen der Opfer, ihrer Familien und 19 ihres Freundeskreises kannte dabei keine anderen Grenzen als jene, die vom Erfolgsinteresse des MfS her von Fall zu Fall gesetzt waren; selbst Situationen des Hilfesuchens und der Therapie, in die sich manche der Opfer während ihrer „operativen Bearbeitung“ begaben, wurden zu ihrer weiteren Zersetzung missbraucht. In der Untersuchungshaft der Staatssicherheit ließen sich diese Strategien ins Extrem steigern, die existenziellen Risiken für die Personen, auf die sie zielten, wurden in Kauf genommen. Zusätzlich gezielt als Seelenqual eingesetzt wurde die Trennung und Zwangsadoption der Kinder von Inhaftierten, wodurch diese Kin-
17 Vgl. zum Folgenden vor allem die Beiträge in: Behnke, Klaus, und Fuchs, Jürgen (Hrsg.), Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi, Hamburg 1995, sowie: Pross, Christian, „Wir sind unsere eigenen Gespenster“. Gesundheitliche Folgen politischer Repression in der DDR, in: Behnke, Klaus, und Fuchs, Jürgen (Hrsg.), Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi, Hamburg 1995. Einen erschütternden Bericht hat Ellen Brockhoff über ihr Leben in der DDR gegeben, in der sie als Kind eines in den Westen geflüchteten Stasi-Mitarbeiters stets nur die „Tochters des Verräters“ war, vgl. Hennings, Alexa, Leben nach der Akte. Frau B. liest ihre Stasi-Unterlagen (Manuskript zur Sendung in NDR 4 am 7. 12. 1997). 18 Vgl. Fuchs, Jürgen, Bearbeiten, dirigieren, zuspitzen. Die „leisen“ Methoden des MfS, in: Behnke, Klaus, und Fuchs, Jürgen (Hrsg.), Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi, Hamburg 1995, 54 f. 19 Sogar Minderjährige wurden zur Bespitzelung von Freunden und Mitschülern angeworben, ja selbst als Waffe gegen die eigenen Eltern benutzt; vgl. zu den hierzu angewandten Methoden und ihren psychosozialen Folgen für die Missbrauchten die Beiträge in: Behnke, Klaus, und Wolf, Jürgen (Hrsg.), Stasi auf dem Schulhof. Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1998.
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der in einer Weise desorientiert wurden, dass sie teilweise noch als Erwachsene 20 schwerste psychische Störungen aufweisen. Jürgen Fuchs hat die Folgen der psychosozialen Zersetzung eindrücklich beschrieben: „Matthias Domaschk starb in der MfS-Untersuchungshaft im April 1981, andere Suizide und bisher ungeklärte ‚Fälle’ kommen hinzu. Wer wurde depressiv, wer begann zu trinken, welche Ehe zerbrach, welches Kind begann zu stottern, wer stellte den Ausreiseantrag, rannte an Grenze oder Minenfeld gar, wer verzweifelte am Freund, an den Eltern, den Kollegen? Wessen Vertrauen wurde enttäuscht durch IMs ‚mit Feindberührung’? Wer traute sich nach der zehnten Ablehnung nichts mehr zu, ließ die Bildungsabsicht sausen, legte das Manuskript weg?“21
Besonders perfide an Zersetzungsstrategien war ihr Mangel an Greifbarkeit. Oft bis zum Zeitpunkt der Einsichtnahme in ihre Stasi-Akte nach 1989 konnten die Opfer nicht nachweisen, in welcher Form gegen sie konspiriert wurde. Auch darin lag System; es ging darum, die Zersetzung „unbeweisbar zu machen und als Phan22 tasieprodukt von ‚Spinnern’ erscheinen zu lassen“. Nach der „Wende“ gelang es den Wenigsten, beruflich und sozial wirklich rehabilitiert zu werden; vielmehr verfestigt sich der Eindruck, als ob viele von ihnen auch unter neuen Systemvoraussetzungen dazu verurteilt seien, im Vergleich zur übrigen Gesellschaft benachteiligt zu bleiben, wenn nicht in die Isolation zu geraten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Vorenthaltene Bildungschancen führen z.B. dazu, dass ein unangemessener sozialer Status rückwirkend nur schwer korrigiert werden kann. Bei vielen Belasteten ist es dagegen umgekehrt: Ihnen gelingt es über Zeit häufig, ihre unter den alten Verhältnissen privilegierte Situiertheit in der Gegenwart wiederherzustellen bzw. zu behaupten. Bis in Fragen der Altersversorgung hinein wirken sich solche Asymmetrien aus, die klar als Folgen politisch zu verantwortenden Systemunrechts bewertet werden müssen. Noch weit gravierender sind Ungerechtigkeiten, die sich daraus ergeben, dass Menschen aufgrund der von der Staatssicherheit angewendeten, teilweise subtilen, aber um so perfideren Methoden politischer Verfolgung häufig nicht unmittelbar nachweisbare körperliche, dafür aber schwerste psychische Langzeitschädigungen erlitten haben. Es fällt oft schwer, deren Ursachen exakt nachzuweisen, z.B. als Folgen von Inhaftierung. Da die Betroffenen aber im Blick auf etwaige Entschädigungen die Beweislast haben, kann ein Verfahren, das auf den (u.U. wiederholten) Nachweis solcher Schäden gerichtet ist, von ihnen als erneute Demütigung empfunden werden – zusätzlich zu der Ungewissheit, die mit seinem Ausgang verbunden ist. In scharfem Kontrast hierzu steht die Tatsache, dass viele Einzelhandlungen, die im Rah20 Vgl. Pross, Christian, „Wir sind unsere eigenen Gespenster“. Gesundheitliche Folgen politischer Repression in der DDR, in: Behnke, Klaus, und Fuchs, Jürgen (Hrsg.), Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi, Hamburg 1995, 306. 21 Fuchs, Jürgen, 57 f. 22 Ebd., 79 f.
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men systematischer politischer Verfolgung gegen deren Opfer durchgeführt wurden und zu diesen Schädigungen führten, oft kaum oder gar nicht justiziabel sind. Jedoch rückt auch dieses Entschädigungsproblem, so viel es für die Lebensverhältnisse einer großen Zahl von Opfern zweifellos bedeutet, an die zweite Stelle, sobald man danach fragt, ob den Betroffenen überhaupt angemessene Hilfsangebote offen stehen. Ihnen droht nämlich dort Isolation, wo sie erfahren müssen, dass ihre soziale Umwelt ihrem Schicksal und dessen fortwirkenden Folgen gegenüber Unverständnis, Desinteresse und Fremdheit signalisiert. In der Psyche von Menschen, die traumatisierende Situationen durchleben mussten, kommt es zu Prozessen, die eine oft grundlegend veränderte Weltwahrnehmung und eine neue Verhältnisbestimmung zu anderen Menschen zur Folge haben. Denn wer zum Opfer extremer physischer oder psychischer Gewalt wurde, hat denjenigen, von dem ihm dies widerfuhr, nicht als Mit-, sondern als Gegen-Mensch erlebt. Das herkömmliche Grundvertrauen in die Normalität lebensweltlicher Abläufe überlebt solche Erfahrungen in der Regel nicht, und es lässt sich auch nicht bereits dadurch wiederherstellen, dass ein politischer Systemwechsel stattfindet und materielle Entschädigungen geleistet werden. Die Folgen der erlittenen Traumatisierungen bestehen in einer dauerhaften inneren Konfrontation mit kaum erträglichen Erinnerungen und in der Zerstörung vielfältiger Lebensmöglichkeiten durch die erlittenen Formen der Gewalt. Nicht selten kommt es zum Rückzug aus sozialen Beziehungen und Bindungen aller Art, zu einer Gefühlsarmut, die weder Ärger noch Freude noch Trauer mehr spüren lässt, zur Empfindung einer Heimatlosigkeit in der Welt, die sich allenfalls noch im Gespräch mit Menschen, die ein 23 ähnliches Schicksal erlitten, für einige Zeit durchbrechen lässt. Schwer wiegt, dass das geschehene Unheil über den Tod der unmittelbar zum Opfer Gewordenen hinaus weiterwirken kann. In unterschiedlicher Ausprägung lassen sich bei den Nachkommen von einstmals Verfolgten Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen feststellen, die das Schicksal ihrer Eltern reflektieren, vor allem ein fundamentales Misstrauen gegenüber der Außenwelt. So verursachen schwere Menschenrechtsverletzungen zwischen der Welt der Opfer und der Welt derer, denen diese Erfahrung fehlt und fremd bleibt, eine tiefe Zäsur. Sie kann nicht einfach durch noch so wohlmeinende voluntative Akte überwunden werden, setzt insbesondere allem Bemühen um Versöhnung eine entscheidende Grenze. Die Opfer einerseits, die Täter und mit ihnen die große Zahl derer, die weder in die eine noch in die andere Rolle gerieten, andererseits sind gewissermaßen dazu verurteilt, in getrennten Welten zu leben. Eine elementare Forderung der Gerechtigkeit und zugleich ein entscheidender Schritt auf die Überwindung dieser Trennung hin dürfte es deswegen sein, dass eine Gesellschaft, die sich aus guten Gründen die Frage nach einem angemessenen
23 Vgl. Pross, Christian, 306, sowie Hanke, Irma, Über das Schweigen reden. Diktaturerfahrung und Literatur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 (20. 3. 1998), 12.
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Umgang mit Belasteten nicht leicht macht, zugleich ebenso entschieden danach strebt, den Opfern von Unrecht und Gewalt praktische Hilfe anzubieten. Es müsste darum gehen, möglichst vielen von ihnen Wege zu erschließen, auf denen sie das Gefängnis leidvoller Erinnerung an ihre oft traumatischen Erfahrungen ein Stück weit aufsprengen können. Nicht nur den Städten und Kommunen, sondern auch den zivilgesellschaftlichen Trägern der Sozialarbeit ist es dringlich ans Herz zu legen, den Umfang solcher Hilfsangebote zu erweitern. In ihnen müssten sich „geschützte Räume“ eröffnen, die den Betroffenen zunächst dazu verhelfen, ihre inneren Schutzmauern, die notwendig waren, um die Bitterkeit über erlittenes Leid ertragen zu können, allmählich und behutsam abzubauen. Oft werden dadurch ein Zulassen der eigenen, lange verdrängten Trauer, Prozesse der Auseinandersetzung mit ihr, das Finden einer Sprache, in der es wenigstens annährend gelingt, das Erlittene zum Ausdruck zu bringen, und das Annehmen-Können von Zuwendung und Trost überhaupt erst ermöglicht. Hierbei geht es nicht um die illusionäre Absicht, die seelischen Wunden umfassend zu heilen; das Ziel ist überaus bescheiden. Die Betroffenen sollen einmal sagen können: „Ja, ich war ein Opfer, aber letztlich haben mich die Verfolger nicht besiegt. Es ist Vergangenheit, ich 24 habe noch ein Leben danach“.
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Aussöhnung – mehr als ein Wort?
Kann nach dem bisher Festgestellten von möglicher Aussöhnung zwischen Tätern und Opfern überhaupt sinnvoll gesprochen werden? Menschliche Sprache erlaubt immer nur Annäherungen an das Abgründige dessen, was mit Wörtern wie „Schuld“, „Reue“, „Vergebung“ und „Aussöhnung“ gemeint ist. Ganz Ähnliches gilt für das, was von den Opfern erfahren wurde; Simon Wiesenthal sagt: „Man kann in die Nähe kommen, aber man kann niemals ein Lei25 den schildern, wie es ist.“ Manchmal gelingt es nur noch, das Geschehene mit den 24 Gurris, Norbert F., Interview, veröffentlicht im 4. Tätigkeitsbericht der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1998, 113. 25 In: Die Kunst des Erinnerns. Simon Wiesenthal – Portrait zum 90. Geburtstag, ausgestrahlt in 3sat am 30./31. 12. 1998. Wiesenthal fuhr, um das Gemeinte zu verdeutlichen, fort: „Wie oft denke ich an meine Mutter, werde nie vergessen: Wir – meine Frau und ich – sind noch im Ghetto und sind nach Hause gekommen, und meine Mutter hat uns etwas zum Essen vorbereitet. Und auf einmal habe ich sie in der Luft aufgefangen – sie war dem Zusammenbruch nahe. Und dann hat sie uns erzählt: Sie hat drei Tage nichts gegessen, sie hat es alles für uns, da wir arbeiten gingen, aufbewahrt und uns gegeben. Und diese Szene, wie ich meine Mutter aufgefangen habe, die habe ich – ich weiß nicht, wie viele Male – im Traum gesehen. Und immer, wenn ich an meine Mutter denke, ist das das wirklich letzte Gefühl, das ich von ihr habe. Schauen Sie, wenn eine Mutter ‚normal’ stirbt, dann kann man zum Friedhof gehen, da ist ein Grabstein, und man stellt sich hin und man denkt nach oder legt Blumen auf das Grab. Meine Mutter wurde vergast – und ich trage mit mir den Grabstein meiner Mutter herum.“
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Mitteln der Kunst zur Darstellung zu bringen – in der Hoffnung, dass sich das, was sich nicht mehr diskursiv vermitteln lässt, den Adressaten auf jene andere Weise erschließt. Auch vermag niemand stellvertretend für andere Vergebung auszusprechen, so wenig, wie er stellvertretend für andere bereuen kann. Und es ist damit zu rechnen, dass bestimmte Handlungen zumindest von Menschen nicht vergeben werden können, weil Vergebung darauf gerichtet ist, dass sich die Zerstörung sozialer Beziehungen und Lebenswelten rückgängig machen lässt. Die Erfahrung zeigt aber, dass es Formen solcher Zerstörungen gibt, die alle Anstrengungen zur Bewältigung dessen, was erlitten wurde, an der Endgültigkeit des Geschehenen scheitern lassen. Wie soll jemand, dessen nächster Angehöriger grausam gequält und ermordet wurde, denen vergeben, die dem Opfer dies antaten? Daran wird deutlich: Versöhnung und Vergebung sind dort, wo sie existenziellen Ernst gewinnen, gerade nicht einklagbar wie moralische Pflichten. Denn sie hängen von Voraussetzungen ab, die durch Willensakte allein nicht herstellbar 26 sind. In Ruanda ist die Rede von einer zweiten Art, getötet zu werden: Durch die Einpflanzung des Hasses in die Seelen der Menschen angesichts der Gräuel des Genozids von 1994 – auf der Seite der Überlebenden wie auf der der Mörder. Der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel, selbst Überlebender von Auschwitz, hat das daraus resultierende Problem auf eine einfache Formel gebracht: „Hass zerbricht 27 den Gehassten, aber ebenso zerbricht er den Hassenden“ . Das Wichtigste könnte sein, dazu beizutragen, dass die Atmosphäre des Hasses verlassen werden kann – danach zu suchen, wie man auch den Opfern tragischer Verstrickungen dabei helfen kann, dass sie mit den Beschädigungen weiterleben können, die die unversöhnte Situation in ihnen angerichtet hat. Solches Bemühen müsste für alle, die für den Umgang mit belasteter Vergangenheit eine Mitverantwortung empfinden, an erster Stelle stehen. Gewiss ist zu hoffen, dass sich darüber hinaus in möglichst vielen Fällen Wege eröffnen, zu Vergebung und Aussöhnung zu gelangen. Doch nur weniges scheint hier im Sinn planbarer Schritte möglich zu sein. Die (wechselseitige) Kraft dazu, nicht aufzugeben, ist in diesem Prozess oft wichtiger als fast alles Übrige. Jeder Versuch, Aussöhnung vorzeitig zu erzwingen, läuft deswegen Gefahr, sie zu stören oder ganz zu vereiteln. Denn sie ist im Kern keine Sache großer Worte und feierlicher Proklamationen, sie verlangt vor allem nach Einfühlsamkeit, Geduld, Behutsamkeit, Glaubwürdigkeit. Vor der Möglichkeit, zu vergeben und sich zu versöhnen, steht die Notwendigkeit der Trauerarbeit, für Opfer und Täter. Versöhnung kann nur dort gelingen, wo sie in einem moralischen Kontext gesucht wird, der nicht überlagert ist vom gewissermaßen strategischen Interesse, dadurch die eigene Position aufzuwerten. Versöhnung setzt voraus, dass zuvor Unrecht als solches feststellbar und bereut
26 Zu Südafrika vgl. Ruge, Clarissa, (Anm. 6), 225. 27 Wiesel, Elie, Ethik aus Erinnerung, in: Schuster, Ekkehart, und Boschert-Kimmig, Reinhold, Trotzdem hoffen. Mit Johann Baptist Metz und Elie Wiesel im Gespräch, Mainz 1993, 84.
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wurde; sie hat nur dort eine Chance auf Dauerhaftigkeit, wo nicht schon der Keim neuen Unrechts mitgesät wird. Es bedarf längerer Zeit, damit Trauer in die Fähigkeit verwandelt werden kann, zu vergeben; noch mehr gilt dies für die Bereitschaft, sich auf Schritte zur Aussöhnung einzulassen. Denn dazu ist es notwendig, dass sich Täter und Opfer gemeinsam erinnern und zusammen den Gründen dafür nachgehen, dass eine versöhnungsbedürftige Situation zwischen ihnen steht. Der Frage nach der Wahrheit entrinnt man nicht; ein Opfer politischer Verfolgung fasste sie in die eindringli28 chen Worte: „Ich kann nur vergeben, was ich weiß.“ Doch auch Täter bedürfen der Konfrontation mit der Wahrheit, um ideologische Verblendungen durchbrechen zu können, die ihnen das Verwerfliche ihres einstigen Tuns verbergen. Ihre Reintegration dürfte wesentlich davon abhängen, wie weit sie ihre eigene ehemalige Rolle zu betrauern imstande sind. Dies ist nicht im Sinn von Selbstmitleid gemeint, sondern es zielt auf die Frage, ob bereits die Kategorie der persönlichen Schuld sich nicht erst in dem Augenblick wirklich erschließt, in dem es zugleich möglich wird, sich ihr anders zu stellen als im Modus der Verharmlosung und Verdrängung. Für ehemalige Täter kann so die Fähigkeit, Geschehenes zu betrauern, eine befreiende Erfahrung werden. Zeichen von Vergebungsbereitschaft seitens des Opfers können dabei von großer Bedeutung sein. Oft liegt hier ein Dilemma, solange sich die Opfer aus leicht nachvollziehbaren Gründen dazu nicht imstande sehen. Ein Beispiel hierfür gab unlängst Esther Mujawayo, eine Überlebende des Genozids in Ruanda, die im November 2005 in ihr Heimatland fuhr, um an einem sogenannten Gacaca-Verfahren teilzunehmen. In diesen Verfahren urteilen Dorfgerichte über Personen, die der Mittäterschaft im Völkermord von 1994 angeklagt sind, jedoch nicht zu dessen Organisatoren zählen. In ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Auf der Suche nach Stéphanie“ beschreibt Mujawayo eindringlich, wie die Hinterbliebenen der ermordeten Opfer die Situation in einem Gacaca-Verfahren empfinden, und stellt schließlich resignierend fest: „Es ist zu viel: Von Überlebenden zu verlangen, Völkermördern ins Gesicht zu sehen, sie zu bitten, uns Klarheit über unsere Toten zu 29 verschaffen […] und sie dann zum Frieden zu bewegen suchen, das ist zu viel.“ Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen erweist sich die oft gestellte Frage: „Wer muss bereit sein zum ersten Schritt?“ als eher verfehlt; sie müsste vielmehr lauten: „Wer ist dazu imstande, und wie kann man ihm dazu helfen?“ Und wie steht es um den zweiten Schritt, nachdem der erste voller Kraftanstrengung ge28 Aus einem persönlichen Gespräch mit dem Verfasser. In ähnlicher Weise formulierte Polens Ministerpräsident Jan Olszewski im Dezember 1991: „Wenn wir vergeben sollen, so wollen wir wissen, welche Schuld und wem wir vergeben“ (zit. nach: Grabowski, Sabine, Vom „dicken Strich“ zur „Durchleuchtung“. Ansätze der Vergangenheitsbewältigung in Polen, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 10 (1998), 1017). 29 Zit. nach Reusch, Wera, „Wir haben keine andere Wahl“. Esther Mujawayo schildert in: „Auf der Suche nach Stéphanie“, wie Überlebende des Völkermords in Ruanda um Aufklärung und Anerkennung ringen, in: ai-journal 09 (2007), 41.
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gangen wurde? Alle Vergebungsbereitschaft der Opfer läuft ins Leere, wo Täter die Vergebung nicht annehmen. Auch für Prozesse der Aussöhnung bedarf es deswegen „geschützter Räume“, in denen das Risiko tragbar wird, sich darauf einzulassen – für Täter und Opfer. Einer der schwersten Wege zur Versöhnung ist es, Opfer zu gemeinsamem Trauern zu bewegen, die auf unterschiedlichen Seiten standen, als Gewalt in ihr Leben einbrach und Hoffnungen und Lebensmöglichkeiten zerstörte. Deswegen steht insbesondere dieser Versuch, zu einer Aussöhnung zu gelangen, in der Gefahr einer Grenzüberschreitung; gerade hier darf man nichts erzwingen wollen und kann es vermutlich auch gar nicht. Die Legitimation, über einen solchen Weg nachzudenken, ergibt sich vielmehr nur von authentischen Berichten her, dass Begegnungen im Zeichen solcher gemeinsamer Trauerarbeit tatsächlich möglich sind – trotz ihres überaus schmerzvollen Charakters. Wenn aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Vertriebene mit denen wirklich reden können, die heute – selbst aus ihrer ostpolnischen Heimat vertrieben – in den Häusern ihrer Kindheit wohnen, und wenn das beiderseits empfundene Leid endlich doch zur Sprache kommen kann, so verschwindet zumeist jeder etwa verborgene Wunsch, die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen zu lassen, und obsiegt die gemeinsame Sorge, dass den Kindern dasselbe Los erspart bleiben möge. Es dürfte kaum möglich sein, die Bedeutung dieser Erfahrungen für Frieden und Versöhnung zu überschätzen.
5.
Aufgaben für Gesellschaft und Politik
Bleibende Herausforderungen für Gesellschaft und Politik beziehen sich auf ihren Beitrag zur Wiederherstellung der Würde der Opfer, ebenso wie auf die Aufgabe, den Entstehungsbedingungen dafür entgegenzuwirken, dass sich vergleichbare Strukturen systemisch bedingten Unrechts erneut etablieren lassen. Bemühungen um einen angemessenen Umgang mit Leid- und Schulderfahrungen in der Vergangenheit sind nicht nur vom Gedanken möglicher Aussöhnung her legitim, sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt der Prävention, damit sich das in der Vergangenheit Geschehene nicht auf ähnliche Weise wiederholt. Die Erfolgsaussichten solcher Bemühungen hängen aufs Engste damit zusammen, wie weit es gelingt, früher zu Unrecht Verurteilte oder Benachteiligte im Raum der Öffentlichkeit zu rehabilitieren und wenigstens teilweise zu entschädigen. Solche Akte sind zwar zunächst im Hinblick auf die individuelle Lebenssituation der Betroffenen von großer Bedeutung, nicht minder sind sie es jedoch wegen ihrer symbolischen Funktion für die öffentliche Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht, d.h. in politischer und kultureller Hinsicht. Wie bei den Schwierigkeiten strafrechtlicher Sanktionierung von Systemunrecht, so droht freilich auch hier die Gefahr, dass die Entschädigungsleistungen angesichts dessen, worauf sie sich beziehen, unverhältnismäßig gering ausfallen. Daher drohen sie auf Seiten der
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Opfer zu Enttäuschung zu führen, in der Wahrnehmung der Täter und der übrigen Gesellschaft jedoch womöglich auf eine Banalisierung des geschehenen Unrechts hinauszulaufen. Gerade deswegen kommt der Art und Weise, wie mit jüngster Geschichte verfahren wird, ausschlaggebende Bedeutung zu: Ob es darum geht, die historische Wahrheit, in all ihrer Differenziertheit, allmählich freizulegen, oder aber ob der Umgang mit historischen Fakten in den Dienst einer „Vergangenheitspolitik“ gestellt wird, in der er zur Waffe in Machtkämpfen der Gegenwart degeneriert. Aufklärung über historische Wahrheit, so weit sie sich mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft, aber auch im Zuge der Tatsachenfeststellung in gerichtlichen Verfahren oder durch die Arbeit von Wahrheitskommissionen herbeiführen lässt, soll vor allem der Legendenbildung entgegenwirken. Individuelles wie gesellschaftlich-politisches Ringen um die Erinnerung stehen in der Gefahr, die Deutung jüngster Geschichte an unausgewiesenen, vorgängigen Optionen zu orientieren. Auf diese Weise kommen bestimmte, keineswegs nebensächliche Facetten dieser Geschichte unter Umständen gar nicht in den Blick oder werden jedenfalls unzutreffend gewichtet. Schon die Frage, welche Ereignisse, Umstände und Sachverhalte im Interesse einer authentischen Erinnerung für relevant zu halten sind, wird auch im Licht solcher Vorentscheidungen mitbeantwortet. Deswegen ist es überaus prekär, den Prozess einer sorgfältigen Aufklärung über die historische Wahrheit zeitlich hinauszuschieben: Nur die möglichst verzugslose Erforschung des Geschehenen und die sofortige Sicherstellung entsprechender Dokumente kann davor bewahren, dass sich von interessierter Seite mit einer selektiven Verwendung geschichtlicher Fakten Politik machen lässt. Zwar bedeutet die Suche nach der historischen Wahrheit eine kulturelle und politische Herausforderung, die Gesellschaften an die Grenze ihrer Integrationsfähigkeit führen kann. Sie hält aber andererseits den Schlüssel dafür bereit, dass Modelle einer besseren gemein30 samen Zukunft überhaupt entworfen werden können. Doch nicht nur die Erhellung tatsächlicher Abläufe und der Rolle konkreter Akteure in ihnen ist vonnöten. Eine Aufklärung über die historische Wahrheit, die diese lediglich rekonstruiert, sich aber im Interesse wissenschaftlicher Objektivität sowohl jegliche Wertung wie jeden Vergleich von vornherein verbietet, kann ungewollt zu einer fatalen „Historisierung“ des Geschehenen beitragen. Trotz aller 30 Ein herausragendes Beispiel dafür, dass Wahrheitskommissionen zu Ergebnissen führen können, die gerade hinsichtlich der Bestimmung politischer und gesellschaftlicher Zukunftsaufgaben richtungweisend wirken, bietet der Abschlußbericht des von der katholischen Kirche in Guatemala initiierten und durchgeführten Projekts zur „Wiedergewinnung der historischen Wahrheit“ (Recuperación de la Memoria Histórica, REMHI). Eine Zusammenfassung ist in deutscher Übersetzung veröffentlicht (vgl. Misereor (Hrsg.), Guatemala: Nie wieder – Nunca más, Aachen 1998). Vgl. auch Santamaría, Cirilo, REMHI. Wiedergewinnung der historischen Erinnerung – Wegbeschreibung und Perspektiven, in: Grande, Dieter (Hrsg.), Ohne Erinnerung keine Versöhnung. Ansätze und Überlegungen zu einer Charta Memoriae, Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Dokumentation 41, Bonn 1999, 23–41.
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Aufmerksamkeit für das Partikulare ist es doch unumgänglich, das Gemeinsame verschiedener Erscheinungsweisen systemisch bedingten Unrechts festzuhalten; jene Strukturen und Mechanismen aufzudecken, die immer neu zur Verstrickung in Schuld und zu extremen Erfahrungen von Leid und Unrecht führen. Über die Arbeit an der Vergewisserung über Fakten und ihre sachgemäße Interpretation hinaus geht es deswegen darum, eine Gemeinschaft authentischen Erinnerns zu begründen. Zur Sorge um die Opfer gehört es auch, sie und das von ihnen Erlittene in den öffentlichen Diskurs über eine sachgemäße Erinnerung an die Zeit des Gewaltregimes und über dessen politisch-moralische Beurteilung hineinzuholen – kontinuierlich, nicht lediglich für kurze Zeit, etwa im Rahmen einer Wahrheitskommission. Es wäre eine Fortsetzung der Unrechtserfahrung, könnten die für solches Unrecht Verantwortlichen auch nach dem Ende des Regimes die historische „Deutungshoheit“ über dieses System behaupten. Vielmehr muss das von den Opfern leidvoll Erfahrene dem Vergessen entrissen und im Interesse an einer besseren Zukunft an die Jüngeren vermittelt werden. Zugleich kann die Tatsache, dass sie in den Prozess öffentlichen Erinnerns einbezogen werden, den Opfern eine wichtige Kontrasterfahrung zu jener Separiertheit von der übrigen Gesellschaft ermöglichen, die gerade diese Menschen häufig empfinden. Denn nicht zuletzt wird ihre Wahrnehmung, isoliert zu sein, dadurch verstärkt, dass es ihnen unmöglich ist, über das von ihnen Erlittene zu sprechen – sei es, weil die Tiefe der eigenen Verletzungen dies verwehrt, sei es, weil die lebensweltlichen Plausibilitäten der Gegenwart hierfür keinen Ort mehr zu bieten scheinen. Durch öffentliche Ehrungen der Opfer, Gedenkstättenarbeit, historisch wie didaktisch mit Sorgfalt konzipierte Publikationen, Medienarbeit und überhaupt die Thematisierung dieser Problematik im Bereich von Erziehung und Bildung kann es gelingen, Formen kollektiven Erinnerns vor politischer Manipulation zu 31 schützen. Auch sie lassen sich im weiteren Sinne als Akte der Rehabilitation und der Entschädigung ansehen. Denn sie zielen darauf, gegen das allmähliche Vergessen anzuarbeiten, das über Zeit die Opfer ein zweites Mal zu Opfern werden lässt. Gewiss wird das Bemühen um authentische Formen kollektiven Erinnerns, um eine in diesem Sinn qualifizierte „Kultur der Erinnerung“, von einem fortdauernden Ringen um die geschichtliche Wahrheit gekennzeichnet bleiben. Doch lässt sich nur in ihrem Rahmen, in dem durch sie eröffneten Raum das Nichtakzeptieren dieser Vergangenheit durchhalten. Dieser inneren Haltung aber kommt eine wichtige Funktion zu, weil sie präventiv wirksam gegen die Gefahr werden kann, 31 Das Beispiel der deutsch-polnischen Schulbuchkommissionen hat hierfür Vorbildcharakter gewonnen. Der Bedeutung solcher Bemühungen um die Herstellung authentischer Erinnerung wird man im Blick auf die aktuelle Situation im ehemaligen Jugoslawien gewahr, wo nach wie vor bosnische Kinder mit rivalisierenden „Wahrheiten“ konfrontiert sind und, abhängig von der Ethnie, in deren Gebiet ihre Schule liegt, in ihren Geschichtsbüchern parteiische Verzerrungen der historischen Wahrheit finden – oft ohne dass sie eine Chance haben, dies zu bemerken. Vgl. De Luce, Dan, Getting to the Truth, in: Institute for War and Peace Reporting (Hrsg.), IWPR's Tribunal Update, No. 221, 14.–19. 5. 2001.
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dass sich die Verbrechen der Vergangenheit unter veränderten Vorzeichen wiederholen. Denn mit wachsendem zeitlichen Abstand selbst zu Ereignissen, die als politische wie moralische Katastrophen anzusehen sind, drohen sich Einstellungsmuster der Indifferenz auszubreiten – womöglich der retrospektiven Beschönigung der Katastrophe, ja der heimlich empfundenen Faszination gerade durch Personen, die für ungeheuerliche Verbrechen die Hauptverantwortung tragen. Strukturen des Bösen können oft dort entstehen und zu wuchern beginnen, wo die ersten Schritte, nur für sich betrachtet, unspektakulär erscheinen; die Korruption 32 der Lebenswelt vollzieht sich vorzugsweise schleichend. Der fatalen Neigung, das Schlechte vergangener Zeiten aus der Erinnerung zu tilgen, lässt sich nur entgegenarbeiten, wo die Konfrontation mit der Realität von einst noch möglich ist – nicht zuletzt in einer Form medialer Vermittlung, die nachfühlbar werden lässt, was diese Realität mit Menschen gemacht, besser gesagt: ihnen angetan hat. In einem politischen und gesellschaftlichen Klima, in dem Menschen aus der Erinnerung an die Schrecken der Vergangenheit das Bewusstsein des „Nie wieder!“ als zentralen handlungsleitenden Wert zu erfassen vermögen, werden die in vielen Ländern anstehenden großen Reformprojekte ebenso ermöglicht, wie sie ihrerseits den Prozess der Aufarbeitung voranbringen: – Eine Justizreform, die tatsächlich zur Reduzierung der Abhängigkeit der Justiz von politischen Vorgaben führt, weil diese Abhängigkeit maßgeblich zur formellen oder faktischen Straflosigkeit beiträgt; die auf eine unabhängige und unparteiische Richterschaft setzen kann und das Recht jedes Angeklagten auf Verteidigung und einen fairen Prozess sicherstellt; und die vor allem die Bürger über ihre grundlegenden Rechte aufklärt. – Eine Reform des Sicherheitssektors, mit der die Entlassung von Menschenrechtsverletzern aus Polizei und Streitkräften erreicht werden kann und eine zivile, rechtsstaatlichen Grundsätzen konforme Kontrolle der Sicherheitsorgane durch demokratisch legitimierte Institutionen möglich wird. – Die Eröffnung von Chancen für politische Partizipation, verbunden mit nachhaltigen Anstrengungen zu einer Demokratisierung der Gesellschaft. – Und schließlich eine Durchführung oft seit langem überfälliger sozialer Reformen: die Korrektur einer ungerechten Landverteilung, Programme für eine Regierungsführung, die dem Wohl aller Bürger und nicht nur den Interessen herrschender Staatsklassen dient (good governance), die Bekämpfung von Korruption und Misswirtschaft, die Stärkung der Eigeninitiative der Armen durch verbesserte Bildung
32 Frisch, Max, Gesammelte Werke, Frankfurt/M 1976, notierte: „Mich interessiert der Beginn einer Katastrophe. Wann ist der Punkt des Neinsagens? Wenn man die Katastrophe erkennt, ist es meist viel zu spät. Das Schlimmste ist, sich daran zu gewöhnen. Der Punkt, der einzig richtige Punkt, an dem man ‚Nein’ sagen müsste, ist in der Wirklichkeit nicht da. Man hat das ja an sich selber erfahren: Wie man die ersten peinlichen Anzeichen hinnimmt, vor sich selber verharmlost, wie dann spätere Gräuel durch die Gewöhnung gar nicht mehr so grauenhaft wirken, und wie dann – langsam und plötzlich – die Katastrophe da ist.“
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und Ausbildung und die Überwindung der vielfältigen Formen von geschlechtsspezifischer, ethnischer oder sozialer Ausgrenzung, eine kohärente Politik entschlossener Armutsbekämpfung im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung. Ohne solche grundlegenden Strukturreformen werden Bemühungen um einen angemessenen Umgang mit der Last der Erinnerungen nur einen eng begrenzten Beitrag dazu zu leisten vermögen, dass eine Gesellschaft wieder inneren Frieden finden kann. Zugleich kann die Politik auswärtiger Staaten auf vielen Ebenen erheblich darauf Einfluss nehmen, ob soziale und politische Reformen in solchen Transformationsprozessen gelingen. Politik und Gesellschaft auch in den Ländern Westeuropas sind mitverantwortlich dafür, vor Ort jene „menschenrechtsfreundlichen“ Rahmenbedingungen entstehen zu lassen, unter denen sich der Gefahr erneuter politischer Repression und schwerster Menschenrechtsverletzungen erst mit Aussicht auf Erfolg entgegenwirken lässt. Lassen Sie mich schließen mit den nachdenklichen Worten, die der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu fand, als er auf die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission zurückblickte: „Die Vergangenheit, so hat man gesagt, ist ein anderes Land. Die Art und Weise, wie ihre Geschichten erzählt werden, und die Art und Weise, wie sie gehört werden, verändert sich mit den Jahren. Das Scheinwerferlicht wandert hierhin und dorthin, entlarvt alte Lügen und erhellt neue Wahrheiten. Je vollständiger das Bild wird, desto mehr Teile des Puzzles unserer Vergangenheit rücken an ihren Platz … Auch die Zukunft ist ein anderes Land. Und nun können wir nicht mehr tun, als ihr die kleinen Weisheiten zu Füßen zu legen, die wir aus der Erfahrung unserer Gegenwart gewinnen konnten.“33
33 Zit. nach: Wahrheits- und Versöhnungskommission Südafrika, Das Schweigen gebrochen – „Out of the Shadows“. Geschichte – Anhörungen – Perspektiven, Frankfurt/M 2000, 357.
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II. Theologische und juristische Perspektiven
Endstation Strafe? Auf der Suche nach einer Kultur der Vergebung Michael Bongardt „Wie kommt es, dass – anders als in Europa – in den meisten Bundesstaaten der USA die Todesstrafe noch erlaubt ist?“ Diese Frage wurde vor einiger Zeit bei einer Diskussionsveranstaltung in Berlin an Peter L. Berger gestellt, einen der führenden Religionssoziologen der Gegenwart. Er hatte einen Vortrag zum Thema Menschenrechte, Demokratie und Religion gehalten. Bevor er antwortete, machte Berger deutlich, dass für ihn die Todesstrafe eine eindeutige Missachtung der Menschenwürde, die Verletzung des grundlegenden Menschenrechts auf Leben ist. Seine Erklärung, warum es in den USA die Todesstrafe gleichwohl noch gibt, fiel überraschend kurz aus: „Weil die USA demokratischer organisiert sind als die europäischen Staaten“. Ich habe keine Zweifel, dass Bergers Antwort stimmt. In Deutschland – und ähnlich in anderen europäischen Staaten – ist die Todesstrafe durch Art. 102 der demokratisch legitimierten Verfassung ausgeschlossen. Würde dieser Passus in einer Volksabstimmung zur Disposition gestellt, wäre es nicht unwahrscheindlich, dass sich eine Mehrheit für die Einführung der Todesstrafe in eng begrenzten 1 Fällen ausspräche. Es müssten nur zeitnah zur Abstimmung ein paar grausame Verbrechen geschehen, etwa die Schändung und Ermordung von Kindern. Auch bei der Bestrafung politischer Verbrechen spielte und spielt der Tod der Hauptverantwortlichen eine große Rolle. Hitler ist seinem Todesurteil zuvorge1
Verfassungsänderungen sind in Deutschland grundsätzlich nur mittels einer Zwei-DrittelMehrheit des Bundestages möglich. Ob die Abschaffung der Todesstrafe überhaupt rückgängig gemacht werden könnte oder ob Art. 102 GG so eng mit den Grundrechten verbunden ist, dass seine Änderung ausgeschlossen bleibt, ist in der juristischen Diskussion umstritten. Es gibt allerdings gewichtige Argumente dafür, den Artikel für unabänderlich zu halten. In einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen heißt es: „Die staatliche Organisation einer Vollstreckung der Todesstrafe ist schließlich, gemessen am Ideal der Menschenwürde, ein schlechterdings unzumutbares und unerträgliches Unterfangen.“ (BGHSt 41, 317, 325). Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage in BVerfGE 94, 115, 138 offen gelassen. Vgl. zur Sache, wenn auch in anderem Zusammenhang, Hoffmann-Holland, Klaus (dem ich diese juristischen Hinweise verdanke), Neither Retribution nor Deterrence – Kriminologische Aspekte der Entscheidung des U.S. Supreme Court in Roper v. Simmons, in: Müller, Henning Ernst, et. al. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, München 2009, 70 (FN): „Insoweit sei als Klarstellung lediglich der Hinweis des Verfassers erlaubt, dass er die Todesstrafe nicht nur durch Art. 102 GG als verboten ansieht, sondern in ihr auch einen Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sieht, die ihrerseits unter die ‚Ewigkeitsgarantie’ des Art. 79 Abs. 3 GG fällt (Vgl. nur Kunig, Philip in: Münch, Ingo von, und Kunig, Philip, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, München 52003, Art. 102 Rn 18 m.w.N.).“
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kommen. Doch in den Nürnberger Prozessen wurden 12 führende Nationalsozialisten zum Tode verurteilt. 1989 wurde in Rumänien das Ehepaar Ceauºescu nach einem dreitägigen Geheimprozess umgebracht. Saddam Hussein, Jahre nach seiner Entmachtung von den Amerikanern aufgespürt, wurde von einem irakischen Gericht zum Tode verurteilt, das Urteil wenig später am 30. Dezember 2006 vollstreckt. Immer wieder gehen politische Umstürze mit der Ermordung bisheriger Machthaber einher. Die Zustimmung der Bevölkerung ist meist groß. Es scheint ausgemacht, dass schwere Schuld die Todesstrafe fordert. Selbst angesichts der denkbar radikalsten Strafe, der Todesstrafe, wird deutlich: Die Vorstellung von der Berechtigung und dem Sinn des Strafens ist offenbar in den menschlichen Kulturen, im Empfinden von Gerechtigkeit tief verankert. Im Folgenden soll es deshalb zunächst um die Strafe und die mit ihr verbunden Vorstellungen gehen. Dabei werden nicht nur die Chancen einer Bestrafung von Schuld zur Sprache kommen, sondern auch deren Problematik und Grenzen. In einem zweiten Teil geht es dann um jene Wege, auf Schuld zu antworten, die in der christlichen Tradition entwickelt wurden: Wege, die sich von Strafe und Gerechtigkeit nicht verabschieden, sie aber durch die Zusage von Vergebung in einen anderen und größeren Zusammenhang stellen. Abschließend wird die schwierige Frage erörtert, ob, wie und wie weit ein im Kontext einer Religion entstandenes Vergebungsverständnis auch säkularen Gesellschaften und Menschen, die nicht zu glauben vermögen, zugänglich sein kann.
1. 1.1
Strafe Gestörte Ordnung
Strafe gab es, so paradox das scheinen mag, schon bevor das Konzept individuel2 ler oder kollektiver Schuld und Verantwortung entwickelt worden war. Strafe kam zur Anwendung, wenn die Ordnung des Lebens gestört wurde. Dabei waren in frühen Gesellschaftsformen die soziale, die natürliche und eine mögliche göttliche Ordnung noch nicht voneinander getrennt, sondern Aspekte ein und derselben Einheit des Werdens und Wirkens. Jeder Widerspruch gegen die Ordnung, jedes Abweichen von ihr musste möglichst umgehend aus der Welt geschafft werden, damit wieder Ordnung herrsche. Eine Form dieser Wiederherstellung war die Bestrafung dessen, der die Ordnung verletzte – wobei die Bestrafung in der Tötung, dem Ausschluss aus dem Sozialverband oder auch anderen Sanktionen bestehen konnte. Irrelevant für diese Strafpraxis war die Frage, ob die Verletzung willentlich, wissentlich, aktiv geschah – oder ob sie vermeidbar gewesen wäre. So 2
Vgl. zu der Entwicklung des Schuldbewusstseins: Ricœur, Paul, Schuld, Ethik und Religion, in: Concilium 6 (1970), 384–393.
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konnten in die Strafe auch an dem inkriminierten Geschehen vollkommen Unbeteiligte einbezogen werden – allein aufgrund von Verwandtschaft oder zufälliger 3 körperlicher Berührung. In engem Zusammenhang mit diesen Vorstellungen, durch Strafe eine Ordnung wiederherstellen zu können, stehen verschiedenartigste Konzepte von Op4 fern und Reinigungen. Opfer galten als Mittel, Geschädigte zu besänftigen. Sie waren nicht selten auch in Situationen vorgeschrieben, in denen Verletzungen nicht zu vermeiden waren: bei der Saat, um deretwillen der Boden aufgebrochen werden musste, bei der Jagd, bei der Tiere getötet wurden. Reinigungen dienten dazu, vorübergehend – z.B. aufgrund von Krankheit, Menstruation oder Geburt – ausgeschlossene Menschen wieder in die Gemeinschaft aufzunehmen. Die Vorstellung von der Heilsamkeit der Strafe, des Opfers, der Reinigung, bestehen mehr oder weniger transformiert fort, selbst nachdem menschliches Handeln anders verstanden und bewertet wird. Sie haben ihre Kraft auch in der Gegenwart nicht vollständig verloren. Das Instrument der Strafe erfährt sogar noch eine Bestärkung, sobald das Bewusstsein aufkommt, dass Menschen frei handeln und für ihr Handeln deshalb verantwortlich sind. Jetzt wird der Zusammenhang von Tat und Folge noch strikter und deutlicher formuliert. Schuld verdient, ja mehr noch, sie verlangt Strafe, wie immer diese Strafe aussieht und verstanden werden mag. Die Schuld eines Menschen, worin immer sie besteht, rechtfertigt sein Leiden, wenn es als Strafe gedeutet werden kann. Wie prägend diese Vorstellung für das Verständnis des Leidens von Menschen nach wie vor ist, lässt sich an einem Beispiel leicht aufdecken: Weckt die Aidsinfektion eines Menschen, der für seine sexuellen Ausschweifungen bekannt ist, die gleichen Gefühle wie die Nachricht, ein anderer sei durch eine Bluttransfusion infiziert worden? Diese Verbindung von Schuld und Strafe findet sich in genau gleicher Weise in religiösen und theologischen Vorstellungen: Gott wird geglaubt als jene Macht, die 5 garantiert, dass es den Guten gut und den Bösen schlecht geht. Diese Vorstellung spielt nicht zuletzt eine zentrale Rolle im Ringen um die Theodizeefrage, bei der es um die Unvereinbarkeit des Leidens in der Welt mit der Güte und Allmacht 3 4
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Vgl. Cassirer, Ernst, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt 21992, 116–170. Zur sozialen und kulturellen Deutung und Bedeutung von Opfern vgl. Malina, Bruce J., Rituale der Lebensexklusivität. Zu einer Definition des Opfers, in: Janowski, Bernd und Welker, Michael (Hrsg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt 2000, 23–57. Die Beiträge des genannten Sammelbands behandeln eine Fülle von Aspekten des Opfers und der Reinigung, die hier leider nicht weiter berücksichtigt werden können. Klassische Formulierungen dieses Zusammenhangs finden sich in der Bibel z.B. in Deuteronomium 30,15–20 oder in Psalm 1. Zum so genannten „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ vgl. Janowski, Bernd, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des „Tun-ErgehenZusammenhangs“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 91 (1994), 247–291; Schreiner, Josef, Theologie des Alten Testaments, in: Die Neue Echter Bibel, Erg.-Bd. 1 zum Alten Testament, Würzburg 1995, 164–183.245–277.
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Gottes geht. So unterschiedlich die Versuche, diese Frage zu lösen auch sind: Erstaunlich einig sind sie sich darin, dass das Leiden nur dann zu einem Problem wird, wenn es nicht als Strafe für eine vorangegangene Schuld gedeutet werden 6 kann. Wenn auch seit den Reflexionen des Hiobbuches immer wieder betont wird, dass nicht alles Leiden moralisiert, also auf Schuld zurückgeführt werden 7 darf, so wird doch erstaunlich selten die scheinbare Selbstverständlichkeit in Frage gestellt, mit der man das Leiden von Schuldigen für gerechtfertigt und sinnvoll hält. In Frage gestellt wird der Glaube an einen Gott, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft, aber schon in weit alltäglicheren Situationen als angesichts des Elends von Hiob. Nämlich immer dann, wenn er den tatsächlich anzutreffenden Zuständen eklatant widerspricht, wenn es den Guten offensichtlich schlecht geht, die Bösen aber triumphieren. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrung entwickelt sich in der Spätzeit des Alten Testaments eine Eschatologie, die den gerechten 8 Ausgleich, wenn schon nicht in dieser, so doch in einer kommenden Welt erhofft. Diese apokalyptische Verbindung von Schuld und Strafe ist in vielen Texten des Neuen Testaments zu finden und wurde zu einem Grundmuster christlicher Moralpredigt. Wie wirkungsvoll der so geschaffene Zusammenhang von Schuld, Strafe und Eschatologie auch über den kirchlichen Raum hinaus war und ist, lässt sich nicht zuletzt an der Philosophie Kants erkennen: So entschieden Kant eine autonome Begründung moralischer Verpflichtung entwarf, die auf jeden Rückbezug auf Gottes Wille und Gesetz verzichtete, wollte er auf die Vorstellung der Angemessenheit der Glückseligkeit für den moralischen Menschen nicht verzichten. Mehr noch: Er hielt es für ein „Postulat der praktischen Vernunft“, dass es einen Gott gebe, der allein diese Einheit von Güte und Glückseligkeit eschatologisch 9 verbürgen könne. 1.2
Vom Wert der Strafe
Wie kommt es dazu, dass Menschen – religiöse wie nicht religiöse – in solchen moralischen Kategorien ihre Wirklichkeit deuten? Was macht ein Konzept, das Schuld und Strafe derart eng verbindet, so attraktiv und wirkungsvoll?
6
7 8 9
Biblisch findet sich diese Überzeugung nicht nur bei den Freunden Hiobs (Hiob 4,1–11 u.a.), sondern z.B. auch in Johannes 9,1 f. belegt. Es ist in der Theologiegeschichte vor allem Augustinus, der das Leiden als Strafe zu erweisen suchte. Vgl. Aurelius Augustinus, Der freie Wille, I,15, , dt. von Perl, J. C., Paderborn 21954, 18. Zur Übersicht über die aktuell diskutierten theologischen Entwürfe zur Theodizee vgl. Middelbeck-Varwick, Anja, Die Grenze zwischen Gott und Mensch. Erkundungen zur Theodizee in Islam und Christentum, Münster 2009, 157–202. Vgl. etwa Pröpper, Thomas, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg u.a. 2001, 272. Vgl. Hahn, Ferdinand, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik, Neukirch-Vluyn 1998. Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, A 223–238.
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Der radikale Kritiker aller Moral, Friedrich Nietzsche, gab darauf seine berühmte destruktive Antwort: Die Erfindung der Moral geht auf das Konto der Schwachen. Mit Hilfe der Moral diskreditieren sie die Starken und deren Stärke: „Dass die Lämmer den großen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht; nur liegt darin kein Grund, es den großen Raubvögeln zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen. […] Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere, dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein HerrwerdenWollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade 10 so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äußere.“ Nietzsches nur wenig jüngerer Zeitgenosse Sigmund Freud sekundiert ihm aus psychoanalytischer Perspektive: „Welcher Mittel bedient sich die Kultur, um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten? […] Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als ÜberIch dem übrigen entgegenstellt, und nun als ‚Gewissen’ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gern an anderen, fremden 11 Individuen befriedigt hätte.“ Man muss Nietzsches Kampf gegen eine Gesellschaft von Menschen gleicher Rechte und Pflichten nicht unterstützen; man muss Freuds psychoanalytische Theorie nicht in all ihren Elementen übernehmen, um die beiden Texten zu Grunde liegende These für richtig zu halten. Eine Moral, und das heißt für Freud wie für Nietzsche: eine System, das über das Instrument der Strafe verfügt, ist der Preis, den eine Gesellschaft für ihren Zusammenhalt zahlt, vielleicht sogar zahlen muss. Wie hoch dieser Preis für die Einzelnen, letztlich auch für die Gesellschaft sein kann, wird von den beiden Kritikern bürgerlicher Moral eindrücklich aufgezeigt. Bevor diese Schattenseiten einer strikten Strafgerechtigkeit näher betrachtet werden, lohnt es, ihren Gewinn in den Blick zu nehmen. Dabei werden sich bemerkenswerte Verwandtschaften zu den Ordnungsvorstellungen archaischer Gesellschaften zeigen. Wozu also dient ein System, in dem Schuld durch Strafe beantwortet wird? (1) Die Ordnung einer Gesellschaft, ganz gleich, wie sie konkret gestaltet ist, weist jedem ihrer einzelnen Mitglieder seinen Ort und damit seine Pflichten und Rechte zu. Eine Gesellschaft, die von der gleichen Würde all ihrer Mitglieder und unveräußerlichen Menschenrechten ausgeht, wird sich dem unerreichbaren Ideal gleicher Rechte, Pflichten und Chancen für alle so weit wie möglich 10 Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. V, hrsg. Colli, V. G., und Montinari, M., München 21988, 245–412, 279 (I.13). Da die Zahl der Schwachen größer ist als die der Starken, ist es für Nietzsche nicht verwunderlich, dass es mehr Menschen mit der Moral halten als sie zu verabschieden. 11 Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Gesammelte Werke XIV, hrsg. Freud, Anna, Studienausgabe, Frankfurt 1999, 419–506, 482.
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anzunähern versuchen. Nicht erst, aber besonders in einer solchen Gesellschaft gilt: Die Ordnung wird empfindlich gestört, wenn jemand die Rechte anderer missachtet. Noch unerträglicher ist es, wenn ein solcher Täter sein Glück auf dem von ihm herbeigeführten Unrecht aufbaut, von seiner Schuld profitiert. Strafe ist ein Weg, einen solchen Triumph des Täters über sein Opfer zu verhindern, indem sie dem Schuldigen seinen Profit entwindet. (2) Wo es zur Schädigung von Mitgliedern einer gesellschaftlichen Ordnung kommt, wo schuldhaft Leiden verursacht wird, trifft diese Schädigung nie nur die geschädigten Menschen, Lebewesen, Dinge. Sie ist immer auch eine Schädigung der Ordnung selbst. Deshalb bedarf es im Falle einer Störung dieser für das Zusammenleben unverzichtbaren Ordnung der Wege, die verletzte Ordnung wiederherzustellen. Strafe wird in der Regel als ein solcher Weg gesehen und als zielführend erlebt. (3) Näherhin wird die Ordnung in doppelter Hinsicht gestärkt, indem sie straft: Sie erweist sich als stark, indem sie sich als fähig erweist, Strafen zu verhängen und durchzusetzen. Und sie gewinnt ihre alte Stärke zurück, wenn und indem die Strafe zum Ausgleich der gestörten Ordnung nutzt. Das gelingt, wenn der Schuldige erfolgreich verpflichtet wird, den angerichteten Schaden im Rahmen seiner Möglichkeit wieder gut zu machen, und wenn sich zeigt, dass die Ordnung stärker ist als die ihr zugefügte Verletzung. (4) Und schließlich: Strafe hat – wenn auch in Grenzen – präventiven Ordnungscharakter. Sie kann Menschen abschrecken und davon abhalten, Böses zu tun. Angesichts des Kontexts, in dem die hier vorgelegten Gedanken stehen, ist in die bisher sehr abstrakte Rede von „Ordnung“ eine unverzichtbare Differenzierung einzutragen. Denn solange es bei der rein formal-strukturellen Rede von gesellschaftlich-kultureller Ordnung und ihrer Störung bleibt, ist weder eine Kritik totalitärer Ordnungen möglich noch deren spätere „Aufarbeitung“ nötig. Beides, die Kritik wie der spätere Umgang mit dem Schaden, den diese Ordnungen selbst darstellten, bedarf der strikten Unterscheidung zwischen der Legalität und der Legitimität einer politischen Ordnung und ihres Justiz- und Strafsystems. Erst mithilfe dieser Unterscheidung öffnen sich Wege, ein innerhalb einer Unrechtsordnung legales Handeln als moralisch schuldhaft zu qualifizieren – und umgekehrt: eine illegale Verletzung von Gesetzen als ethisch gerechtfertigt anzusehen. Anders gesagt: so sehr politische Ordnungen Menschen per Gesetz bewegen können, schwere moralische Schuld auf sich zu laden, so unverzichtbar ist in solchen Fällen die bewusst in Kauf genommene Illegalität als Schritt auf dem Weg in gerechtere Gesellschaften, eine ethisch besser legitimierte Rechtsordnung. Von ersterem zeugen all die in diesem Band untersuchten Unrechtsregime, von letzterem viele Formen von Widerstand und Revolution, die zum Ende dieser Regime – nicht selten maßgeblich – beitrugen. Die hoch komplexen Fragen, wie juristisch mit Menschen umzugehen ist, die, den Gesetzen ihres Staates folgend, schwere Schuld auf sich geladen haben, kann
Endstation Strafe?
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in unserem Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden. Dazu sei auf die juristischen Fachartikel in diesem Band verwiesen. Wichtig aber ist an dieser Stelle die Klärung des in dem hier vorgelegten Beitrag verwendeten Schuldbegriffs: Der Begriff „Schuld“ wird hier ausschließlich als moralisch-ethischer Terminus verwendet. Schuldhaft ist demnach ein dem Schuldigen zurechenbares Verhalten, das unter geltenden ethischen Gesichtspunkten als schlecht bzw. böse zu qualifizieren ist – auch wenn es in einer bestimmten Rechts12 ordnung als legal gelten mag. 1.3
Problematische Strafe
Mag man die Etablierung und Sicherung der Ordnung einer Gesellschaft für sinnvoll und wichtig halten, mag man auch die Strafe für ein ordnungsdienliches Instrument halten, so kann dies nicht heißen, dass man vor den Problemen einer solchen Sicherung menschlichen Zusammenlebens die Augen verschließen könnte oder gar dürfte. Die Schattenseiten, die nicht zuletzt Nietzsche und Freud aufdeckten, zeigen sich sowohl angesichts der Gestalt als auch der Wirkungen von Strafe. Ein Grundproblem der Strafe liegt darin, dass sie Gewalt mit Gewalt beantwortet. Strukturell betrachtet ist jede schuldhafte Tat ein Missbrauch von Macht, das heißt: eine Gewaltsamkeit. Die Missachtung der Freiheit, der Unversehrtheit, der Rechte eines anderen Menschen ist eine Gewalttat, auch wenn keine physische Gewalt ausgeübt wird. Die Zerstörung von Lebensgrundlagen, die mutwillige und sinnlose Vernichtung auch von nicht-menschlichem Leben ist Gewalt. Doch auch die Strafe übt Gewalt aus – gegenüber dem Bestraften: Sie beschneidet seine Freiheit, greift in seinen Besitz, auch in seinen rechtmäßigen Besitz ein, beraubt ihn – meist für begrenzte Zeit – bestimmter Rechte. Dieses Wechselspiel von Gewalt führt nahezu zwangsläufig dazu, die Gewalt zu perpetuieren. Wenn ohnehin Gewalt stets Gegengewalt provoziert, so versieht das Konzept einer Strafgerechtigkeit diesen scheinbar zwangsläufigen Kreislauf auch noch mit dem Schein einer Legi13 timation.
12 Genauso wenig wie auf das genannte juristische Problem der Bewertung eines legalen, gleichwohl schuldhaften Handelns kann hier und jetzt auf das philosophisch breit diskutierte Problem eingegangen werden, wie sich die unbedingte Geltung ethischer Forderungen zur kulturell und historischen Bedingtheit jeder konkreten Normsetzung verhält. Zu den Begründungsproblemen der Ethik vgl. Quante, Michael, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2003, 143–164. 13 Auf den Zusammenhang von Macht, Gewalt und Strafe hat besonders ausführlich Michel Foucault aufmerksam gemacht. Sein umfassendes Werk über die Justizgeschichte fügt eine große Zahl von historischen Untersuchungen zusammen, die den Gewalt- und Machtaspekt der Strafe eindrücklich belegen: Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, Frankfurt 162007; ders., Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976; einen kurzen Überblick über seine Untersuchungen gibt: ders., Theorien und Institutionen des Strafvollzugs, in: ders., Anlaytik der Macht, hrsg. v. Defert, Daniel u.a., Frankfurt 2005, 64–68.
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Mehr noch: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich dieser Kreislauf auf der immer gleichen Ebene dreht. Seine Dynamik drängt ihn, sich als Spirale nach oben zu drehen: Besonders deutlich wird dies im Blick auf die – der Strafe verwandte – Rache: Ihre Gewalt strebt danach, größer zu sein als die zunächst erlittene. Rache und Strafe können ins Grenzenlose eskalieren. „Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brand14 mal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.“ Dieses von der Bibel früh eingeführte „ius talionis“ ist ein Versuch, wenigstens dieser Eskalation einen Riegel 15 vorzuschieben. Für die Befriedung von Gesellschaften und das Entstehen stabiler gesellschaftlicher und politischer Ordnung reichte dieser Schritt aber noch nicht aus: Sie setzen voraus, dass die Einzelnen darauf verzichten, in eigener Gewalt zu rächen und zu strafen, wenn ihnen Unrecht geschah. Wie heikel dieser Prozess war, zeigt die neuzeitliche Entwicklung der Staatstheorie: Thomas Hobbes sieht den Ursprung des Staates in dem Bemühen, die Gewalt aller gegen alle und die daraus entstehende dauernde Angst um das eigene Leben zu bändigen. Dies gelang nach seiner Theorie durch die Delegation der je eigenen Macht an den Fürsten, der seinerseits als absoluter Souverän das Gesetz setzte, ohne an es gebunden zu sein – und die Gewalt besaß, jeden Widerspruch durch gewaltsame Strafe zu 16 ahnden. Es bedurfte eines langen Weges, den John Locke mit dem Konzept der Gewaltenteilung begann, bis die Idee der Volkssouveränität in politischer Idee und Realität zum Tragen kam. Carl Schmitt, der in seiner Kritik an der liberalen Demokratie auf Hobbes zurückgriff, machte gerade dadurch in seiner Theorie 17 erneut auf das Gewaltproblem aufmerksam. Das staatliche Gewaltmonopol ist eine unverzichtbare Säule eines Rechtsstaates – ein Monopol, dessen Gewalt im Akt des Strafens nicht nur als Möglichkeit angedroht, sondern tatsächlich ausgeübt wird. So sind beide – das „ius talionis“ wie die Einführung des staatlichen Gewaltmonopols – nicht mehr als die Einhegung jener gewaltsamen Antwort auf Gewalt, die der zwangsläufigen Kopplung von Schuld und Strafe eigen ist. Deshalb ist, je strenger dieser Zusammenhang aufrecht erhalten wird, ein bemerkenswertes, wenn auch nicht verwunderliches Phänomen zu beobachten: Ein System strenger Strafen mag zu einer Perfektionierung von Überwachungsstrategien führen; zu 14 Exodus 21,23–27. 15 Vgl. Graupner, Axel, Vergeltung oder Schadensersatz? Erwägungen zur regulativen Idee alttestamentlichen Rechts am Beispiel des ius talionis und der mehrfachen Ersatzleistung im Bundesbuch, in: Evangelische Theologie 65 (2005), 459–477. 16 Vgl. Hobbes, Thomas, Leviathan, übers. v. Mayer, J. P., Stuttgart 1970. Im 17. und 18. Kapitel (S. 151–166) führt Hobbes seine Grundthesen zur Entstehung des Staates und zur Macht des Souveräns ein. 17 Vgl Schmitt, Carl, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 6 1933. Dazu Taubes, Jacob (Hrsg.), Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München u.a. 1983.
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einem verantworteten Umgang mit Schuld führt es nicht. Denn wenn der Schuldige nichts zu erwarten hat als gnadenlose Strafe, wird er Schuld zu verbergen suchen – vor anderen und schließlich auch vor sich selbst; er wird sie leugnen, auf andere schieben oder sie, in extremer Gegenreaktion, dreist als sein Verdienst hinstellen. Für all diese Verhaltensweisen gibt es in unserer Gesellschaft zahlreiche Beispiele. Denn diese ist, wenn ich recht sehe, von einer eigentümlichen Mischung 18 aus Verdrängung, Dreistigkeit und Gnadenlosigkeit geprägt. So aber wird eine merkwürdige Aporie offenbar: Die fraglose Kopplung von Schuld und Strafe, die der Aufrechterhaltung eines ethisch verantworteten und auf moralischen Fundamenten gründenden Zusammenlebens dienen soll, unterminiert gerade dort, wo sie angewandt wird, ihr eigenes Ziel. Sie führt nicht wie von selbst zu einer ethischen Reflexion und Sensibilität der Menschen, sondern kann geradezu das Gegenteil hervorrufen: die Weigerung, sich mit Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen, angerichteten Schaden anzuerkennen und möglichst zu begleichen; die mangelnde Bereitschaft, mit ethischer Aufmerksamkeit 19 zur Vergangenheit zu stehen und die Gegenwart zu gestalten. All das lässt fragen, ob die Strafe halten kann, was Menschen sich von ihr versprechen. Ist sie ein ausreichendes Mittel, um die durch Schuld verletzte Ordnung des Zusammenlebens zu heilen? Kann sie aus der Welt räumen, was durch Schuld in die Welt kam? Vieles spricht dafür, dass es eines Blicks bedarf, der über die Straflogik hinausreicht, der mehr sieht als eine durch Strafe erstrebte Gerechtigkeit. Ein solcher Blick und eine ihm entsprechende Praxis sind in den Jahrtausenden der biblischen und christlichen Tradition gewachsen.
18 Es dürfte müßig sein, diese Beobachtung durch Beispiele zu belegen, die nahezu täglich in der Presse zu finden sind: Gnadenlos werden in Schlagzeilen Rufe nach Vergeltung laut, wenn grausame Verbrechen geschehen, Korruption und Betrug aufgedeckt werden. Auf der anderen Seite findet sich das gesamte Spektrum der Verbergungs- und Entlastungsstrategien in den Selbstdarstellungen angeklagter Politiker und Manager, aber auch in der Darstellung von „Rosenkriegen“. Eine die Untersuchungen Sigmund Freuds über den Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen vorwegnehmende und in vieler Hinsicht überbietende Phänomenologie hat Sören Kierkegaard vorgelegt. Unter dem Titel der „Dämonie“ bzw. „Verschlossenheit“ hat er die Strategien aufgedeckt, derer sich ein Schuldiger um des Selbstschutzes willen bedient. Weil die Schuld die dem Menschen gegebene Freiheit fesselt, gerade wenn und weil sie dazu drängt, verborgen zu bleiben, sind alle diese Verhaltensformen Strategien einer „Freiheit in der Unfreiheit Dienst“ (Kierkegaard, Sören, Philosophische Brocken, in: ders., Gesammelte Werke, Hirsch, E. und Gerdes, H. (Hrsg.), 10. Abt., 15). Zur Dämonie im Verständnis Kierkegaards vgl. ders., Der Begriff Angst, in: ders., Gesammelte Werke, Hirsch, E. und Gerdes, H. (Hrsg.), 11. Abt., 114–160, sowie ders., Die Krankheit zum Tode, in: ders., Gesammelte Werke, Hirsch, E. und Gerdes, H. (Hrsg.), 24. Abt., 105–134. Vgl. dazu Cattepoel, Jan, Dämonie und Gesellschaft. Sören Kierkegaard als Sozialkritiker und Kommunikationstheoretiker, Freiburg/München 1992. 19 Wie Freud in der bereits zitierten Schrift (Anm. 9) aufzeigt, ist es ja gerade die Internalisierung von Strafinstanzen, die lebenshinderliche, neurotische Schuldgefühle weckt und den verantwortungsvollen Umgang mit tatsächlicher Schuld unmöglich macht. Und nicht zu Unrecht kritisiert Nietzsche die moralische Diskreditierung von Stärke – wenn auch seine Gleichsetzung von Stärke und Moral in der „Herrenmoral“ ihrerseits als höchst fragwürdig gelten muss.
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2. 2.1
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Eine christliche Alternative: Der gnädige Gott Gerechtigkeit und Barmherzigkeit: Ein biblisches Grundproblem
Der Zusammenhang von Schuld und Strafe ist, wie schon gezeigt, der Bibel keineswegs fremd. Oberflächlichem Lesen mag es gar so erscheinen, als läge in der Sicherung dieser Verbindung der Kerngedanke des biblischen Gottesbildes. Dabei kann offen bleiben, ob Gott als der Weltherrscher gedacht wird, der, wo immer Menschen sich schuldig machen, strafend eingreift; oder ob er die Welt so eingerichtet hat, dass sich in ihr das Böse früher oder später selber straft. In beiden Fällen garantiert seine Macht das Gleichgewicht von Gewalt und Gegengewalt. Doch schon früh lässt sich erkennen, dass die Bibel um die Begrenztheit dieser Antwort auf Schuld weiß. Der Schritt, der über den Gott der Strafe oder gar der Rache hinausführt,– dies sei nur einmal, aber mit Entschiedenheit betont – wird nicht zwischen dem Alten und dem Neuen Testament vollzogen. Er findet sich bereits in zentralen Schriften der Hebräischen Bibel. Schon hier wächst der Glaube, dass Gott nicht der Richter ist, der nach den Regeln menschlicher Gnadenlosigkeit verfährt. Dieser Glaube kann sich äußern in der Hoffnung, dass Gott nicht – oder nicht allein – auf die Sünden des Menschen achtet: „Würdest Du Herr, 20 unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen?“ Damit verbunden wird die Vorstellung, dass ein Mensch von seiner Schuld befreit ist, wenn und indem Gott ihn nicht mehr darauf behaftet: „Verbirg Dein Gesicht vor meinen Sünden, tilge 21 all meine Frevel.“ Den Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Umgang mit Schuld drückt der Prophet Hosea besonders prägnant aus, wenn er Gott sprechen lässt: „Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Dar22 um komme ich nicht in der Hitze meines Zorns.“ Hier wird eine Alternative zur Strafe sichtbar, die den Teufelskreis der Gewalt, in den die Schuld führte, durchbricht: Vergebung. Sie unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht von der Strafe. Zuerst und vor allem: Das Konzept der Strafgerechtigkeit sieht die Strafe als notwendige Folge auf die Schuld an. In diesem Sinne lässt sich der Alltagssprache recht geben, wenn sie davon spricht, ein Schuldiger habe – durch seine Tat – die Strafe „verdient“. Ein solcher Anspruch durch „Verdienst“ besteht auf Vergebung nicht. Wer schuldig wurde, hat keine Ansprüche mehr an die, die er schädigte. Schuld trägt in die Beziehung zwischen Täter und Opfer eine Asymmetrie ein, die von Seiten des Schuldigen nicht zu beseitigen ist. In der Logik der Strafe mag es 20 Psalm 130,3. 21 Psalm 51,11. 22 Hosea 8,11 f.
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die Möglichkeit einer „Selbstbestrafung“ geben – Freud wusste dazu viel zu sagen. Sich selbst Vergebung zusprechen kann der Schuldige nicht. Er ist angewiesen darauf, Vergebung geschenkt zu bekommen. Das aber hat auch für den, dem Schaden zugefügt wurde, erhebliche Bedeutung: Während die Straflogik geradezu einen Automatismus in der Beantwortung von Schuld fordert, ist der durch Schuld Geschädigte auf ganz eigene Weise „souverän“. Es liegt allein in seiner Freiheit, ob er Vergebung schenkt, ob er dem Schuldigen damit seine Freiheit wiedergibt, die Symmetrie einer personalen Beziehung wiederherstellt. Dass er damit auch etwas aufgibt, nämlich seine Macht, die aus der durch Schuld entstandenen Asymmetrie resultierte, klingt bereits im Begriff „vergeben“ an: Der Vergebende gibt seine Machtposition auf, vergibt sich etwas. Deutlich wird noch ein weiteres: Vergebung ist nicht Vergebung und bleibt wirkungslos, wenn sie die geschehene Schuld nicht ernst nimmt. Vergebung ist gerade darin befreiender Akt erneuter Zuwendung, dass sie das Böse „böse“ nennt, aber den, der es tat, nicht mehr mit seiner Schuld verbindet, ihn nicht an seine Vergangenheit fesselt, sondern ihn von ihr losspricht. All dies wird in dem zitierten Kapitel des Hosea-Buches verdichtet deutlich – bis hin zu der Einsicht, dass Gottes vergebendes Handeln von menschlichem Denken und Verhalten deutlich unterschieden ist, vielleicht sogar menschliche Möglichkeiten oft übersteigt. Paulus nimmt die alttestamentliche Rede von Gottes Gerechtigkeit und Gnade auf und konzentriert seine gesamte Theologie auf das göttliche Geschenk der Vergebung. Christus, so deutet er Tod und Auferstehung Jesu von Nazareth, ist um der Sünden der Menschen willen gestorben. Sein Tod rechtfertigt die Men23 schen, in ihm wird die Vergebung, die Gott schenkt, konkret. Man darf es geradezu kühn nennen, wie Paulus den scheinbaren Gegensatz von Gottes (Straf-) Gerechtigkeit und seiner vergebenden Gnade auflöst: „So erweist Gott seine Ge24 rechtigkeit durch die Vergebung der Sünden.“ Gott, so Paulus, vergibt den Menschen ihre Schuld nicht trotz seiner Gerechtigkeit, sondern seine Gerechtigkeit besteht darin, dass er vergibt: Aus freiem Willen setzt er den Menschen, der nach der Logik der Strafgerechtigkeit wegen seiner Schuld Strafe verdient hat, wieder ins rechte Verhältnis zu ihm, seinem Gott. Eng verbunden mit diesem Glauben an die von Gott geschenkte Vergebung ist bei Paulus die Vorstellung, Jesus sei zur Sühne für die Sünde der Menschen gestorben und habe so erst die Vergebung ermöglicht. Wie diese Bildrede, die deutliche Anklänge an die eingangs zitierten Opfervorstellungen aufweist, genau zu verstehen ist, beschäftigt die christliche Theologie von ihren Anfängen bis heute. Dazu nur soviel: Es ist sicher nicht zwingend, vermutlich nicht einmal möglich, im Tod Jesu das blutige Opfer zu sehen, durch das Gottes Zorn besänftigt werden
23 Vgl. Römer 3,21–26. 24 Römer 3,25b.
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Michael Bongardt 25
musste und konnte. Entscheidender dürfte sein, dass Jesus von Nazareth in seiner Bereitschaft, die Gewalt zu ertragen, die ihn ans Kreuz bringt, in seinem Verzicht, 26 sie mit Gegengewalt zu beantworten, den Kreislauf der Gewalt durchbricht. In diesem Verhalten erkennt christlicher Glaube Gottes eigenes Verhalten zur Schuld, zu den Schuldigen: Seine Bereitschaft, die Folgen der Schuld zu ertragen – und 27 den Schuldigen zu vergeben. Diese Erkenntnis hat unmittelbar lebenspraktische Konsequenz: „Umkehr wird möglich, wenn mir im Lichte einer verheißungsvollen Alternative die eigene Verstrickung in unheilwirkende Lebenseinstellungen auf28 geht; wenn ich meine leidschaffenden Angstabwehrsysteme verlassen kann.“ Damit aber wird – wie schon bei Paulus – ein paradox scheinender Zusammenhang deutlich: Wer schuldig wurde, darf darauf hoffen, dass Gott ihm aus reiner Gnade, ohne jede Vorleistung von Seiten des Schuldigen, Vergebung schenkt. Doch diese Vergebung wird für den Schuldigen wie für die durch seine Schuld beschädigte Welt erst wirklich Teil seiner weltlichen Wirklichkeit, wenn er – wie Paulus sagt – „glaubt“. Wenn er, was keineswegs immer einfach ist, die Ver29 gebung anzunehmen bereit ist und dieser Glaube sein Verhalten ändert. Kurz gesagt: Die Befreiung aus Schuld kann man sich nicht verdienen, auch nicht durch das Erleiden der Strafe. Dennoch ist die Befreiung nicht umsonst zu gewinnen.
25 Als Protagonist dieser Deutung gilt gemeinhin Anselm von Canterbury, der in seiner Schrift „Cur deus homo“, dt. Übers. von Schmitt, Franciscus S., Darmstadt 51993, den Gedanken entfaltet, dass jede Schuld einer Rückzahlung und Sühne bedürfe – und dass die Schuld der Menschen so groß sei, dass allein ein sündloser Mensch, der inkarnierte Sohn Gottes sie bezahlen könne. Massive Kritik an dieser – seines Erachtens außerbiblischen Opfervorstellungen und dem ökonomischen Denken des Hochmittelalters geschuldeten – Konzeption übt z.B. Hinkelammert, Franz J., Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens. Opfermythen im christlichen Abendland, Münster 1989. In der neueren Literatur zu Anselm wird diskutiert, ob die verbreitete Kritik diesen überhaupt trifft; ob die Sühne von Anselm tatsächlich als eine Voraussetzung für die göttliche Vergebung gedacht wird – oder nicht vielmehr als nötiger Ausgleich für die durch die Sünde geschädigte Ordnung der Welt. Vgl. dazu Wohlmuth, Josef, Im Geheimnis einander nah. Theologische Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Paderborn 1996, in Anschluss an Gäde, Gerhard, Eine andere Barmherzigkeit. Zum Verständnis der Erlösungslehre Anselms von Canterbury, Würzburg 1989. 26 Vgl., dort entfaltet an der Deutung der Eucharistie als der Gedächtnisfeier von Tod und Auferweckung Jesu, Bachl, Gottfried, Eucharistie. Macht und Lust des Verzehrens, St. Ottilien 2008. 27 Von exegetischer Seite unterstützt diese Deutung etwa Wilckens, Ulrich, Der Brief an die Römer (Röm 1–5), in: Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament VI/1, Zürich u.a. 1978, 241–243. 28 Werbick, Jürgen, Soteriologie, Düsseldorf 1990, 270. 29 Hier – und erst hier – hat die Rede von der Notwendigkeit, dass ein Mensch sich selbst verzeihen kann, ihr Recht: Als Notwendigkeit, die Freiheit, die mir in der Vergebung durch den von mir Geschädigten geschenkt wird, anzunehmen und zu ergreifen wagen. Dass Menschen diesen Schritt angesichts geschenkter Vergebung verweigern und in ihrer dämonischen Verschlossenheit verharren können, beschreibt eindrücklich Kierkegaard, Sören, Die Krankheit zum Tode, in: ders., Gesammelte Werke, Hirsch, E. und Gerdes, H. (Hrsg.), 24. Abt., 113–126.
Endstation Strafe?
2.2
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Christliche Versöhnungspraxis
Ich möchte die theologische Reflexion an dieser Stelle abbrechen und zur Praxis zurückkehren. Es ist hier nicht möglich, die lange Entwicklung nachzuzeichnen, die die kirchlichen Formen, mit menschlicher Schuld umzugehen, durchlaufen 30 haben. Stattdessen gehen die folgenden Überlegungen von der aktuellen Form aus, die das Sakrament der Versöhnung – die Beichte – in der katholischen Kirche hat. An ihren Elementen soll die Weisheit im Umgang mit Schuld deutlich ge31 macht werden, zu der christlicher Glaube gefunden hat. Dieser Glaube geht davon aus, dass jede Schuld, die Menschen auf sich laden, 32 auch ihr Verhältnis zu Gott stört. Jede Schuld ist Sünde. Deshalb kann Versöhnung nur im Angesicht Gottes gelingen – ohne jedoch, darauf wird zurückzukommen sein, ein Geschehen allein zwischen dem Sünder und Gott zu sein. Noch wichtiger aber ist ein anderer Aspekt des Versöhnungsgeschehens, um das es hier geht: Der Prozess, in den das Sakrament der Versöhnung eingebunden ist, steht von Anfang an im Zeichen der Hoffnung, dass Gott die Schuld vergeben will. Es geht in diesem Geschehen also nicht darum, sich die Vergebung, die ohnehin nur geschenkt werden kann, zu erarbeiten. Sein einziges Ziel ist es, die geschenkte Vergebung in der eigenen Lebenswirklichkeit real werden zu lassen. Hier wird erneut die eben erwähnte Spannung sichtbar: Für das Geschenk der Vergebung kann man nichts tun – damit sie aber im eigenen Leben wirksam wird, muss man etwas tun. Dazu empfiehlt die christliche Tradition eine Reihe von Schritten: Am Anfang steht die Gewissenserforschung. Ernsthaft, aber ohne Skrupel hat der Mensch sich nach seiner Schuld zu fragen: Wo hat er – um es in der Sprache 33 der kirchlichen Liturgie zu sagen – „Böses getan und Gutes unterlassen“ ? Unter den Bedingungen einer gnadenlosen Strafgerechtigkeit sind, wie oben ausgeführt wurde, die Leugnung und Verdrängung von Schuld nahezu überlebensnotwendig. Ganz anders kann sich die gründliche Selbstprüfung vollziehen, wenn sie von der Hoffnung auf Vergebung geleitet ist. So wird der Blick frei auf die Grenzen der eigenen Güte, auf die Fülle der von mir zu verantwortenden Lieblosigkeiten. 30 Vgl. dazu Schneider, Theodor, Zeichen der Nähe Gottes. Grundriß der Sakramentenlehre, Mainz 3 1982, 196–217; Faber, Eva-Maria, Einführung in die katholische Sakramentenlehre, Darmstadt 2002, 122–132. 31 Zu Ablauf, Formen und Inhalten der persönlichen Beichte und anderer Formen von Versöhnungsfeiern vgl. Bischöfe Deutschlands und Österreichs (Hrsg.), Gotteslob. Katholisches Gebetund Gesangbuch, Stuttgart 1975, Nr. 54–67. 32 Gegen jeden Vorwurf göttlicher Willkür in der Aufstellung seiner Gebote und Weisungen gilt es, hier eine strikte wechselseitige Inklusion festzuhalten: Nicht nur jede menschliche Schuld ist Sünde vor Gott. Es kann auch nichts Sünde sein, was nicht auch nach ethischen Maßstäben unter der Voraussetzung, dass da ein Gott sei, Schuld wäre. Gott kann nicht zur Sünde erklären, was menschlicher Einsicht nicht als Schuld zugänglich ist. 33 So eine Formulierung des allgemeinen Schuldbekenntnisses, das in dieser oder einer ähnlichen Form am Beginn jeder Messfeier steht: Gotteslob, Nr. 353,4.
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Im Anschluss an die Gewissenserforschung gilt es „Reue zu erwecken“. Der Blick auf die Menschen, die unter meinen Fehlern zu leiden hatten und haben, auf Schäden, die ich an der Natur, an Dingen anrichtete, soll und darf nicht nur der analysierende Blick ethischer Reflexion sein. Sich von den selbst verschuldeten Schäden berühren zu lassen, heißt, selbst bereit zu sein, daran zu leiden, ihr NichtGeschehensein zu wünschen – so vergeblich dieser Wunsch auch ist. Da in der christlichen Frömmigkeitstradition der gekreuzigte Jesus oft als Symbol aller von der Schuld anderer getroffenen Menschen angeschaut wird, empfiehlt die klassische Bußliteratur nicht selten die Betrachtung des Kreuzes als Weg in den 34 Schmerz über die eigene Schuld. Wie entscheidend die Reue ist, lässt sich leicht an den medialen Inszenierungen erkennen, die heute gern als „Beichte“, gar „Lebensbeichte“ etikettiert werden. Wie oft sind die so genannten Bekenntnisse der eigenen Skrupellosigkeit, des Drogenmissbrauchs, der Beziehungskriege eine selbstgefällige, ja stolze Inszenierung der eigenen Außergewöhnlichkeit, die nach Bewunderung heischt. Die Absicht, sich zu ändern, ist dabei allenfalls am Rande zu erkennen. Genau das aber ist die nächste Forderung christlicher Versöhnungspraxis: Der Vorsatz, sich zu ändern, zu bessern. Die zahlreichen Hilfen zur Beichtvorbereitung sind dabei von einer bemerkenswerten Klugheit geprägt: Es wird ausdrücklich vor dem Vorsatz gewarnt, von jetzt auf gleich ein neues Leben zu beginnen. Denn solche Vorsätze scheitern in der Regel an der Realität menschlichen Lebens, an der Macht der Gewohnheit. Geraten wird, sich möglichst konkrete, im Alltag realisierbare Schritte einer Veränderung vorzunehmen. Sie können behutsam, aber nachhaltig die Lebensgestalt eines Menschen verändern. Durch diese Schritte vorbereitet, sieht der Ritus der Versöhnung den Menschen fähig, zu seiner Schuld auch vor anderen zu stehen. Vor anderen, das heißt im Ritus: vor dem Priester, der als Vertreter der Kirche auf Gottes Gegenwart verweist. Das Bekenntnis der Schuld. Sören Kierkegaard hat immer wieder herausgestellt, dass genau hier die eigentliche Zumutung der christlichen Verkündigung liegt: Ihr Kern – die Befreiung von Schuld – ist nur dem zugänglich, der bereit ist, 35 sich dazu zu bekennen, dass er auf Vergebung angewiesen ist. Zu diesem Bekenntnis gehören Mut und Demut, zwei Haltungen, ohne die nicht nur der Glaube, sondern auch ein menschliches Leben unmöglich ist. Wer diesen Weg gegangen ist, für den wird das eigentliche Versöhnungssakrament ein befreiendes Geschehen sein. Dieses besteht in der ausdrücklichen Zusage der Vergebung im Namen Gottes. Diese Zusage setzt voraus, dass die Schuld als Schuld, die Sünde als Sünde erkannt, anerkannt und ernst genommen 34 In dieser Tradition stehen die berühmten Zeilen aus Paul Gerhardts Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“: „Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last; ich, ich hab es verschuldet, was du getragen hast.“ (Gotteslob, Nr. 179,3). 35 Vgl. Kierkegaard, Sören, Philosophische Brocken, in: ders., Gesammelte Werke, Hirsch, E. und Gerdes, H. (Hrsg.), 10. Abt., 46–51.
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wird. Sie ist weit davon entfernt, das Geschehene zu verharmlosen – oder zu dramatisieren! – und wird nur so dem Bekenntnis des Schuldigen gerecht, das sie 36 andernfalls nivellieren würde. Wer seine Schuld ausgesprochen hat, wird nun von 37 ihr losgesprochen. Nur wer ermessen hat, worin seine Schuld liegt und wie sehr ihn gefangen hält, was er getan hat, vermag zu erkennen, welchen Wert diese Zusage hat – und welche Freiheit sie ihm eröffnet. Nicht mehr festgenagelt zu sein auf die Vergangenheit – das bedeutet: nach vorn schauen und gehen zu können; die gefassten Vorsätze umsetzen zu können, ohne vom Grübeln über das Vergangene gefesselt zu bleiben. Unter dieser Voraussetzung steht schließlich, was die traditionelle Sprache die „Werke der Buße“ nennt. Hier – und erst hier – gewinnen jene Aspekte der Strafe Bedeutung für die Versöhnung, die oben als wichtig charakterisiert wurden. Wer die Vergebung empfangen hat, kann, soweit es in seiner Macht steht, den von ihm verursachten Schaden abzugelten suchen. Wiedergutmachung, Entschädigung – sie sind notwendig, damit die Folgen früherer Schuld nicht weiter ihr Unwesen treiben im Verhältnis der Menschen untereinander, in ihrem Verhältnis zu Gott. Dabei geht es um „Wiederherstellung von Ordnung“, von der schon ausführlich die Rede war. In traditioneller Sprache lässt sich die hier geforderte Haltung und Handlung auch als Sühne bezeichnen: Als Bereitschaft, die Folgen der eigenen Schuld zu tragen. Zu dieser Buße wird es ebenso gehören, den Schmerz über das anzunehmen und auszuhalten, was sich für Menschen nicht mehr gutmachen lässt. Der Schmerz muss aber nach zugesprochener und im Glauben angenommener Vergebung nicht mehr die Form des Gewissensbisses haben – sondern der Losgesprochene hat die Freiheit, bei und mit denen zu sein, die unter dem Geschehenen leiden. 2.3
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„Wem ihr die Vergebung verweigert…“
Ein letzter Aspekt des christlichen Verständnisses von Schuld und Vergebung bedarf noch der Erwähnung, ja Betonung: Es wurde bereits angedeutet, dass das Sakrament der Versöhnung kein Geschehen allein zwischen dem Schuldigen und Gott sein kann, ja sein darf. Diese Regel rückt erst in letzter Zeit wieder stärker ins Bewusstsein christlicher Theologie und Frömmigkeit. In der jüdischen Tradition des Versöhnungstages, des Jom Kippur, war dies stets bewusst: Gott kann dem Menschen vergeben, was er Gott angetan hat. Unerträglich dagegen ist der jüdischen Tradition die Vorstellung, dass Gott einem Schuldigen seine Schuld vergibt, ohne auf die Menschen zu achten, die unter dem Bösen, das geschah, gelitten haben und vielleicht immer noch leiden. Eine solche Kumpanei zwischen Gott 36 Vgl. Werbick, Jürgen, Schulderfahrung und Bußsakrament, Mainz 1985, 147–154. 37 Werbick, a.a.O. 154–162, nennt die Beichte treffend ein „Brüderliches Gericht als lösendes Gespräch“. 38 Johannes 20,23b.
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und dem Täter würde die Opfer erneut zu Opfern machen. In bemerkenswerter Parallelität zu diesem Gedanken legt das Johannesevangelium dem auferstandenen Jesus die Worte in den Mund: „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie 40 vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert.“ Was schnell 41 als Vollmacht und Freibrief für die Kirche oder ihre Amtsträger gedeutet wird, gewinnt vor dem Hintergrund eines ernsthaften Nachdenkens über die Schuld zwischen Menschen eine ganz andere Bedeutung: Es ist ein unerhörter, aber wohl unausweichlicher Gedanke, dass der Schuldige erst dann wirklich frei ist, wenn 42 auch die, die er schädigte, ihm vergeben haben. Christliche Hoffnung baut darauf, dass es Gott gelingt, die Geschädigten, die Opfer zu dieser Vergebung zu bewegen – die von diesen nur in Freiheit geschenkt werden kann. Diese Hoffnung übersteigt die Grenzen menschlichen Vermögens und ebenso die Grenzen des Todes: Denn sonst gäbe es keine Hoffnung für den, der am Tod von Menschen schuld ist. Wieder sind Mut und Demut gefragt, wenn man in dieser Weise hoffen will, dass es das einmal geben wird: Die umfassende gegenseitige Anerkennung von Freiheit, die nicht mehr schuldig wird und vergangene Schuld vergangen sein 43 lässt.
39 „Dabei ist zu beachten, dass die rabbinische Ausgestaltung des Versöhnungstages nicht verabsäumt hat, die Versöhnung des Menschen mit Gott abhängig zu machen von der Versöhnung zwischen Mensch und Mensch.“ So Cohen, Hermann, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 21966, 257, um dann ein Zitat aus dem babylonischen Talmud, Joma 85b, anzufügen: „Der Versöhnungstag versöhnt nur in Bezug auf die Vergehen zwischen Gott und Mensch; diejenigen aber zwischen Mensch und Mensch sühnt der Versöhnungstag nur, bis der Mensch seinen Mitmenschen befriedigt hat.“ 40 Johannes 20,23. 41 So etwa, m.E. zu kurz greifend, Schnackenburg, Rudolf, Das Johannesevangelium, 3. Teil, in: Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament IV/3, 387–390, der auf die fragliche Vollmacht, Vergebung auch zu verweigern in seiner theologischen Deutung nicht eingeht. 42 So spricht Kierkegaard, Sören, Stadien auf des Lebens Weg, in: ders., Gesammelte Werke, Hirsch, E. und Gerdes, H. (Hrsg.), 15. Abt., 405, von der Vergebung der Geschädigten als einer „Zwischeninstanz, die nicht übergangen werden darf“ – auch nicht von Gott. Sie „gehört mit in den von Gott verordneten Gang der Dinge“. Vgl. dazu auch Striet, Magnus, Versuch über die Auflehnung. Philosophisch-theologische Überlegungen zur Theodizeefrage, in: Wagner, Harald (Hrsg.): Mit Gott streiten. Neue Zugänge zum Theodizee-Problem. Freiburg u.a. 1998, 73–79. Striet wagt hier, 74 f., den Gedanken, dass es für die Opfer eine ethische Pflicht zur Vergebung geben könne, weil nur die Vergebung angemessener Ausdruck jener in der Freiheit liegenden Verpflichtung zur unbedingten Anerkennung fremder Freiheit sei. Auch wenn dieses Argument Gewicht hat, muss es energisch davor geschützt werden, in einen Anspruch des Täters an das Opfer gewendet zu werden. 43 Balthasar spricht, diesen Gedanken entfaltend, von einer christlichen „Pflicht, für alle zu hoffen“ (Balthasar, Hans Urs von, Kleiner Diskurs über die Hölle, Ostfildern o.J., 82).
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3.
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Eine Kultur der Vergebung: Übersetzbarkeit?
Es steht für mich außer Frage, dass die so verstandene christliche Tradition im Umgang mit Schuld, dass die angedeutete Form christlicher Hoffnung für die Menschen, die glauben können und wollen, eine große Hilfe ist, ihr Leben menschlich zu leben. Doch was hilft die hier zum Ausdruck kommende Weisheit des Glaubens denen, die nicht zu glauben vermögen? Lässt sich, um mit Jürgen Habermas zu sprechen, dieses religiöse Bedeutungspotential in einen säkularen Kontext über44 setzen? Die Frage ist für Habermas von erheblicher Bedeutung, denn „als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren. […] Die verlorene Hoffnung 45 auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere.“ Diese Frage ist unter den Bedingungen von religiös pluralen Gesellschaften, die nicht zuletzt „religiös Unmusikalische“ (M. Weber) unter ihren Mitgliedern wissen, mit einer zweiten eng verbunden: Lässt sich, was im Vorangegangenen vor allem für den Prozess gesagt wurde, in dem der Einzelne Vergebung empfängt, ebenso auf Gruppen sowie Gesellschaften übertragen und so übersetzen, dass es für den Umgang einer 46 Gesellschaft mit der in ihrer Mitte verübten Schuld hilfreich sein kann? Für eine solche Übersetzung in eine säkulare Öffentlichkeit bestehen Chancen – aber auch Grenzen. Es bedarf nicht notwendig Gottes, um der Logik einer gnadenlosen Strafgerechtigkeit zu wehren. Ihre Menschlichkeit sollte und kann Menschen befähigen, Vergebung zu schenken; sie können darauf verzichten, Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Es ist möglich, dass Menschen darauf verzichten, die Schuldigen auf Dauer mit ihrer Schuld zu identifizieren; sie vermögen in ihnen die Menschen zu sehen, die Würde haben und Achtung verdienen, gleichgültig, was sie getan haben. Wo dies mit dem nötigen Ernst geschieht, besteht nicht die Gefahr, Schuld zu nivellieren oder angesichts ihrer in Gleichgültigkeit zu verfallen. Ganz im Gegenteil: Wenn im Akt der Vergebung die Schuld, die vergeben wird, beim Namen und als Schuld benannt wird, entsteht gerade so ein öffentlicher Raum, in dem statt Verdrängung und Verleugnung die sensible und ernsthafte Prüfung individuellen wie gesellschaftlichen Handelns möglich wird. Sicher wäre es gut und möglich, Riten zu entwickeln, die der Vergebung eine Form geben, und diesen Riten einen sichtbaren Platz einzuräumen. In diesen Riten wäre dafür Sorge zu tragen, dass in ihr die Geschädigten eine Rolle be44 Vgl. Habermas, Jürgen, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt 2005, 115 f. 45 Vgl. Habermas, Jürgen, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt 2001, 24 f. 46 Mit dieser Frage soll nicht die Differenzierung rückgängig gemacht werden, die Jaspers, Karl, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, sehr hellsichtig getroffen hat. Zu seiner Unterscheidung zwischen der strafrechtlichen, moralischen, metaphysischen und politischen Schuld vgl. den Beitrag von Joachim Gauck in diesem Band.
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kommen, in der sie nicht erneut zu Opfern werden – an ihnen ist es ja, Vergebung zuzusprechen; und es wäre sicherzustellen, dass die Schuldigen ihrer unverlierbaren Würde nicht beraubt werden. Doch nicht nur den Raum für gewissenhafte Prüfung, Bekenntnis und Vergebung gilt es zu öffnen. Die christliche Tradition erinnert an weitergehende Notwendigkeiten: Die Schuldigen dürfen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden, wo immer möglich Entschädigung und Wiedergutmachung zu leisten. Es ist nicht tragbar, wenn sie von den Folgen ihrer schuldhaften Taten weiterhin gut leben – besser leben als ihre Opfer. Der Schmerz über ihr Tun und seine Folgen, die sich nicht aufzuheben vermögen, kann und darf ihnen nicht erspart werden. Sicher wird es Situationen geben, in denen es ein wichtiges Symbol ist, wenn ihnen selbst Eigentum und Freiheit in begrenztem Maße genommen werden, um einen Ausgleich zu erwirken, der für die gesellschaftliche Ordnung unverzichtbar ist. Wie wichtig all diese Elemente sind, zeigt das konkrete Beispiel Südafrikas. Besinnung, Bekenntnis und Vergebung waren die Schritte, zu denen die Wahrheitskommissionen befähigten und ermutigten. Es kam im Verlauf dieses Verfahrens fraglos zu eindrücklichen und wichtigen Versöhnungen und Befreiungserlebnissen. Doch heute, fast zwanzig Jahre später zeigen neue Verwerfungen die Folgen des damaligen Verzichts darauf, die Täter auf Wiedergutmachung zu verpflichten. Es wurde ihnen nicht abverlangt, die Folgen ihrer Taten zum Beispiel dadurch zu sühnen, dass man ihnen zumindest einen Teil ihres Reichtums und ihrer Privilegien nahm. Es mag sein, dass dies unter den damaligen Umständen nicht möglich war – doch es ist bezeichnend, dass diese Grenzen des Möglichen heute ihre nega47 tiven Konsequenzen zeitigen. All diese Hinweise beschränken sich darauf, die in der christlichen Tradition entwickelte „menschliche“ Weisheit im Umgang mit Schuld für eine säkulare Gesellschaft fruchtbar zu machen. Doch was ist mit dem Rahmen und der Voraussetzung, in dem und unter der sich diese christliche Weisheit entwickelt hat? Was ist mit dem Glauben an Gottes unbedingte und zuvorkommende Vergebungsbereitschaft? Was ist mit seiner Macht, auch jenseits des Todes Möglichkeiten zur Versöhnung mit ihm und unter 48 den Menschen zu schaffen? Keine dieser Voraussetzungen ist zugänglich für Menschen, die an sie und den sie verbürgenden Gott nicht zu glauben vermögen, die allenfalls noch um ihre „verlorene Hoffnung auf Resurrektion“ wissen. Ihnen gegenüber haben Christen
47 Vgl. dazu weit ausführlicher die Beiträge von Thomas Hoppe und Ralf Wüstenberg in diesem Band. 48 Auf diese Grenze jeder weltimmanenten Hoffnung auf Fortschritt, auch jeder Ausrichtung auf eine ideale Diskursgemeinschaft hat vor allem Helmut Peukert immer wieder aufmerksam gemacht und eine „anamnetische Solidarität“ mit den Opfern in der Geschichte der Menschheit eingefordert. Vgl. Peukert, Helmut, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie, Frankfurt 21988, 337–346.
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die Pflicht von ihrer Hoffnung eine Rechenschaft zu geben, die in der heutigen Zeit und angesichts der in ihr drängenden Fragen verständlich und belastbar ist. So mag es gelingen, manches Hindernis auf dem Weg in diese Hoffnung zu beseitigen. Doch den Horizont des christlichen Glaubens in den Maßstab der Hoffnungen zu „übersetzen“, die ja auch nicht Glaubende zweifellos hegen, ist nicht mög49 lich, ohne ihn durch diese Verengung zu verlieren. Doch welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Grenze der Übersetzbarkeit? Es mag sein, und die Lichtseiten der Christentumsgeschichte sprechen dafür, dass Christen aufgrund ihres Glaubens in einer besonderen Weise fähig und frei sind, selbstlos zu handeln, die Würde im Antlitz jedes ihnen begegnenden Menschen zu sehen, gnädig zu sein, Vergebung zu schenken. Dass Christen immer oder je ohne mühevolle Einübung eine solche Haltung gezeigt hätten und zeigen würden, wird niemand zu behaupten wagen. Ebenso gibt es keinen Grund, den Nichtglaubenden Güte, Gnade und Vergebungsbereitschaft von vornherein abzusprechen. Viele unter 50 ihnen sind bereit, „wider alle Hoffnung zu hoffen“ , dass der gewaltsame Kreislauf von Schuld und Strafe sich durchbrechen lässt. Sie werden diese Hoffnung in ihren Utopien hegen, an den Grenzen ihrer Realisierbarkeit leiden – sie aber eben auch im konkreten Engagement für die schuldig Gewordenen einsetzen. Damit sind sie den Christen wieder sehr nah: Es ist bezeichnend, dass diese im „Vater unser“ beten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Eine beeindruckende Selbstverpflichtung, mit den eigenen Möglichkeiten den Anfang zu machen. Dieser Anfang, eine Kultur der Vergebung aufzubauen, tut not. In einer Zeit und in Gesellschaften, in denen die Todesstrafe immer noch für viele als ein probates Ordnungsmittel erscheint, in denen eine gnadenlose Strafgerechtigkeit und eine Schuld verdrängende Spaßgesellschaft Hand in Hand gehen, bedarf es dringend der Alternativen.
49 Thomas Luckmann unterscheidet in seinen religionssoziologischen Untersuchungen zwischen kleinen, mittleren und großen Transzendenzen. Während er mit letzteren die klassischen religiösen Traditionen meint, die auf eine welt- und geschichtsjenseitige Wirklichkeit Gottes bauen, benennt er als kleine Transzendenzen jedes Übersteigen des je zeitlich und räumlich begrenzten Hier und Jetzt in einer Hoffnung, die sich auf faktisch Erreichbares richtet. Zwischen diesen beiden Formen der Hoffnung liegt die mittlere Transzendenz, die sich auf innerweltliche, dem einzelnen Subjekt aber prinzipiell unzugängliche Wirklichkeiten ausrichtet – wie die ferne Zukunft oder Vergangenheit, das interne Selbst- und Weltverständnis anderer Menschen und so fort. Luckmann konstatiert, dass sich in der Gegenwart die Hoffnungen der Menschen mehr und mehr in Richtung der mittleren und kleinen Transzendenzen verschieben, benennt diese Verschiebung aber als „religiöse Transformation“, d.h. auch die begrenzteren Transzendenzen als religiös. Dass diese Transformation mit erheblichen Bedeutungs- und Inhaltsverlusten einhergeht, wird von ihm nicht weiter problematisiert. Vgl. Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991, Nachtrag zur Erstauflage von 1967, 164–183. Zur theologischen Auseinandersetzung mit der Übersetzungsforderung von Habermas vgl. die Beiträge in Langthaler, Rudolf, und Nagl-Docekal, Herta (Hrsg.), Glauben und Wissen. Ein Symposion mit Jürgen Habermas, Wien 2007, und Walter, Peter (Hrsg.), Gottesrede in postsäkularer Kultur, Freiburg u.a. 2007. 50 Vgl. Römerbrief 4,18.
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Gibt es eine Politik der Versöhnung? Theologische Anmerkungen zu den Aufarbeitungsanstrengungen in Südafrika und Deutschland Ralf Karolus Wüstenberg Gibt es eine „Politik der Versöhnung“? In dieser Frage gingen und gehen die Ansichten in der politischen Debatte auseinander. Der anglikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu forderte in die Situation des gesellschaft1 lichen Aufbruchs in Südafrika hinein: „Ohne Vergebung gibt es keine Zukunft.“ Der ehemalige sächsische Justizminister Steffen Heitmann soll geäußert haben: „Für den gesellschaftlichen Integrationsprozess, den wir in Deutschland brauchen, 2 ist der Begriff der Versöhnung nicht brauchbar.“ Um in der Leitfrage nach einer „Politik der Versöhnung“ weiterzukommen, bedarf es der genaueren Betrachtung der Erscheinungsformen politischer Versöhnung. Dazu sollen im Folgenden die Beispiele der politischen Umbrüche in Südafrika nach dem Ende der Apartheid und in Deutschland nach dem Ende der SED3 Diktatur herangezogen werden. Auf den Kausalzusammenhang zwischen dem Fall der Mauer und dem Ende der Apartheid hatte der Ex-Präsident Frederik de Klerk bereits in seiner Rede vom 2. Februar 1990 hingewiesen, in der er die Freilassung Nelson Mandelas ankündigte: Es sei fortan nicht mehr in gleicher Weise 4 wie zuvor notwendig, sich vor dem Kommunismus zu schützen.
1.
Erscheinungsformen politischer Versöhnung – Die Diskussion von Handlungsoptionen im Kontext Südafrika und Deutschland
Eine Analyse der Erscheinungsformen politischer Versöhnung führt zunächst zu der Frage nach den Ausgangsbedingungen für den Umgang mit Schuld in den
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Zit. n. Wüstenberg, Ralf K. (Hrsg.), Wahrheit, Recht und Versöhnung. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Frankfurt/M. et al. 1998, 5. Zit. n. Weizsäcker, Richard v., Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1999, 410. Vgl. hierzu ausführlicher mein Buch Wüstenberg, Ralf K., Aufarbeitung oder Versöhnung? Ein Vergleich der Vergangenheitspolitik in Deutschland und Südafrika, Internationale Probleme und Perspektiven, Bd. 18, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 2008. Vgl. Debates of Parliament (Hansard), Friday 2nd February 1990 (Joint Sitting), Spalten 1–18.
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beiden Kontexten. Vom Charakter des Systemwechsels hängen nämlich die Rationalitätskriterien für den Umgang mit der Vergangenheit ab. In Anlehnung an globale Transformationsprozesse kann man drei Grundformen des Systemwechsels unterscheiden, nämlich Umsturz, Reform und politischer Kompromiss („o5 verthrow, reform, compromise“ ). Diese Grundtypen treten in realen politischen Prozessen in der Regel in Mischformen auf. Der südafrikanische Übergangsprozess, gekennzeichnet von symmetrischen Machtverhältnissen, lässt sich, wie im Einzelnen noch zu zeigen ist, am ehesten in die Kategorie politischer Kompromiss („compromise“) einordnen. Der deutsche Transformationsprozess, gekennzeichnet durch asymmetrische Machtverhältnisse, würde sich im Spiegel internationaler Systemwechsel am ehesten in die Kategorie Umsturz („overthrow“) einordnen 6 lassen, da sich das SED-Regime „bis zuletzt jeder Reform widersetzt“ hat. Die Weichen für den Umgang mit der Vergangenheit stellen sich in Südafrika im Unterschied zu Deutschland langsam. Die entscheidenden Ereignisse fallen in den Zeitraum zwischen der Freilassung Nelson Mandelas am 11. Februar 1990 und seiner Vereidigung als erster Präsident eines demokratischen Südafrika am 10. Mai 1994. In dem mehrjährigen Prozess werden Schritt für Schritt der alten Regierung Zugeständnisse abgerungen, die im Herbst 1993 in die erfolgreiche Aushandlung einer Übergangsverfassung münden und im Frühjahr 1994 die ersten freien Wahlen am Kap ermöglichen. Im Vergleich zu Südafrika werden die Weichen in Deutschland rasch gestellt. Mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 ist der weitere Weg vorgezeichnet: – Strafverfolgung der DDR-Regierungskriminalität; – Regelung für die Stasiakten; – Wiedergutmachung für die Opfer, sowie – Überprüfungen bei der Übernahme in den öffentlichen Dienst. In dem Katalog an Weichenstellungen spiegeln sich viele der prinzipiellen Handlungsoptionen, die einem Land beim Übergang zur Demokratie zur Verfügung stehen. Ergebnis des Rechts- und Politikwissenschaft übergreifenden international 7 geführten Transformationsdiskurses ist die Systematisierung von fünf Handlungsoptionen:
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Kritz, N. (ed.), Transitional Justice. How emerging democracies reckon with former regimes, Vol. I General Considerations, Washington 1995, 112. Wollmann, H., Der Systemwechsel in Ostdeutschland, Ungarn, Polen und Russland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5 (1997), 3. Vgl. zum international Diskurs: Kritz, N., Transitional Justice. How emerging democracies reckon with former regimes, Vol. I General Considerations, Washington 1995; Huntington, S. P., The Third Wave. Democratization in the late twentieth century, Oklahoma 1991; Werle, G., Ohne Wahrheit keine Versöhnung! Der südafrikanische Rechtsstaat und die ApartheidVergangenheit, in: Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität, Nr. 60, Berlin 1995; zum deutschen Diskurs: Steinbach, P., Vergangenheitsbewältigung in vergleichender Perspektive, Berlin 1993; Offe, C., Rechtswege der ,Vergangenheitspolitik’: Disqualifizierung, Bestrafung, Restitution, in: Offe, C., Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation
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Option 1: Die Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen; Option 2: Das Gegenteil: Nichtstun. Sei es in der Form der Generalamnestie oder einfach des „Ruhenlassens“; Option 3: Die Aufklärung vergangenen Unrechts, z.B. durch so genannte Wahrheitskommissionen; Option 4: Die Wiedergutmachung für die Opfer, z.B. Rückgabe von Land, materielle Entschädigung, juristische und moralische Rehabilitierung; Option 5: Die Sanktionen außerhalb des Strafrechts, z.B. Säuberung des öffentlichen Dienstes, einschließlich Polizei und Militär, von belasteten Mitarbeitern. Die fünf Optionen geben für eine rechtsethische Analyse den adäquaten Rahmen vor, in dem die Ausgangsbedingungen im südafrikanischen wie deutschen Vor8 gang untersucht werden können. Der Vergleich drängt in analytischer Hinsicht Fragen auf: Warum entscheidet sich Südafrika für eine Amnestieregelung, während in Deutschland schwere Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich verfolgt werden? Wie kommt es, dass beide Länder eine Aufklärung über vergangene Verbrechen fordern? Welche Möglichkeiten der Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht gibt es? Was sind die Bedingungen für den unterschiedlichen Umgang mit belasteten Mitarbeitern in beiden Kontexten? 1.1
Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen (Option 1):
Für jede Handlungsoption sprechen bestimmte Argumente, die hinter der Debatte in den Kontexten wirksam sind. Für die Strafverfolgung werden in der Literatur u. 9 a. folgende Argumente geltend gemacht: – Wahrheit und Gerechtigkeit fordern die Strafverfolgung. Das neue Regime schuldet dies den Opfern und deren Familien; – Strafverfolgung ist notwendig, um die Überlegenheit der demokratischen Normen und Werte zu demonstrieren. Auf diese Weise wird das Vertrauen in die Justiz wiederhergestellt; eine Strafverfolgung der Verbrechen ist notwendig, damit Menschenrechtsverletzungen überhaupt als kriminelle Taten angesehen werden. Die Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen scheidet in Südafrika aus drei Gründen aus: Zunächst ist sie mit dem Charakter des Systemwechsels unvereinbar. Es hat einen verhandelten Übergang gegeben – ohne Sieger. Zweitens wäre zu fragen, was die Durchsetzung des Strafrechts für die südafrikanische Justiz bedeutet hätte. In vielen Fällen wäre es gar nicht zu Anklagen gekommen.
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im neuen Osten, Frankfurt/M. 1994, 187 ff.; Bock, P., und Wolfrum, E., Umkämpfte Vergangenheit, Göttingen 1999, 82 ff. Vgl. methodisch Haupt, G., und Kocka, J., Geschichte und Vergleich, Frankfurt/M. 1996, 25. Vgl. hierzu vor allem N. Kritz, a.a.O. und S. P. Huntington, a.a.O.
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Allein im Zeitraum zwischen 1990 und 1994 sind über einhunderttausend Akten vernichtet worden. Viele Straftaten würden ohnehin nicht vor Gericht kommen. Auch in Südafrika gilt der Grundsatz „nulla poena sine lege“. „Die systemimmanente Legalität des Apartheidstaates schließt trotz ihrer Menschenrechtswidrigkeit Be10 strafungen aus.“ Die strafrechtliche Ahndung der Menschenrechtsverletzungen hat schließlich weder dem politischen Willen der beteiligten Parteien, noch ihrer Hauptakteure F. de Klerk und N. Mandela entsprochen. Beide Verhandlungspartner, die NP und der ANC, waren in Menschenrechtsverletzungen verwickelt. Auch auf Seiten des ANC fehlt das Bewusstsein, dass die begangenen Handlungen kri11 minelle Taten waren. So werden die Probleme zusammenfassend kommentiert: „Und wenn wir den Tag abwarten wollten, bis alle Gerechtigkeit im juristischen 12 Sinne durchgesetzt ist, wird es zu spät sein für Versöhnung.“ Zugunsten von „national unity“ und „nation building“ werden in der südafrikanischen Transformationsphase die Weichen gegen eine Strafverfolgung gestellt. Südafrika möchte ein Denken überwinden, wonach Versöhnung erst möglich wird nach dem Bestrafen. Andererseits müssen Anforderungen noch definiert werden, die die gewünschte Versöhnung möglich machen. Im politischen Diskurs Südafrikas konnten sich bestimmte Argumente nicht durchsetzen, wie z.B., dass es die moralische Pflicht des neuen Regimes sei, die Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen einzuleiten. Im NachwendeDeutschland war das anders. Die strafrechtliche Verfolgung des DDR-Unrechts war nämlich mit dem Charakter des Systemwechsels vereinbar. Im Gegensatz zu Südafrika hat es keinen verhandelten Übergang gegeben, sondern einen „Umsturz.“ Auf die Belange des alten Regimes musste keine Rücksicht genommen werden. Die rechtlich geordnete Strafverfolgung trat unmittelbar nach der Wende 13 auf den Plan. Die Frage, ob verfolgt werden soll, ist als solche nicht Gegenstand eines eigenständigen Diskurses. Option 1 nimmt Bezug auf die Strafverfolgung 14 15 schwerer Menschenrechtsverletzungen. Der Kern der Rechtsprechung in den so
10 Werle, G., Ohne Wahrheit keine Versöhnung! Der südafrikanische Rechtsstaat und die Apartheid-Vergangenheit, Berlin 1995, 8. 11 Stattdessen wird versucht, die Menschenrechtsverletzungen des Widerstandes moralisch zu legitimieren. Schon quantitativ seien die Toten und Verletzten des Befreiungskampfes nicht mit der Zahl derer zu vergleichen, die bei der Verteidigung der Apartheid starben. 12 Zuerst kamen die Opfer, dann zögerlich die Täter. Ein Interview des Verfassers mit Beyers Naudé und Wolfram Kistner, in: Frankfurter Rundschau Nr. 40 (17.2.1997), 10. 13 „Schon am 21. November 1989 lagen dem Generalstaatsanwalt der DDR aus der Bevölkerung 170 Eingaben und Anzeigen vor. Sie betrafen hauptsächlich den Vorwurf, dass die komfortablen Bauten der Staats- und Parteispitze auf Kosten des Volkes errichtet worden seien.“ Marxen, K., und Werle, G., Die Strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Berlin 1999, 149. 14 Die Bilanz zur strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts von Marxen und Werle a.a.O. bietet eine Übersicht über die Erscheinungsformen des Unrechts und trägt dazu bei, Option 1 in unserem Diskussionszusammenhang zu lokalisieren: Nach Deliktsgruppen wird bei Marxen/Werle, a.a.O., 7 ff. unterschieden in „Gewalttaten an der deutsch-deutschen-Grenze, Wahlfäl-
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genannten Mauerschützenprozessen lief auf eine bestimmte Lesart des Einigungsvertrages hinaus: Das Recht der DDR wird dort beachtet, wo es nicht zu einem schwerwiegenden Verstoß gegen Menschenrechte führt: Tötung ist strafbar. In der deutschen Diskussion ist das Argument fest verankert: Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen ist notwendig, um die Überlegenheit der demokratischen Normen und Werte zu demonstrieren. Das andere Argument, dass im Sinne der Generalprävention der gesamten Bevölkerung gezeigt werden muss, dass Menschenrechtsverletzungen nicht länger geduldet werden, trägt insofern, als die Urteile Aufklärungsfunktion hatten: Im Bewusstsein der Menschen wird verankert, dass es zu diesen Menschenrechtsverletzungen kam und man nicht ohne Feststellung der Schuld über sie hinweg eine neue Gesellschaft aufbauen kann. Die Auffassung ist: Versöhnung kann nicht die Bestrafung ausklammern; vielmehr schafft die Strafverfolgung Voraussetzungen, die Versöhnung erst möglich machen. 1.2
Das Gegenteil von Strafverfolgung: Generalamnestie oder „Ruhen lassen“ (Option 2):
Aus der internationalen Transformationsliteratur wird für eine Amnestieregelung u. a. geltend gemacht: – Die Amnestie ist notwendig, um eine junge Demokratie auf eine solide Basis zu stellen. Die Konsolidierung der Demokratie hat Vorrang vor der Strafverfolgung Einzelner. – In den meisten Fällen sind sowohl die Herrschenden als auch die Opponierenden in Menschenrechtsverletzungen verwickelt: Daher bietet eine Generalamnestie die beste Grundlage beim Übergang zur Demokratie. – Die ehemaligen Herrscher sind meist nur dann bereit, ihre Macht abzugeben und freie Wahlen stattfinden zu lassen, wenn ihnen eine Amnestie zugesichert wird. 16 Der spätere südafrikanische Verfassungsrichter Albie Sachs erinnert sich an die politischen Positionen, die bei den entscheidenden Verhandlungen zur Übergangsverfassung im Herbst 1993 zur Diskussion standen: Generalamnestie auf Seiten der NP, verbunden mit der Überlegung: „The co-operation of the Defence Force and of the South African Police was necessary during the election. How could they be expected to co-operate, if they did not have the assurance that the new governschung, Rechtsbeugung, Denunziation, MfS-Straftaten, Mißhandlungen in Haftanstalten, Doping, Amtsmißbrauch und Korruption, Wirtschaftsstraftaten und Spionage“. 15 BGH, Urteil v. 3.11.1992 – Az. 5 StR 370/92, BGHSt 39, I ff. Das BGH-Urteil ist später durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform bestätigt worden. Vgl. BVerfG, Beschluß v. 24.10.1996 – Az. 2BvR 1851/94, 1853/94, 1875/94 und 1852/94, BVerfGe 95 f., 131ff. Auf die kontroverse Diskussion der juristischen Fachwelt wird an dieser Stelle nicht eingegangen. 16 Sachs, A., Comment on a first perusal of the bill setting up the Truth and Reconciliation Commission. Arbeitspapier, in: Wissenschaftliches Archiv der TRC, Dokument Nr. 112, Kapstadt 1994.
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ment would not prosecute them.“ Auf der anderen Seite stand die Ablehnung der Generalamnestie durch den ANC mit der Begründung: „An amnesty does not take account of the needs and the pain of the victims.“ Das Ergebnis der Verhandlungen war ein politischer Kompromiss, der seinen Ausdruck in der Amnestieklausel der Übergangsverfassung fand: „In order to advance reconciliation, amnesty shall be granted in respect of acts, omissions and offences associated with political objectives and committed in the course of the conflicts of the past. To this end, Parliament under this Constitution shall adopt a law providing for the mechanisms, criteria and procedures, through which such amnesty shall be dealt with at 17 any time after the law has been passed.“ Mit der Amnestieklausel sind die Weichen auf Amnestierung und Wahrheitsfindung gestellt; eine Generalamnestie, die mit der Amnesie verbunden ist, scheidet aus. Doch wie die Amnestiegesetzgebung ausgestaltet wird, konnte erst nach den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika im April 1994 bedacht werden. Der Charakter des Systemwechsels in Ostdeutschland, aber auch die weitere Entwicklung auf dem Weg zur staatlichen Einheit machten die politische Notwendigkeit von Option 2 nicht dringend: Es drohte kein Putsch; die ehemaligen Herrscher mussten nicht durch ein Amnestiegesetz dazu bewegt werden, ihre Macht abzugeben. Das Argument, dass die Amnestie notwendig sei, um eine junge Demokratie auf eine solide Basis zu stellen, trug in der Debatte nicht. Die Asymmetrie, die den Prozess der deutschen Einheit später kennzeichnete, trug dazu bei, dass die junge Demokratie Ostdeutschlands in die stabile Westdeutschlands einging, es faktisch nach der staatlichen Einheit gar keine instabile, „junge“ Demokratie im Sinne der globalen Transformationsforschung gab. 18 Eine Ausnahme bildet der Bereich der Spionage. Wäre es um der Aussöhnung der Deutschen willen nicht angebracht, Spionagestraftaten gegen die Bundesrepublik, die im buchstäblichen Sinne der Vergangenheit angehören, ruhen zu lassen oder zu amnestieren? Die Antwort hängt von der Beurteilung der Spionagetätigkeit ab. Während die Befürworter einer Amnestie für Spione argumentieren, dass jedes Land der Welt Nachrichtendienste unterhält, Spionage also immer gleich Spionage sei, fragen die Gegner: Ist die Spionageabteilung innerhalb des MfS (die HVA) tatsächlich von den anderen Machenschaften der Stasi zu trennen? Kommen bei der Spionage nicht auch schwere Menschenrechtsverletzungen vor, die man nicht ebenfalls ruhen lassen kann? „Nichtstun“ in der Form des Ruhenlassens wäre im deutschen Kontext möglich gewesen, wenn bei der Überleitung bundesdeutschen Rechts auf die Geltung im Beitrittsgebiet durch den EV die Paragra19 fen des Strafgesetzbuches, die die Ahndung der Spionagetätigkeit regeln , ausge17 Constitution of the Republic of South Africa, ACTNo. 200 (1993), Final Clause. 18 Zur Spionage als Erscheinungsform des DDR-Unrechts: Marxen/Werle, a.a.O., 128 ff. 19 § 93ff. StGB. Bei Marxen/Werle, a.a.O., 134–136 findet sich eine systematische Übersicht über alle relevanten juristischen Fachfragen zur Strafbarkeit der Spionage nach bundesdeutschem Recht, vor allem Fragen des materiellen Rechts (also was kann bestraft werden?), der Gerichtsver-
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nommen worden wären. Das ist aber nicht geschehen. Vielmehr setzte sich die Meinung durch: Amnestie fördert so wenig die Versöhnung wie Strafverfolgung sie hindert. Versöhnung und Amnestie müssen wie Moral und Recht auseinander gehalten werden. 1.3
Aufklärung vergangenen Unrechts (Option 3):
Folgende Argumente sprechen für die Aufklärung: – Weiten Teilen der Bevölkerung ist häufig das Ausmaß der vergangenen Verbrechen nicht bewusst. Ohne die Aufklärung vergangenen Unrechts werden innerhalb der Gesellschaft Geschichtsbilder aufrechterhalten, die die autoritäre Vergangenheit u. U. glorifizieren und damit die Ausbreitung demokratischer Orientierungen behindern. – Einzelne und Gruppen in der Gesellschaft tragen Mitschuld an den Verbrechen, die durch ein totalitäres System begangen wurden. Umfassende Aufklärung kann helfen, damit die Übernahme von Verantwortung auch in der breiten Gesellschaft eingeleitet wird. Aufarbeitung durch Aufklärung wird als Option häufig von Ländern in Betracht gezogen, deren Systemwechsel als politischer Kompromiss charakterisiert werden kann. Neben Südafrika sind bekannte Beispiele El Salvador, Nicaragua und Uruguay gewesen. Wenn schon keine Strafverfolgung durchsetzbar ist, soll zumindest die Wahrheit über die Verbrechen der Vergangenheit ans Licht kommen. „Truth is 21 what you offer when you can't offer justice“, kommentiert ein Beobachter. Aufklärung ist demnach der dritte Weg zwischen Strafverfolgung auf der einen und Vergessen der Vergangenheit auf der anderen Seite. Auf der Höhe der südafrikanischen Amnestiedebatte im Jahr 1992 wird zum ersten Mal die Idee der Installa22 tion einer Wahrheitskommission für Südafrika geäußert. Die Aufarbeitung der Vergangenheit mit der Bildung einer „Kommission“ zu verbinden, scheint aus pragmatischen Gründen nahe liegend: Eine Kommission schafft ein Forum für Versöhnung. Für die konzeptionelle Gestaltung der späteren Wahrheits- und Versöhnungskommission spielten die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine wichtige Rolle. Sie gestalteten den Rahmen, den die Politik nach den Wahlen vorgeben konnte. Das Ergebnis der südafrikanischen Diskussion um Option 3 lautet in den Worten des späteren Vizepräsidenten der TRC, Alex Bo-
fassung (wer ist zuständig?) und des Prozessrechts (wann und wer kann ein Spionagestrafverfahren einstellen?). 20 Art. 315 Abs. 4 EGStGB Ld.F. Art. 8 EV. 21 Mündliche Auskunft von Hamber, Brandon, Centre for the Study of Violence and Reconciliation, Johannesburg 1996. 22 Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report, Bd. I, Kapstadt 1998, 6.
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raine: „South Africa has decided to say no to amnesia and yes to remembrance; to 23 say no to full-scale prosecution and yes to forgiveness.“ Anders als in Südafrika wurde die Aufklärung der Verbrechen in Deutschland nicht zum Ersatz für die fehlende Strafverfolgung. Klaus Tanner formuliert den Kernsachverhalt: „Weniger ein Interesse an Bestrafung, als dieses Aufklärungsinteresse ist es, das viele Vertreter der Bürgerbewegung in der alten DDR an der 24 Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung festhalten lässt.“ Insofern bewahrheitet sich der Grundsatz: „Wahrheitskommissionen schließen […] eine strafrechtliche 25 Verfolgung nicht aus.“ Diese Grundlinie verzweigt sich nach der Wende in zwei Diskussionsstränge: Einerseits führt sie über den Beschluss des Zentralen Runden Tisches vom 7. Januar 1990, den Staatssicherheitsapparat unter ziviler Aufsicht aufzulösen, sowie die Vernichtung von Dokumenten zu stoppen, über das Volkskammergesetz vom 24. August 1990 zum Stasi Unterlagengesetz vom Dezember 1991 (StUG). Andererseits mündet sie in die einschlägigen Debatten um ein öffentliches Tribunal, die, in rechtsstaatliche Bahnen gelenkt, zur Einsetzung der Enquete-Kommission (EK) des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ im Jahr 1992 führen sollten. Hinter dem StUG steht die Auffassung: Versöhnung ist nur durch Wahrheit möglich. Erst wenn ich weiß, was gewesen ist, kann ich mit meiner Vergangenheit 26 abschließen. Die EK kombiniert Gedanken von historischer Aufklärung mit dem Anliegen nach einem moralischen Diskurs. Aufgabe der Kommission sei das „Bemühen, verletztem Rechtsempfinden durch Offenlegung des Unrechts und Benennung von Verantwortlichkeiten Genüge zu tun. Zugleich gilt es, einen Bei27 trag zur Versöhnung in der Gesellschaft zu leisten.“ „Versöhnung durch Wahrheit“ durchzieht als wiederkehrende Formel den deutschen wie südafrikanischen Diskussionsprozess um Option 3. 1.4
Wiedergutmachung für die Opfer (Option 4):
Für die Wiedergutmachung sprechen diese Argumente: – Die offizielle Anerkennung der Leiden der Opfer trägt dazu bei, ihre Würde wiederherzustellen. Die Entschädigung der Opfer ist grundlegend, damit sich aus ihrer Perspektive das Unrecht nicht fortsetzt.
23 24 25 26
Boraine, A., Truth and Reconciliation Commission. What about Justice?, Manuskript 1994, 4. Tanner, K., Amnestie Fragezeichen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 39 (1995), 172. Marxen/Werle: a.a.O., 256. Zweck des Gesetzes sei, „die Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf sein persönliches Schicksal aufklären“ § 1,1(1) StUG. 27 Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. I, 188.
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– Am Umgang mit den Opfern erweist sich die Legitimität einer jungen Demokratie. Eine Rehabilitierung, die das Ziel der Eingliederung in die neue Ordnung hat, fördert die Stabilität beim demokratischen Aufbruch. Wie kann das Unrecht von fünf Jahrhunderten Kolonialisierung und vier Jahrzehnten Apartheid wieder gutgemacht werden? Eine materielle Entschädigungsregelung scheidet in Südafrika aus; sie hätte nicht nur die Ressourcen des Landes überstiegen. Bei der Durchsetzung von Option 4 muss ebenso berücksichtigt werden, dass die Weichen in der Transformationsphase so gestellt worden sind, dass die Gesetzgebung der Apartheid nicht im Nachhinein für illegal erklärt werden 28 kann. Wie kann eine Wiedergutmachung unter diesen Bedingungen aussehen? Mit Hilfe folgender Überlegung: Wenn schon nicht Gerechtigkeit im Sinne der vollen materiellen Entschädigung zu erwarten ist, dann muss zumindest das Leiden der Opfer offiziell anerkannt werden. Die „Wahrheit“ wird gegenüber Option 3 um einen entscheidenden Gesichtspunkt erweitert: Es geht nicht um Tatsachenwahrheit (factual truth), sondern um Wahrheit als moralische Anerkennung des erlittenen Schicksals (truth as acknowledgement); es geht nicht mehr um die gerichtlich verwertbare Faktenwahrheit, sondern um die heilende Wahrheit. Die Weichen werden im südafrikanischen Prozess für die moralische Wiedergutmachung gestellt. Ganz anders verläuft der Prozess in Deutschland. Hier sind die Weichen mittels einer verzweigten Gesetzgebung auf die strafrechtliche, berufliche und verwaltungsrechtliche 29 Rehabilitierung gestellt worden. Außerdem ist mit der Formel „Rückgabe vor Entschädigung“ versucht worden, Unrecht „spiegelbildlich“ (R. Wassermann) wieder gut zu machen. 1.5
Sanktionen außerhalb des Strafrechts (Option 5):
Für die Wahl dieser Option sprechen folgende Argumente: – Ein Demokratisierungsprozess ist ohne Elitenwechsel nicht glaubwürdig durchführbar. – Demokratie achtet das Gesetz. Es muss deutlich werden, dass niemand über dem Gesetz steht, auch nicht hohe Beamte oder Militärs. – Sollte es der Polizei oder den Militärs gelingen, durch politischen Einfluss von Strafverfolgung frei zu sein, ist ein Land noch nicht in der Demokratie angekommen und muss weiter für die Durchsetzung der demokratischen Strukturen kämpfen. Mit dem Charakter des Systemwechsels verbindet sich in Südafrika die Kontinuität in Polizei und Militär. Wo Strafverfolgung nicht durchsetzbar ist, greifen auch die Sanktionen außerhalb des Strafrechts nicht. Gegen die Kontinuität steht das 28 So ergibt sich ein gesondertes Problem im Bezug auf die Frage der Rückgabe von Land. Zwangsumsiedlungen waren rechtmäßig. So musste ein Gesetz geschaffen werden, das die Restitutionsansprüche regelt; der sog. Land Rights Act tritt 1994 in Kraft. 29 Erstes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht vom 20.10.1992, BGBI. I, 1814; Zweites Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht vom 23.6.1994, BGBI. I, 1311.
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Interesse der Aufklärung, vor allem durch den Bevölkerungsteil, der Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen war. So wird Option 5 auch in Verbindung mit Option 3 (Aufklärung) erörtert. Wenn es schon keine berufliche Disqualifizierung von Mitarbeitern in Militär und Polizei geben wird, soll zumindest die Wahrheit über ihre Verwicklungen in Menschenrechtsverletzungen ans Licht kommen. Gerhard Werle urteilt zusammenfassend: „Und trotz ihrer revolutionären Substanz zwingt die Übergangsverfassung zur äußerlichen Kontinuität in Verwaltung, Poli30 zei und Militär.“ Für die Demokratisierung sind ebenfalls die Funktionäre der alten Ordnung zuständig, nach dem Motto: Versöhnung ermöglicht einen Neuanfang um jeden Preis. Im deutschen Transformationsvorgang konnte sich das Argument durchsetzen: Ein Demokratisierungsprozess ist ohne Elitenwechsel nicht glaubwürdig durchführbar. Die Auffassung ist: Neben der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen ist der Elitenwechsel der zweite Bereich, in dem öffentlich über Schuld geredet werden muss. Man kann weder über die Toten an der Mauer hinwegsehen, noch mit den Funktionären der alten Ordnung einen glaubhaften Neuanfang machen. Im Unterschied zu Südafrika soll ein umfassendes Versöhnungsangebot nicht allen Bevölkerungsschichten gleichzeitig gemacht werden. Schwere persönliche Schuld wird mit beruflicher Disqualifikation sanktioniert. Der spezifische Charakter des Transformationsvorgangs machte den Elitenwechsel in der zweiten Phase, also nach dem staatlichen Zusammenschluss möglich. Unbelastetes Personal stand zur Verfügung. Vorher war die rigide Handhabung von Option 5 auch im (ost-) deutschen Kontext nicht möglich. Noch im April 1990 erklärt de Maiziere gegenüber der Bundesregierung, „dass er die NVA nicht auflösen könne, weil die entlassenen Offiziere ein Sicherheitsrisiko bedeuten wür31 den.“ 1.6
Fazit der vergangenheitspolitischen Analyse
Die Diskussion der Optionen in den politischen Kontexten zeichnet exemplarisch die Bahnen der sog. Vergangenheitspolitik nach. Sichtbare Zeichen in der politischen Wirklichkeit sind die Institutionen, die sich als Ergebnis der Debatten herauskristallisieren. 32 Am Ende des südafrikanischen Diskurses steht 1995 die Einsetzung der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ (kurz: TRC). Die unterschiedlichen Handlungsoptionen, die hinter der südafrikanischen Debatte zwischen 1990 und 33 94 wirksam sind, gingen in die Arbeitsweise der Wahrheitskommission ein. Die 30 Werle, a.a.O., 8. 31 Zit. n. Teltschik, H., 329 Tage, Berlin 1991, 198. 32 Gesetzlich geregelt durch den Act No 34/95 „Promotion of National Unity and Reconciliation Act“. 33 Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report, Bd. I, Kapstadt 1998, 48ff.
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TRC, die nach den Wahlen vom südafrikanischen Parlament eingesetzt werden konnte, trug nicht nur zur Aufklärung des Apartheidunrechts bei (Option 3); sie konnte unter gesetzlich geregelten Voraussetzungen Straftäter amnestieren (Option 2), Entschädigungsvorschläge unterbreiten sowie durch Anhörung von Opfern zur moralischen Rehabilitierung beitragen (Option 4). Schließlich trägt die TRC dazu bei, dass nur temporal die Durchsetzung des Strafrechts außer Kraft gesetzt wird: Wo Täter keine Amnestieanträge einreichen oder sie durch die TRC abgelehnt werden, droht ihnen nach dem Ende der Kommissionsarbeit die strafrechtliche Verfolgung. Das Ende der deutschen Debatte führt zu mehreren Institutionen: – Die Staatsanwaltschaft 1 beim Landgericht Berlin, gemeinsam mit den anderen Staatsanwaltschaften der neuen Bundesländer zuständig für die Verfolgung der DDR-Regierungskriminalität (Option 1). – Die Enquete-Kommissionen zur DDR-Vergangenheit, von internationalen 34 35 Beobachtern als „Wahrheitskommission“ eingestuft. – Ihre Aufgabe bestand in der „politisch-historischen Analyse und politisch-moralischen Bewertung der SED-Diktatur“ (Option 3) sowie darin, durch öffentliche Anhörungen und gesetzesbegleitende Maßnahmen zur Rehabilitierung der Opfer beizutragen (Option 4). – Die Behörde der BStU, die nicht nur für die Aufklärung des persönlichen Schicksals Betroffener eine Rolle spielt (Option 3), sondern Weichen stellend für Rehabilitierungsvorgänge wirkt (Option 4), sowie entscheidendes Instrument bei der Durchsetzung von Sanktionen außerhalb des Strafrechts war (Option 5). 36 Anders als in Südafrika, wo unter dem Dach der TRC, um mit Karl Jaspers zu sprechen, nicht nur die kriminelle, sondern auch die politische, moralische und mithin die metaphysische Dimension der Schuld behandelt wurde, ist der Prozess in Deutschland weniger homogen. Der Staat sei „so modern und ausdifferenziert“, 37 kommentiert Joachim Gauck , „dass alles seinen Platz hat.“
2.
Theologische Anmerkungen zu den politischen Erscheinungsformen von Versöhnung
Die nachfolgenden theologischen Anmerkungen zu den politischen Erscheinungsformen verstehen sich als Überprüfung von inneren Verbindungen zwischen den analysierten Handlungsoptionen (und den dahinter stehenden moralischen Kate34 Hayner, P., Fifteen truth Commissions – 1974 to 1994: A comparative study, in: Human Rights Quaterly 16 (1994), 597 ff. 35 Zum Mandat: Materialien der Enquete-Kommission, a.a.O., Bd. I, 188 f. 36 Jaspers, Karl, Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, München 1996. 37 Zit. n. Wüstenberg, a.a.O., 117.
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gorien, wie Strafe oder Wahrheit) und Grundverständnissen eines christlichen 38 Versöhnungsbegriffs. Um die Anschlussfähigkeit der hinter den politischen Optionen diskutierten juristischen und moralischen Kategorien theologisch zu prüfen, bedarf es vorab einer einigermaßen konsistenten Theorie. Im Folgenden möchte ich mich auf Martin Luthers sog. „Zwei-Reiche-Lehre“ beschränken. Luthers E39 thik gelingt es mit Hilfe einer durch Unterscheidungen geprägten Herangehensweise, sowohl dem Bereich der Politik eine gewisse Autonomie und Eigenständigkeit zu gewährleisten als auch die theologische Perspektive auf politische Vorgänge zu ermöglichen. In lutherischer Perspektive muss nicht alles politische Handeln notwendig letztbegründet werden, sondern darf und soll in seiner relativen Eigenständigkeit und Autonomie bewahrt bleiben. Anderseits kann nach Verweisen, indirekten Verbindungen zwischen der politischen Wirklichkeit und den sie tragenden Verweisungszusammenhängen gefragt werden. Der Grundgedanke seiner viel gescholtenen, aber häufig missverstandenen sog. „Zwei-Reiche-Lehre“ ist dieser: Es muss unterschieden werden zwischen dem, was der Erlösung der Welt, und dem, was ihrer Erhaltung dient. Diese Unterscheidung besagt, dass Gott einerseits (bildlich gesprochen: mit seiner rechten Hand) durch Wort, Sakrament und seinen Geist zum Heil an der Welt wirkt, andererseits (wiederum im Bild gesprochen: mit seiner linken Hand) durch staatliche Gewalt und Gesetze die Welt erhält und vor der Übermacht des Bösen bewahrt. Die beiden Regierweisen sind also sowohl durch ihre Ziele als auch durch ihre Mittel grundsätzlich voneinander unterschieden. Heil bzw. Erlösung ist das Ziel auf der einen Seite, Erhaltung bzw. Bewahrung das Ziel auf der anderen. Als Mittel gebraucht Gott Wort, Sakrament und Geist in seiner geistlichen Regierweise, sowie Gesetz und Gewalt in der weltlichen Regierweise. Luther hat die Unterschiedenheit dieser beiden Regierweisen immer wieder mit Nachdruck eingeschärft, weil er unter allen Umständen vermeiden und verhindern wollte, dass in Fragen des Glaubens Gewalt ausgeübt oder in politischen Fragen der Welterhaltung auf Androhung und Ausübung von Gewalt und Strafe verzichtet wird. An dieser Stelle nicht eingegangen werden kann auf das Problem, dass die Unterscheidung der beiden Reiche oder Regimente sowohl im ausgehenden 19. Jahrhundert als auch in der Zeit des „Dritten Reiches“ immer wieder so missverstanden werden konnte, als gebe es eine Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit der weltlichen Regierweise Gott gegenüber. Dem muss im Namen der Unterscheidung Luthers zwischen den beiden Regierweisen Gottes nachdrücklich widersprochen 38 Vgl. hierzu ausführlich meine Untersuchung Wüstenberg, R. K., Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemwechseln in Südafrika und Deutschland, in: Öffentliche Theologie Bd. 18, Gütersloh 2004 (engl. Grand Rapids/Cambridge 2009). 39 Aus der Fülle an Literatur möchte ich auf die knappe Einführung in Luthers Ethik hinweisen: Härle, W., Gott fürchten und lieben. Martin Luther und die Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen, in: Wüstenberg, R. K. (Hrsg.), Nimm und lies! Theologische Quereinstige für Neugierige, Gütersloh 2008, 110–125.
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werden. Wohl aber folgt aus der Unterscheidung der Regierweisen für Luther eine weitere Unterscheidung, die mitten durch den Menschen hindurchgeht: Die Unterscheidung zwischen dem Christenmenschen als Privatperson, der Unrecht, das ihm angetan wird, erleiden soll, ohne das Böse zu vergelten, und dem Christen als Amtsperson (in einem weiten Sinne, sei es als Mutter oder Vater, Lehrerin oder Bürgermeister, Polizeibeamte oder Soldat), der die Aufgabe hat, sich schützend vor den Nächsten zu stellen und ihn vor Gewalttat und Verbrechen nach Möglichkeit zu bewahren, also dem Bösen zu wehren. Man kann an dieser Stelle kritisch gegen Luther einwenden, dass er möglicherweise die Bedeutung des Eintretens für das Recht dort unterschätzt hat, wo es um das eigene Recht geht. Der Grund für diese Unterschätzung könnte darin liegen, dass er am Wortlaut der strengen Antithesen der Bergpredigt nichts abmarkten wollte, aber dieser kritische Einwand gegen Luther richtet sich weder gegen die Unterscheidung der beiden Regierweisen noch gegen die Unterscheidung zwischen Privatperson und Amtsperson, sondern nur gegen deren Anwendung in Beziehung auf sich selbst und auf den Nächsten. Auf diese Weise mit dem Grundgedanken von Luthers politischer Ethik, vor allem der Unterscheidung zwischen Erlösung und Erhaltung, vertraut gemacht, soll exemplarisch auf die drei ersten oben analysierten Handlungsoptionen Bezug genommen und theologische Anmerkungen zur politischen Versöhnung formuliert werden. 2.1
Theologische Anmerkung zur Strafverfolgung (Handlungsoption 1)
Die leitenden Vorstellungen politischer Versöhnung waren in Südafrika und Deutschland sehr verschieden. In Südafrika galt es, ein Denken zu überwinden, wonach Versöhnung erst nach der Bestrafung möglich wird. In Deutschland war die Vorstellung leidend: Versöhnung kann die Bestrafung nicht ausklammern. In theologischer Perspektive sind beide Vorstellungen nicht zwingend begründbar. Man muss nämlich fragen, ob der Bestrafung überhaupt eine genuin theologische Bedeutung zukommen kann oder ob in lutherischer Perspektive nicht eher gilt: Das Strafrecht dient der „Erhaltung“, ist, theologisch betrachtet, ein „weltlich Ding“. Darf die Verhängung von (weltlicher) Strafe nicht immer nur ein Urteil über das Tun bedeuten, nicht aber eins über den ganzen Menschen? Geht es im weltlichen Strafgericht nicht um die „äußerlich“ anrechenbare Schuld, und eben nicht um den „inneren“ Menschen. Es betrachtet den Menschen doch nach eigenem Verständnis in seiner Außen-, nicht in seiner Eigentlichkeitsperspektive! Hierin könnte eine kritische Funktion der „Zwei-Reiche-Lehre“ erblickt werden: Sie erlaubt nur die kontrollierte Anwendung des Rechts. Die menschliche Würde – lutherisch gesprochen „der innere Mensch“ – bleibt dem Strafrecht unverfügbar. Zum Wesen der menschlichen Würde gehört es nach christlichem Verständnis,
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dass sie weder in gegebenen Bedingungen noch in abschließenden Definitionen ihrer selbst aufgeht, „sondern sie alle transzendiert. Das Faktum, dass Menschen sich würdelos verhalten können, gibt keiner irdischen Instanz das Recht, sie für 40 würdelos zu erklären.“ 2.2
Theologische Anmerkung zur Amnestie (Handlungsoption 2)
In der Frage der Amnestie waren die leitenden Vorstellungen in beiden politischen Kontexten verschieden. In Südafrika galt: Amnestie kann in Verbindung mit der Wahrheitssuche zur Versöhnung führen. In Deutschland war die Auffassung: Amnestie fördert so wenig die Versöhnung wie Strafverfolgung sie hindert. In theologisch-lutherischer Perspektive ist die letztere Vorstellung am ehesten überzeugend. Es wird nämlich kategorial die Unterscheidung zwischen Amnestie und Vergebung ermöglicht, also zwischen juristischen und moralischen Kategorien. Das Problem der Nichtunterscheidung drückte sich in dem Votum vieler Opfer von Apartheidverbrechen aus: Durch das Amnestiegesetz der TRC müsse man den Tätern vergeben. Die Gleichsetzung von Amnestie und Vergebung mutete aber den Opfern von Unrechtsregimen die Vergebung zu. Das Gesetz der TRC differenziert aber zwischen Moralität und Legalität und erweist sich in der Unterscheidung zwischen Amnestie als juristische Kategorie und Vergebung als moralische Kategorie als theologisch anschlussfähig. Amnestie kann als politische Handlungsoption als vernunftgemäß einleuchten; sie kann im lutherischen Sinn Erhaltungsordnung sein, nämlich dann, wenn eine Amnestie den politischen Frieden nach dem Ende einer Diktatur erhält (während eine rigorose Strafverfolgung ihn vielleicht gefährdet hätte). Deshalb fordert die Amnestie für Straftäter aber nicht die Vergebung der Opfer. Es stellen sich Kategorienfehler ein, wo die Verschiedenheit zwischen (politischer) Amnestie und (moralischer) Vergebung verschleiert wird. Ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt: Amnestie war in der Geschichte nie „Resultat von Menschenliebe, Vergebung, Vergessen oder einer inneren Wende 41 zur Gewaltlosigkeit“ . Amnestien für schwere Menschenrechtsverletzungen gab es nur, wo sie politisch erzwungen oder zur Friedenserhaltung unbedingt nötig waren. Eine Generalamnestie ist m. E. besonders kritikwürdig: Sie hält keinen Raum offen für ein Geschehen, das die Bearbeitung von Schuld möglich macht, sondern zielt auf das Vergessen. Bei einer Amnestierung geschieht doch wohl dieses: Schuld „wird zwar nicht gerechtfertigt“, wird aber auch „nicht aufgehoben, nicht 42 vergeben“, sondern „bleibt bestehen“. Für die Täter bedeutet das: Ihnen wurde
40 Huber, W., Gerechtigkeit und Recht, 266. 41 Quaritsch, H., Über Bürgerkriegs- und Feind-Amnestien, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte 31 (1992), 389 ff. 42 DBW 6, 134. In der Differenzierung zwischen Vernarbung und Vergebung versteigt sich Bonhoeffer in keine Dualität. Für ihn gibt es auch „in der geschichtlichen außen- und innenpoliti-
Gibt es eine Politik der Versöhnung?
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nicht vergeben. Ihre Schuld kann nicht – etwa im Rahmen von Wahrheitskommissionen – bearbeitet werden, allenfalls vergessen. Für die Opfer bedeutet es: An sie wird nicht erinnert. Ihre Wunden können nicht heilen, allenfalls vernarben. Für die neue Gesellschaft bedeutet es schließlich: Die Differenz zwischen Opfern und Tätern wird eingeebnet, „irgendwie“ waren „alle“ verstrickt. 2.3
Theologische Anmerkungen zur „Wahrheit“ (Handlungsoption 3)
In beiden Kontexten war die Vorstellung leitend: Versöhnung setzt die Kenntnis der Wahrheit voraus. Einschlägig für die Suche nach theologischen Anschlüssen ist bereits die Idee hinter der spezifischen Individualamnestie in Südafrika: Auf Strafe wurde nämlich erst verzichtet, nachdem unter Mitwirkung des Täters das Vorliegen einer Straftat festgestellt worden ist. Strafbefreiung erfolgte in dem doppelten Schritt: Erst Schuldfeststellung, dann Strafverzicht. Leitend war die Vorstellung: „Strafe ist verzichtbar, die Wahrheit nicht.“ Um nach der theologischen Anschlussfähigkeit dieser Vorstellung zu fragen, möchte ich die beiden Dimensionen der Wahrheit hervorheben, die durch die TRC miteinander vermittelt werden, nämlich die rechtliche und die moralische. 2.3.1
Zur rechtlichen Dimension
Wahrheit sagen bedeutete vor der TRC soviel wie Geständnis ablegen: Relevante Fakten müssen offenbart werden, damit sie amnestiert werden können. Dieser juristischen Wahrheitserforschung sind enge Grenzen gesetzt. Theologischlutherisch gesprochen, darf sich das Gericht wieder nur für den „äußeren“ Menschen interessieren. Nach Wahrheit wird juristisch gefragt in dem sehr begrenzten Rahmen einer Entscheidung über die Tatschuld des Angeklagten. Wer „mehr“ und „andere“ Wahrheit oder „bessere“ Wahrheitsforschung verlangt, muss in juristischer Sicht das Verfahren als Ganzes in Frage stellen. In konstruktivem Sinne unternimmt genau dies eine Wahrheitskommission. Ein Raum wird eröffnet, in dem (freiwillig) die eindimensionale justizielle Wahrheitsfindung überschritten werden kann. Mit dem spezifischen Amnestieverfahren (anders als bei einer Generalamnestie) ist zugleich die Chance zur Bearbeitung der persönlichen Schuld des Täters eröffnet. 2.3.2
Zur moralischen Dimension der Wahrheit.
Sie liegt in der Ermöglichung von Reue auf Seiten der Täter und der Vergebung auf Seiten der Opfer. Das öffentliche Berichten der Wahrheit über Menschen-
schen Auseinandersetzung der Völker so etwas wie Vergebung, die doch nur ein schwacher Schatten der Vergebung ist, die Jesus Christus dem Glauben schenkt“ (ebd.).
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rechtsverletzungen hat auf der persönlichen Ebene je für Opfer und Täter eine recht43 liche Bedeutung, die ins Moralische hineinreichen kann. Recht und Moral bleiben insofern unterschieden, als zwar das Erscheinen vor der TRC zur Amnestierung zwingend ist, alles Weitere aber der Entwicklung der Situation überlassen und insofern „offen“ bleibt. Hier erreicht das „Wahrheitsagen“ vor der TRC eine weitere, über die je persönliche Ebene hinausreichende Dimension. Der Wahrheitsbegriff der TRC vermag nämlich auf zwischenmenschlicher Ebene eine Verbindung herzustellen zwischen dem Amnestiebegehren der Täter und den bohrenden „Warum-Fragen“ der Opfer. Verheißungsvoll ist dieses Geschehen insofern, als ein Handlungsspielraum eröffnet wird, in dem Täter und Opfer in einem geschützten Raum Schuld bearbeiten können. Die Täter sind frei zur Einsicht in ihre persönliche sittliche Schuld. Recht und Moral bleiben indessen auf zwischenmenschlicher Ebene unterschieden. Die Verknüpfung von rechtlicher und ethisch-sozialer Schuldeinsicht geschieht allein im „moralischen Ich“ des Täters. Kein Gericht, auch nicht die TRC, kann solche Verknüpfungen zwischen rechtlicher und moralischer Dimension der Wahrheit erzwingen. Deswegen findet sich im Gesetz der TRC nicht der Passus, dass beim „Wahrheit-Schildern“ der Täter Reue empfinden müsse. Aber es erlaubt dem Opfer juristisch, den Täter ins Kreuzverhör zu nehmen und ihn insofern (moralisch) mit den Folgen seines Tuns zu konfrontieren. Reue selbst betrifft als theologische Kategorie den „inneren Menschen“, ist ein Vorgang „coram deo“, der etwas anderes meint als „Bedauern“. Abschließende Urteile zur Reue bleiben Gott vorbehalten, auch wenn es würdigende Handlungen und Erklärungen „coram hominibus“ gibt. Zusammengefasst sehen wir: Juristische Wahrheitssuche kann auf zwischenmenschlicher Ebene moralische Prozesse der Schuldwahrnehmung auf Seiten der Täter in Gang setzen.
3.
Gibt es eine Politik der Versöhnung?
An einem Anhörungsbeispiel der südafrikanischen TRC soll das bisher Diskutierte zusammengeführt und die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer „Politik der Versöhnung“ abschließend beantwortet werden. Der zu Apartheidtagen hoch dekorierte Kapstädter Polizeichef Jeffrey Benzien tritt im Juli 1997 vor die Wahrheits- und Versöhnungskommission, um für seine zum Teil sehr grausamen Foltermethoden Amnestie zu erlangen. Wir erinnern uns: Einzige Voraussetzung für Straffreiheit war, vor die Kommission zu treten und die Wahrheit zu sagen. Das hieß: Alle relevanten Fakten mitzuteilen, die sich auf die Straftat bezogen – in der Regel: Folter, Mord oder „Verschwindenlassen“ von Menschen. Reue musste der Straftäter nicht zeigen. Die dreitägige Anhörung vor der Wahrheitskommission, die sich mit dem Fall Jeffrey Benzien befasste, fand 43 Die Aussage der Täter kann gegen geprüft werden. Opfer haben das Recht, den Wahrheitsgehalt der Täteraussage durch eigene Aussagen zu stützen oder in Zweifel zu ziehen.
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im Juli 1997 in Kapstadt unter großer Anteilnahme von Bevölkerung und Medien statt. Nach der Gesetzgebung der Wahrheitskommission war es den Opfern erlaubt, bei den Anhörungen nicht nur anwesend zu sein, sondern auch ihre Peiniger ins Kreuzverhör zu nehmen. Im Fall Benzien hatten zwei seiner Folteropfer sogar darum gebeten, dass noch einmal die spezielle Foltertechnik vorgeführt werde, mit denen er Aussagen erzwang. Den Opfern wurde ein nasser Sack über den Kopf gezogen bis ihnen der Erstickungstod drohte. 44 Seinen Opfern gegenübersitzend, begann Jeffrey Benzien seine Aussage : „Ich entschuldige mich bei den Menschen, die ich während meiner Verhöre angegriffen haben, vor allem Peter Jacobs, Ashley Forbes, Tony Yengeni …“. Ashley Forbes möchte sogleich von Benzien wissen: „Erinnern Sie sich, dass sie zu mir sagten, je nach Kooperationsbereitschaft werde ich entweder wie ein Tier oder wie ein Mensch behandelt?“ Benzien bestätigte, „etwas in dieser Richtung gesagt zu haben.“ Peter Jacobs, das andere Folteropfer, will wissen, ob sich Benzien daran erinnere, dass die Menschen sich ausziehen mussten, bevor die Foltermethode mit dem nassen Sack Anwendung fand und fügt an: „Erinnern Sie sich, dass ich zu ersticken drohte?“ Benzien: „Ich kann mich an Ihren Fall nicht im Einzelnen erinnern, aber gut, ich gestehe ein …, dass das so war.“ Ein weiteres Opfer, Tony Yengeni, fragt, ob sich Benzien entsinne, dass er seinen Kopf gegen die Wand schmetterte bis er das Bewusstsein verlor. Benzien verneint: „Ich bezweifele, dass ich Ihren Kopf gegen die Wand geschmettert habe, denn das hätte Spuren hinterlassen.“ Ashley Forbes: „Sie schienen sehr effizient in Ihrer Tätigkeit. Kann man sagen, Sie sind ein Naturtalent?“ Benzien: „Ich kann nicht bestätigen, dass ich ein von der Natur gegebenes Talent zum Foltern besitze, und wenn, dann wäre es sicher kein schönes Talent. Die Foltermethode mit dem nassen Sack, die ich erfunden habe, ist etwas, mit dem ich leben muss. Ich finde es ausgesprochen schwierig, hier vor Ihnen und der ganzen Medienwelt zu sitzen. Wie schrecklich ich mich auch immer fühle – für Sie und Ihre Leidensgenossen muss es schlimmer gewesen sein.“ Tony Yengeni, der Benzien am zweiten Anhörungstag aufforderte, die Foltertechnik mit dem nassen Sack zu demonstrieren, fragt schließlich: „Was für ein Mensch wendet solch eine Foltermethode gegenüber einem anderen menschlichen Lebewesen an und hört dabei das Stöhnen, während er sie nahe an den Tod bringt? Was für ein Mensch sind Sie? Was ist passiert mit Ihnen – als menschliches Wesen?“ Benzien: „Mr. Yengeni, nicht nur Sie haben mir diese Frage gestellt. Ich, Jeff Benzien, habe mir diese Frage in einem Ausmaß gestellt, dass ich mich schließlich freiwillig einer psychiatrischen Behandlung unterzogen habe. – Sie fragen mich, was für ein Mensch ich bin, ich, Jeffrey Benzien, stelle mir selbst diese Frage.“ 44 Der ganze Dialog unter: http://www.doj.gov.za/trc/amntrans/index.htm [31.8.2009].
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Am Beispiel der Anhörung des Polizisten Benzien wird für unsere Fragestellung noch einmal zweierlei sichtbar. Zunächst die Vermittlung verschiedener Dimensionen der Wahrheit: Benzien tritt auf, um formal zu berichten, wie sich alles zugetragen hat, um auf diese Weise den Kriterien für die Amnestie zu genügen. Indem er aber schildert, was war, und von seinen ehemaligen Opfern mit den „Warum-Fragen“ konfrontiert wird, beginnt er moralisch sein Tun in Frage zu stellen. Schließlich – am Ende der Anhörung – stellt er sich selbst in Frage; nicht nur sein Tun, sondern seine Person, sein Ich wird hinterfragt, der „innere Mensch“ tritt hervor. Die Wahrheitskommission hält den Raum für ein Geschehen offen, das ganz offenbar den juristischen Vorgang der Amnestieprüfung übersteigt und aufs Moralische, ja Theologische verweist. Denn die Frage nach dem inneren Menschen weist, wie wir oben sahen, auf das hin, was theologisch Reue heißt. Zweitens ist zu erkennen, wie Amnestie und Vergebung unterschieden werden müssen. Hier zeigt sich die Stärke einer Individualamnestie, die an die Stelle der Strafe auf der einen und einer Generalamnestie auf der anderen Seite trat. Zwei Wochen nach der Benzien-Anhörung sagt das Folteropfer Ashley Forbes: „Ich habe Jeffrey Benzien vergeben. Nun kann ich mit dem Rest meines Lebens fortfahren.“ Aus einem Satz, wie diesem lernt man: Vergebung hilft offenbar nicht nur dem Täter, sondern auch dem Opfer. Vergebung markiert den Wendepunkt in einem Versöhnungsprozess, der mit der Selbst-Infrage-Stellung des Täters begann. So wird eine neue Perspektive auch für das Opfer eröffnet, nämlich die Versöhnung mit der eigenen Geschichte. In dieser Perspektive – so könnte eine sozialethische Folgerung aussehen – sind gesellschaftlich Anstrengungen unbedingt zu unterstützen, die den Zusammenhang von Würde und Leiden konstruktiv aufnehmen, erlebtem Leiden Raum geben, um durch Zuspruch in Form symbolischer oder sprachlicher Kommunikation zur Heilung der Erinnerung beizutragen. Klar ist: Eine Versöhnung mit dem eigenen Schicksal kann nur über die Integration von Leid- und Sinnleere-Erfahrungen gelingen. Es bleibt abschließend die Frage zu beantworten: Gibt es eine Politik der Versöhnung? Hierauf wird man eine doppelte Antwort formulieren müssen: Ja, insofern man einen abgeschwächten Versöhnungsbegriff zugrunde legt. Eine echte Friedensstiftung auf zwischenmenschlicher Ebene kann (und soll) Politik nicht bewirken, aber: Sie kann Rahmenbedingungen schaffen: Markant ist aus theologischer Perspektive, dass gerade Versöhnungskommissionen zur Friedensstiftung in der Gesellschaft beitragen. Mein Resümee: Wahrheitskommissionen schaffen einen Raum für die Bearbeitung von Schuld zwischen Täter und Opfer und halten damit die Option der Versöhnung offen – ohne sie herstellen oder erzwingen zu können.
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Ralf Karolus Wüstenberg
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Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit in juristischer Perspektive Axel Montenbruck
1.
Einführung: Die juristische Perspektive
Die Leitbegriffe Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit sollen vom Standpunkt des Rechts aus betrachtet werden. Was heißt das? Das Recht des „Juristen“ umfasst zumindest vier Ebenen, die, falls man sie näher betrachtet, vier in sich hoch komplexe Subkulturen darstellen würden. Zum Recht gehören (1) das gesamte geltende Gesetzesrecht im weiten Sinne, von der Bußgeldkatalog-Verordnung bis hin zu den Menschenrechtserklärungen; (2) die gesamte Rechtswissenschaft, einschließlich der Rechtsgeschichte, der Rechtsphilosophie und der Kriminologie, und zudem (3), für den Juristen ebenso wichtig, die gesamte Rechtspraxis, vom Alltag des Rechtsanwalts bis hin zu den richterrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der EU-Gerichte; (4) hinzu tritt in der Demokratie die vierte Ebene der Bürger und Rechtsuntertanen, die das Recht, unter anderem, als Rechtsadressaten anspricht. Auf dem Boden der Demokratie handelt es sich um das politische 1 Volk, das über ein verinnerlichtes Werte- als ein Rechtsgefühl verfügt. Auf dieser vierten Ebene der Demokratie einerseits und der Grund- und Menschenrechtsebene andererseits soll, soweit möglich, diese Betrachtung angesiedelt sein.
1
Zum „Rechtsgefühl“ als ethische Kategorie, insbesondere als Werterfahrung und als Grundlage eines Konsenses: Zippelius, Reinhold, Rechtsphilosophie: ein Studienbuch, München 52007, 94 ff. (zur „Werterfahrung“ als solcher), 102 ff. (zum Wertempfinden u.a. als „materiale Wertethik“) sowie 105 ff. zum „Konsens“ (als „Konsens von Gerechtigkeitseinsichten“), 113 ff. (zu den „herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen“, als Ethos eines Kulturkreises), 119 ff. (zu den Grenzen des kulturellen Spielraums durch die „biologischen Programme“). Siehe zudem Montenbruck, Axel, Zivilisation. Staat und Mensch, Gewalt und Recht, Kultur und Natur, Berlin 2009, u.a. Rdn. 31 ff (zu den Präambeln der europäischen Konvention).
100
Axel Montenbruck
2.
Versöhnung
2.1
Idee der Versöhnung
2.1.1
Zivilbegriff der Versöhnung
Zunächst wird der Jurist nach dem groben Vorverständnis der Idee der Versöhnung suchen. Rechtspolitisch und demokratisch verstanden stellt die Versöhnung offenbar eine Art von außerstaatlichem und damit zivilem Verfahren dar. Die Versöhnung bildet vor allem die Aufgabe der mündigen Bürger- und Mitmenschen, der charismatischen Schlichter und der karitativen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Der westliche Rechtsstaat bietet zur Versöhnung aber den vertraglichen Rechtsrahmen, er setzt minimalethische Grenzen, ordnet bei Bedarf die gerichtliche Einklagung sowie den Einsatz der Staatsgewalt zu Vollstreckung der Vertragsvereinbarungen. Was aber meint und assoziiert nun die Versöhnung im Einzelnen? Der Jurist fragt dazu weiter nach dem Wortsinn und unterwirft sich im Übrigen schon damit in der Regel dem Verständnis des „Volkes“. Dazu lässt sich das neue und ebenfalls demokratische Medium des freien Internets nutzen. Wikipedia bietet etwa folgen2 des: Versöhnung (engl.: reconciliation) ist ein theologischer und philosophischer Begriff, wird aber häufig auch in der Alltagssprache, auch in Politik oder Psychologie verwendet. Der Begriff ist etymologisch verwandt mit Sühne, und, wie hier anzufügen ist, nicht mit Sohn, obwohl die Vorstellung einer Aussöhnung von Vater und Sohn nahe liegt; Glauben, Theologie: (1) Christentum: Im christlichen Glauben ist die durch die Sünde entstandene Kluft zwischen Gott und Mensch zu versühnen. Das ist durch das Heilsgeschehen des Leidens und Auferstehens Jesu Christi durchgeführt, muss aber im Glauben und in der Liebe nachvollzogen und angenommen werden. Die Lehre der Versöhnung von Gott und Mensch durch Jesus Christus wird in der christlichen Theologie als Soteriologie bezeichnet. (2) In der katholischen Theologie ist die individuelle Versöhnung eng verknüpft mit der aus Beichte und Buße folgenden Absolution. (3) Judentum: Hervorzuheben ist der große jüdische Feiertag Jom Kippur, an dem – etwas verkürzt dargestellt – die Versöhnung mit dem Ewigen dadurch erreicht wird, dass wir uns miteinander versöhnen: Das reuevolle Eingeständnis von Sünden ist eine Bedingung zur Sühne. „Der Versöhnungstag befreit von Sünden gegen Gott, jedoch von Sünden gegen den Nächsten erst, nachdem die geschädigte Person um Verzeihung gebeten worden ist“ heißt es im Talmud; 2
Zum allgemeinsprachlichen Verständnis des Begriffs: Artikel Versöhnung, in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, http://de.wikipedia.org [21. Juni 2007].
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Philosophie: In Hegels Philosophie ist mit Versöhnung die Vermittlung gemeint, die am Ende der Dialektik die Widersprüche in einer Synthese aufhebt. Die Einheit von Begriff und Realität soll erreicht werden; Politik: In der Gesellschaft und Politik wird Versöhnung als ein möglicher Bestandteil der Vergangenheitsbewältigung und/oder Konfliktbewältigung betrachtet. So wurden zahlreiche Wahrheits- und Versöhnungskommissionen gegründet – siehe auch Liste der „truth and reconciliation commissions“. 2.1.2
Versöhnung aus Sicht des Juristen
„Versöhnung“, so scheint es generell und erst recht für den Juristen, erfordert den Vorlauf eines Verfahrens. Jenes betreibt aber nicht der Rechtsstaat selbst, sondern es verhandeln Zivilpersonen miteinander. Die Versöhnung besteht danach in einem zivilen Prozess, den zwei oder mehr autonome Personen als Verfahrensbeteiligte betreiben. Das Versöhnungsverfahren selbst erstreckt sich über vier Phasen: (1) dem ursprünglichen Streit; (2) der Verhandlung; (3) dem Versöhnungsvertrag; (4) der realen Vertragserfüllung. Jeder Vertrag wird ferner unausgesprochen von der Überidee des idealen Vertrages überwölbt, der in der Idee der Vereinigung und dem der Vorstellungen von einem Friedensbund besteht. Der Grundgedanke eines privaten Versöhnungsvertrages beherrscht den Alltag der Rechtsanwälte. In der Regel versuchen sie den Streit vor Gericht oder gar den vollen Rechtsstreit bis hin zu den Bundesgerichten zu vermeiden. Die spektakulären Entscheidungen der Bundes- oder der Verfassungs- oder gar der EU-Gerichte bilden statistisch betrachtet die symbolischen hoch wirksamen Ausnahmen. Die faktische Hauptaufgabe der Anwälte besteht in der vorzeitigen Streitbeilegung, nicht in der ständigen Ausschöpfung des gesamten Rechtsweges. Das Wissen um solche Arten der Unterstützung des zivilen Verhandelns gehört inzwischen zu den praxisnahen Schlüsselqualifikationen der deutschen Juristenausbildung (§ 5 a DRiG). Das strenge Recht und dessen staatliche Vollstreckung wirken in der Praxis des Anwalts dabei vor allem als Drohung mit dem „worst case“-Scenario. Das Verständnis der Versöhnung scheint sich für den praktischen deutschen Juristen am besten in das Verfahren der Mediation wider zuspiegeln. Denn die Mediation verlangt den Blickwinkel der Rechts-Psychologie einzunehmen. Im Strafrecht handelt es sich dabei um den vom Gesetz eröffneten Täter-Opfer-Ausgleich, § 46 a StGB. Mediationen helfen auch bei Ehescheidungen und Nachbarschaftsstreitig3 keiten, im Arbeits-, im Wirtschafts-, sowie im Schul-, Bau- und Umweltrecht. Mediation heißt für die juristische Praxis hoch vereinfacht die Vermittlung durch psychologisch geschulte Mediatoren, und zwar zwischen zwei verletzten Egoismen.
3
Überblick bei Haft, Fritjof und Schlieffen, Katharina von, Handbuch der Mediation, München 2002, 56 f.
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Im Kern dient die Mediation also der Bereinigung von Konflikten, bei denen die Streitenden ihre gesamte Persönlichkeit einsetzen und deshalb offen oder verdeckt hoch emotional reagieren. Die Verletzungen, die sich zumeist nach und nach angereichert haben, betreffen bereits die seelisch-geistige Identität der handelnden Personen. In der Regel genügt es schon, dass die Personen, die beteiligt sind, sich mit einer bestimmten Position identifiziert haben. Die Streitenden fordern deshalb vielfach zunächst Demut und Reue oder aber zumindest den Respekt des Anderen und damit die Gleichheit als „Person“ ein. Das deutsche bürgerliche Recht beginnt mit der natürlichen Person, dem Menschen, der seine Rechtsstellung mit Vollendung der Geburt einnimmt, § 1 BGB. Aber es fügt sofort die „juristische Person“ hinzu, §§ 21 ff. BGB. Auch die Grundrechte sind auf „juristische Personen“ sinngemäß anzuwenden, Art. 19 III GG. Im Strafrecht gelten sogar generell alle aktiven Unternehmen und Gewerkschaften, öffentliche Behörden, Anstalten und Körperschaften, und der Bundesstaat selbst, als beleidigungsfähig, §§ 185 ff. 194 III StGB. Staaten, die gelegentlich wie Deutschland in den Präambeln ihrer Verfassungen ihr kollektives Volksbewusstsein dokumentieren, verfügen über ein Nationalbewusstsein, und sie führen notfalls wirkliche Kriege um angebliche oder tatsächliche Rechtspositionen, mit denen sie ihre innere Identität und ihre äußere Personalität verbinden. Einzelne Menschen und gesamte menschliche Gemeinschaften können sich mit ihrer Streitsache identifizieren. Dann neigen sie dazu, sich mit ihren Rechtspositionen gleichsam auf eine befestigte Hügelburg zurückzuziehen. Von dort aus werden sie ihre Soldaten zum Kampf auf der offenen Ebene ausschicken, um den Streit mit Waffen und notfalls blutig auszufechten. Zivilisiert gewendet droht ein jahrelanger harter Rechtsstreit, den professionelle Kriegeranwälte führen und an dessen Ende eine gewaltsame, staatlich gestützte Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils steht. In diesem Bereich setzt die Rechtsmediation ein und versucht, die Emotionen abzubauen und die gemeinschaftlichen Interessen beider Seiten in den Blickpunkt zu schieben. Sie hilft den Parteien in einem mehrstufigen Verfahren, die wechselseitige Achtung aufzubauen, Verletzungen ihrer Identität zu überwinden und am Ende zumindest das wirtschaftlich Erreichte in eine Vertragsform zu bringen. Bei Tötungen Einzelner ist zunächst die Seelsorge für die Angehörigen gefragt. Bei Völkermorden an angeblichen Minderheiten erweist es sich ferner als unumgänglich, zudem die kollektive Seite der betroffenen Überlebenden soweit als möglich zu stabilisieren. Aus der Sicht des Rechts entwickelt sich danach das Bedürfnis nach Rechtsfrieden. Die demokratisch geordnete Zivilgesellschaft der mitfühlenden Nächsten sucht deshalb nach einem Ausgleich, mit dem sie sich zumindest abfinden können. Dazu werden sie öffentliche Rituale als Klärungs-, Trost- und
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4
Reinigungsakte einfordern. Ihr Rechtsstaat bietet dafür solche Verfahrensweisen an, die vor allem dazu dienen, die Selbstjustiz durch demokratische Staatsjustiz zu vermeiden. Fehlt dagegen ein demokratischer Rechtstaat, dann wird eine Gemeinschaft aus der westlichen Sicht in einen vor-rechtsstaatlichen und vielfach in einen vorstaatlichen Zustand zurückgeworfen, der diese Angebote nicht zur Verfügung stellt. Versöhnungsversuche müssen dann ohne den Staatsrahmen stattfinden. 2.1.3
Heilende Seite der Versöhnung
Der Versöhnung, deren Gegenstände aus strafrechtlicher Sicht von der Beleidigung unter Nachbarn bis hin zum Völkermord gemäß § 220 StGB reicht, liegt also in der Regel ein emotional verankerter Konflikt zugrunde, der mit einem sowohl medizinischen als auch religiösen Wort „geheilt“ werden soll. Aus rechtspsychologischer Sicht erweist sich zumindest die personale Identität einer Seite als beschädigt. Deren eigene Verhandlungsfähigkeit erweist sich einerseits durch hohe Emotionen, wie Frustration, Ärger, Wut oder verletzten Gruppenstolz, als eingeschränkt. Anderseits aber beinhaltet diese Gefühlslage die mächtige Drohung von wilder Selbstjustiz und zwar unter Einsatz der gesamten Personalität. Der Weg der Versöhnung besteht, wie die Mediation belegt, in der langsamen ReKultivierung der verletzten personalen Identität und damit in der Verhandlungsfähigkeit von Personen. Dazu dienen in der Regel vertrauenswürdige „neutrale“ Dritte als Vermittler. Diese pendeln in dem breiten Raum, den beide Parteien nach ihrem Rückzug in sich selbst gebildet haben. Die Wahl eines gemeinsamen Vermittlers bildet dabei schon den ersten Schritt zur Versöhnung. Der Vermittler tritt mit seiner wohlwollenden Neutralität als eine charismatische Autorität, in religiösen Kulturen als eine geheiligte Person auf. Den zweiten Schritt dieser Mediation stellt die Erarbeitung und Einigung auf ein rituelles, zumeist faires und dialogisches Verfahren dar. Versöhnung zu suchen, meint immer, ein längeres und rituelles, und schon dadurch ein beruhigendes Verfahren zu betreiben. Schon die Zeit der Verhandlungen heilt die Wunde und versucht, den anderen als autonome und gleichberechtigte Verhandlungsperson anzuerkennen. Den dritten Schritt stellt eine Art von Vertrag dar, der vierte besteht in der realen Umsetzung. Der Begriff der Versöhnung umfasst dann vor allem den Erfolg der Versöhnung. Diese Vereinbarung enthält das deutliche Element eines kleinen „völkerrechtlichen Friedensvertrages“. Er bedeutet vor allem, und zwar für die Parteien selbst wie für die Dritten, dass unmittelbar kein Streit, kein Kampf, keine Strafe oder zugespitzt „kein Bürgerkrieg“ mehr droht.
4
Aus der Sicht der Ritualisierung: Gebauer, Gunter und Wulf, Christoph, Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998, 173.
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Axel Montenbruck
2.2
Versöhnung durch mittelalterlichen Bußvertrag
Die Versöhnung, die zunächst nur die Heilung assoziiert, könnte eine dunkle Seite 5 im Sinne der alten „heiligen Gewalt“ enthalten. Das ursprüngliche Standardmittel der Versöhnung bildet die Sühne, und zwar in der Form schmerzhafter Buße, also ein Opfer. Die Buße geschieht zwar im Idealfall „freiwillig“. Sie bildet für sich betrachtet aber eine Form schmerzhaften Verlustes, als „Einbuße“. Ob und inwieweit es überhaupt eine Versöhnung ohne irgendeine Sühneleistung, also nur aufgrund der edlen Vergebung einer Seite gibt, mag dahingestellt bleiben. Die mächtige westliche Tradition des Christentums setzt auf das Marterkreuz und heiligt somit das qualvolle Opfer des Gottessohnes Jesus, der stirbt, um die Welt 6 zu versöhnen. Art und Ausmaß der Sühne und Buße zu erfassen, verhilft dem Juristen zunächst der Blick in die vorstaatliche Rechtsgeschichte. Dort trifft er auf den mittelalterlichen Sühnevertrag, mit dem die Blutrache abgewendet wurde. Standardbußen bilden in der mittelalterlichen, und damit der vorstaatlichen deutschen Rechtsgeschichte die Streitbeilegung zwischen Personalverbänden wie den Sippen. Vieh und sonstige Werte sind insbesondere für den Verlust eines getöteten wehrhaften Mannes zu leisten, andernfalls droht der Familie des Täters die ewige kriegerische Feind7 schaft. Es verhandeln aber die Personverbände. Der Sühnevertrag beinhaltet verkürzt also eine Art der Privatstrafe. Ihn hat es noch lange, zum Beispiel im späten deutschen Mittelalter zwischen 1450 und 1600 in Eichstätt, gegeben. Etwa 110 Sühneverträge sind dort wegen Totschlages nachgewiesen. Als Buße erfassen sie vor allem Vieh, Geld und die Versklavung Einzelner.
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Für den Animismus: Girard, René, Das Heilige und die Gewalt (La Violence et la sacré, 1972), Zürich 1987, 30 ff.; aus der Sicht der altgriechischen Tragödie: Burkert, Walter, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin/New York 21997, u.a. 9: „Der ‚homo religiosus’ agiere und sei sich bewusst als der sterbliche ‚homo necans’.“ Zum Spannungsbogen von Religion, Gewalt und Politik: Maier, Hans, Das Doppelgesicht des Religiösen, Religion-Gewalt-Politik, Freiburg 2004, 18 (zur Gewalt in den „abrahamitischen Religionen“ als archaischer Grundansatz, den sie zu überwinden suchen mit dem Grundgedanken der „Gewalt als Machterweis des göttlichen“ unter Hinweis auf Girard und Burkert); zum Kreuz Jesu als Symbol des Gewaltverzichts (19); insgesamt als „Doppelgesicht des Religiösen“ sowie 46 ff. (zu religionsähnlichen Elementen in totalitären Systemen: Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus); ferner zum „politischen Märtyrer“ (99 ff.). Tacitus schreibt in seiner Germania: „Man muss die Feindschaften des Vaters oder überhaupt der Verwandten übernehmen wie die Freundschaften; sie bestehen jedoch nicht unversöhnlich fort: Sogar Totschlag wird nämlich durch eine gewissen Anzahl an Groß- und Kleinvieh gesühnt und an der Erhebung des Wergeldes nimmt die gesamte Verwandtschaft teil – zum Nutzen der Gemeinde, denn in ungebundener Freiheit sind Fehden gefährlich“, Tacitus, Publius Cornelius, Germania (Fehrle, Eugen (Hrsg.)), München/Berlin 41944, cap. 2. Dazu auch: Grommes, Sabine, Der Sühnebegriff in der Rechtsprechung, Eine ideologiekritische Betrachtung, Berlin 2006, 57 ff.; zu „öffentlichen Strafen“ bei allgemeiner Friedensstörung siehe: Jescheck, Hans-Heinrich und Weigend, Thomas, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, Berlin 51996, 91.
Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit
2.3
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Vorstaatliches Gottes- und Vernunftrecht
Das Mittelalter besaß also bereits eine, wenngleich vorstaatliche, höhere Rechtsidee, und zwar im Sinne einer verfassungsnahen heiligen Ordnung. Das ländlich geprägte Mittelalter kannte, wie viele Reiche, neben den weltlichen Richterkönigen und untrennbar mit dem allmächtigen Gott die Idee eines höchsten gerechten Rechts. „Gott“ und „die Idee der unfassbaren höchsten Ordnung“ bilden, hoch vereinfacht, noch eine allerhöchste Einheit. Die festen Kirchen und die zentralen Tempelschulen der drei großen Buch-Religionen belegen diese Verbindung von geistigem Schöpfergott, der schicksalhaften Natur und der Idee der Ordnung. Die ähnliche religiöse Ausrichtung eines ländlichen Großreiches wie etwa Ägypten bietet ein weiteres Beispiel. Bereits das scholastische Hochmittelalter lenkt dann 8 folgerichtig zu buchähnlichen Gesetzesordnungen über. Dieses Gottesrecht konnte sich über die ersten Rechtsschulen, über die Universitäten und die Klöster, im nächsten Schritt in der Renaissance zum höchsten „Vernunftund Naturrechtrecht des Humanismus“ emanzipieren. Säkular gewendet steht heute hinter dem staatlichen Recht die heilige Rückbindung an die Idee des demokratischen Rechtsstaates der würdigen Menschen, kurz an den Humanismus. 2.4
Zusammenfassung: Säkulare Elemente der Versöhnung
Zugespitzt und in Thesenform lassen sich insgesamt vielleicht die folgenden Elemente der Versöhnung „als solcher“ herausstellen, die aus der Sicht des Juristen dann eine Art von „ziviler Mediation“ meint und deshalb sowohl rechtliche als auch psychologische Elemente enthält. Das Versöhnen hat sich für die westlichen demokratischen Rechtsstaaten aus dem mächtigen mittelalterlichen religiösen Denken heraus entwickelt. Seine Grundelemente bilden die folgenden: Die Versöhnung meint die friedliche Lösung eines emotionalen Konfliktes durch die gemeinsame Suche nach einem Ausgleich. Der Konflikt hat dabei bereits zum Streit zwischen zwei Parteien geführt, die zumindest aus ihrer Eigensicht Würde oder Personalität besitzen. Der Streithintergrund besteht deshalb in der Regel in tatsächlichen oder in angeblichen Verletzungen dieser, wie es heißt, Subjektstellung. Die Versöhnung beinhaltet eine Art privaten Sühnevertrag und verlangt nach einer schmerzhaften Buße. Die Buße besteht in der halbfreiwilligen, halberzwungenen Aufopferung von etwas Heiligem, das aus der säkularen Sicht einen Teil der eigenen personalen Identität darstellen müsste. Die Versöhnung verlangt die halbfreiwillige, halberzwungene Un8
Dazu den Überblick bei: Ebel, Friedrich und Thielmann, Georg, Rechtsgeschichte. Von der Römischen Antike bis zur Neuzeit, Heidelberg 32003, Rn 183 (zur Bedeutung des Sachsenspiegels); Schroeder, Klaus-Peter, Vom Sachsenspiegel zum Grundgesetz, München 2001, 4 (Aus verfassungsgeschichtlicher Sicht). Die Entwicklung des zunächst privaten Rechtsbuches zum gemeinen Sachsenspiegel fand für Brandenburg, und später Preußen, durch die Buch'sche Glosse 1325 statt und es galt als subsidiäres Recht bis zum Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794.
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terwerfung unter ein Bußverfahren, das zumindest charismatische Vermittler kennt. Am Ende der Versöhnung lockt die Erneuerung eines wirkungsmächtigen Friedensbundes der freien und würdigen (Selbst-) Subjekte. Die Grundidee einer selbständigen Versöhnung erweist sich vielfältig, und zwar: als ein an sich vorstaatlich-mittelalterlicher Ansatz, als eine ewige überstaatliche Idee, als ein die im politischen Umbruch befindlichen Staaten in ihrer kollektiven Identität erneuerndes Verfahren, sowie als ein wichtiges substaatliches privates Mittel der Konfliktlösung zwischen „freien Bürgern“.
3. 3.1
Strafe Idee der Strafe
In der Strafrechtsgeschichte existieren also zwei Großgruppen von Strafen: die private Strafe und die öffentliche Strafe. Die Sühneverträge gehören mit dem eigenen Kernbegriff der Sühne offenbar zur ersten Gruppe. Aus rechtssoziologischer Sicht bedeutet zumindest das hoheitliche Strafen im engeren Sinne vereinfacht den „Ausschluss aus der Gesellschaft“ oder zumindest eine „Marginalisierung“ als Meidung des Täters und zudem eine Schwächung seines sozialen Nahfeldes. Die peinlichen (poena) Körper- und Lebensstrafen haben diese Folgen der Marginalisierung als Körperstrafe oder aber als Todesstrafe die effektive Exkommunizierung aus der Gemeinschaft zum Gegenstand. Nach christlichem Verständnis lebt dabei die Seele des Verurteilten fort. Die Idee der „Strafgefangenschaft“ bedeutet dann folglich aus der Sicht der Rechtssoziologie „Ausschluss“ oder besser „Marginalisierung durch Einschluss“. Die Idee der Freiheitsstrafe setzt dann bereits die bürgerliche Idee der Freiheit voraus. Sie stellt also jenseits der übernationalen Menschenrechte schon eine „Freienstrafe“ und eine „Bürgerstrafe“ dar. Dabei bildet die Freiheit, etwa als Handlungsund Fortbewegungsfreiheit (Art 2 I, II GG) oder als Eigentumsfreiheit (Art. 14 I GG) zugleich den Kern der demokratischen „Rechtsperson“. Die Freiheitsstrafe heißt dann Gefangenschaft und verlangt nach einem Strafgefängnis. Die unmittelbaren Vorgänger der heutigen Strafgefangenschaft stellen deshalb zum einen die mittelalterliche Klosterhaft für Gläubige dar, sowie zum anderen die absolutistische Festungshaft für missliebige Adelige und das Arbeitshaus für die protestantischen Bürgerkinder, das bereits die frühen Großstädte kannten. Das Staatsgefängnis als echte Strafanstalt, und nicht nur als Untersuchungshaftanstalt, ist relativ neu und tritt in Europa erst im nachrevolutionären 19. Jahrhundert in Erscheinung. Es dient damit als Bürgerstrafe für den erwachenden Bürgerstaat und, vor allem aus protestantischer Sicht, der strengen Einkehr und Läuterung. Im Ordnungsstaat Preußen wandelt es sich zum „Zuchthaus“.
Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit
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Die Freienstrafe prägt das Verfahren und insbesondere die Vorstellung, dass der Angeklagte sich an seinem Verfahren aktiv beteiligen kann und dass eine öffentliche Hauptverhandlung vor den anderen Freien stattfindet. Vereinfacht gilt die Strafe also als ein Übel, und sie soll „Pein“ (poena) bereiten. Verallgemeinert steht Übel für alles, was Menschen gewöhnlich nicht wünschen, dass es ihnen angetan werde: Schmerz, Leiden, aber auch Freiheitseinschränkungen, Benach9 teiligungen und Entzug von Vorteilen. Zum Strafübel gehören zudem die öffentlich-zivilen Formen der „Bemakelung“ und des Meidens sowie der Ausschluss (Exkommunikation, Verbannung). Insofern sucht das Strafrecht dann „ein Übel mit einem Übel“ auszugleichen. In diesem Ausgleich liegt zumindest ein Kern des Strafens. 3.2
„Sinn und Zweck“ des demokratischen Strafrechts
Das deutsche staatliche Strafrecht dient zunächst einmal dem Schutz des Menschen vor dem Staat und regelt dann erst das Strafen selbst. 10 Das deutsche Bundesverfassungsgericht erklärt deshalb zum einen und aus der demokratischen Sicht zur Strafe: Sie sei eine missbilligende Reaktion, die zu einer Sanktion führe. Diese muss nach dem Grundgesetz vorhersehbar und hinreichend bestimmt sein (Art. 103 II = § 1 StGB, in Verbindung mit Art.1 I, 2 II, 20 III GG). Außerdem dürfen festgehaltene Personen nicht „misshandelt“ und die verurteilten Straftäter keinen „erniedrigenden Strafen“ unterworfen werden, Art. 104 I GG, Art. 3 EMRK. Die Todesstrafe hat schon das Grundgesetz selbst abgeschafft, Art. 102 GG. Die deutschen Strafgesetzgeber der damaligen Länder und die deutsche Strafrechtswissenschaft haben sich bereits seit etwa 1810 immer wieder mit dem „Sinn und Zweck des Strafens“ beschäftigt. Herauskristallisiert hat sich eine im Kern uralte dreifaltige Vereinigungstheorie, die ebenso das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten Entscheidung zur Einschränkung der lebenslangen Freiheitsstrafe für den Mord ausführlich aufgegriffen hat. In ihr hat sie erklärt, dass Mörder grundsätzlich die „Chance“ erhalten müssen, „der Freiheit je wieder teilhaftig“ zu wer11 den. Die Strafe dient (1) der vorbeugenden Einwirkung auf die Allgemeinheit, der Generalprävention, (2) der vorbeugenden Einwirkung auf den Täter, der Individualprävention, und (3) dem nachträglichen und sühnenden Tat-Schuld-Ausgleich als Selbstzweck.
Zur Bedeutung des Schmerzes: Jung, Heike, Was ist Strafe?, Ein Essay, Baden-Baden 2002, 16; unter Hinweis auf die angloamerikanische Deutung bei: Kleinig, John, The Hardness of Hard Treatment, in: Ashworth, Andrew und Wasik, Martin (Hrsg.), The Fundamentals of Sentencing Theory, Clarendon Press, Oxford 1998, 273–298, 273, 275. 10 BVerfGE 105, 135, im 1. Leitsatz. 11 BVerfGE 45, 187, 253 ff. 9
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Ohne Schuld ist zwar keine Schuldstrafe zu verhängen, aber für gefährliche Personen sieht das Strafrecht die zweite Spur der Gefahrenabwehr, vor allem in den Formen der Sicherungsverwahrung und der Unterbringung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt vor, §§ 61 ff StGB. Die Menschenwürde (Art. 1 I GG) und Stellung als Rechtsperson bestimmen jedoch das Bild des Strafgefangenen und der unterbrachten Menschen im jeweiligen Vollzug. Der Jurist wird zudem stets auf die staatliche Strafrechtspraxis blicken. Der deutsche Staat betreibt ferner eine 12 humane Strafrechtspraxis . Nur 7% der Verurteilungen von rund 700.000 p.a. lauten auf zu vollstreckende Freiheitsstrafe. Zur Bewährung werden rund 13% ausgesetzt. Die vergleichsweise nur symbolische Geldstrafe erfasst dafür rund 80% der Verurteilungen. Auf zwei alte Worte reduziert, zielt das Strafen auf die Vorbeugung und die Vergeltung. Seine staatlichen Ausprägungen pendeln zwischen den Polen eines effektiven Feindstrafrechts und eines humanen Bruder- oder auch Nächstenstrafrechts. Demokratie und Menschenrechte führen zum Vorrang eines, wie es heißt „Freund13 strafrechts“. 3.3
Geständnis und Vereinbarungen im Strafrecht
Wie wird und wie darf die Strafrechtspraxis im Idealfalle mit einem zur Versöhnung bereiten, und deshalb geständigen und reuigen Beschuldigten verfahren? Der Blick in die deutsche Strafrechtspraxis ergibt dazu folgendes: Zunächst kann und wird das Gericht die Strafe ohne jede gesonderte Vereinbarung mildern. Denn sobald sich der Täter in der Hauptverhandlung mit „Reue und Geständnis“ der staatlichen Rechtsund der dahinter stehenden Werteordnung unterwirft, so kann seine Strafe aus dieser generalpräventiven Sicht zumindest milder ausfallen. Schon mit dem bloßen Geständnis wird zumindest eine Teilwahrheit, und zwar durch den Täter selbst eingeräumt. Aus der Sicht der Tatschuldstrafe handelt es sich also um eine Art der immerhin teilweise wirksamen Entschuldigung. Die Strafidee der Erhaltung der Rechtstreue der Allgemeinheit erlaubt nunmehr ebenfalls eine mildere Strafe. Denn dieser Täter bildet kein lebendes Beispiel mehr für die Verleugnung der geltenden Rechts- und Werteordnung. Ferner erscheint die Rückfallgefahr bei einem einsichtigen Täter als deutlich geringer. Alle drei Strafbegründungen erlauben also, auf die Strafbemessung übertragen, eine geringe konkrete Strafe auszusprechen. Zudem darf der spätere Vollzugsplan diesen Gesichtpunkt als einen Schritt zur Resozialisie12 Meier, Bernd-Dieter, Strafrechtliche Sanktionen, Berlin 22006, 47, 58 (zur Geldstrafe als „Denkzettel“). 13 Dazu auch: Scheffler, Uwe, Freund- Feindstrafrecht, in: Feltes, Thomas et al. (Hrsg.), Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen. Festschrift für Professor Dr. Hans-Dieter Schwind, Heidelberg 2006, 123 ff., („Bürgerstrafrecht“ mit der Trennung von Freund- und Feindstrafrecht oder „Feindbekämpfung“ und „Bürgerstrafrecht“); 125 ff. (etwa bei Terrorismusbekämpfung und Abbau von Verteidigungsrechten), sowie: 126 (mit Ausrichtung auf den Begriff „Unschädlichmachung“, der aus der Logik der Gefahrenabwehr folgt).
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rung berücksichtigen. Die Aussichten auf Vollzugslockerungen bis hin zum offenen Vollzug winken diesem offenbar ungefährlichen Strafgefangenen. Ferner kann die Freiheitsstrafe, die an sich vom Schuldrahmen eingeengt ist, bei einer günstigen Rückfallprognose um ein Drittel reduziert und zur Bewährung ausgesetzt werden, § 57 ff. StGB. In den Strafprozessen findet im Falle eines Geständnisses nicht nur einfach eine Strafmilderung statt. Insbesondere bei einem verteidigten Angeklagten, mit einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe wird in vielen Fällen zuvor eine außergerichtliche Vereinbarung getroffen, die dann in der Hauptverhandlung offen 14 gelegt werden soll. In ihr kündet das Gericht eine konkrete Strafobergrenze an, falls ein bestimmtes Geständnis erfolgt und sich keine weiteren erschwerenden Umstände ergeben. Selbst im deutschen Strafrecht finden also erlaubte Absprachen statt, die den Charakter eines Sühnevertrages mit dem demokratischen Staat besitzen. Wie auch immer ausgestaltet findet inhaltlich mit dem verletzten Rechtsstaat, bei dem das Recht zum Kern der Staatsidentität gehört, dann einen Art der Versöhnung statt, wenn der Täter sich zur Tat, zu seiner Verantwortung und zur Rechtsordnung insgesamt bekennt. 3.4
Opferrechte
Der Opferschutz findet zum Teil außerhalb des Strafrechts statt. Für Opfer existieren außerhalb des staatlichen Strafrechts (1) das private Zivilrecht (Deliktsrecht, Unterlassungsansprüche) sowie ein zivilrechtliches Gewaltschutzgesetz (seit 2002), (2) das staatliche Polizeirecht sowie das staatliche Sozialrecht, einschließlich Gewaltopferentschädigungsgesetz (seit 1976), (3) die allgemeine Kranken-, Unfall-, Lebens-, und Rentenversicherungen, (4) sowie die gemeinnützige „Nicht-RegierungsOrganisationen“ (z.B. Weißer Ring). Selbst der deutsche Strafprozess versieht das Opfer mit einer eigenen Rechtsstellung, und es kann sich Opferanwälte bedienen. Bei den Gewaltdelikten erspart der Angeklagte mit einem glaubhaften Geständnis vielfach dann den Opferzeugen die Aussage oder zumindest eine kritische Befragung durch die Verteidigung. Eine zweite oder dritte „Viktimisierung“ der Gewaltopfer wird auf diese Weise mit der Hilfe des Täters selbst vermieden. Einen noch größeren Schritt bietet deshalb das staatliche Strafgesetzbuch in der Form einer sprunghaften Strafmilderung dann an, wenn ein erfolgreicher TäterOpfer-Ausgleich stattgefunden hat, §§ 46 a, 49 StGB. In der Praxis findet er aber zumeist nicht bei schweren Gewaltdelikten statt. Der relativ neue Täter-OpferAusgleich strahlt dennoch auf das gesamte Strafrecht und den Inhalt von gericht-
14 Zur „Verständigung“ (Absprache, Deal) im Strafverfahren: BGH 49, 84, 88; BGH GrSen 50, 40 ff.; BVerfG NStZ 1987, 419.
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lichen Vereinbarungen aus. Dieser Ansatz bildet eine Art strafrechtlichen Sühnevertrag, der zumeist durch Dritte als neutrale Mediatoren vorbereitet und begleitet wird. Vor allem in den Fällen, in denen andernfalls Geldstrafe oder Strafaussetzung zur Bewährung drohen, kann ein erfolgreicher Täter-Opfer-Ausgleich zu einem Strafverzicht des Staates führen. 3.5
Versöhnung und Rechtsfrieden
Bereits der vorstaatliche Sühnevertrag enthält auf den zweiten Blick hoheitliche Elemente. So haben zunächst die freien Familien- oder Hausväter aus der heutigen Sicht den eigentlichen Betroffenen, den verletzten Männern, den Frauen und Kindern, das Verfahren aus der Hand genommen und es als Angriff auf die kollektive Familienehre umgedeutet. Ebenso traten die Vermittler, sobald sie eingeschaltet wurden, als gesonderte Rechtspersonen auf und haben dabei mitgeholfen, die Interessen beider Seiten im Sinne des höheren Friedens und zur Vermeidung von Selbstjustiz einzuschmelzen. Aus der Sicht der vor-, neben- und überstaatlichen Idee der Versöhnung lautet die Folgerung deshalb, dass die staatliche Strafe deren Aufgaben zu einem wichtigen Teil ersatzweise wahrnimmt. Die staatliche Strafe bildet also hoch vereinfacht im demokratischen Rechtsstaat zumindest zu einem „Drittel den Ersatz“ für den mittelalterlichen Sühnevertrag.
4. 4.1
Gerechtigkeit Gerechtigkeit und Recht
Die Gerechtigkeit stellt einen Begriff der Philosophie des Rechts dar, den aber das Recht selbst vielfach schon mit vereinnahmt und zu „Recht und Gerechtigkeit“ zusammenfasst. Der antike Hintergrund besteht vor allem in der Rechtsethik des Staatslehrers Aristoteles, dem Erzieher von Alexander dem Großen. Selbst die Philosophie, so heißt es, habe jedenfalls für die Ethik ihren Ursprung im „Unrecht“ 15 und mit ihm in der Frage, wie das Unrecht zu beseitigen sei. Am Anfang der Gerechtigkeit stand danach also das Erleben von Ungerechtigkeit. „Gerechtigkeit
15 Heraclitus Ephesius, Fragmente (griechisch und deutsch), Snell, Bruno (Hrsg.), München 81983, Fragment 23, erklärt: Recht kenne der Mensch nur, weil es Unrecht gebe. Zur Untrennbarkeit von Recht und Unrecht aus der Sicht der allgemeinen Rechtsphilosophie: Marcic, René, Um eine Grundlegung des Rechts. Existentiale und fundamental-ontologische Elemente im Rechtsdenken der Gegenwart, in: Marcic, René und Tammelo, Ilmar (Hrsg.), Naturrecht und Gerechtigkeit. Eine Einführung in die Grundprobleme; Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie, Band 9, Frankfurt u.a. 1989, 13 ff., 14.
Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit
111
und Recht“ scheinen zumindest als eine feste rechtspolitische Paarung zusammenzugehören. 4.2
4.2.1
Idee der Gerechtigkeit
Gerechtigkeit als Gerade-Richten
Was nun bedeutet die Gerechtigkeit als solche? An dieser Stelle ist nicht wie bei der Versöhnung die Allgemeinheit, sondern die Philosophie selbst zu befragen. Nach Kant meint die Gerechtigkeit einprägsam das Gerade-Richten von etwas 16 Krummem. Danach allerdings setzt die Gerechtigkeit das Wissen um das „Gerade“ und damit um das „Krumme“, also um Recht und Unrecht und Wert und Unwert, schlicht voraus. Außerdem handelt es sich vor allem um ein Verfahren. Mit einem anderen Wort: Den Kern der Gerechtigkeit bildet die „Gleichheit“. Im Falle der Ungleichheit ist dann für einen Ausgleich zu sorgen und die Gleichheit wiederherzustellen. Danach meint Gerechtigkeit (1) Gleichheit als Ordnungsidee, (2) und zwar für die Person des Freien als Gleichen (3) und fordert bei Ungleichheit den Ausgleich. 4.2.2
Dreiteilige Gerechtigkeit
Die Gleichheit besteht vor allem zwischen privaten und aktiven Personen. Deren ziviles Selbstverständnis ist in der westlichen Staatenwelt um zwei der drei Kernforderungen der französischen Revolution für den Status des Menschen als Bürger zu erweitern. Um Kernelemente ergänzt, lauten alle drei: „Freiheit“, als Handlungsfreiheit, „Gleichheit“, als Mensch, „Brüderlichkeit“, als Fürsorge. Die „Gleichheit“ zwischen Personen bildet also ausdrücklich einen untrennbaren Teil des westlichen Bildes von Demokraten. Allerdings ist ihr Selbstverständnis dann auch noch um das Menschsein und die Solidarität zu ergänzen. Schon seit Aristoteles und mit Thomas von Aquin nennen und kennen wir ferner 17 eine Dreiteilung der Idee der Gerechtigkeit. Sie erfasst erstens die gegenseitige (kommutative) Gerechtigkeit und zweitens die austeilende oder distributive Gerechtig16 Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, in: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.), Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Band IV: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Wiesbaden 1956, § E, 340; zudem: Siep, Ludwig, Naturgesetz und Rechtsgesetz, in: Krawietz, Werner und Gerhardt, Volker (Hrsg.), Recht und Natur. Beiträge zu Ehren von Friedrich Kaulbach, Berlin 1993, 132 ff., 137. 17 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. und kommentiert von Dirlmeier, Franz, Berlin 101999, 5. Buch, 5. – 7. Kap. (1130 b / 1131 a); Thomas von Aquin, Recht und Gerechtigkeit, in: Katholischer Akademikerverband (Hrsg.), Summa theologica, Bd. 18, Salzburg u.a. 1953, Buch II. 2., 57. 1 ff., 58. 6; vgl. etwa auch: Fechner, Erich, Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts, Tübingen 21962, 11, Fn. 1.
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keit. Drittens treten zwei Korrektive hinzu. Es handelt sich um die materiale, humane Barmherzigkeit einerseits und den kalten, formalen Positivismus als legale Gerechtigkeit anderseits. Der deutsche Jurist wird zudem eine im deutschen Staatsrecht verfestigte Definition betonen: Art. 2 I GG beschreibt die Einheit von „Recht und Gerechtigkeit“ aus der Sicht einer freien Mensch-Person in diesem Gesamtsinne: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Dieser Satz ist aus der Sicht der Gerechtigkeitsidee kaum zu überbieten. Denn diese einfache Formel erläutert sowohl die Art und den Umfang der Gleichheit als auch das Verständnis der aktiven Person und bekennt zudem noch die Art und die Grenzen von deren Autonomie. Die Sittenwidrigkeit, zu deren Kernfällen die Ausbeutung von Notlagen gehört, §138 BGB, bildet ferner einen Ausdruck der Solidarität als Sozialpflichtigkeit und ist aus staatsrechtlicher Sicht schon weitgehend in die „Verfassungsmäßigkeit“ der Ordnung einbezogen. Jeder grobe Verstoß gegen die Menschenrechte würde schließlich ohnehin einem „ungerechten Recht“ den Charakter des gültigen Rechts nehmen. Insofern besitzt aus der Sicht der vorherrschenden Rechtstheorie jedes Recht, das gültiges Recht 18 sein will, einen minimalethischen Kern. Insofern stützt die westliche Idee des Rechts die allgemeine Idee von der Gerechtigkeit im Hinblick auf die Humanität. Deren festen ethischen Doppelkern des Rechts bilden danach die Gleichheit im Menschsein und die mitmenschliche Solidarität. 4.2.3
Vielfalt: Zuteilungsgerechtigkeit und Schädigungsverbot
Hinter den beiden Hauptformeln verbergen sich zahlreiche fachwissenschaftliche Gerechtigkeitslehren. Sie verknüpfen den Gedanken der Gerechtigkeit mit ihrem jeweiligen Fachgebiet, insbesondere der Philosophie, der Politik, der Wirtschaft, sowie mit dem Staat und dem Recht. Zumindest ihre Vielfalt soll angedeutet werden. Dazu ist der vor allem komplexere Doppelansatz „Jedem das Seine gewähren“ und „Niemandem einen Schaden zufügen“ näher zu betrachten. Die folgende Grobordnung versucht zudem, den Blickwinkel des Staatsrechts einzunehmen und mit ihm die hoheitliche Seite der Zuteilungsgerechtigkeit anzuleuchten. Stichworte und vier grobe Rahmenbegriffe müssen genügen. 18 Aufgegriffen von BGHSt. 41, 101, 106 ff („Mindestanforderungen“ […] die „an die staatliche Beachtung von Wert und Würde des Menschen zu stellen sind“, und zwar für das menschenrechtswidrige Systemunrecht der DDR, nach DDR erlaubte Schüsse auf Grenzverletzer). Bestätigt von BVerfGE 95, 96 (Leitsatz: Wenn das zugrunde liegende Recht „die allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet.“)
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Die ethische Sozialgerechtigkeit umfasst die iustitia distributiva (Aristoteles, Thomas von Aquin) als gemischtes politisches Rechte- und auch Pflichtenmodell. Sie tritt als hoheitliche Zuteilung von Verfahrensrollen in Erscheinung. Sie begründet kollektivistisch gedacht die Solidarität („Brüderlichkeit“) und verlangt vom Staat die hoheitliche Daseinsvorsorge als Sozialstaatsprinzip. Demokratisch gelesen führt sie zu den Teilhaberechten des Staatsbürgers (Partizipation). Sie versteht die Idee der Gleichheit als zugeteilte zivile Rechtspersonalität, § 1 BGB. Zu ihr gehört die hoheitliche Gnade und richterkönigliche Billigkeit im Einzelfall. Die politische Zuteilungsgerechtigkeit greift die Idee „Größtes Glück möglichst Vieler“ (summum bonum) als politische Verteilungsformel des angloamerikanischen Utilitarismus auf. Sie spiegelt sich in Amnestien, Verjährung und Sühneverträgen als sozialnützliche Zuteilung von Rechtsfrieden wieder. Sie findet sich im Gemeinwohl als Sammelbegriff für das politische „Gute“ und als wertethisches Zuteilungsprinzip des politischen Nehmens zugunsten Anderer wieder. Sie steckt hinter der Idee einer vagen Werteordnung für materiale Verfassungsgerechtigkeit im Sinne jeder gesamten Grundrechtscharta. Verfassungsgerichte konkretisieren sie im Sinne einer konkreten, „praktischen Konkordanz“ der Grundwerte bei der konkreten verfassungsrechtlichen Abwägung zwischen verschiedenen hohen Grund- und Menschenrechten. Auch die politische Idee der Menschenwürde geht von einer vom Naturrecht zugeteilten absoluten Subjektrolle des Menschen aus Das zivile Schädigungsverbot (harm principle) bietet zunächst eine einleuchtende negative Gerechtigkeitslehre („keinem Weh“). Aus der Sicht der Zuteilungsgerechtigkeit zielt es auf die konservative Sicherung des „Seinen“ und damit allen „Eigentums“ als Prinzip. Es erzwingt zudem mittelbar die kollektiven also sozialen Güter des allseitigen Gewaltverzichts und des inneren Marktfriedens. Es dient deshalb der Idee des politisch-staatlichen Gewaltmonopols. Aus dem Schädigungsverbot folgt, bei dessen Verletzungen, ferner die Heilsidee des verrechtlichten Ver19 Sühnens. Schließlich werden alle derartigen „kollektiven Güter“ in der Demokratie allen Demokraten, die als Mitherrscher darauf einen Teilhabeanspruch besitzen, als die „Ihren“ zugeteilt. Insofern ließe sich dann von einer demokratischen Zuteilungsgerechtigkeit sprechen. 4.3
Gerechtigkeit und Strafe
Die Kernelemente der Gerechtigkeit und die Idee des Strafens sind nach allem, zumal aus der Sicht des deutschen Juristen, eng mit einander verbunden. Der TatSchuld-Ausgleich beruht dabei offen auf dem Gedanken der strengen Wechselseitigkeit 19 Zur Sühnetheorie als die subjektive, den Täter betrachtende Seite der Gerechtigkeitstheorie: Hassemer, Winfried, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, München 21990, 282, zudem im Sinne eines auch „sakralen Vorgangs“ des Schuldausgleichs; dazu aus der Sicht der Strafrechtspsychologie auch: Streng, Franz, Strafrechtliche Sanktionen, Stuttgart 22002, 17.
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von Tatübel und Strafübel. Zudem aber erscheint die angemessene Strafe als die „Seine“ des Angeklagten. Der Täter hat sie persönlich „verdient“. Die Strafe, die er nicht freiwillig übernimmt, wird ihm notfalls als „die Seine“ zwangsweise zugeteilt und sie dient dort der „Sühne“. Die gerechte Strafe funktioniert mit zwei anderen bekannten Begriffen als „Repression“ und zur „Restauration“. Repression meint dann das Richten von etwas Krummen. Der Richter drückt mit Gewalt etwas in seine alte Form „zurück“. Restauration meint vor allem die gerechte „Wiederherstellung des Rechtsfriedens“. Diese Sicht zielt auf ein kollektives Übergut, auf dessen Zuteilung nicht nur die Allgemeinheit insgesamt, sondern mit ihr jeder Demokrat einen Anspruch besitzt. Der Idee der zuteilenden Gerechtigkeit entspringt in der Demokratie der Verzicht auf die Todesstrafe, die Aufrechterhaltung der Menschenwürde und der Rechtspersonalität des Gefangenen im Strafvollzug sowie die grundsätzliche Aussicht wieder in Freiheit zu kommen. Das Leben, die Menschenwürde und diese Aussicht auf Freiheit bilden in der deutschen Demokratie „das Seine“ des Strafgefangenen. An diesem kollektiven Gut erhält er weiterhin „seinen“ Anteil. Die menschenrechtlichen Grundlagen des Seinen bilden die Gleichheit im Menschsein und der Gedanke der mitmenschlichen Fürsorge. Aus der Sicht des mittelalterlichen Sühnevertrages regiert also weiter die Idee dieses alten Freien-Modells und sie ist nur zudem mit dem Gedanken der Menschenwürde zu verknüpfen. Im deutschen Strafverfahren bis zum Urteil und selbst im Vollzug kann der Strafgefangene schließlich noch grob über „ein Drittel“ seiner Strafe verhandeln. Dazu muss er sich zu bestimmten Gegenleistungen bereit erklären. Aus dieser Sicht regiert dann wieder die einfache Idee der Austauschgerechtigkeit zwischen den betroffenen Rechtspersonen, dem demokratischen Staat, dem konkreten Opfer und dem Täter. Damit ist versucht, „Gerechtigkeit und Recht“ generell und die „Gerechtigkeit“ der staatlichen Strafe zu umreißen.
5. 5.1
5.1.1
„Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit“ Zivilisation als gemeinsame Grundlage
Höherer Zweck von „Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit“
Im letzten Hauptteil sollen die drei Themen „Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit“ insgesamt betrachtet werden. An dieser Stelle wird der Jurist zwar zur Zivilisationslehre als Form der politischen Kulturphilosophie überwechseln müssen. Er wird sich aber daran erinnern,
Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit
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dass sein aus dem römischen Zivilrecht gespeistes Bürgerliches Recht ebenso eine wirkungsmächtige Ausprägung der westlichen Zivilisation darstellt, wie die Sicherung dieser Bürgerstellung (civis) durch die Verfassungen und die Menschrechtserklä20 rungen den Kern der heutigen „friedlichen Zivilisation“ bildet. Den Einstieg bietet der Gedanke des Friedens. Zumindest formal betrachtet erweisen sich alle drei Ideen, die „Versöhnung“, die „Strafe“ und die „Gerechtigkeit“ nur als Mittel und Verfahren, die einem höheren Zweck dienen. Dieser höhere Zweck besteht im Ziel der Befriedung eines schweren und hoch emotionalen sozialen Konfliktes. Dazu setzen alle drei Ideen auf ein rituelles Verfahren, das selbst schon den Effekt der Verfremdung und der Beruhigung mit sich bringt. 5.1.2
Weltliche Friedens- und Bekenntnisgesellschaft
Die Befriedung bildet noch keinen Endzweck. Sie bildet ein Mittel, das zur positiven friedlichen Kooperation führt. Im Idealfall führt der Frieden zur allseitigen vorteilhaften Arbeitsteilung in einer Lebensgemeinschaft. Ihre Mitglieder bilden dann eine Einheit, die sich als eine Art von „Verfassungsbund“ begreifen wird. Eine solche „Friedens- und Bekenntnisgesellschaft“ rufen die deutschen Verfassungsgeber im zweiten Absatz des ersten Artikels des deutschen Grundgesetzes mit den folgenden Worten aus: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1 II GG).
Zwar ist der hier gewählte Begriff der „Friedens- und Bekenntnisgesellschaft“ als 21 eine außerjuristische und zivilisatorische Zuspitzung zu verstehen, denn das deutsche 20 Aus Sicht der politischen und interkulturellen Konfliktforschung: Senghaas, Dieter, Zum irdischen Frieden, Frankfurt/M 2004, 124 ff. Zivilisation im engeren Sinne zielt auf die ethischen Sichtweisen. So betont etwa Senghaas in seiner Lesart der Zivilisationstheorie die „konstruktive Konfliktbearbeitung“. Insofern setzt er eine idealistische Tradition fort, die auch bei Platon zu finden ist. Senghaas fächert die Elemente seines Zivilisationsmodells feinsinnig auf und schneidet sie zugleich als ein „zivilisatorisches Sechseck“ auf den Staat zu. Damit wechselt er endgültig von der Zivilisation als einer Form zu einem allerdings wichtigen konkreten Inhalt. In jeweils wechselseitiger Beziehung und im Uhrzeigersinn gelesen, bestünden die sechs Elemente in: (1) Gewaltmonopol, (2) Interdependenzen und Affektkontrolle, (3) Sozialgerechtigkeit, (4) Konfliktkultur, (5) Demokratische Partizipation und (6) Rechtsstaatlichkeit. 21 Für eine „rechtsphilosophische Feststellung“ damit in gemeinen Sinne als Zivilreligion etwa Dürig, in: Maunz, Theodor et al. (Hrsg.), Grundgesetz: Kommentar, München 422003, Art. 1, Rn. 73. Kritisch: Kunig, in: Münch, Ingo v. und Kunig, Philip (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 1 (Präambel bis Art. 20), 52003, Art. 1, Rn. 38 („Das GG kann nicht festlegen, warum diese in Bezug genommenen Menschenrechte gelten, es kann sie nur – wie in Art. 1 II geschehen – ausdrücklich gutheißen“). Es handele sich um eine „politische Handlungsanleitung“ und insofern die „Loslösung von naturrechtlich religiöser Fundierung“. Aber auch danach bleibt offen, ob dann nicht eine politische Staats-Anleitung vorliegt, und zwar aufgrund der zugrunde liegenden Menschenrechte.
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Staatsrecht setzt zwar das Bekenntnis zur Verfassung voraus, aber es wagt sich nicht offen in die dogmatische Nähe der Religion, in dem sie dieses Bekenntnis als das begreift, was es ist: eine für den Deutschen Verfassungsstaat „absolut“ gesetzte Höchstformel. Dennoch nimmt dieser Absatz des Art. 1 GG zum Beispiel an der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 III GG teil, die den gesamten Art. 1 GG und das Prinzip des westlichen Verfassungsstaates in Art. 20 GG, also den Verfassungsstaat, für unabänderbar erklärt. Der Verfassungsgeber der Präambel müsste sich also eine neue Verfassung geben, um davon abzugehen, und dazu im Übrigen auch sein Selbstbild abändern. Die Politikwissenschaft verwendet dagegen ausdrücklich den sowohl provokativen 22 als auch selbstkritischen Begriff der Zivilreligion. Der letzte Ahnvater derartigen säkularen Denkens heißt Durkheim. Im freien und damit zivilgesellschaftlichen Nachschlagwerk „Wikipedia“ zu „Durkheim“ ist zu lesen: „Die 1912 erschienenen Les formes élémentaires de la vie religieuse (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) befassen sich mit der Frage nach dem Wesen der Religion. Mit diesem Werk bildet Durkheim die Grundlage für eine funktionalistische Betrachtung der Religion, indem er als ihr wesentliches Kernelement ihre Funktion zur Stiftung gesellschaftlichen Zusammenhalts und gesellschaftlicher Identität ausmacht. In Anschluss an Durkheim wird von einzelnen Vertretern der Religionssoziologie all das als Religion interpretiert, was in verschiedenen Gesellschaften eben derartige Funktionen erfüllt. Demgegenüber steht ein substantialer Religionsbegriff, der Religion an bestimmten inhaltlichen Merkmalen (Vorstellungen von Transzendenz, Ausbildung von Priesterrollen etc.) festmacht.“23
Im Hinblick auf die Erfordernisse der „Transzendenz“ und der „Priesterschaft“ wäre zu fragen, ob nicht der Humanismus mit seinen rationalen Letztbegründun22 Zum politologischem Begriff der „Zivilreligion“, und zwar mit der Differenzierung von (1) Bürgerlicher Religion (als privatistisches Christentum), (2) Religion des Bürgers (als Philosophie des Bürgers), (3) politischer Religion (aus Sicht der politischen Soziologie), (4) Zivilreligion (im amerikanischen Sinne als Aufladung der Politik durch religiöse Momente) oder (5) Staatsreligion (im deutschen Sinne der Grundwerte als Zivilreligion), (6) Kulturreligion (als über- und postkonfessionelle Säkularisierung im Verfassungsstaat im weiten Sinne, als Staat, Recht und Kultur), siehe: Kleger, Heinz und Müller, Alois, Mehrheitskonsens als Zivilreligion? Zur politischen Religionsphilosophie innerhalb Liberal-konserativer Staatstheorie, in: Kleger, Heinz und Müller, Alois (Hrsg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986, 221–262, insbes. 240: mit der Aufteilung in: (1) soziologische Systemtheorie: als „generalisierte Werte in einer funktional differenzierten Gesellschaft“, (2) Staatsphilosophie: Religion als kulturelle Erhaltungsbedingung des liberalen Staates, (3) Verfassungstheorie: Religion als „strukturelles Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Kirche“, (4) als „christliche Philosophie der entzweiten Existenz“: „Religion als politisch-theologisches Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Kirche“. 23 Artikel Durkheim, in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, http://de.wikipedia.org [13. Februar 2008] (Hervorhebungen sind abgeändert.): Die dazugehörige Definition von Religion lautet dann: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“.
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gen, wie Vernunft, Natur und Kosmos, oder mit der physikalischen Idee der zunehmenden Komplexität oder dem ähnlichen Ansatz der Emergenz wesentliche Ele24 mente der Transzendenz aufweist , und ob nicht einige seiner hohen Priester diejenigen der Gerechtigkeit als die richterlichen Weisen der Ober- und der Verfassungsgerichte bilden. Rechtspolitisch betrachtet stellt schon das einfache Bekenntnis zu „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ (Solidarität) das weltliche Credo dieser Bekenntnisgesellschaft dar, bei dem die Gleichheit den Kern der Gerechtigkeit umschreibt. Die Verrechtlichung der übernationalen Menschenrechte belegt zudem, dass die säkulare Zivilgesellschaft nicht nur über eine nationalstaatliche Binnen-Religion im Sinne ihrer besonderen Verfassungsgrundsätze verfügt, sondern auch einer übernationalen und zumindest westlichen säkularen Dreifaltigkeitslehre des Humanismus verhaftet ist, die der Verbund von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität 25 aus der Sicht der Demokraten wiedergibt. Dieser übernationale Humanismus und seine verstaatlichte Form als Demokratie haben offenbar ferner in der Sache dieselben Aufgaben übernommen, die zuvor die staatstragenden Religionen und die mittelalterlichen Großreiche innehatten. Aus der staatsgeschichtlichen Sicht lässt sich deshalb von einer überstaatlichen „Zivil-Religion“ des „demokratischen Humanismus“ sprechen, die im deutschen Verfassungsrecht überdies eine ausdrückliche Veranke26 rung als zivile Staats-Religion gefunden hat.
24 Montenbruck, Axel, Zivilisation, Staat und Mensch, Gewalt und Recht, Kultur und Natur, Berlin 2009, Rdn. 630 ff. 25 Siehe dazu (erneut): BGHSt. 41, 101, 106 ff: Der Widerspruch von Staats- zu Völkerrechtsnormen müsse „so schwerwiegend sein, dass er eine Verletzung der Mindestanforderungen bedeutet, die nach der Rechtsüberzeugung der Völkergemeinschaft an die staatliche Beachtung von Wert und Würde des Menschen zu stellen sind“ (Schüsse auf Grenzverletzer nach DDR-Recht). Deshalb ist auch Aufhebung des vertrauenschaffenden Rückwirkungsverbotes erlaubt (Art. 103 II GG). Dazu auch BVerfGE 95, 96 (Leitsatz: An der „besonderen Vertrauensgrundlage fehlt es, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet.“ Danach bilden die „allgemein anerkannten Menschenrechte den Gegenstand des einen internationalen“ Bekenntnisses. 26 Zu Religion und Gewalt, sowie zur Idee der Religion der Gewalt, etwa im Nationalsozialismus, sowie zu den christlichen Vorstellung vom Krieg vor dem Hintergrund von Terroranschlägen, die mit dem Islam begründet werden: Ockenfels, Wolfgang, Religion und Gewalt, in: Rauscher, Anton (Hrsg), Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft. Erfahrungen und Probleme in Deutschland und die USA, Berlin 2004, 175–186, zum Theodizeeproblem 176 ff.; zum „Christentum zwischen Krieg und Frieden“, 181 ff.; zur kirchlichen Friedenslehre der Gerechtigkeit und Wechselseitigkeit 184 f. Im Animismus, der auch den Buddhismus noch mitprägt, gilt auch die Jagd im Gebiet eines fremden Geistes und an beseelten Tieren als ein Krieg, der seinen Frieden einfordert. Zur geschichtlichen Verbindung von „Religion und Gewalt“ und zwar als Krieg, siehe auch: Schaffner, Martin, Religion und Gewalt. Historiographische Verknüpfungen, in: Greyerz, Kaspar von und Siebenhüner, Kim (Hrsg.), Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale Deutungen (1500 – 1800), Göttingen 2006, 29–37 mit dem Hinweis auf die Bibel, Exodus, 15,3 („Der Herr ist
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Demokratie und Unterstellung der Willensfreiheit
Als selbstkritisch erweist sich diese Einordnung als „Zivilreligion“ aus der Sicht des wissenschaftlichen Rationalismus, weil sich der Verfassungsstaat damit auf ein allgemeingültiges politisches Bekenntnis zurückzieht, das nur „private“ Gegenansichten erlaubt, besser: „erduldet“, Art. 4, 5 GG. Ferner bildet die Unterstellung der Willensfreiheit des Menschen die Grundvoraussetzung des westlichen Menschenbildes und sie gilt weder in den Naturwissenschaften noch in der westlichen Philoso27 phie als eindeutig nachgewiesen. Doch die nationalen Demokratien und die säkulare Friedensidee der überstaatlichen Menschenrechte erfordern diesen Glaubenssatz. Erst diese Grundannahme eröffnet den Weg zur Folgerung, dass der Mensch deshalb autonom sein Tun und demzufolge den Staat „beherrschen“ kann. In der westlichen Demokratie muss aber die Grundfähigkeit des Menschen zur Autonomie nicht nur theoretisch unterstellt werden. Die „herrschenden“ Menschen müssen sich selbst, Einzeln und als Gemeinschaft dazu „bekennen“. 5.1.4
Verfassungen als Versöhnungsverträge zwischen Mensch und Staat
Die Verfassungen erscheinen aus der Sicht der Staatsgeschichte gleichsam als Versöhnungsverträge. Geschlossen sind sie zwischen allen Staaten, die die absoluten Fürsten hinterlassen und mit denen sie das Staatsvolk unterworfen haben, und ihrem bürgerlichen Volk, den in seinem Willen „Freien, Gleichen und Nächsten“. Alle Verträge setzen schon aus der Sicht des Ziviljuristen die Willensfreiheit insofern voraus, als sie aus übereinstimmenden Willenserklärungen von anerkannten Rechtspersonen bestehen. Die Zivilgesellschaft und der Staat vereinen sich zu einem heiligen, aber synthetischen Bund, der im Übrigen ebenfalls zu den Grundelementen der Buchreligionen gehört. Die nationalen Verfassungen und die internationalen Menschenrechtserklärungen der Staaten lassen sich zumindest aus der Sicht der Geschichte als zwei ein Kriegsheld. Herr ist sein Name.“). Die Geschichtsschreibung selbst ist untrennbar mit Religion und Gewalt oder Krieg verbunden (31). 27 Zusammenfassend die üblichen Argumente aus der Sicht der gegenwärtigen Philosophie: Pothast, Ulrich, Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. Zu einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte aus Philosophie und Recht, Frankfurt/M 1987. (Tb.), 315 ff., sowie Pothast, Ulrich, Das Rechtfertigungselement Freiheit: Bleibende Schwächen, in: Lüderssen, Klaus (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder der Kampf gegen das Böse?, Band I: Legitimationen, Baden-Baden 1998, 135 ff., u.a. 146: allenfalls eine „notdürftige Apologie unter gegebenen Bedingungen“. Aus der Sicht der Menschenwürde: Luf, Gerhard, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Überlegungen zum Kant-Verständnis in der neuen deutschen Grundrechtstheorie, in: Zaczyk, Rainer et al. (Hrsg.), Festschrift für E. A. Wolff zum 70. Geburtstag am 1. 10. 1998, Berlin 1998, 307 ff., 311. Aus der Sicht des Rechtstheorie: Röhl, Klaus Friedrich, Allgemeine Rechtslehre. Ein Lehrbuch, Köln 2 2001, 120 („Niemand kann beweisen, dass das falsch wäre. Aber auch das Gegenteil ist nicht beweisbar“).
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Arten von Versöhnungsverträgen begreifen. Sie sind einmal zwischen Mensch und Staat geschlossen, und sie betreffen zudem zwischenstaatlich zumindest diejenigen Staaten, die sich an die internationalen und Frieden schaffenden Menschenrechte halten. Dabei bleibt aus Sicht des Zivilrechts und seiner Geschichte ohnehin zu bedenken, dass Verträge üblicherweise Friedenselemente enthalten, und dass sie durchweg die Personalität der Vertragsparteien anerkennen. „Versöhnungsverträge“ enthalten insofern nur den Hinweis auf besonders starke ethische, existentielle und emotionale Komponenten. 5.2
Krieg und Aggression
Den sozialrealen Grund für solche Versöhnungsverträge belegt die Geschichte ebenfalls. Chaos und Anarchie als „Kampf aller gegen alle“ lautet das Gegenmodell zur Utopie der arbeitsteiligen Friedensgemeinschaft. Aber ob eine totale Friedensgesellschaft überhaupt das allerhöchste Ziel einer jeden Kultur darstellt, erscheint zumindest aus der Meta-Sicht einer neutralen Kultur- und Geschichtswissenschaft als zweifelhaft. Organisierte Aggressionen und Gemeinschaftskriege prägen das Leben derjenigen sozialrealen „menschlichen Gemeinschaften“, die solche Friedensverträge nach innen und nach außen schließen. Wie das Unrecht das Recht mitbestimmt, bringt der Unfrieden die Idee des Friedens hervor. Jeder größere westliche demokratische Staat hält deshalb nicht nur eine stehende Armee bereit und setzt im Inneren ständig seine Polizei ein. Jeder Staat droht regelmäßig, nach Außen wie nach Innen, mit dem Einsatz dieser Gewalt. Die Versöhnung und die Gerechtigkeit arbeiten, wie es zu zeigen war, mit dieser Mischung aus Drohung und Warnung vor dem Einsatz staatlicher Gewalt. Die Idee der friedlichen Kooperation stellt also zwar einerseits vermutlich sogar ein evolutionsbiologisches Urprinzip der Natur dar. Aber ihm steht demnach der ebenso natürliche Individualismus von freien und egoistischen Akteuren entgegen. Menschen und gesamte Menschengruppen sind, anders als die Ameisen, nicht an ihren Staat gebunden. Diese können nicht auswandern und neue Gesellschaften gründen. Menschen und Menschengruppen können sich schlicht von innen gegen ihre Gesellschaft wenden. Zumindest aus soziobiologischer Sicht zählen zum Menschsein u. a. der schwere Konflikt, der Krieg und das Töten. Auch aus der Sicht des heutigen Strafrechts legen einzelne und „freie“ Personen aggressives Verhalten gegenüber „elementaren Werten des Gemeinschaftslebens“ an den Tag, das ihnen dann als das „ihre“ zuzurechnen ist. Die wertfreie Kriminologie verwendet dazu vielfach den wertneutralen Begriff des „abweichenden Verhaltens“ und 28 meint damit auch schwere Gewaltverbrechen. Die Kriminalsoziologie, die insofern
28 Opp, Karl-Dieter, Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, Darmstadt u.a. 1974, 83; dort auch weitere verwandte Definitionen. Dazu auch: Scheffler, Uwe, Diskriminierung von sozialen Randgruppen durch das kriminalsoziologische Konzept abweichenden Verhaltens? Probleme
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ebenfalls auf Durkheim zurückgeht, begreift mit diesem Realismus die schweren Verbrechen als ein natürliches menschliches Verhalten. Alle Strafgesetzbücher enthalten jedenfalls gesetzliche Erwartungen von bestimmten Unrechtstatbeständen. 5.3
5.3.1
De- und Re-Humanisierung
Milgram-Experiment zu Gehorsam und Folter
Zu versuchen ist, sich dem Bild von den aggressiven und kriegerischen Menschen, die gleichwohl offenbar nach Ordnung und Frieden rufen, aus der Sicht der empirischen Psychologie zu nähern. Zu welcher Art von Gewalt, so lautet die Frage, erweist sich selbst der „gute 30 Bürger“ aus dem Stand heraus als fähig. Das Milgram-Experiment zeigt in einer berühmten Studie das Ausmaß auf, in dem selbst gebildete Menschen bereit sind, sich nicht nur in den Gehorsamsbann gegenüber einer Autorität zu begeben. Sie haben sich zudem aktiv an einem höheren, weil wissenschaftlichen Menschenversuch beteiligt, und zwar ohne durch den Staat oder durch Strafandrohung dazu genötigt 31 zu sein. Probanden, die angeblich freiwillig an einem Lernexperiment mitarbeiten sollten, wurden von einem wissenschaftlichen Versuchsleiter angehalten, einem erwachsenen Menschen, der Fragen nicht sachgerecht zu beantworten wusste, ständig zu steigernde Stromstöße zu verabreichen. Je nach der körperlichen Nähe waren zwischen einem und bei einiger Entfernung zwei Drittel der Personen bereit, wenngleich meistens erst auf Drängen des Versuchsleiters, zuletzt mit den Worten, das Experiment erfordere es, und wenngleich unter erkennbaren schweren seelischen Konflikten, den sich quälenden und um Aufhören bittenden Schauspieler bis an die äußerste Schmerzgrenze zu foltern. Mehrfache Wiederholungen des Milgram-Experimentes, auch von anderen Versuchsleitern, haben immer wieder die gleichen Durchschnittswerte gebracht. Der deutsche Holocaust an gesamten eigenen Bevölkerungsteilen und die ethnischen Säuberungen in Ex-Jugoslawien sind also, jedenfalls aus dieser Sicht, nicht von fremden Wesen begangen, sondern von unseren gesamt-europäischen Nächsten und und Alternativen, in: Joerden, Jan C. (Hrsg.), Diskriminierung – Antidiskriminierung, Berlin/Heidelberg 1996, 103–123. 29 Durkheim, Émile, Kriminalität als normales Phänomen, in: Sack, Fritz und König, René (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Wiesbaden 31979, 3–8, 8, Fn. 4; siehe dazu auch: Hassemer, Winfried, in: Wassermann, Rudolf (Hrsg.), Kommentar zur Strafprozeßordnung in drei Bänden. Reihe Alternativkommentare, Berlin 1996, § 1 Rn 57. 30 Milgram, Stanley, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbek 1974, 30 ff.; dazu auch: Eisenberg, Ulrich, Kriminologie, München 62005, § 57, RN 95. 31 So etwa auch nachdrücklich: Sommer, Gert, Internationale Gewalt: Friedens- und Konfliktforschung, in: Bierhoff, Hans Werner und Wagner, Ulrich (Hrsg.), Aggression und Gewalt. Phänomene, Ursachen und Interventionen, Stuttgart 1998, 206–231, 216.
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im Glauben an eine bestimmte (faschistische) Zivilreligion vollstreckt worden. Jeder Glaube meint eine Art von Rückbindung, im Wortsinne von „re-ligere“ einer „Religion“. Die Vernunft und Rationalität besitzen diesen Rang gegebenenfalls, verfügen aber erstens über den Ansatz der Selbstkritik und verlangen zweitens den hohen Preis der Selbstverantwortung. Der Gehorsam bedeutet in der Regel zudem, sich nicht nur einer höheren Idee zu unterwerfen, sondern sich an die Weisungen eines „Stellvertreters auf Erden“ zurück zu binden, des charismatischen Führers, des gesalbten Königs, des heiligen Priesters oder des wissenschaftlichen Versuchsleiters. Der normale Mensch verfügt, laut der Deutung von Milgram selbst, offenbar über einen inneren Schalter, der die Art seiner Reaktion auf äußere Ereignisse bestimmt. Der zivilisierte Mensch vermag danach in Friedenszeiten fast schlagartig seine autonome Eigenverantwortung aufzugeben und zum sklavischen Gehorsam, mit dem er sich einer höchsten Idee und deren Stellvertreter unterwirft, hinüberzuwechseln. Interessant erweist sich das reale Führer-Selbstbild der als Psychologen ausgebildeten Versuchleiter. Auch sie haben, wie die Nachuntersuchungen zeigen, ihre Freiwilligen in die Gefahr von schweren psychischen Störungen gebracht, um ihrer Idee zu dienen. Gesellschaftlich gedacht neigen die meisten Menschen in Notlagen, und seien es auch nur künstlich konstruierte Experimente, offenbar zur blinden Konformität. Trotz eigener Zweifel siegt das Gefühl, sich solidarisch verhalten zu müssen. 5.3.2
De- und Re-Humanisierung des Opfers und des Täters
Die klassischen Mittel, um die hohen Tötungshemmungen der Menschen zu über32 winden, bildet dazu passend die Technik der „Neutralisierung“ der Opfer. So werden bei Scharfschützen im Krieg und bei der Polizei Menschen zu „Zielobjekten“ degradiert. Feinde und sonstige Opfer werden zu „Un-Menschen“ oder „UnPersonen“ entwürdigt. Die Täter selbst üben, soweit möglich blinden Gehorsam gegenüber Autoritäten und vagen höheren Ideen, wie dem Gemeinwohl. Sie tragen Uniformen und im Kampf gelegentlich Masken.
32 Fünf Techniken beschreiben (grundlegend) Sykes, Gresham M. und Matza, David, Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz, (deutsche Übersetzung), in: Sack, Fritz und König, René (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Wiesbaden 31979, 360–371, 366 f.: (1) Ablehnung der Verantwortung (lieblose Eltern, neidische Kollegen, schlechte Gesellschaft), (2) Verneinung des Unrechts (Diebstahl als borgen), (3) Ablehnung des Opfers deshalb in höherem Sinn doch „gerecht“ und Abwertung und Entmenschlichung des Opfers, (4) „Verdammung der Verdammenden“ (Gesellschaft sei selbst schlecht), (5) höhere Gerechtigkeit in einer unzulänglichen Welt. Hinzu treten zwei Ergänzungen, nach Thurman, Quints C., Deviance and the neutralization of moral commitment – An imperical analysis, in: Deviant Behavior. An Interdisciplinary Journal 5 (1984), 291–304, 292 f. und Maruna, Shadd und Copes, Heith, What have we learned in five decades of neutralization?, in: Crime and Justice. A review of research 32 (2005), 221–320, 265: (6) Gerechter, der sich einen Ausrutscher erlauben darf, (7) Verteidigung mit der Notwendigkeit.
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Der einzelne Gewalttäter wird sich vor geplanten schweren Gewalt-Tötungsakten zum Überherrn aufwerfen und damit die Opfer wenigstens zu Untermenschen herabstufen. Er neigt dazu, sie zu dämonischen „Un-Menschen“ oder „Un-Tieren“, wie Ungeziefer, zu dehumanisieren oder sie zumindest als „Fremde“, d.h. nicht mehr Nächste, zu exkommunizieren. Der an sich zur Moral fähige Täter entmenschlicht auf diese Weise nicht nur seine Opfer, sondern mit der Verdrängung seiner Empathie dehumanisiert er sich selbst. Er militarisiert sich und unterwirft sich auch billigen Schein- und Subkulturen. Den Mörder gleichwohl anders zu behandeln, als er seine Opfer behandelt, ihm trotz der Tat die Menschenwürde zuzuerkennen, bildet den Grundansatz des Humanismus. Sich ferner als Gesellschaft selbst ständig zu den angeblich natürlichen Menschenrechten zu bekennen, stellt unter anderem den Versuch dar, die vorhandenen Tötungshemmungen noch einmal kulturell zu verstärken. Versucht wird zum einen, die Idee der Eigenverantwortlichkeit im Täter zu stärken und zum ebenfalls neutralen Binnenrichter über seine eigene Entscheidung zu erheben. Dann kann er sich selbst beherrschen und damit als Demokrat auftreten. Anderseits greift die Gesellschaft den unvermeidbaren Milgram-Gehorsam der Mehrheit der Menschen auf. Sie kodifiziert das „gute Verhalten“ in Verfassungen, beschreibt das negative in Strafgesetzbüchern und lässt unter anderem in Gerichtshandlungen von anerkannten Gerichtspersonen dafür öffentlich werben. 5.4
„Mittelwelt“ des Menschen
In Kriegszeiten und in gesamten Kriegskulturen jedoch geschieht das exakte Gegenteil. Unterwerfung und die Kultur der Entindividualisierung herrschen dann vor. In der sozialen Realität findet aus diesem Grunde ein Doppelspiel mit Vertrauen in den Frieden und mit Furcht vor dem Krieg statt. So muss jede Gesellschaft selbst in Friedenszeiten ständig gleichfalls auf „Gewalttaten, gemeine Not und organisierten Krieg“ vorbereitet sein. Damit regiert am Ende die westliche „Zivilreligion des anthropozentrischen Humanismus“ als utopische Leitidee „die Versöhnung, die Strafe und die Gerechtigkeit“, und zwar vermutlich ebenso wie andere Religionen und deren heiligen Sozialordnungen vor ihr. Die Gegenwelt, die sie zu vermeiden sucht, beschreibt sie selbst. Sie besteht in der „Unversöhnlichkeit“, in der „blinden gewaltsamen Selbstjustiz“ und in der „Ungerechtigkeit“. Die säkulare Zivilreligion wendet sich insofern gegen die weltliche Natur-Kriegsreligion. Der Humanismus bekämpft die Entmenschlichung. Die Menschen leben also in der breiten Mittelwelt zwischen Kooperation und Aggression, zwischen Mitleid mit dem Nächsten, Entmenschlichung und Aggres-
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sionen. Die Bilder der Buchreligionen von Himmel und Hölle oder die fernöstliche 33 pragmatische Gemengelage von Yin und Yang beschreiben dasselbe. Das für das praktische Leben unerträglich erscheinende „Zwei-Welten-Modell“ bildet ferner die Grundlage der westlichen Philosophie. Sie trennt vorherrschend sogar überhart zwischen der Welt des Sollens und der Welt des Seins. Denn die Menschen leben in und mit beiden Welten. Seine ständigen „Pendelschläge“ zwischen Kultur und Natur bilden deshalb vereinfacht die pragmatische Mittelwelt zwischen der autonomen Freiheit und der sozialen und der biologischen Notwendigkeit. Menschen sind offenbar grundsätzlich jederzeit fähig, die Grenzlinie zwischen Frieden und Krieg, Kooperation und Aggression zu überschreiten. Menschen stehen durchgehend vor einer Art „borderline“- Problematik zwischen „Kultur“ und „Natur“. Und das Milgram-Experiment belegt, dass die Kultur als Friedens- oder als Kriegskultur zugespitzt einen „Zwei-Drittel-Gehorsam“ erwarten kann, wenn ein hinreichendes Vertrauen in sie und ihre „Versuchsleiter“ besteht. Das verbleibende Drittel beschreibt dann das Ausmaß der faktischen „Willensfreiheit“ eines an sich moralisch denkenden Menschen. In diesem Fall kann er sich als der wirklich freie Entscheider über sein Verhalten begreifen, er kann selbstbewusst als Akteur auftreten und sich als menschliche Person verstehen. Das Strafrecht einer Gemeinschaft erweist sich insoweit als verlässliches Beispiel für ihre Kultur. So ergänzen sich in Deutschland die Ideen des Sühnens und des gerechten Tatschuldausgleichs, die beide von der Willensfreiheit ausgehen, und die beiden großen Strafzwecke der Vorbeugung, die auf die blinde Unterwerfung unter Leitbilder setzen und die zwangsweise Resozialisierung betreiben. Als eine Emulsion wie Öl und Wasser, bestimmen diese Strafziele gemeinsam nicht nur die Gründe für alle Freiheits- und Geldstrafen, sondern auch die Strafhöhe sowie Ausgestaltung und Dauer des Vollzuges. Aber Europa verbietet die Tötung von Mördern. Verallgemeinert lebt der Mensch in einer synthetischen, und damit eigenen, Mittelwelt, die aus westlicher Sicht „Sollen und Sein“ verbindet. Er bewegt sich dort ständig zwischen den normativen Ansprüchen der Utopie einer Gemeinschaftsreligion und den realen Bedürfnissen der bio-physikalischen Natur. Zu „zwei Dritteln“ unterwirft der Mensch sich zumindest im Milgram-Experiment seiner Gemeinschaftsreligion. Zu „einem Drittel“ erweist er sich demnach als 33 Zum Vergleich von westlichen und asiatischen Kulturen: Madl, Pierre, Abrahamic vs. Asian Values: The We(a)stern Society, in: Giordano, Christian und Patry, Jean-Luc (Hrsg.), Theorie und Praxis – Brüche und Brücken, Freiburger sozialanthropologische Studien, Bd. 10, Münster 2006, 103–134, 115 („an explicit dualism, that expresses one implicit unit, such as good and bad, hot and cold, happiness and sadness, health and sickness, truth and falsity or life and death“. Danach steht der Mensch zwischen Himmel (Yang) und Erde (Yin). Am Ende steht, wie dort eingangs schon angemerkt, nach Madl, Pierre, Abrahamic vs. Asian Values: The We(a)stern Society, in: Giordano, Christian und Patry, Jean-Luc (Hrsg.), Theorie und Praxis – Brüche und Brücken, Freiburger sozialanthropologische Studien, Bd. 10, 123: „a holistic understanding by introducing Trans-disciplinarity“.
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autonomes Individuum. Zumindest aus der westlichen Sicht kann der Einzelne aber abwägen und sich wie ein Richter oder Händler frei und neutral, für oder willkürlich gegen das Gerechte beziehungsweise das Faire entscheiden (rational choice). Gehorsam scheint mit den Techniken der Neutralisierung und der Entindividualisierung, aus westlicher Sicht mit der Entmenschlichung der Opfer und der Täter einherzugehen. Das Recht selbst greift zu dieser Technik, indem es etwa den Streitgegenstand und die Akteure zu Rollenträgern zu verfremden und damit den Streit im positiven Sinne zugleich zu ent-emotionalisieren sucht. Die Überidee einer (geister-, gottes-, natur-, vernunft- oder menschen-) gerechten Ordnung bildet die politische Leitstruktur dieser humanen Mittelwelt und regiert über den Gedanken von Gehorsam und Konformität seine jeweilige politische Zivilisation. Die Utopie der gerechten Ordnung ist aber in halbkonkrete sozialreale weltliche Sollenssysteme zu transformieren, derzeit ist sie vor allem in jeweilige nationale Rechte und Pflichten auszuprägen. In dieser sozial-realen Mittelwelt, die hoch vereinfacht und plakativ gemeint zu „zwei Dritteln“ aus der Suche nach Konformität zu bestehen scheint, und zu „einem Drittel“ aus moralischen Entscheidungen, lebt der Mensch offenbar tatsächlich als aktive und passive Person. Dennoch begründet auf der normativen Ebene die Idee der Autonomie des Menschen sowohl die Staatsform der Demokratie und das Menschenbild der Menschrechte. Denn „im Zweifel“ und bis zum Beweis des Gegenteils ist in der westlichen Welt für jeden konkreten Fall davon auszugehen, dass ein Mitbürger und Mitmensch sich frei und eigenverantwortlich für sein Tun und Unterlassen entschieden hat. In einem solchen Geflecht aus normativen und empirischen Strukturen übt der Jurist seinen Beruf aus. In einem westlichen Rechtsstaat hilft er bei der privaten Schlichtung von inter-personalen Konflikten sowie auf der staatlichen Seite des Rechts bei der Gesetzgebung, der Verurteilung und der Vollstreckung. Er selbst lebt als Mensch und Person vom Richten des konkreten Unrechts, wie der Arzt vom Heilen der Krankheiten und wie der Psychologe und der religiöse Seelsorger vom Umgang mit den seelischen Folgen von Verlust, Gewalt und Tod. Ohne den Rechtsstaat liegt es für den Juristen nahe, auf die zu Recht geronnenen Erfahrungen der spätmittelalterlichen Rechtsysteme zurückzugreifen, und zwar insoweit als sie das Leben von freien Rechtspersonen betreffen. Um nach Krieg und Bürgerkrieg einen demokratischen Staat aufzubauen, bedarf es zudem offenbar einer ganzheitlichen religiösen oder einer zivilreligiösen „Versöhnung“, und zwar als versöhnende Aufklärung von schweren Menschenrechtsverletzungen und als versöhnende höhere Gerechtigkeit. Eine solche Versöhnung führt, sobald sie gesamte Bevölkerungsteile betrifft, der Sache nach zu einem neuen Verfassungsvertrag. Jener schafft eine Zivilgesellschaft und ihr dann den Rahmen des Rechtsstaates.
Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit
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III. Historische Fallbeispiele
Das Völkerstrafrecht im Jahrhundert der Weltkriege* Gerhard Werle
1.
Einführung
Lassen Sie mich einführend die folgenden Fragen behandeln: Was heißt Völkerstrafrecht? Was sind Völkerrechtsverbrechen? Und wie unterscheiden sich Völkerrechtsverbrechen von „normalen“ Straftaten? Jeder weiß, was mit Mord, Totschlag oder Diebstahl gemeint ist. Hier werden von Einzelpersonen Straftaten gegen andere Personen begangen. Diese Taten sind von den staatlichen Rechtsordnungen unter Strafe gestellt und werden von der staatlichen Strafjustiz verfolgt. Völkerrechtsverbrechen sind dagegen nur solche Taten, die direkt nach dem Recht der Völkergemeinschaft, nach dem Völkerrecht strafbar sind. Solche Straftaten sind: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Es handelt sich dabei, so die Worte des Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGHStatut), um die „schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“ und damit den Weltfrieden stören. Beim Völkermord liegt die Weltfriedensstörung im (geplanten) Angriff auf den Bestand einer religiösen, rassischen, ethnischen oder nationalen Gruppe. Bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit besteht die Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der Welt in der systematischen oder massenhaften Verletzung von grundlegenden Menschenrechten der Zivilbevölkerung. Bei den Kriegsverbrechen wird der Einsatz verbotener Kampfmittel und verbotener Kampfmethoden in militärischen Auseinandersetzungen bestraft. Schließlich kriminalisiert das Aggressionsverbrechen den unmittelbaren Angriff gegen den Weltfrieden, nämlich die Herbeiführung eines Angriffskrieges. Dass die genannten Taten direkt nach Völkerrecht strafbar sind, ist heute anerkannt; nur beim Aggressionsverbrechen bestehen noch gewisse 1 Zweifel, was den Umfang der Strafbarkeit angeht. Am Ausgang des letzten Jahrhunderts, zu Beginn der 1990er Jahre, lag über dem Völkerstrafrecht noch der Schatten des Zweifels: Gibt es wirklich ein universell geltendes Strafrecht, ein Weltstrafrecht, ein Völkerstrafrecht, wo doch überall Verantwortliche von Massenmorden, von massenhaften Menschenrechtsverletzungen, von Verstößen gegen das Recht der militärischen Kampfführung straflos *
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Der Beitrag greift Überlegungen auf, die der Verfasser 2007 in der Festschrift für Peter Reichel veröffentlicht hat. – Für wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Publikation danke ich meiner Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Gregoria Palomo Suárez. Zum Ganzen Werle, Gerhard, Völkerstrafrecht, Tübingen 22007, Rn. 81 ff.
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bleiben? Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die juristischen Ausgangspositionen völlig unumstritten: Das Völkerstrafrecht ist geltendes Völkerrecht. Das Völkerstrafrecht wird von internationalen Gerichtshöfen angewendet. Die Staaten sind zur Durchsetzung des Völkerstrafrechts aufgerufen. Der Beitrag zeigt zunächst, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Sodann werden aktuelle Fragen der Durchsetzung des Völkerstrafrechts behandelt und das heikle Verhältnis der Deutschen zum Völkerstrafrecht beleuchtet.
2.
Prolog: Der Friedensvertrag von Versailles
Der Gedanke eines weltweit geltenden Strafrechts lässt sich weit in die Geschichte der Menschheit zurückverfolgen. Aber erst im 20. Jahrhundert beginnt eine Ver2 rechtlichung solcher Überlegungen. Dabei war dem klassischen Völkerrecht der Gedanke einer strafrechtlichen Haftung von Einzelpersonen völlig fremd. Völkerrechtssubjekte waren ausschließlich die Staaten, nicht aber Individuen. Es waren dann die Schrecken der beiden Weltkriege, vor allem aber die nationalsozialistischen Jahrhundertverbrechen, die dem Gedanken eines universell geltenden Strafrechts zum Durchbruch verhalfen. Erste Ansätze zur Begründung individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit im Völkerrecht finden sich im Friedensvertrag von Versailles vom 29. Juni 1919. Der Vertrag sah vor, den deutschen Kaiser „wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge“ vor einem internationalen Strafgericht unter Anklage zu stellen. Gleichzeitig wurde die deutsche Regierung verpflichtet, Kriegsverbrecher zur Aburteilung an die Alliierten auszulie3 fern. Die im Friedensvertrag niedergelegten Absichten konnten jedoch nicht verwirk4 licht werden. Die Niederlande verweigerten die Auslieferung des Kaisers und die 2
3
4
Vgl. zu den Anfängen des Völkerstrafrechts: Ahlbrecht, Heiko, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, Baden-Baden 1999, 19 ff.; Jescheck, Hans-Heinrich, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, Bonn 1952, 19 ff. Vgl. Art. 227, 228 Versailler Vertrag. Zur Aburteilung des Kaisers sollte ein international besetzter Gerichtshof eingerichtet werden. Das Gericht selbst sollte mit fünf Richtern besetzt werden, von denen jeweils einen die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan ernennen sollten. Die Niederlande, die heute das Völkerstrafrecht entschieden fördern und Sitzstaat von Jugoslawien-Strafgerichtshof und Internationalem Strafgerichtshof sind, erklärten im Zusammenhang mit der Weigerung, den deutschen Kaiser auszuliefern: „Wenn in Zukunft durch den Völkerbund eine internationale Rechtsprechung geschaffen werden sollte, die befugt wäre, im Falle eines Krieges über die Taten Recht zu sprechen, die durch ein vorher ausgearbeitetes Statut zu Verbrechen gestempelt und als solche sanktioniert sind, dann werden die Niederlande sich der neuen Ordnung der Dinge anschließen“, vgl. Antwortnote der niederländischen Regierung auf das Auslieferungsverlangen der Alliierten und Assoziierten Mächte betreffend den ehemaligen Deutschen Kaiser vom 21. Januar 1920, in: Grewe, Wilhelm (Hrsg.), Historiae Iuris Gentium, Band 3/2, Berlin/New York 1992, Nr. 95.
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Deutschen selbst wehrten sich entschieden gegen eine Aburteilung ehemaliger deutscher Soldaten durch alliierte Gerichte. Ersatzweise wurden schließlich vor dem Reichsgericht in Leipzig einige wenige Strafverfahren wegen deutscher 5 Kriegsverbrechen durchgeführt, die „Leipziger Kriegsverbrecherprozesse“. Freilich waren diese Prozesse eher Schein- und Schauverfahren zur Befriedigung der Siegermächte als ein ernsthafter Versuch, Kriegsverbrechen zu ahnden; zu Schuldsprüchen kam es nur gegen zehn Personen, zur vollständigen Strafverbüßung in keinem einzigen Fall. Trotz dieser mageren Ergebnisse sollte sich später zeigen: Das im Versailler Vertrag angelegte Modell einer Bestrafung nach Völkerrecht war nicht nur revolutionär, es war auch zukunftsträchtig.
3.
Durchbruch: Das Recht von Nürnberg und Tokio
Nach dem Prolog im Versailler Vertrag brachte das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg (Charter of the International Military Tribunal, 6 IMG-Statut), das am 8. August 1945 mit dem Londoner Abkommen von den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges beschlossen wurde, den entscheidenden Durchbruch für das Völkerstrafrecht. Das Statut reagierte auf die im deutschen Namen begangenen Verbrechen des Nationalsozialismus. Als juristische Antwort formulierte das Statut den Grundsatz der direkten Strafbarkeit nach Völkerrecht für Verbrechen gegen den Frieden, für Kriegsverbrechen und für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für das Völkerrecht war diese Position revolutionär: Erstmals wurden Personen wegen Verbrechen gegen das Völkerrecht tatsächlich zur Verantwortung gezogen. Hierzu heißt es in der wohl berühmtesten Passage des Urteils des Internationalen Militärgerichtshofs: „Verbrechen gegen das Völkerrecht werden von Menschen und nicht von abstrakten Wesen begangen, und nur durch die Bestrafung dieser Einzelpersonen, die solche Verbrechen begehen, kann den Bestimmungen des Völkerrechts Geltung verschafft werden.“7
5
6
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Vgl. dazu Hankel, Gerd, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003, 344 ff.; Selle, Dirk von, Prolog zu Nürnberg – Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse vor dem Reichsgericht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 19 (1997), 193–209, 193, 196 ff., 201; Wiggenhorn, Harald, Verliererjustiz. Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg, Baden-Baden 2005. Agreement for the Prosecution and Punishment of the Major War Criminals of the European Axis; das IMG-Statut ist dem Abkommen als Anhang beigefügt. Der amtliche Wortlaut in deutscher Sprache ist abgedruckt in: Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hrsg.), Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 1, Nürnberg 1947, 7 ff. IMG, Urt. v. 1. Oktober 1946, in: Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg, Der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, 189, 249.
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Gerhard Werle
Das Recht von Nürnberg diente auch als Basis für die Kriegsverbrecherprozesse von Tokio und für zahlreiche Nachfolgeprozesse in den deutschen Besatzungszonen. Bis heute bilden die Nürnberger Tatbestände die Grundlage des Völkerstraf8 rechts. Insgesamt wurden im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zwölf Angeklagte zum Tode verurteilt (Göring, von Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart, Bormann), drei Angeklagte zu lebenslänglichem Gefängnis (Heß, Funk, Raeder) sowie vier Angeklagte zu Gefängnisstrafen zwischen zehn und 20 Jahren (Dönitz, von Schirach, Speer, von Neurath); drei Angeklagte wurden freigesprochen (Schacht, von Papen, Fritzsche). In der rechtlichen und in der politischen Bewertung blieb das Vorgehen der 9 Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg kontrovers. Zu nennen ist vor allem der Vorwurf der Siegerjustiz, stellten doch ausschließlich die Alliierten die Richter und die Ankläger, die Deutschen die Angeklagten. Den Alliierten lag es dabei fern, auch die von ihren Staatsangehörigen während des Krieges begangenen Verbrechen zu verfolgen. Stichworte lauten: Ermordung polnischer Offiziere in Katyn, Luftkriegsverbrechen oder Vertreibungsverbrechen. In der juristischen Kritik an Nürnberg wurde insbesondere eine Verletzung des Rückwirkungsverbots behauptet, wobei vor allem die Bestrafung wegen Angriffskrieges kritisiert wurde. Die Ansichten darüber, ob alle vom Nürnberger Gerichtshof abgeurteilten Verbrechen bereits zur Tatzeit völkergewohnheitsrechtlich strafbar waren, sind auch heute noch geteilt. Freilich ist diese Frage inzwischen nur noch von rechtshistorischer Bedeutung. Denn die Nürnberger Prinzipien haben in der Folgezeit eine vielfache Bestätigung als geltendes Völkerrecht erfahren. Was den möglichen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot angeht, hätte man heute zudem die nüchterne Feststellung zu treffen: Das Rückwirkungsverbot hat nicht die Funktion, völker10 rechtswidrigen Machtmissbrauch von Strafe abzuschirmen. 8 9
Ausführlich zum Ganzen Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 16 ff. Vgl. hierzu Reichel, Peter, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, 42 ff. Eingehend zu den Einwänden Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 149 ff.; Jung, Susanne, Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse dargestellt am Verfahren gegen Friedrich Flick, Tübingen 1992, 89 ff.; vgl. ferner Kreß, Claus, Versailles – Nürnberg – Den Haag: Deutschland und das Völkerstrafrecht, in: Juristenzeitung 61 (2006) 20, 981–991; Merkel, Reinhard, Das Recht des Nürnberger Prozesses, in: Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg.), Von Nürnberg nach Den Haag, Hamburg 1996, 69, 78 ff.; Tomuschat, Christian, The Legacy of Nuremberg, in: Journal of International Criminal Justice 4 (2006), 830–844; Werle, Gerhard, Von der Ablehnung zur Mitgestaltung: Deutschland und das Völkerstrafrecht, in: Dupuy, Pierre-Marie et al. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung – Festschrift für Christian Tomuschat, Kehl u. a. 2006, 655 – 669, 655, 657 f.; Zimmermann, in: Reginbogin, Herbert R., und Safferling, Christoph J. M. (Hrsg.), The Nuremberg Trials – International Criminal Law Since 1945/Die Nürnberger Prozesse – Völkerstrafrecht seit 1945, Berlin/New York 2006, 266 ff. 10 Vgl. dazu Merkel, in: Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg.), Von Nürnberg nach Den Haag, 69, 78 ff.; Naucke, Wolfgang, Bürgerliche Kriminalität, Staatskriminalität und Rückwirkungsverbot, in: Donatsch, Andreas u. a. (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschen-
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Eine erste Bestätigung fand das in Nürnberg angewendete Völkerstrafrecht im Tokioter Prozess, dem zweiten Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Zwei11 ten Weltkrieges, der von 1946 bis 1948 in Tokio stattfand. Grundlage des Tokioter Kriegsverbrecherprozesses war im Gegensatz zum Nürnberger Prozess kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern ein Erlass des Oberbefehlshabers der alliierten Streitkräfte MacArthur vom 19. Januar 1946, durch den der Gerichtshof errichtet und das anwendbare Recht festgelegt wurde (Charter of the International Military 12 Tribunal for the Far East; IMGFO-Statut). Als Vorlage für das IMGFO-Statut diente das IMG-Statut; das Kernstück des Statuts bildeten die Nürnberger Tatbestände, also die Verbrechen gegen den Frieden, die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit; auf der Richterbank waren weitaus mehr 13 Staaten vertreten als in Nürnberg. Gegenstand des Prozesses war die aggressive Kriegspolitik Japans in den Jahren bis 1945. Angeklagt waren Angehörige der politischen und militärischen Führungsriege, insgesamt 28 Personen. Von einer Anklage gegen den Tenno, den japanischen Kaiser, wurde aus Gründen der politischen Opportunität jedoch abgesehen. Der Prozess endete mit der Verurteilung aller Angeklagten. Neben sieben Todesstrafen wurden 16 lebenslange Freiheitsstrafen und zwei zeitige Freiheitsstrafen verhängt. Das in Nürnberg und Tokio angewendete Völkerstrafrecht wurde in zahlreichen Nachfolgeprozessen der unmittelbaren Nachkriegszeit bestätigt und präzisiert. Gemeinsame Rechtsgrundlage für die Verfahren in den deutschen Besatzungszonen war das „Gesetz Nr. 10 über die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit schuldig gemacht haben“ des Alliierten Kontrollrats vom 20. Dezember 1945 (Kontrollratsgesetz Nr. 10, KRG 10). Aus der Reihe der zahlreichen Verfahren sind die zwölf so genannten „Nürnberger Nachfolgeprozesse“ hervorzuheben, die bis Mitte rechte: Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag, Zürich 2002, 505–516, 505, 511; Werle, Gerhard, Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, in: Neue Juristische Wochenschrift 54 (2001) 41, 3001–3008. 11 Verfahrensmitschriften und Urteil liegen in einer 22-bändigen Dokumentation vor, vgl. Pritchard, John R. und Zaide, Sonja Magbanua (Hrsg.), The Tokyo War Crimes Trial, Bd. 1, New York u. a. 1981. Vgl. zum Verfahren selbst zusammenfassend Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 103 ff.; Osten, Philipp, Der Tokioter Kriegsverbrecherprozeß und die japanische Rechtswissenschaft, Berlin 2003, 22 ff. 12 Der Erlass bestimmte: „[T]he constitution, jurisdiction and functions of this Tribunal are those set forth in the Charter of the International Military Tribunal for the Far East, approved by me this day“, vgl. Special Proclamation by the Supreme Commander for the Allied Powers vom 19. Januar 1946, in: Pritchard, John R. und Zaide, Sonja Magbanua (Hrsg.), The Tokyo War Crimes Trial, Bd. 1, New York u. a. 1981. 13 Beteiligt waren alle Staaten, gegenüber denen Japan die Kapitulation erklärt hatte (neben den USA und Großbritannien auch die Sowjetunion, Australien, China, Frankreich, Kanada, die Niederlande und Neuseeland) sowie Indien und die Philippinen. Der Präsident des Gerichts wurde anders als in Nürnberg nicht von den Mitgliedern gewählt, sondern vom Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte ernannt (Art. 3). Gleiches galt gemäß Art. 8 für den Hauptankläger.
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1949 vor US-amerikanischen Militärgerichten durchgeführt wurden. Jedes der zwölf Verfahren konzentrierte sich auf eine spezifische Tätergruppe; angeklagt waren in diesen Verfahren hohe Vertreter des Militärs, der Justiz und der Ärzteschaft, Repräsentanten der Wirtschaft, der Industrie sowie führende Persönlichkeiten aus Staat und Partei. Im Einzelnen handelte es sich um den so genannten Ärzte-Prozess (gegen Brandt et al.), den Prozess gegen Generalfeldmarschall Milch wegen Mitwirkung am Kriegsrüstungsprogramm, den „Juristen-Prozess“ (gegen Altstötter et al.), den Prozess gegen Angehörige des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS, dem die Verwaltung der Konzentrationslager unterstand (gegen Pohl et al.), den Prozess gegen den Industriellen Flick et al., den so genannten IG-Farben-Prozess (gegen Krauch et al.), den „Geiselmord-Prozess“ (gegen List et al.), den Prozess gegen Mitarbeiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes (RuSHA, gegen Greifelt et al.), den so genannten Einsatzgruppen-Prozess (gegen Ohlendorf et al.), den Prozess gegen den Industriellen Krupp et al., den „Wilhelmstraßen-Prozess“ gegen hohe Repräsentanten des NS-Staates (gegen v. Weizsäcker et al.), sowie den so genannten OKW14 Prozess gegen hohe Offiziere der Wehrmacht (gegen v. Leeb et al.).
4.
Bekräftigung und Stillstand: Völkerstrafrecht im Kalten Krieg
Die Nürnberger Prinzipien wurden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten durch zahlreiche Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, durch Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes sowie durch die Berichte 15 und Entwürfe der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen bekräftigt. In der Justizpraxis der Staaten und der Staatengemeinschaft fanden die Signale von Nürnberg und Tokio dagegen zunächst kaum einen Niederschlag. Internationale Strafgerichte traten für Jahrzehnte nicht mehr auf den Plan und die Anwen14 Zusammenfassend Ueberschär, Gerd R. (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt/M 1999, sowie Rückerl, Adalbert, NS-Verbrechen vor Gericht, Heidelberg 21984. Die Prozesse der Nachkriegszeit im geteilten Deutschland sind dokumentiert durch Rüter, C. F., und Mildt, D. W. de (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen – Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999, Berlin – New York 1968 ff, sowie Rüter, C. F. (Hrsg.), DDR-Justiz und NSVerbrechen – Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Amsterdam 2002 ff. Eine rechtliche Würdigung der westdeutschen Urteile findet sich u.a. bei Freudiger, Kerstin, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002; vergleichende Überlegungen bietet Weinke, Anette, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969, oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002. Die Verschränkung von juristischer Aufarbeitung und Erinnerungskultur wird von Reichel, Peter, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München, 2001 behandelt. 15 Näher dazu Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 39 ff.
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dung völkerstrafrechtlicher Normen durch staatliche Gerichte blieb die seltene Ausnahme. Immerhin können hier etwa das Jerusalemer Verfahren gegen Adolf Eichmann, der französische Prozess gegen Klaus Barbie oder der kanadische 16 Prozess gegen Imre Finta genannt werden. So ergab sich am Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts eine paradoxe Situation: Einerseits waren die rechtlichen Grundlagen des Völkerstrafrechts weitgehend gesichert und das Recht von Nürnberg hatte sich konsolidiert. Andererseits fehlten den Staaten und der Staatengemeinschaft die Bereitschaft und die Fähigkeit, diese Grundsätze mit Leben zu erfüllen.
5.
Renaissance: Die Errichtung der Ad-hoc-Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen
Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die Vereinten Nationen in der Lage, ihr Friedenssicherungssystem zu aktivieren. Die Völkergemeinschaft begnügte sich nun nicht mehr mit Resolutionen und der Einsetzung von Kommissionen. Die schweren Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und die Massentötungen in Ruanda gaben den Anlass, das Recht von Nürnberg auch in der Praxis zu reaktivieren. Mit der Errichtung der Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und wenig später für Ruanda machte der UN-Sicherheitsrat deutlich: Systematische und schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte sind Weltfriedensstörungen. Dies gilt namentlich für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Zu den Gerichten von Nürnberg und Tokio gibt es bedeutende Unterschiede: Die Strafgerichtshöfe wurden nunmehr nicht von siegreichen Mächten nach dem Ende eines militärischen Konflikts eingesetzt, sondern von den Vereinten Nationen. Die Gerichtshöfe wurden zur „Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ geschaffen, wie es Art. 39 der Charta der Vereinten Nationen vorsieht. 5.1
Der Jugoslawien-Strafgerichtshof
Der Jugoslawien-Strafgerichtshof wurde mit Resolution 827 vom 25. Mai 1993 ins Leben gerufen. Er ist zuständig für die Verfolgung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit dem 1. Januar 1991 17 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien begangen worden sind. Alle Staaten sind zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof verpflichtet. Die Strafvollstreckung
16 Näher dazu Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 42, 283 ff. 17 Ausführlich zur Errichtung und Arbeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofes: Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 44 ff., 259 ff.
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Gerhard Werle
wird von Staaten übernommen, die sich dazu in einem Übereinkommen mit dem Gerichtshof oder im Einzelfall bereiterklärt haben. Bis September 2009 wurden vor dem Gerichtshof 161 Personen angeklagt. Gegen 120 Angeklagte sind die Verfahren inzwischen abgeschlossen. Freiheitsstrafen wurden dabei gegen 60 Personen verhängt. Elf Beschuldigte wurden freigesprochen; Verfahren gegen 13 Angeklagte wurden zur Aburteilung an Gerichte des ehemaligen Jugoslawiens verwiesen. Gegen 36 Beschuldigte erledigte sich das Verfahren 18 durch Rücknahme der Anklage oder durch den Tod des Beschuldigten. 5.2
Der Ruanda-Strafgerichtshof
Im Jahre 1995 errichtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den RuandaStrafgerichtshof. Der Gerichtshof mit Sitz in Arusha, Tansania, ist zuständig für die Verfolgung von Völkermordtaten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Verstöße gegen den gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen und gegen deren Zusatzprotokoll II, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1994 in Ruanda begangen worden sind; die Zuständigkeit erstreckt sich darüber hinaus auch auf die Verbrechen, die ruandische Staatsangehörige innerhalb dieses Zeitraums außerhalb Ruandas begangen haben. Bislang wurden 92 Personen vor dem Gerichtshof angeklagt. Gegen 44 von ihnen wurde das Strafverfahren inzwischen abgeschlossen. Sechs Angeklagte wurden freigesprochen, die übrigen zu Freiheitsstrafen zwischen sechs Jahren und lebenslänglich verurteilt. Gegen zwei Angeklagte wurde die Anklage zurückgenommen; ein Beschuldigter verstarb vor Beendigung der Hauptverhandlung. 13 Angeklagte sind weiterhin auf der Flucht. Hervorzuheben sind das Strafverfahren gegen Jean Paul Akayesu, bei dem erstmals ein internationales Gericht eine Verurteilung wegen Völkermordes aussprach, sowie die Verurteilung des ehemaligen 19 Premierministers von Ruanda, Jean Kambanda. Beide Gerichtshöfe sind nicht auf Dauer konzipiert. Ein Ende ihrer Tätigkeit zeichnet sich bereits ab. Für beide Ad-hoc-Tribunale wurde eine so genannte „Completion Strategy“ erarbeitet, nach der ursprünglich bis Ende 2010 alle Verfahren beendet sein sollten. Die in der „Completion Strategy“ vorgesehenen Termine sind dabei nicht als starre Ausschlussfristen zu verstehen, sondern als Zielvorgaben. Mittlerweile erwartet der Jugoslawien-Strafgerichtshof, dass drei Verfahren noch länger als bis 2010 dauern werden; im Jahr 2013 sollen dann auch alle Rechtsmittelverfahren abgeschlossen sein.
18 Der Prozess gegen den prominentesten Angeklagten, den ehemaligen jugoslawischen Staatschef Slobodan Milošević, musste nach dessen plötzlichem Tod im März 2006 eingestellt werden, nur wenige Monate vor dem voraussichtlichen Abschluss des Verfahrens in erster Instanz. Vgl. dazu Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 254 m.w.N. 19 Vgl. zum Ganzen: Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 44 ff., 272 ff. m.w.N.
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Der Jugoslawien-Strafgerichtshof hat – ebenso wie der Ruanda-Strafgerichtshof mit Blick auf Félicien Kabuga – regelmäßig betont, ein Ende seiner Tätigkeit ohne vorherige Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher Radovan Karadžić und Ratko 20 Mladić lasse die „historische Mission“ unerfüllt. Der Erfolg dieser Mission hängt auch davon ab, ob es gelingen wird, die staatliche Justiz im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda so zu stärken, dass diese unter Beachtung international anerkannter Verfahrensstandards die strafrechtliche Aufarbeitung abschließen kann.
6.
Verstetigung: Das IStGH-Statut und die Errichtung eines (ständigen) Internationalen Strafgerichtshofes
Die Errichtung des (ständigen) Internationalen Strafgerichtshofes bildet den vor21 erst letzten Meilenstein in der Entwicklung des Völkerstrafrechts. Die Bemühungen um die Schaffung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofes reichen in 22 die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück. Ein erster Versuch, im Rahmen des Völkerbundes einen ständigen internationalen Strafgerichtshof zur Verfolgung terroristischer Straftaten zu errichten, scheiterte 1937. Dann sah die Völkermordkonvention von 1948 die Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichts vor. Der aufkommende Kalte Krieg verhinderte jedoch die Errichtung eines solchen Strafgerichtshofes. Erst nach Ende des Kalten Krieges gelang es, die Arbeiten zur Schaffung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofes entscheidend voran23 zubringen. Am 17. Juli 1998 wurde das „Römische Statut des Internationalen Strafge24 richtshofs“ (Rome Statute of the International Criminal Court, IStGH-Statut) auf der Konferenz von Rom mit 120 Stimmen angenommen. Nur sieben Staaten lehnten das Statut ab, nämlich die USA, China, Israel, Irak, Libyen, Jemen und Katar. 21 Staaten enthielten sich der Stimme. Knapp vier Jahre später, am 11. April 2002, lag dann die erforderliche Anzahl von 60 Ratifikationen vor und das Statut konnte
20 Vgl. für den Jugoslawien-Strafgerichtshof UN Doc. S/2006/898, Annex I, para 29; Annex II, para 27, in: http://www.securitycouncilreport.org/site/c.glKWLeMTIsG/b.4007105/ [31.8.2009]; für den Ruanda-Strafgerichtshof Statement by Justice, Hassan B. Jallow, Prosecutor of the ICTR, to the UN Security Council v. 15. Dezember 2006, in: http://69.94.11.53/ENGLISH/speeches/jallow 070606.htm [31.8.2009]. Karadžić wurde im Juli 2008 festgenommen und dem Gerichtshof überstellt. Mladić ist weiterhin flüchtig. 21 Vgl. zum IStGH-Statut und zum Internationalen Strafgerichtshof Werle, Völkerstrafrecht, 22007, Rn. 55 ff., 229 ff. m.w.N. 22 Eingehend zur Entwicklung bis heute Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 143 ff. und Bassiouni, M. Cherlif, The Legislative History of the International Criminal Court, Bd. 1, Ardsley 2005, 41 ff. 23 Vgl. dazu Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 56 ff. 24 BGBl. 2002 II, 1393.
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am 1. Juli 2002 in Kraft treten. Inzwischen haben 139 Staaten das Statut gezeich25 net, 106 sind ihm beigetreten. Dass es zur Gründung dieses Strafgerichtshofs gekommen ist, ist ein großartiger Erfolg. Auch ist es gelungen, einen echten Gerichtshof zu schaffen, der nicht vom Sicherheitsrat abhängig ist und der eine klare eigene Zuständigkeit hat. Bei den Verhandlungen in Rom gab es nämlich Bestrebungen mächtiger Staaten, die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs möglichst zu begrenzen. Diese Staaten, unter ihnen die USA, wollten letztlich keinen starken Gerichtshof, sondern eher eine Alibi-Institution mit dem UN-Sicherheitsrat als Herrn und Meister. Dann hätte jede Aktivität des Internationalen Strafgerichtshofs durch ein Veto im Sicherheitsrat blockiert werden können. Freilich mussten einige Kompromisse geschlossen werden. Der Strafgerichtshof ist deshalb nicht automatisch für alle Völkerrechtsverbrechen zuständig, die irgendwo auf der Welt begangen werden. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs folgt nicht dem so genannten Weltrechtsprinzip, das für alle Völkerrechtsverbrechen immer eine Zuständigkeit begründet hätte, unabhängig davon wo, durch wen oder gegen wen sie begangen worden sind. Vielmehr setzt die Zuständigkeit des Gerichtshofs im Regelfall zunächst voraus, dass die Tat auf dem Territorium einer Vertragspartei begangen wurde oder dass der Täter Angehöriger eines Vertragsstaates ist. Unter diesen Voraussetzungen tritt der Gerichtshof nur dann auf den Plan, wenn einzelstaatliche Strafgerichte bei der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen versagen, weil sie nicht 26 willens oder nicht in der Lage sind, die Völkerrechtsverbrechen zu verfolgen. Einbezogen in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs sind die völkerrechtlichen Kernverbrechen, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Dabei befindet sich das Aggressionsverbrechen freilich noch in einer Art „Wartezustand“, weil eine abschließende Definition erst noch erfolgen muss. Der Gerichtshof hat am 11. März 2003 in Den Haag seine Arbeit aufgenommen. Innerhalb weniger Jahre hat er sich zu einer funktionierenden Institution der 27 internationalen Strafrechtspflege entwickelt. Drei Staaten – die Demokratische Republik Kongo, Uganda und die Zentralafrikanische Republik – haben Situationen gemäß Art. 13 a) IStGH-Statut an den 25 Dazu zählen alle Staaten der Europäischen Union sowie viele Staaten aus Südamerika und Afrika. Asien ist bisher vergleichsweise schwach vertreten. Für den aktuellen Stand vgl. http://www.icc-cpi.int/asp/statesparties.html [Mai 2008]. Die USA haben ihre vom damaligen Präsidenten Clinton geleistete Unterschrift zurückgezogen. 26 Ausführlich dazu Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 226 ff. 27 Eine Bilanz der Tätigkeit in den ersten beiden Jahren zieht Kaul, Hans-Peter, Construction Site for More Justice: The International Criminal Court After Two Years, in: American Journal of International Law 99 (2005) 2, 370–384. Kritisch zur bisherigen Verfahrenspraxis Cassese, Antonio, Balancing the Prosecution of Crimes against Humanity and Non-Retroactivity of Criminal Law: The Kolk and Kislyiy v. Estonia Case before the ECHR, in: Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 410–418.
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Gerichtshof überwiesen. In zwei dieser Situationen – Kongo und nördliches Uganda – hat der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs bereits Ermittlungen eingeleitet und Haftbefehle ausgestellt. Im März 2006 wurde der erste Beschuldigte, der Kongolese Thomas Lubanga Dyilo, dem Internationalen Strafgerichtshof überstellt. Ihm werden die Zwangsverpflichtung und der Einsatz von Kindersoldaten vorgeworfen. Im Januar 2007 hat die Vorverfahrenskammer die 28 Anklage zugelassen; das Hauptverfahren hat am 26. Januar 2009 begonnen. Mittlerweile befinden sich zwei weitere Kongolesen wegen des Vorwurfs der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Den Haag in Haft. Am 18. Oktober 2007 wurde Germain Katanga an den Gerichtshof überstellt. Am 7. Februar 2008 folgte Mathieu Ngudjolo Chui. Seit Juli 2008 befindet sich außerdem Jean-Pierre Bemba Gombo im Gewahrsam des Internationalen Strafgerichtshofs. Der UN-Sicherheitsrat hat dem Gerichtshof die Situation in Darfur/Sudan überwiesen. Auch hier hat der Ankläger Ermittlungen aufgenommen. Mit Bahr Idriss Abu Garda ist im Mai 2009 zum ersten Mal ein Angeklagter freiwillig vor dem Gerichtshof erschienen. Ferner hat die Elfenbeinküste die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs gemäß Art. 12 Abs. 3 IStGH-Statut anerkannt; der Gerichtshof ist damit für Taten zuständig, die in dem westafrikanischen Land begangen worden sind, obwohl dieses (noch) kein Vertragsstaat des IStGH29 Statutes ist.
7.
Aktuelle Tendenzen
Die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes bildet einen vorläufigen Höhepunkt der Entwicklung des Völkerstrafrechts, nicht aber deren Abschluss. Seitdem das IStGH-Statut von der Staatenkonferenz in Rom angenommen worden ist, sind vor allem zwei neuere Entwicklungen zu beobachten: die Einrichtung neuer, national-internationaler Strafgerichte und die Implementierung, d.h. die innerstaatliche Übernahme des Völkerstrafrechts durch die Staaten.
28 Vgl. IStGH-Presseerklärung vom 13. März 2008. Ursprünglich sollte das Hauptverfahren schon am 31. März 2008 beginnen, vgl. IStGH-Presseerklärung vom 13. März 2008, in: http://www.icccpi. int/menus/icc/press%20and%20media/press%20releases/press%20releases%20(2008)/the%20trial%20 in%20the%20case%20of%20thomas%20lubanga%20dyilo%20will%20commence%20on%2023%20june% 202008 [31.8.2009]. Ursprünglich sollte das Hauptverfahren schon am 31. März 2008 beginnen, vgl. IStGH, Beschl. v. 9. November 2007 (Lubanga, TC), para. 29, in: http://www. icccpi.int/NR/rdonlyres/201AC60A-FFCE-4600-AD0D-87428E6D0C98/277098/ICCASP620_ VolII_English1.pdf [31.8.2009]. 29 Aktuelle Informationen zu den einzelnen Verfahren sind auf der Homepage des Gerichtshofes abrufbar unter: http://www.icc-cpi.int.
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Gerhard Werle
7.1
Die Einrichtung „internationalisierter“ Strafgerichte (hybrid courts)
Die neuen „gemischten“ oder „hybriden“ Strafgerichte sind zwar in das System staatlicher Strafrechtspflege eingebunden, zugleich weisen sie aber internationale 30 Komponenten auf. Zu dieser Art von Gerichten zählen der Sondergerichtshof für Sierra Leone, die Sonderkammern in Ost-Timor, die Außerordentlichen Kammern in Kambodscha, die Kammern für Kriegsverbrechen in BosnienHerzegowina sowie das vom UN-Sicherheitsrat auf Grundlage von Kapitel VII UN-Charta errichtete Sondertribunal für den Libanon, das die Verantwortlichen für den tödlichen Angriff auf den ehemaligen libanesischen Premierminister Rafiq Hariri verfolgen soll. Ferner ist in diesem Zusammenhang der Einsatz „internatio31 naler“ Richter und Staatsanwälte im Kosovo zu nennen. Kennzeichnend für diese neuartige, „hybride“ Form der Strafgerichtsbarkeit ist die Kombination nationaler und internationaler Elemente, wobei die „Internationalität“ regelmäßig auf der Einbindung der Vereinten Nationen beruht. Art und Ausmaß der Internationalisierung variieren: Das internationale Element kann die Rechtsgrundlage der Gerichte, die Auswahl der Richter und Staatsanwälte oder das anwendbare Recht betreffen. Wie die internationalen Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen sind die internationalisierten Strafgerichte ad hoc eingerichtet worden und mit einer örtlich und zeitlich begrenzten Zuständigkeit ausgestattet. Neben den Tatbeständen des Völkerstrafrechts sind regelmäßig auch Strafbestimmungen des Tatortstaates anwendbar. Die hybriden Strafgerichte haben ihren Sitz – anders als die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen – typischerweise im Tatortstaat; sie können in die dortige Justiz integriert (Kosovo, OstTimor, Kambodscha) oder mit ihr verflochten (Sierra Leone) sein. Sie können 30 Vgl. die Beiträge in Romano et al. (Hrsg.), Internationalized Criminal Courts and Tribunals: Sierra Leone, East Timor, Kosovo, and Cambodia, New York 2004 und in Ambos, Kai und Othman, Mohamed (Hrsg.), New Approaches in International Criminal Justice, Freiburg i. Br. 2003; zusf. Ambos, Kai, Internationales Strafrecht, Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht, München 2006, § 6 Rn. 58 ff.; Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 74 ff., 276 ff. sowie jüngst Braun, Leonie von, Internationalisierte Strafgerichte, Eine Analyse der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen in Osttimor, Sierra Leone und Bosnien-Herzegowina, Berlin 2008. Eine instruktive synoptische Gegenüberstellung internationaler und internationalisierter Gerichte findet sich bei: Geiß, Robin und Bulickx, Noëmie, International and internationalized criminal tribunals: a synopsis, in: International Review of the Red Cross 88 (2006) 861, 49–63, 49, 52 ff. 31 Kein internationalisiertes Strafgericht, sondern ein Besatzungsgericht, das allerdings u.a. völkerrechtliche Normen anwendet, ist dagegen der Irakische Sondergerichtshof (Iraqi Special Tribunal); vgl. hierzu: Bantekas, Ilias, The Iraqi humanity, in: International and Comparative Law Quarterly 54 (2005) 1, 237–253; Heinsch, Robert, Possibilities to Prosecute War Crimes Committed in Iraq: The Different Forum Options, in: Humanitäres Völkerrecht-Informationsschriften 16 (2003) 3, 132–138; Shany, Yuval, Does One Size Fit All?: Reading the Jurisdictional Provisions of the New Iraqi Special Tribunal Statute in the Light of the Statutes of International Criminal Tribunals, in: Journal of International Criminal Justice 2 (2004) 338–346.
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ferner Teil der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen (Kosovo, Ost-Timor) sein oder Gegenstand eines bilateralen Abkommens des Tatortstaates mit den Vereinten Nationen (Sierra Leone, Kambodscha, Libanon). Bislang wurden gemischt international-nationale Strafgerichte vor allem im Zu32 sammenhang mit so genannten Postkonflikt-Situationen errichtet. Vor diesem Hintergrund ergeben sich auch die Gründe für ihre Verbreitung: Die Justiz des betroffenen Tatortstaates ist in diesen Fällen aus eigener Kraft nicht in der Lage, die Völkerrechtsverbrechen zu ahnden. Die Einrichtung internationaler Gerichtshöfe – nach dem Vorbild des Jugoslawien-Strafgerichtshofes und des RuandaStrafgerichtshofes – ist angesichts der damit verbundenen enormen Kosten und angesichts der begrenzten Kapazitäten keine ernsthafte Alternative, um die flächendeckende Verfolgung der Völkerrechtsverbrechen sicherzustellen. Gegenüber der Einrichtung „rein“ internationaler Strafgerichtshöfe haben die hybriden Strafgerichte zudem den Vorzug, durch ihre Einbindung in das Strafrechtssystem des Tatortstaates von der Bevölkerung des Tatortstaates weniger als Einmischung von außen empfunden zu werden. Die Bedeutung der Rechtsprechung dieser internationalisierten Strafgerichte für das Völkerstrafrecht bleibt bislang freilich noch deutlich hinter derjenigen der (internationalen) Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen zurück. 7.2
Implementierung (innerstaatliche Übernahme) des Völkerstrafrechts
Zunehmend wird das Völkerstrafrecht auch von der innerstaatlichen Gesetzgebung übernommen. Zum einen verpflichtet das Völkerrecht die Staaten unter bestimmten Voraussetzungen, Völkerrechtsverbrechen zu verfolgen; dies trifft 33 etwa auf die Genfer Konventionen zu. Hierbei bleibt es den Staaten überlassen, wie sie dieser Verpflichtung nachkommen und insbesondere, welche Straftatbestände sie zur Erfüllung ihrer Pflichten anwenden. Zwar findet sich in Teilbereichen, namentlich im Bereich der Kriegsverbrechen, die vertragliche Verpflichtung, „angemessene Strafbestimmungen“ zu erlassen. Eine allgemeine Pflicht, die Tatbestände des Völkerstrafrechts in das innerstaatliche Recht zu übernehmen, begründet das Völkerrecht aber nicht. Auch für den Internationalen Strafgerichtshof enthält das IStGH-Statut keine solche Verpflichtung. Das Statut baut zwar für die Durchsetzung des Völkerstrafrechts auf die Mitwirkung der Staaten, verzichtet aber darauf, die Staaten aus-
32 Vgl. hierzu Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 201 ff. 33 Vgl. etwa Art. 146 des IV. Genfer Abkommens, in: Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.), Die Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. August 1949 und die beiden Zusatzprotokolle vom 10. Juni 1977 sowie das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907 und Anlage (Haager Landkriegsordnung). Schriften des Deutschen Roten Kreuzes, Bonn 8 1988. Vgl. auch Art. 4 der Folterkonvention, in: http://www.aufenthaltstitel.de/folter.html [31.8.2009].
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drücklich zum Erlass von „angemessenen Strafbestimmungen“ zu verpflichten. Es entspricht allerdings dem Geist und dem Plan des Statuts, wenn die Mitgliedstaaten ihr Strafrecht an das materielle Völkerstrafrecht anpassen und sich in die Lage versetzen, Völkerrechtsverbrechen in der gleichen Weise ahnden zu können wie 34 der Internationale Strafgerichtshof selbst. Deshalb haben viele Staaten die innerstaatliche Umsetzung des IStGH-Statuts zum Anlass genommen, die rechtlichen Grundlagen der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen durch die eigenen Ge35 richte dem Stand der Völkerstrafrechtsentwicklung anzupassen. Dieser Prozess bewirkt eine im Vergleich zur Vergangenheit sehr viel stärkere Verankerung des Völkerstrafrechts in den staatlichen Rechtsordnungen. Dieser im Wachsen begriffene staatliche Unterbau wird die Legitimation des Völkerstrafrechts insgesamt stärken und zum weiteren Abbau der Straflosigkeit von Völkerrechtsverbrechen beitragen.
8.
Deutschland und das Völkerstrafrecht
Die abschließenden Bemerkungen gelten der Rolle Deutschlands im Prozess der 36 Entwicklung des Völkerstrafrechts, denn diese Entwicklung ist mit Deutschland eng verbunden, wie schon die Stichworte Versailler Vertrag und Nürnberger Prozesse zeigen. Zugespitzt könnte man sagen: Ohne die Deutschen ist das heutige Völkerstrafrecht gar nicht denkbar. Werfen wir einen Blick zurück in die Zeit nach 1945. Die Debatte um Nürnberg konzentrierte sich in Westdeutschland zunehmend auf die Schwachstellen des Prozesses. Nach Gründung der Bundesrepublik wurden die maßgeblichen Positionen bald klar: Man forderte eine „Begnadigung der so genannten Kriegsverbrecher und die Beendigung der Diffamierung deutscher Soldaten“, man sprach von den „Opfern der alliierten Militärjustiz“ und ein Bundestagsabgeordneter der damaligen Regierungskoalition bat sogar „das Wort ‚Kriegsverbrecher’ allgemein zu vermeiden“, da es sich bei diesen Personen im Wesentlichen um unschuldig 37 Verurteilte handle. So wurde von der Bundesrepublik das Nürnberger Recht 34 Vgl. Werle, Gerhard, Konturen eines deutschen Völkerstrafrechts, in: Juristenzeitung 56 (2001), 885 – 895. 35 Vgl. zur Implementierung des materiellen Völkerstrafrechts eingehend Eser, Albin und Kreicker, Helmut (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen (Band 1–2), Freiburg 2003 bzw. Eser et al. (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen (Bd. 3 ff.), Berlin 2004. 36 Eingehend dazu Kreß, Claus, Versailles – Nürnberg – Den Haag: Deutschland und das Völkerstrafrecht, in: Juristenzeitung 61 (2006) 20, 981–991; Werle, Gerhard, Von der Ablehnung zur Mitgestaltung: Deutschland und das Völkerstrafrecht, in: Dupuy, Pierre-Marie et al. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung – Festschrift für Christian Tomuschat, Kehl u. a. 2006, 655 – 669. 37 BT-Prot., 1. Wahlperiode, 10505. Zum Vorstehenden Werle, Gerhard, Der Holocaust als Gegenstand der bundesdeutschen Strafjustiz, in: Neue Juristische Wochenschrift 1992, 2529 – 2535; Werle, Gerhard und Wandres, Thomas, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche
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auch nicht in das innerstaatliche Recht übernommen. Vielmehr wurden die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ausschließlich auf der Grundlage des zur Tat38 zeit geltenden deutschen Strafrechts geahndet. Die DDR akzeptierte die Nürnberger Prinzipien vorbehaltlos und führte auf dieser Grundlage NS-Prozesse durch. Es ist freilich eine bittere Ironie, dass die DDR-Verfahren wegen Humanitätsverbrechen ihrerseits in nicht wenigen Fällen Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzten. Dies gilt etwa für die 1950 durchgeführten Waldheimer Prozesse, die grundlegende Verfahrensregeln in 39 flagranter Weise missachteten. Im Westen Ablehnung, im Osten Übernahme und Missbrauch. So lassen sich die Grundhaltungen der Bundesrepublik und der DDR gegenüber dem Nürnber40 ger Recht zusammenfassen. Die bundesdeutsche Ablehnung erklärt auch die Defizite des bis 2002 geltenden Rechts. Von den völkerrechtlichen Kernverbrechen war lediglich der Völkermord erfasst. Für Kriegsverbrechen fehlten spezielle Tatbestände und auch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren im bundesdeutschen Strafrecht nicht kodifiziert. Das Aggressionsverbrechen war zwar erfasst, aber auf die Fälle einer Beteiligung der Bundesrepublik beschränkt. Inzwischen hat die Ablehnung des Völkerstrafrechts der aktiven Förderung und Mitgestaltung durch die Bundesrepublik Platz gemacht. Heute prägen Völkerstrafrechtsfreundlichkeit und Engagement die deutsche Haltung. Die Bundesrepublik hat die Durchsetzung des Völkerstrafrechts seit Beginn der neunziger Jahre mit Entschiedenheit unterstützt. Zu verweisen ist etwa auf die intensive Zusammenarbeit mit dem Jugoslawien-Strafgerichtshof sowie die engagierte Betei41 ligung an den Verhandlungen um das IStGH-Statut. Dokumentiert wird dieses Engagement inzwischen auch in der innerstaatlichen Gesetzgebung der Bundesrepublik, nämlich im Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen 42 Strafgerichtshof und, vor allem, im Völkerstrafgesetzbuch. Dieses Gesetz ist am
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Strafjustiz, München 1995, 18 f.; siehe auch Reichel, Vergangenheitsbewältigung, 115 ff.; Steinbach, Peter, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, Berlin 1981, 38 ff.; Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland, 2002, 50 ff. Vgl. dazu Werle und Wandres, Auschwitz vor Gericht, 28 ff., 212 ff. Vgl. dazu Marxen, in: Marxen et al. (Hrsg.), Der Umgang mit Kriegs- und Besatzungsunrecht in Deutschland und Japan, Berlin 2001, 159, 171 ff. Eingehend zur Bedeutung der Reaktionen auf nationalsozialistisches Unrecht für die Selbstlegitimation der beiden deutschen Staaten: Reichel, Vergangenheitsbewältigung, 13 ff., 199 ff. Näher Kaul, Hans-Peter, Internationaler Strafgerichtshof. Ein bedeutender Anfang in Rom, in: Baum, Gerhart et al. (Hrsg.), Menschenrechtsschutz in der Praxis der Vereinten Nationen, BadenBaden 1998, 273–278. BGBl. 2002 I, 2144. Vgl. dazu MacLean, Gesetzentwurf über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 35 (2002) 6, 260–264; Meißner, J., Die Zusammenarbeit Deutschlands mit dem Internationalen Strafgerichtshof: Anmerkungen zum Regierungsentwurf eines IStGH-Gesetzes, in: Humanitäres VölkerrechtInformationsschriften (2002) 1, 35–42.
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30. Juni 2002 in Kraft getreten. Es erfasst die völkerrechtlichen Straftatbestände und stellt sicher, dass Deutschland stets in der Lage sein wird, die unter das Römi44 sche Statut fallenden Verbrechen zu verfolgen. Das Völkerstrafgesetzbuch gilt auch für im Ausland begangene Straftaten (§ 1 VStGB). So ist deutsches Strafrecht beispielsweise anwendbar, wenn ein amerikanischer Staatsangehöriger auf dem Gebiet des Irak ein Kriegsverbrechen begeht. Vor diesem Hintergrund wurden in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland zahlreiche Strafanzeigen wegen im Ausland begangener Völkerrechtsverbrechen erstattet. Besonderes Aufsehen hat hier die Strafanzeige gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald 45 Rumsfeld erregt.
9.
Die Zukunft des Völkerstrafrechts
Wie wird es weitergehen mit dem Völkerstrafrecht? Die Nichtbestrafung von Kriegsverbrechen und Humanitätsverbrechen war im 20. Jahrhundert die Regel, Bestrafungen waren die Ausnahme. Die Mächtigen waren meist in der Lage, sich und ihre Vollstrecker zu schützen, vielfach hinter dem Schild der Staatssouveränität. Es gibt viele Anzeichen, dass sich dieser Zustand im 21. Jahrhundert gründlich ändern könnte: Die Einsetzung der Ad-hoc-Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen und die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, aber auch der Verfolgungswille von Drittstaaten, etwa im Fall Pinochet oder jüngst im Falle von Vollstreckern der argentinischen Militärdiktatur. Die Zeiten für kriminelle Machthaber und ihre Vollstrecker sind gewiss ungemütlicher geworden, aber bis zur gleichmäßigen weltweiten Durchsetzung des Völkerstrafrechts ist es noch ein weiter Weg.
43 BGBl. 2002 I, 2254 ff. 44 Vgl. Amtliche Begründung zum Völkerstrafgesetzbuch, 12. Eingehend zum Völkerstrafgesetzbuch Gropengießer und Kreicker, in: Eser und Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Band 1: Deutschland, 21 ff.; Werle, Gerhard und Jeßberger, Florian, Das Völkerstrafgesetzbuch, in: Juristenzeitung 57 (2002), 725–734; zu den Vorarbeiten: Kreß, Claus, Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs, Baden-Baden 2000; Satzger, Helmut, Das neue Völkerstrafgesetzbuch: Eine kritische Würdigung, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht (2002) 3, 125 – 132; zusammenfassend Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 300 ff. 45 Vgl. zur ersten von zwei Strafanzeigen Kaleck, in: Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein und Holtfort-Stiftung (Hrsg.), Strafanzeige./.Rumsfeld u.a., Berlin 2005, 5 ff.; aktuelle Informationen sind auf der Homepage des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins unter http://www.rav.de abrufbar; zusammenfassend dazu Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 315 f. m.w.N.
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Literatur Ahlbrecht, Heiko, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, Baden-Baden 1999. Ambos, Kai und Othman, Mohamed (Hrsg.), New Approaches in International Criminal Justice, Freiburg i. Br. 2003. Ambos, Kai, Internationales Strafrecht, Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht, München 2006. Amtliche Begründung zum Völkerstrafgesetzbuch. Antwortnote der niederländischen Regierung auf das Auslieferungsverlangen der Alliierten und Assoziierten Mächte betreffend den ehemaligen Deutschen Kaiser vom 21. Januar 1920, in: Grewe, Wilhelm (Hrsg.), Historiae Iuris Gentium, Band 3/2, Berlin/New York 1992. Bantekas, Ilias, The Iraqi humanity, in: International and Comparative Law Quarterly 54 (2005) 1, 237–253. Bassiouni, M. Cherif, The Legislative History of the International Criminal Court, Bd. 1, Ardsley 2005. Braun, Leonie von, Internationalisierte Strafgerichte, Eine Analyse der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen in Osttimor, Sierra Leone und Bosnien-Herzegowina, Berlin 2008. Cassese, Antonio, Balancing the Prosecution of Crimes against Humanity and NonRetroactivity of Criminal Law: The Kolk and Kislyiy v. Estonia Case before the ECHR, in: Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 410–418. Eser, Albin et al. (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen (Bd. 3), Berlin 2004. Eser, Albin und Kreicker, Helmut (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen (Bd. 1–2), Freiburg 2003. Folterkonvention, in: http://www.aufenthaltstitel.de/folter.html [31.8.2009] Freudiger, Kerstin, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002. Geiß, Robin und Bulickx, Noëmie, International and internationalized criminal tribunals: a synopsis, in: International Review of the Red Cross 88 (2006) 861, 49–63. Genfer Abkommen, in: Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.), Die Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. August 1949 und die beiden Zusatzprotokolle vom 10. Juni 1977 sowie das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907 und Anlage (Haager Landkriegsordnung). Schriften des Deutschen Roten Kreuzes, 8 Bonn 1988. Hankel, Gerd, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003. Heinsch, Robert, Possibilities to Prosecute War Crimes Committed in Iraq: The Different Forum Options, in: Humanitäres Völkerrecht-Informationsschriften 16 (2003) 3, 132–138. http://www.icc-cpi.int http://www.icc-cpi.int/asp/statesparties.html [Mai 2008] http://www.rav.de [30.8.2009] Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hrsg.), Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 1, Nürnberg 1947. IStGH, Beschl. v. 9. November 2007 (Lubanga, TC), para. 29, in: http://www.icccpi.int/NR/rdonlyres/201AC60A-FFCE-4600-AD0D87428E6D0C98/277098/ICCASP620_VolII_English1.pdf [31.8.2009].
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Die Gegenwart der Vergangenheit: Chile in den 1990er-Jahren1 Stefan Rinke Mit der Rückkehr zum System der parlamentarischen Demokratie nach einer siebzehnjährigen Diktatur ist Chile eines von zahlreichen Beispielen in Lateinamerika, die die Dekade der 1990er Jahre zu einem Zeitraum der tiefgreifenden 2 Transformationen werden ließen. Gleichzeitig schätzten informierte Beobachter den chilenischen Fall oftmals als singulär ein, da er durch seine offensichtlichen Erfolge beeindruckte. In den 1990er-Jahren bildete sich ein Chile-Mythos heraus, 3 der sich im Wesentlichen auf makroökonomische Daten als Richtwert stützte. Über die ökonomische Ebene hinaus wies die Transition Chiles bei näherer Betrachtung jedoch Besonderheiten auf. Dazu zählte insbesondere die heftige Auseinandersetzung um das Erbe der Diktatur, zumal in der Frage der Menschenrechtsverletzungen. Viele Chilenen fragten sich, wie es möglich ist, mit der Ver4 gangenheit zu leben, ohne durch den Blick zurück zur Salzsäule zu erstarren. Diese Entwicklungen haben ihren Niederschlag in der politischen Kultur des Landes gefunden. In diesem Beitrag soll der sozioökonomische Wandel in Chile in Beziehung zu den Veränderungen in der politischen Kultur gesetzt werden, die aufs Engste mit den Erkundungen der schmerzhaften Vergangenheit verknüpft waren. Folgende Fragen leiten in diesem Zusammenhang mein Interesse: Wo standen Chiles Wirtschaft und Gesellschaft am Ende der ersten demokratischen Dekade nach der Diktatur? In welchem Ausmaß blieb das Thema der Menschenrechtsverletzungen zentral für die politische Kultur des Landes, inwiefern überschattete die Vergangenheit Gegenwart und Zukunft? Wie gestaltete sich das Wechselverhältnis von Staat und Kultur und gab es eine Kulturpolitik, die Auswirkungen auf die politische Kultur zeitigt? Wie veränderte sich die Medienlandschaft? 1 2
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Dieser Aufsatz hat sehr von den Kommentaren vieler chilenischer Freunde – darunter v.a. David Vásquez, Patricio Valdivieso und Patricio Bernedo – profitiert. Ihnen gebührt mein Dank. Gute zusammenfassende Bestandsaufnahmen der Situation Lateinamerikas bei Gwynne, Robert N. und Kay, Cristóbal (Hrsg.), Latin America Transformed: Globalization and Modernity, London 1999 und Reyna, José Luis (Hrsg.), América Latina a fines de siglo, México 1995. Für den chilenischen Zusammenhang siehe auch Rinke, Stefan, Kleine Geschichte Chiles, München 2007, 167–195. Hofmeister, Wilhelm, Chile: Option für die Demokratie – Die Christlich-Demokratische Partei (PDC) und die politische Entwicklung in Chile 1964–1994, Paderborn 1995, 15. Diese Frage stellte sich in abgewandelter Form: Munizaga, Giselle, El sistema comunicativo chileno y los legados de la dictadura, in: Garretón, Manuel A. et al. (Hrsg.), Cultura, autoritarismo y redemocratización en Chile, México 1993, 89.
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Stefan Rinke
Um sich Antworten auf diese Fragen anzunähern, ist zunächst eine Bestandsaufnahme des Wandels notwendig. Daher werde ich im ersten Teil die Rahmendaten der politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen der chilenischen Transition der 1990er-Jahre skizzieren, wobei Rückbezüge zur Geschichte des PinochetRegimes notwendig sein werden. In einem zweiten Schritt werden die Bürde der Menschenrechtsverletzungen der jüngsten Vergangenheit und die Diskussion um deren Aufarbeitung im Mittelpunkt stehen. Drittens werde ich kurz den Wandel der politischen Kultur skizzieren.
1.
Der politische und sozioökonomische Wandel
Die politische und sozioökonomische Situation Chiles stand im Verlauf der 1990er Jahre eher im Zeichen von Kompromiss und Kontinuität als von radikalem Umbruch. Die Grundlagen für diese Ausgangssituation sind bereits in den Jahren der Diktatur zu suchen. Als sich die wirtschaftliche Lage des Landes zu Beginn der 1980er Jahre erheblich verschlechterte, kam es zu heftigen Reaktionen, die in den Jahren 1983-84 in Straßendemonstrationen gipfelten. Diese öffentlichen Kundgebungen trugen zur Destabilisierung des Regimes bei. Sie schufen die Grundlage für die Formierung einer von der katholischen Kirche unterstützten demokratischen Opposition führender Politiker, die ein weites Spektrum von Christdemok5 raten bis hin zu Sozialisten umfassten. Allerdings waren die Proteste nicht ausreichend, um einen Sturz zu erzwingen. Daher blieb nur ein Weg, um die Diktatur zu beenden, nämlich durch Verhandlungen und im Rahmen der von dieser selbst gesetzten institutionellen Spielregeln. Das bedeutete die Akzeptanz des in der Verfassung von 1980 vorgesehenen Plebiszits für das Jahr 1988. So war der chile6 nische Übergang zur Demokratie ein paktierter Übergang, eine transición pactada. Obwohl es den in der Concertación zusammengeschlossenen demokratischen Parteien gelang, in der Phase zwischen den für sie positiven Ergebnissen der Volksabstimmung im Oktober 1988 und den Wahlen im Dezember 1989 einige wichtige Modifikationen durchzusetzen, blieb der autoritäre Charakter der Verfassung doch erhalten. Die Regierung Pinochet sorgte durch die Einführung so ge5
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Constable, Pamela und Valenzuela, Arturo, A Nation of Enemies: Chile under Pinochet, New York 1991, 240–242 und 260–264. Zur Rolle der katholischen Kirche: German, Christiano, Politik und Kirche in Lateinamerika: Zur Rolle der Bischofskonferenzen im Demokratisierungsprozeß Brasiliens und Chiles, Frankfurt a.M. 1999. Fleet, Michael und Smith, Brian H., The Catholic Church and Democracy in Chile and Peru, Notre Dame 1997. Zu den Modellen der Transition siehe O'Donnell, Guillermo et al. (Hrsg.), Transitions from Authoritarian Rule: Comparative Perspectives, Baltimore 1986. Für den konkreten Fall Chiles Kirby, Enrique Cañas, Autoritäres Regime. Transition durch Verhandlung und Demokratische Öffnung: Chile, 1983–1991, Diss. Phil., Freiburg 1993. Drake, Paul W. und Angell, Alan (Hrsg.), El difícil camino hacia la democracia en Chile, Santiago 1993. Aus der Perspektive eines Mitglieds der Opposition: Boeninger, Edgardo, Democracia en Chile: Lecciones para la gobernabilidad, Santiago 1997.
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nannter „Verankerungen“ (amarres) für weitere Hindernisse auf dem Weg zu demokratischem Wandel. So wurden unter anderem eine Garantie gegen Amtsenthebungen von Angestellten des öffentlichen Dienstes konstituiert, willfährige Richter ernannt, die Presse mit Gefolgsleuten durchsetzt und die Macht Pinochets im Militärapparat bis 1998 konsolidiert. Darüber hinaus konnte sich das Regime durch die Regelung der Zusammensetzung des Senats zum Teil nach berufsständischen Kriterien eine Mehrheit in diesem Gremium sichern. Ein Ergebnis dieser Politik war der von vielen Demokraten als skandalös empfundene Amtsantritt des 7 Ex-Diktators als Senator auf Lebenszeit im März 1998. Aufgrund dieser autoritären Enklaven war der Kompromiss zu einer Grundbedingung der Regierung der Concertación geworden. Nach Auffassung des chilenischen Soziologen Tomás Moulian war die Regierung aufgrund ihrer Entstehungs8 bedingungen geradezu verdammt zum Kompromiss auf allen Feldern. Die anspruchsvollen Programme der Präsidenten Patricio Aylwin und Eduardo Frei standen damit von Beginn an unter schwierigen Vorzeichen. Bei ihren konkreten politischen Zielsetzungen wie der Sühne der Verbrechen des Militärregimes, der Beseitigung der autoritären Elemente in der chilenischen Verfassung, der Reform der Justiz und der Wiederherstellung der zivilen Vorherrschaft über das Militär konnte die Regierung Aylwin nur dürftige Erfolge erzielen. Die politische Rechte verhinderte erfolgreich eine Änderung in der Ernennungspraxis der Senatoren und das Militär behielt seine Rolle als „Hüter der Ordnung und der Verfassung“ – also quasi als vierte Gewalt. Neben dem Obstruktionismus der Rechten wurden aber auch besonders während der Präsidentschaft Freis Meinungsverschiedenheiten im Lager der Concertación immer offensichtlicher. Die Wahlen vom Dezember 1997 und der Erfolg der extremen Rechten trugen zu weiteren Schwierigkeiten ebenso bei wie der Vorwahlkampf um den Präsidentschaftskandidaten der Concertación, die der Sozialist Ricardo Lagos gegen den Christdemokraten Andrés 9 Zaldívar Ende Mai 1999 klar für sich entschied. Politische Reformen fanden in diesem Jahrzehnt in Chile nur in kleinen Schritten statt. Während unter Aylwin insbesondere die Demokratisierung der Wahl der Bürgermeister bedeutsam war, konnte während der Präsidentschaft Freis 1997 ein
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Siehe dazu Koch, Max, Unternehmen Transformation: Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in Chile, Frankfurt 1998, 79–80. Kirby, Enrique Cañas, La transición chilena en los años ochenta: Claves de una transacción exitosa en perspectiva comparada, in: Revista de Ciencas Políticas 16 (1994), 41–65. Angell, Alan y Pollack, Benny (Hrsg.), The Legacy of Dictatorship: Political, Economic and Social Change in Pinochet's Chile, Liverpool 1993. Als regionales Fallbeispiel: Gleich, Michael, Chile: Spielräume der demokratischen Opposition zwischen Diktatur und Demokratie, Saarbrücken 1991. Moulian, Tomás, Limitaciones de la transición a la democracia en Chile, in: Proposiciones 25 (1994), 41. Koch, Unternehmen Transformation, 80–81. Zur Rolle der Parteien: Roberts, Kenneth M., Deepening Democracy? The Modern Left and Social Movements in Chile and Peru, Stanford 1999. Pollack, Marcelo, The New Right in Chile, 1973–1997, Basingstoke 1999.
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wichtiger Durchbruch auf dem Weg zu einer umfassenden Justizreform erzielt werden. Gefördert wurde dies durch die Beförderungs- und Ernennungspraxis für Richter seitens der Regierungen der Concertación. Der oberste Gerichtshof wurde durch Neubesetzungen schrittweise umgeformt und damit eine Schlüsselinstanz 10 langsam demokratisiert. Die demokratischen Regierungen Chiles sehen daher ihre Erfolgsbilanz weniger im Bereich der politischen Reformen als in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes. In diesem Bereich ist ein Blick zurück in die Zeit des PinochetRegimes nötig, um die heutigen Entwicklungen zu verstehen. Unter der Herrschaft Pinochets wurde Chile zum wirtschaftlichen Vorzeigeland Lateinamerikas verklärt. Auf Grundlage von aus den USA importierten neoliberalen Ideen baute man zumindest äußerlich den Staatseinfluss in der Wirtschaft gezielt ab und restrukturierte die Volkswirtschaft. Die Wirtschaftspolitik richtete sich an den Schlagworten Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung aus und mündete in das so genannte chilenische Wirtschaftswunder der späten 1970er Jahre, das wesentlich auf dem Export basierte. Langfristig hielt das Konjunkturhoch zwar nicht an, aber das Regime hielt am Liberalisierungskurs fest. Seit 1984 waren die Wachstumsraten der chilenischen Wirtschaft auf den ersten Blick wieder außerge11 wöhnlich. Neuere Untersuchungen haben allerdings darauf hingewiesen, dass die Vorstellung einer von staatlichen Einflüssen vollkommen ungestörten liberalen Volkswirtschaft ein gut gepflegter Mythos war. Zum einen setzte sich spätestens seit der Krise von 1982/83 ein pragmatischer Neoliberalismus durch. Zum anderen blieb der Staat auch unter Pinochet interventionistisch, was sich unter anderem daran ablesen lässt, dass die Staatsausgaben weiter stiegen und z.B. die Verstaatlichung der großen Bergbaubetriebe, der Gran Minería, nicht wieder rückgängig gemacht wurde. Allerdings gewann die staatliche Intervention einen neuen Charakter, war ihr Ziel doch nun nicht mehr die Schaffung sozialer Gerechtigkeit, sondern die Starthilfe für neuartige Marktbeziehungen. Dies schlug sich unter anderem in der Entstehung einer neuen technokratischen Führungselite aus Financiers und Un12 ternehmern nieder.
10 Sutil, Jorge Correa, „No Victorious Army Has Ever Been Prosecuted…“: The Unsettled Story of Transitional Justice in Chile, in: McAdams, A. James (Hg.), Transitional Justice and the Rule of Law in New Democracies, Notre Dame 1997, 123–154. Agüero, Felipe, Chile's Lingering Authoritarian Legacy, in: Current History (Feb. 1998), 68. Siehe auch: Fermandois, Joaquín and Morris, Michael A., Democracy in Chile: Transition and Consolidation, 1987–2000, London 1995. 11 Constable y Valenzuela, A Nation of Enemies, 166–198. Zur Rolle der US-amerikanischen Berater siehe Valdés, Juan Gabriel, Pinochet's Economists: The Chicago School in Chile, Cambridge 1995. 12 Zusammenfassend: Koch, Unternehmen Transformation, 65–77. Zur Rolle der Unternehmer: Imbusch, Peter, Unternehmer und Politik in Chile: Eine Studie zum politischen Verhalten der Unternehmer und ihrer Verbände, Frankfurt a.M. 1995.
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Eine weitere Folge dieser Wirtschaftspolitik war die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. So wurde etwa die Entschuldung des Staates durch drastische Einschnitte in der Beschäftigung des öffentlichen Dienstes und in den Löhnen erkauft. Des Weiteren wurde der Arbeitsmarkt weitgehend dereguliert, was zu einer Entrechtung der Arbeiter führte. Im Einzelnen sind die Unterdrückung der Gewerkschaften sowie die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte hervorzuheben. Letztere bedeuteten für den Arbeiter die Abschaffung von Tarifverträgen und des Kündigungsschutzes sowie eine Reduktion des Minimallohns. Die Reallöhne reduzierten sich bis 1987 kontinuierlich. Außerdem brachte die Reform der Sozialversicherung eine Abkehr vom Solidaritätsprinzip, an dessen Stelle die Eigenvorsorge trat. Das verringerte zwar die Lohnnebenkosten immens, schuf aber weitere Härten für die Arbeitnehmer. Der chilenische Wirtschaftsboom basierte denn auch ganz wesentlich auf der Ausbeutung der Arbeiter. Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft profitierte davon, während die Majorität sich zunehmend in prekären Arbeitsverhältnissen, arbeitslos wurde oder aber im rasch wachsenden 13 informellen Sektor sein Dasein fristete. Noch unter dem Pinochet-Regime wurde gegen Ende der 1980er Jahre allerdings deutlich, dass ein Ende einer positiven Wirtschaftsentwicklung, die im wesentlichen auf der Ausbeutung der Arbeiter beruhte, absehbar war und eine Modernisierung dringend notwendig geworden war. Die Regierungen der Concertación mussten diesen Prozess antreten und sie taten es, knüpften aber an die neoliberale Wirtschaftspolitik der autoritären Vorgänger an. Die strikte Exportorientierung der Wirtschaft blieb erhalten, wobei die neue entwicklungspolitische These der CEPAL, nach der Weltmarktintegration und der Aufbau von Industrien sich keineswegs ausschließen, leitend wurde. Auf der Basis der theoretischen Vorgaben der CEPAL wuchs jedoch auch die Einsicht, dass auf Dauer vorhandene Kostenvorteile wie niedrige Löhne und natürliche Ressourcen Wachstum nicht garantieren konnten, sondern dass neue Wettbewerbsvorteile vor allem im technologischen 14 Bereich geschaffen werden mussten. Der makroökonomische Erfolg legitimierte diese Wirtschaftspolitik, denn die Indikatoren übertrafen die Erwartungen. So wuchs etwa das Bruttoinlandsprodukt zwischen 1990 und 1997 im Durchschnitt um 7,8%. Die Exporte und die Investitionsrate lagen deutlich über der Zeit des Pinochet-Regimes, Arbeitslosenquote und Inflationsrate dagegen deutlich darunter. Im internationalen Rahmen war unter anderem der Beitritt zum MERCOSUR im Juni 1996 als Er13 Koch, Unternehmen Transformation, 46–49 und 53–57. Constable y Valenzuela, A Nation of Enemies, 222–246. Barrientos, Armando, Pension Reform and Pension Coverage in Chile, in: Bulletin of Latin American Research 15 (1996), 309–322. 14 Foxley, Alejandro, Los objetivos económicos y sociales en la transición a la democracia, in: Pizarro, Crisóstomo et al. (Hrsg.), Políticas económicas y sociales en el Chile democrático, Santiago 1995, 11–31. Für ein Beispiel der neuen Ansätze siehe Clapp, Roger A., Creating Competitive Advantage: Forest Policy as Industrial Policy in Chile, in: Economic Geography 71 (1995), 273– 296.
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folg der Concertación zu bezeichnen. Auch das Volumen der Auslandsinvestitionen in Chile wuchs explosionsartig an. Das Land galt bereits seit 1991 wieder als unumschränkt kreditwürdig. Rund die Hälfte des Investitionskapitals stammte aus den USA und wurde vor allem im Bergbausektor (Kupfer) aber auch im 16 Agroexportsektor angelegt. Die ebenfalls von der CEPAL vertretene These, dass ein gewisses Maß an Sozialstaatlichkeit zur Effizienz der Ökonomie beitrage, fand ihren Niederschlag in der chilenischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Neben dem Wachstum wurde das Ziel einer gerechteren Verteilung des Reichtums als weiterer wichtiger Teil der Programme der Regierungen der Concertación formuliert. Schritte in diese Richtung waren die Steuerreform, die unter anderem eine Progression der Einkommenssteuer brachte, und vor allem eine Vereinbarung, der Acuerdo Marco, nach der sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf das Niveau von Gehältern, Minimallohn und Renten einigten. Die Reform der Arbeitsgesetze hinkte demgegenüber hinterher, denn weiterhin blieb die mehr oder weniger grundlose Kündigung mit minimaler Abfindung möglich. Immerhin wurden kollektive Tarifvertragsverhandlungen wieder zugelassen. Außerdem sorgten steigende Reallöhne und die Steigerung der Sozialausgaben in den Bereichen Bildung, Gesundheit, soziale Vorsorge und Wohnungsbau für spürbare Entlastung. Das schlug sich unter anderem im deutlichen Anstieg der Beschäftigungsquote und der damit einhergehenden Abnahme des informellen Sektors sowie des relativen Bedeutungsrückgangs des dominierenden tertiären Sektors nieder. Außerdem sank der Anteil der Armen von 1990 bis 1998 von 33,3% auf 17,8%, der der extremen Armut sogar von 10,6 auf 17 4,7%. Insgesamt verbesserte sich die Lebens- und Konsumsituation der meisten Chilenen seit 1990 deutlich. Allerdings blieben viele Probleme ungelöst. Besonders dringend blieb die Bekämpfung der Armut, die sich vor allem an unterbezahlten Anstellungen mit prekären Arbeitsverträgen ablesen ließ. Der Anstieg des Pro15 Koch, Unternehmen Transformation, 84–85. Foxley, Los objetivos económicos, 15–18. 16 Eyzaguirre, Nicolas y Lefort, Fernando, Capital Markets in Chile, 1985–1997: A Case of Successful International Financial Integration, in: Perry, Guillermo y Leipziger, Danny M. (Hrsg.), Chile: Recent Policy Lessons and Emerging Challenges, Washington 1999, 81–112. Jäger, Johannes, Pionier der Globalisierung: Chile, in: Globalisierung und Peripherie (1999), 237–258. Gwynne, Robert N., Direct Foreign Investment and Non-Traditional Export Growth in Chile, in: Bulletin of Latin American Research 15 (1996), 341–357. 17 Hojman, David E. (Hrsg.), Neo-Liberalism with a Human Face? The Politics and Economics of the Chilean Model, Liverpool 1995. Id., Power and Inequality in Chile: Are Democratic Politics and Neoliberal Economics Good for You?, in: Journal of Interamerican Studies and World Affairs 38 (1996), 73–96. Vergara, Pilar, Ruptura y continuidad en la política social del gobierno democrático, in: Estudios Sociales 78 (1993), 105–144. Id., Market Economy, Social Welfare, and Democratic Consolidation in Chile, in: Smith, William C. et al. (Hrsg.), Democracy, Markets, and Structural Refrom in Latin America, Miami 1994, 237–261. Koch, Unternehmen Transformation, 82–96. Cortázar, René, Una política laboral para una nueva realidad, in: Pizarro et al. (Hrsg.), Políticas económicas, 129–139.
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Kopf-Einkommens seit 1992 konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Abstand zwischen Armen und Reichen nicht verringerte. Die ungleiche Einkommensverteilung in Chile wurde im lateinamerikanischen Vergleich nur von Kolumbien und Brasilien übertroffen. Seit 1998 ließ das Wachstum deutlich nach. Das BIP stieg in diesem Jahr um nur noch 3,4%. Aufgrund des Ausfalls der Exportmärkte kam es zu heftigen Einschnitten in der Produktion. Gleichzeitig stiegen die Arbeitslosenzahlen deutlich an und erreichten mit mehr als 10% neue Rekordwerte für die Periode der Concertación.
2.
Vergangenheit in der Gegenwart
Die negative wirtschaftliche Entwicklung war jedoch nicht die einzige Facette der Probleme, mit denen Chile zu kämpfen hatte. Die Affäre um die Inhaftierung des Ex-Diktators und damaligen Senators auf Lebenszeit, Augusto Pinochet, in London im Oktober 1998 ließ die tiefen Verwerfungen innerhalb der chilenischen Gesellschaft in Hinblick auf die noch immer nicht aufgearbeitete Vergangenheit von Menschenrechtsverletzungen lebhaft deutlich werden. Wiederum ist der Blick zurück in die Zeit der Diktatur notwendig, um die Probleme zu verstehen. Das Pinochet-Regime schuf sich bereits 1978 ein Amnestiegesetz, das die an den Verbrechen Beteiligten exkulpieren sollte. Schon die demokratische Opposition musste sich im Laufe der 1980er Jahre mit dieser Situation auseinandersetzen. In der Rhetorik der damaligen Oppositionsführer spielte die Bewerkstelligung einer nationalen Aussöhnung eine weitaus wichtigere Rolle als die Durchsetzung von Gerechtigkeit um jeden Preis. Gerade in diesem sensiblen Bereich wurde die Problematik der transición pactada besonders deutlich. Nach dem Regierungsantritt der Concertación wurde die Menschenrechtsfrage zu einem wichtigen Programmpunkt. So unterstrich Präsident Aylwin durch symbolische Akte wie die Inaugurationsfeier im Nationalstadion die Bedeutung, die er diesem Komplex beimaß. Noch in seinem ersten Regierungsjahr wurde der Leichnam von Salvador Allende in einem offiziellen Akt auf den Zentralfriedhof umgebettet. Außerdem wurden Denkmäler zum Gedenken an die Opfer, wie vor allem der Memorial del Detenido Desaparecido y del Ejecutado Político, in Auftrag gegeben. Neben die symbolische Ebene trat die praktische Arbeit einer „Nationalen Wahrheits- und Versöhnungskommission“ (Rettig-Kommission) im Auftrag der Regierung Aylwin, die ihre umfangreiche und beispielhafte Dokumentation über die Verbrechen der Pinochet-Diktatur im Februar 1991 ablieferte, wobei eine Anzahl von 2279 ermordeten und verschwundenen Opfern festgestellt wurde. Der Bestandsaufnahme sollten nach dem Willen Aylwins auch Taten folgen. Opfer des Unrechtsregimes bzw. deren Angehörige und Hinterbliebene erhielten staatliche Reparationsleistungen. Politische Gefangene wurden schrittweise auf freien Fuß gesetzt. Es gelang den Regierungen der Concertación auf dem Wege ihrer Beförde-
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rungskompetenz die Pensionierung einiger Offiziere durchzusetzen, die im Verdacht von Menschenrechtsverletzungen standen. Auch Anfänge einer Justizreform 18 zielten in diese Richtung. Allerdings waren dies kleine Schritte auf einem langen Weg und selbst diese waren ungemein mühevoll. Der Elan der Anfangszeit der Concertación verpuffte schnell, was sich etwa daran ablesen lässt, dass sich der Bau der zentralen Gedenkstätte lange hinzog, und die Eröffnung im Februar 1994 im wesentlichen ohne Beteiligung der Regierung stattfand. Eine gerichtliche Verfolgung der Täter war angesichts der Obstruktionshaltung der Justiz und vor allem des Militärs zunächst nicht im gewünschten Umfang möglich und wurde auch durch das politische Kräfteverhältnis im Kongress verhindert, wo die Rechte vor allem im Senat überrepräsentiert war. Das Beispiel des Nachbarlandes Argentinien schien zu zeigen, dass eine zu hartnäckige Verfolgung der Verbrecher die Gefahr eines erneuten Putsches heraufbeschwören konnte. Kritische Stimmen bemängelten, dass der Auftrag der Rettig-Kommission von Beginn an zu konziliant formuliert worden war. Anstelle einer umfassenden Untersuchung aller Verbrechen war eine Einschränkung auf Morde und das „Verschwindenlassen“ getroffen worden. Auf die Anhörung von Zeugen hatte man verzichtet. Es wurde kritisch angemerkt, dass das Instrument, das der Regierung mit dem Bericht an die Hand gegeben war, zu selten genutzt wurde. Darüber hinaus brachte Präsident Aylwin 1993 einen Gesetzesvorschlag in die Diskussion, der Tätern Straffreiheit zusichern sollte, wenn sie Informationen geben konnten, die zur Aufklärung des Schicksals von desaparecidos beitrugen. Dies wäre aber auf ein Schlusspunktgesetz hinausgelaufen und kam 19 daher unter Beschuss. Neben der katholischen Kirche, die nach einer Phase des Rückzugs aus der Diskussion nun die Regierung zu einer Verfolgung der Verbrechen aufforderte, waren es vor allem Angehörige der Opfer und Menschenrechtsgruppierungen, die dafür sorgten, dass das Thema weiter in der Diskussion blieb. Dabei kamen ihnen diverse Ereignisse zupass, bei denen die Vergangenheit gleichsam in die Gegenwart einbrach. Dazu zählte vor allem in der Anfangsphase der Concertación etwa die Entdeckung von Massengräbern aus der Zeit der Diktatur, die die Dimension der Verbrechen lebhaft vor Augen führten. Die seit 1990 immer wieder aufflackernden Berichte über die von Deutschen gegründete Colonia Dignidad und deren Verstrickung in die Verbrechen, lösten großes Interesse aus. Die Veröffentlichung von Autobiographien und anderen Büchern und Artikeln, aber auch Musik und 18 Wilde, Alexander, Irruptions of Memory: Expressive Politics in Chile's Transition to Democracy, in: Journal of Latin American Studies 31 (1999), 481–485. Rottensteiner, Christa, Schuld ohne Sühne? Das Erbe der Menschenrechte in Chile nach Pinochet, Frankfurt a.M. 1997, 59–61. 19 Pion-Berlin, David, To Prosecute or to Pardon: Human Rights Decisions in the Latin American Southern Cone, in: Human Rights Quarterly 16 (1994), 105–130. Wilde, Irruptions of Memory, 491–494. Nolte, Detlev, Chile: Demokratischer Konsens und die Last der Vergangenheit, in: Betz, Joachim und Brüne, Stefan (Hrsg.), Jahrbuch Dritte Welt, Hamburg 1995, 190–208. Rottensteiner, Schuld ohne Sühne, 53–70.
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Filme von Zeitzeugen wie etwa anlässlich des 25. Jahrestages des Putsches am 11. 20 September 1998 ermöglicht die persönliche Identifizierung mit dem Leid. Darüber hinaus spiegelten die Auseinandersetzungen um die Behandlung der belasteten Vergangenheit den anhaltenden Machtkampf zwischen der demokratischen Regierung und den autoritären Enklaven wider. Der Ablauf der diversen Affären, die dieses Jahrzehnt überschatteten, ähnelte sich stark: Regierung oder Menschenrechtsorganisationen deckten Verbrechen der Diktatur auf und übergaben sie einer halbherzigen Justiz. Das Militär und seine zivilen Anhänger reagierten empört. Dabei wurde die von Beginn an latent vorhandene Angst vor einem erneuten Militärputsch immer wieder geschürt. Bereits im Dezember 1990 setzte die Armee mit der Kasernierung aller Einheiten erstmals eine Drohgebärde ein, als ein Korruptionsverfahren gegen Pinochets Sohn, die so genannte „PinochequeAffäre“, wieder aufgenommen wurde. Attentate auf Militärangehörige und die Ermordung Jaime Guzmáns, des führenden Kopfes des Pinochetismus, im April 1991, sorgten für weitere Spannungen. Der nächste Höhepunkt wurde im Mai 1993 mit dem so genannten boinazo erreicht, als mitten in Santiago vor dem Regierungspalast Truppen in Kampfanzügen und schwarzen Baretts Manöver abhielten. Auslöser war wiederum ein Versuch, Offiziere für die von ihnen begangenen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht zu stellen. Ein Jahr später kam es dann zur Verurteilung ehemaliger Polizisten. Dieser Erfolg der Regierung wurde jedoch getrübt durch die Tatsache, dass der Chef der Carabineros, Rodolfo Stange, dem Behinderung der Justiz in diesem Fall nachgewiesen wurde, erst nach langem Zögern 1995 „freiwillig“ von seinem Posten zurücktrat, um dann 1998 das Amt eines Senators auf Lebenszeit anzutreten. Die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Militär aufgrund der Menschenrechtsfrage blieben ein konstantes Element der chilenischen Politik. Im Mai 1995 wurden der ehemalige Chef des Geheimdienstes DINA, Manuel Contreras, und einer seiner hohen Offiziere, Pedro Espinoza, der Ermordung Orlando Leteliers, eines führenden Politikers Allendes, in Washington D.C. im September 1976 für schuldig gesprochen. Aufgrund internationalen Drucks war dieser Fall 1978 ausdrücklich vom Amnestiegesetz ausgenommen worden. Die Verurteilung war ein Erfolg für die Menschenrechtspolitik von Regierung und privaten Organisationen. Allerdings wurde die Freude getrübt, da die Inhaftierung sich hinauszögerte und beide Verbrecher schließlich im Militärgefängnis von Punta Peuco inhaftiert wurden. Dort protestierten im Juni 1995 Militärangehörige in Zivil gegen die Inhaftierung. Kombiniert mit den pompösen Feiern zu Pinochets 80. Geburtstag wendeten sich die Ereignisse wiederum in eine Demonstration der ungebrochenen Stärke der Rechten und des Militärs. Die Abgabe des Oberbefehls des Heeres und der Amtsantritt als Senator auf Lebenszeit durch General Pinochet im März 1998 20 Für diese und die folgenden Angaben siehe vor allem Wilde, Irruptions of Memory, 485–491. Für die Welle der Literatur anlässlich des Jahrestages siehe ibd., 473. In die Kategorie wichtige Filme fällt v.a. Guzmans, Patricio, Chile: La memoria obstinada, 1997.
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war der Höhepunkt dieser Entwicklung. Die als symbolischer Akt zur Diskussion stehende Initiative einer Verfassungsklage gegen den Ex-Diktator, die aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Senat von vornherein zum Scheitern verurteilt war, 21 lehnten letztlich sogar Mitglieder der Concertación ab. Da sich der Staatsterrorismus der Diktatur nicht auf Chile beschränkte, sondern wie beim Attentat auf Letelier international operierte, kam es in den 1990er Jahren zu diversen Strafprozessen im Ausland, die Aufsehen erregten. So wurden etwa in Italien, Argentinien und Spanien Verfahren eröffnet. Der wichtigste Fall war zweifellos das Verfahren gegen Pinochet, das im Oktober 1998 einsetzte. Auf den Auslieferungsantrag eines spanischen Gerichts hin wurde der Ex-Diktator in einer Londoner Klinik gefangengenommen, wo er sich wegen einer Rückenoperation aufhielt. Nach einigem Hin und Her entschieden die englischen Law Lords schließlich im März 1999 gegen die Anerkennung der von Pinochet geltend gemachten diplomatischen Immunität. Allerdings wurde die Einschränkung gemacht, dass er nur für die Fälle belangt werden könne, die nach September 1988 begangen wurden, d.h. nach der Unterzeichnung der Internationalen Konvention gegen Folter durch Chile und Großbritannien. Ohne hier auf die Einzelheiten der juristischen Verwicklungen eingehen zu können, bleibt festzuhalten, dass die Inhaftierung Pinochets in Chile heftige Diskussionen auslöste. Pinochet und seine Anhänger verstanden das Vorgehen als unrechtmäßig. Der Ex-Diktator galt ihnen als Opfer eines Angriffs auf die staatliche Souveränität Chiles. Die Regierung ist bis zu einem gewissen Grad der Argumentation Pinochets gefolgt. Sie hat seit Oktober 1998 kontinuierlich um seine Rückführung nach Chile gekämpft. Dabei stellte sie sich auf den Standpunkt, dass in Chile begangene Menschenrechtsverletzungen auch von chilenischen Gerichten zu behandeln seien. Immerhin häufen sich in Chile die querellas criminales gegen Pinochet, die der chilenische Richter Juan Guzmán Tapia untersucht. Das Greifen der Justizreform lässt sich daran ablesen, dass Menschenrechtsfälle seit Ende 1998 mehrfach nicht mehr einfach mit Bezug auf das Amnestiegesetz von 1978 eingestellt, sondern die Ermittlungen fortgesetzt wurden. Gleichzeitig betonte die Regierung, dass es ihr um die Verteidigung der Institution des Senators, nicht um die Person Pinochet gehe, und dass diplomatische Immunität nicht mit impunidad gleichzusetzen sei. Mit dieser Haltung hat die Regierung allerdings die Concertación nicht mehr ungeteilt hinter sich. Zahlreiche Abgeordnete des PS haben das Vorgehen der britischen und spanischen Justiz in einem offenen Brief begrüßt, da ein Verfahren gegen Pinochet im eigenen Lande unmöglich sei. Ihre Freude über die Verhaftung teilte vor allem die Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos. Während sich das Militär zunächst zurückhielt, nutzte die politische Rechte den Fall in Hinblick auf den Präsidentschaftswahlkampf propagandistisch aus. Die Äußerungen einiger
21 Blomeier, Hans Hartwig, Chile vor der Präsidentschaftswahl: Kandidaten, Krisen und Konflikte, in: KAS/Auslandsinformationen 15 (9/1999), 6–8. Rottensteiner, Schuld ohne Sühne, 101–115.
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UDI-Politiker trugen erheblich zu einer Eskalation der Gewalt bei, wie sie das Land seit der Rückkehr zur Demokratie nicht mehr erlebt hatte. Auch der Unmut des Militärs ist angesichts der langen Dauer der Verhaftung Pinochets und neuer Prozesse gegen Militärangehörige stark gestiegen. In der Gesellschaft ist das Interesse am Fall Pinochet mittlerweile allerdings deutlich zurückgegangen, jedoch sorgen eine umfangreiche Medienberichterstattung und symbolische Akte wie die Truppenparade am 19. September dafür, dass das Thema weiterhin aktuell 22 bleibt.
3.
Vergangenheitspolitik und politische Kultur
Das überraschend hohe Ausmaß an Gewalt und Hass auf beiden Seiten im Zusammenhang mit der Pinochet-Affäre Ende 1998 zeigte die tiefe Polarisierung, die die chilenische Gesellschaft kennzeichnete. Ein demokratischer Konsens und innerer Frieden waren nicht vorhanden. Tiefe Gräben spalten nicht nur die ältere, sondern auch die junge Generation derjenigen, die während der Diktatur heranwuchsen. Die Wiederherstellung einer demokratischen politischen Kultur schien 23 wenn überhaupt so nur oberflächlich erreicht. Für die Konsolidierung der Demokratie war eine solche politische Kultur in der Unterschiede akzeptiert, Konflikt und öffentliche Debatten nicht gescheut werden, das demokratische Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition anerkannt wird und Toleranz herrscht, aber von entscheidender Bedeutung. Das erkannte auch die Regierung der Concertación, die sich der Aufgabe von Beginn an intensiv widmete. Die den internationalen Trends folgende Entideologisierung der politischen Landschaft im Gefolge des Umbruchs von 1989/90 schuf eine auf den ersten Blick günstige Ausgangslage. Es zeigte sich aber bald, dass das Anknüpfen an demokratische Traditionen nach den langen Jahren der Diktatur nicht ohne weiteres möglich war. Das bedeutete, dass die politische Kultur eine zielstrebig geförderte Neuschöpfung darstellen musste, da sie sich nicht automatisch mit dem politischen Systemwechsel einstellte. Das entscheidende Ziel musste sein, das Erbe der Diktatur – ein Klima der Angst und des Misstrauens – zu überwinden. Das ließ sich nur durch einen radikalen Wandel der Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft bewerkstelligen, wobei den demokratischen politischen Parteien eine wichtige Transmissionsfunktion zukam. Eine Grundbedingung war allerdings die problematische soziale und kulturelle Heterogenität, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen produziert. Der Soziologe Manuel Garretón bemerkte dazu: „… wir sind zur gleichen Zeit 22 Blomeier, Chile vor der Präsidentschaftswahl, 13–23; Izurieta defiende a militares procesados por la justicia, in: La Tercera (9 de noviembre de 1999). 23 Garretón, Manuel A., La faz sumergida del iceberg: Estudios sobre la transformación cultural, Santiago 1995, 20. Siehe auch die Analyse von Tulchin, Joseph S., From Dictatorship to Democracy: Rebuilding Political Consensus in Chile, Boulder 1991.
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Garretón bemerkte dazu: „… wir sind zur gleichen Zeit Adobeziegel und Computer, Strohdach und Farbfernseher, […] amerikanische Bluejeans, Indigenismus, 24 Rockkultur und Menschenrechte, alles gleichzeitig.“ Die angestrebte Integration weiter Teile der Bevölkerung durch die oben bereits beschriebene Sozialpolitik war ein wichtiger Pfeiler der Arbeit an der politischen Kultur. Sie stand in Konflikt mit der atomisierenden Wirkung der neoliberalen marktorientierten Wirtschaftspolitik und der einseitigen Befriedigung von Konsumbedürfnissen, die sich etwa in der Entstehung von shopping malls nach USamerikanischem Vorbild manifestierte. Kombiniert mit dem Stolz auf das internationale Prestige, das durch Erfolge in Wirtschaft und Sport und durch die Kanonisierung der ersten chilenischen Heiligen gewonnen wurde, führte der Konsumis25 mus gerade in der wachsenden Mittelschicht zur Selbstzufriedenheit. Das Konsumparadies blieb aber angesichts der Armutsraten nach wie vor für die große 26 Mehrheit der Chilenen nur ein schöner Schein. Chilenische Intellektuelle mahnten vielfach, dass das Streben nach Partizipation an diesem Paradies zu einer Ersatzbefriedigung in einer sich immer stärker entpolitisierenden Gesellschaft geworden war, die dem neoliberalen Credo des Marktes folgte. Diese Entpolitisierung ließ sich an der vieldiskutierten „Apathie der Massen“ dem demokratischen Prozess gegenüber ablesen. Konnte man die Euphorie des Neubeginns anfangs an einer Wahlbeteiligung beim Plebiszit von 1988 und den ersten Wahlen vom Dezember 1989 von jeweils mehr als 90% ablesen, so stellte sich schnell eine starke Ernüchterung ein. Vor allem die geringe Wahlbeteiligung im Dezember 1997, die den Rechtsruck begünstigte, wurde als Alarmsignal inter27 pretiert. Einen besonderen Anlass zur Sorge gab dabei die Haltung der Jugend, die sich angesichts der hohen Arbeitslosenquote in einer unsicheren und in vielen Fällen marginalisierten Situation befand. Die Frustration fand ihre Ursachen in der fehlenden Integration oftmals gepaart mit der Ablehnung der bestehenden Wege zur Integration. Politische Partizipation erschien „langweilig“, wo doch die 28 heroische Ebene einer Politik der Straße beendet zu sein schien. Das Ende der Hoffnung auf den großen revolutionären Wandel, der in Chile nicht zuletzt durch die Rhetorik des Pinochet-Regimes endgültig desavouiert war, war eine Grundbedingung der Entzauberung. Die Konstellation der Transformation trug nicht zur Besserung bei. Große strukturelle Veränderungen wurden aus den oben erörterten Gründen nicht angegangen. Anstelle direkter Partizipation standen die Verhandlungen von Eliten, die sich oft im Geheimen abspielten und 24 Garretón, La faz sumergida del iceberg, 23 y 18–28. Brunner, José Joaquín, América Latina: Cultura y modernidad, México 1992, 121–161. 25 Garretón, La faz sumergida del iceberg, 124–132. 26 Moulian, Tomás, Chile actual: Anatomía de un mito, Santiago 1997, 109 und 81–124. 27 Navia, Patricio, Tendencias de participación electoral en Chile en 1997, in: Chile 97: Análisis y opiniónes, Santiago 1997, 61–86. Baño, Rodrigo, Apatía y sociedad de masas en la democracia chilena actual, Santiago 1997. 28 Garretón, La faz sumergida del iceberg, 89–103.
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Kompromisse erzeugten, Konflikte aber vermieden. Gerade die neuen politischen Eliten stellten nach der langen Diktatur den notwendigen engen Kontakt zur Bevölkerung nicht schnell genug wieder her. Das zeigte sich etwa an der verständnislosen Reaktion auf direkte Protestaktionen, die sich gegen bestimmte Maßnahmen der Regierung richteten. So rief die lange Diktatur nicht nur Misstrauen in den zwischenmenschlichen Beziehungen hervor, sondern sie führte auch zu einer geringen Offenheit in politischen Diskussionen, was den Eindruck verstärkte, dass 29 man es noch immer mit einer unvollständigen Demokratie zu tun hatte. Interesselosigkeit, Unzufriedenheit mit dem Erreichten und oftmals überzogene Kritik am Staat waren das Ergebnis. Darüber hinaus begünstigte diese Konstellation das Fortbestehen von autoritären Werten und Mentalitäten. Viele Chilenen, die sich in der neuen Demokratie durchaus einrichteten und keine radikale Umkehr wünschten, gewannen der Diktatur rückblickend auch positive Seiten ab. Die Wertschätzung der Demokratie hielt sich gerade bei sozialen Schlüsselakteuren in Grenzen. Dabei handelte es sich nicht nur um die Justiz und das Militär, sondern auch um 30 einflussreiche Teile der Geschäftswelt und vor allem der Presse. Die entscheidende Bedeutung demokratisch orientierter Medien in einer pluralistischen Gesellschaft wurde von der Concertación klar erkannt, doch setzte auch hier nur ein langsamer Wandel ein, da das Mediensystem Teil des Erbes der Diktatur war. Das Pinochet-Regime, das gleich nach dem Putsch alle linken Presseorgane enteignete, nutzte die Situation von 1988/89 geschickt, um konservative Bastionen zu untermauern, indem etwa für die führenden Zeitungen El Mercurio und La Tercera eine sehr günstige Schuldenregelung gefunden wurde und das Fernsehen weitestgehend privatisiert wurde. In der Folgezeit beeinträchtigte dann, wie berechnet, „die Logik der Marktgesetze“ die Etablierung einer neuen schlagkräftigen Konkurrenz. Kritische Gegenprojekte, wie zum Beispiel die Tageszeitung La Época, konnten sich nicht durchsetzen. Die technologische Modernisierung machte hohe Investitionssummen erforderlich, die nur die bereits etablierten Konzerne aufbringen konnten. Die Folge war eine weitere Konzentration der Medienmacht in den Händen weniger Unternehmen. Daneben waren Prozesse der Transnationa31 lisierung klar erkennbar. Die institutionellen Entwicklungen schlugen sich auf die Inhalte nieder, denn die Globalisierung der Massenkultur machte auch vor Chile nicht Halt. Die 29 Lagos, Marta, Latin America's Smiling Mask, in: Journal of Democracy 8 (1997), 123–138. 30 Lahera, Eugenio y Toloza, Cristián, La Concertación de Partidos para la Democracia: balance y perspectivas, in: id., Chile en los noventa, 705–711. Manzi, Jorge y Catalán, Carlos, Los cambios en la opinión pública, in: ibid., 539–548. Garretón, Manuel A. (Hrsg.), Los chilenos y la democracia: La opinión pública 1991–1994, Santiago 1996. Wilde, Irruptions of Memory, 480–481. Garretón, La faz sumergida del iceberg, 123–128. Hojman, David E., El Mercurio's Editorial Page – „La Semana Económica“ – and Neoliberal Policy Making in Today's Chile, in: Fowler, Will (ed.), Ideologues and Ideologies in Latin America, Westport 1997, 171–185. 31 Cortés, Flavio, Modernización y concentración: Los medios de comunicación en Chile, in: Lahera, Eugenio y Toloza, Cristián, Chile en los noventa, 557–612.
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Kommerzialisierung führte dazu, dass sich die Auswahlkriterien eher am Unterhaltungswert der Information orientierten. Hinzu kamen die negativen Auswirkungen der langen Diktatur, die mit ihrer umfassenden Zensurpraxis die Selbstzensur förderten, auf die Professionalität der chilenischen Journalistik. Der Anspruch einer umfassenden Pressefreiheit wurde weiterhin durch eine Justiz beeinträchtigt, die kritische Veröffentlichungen aus dem Verkehr ziehen ließ. In gewisser Hinsicht bauten die Regierungen der Concertación auf diesen Gegebenheiten auf, indem sie mit ihrer Versöhnungspolitik kritischere Stimmen marginalisierten. Ursache und Auswirkung der Entpolitisierung lagen hier besonders eng beieinander. Das Vertrauen in die regulativen Kräfte des Marktes, dass die Medienpolitik der Concertación in den frühen 1990ern prägte, ist einer wesentlich skep32 tischeren Einschätzung gewichen. Ähnlich ambitioniert wie im Bereich der Medien war der kulturpolitische Ansatz der demokratischen Regierungen. Die Prinzipien, die dabei verfolgt wurden, waren Freiheit im Gegensatz zur Praxis der Zensur und kultureller Pluralismus. Ein direkter Eingriff in die Kultur konnte aufgrund dieses Anspruches nicht Ziel der staatlichen Kulturpolitik sein. Vielmehr musste es darum gehen, Wege anzuzeigen und Türen zu öffnen, damit sich der kulturelle Sektor frei entwickeln konnte. Konkret forderte etwa der Soziologe Manuel Garretón fünf Ziele der staatlichen Kulturpolitik: die Förderung der kulturellen Kreativität, den Schutz des kulturellen Erbes, die Schaffung von besseren und gerechteren Partizipationsmöglichkeiten für alle Bürger vor allem durch eine aktive Bildungspolitik, die Repräsentation der Kultur gegenüber der privaten Wirtschaft und nach außen gegenüber der internationalen Öffentlichkeit und schließlich die Schaffung eines kultu33 rellen Grundkonsenses, der Werte wie Freiheit und Demokratie mit einschließt. Die Ergebnisse der Anstrengungen im kulturellen Bereich blieben ambivalent, was wiederum durch den Blick auf die autoritäre Vergangenheit zu verstehen war. Während der Pinochet-Diktatur war die Kultur ebenso wie die Politik heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Der Repressionsapparat richtete sich gegen die freie Meinungsäußerung ebenso wie gegen die als subversiv gebrandmarkten Ideen und kreativen Ausdrucksformen. Die Diffamierung oppositioneller Konzepte ging einher mit massiven Eingriffen in das Bildungssystem, mit der Zensur der Medien und mit direkten Übergriffen gegen Künstler, Autoren und Intellektuelle, bis hin zum politischen Mord. Das nationalistisch-korporatistische Gedankengut, das nun den Diskurs dominieren sollte, war im Wesentlichen defensiv und richtete sich gegen die bisherigen Vorstellungen von Kultur, die als linksradikal diffamiert und 32 Für die positive Einschätzung siehe Tironi, Eugenio, Las políticas en la transición y la transición en los medios de comunicación: Cuatro reflexiones, in: Garretón et al., Cultura, autoritarismo, 235–247. Kritischer: Munizaga, El sistema comunicativo chileno, 89–99 und Cortés, Modernización y concentración, passim. 33 Garretón, La faz sumergida del iceberg, 65–66, 139–140 und 169–191. Siehe auch Cox, Cristián, Las políticas educacionales de los 90, in: Garretón et al., Cultura, autoritarismo, 263–284.
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verfolgt wurden. Konkret wurden die vorangegangenen Reformen, die mehr Bildungsgerechtigkeit anstrebten, um soziale Ungleichheiten zu verringern, rückgängig gemacht. Es kam zu Kürzungen und Entlassungen sowie zur Eliminierung von ganzen Fachbereichen, sofern sie sich mit sozialen Zusammenhängen beschäftigten. Militärs wurden zur Kontrolle der Universitäten eingesetzt. Bildung wurde ideologisiert, Begriffe wie Familie und Vaterland verherrlicht. Gleichzeitig hielt der Markt auch im Bildungssektor Einzug mit der vom Staat unterstützten Einrich34 tung privater Bildungseinrichtungen. Paradoxerweise produzierte aber gerade die extreme Unterdrückung jeglicher freien Meinungsäußerung und politischen Willensbildung die Entstehung einer neuen kulturellen Dynamik im Untergrund, die den Boden für die Entstehung der Opposition ganz wesentlich bereitete. Die Furcht der Diktatur war daher nicht unbegründet. Die Verfolgung der Kultur war letztlich zum Scheitern verurteilt. Mit dem Übergang zur Demokratie ergab sich jedoch erneut eine paradoxe Situation, denn die Kultur schien wieder in einen Raum der Spezialisten abgedrängt zu werden, während die Politik entscheidende Fragen wie vor allem die Definition der 35 kollektiven Erinnerung für sich beanspruchte. Doch fanden chilenische Intellektuelle und Künstler bald zu einer kritischen Haltung zurück und repräsentierten die kulturelle Vielfalt des Landes. Ihr Anliegen war es zum einen, die Kultur aus der Marginalisierung herauszuholen, die angesichts politischer Prioritätensetzung auf dringendere soziale Probleme einer36 seits und durch die Dominanz der Massenkultur andererseits erfolgte. Zum anderen verfolgten sie das schwierige Unterfangen, bei der grundsätzlichen Bejahung 37 des demokratischen Wandels eine Anpassung an den Zeitgeist zu vermeiden. Das 38 zentrale Thema blieb die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Der Eis34 Merino, Roberto, Microclimas culturales, in: Lahera, Eugenio y Toloza, Cristián, Chile en los noventa, 682–685. Koch, Unternehmen Transition, 49–50. Zur Rolle der Kultur in der Ära der Unidad Popular siehe: Calderón, Alfonso, 1964–1973: La cultura, ¿el horror de lo mismo de siempre? In: Garretón et al., Cultura, autoritarismo, 19–28. 35 Garretón, Manuel A. et al., Presentación, in: id. et al., Cultura, autoritarismo, 9. Siehe auch: Ulibarri, Luisa, Nuevos márgenes, espacios y lenguajes expresivos, in: ibid., 29–38. Richard, Nelly, En torno a las diferencias, in: ibid., 39–48. Dies., La insubordinación de los signos, Santiago 1994, 37–57. Siehe auch den Beitrag von Fernando Jerez („Generación del 60: Escribir en dictadura“) in diesem Band. 36 Richard, La insubordinación de los signos, 85. 37 Siehe dazu die diversen Beiträge zu Foxley, Ana María y Tironi, Eugenio (ed.), La cultura chilena en transición, Santiago 1994. 38 Zum blanqueo siehe Moulian, Chile actual, 31–37. Zur wichtigen Rolle des Essays siehe: Nitschack, Horst, El ensayo chileno pos 1973, in diesem Band. Besonders interessant erscheint die Rezeption von Moulians, Chile actual. Vgl. Rinke, Stefan, Review of Tomás Moulian Chile actual, in: Notas: Reseñas iberoamericanas 6 (16/1999), 204–207. Fermandois, Joaquín, Verdad y mito del Chile actual, in: Estudios Públicos 69 (1998), 411–437. Siehe außerdem die wichtigen Titel von Richard, La insubordinación de los signos; Jocelyn-Holt, Alfredo, El peso de la noche: Nuestra frágil fortaleza histórica, Santiago 1997 und Parra, Marco Antonio de la, La mala memoria: Historia personal de Chile contemporáneo, Santiago 1997.
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berg, den Chile 1992 zur Weltausstellung nach Sevilla schickte, blieb das Symbol der Situation des Landes. Wie der Eisberg nur einen Teil seiner Form den Blicken preisgibt, so lastete die nicht genug erforschte und vor allem zu wenig gesühnte Dimension der Verbrechen wie ein Schatten auf Chile. Dort, wo sich Tatsachen nicht mehr verdecken ließen, sind die Opfer wie unter dicken Eisschichten sichtbar geworden – sie riefen Schrecken hervor, aber sie waren zu weit entfernt, um wirklich zu berühren oder berührt zu werden. Die Kulturschaffenden entdeckten die Spuren im Eis und fuhren fort, die Konturen des Eisbergs zu erforschen.
4.
Zusammenfassung
In Chile warf die Vergangenheit in den 1990er-Jahren ihre lange Schatten auf die Gegenwart. Um durch den Blick zurück nicht zur Salzsäule zu erstarren, fixierten die Chilenen eine zeitlang recht erfolgreich den Blick auf eine neoliberale Zukunft. Die Vergangenheit holte sie aber am Ende des ersten postdiktatorialen Jahrzehnts wieder ein. Die daraus resultierende Rückbesinnung resultierte zum einen aus der Festnahme Pinochets und zum anderen aus den sich zuspitzenden wirtschaftlichen Problemen, die das Versprechen des neoliberalen Projekts in Frage stellten. Die Ernüchterung nach dem wirtschaftlichen Wachstumsrausch der 1990er half aber auch den Blick zu schärfen für die Probleme der Vergangenheit und für die Notwendigkeit, sich diesen offen zu stellen. Der Wandlungsprozess hin zu einer demokratischen politischen Kultur dauert auch heute noch an. Jedoch tragen die Bemühungen von Regierung und Zivilgesellschaft sowie die gemeinsame Erfahrung einer stabilen Demokratie Früchte. Mit Blick auf die nahe Zukunft werden die Zweihundertjahrfeiern Chiles noch Chancen eröffnen, mit der jüngeren Vergangenheit angemessen umzugehen. Das Bewusstsein dafür ist seit den problematischen 1990er-Jahren deutlich gewachsen.
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Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien. Zwischen Amnesie und kollektiver Erinnerung Walther L. Bernecker Seit einigen Jahren findet in Spanien eine polarisierte und polarisierende Debatte über die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit von Bürgerkrieg und repressiver Diktatur statt. Um die Schärfe und bissige Polemik der politisch-ideologischen Positionskämpfe zu verstehen, bedarf es eines Blickes zurück, in die Zeit des Franquismus und die Anfangsjahre des Demokratisierungsprozesses nach Francos Tod 1975. Denn der spanische Fall unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von anderen europäischen Beispielen. Der Krieg, der den Kernbestand der zur Diskussion stehenden Erinnerungskultur darstellt, war in erster Linie ein Bürgerkrieg. Er wurde zwar von Anfang an internationalisiert, in seinem Ursprung und seiner historischen Bedeutung war er aber ein primär innerspanischer Konflikt (Bernecker 2005). Dies ist bei jeder Betrachtung des Spanischen Bürgerkriegs (1936– 1939) zu berücksichtigen. Auf den Krieg folgte sodann kein politisches System, das die Aufarbeitung dieses Krieges ermöglicht oder gar gefördert hätte. Ganz im Gegenteil: Es folgte eine jahrzehntelange Diktatur (1939–1975), die eine brutale Repression ausübte und nur eine höchst einseitige Beschäftigung mit dem Krieg 1 zuließ. Toleriert wurde ausschließlich die Perspektive der Sieger. Als schließlich, nach dem Tod des Diktators (1975) und dem allmählichen Übergang in die Demokratie, die Sicht der Unterlegenen zum Tragen kommen konnte, ging die Erinnerung an den Krieg einher mit der Erinnerung an Diktatur und Unterdrückung. 2 Diese Aspekte ließen und lassen sich nicht trennen.
1
2
Zu den traumatischen Folgen des Bürgerkrieges und dem Terror der Nachkriegszeit vgl. (aus psychologisch-psychiatrischer Sicht) Ruiz-Vargas, José María, Trauma y memoria de la Guerra Civil y de la dictadura franquista, in: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea 6 (2006); (http: //hispanianova.rediris.es). Vgl. hierzu den letzten Überblick zur Bürgerkriegshistoriographie seit den 1940er Jahren bis heute bei Rodríguez, Blanco y Andrés, Juan, La historiografía de la Guerra Civil Española, in: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea 7 (2007); (http: //hispanianova.rediris.es). Zum Wandel der kollektiven Erinnerung an die Opfer des Bürgerkriegs über die Generationen der Kriegsteilnehmer, der „Kinder des Krieges“ und der „Enkel des Krieges“ vgl. Ledesma, José Luis und Rodrigo, Javier, Caídos por España, mártires de la libertad. Víctimas y conmemoración de la Guerra Civil en la España posbélica (1939–2006), in: Ayer 63 (2006), 233–255. Die Autoren heben die unterschiedlichen Intensitäten der Erinnerung an die Opfer hervor: Während des Franquismus waren die „für Spanien Gefallenen“, somit die „nationalen“ Opfer, im öffentlichen Raum omnipräsent, während die republikanischen Opfer dem Zwangsvergessen anheim gegeben wurden; in der postdiktatorischen Demokratisierungsphase lässt sich von „Unsichtbarkeit“ der Opfer beider Seiten sprechen; in den letzten Jahren seit der Jahrtausendwende und der Öffnung
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1.
Walther L. Bernecker
Franco-Regime und Erinnerungspolitik
Bevor im Folgenden auf die Geschichtspolitik und die Erinnerungsansprüche in der spanischen Demokratie eingegangen wird, soll einleitend kurz die Erinnerungsgeschichte des Bürgerkriegs in den knapp vierzig Jahren franquistischer Diktatur angesprochen werden, die oftmals eher einer Geschichte ihrer politischen Instrumentalisierung glich. Vergangenheit ist schon immer für politische Zwecke der Gegenwart in die Pflicht genommen worden. Erinnerung und die öffentliche Inszenierung von Erinnerung waren und sind somit eminent politisch. Die vollständige Niederlage der Republikaner 1939 führte zu einer ebenso totalen erinnerungspolitischen Neuorientierung. Traditionspflege hatte fortan aus der Sicht der Sieger zu erfolgen. Erinnerungspolitik betrieben die Franquisten vom ersten Tag des Bürgerkrieges an. Sie bemächtigten sich sofort des öffentlichen Raums, eliminierten demokratische Symbole, änderten Straßen- und Ortsnamen, richteten Feierlichkeiten und Kundgebungen aus. Sie unternahmen vielfältige Anstrengungen, um durch symbolische Politik ihre Herrschaft zu legitimieren und das entstehende Regime zu stabilisieren. Von Anfang an und dann während der gesamten Franco-Ära versuchte das Regime durch damnatio historiae, jegliche historische Erinnerung, die sich nicht in die Tradition des Aufstandes vom 17./18. Juli 1936 einreihen ließ, auszuschalten: physisch durch Ermordung aller exponierten Kräfte der republikanischen Seite, politisch durch kompromisslose Machtaufteilung unter den Siegern, intellektuell durch Zensur und Verbote, propagandistisch durch einseitige Indoktrinierungen, kulturell durch Eliminierung der Symbole jenes angeblichen „AntiSpanien“, das in zermürbender Langsamkeit drei Jahre lang bis zur bedingungslosen Kapitulation bekämpft worden war. Es ging den Siegern immer darum – mal direkt und brutal, mal vermittelt und subtil –, ihre Herrschaft in die Tradition einer weit zurückreichenden, glorreichen Vergangenheit einzuordnen und sich selbst in der historischen Kontinuität imperialer Großmachtpolitik zu präsentieren (Bernecker & Brinkmann 2006: 151–227). Die Erinnerungspolitik umfasste Zeit und Raum gleichermaßen. Was die Zeit betrifft, begann das „nationale“ Lager sogar eine neue Zeitrechnung: 1936 hieß „Erstes Triumphjahr“ (Primer Año Triunfal), 1939 „Siegesjahr“ (Año de la Victoria). Im Übrigen wurde ausführlich aus der Geschichte geschöpft, vor allem aus den Epochen, die als die Glanzzeit Spaniens gedeutet wurden: das ausgehende 15. Jahrhundert unter der Herrschaft der Katholischen Könige, sodann das imperiale 16. Jahrhundert mit Karl V. und Philipp II. als dominierenden Monarchen. Die folgenden Jahrhunderte der Dekadenz, vor allem auch das 19. Jahrhundert als Zeitalter des negativ gedeuteten Liberalismus, wurden weitgehend ausgeblendet.
der anonymen Massengräber beherrscht der Opferdiskurs der im Bürgerkrieg Unterlegenen („Märtyrer der Freiheit“) die öffentlichen Debatten.
Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien
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Was den Raum betrifft, so ergriffen die neuen Machthaber von der Topographie symbolisch Besitz, indem die Namen von Orten, Straßen, Gebäuden, Institutionen geändert und mit neuen historisch-politischen Assoziationen versehen wurden. Der traditionelle Dom der Schutzheiligen Spaniens, der Virgen del Pilar in Zaragoza, wurde zum „Heiligtum der Rasse“; die meisten Hauptstraßen erhielten die Namen Avenida del Generalísimo oder Avenida de José Antonio Primo de Rivera. Bei der Ritualisierung der politischen Erinnerung spielte die Kirche viele Jahre hindurch eine wichtige Rolle. Die franquistische Erinnerungspolitik diente einem einzigen Zweck: das eigene Regime zu legitimieren, es als quasi selbstverständliche Konsequenz der Entwicklung in der Tradition der glorreichen spanischen Geschichte zu verankern, zugleich die Erinnerung an die Gegenseite – die Liberalen und die Demokraten, Sozialisten und Kommunisten, Freimaurer und Juden … – auszulöschen.
2.
Die Verdrängung der Geschichtserinnerung
Nach dem Ende der Franco-Ära konnte das Land erstaunlich schnell den Übergang in die Demokratie bewältigen. Während des Franquismus und danach war der Bürgerkrieg im politischen und historischen Diskurs stets obligater Bezugspunkt; kaum jemand versäumte es, auf den Ursprung des Franco-Regimes im Krieg hinzuweisen. Der nach 1975 einsetzende Boom an Bürgerkriegsliteratur entsprach einem verbreiteten Bedürfnis in weiten Bevölkerungskreisen nach Information und Aufklärung, nachdem in den Jahrzehnten zuvor die Geschichtsschreibung vielfach zur Legitima3 tion des Siegerregimes instrumentalisiert worden war. Es stand zu erwarten, dass im demokratischen Spanien an den Jahrestagen des Bürgerkrieges verstärkte Aktivitäten stattfinden würden, um dem Informationsund Aufklärungsbedürfnis der Bürger nachzukommen. Die Jahrestage 1976/1979 fielen allerdings voll in die politisch aufgewühlte Transitionsphase; sowohl die Politiker als auch die Zivilgesellschaft mussten all ihre Energien auf die Bewältigung des Übergangs von der Diktatur in die Demokratie konzentrieren. Als diese Gratwanderung erfolgreich abgeschlossen war und seit 1982 die Sozialistische Partei unangefochten regierte, bot der Jahrestag 1986 zum ersten Mal im redemokratisierten Spanien die Gelegenheit, ohne staatlich verordnete ideologische Vorgaben des Bürgerkriegsbeginns vor 50 Jahren zu gedenken. Zweifellos gab es 1986 auch öffentliche Veranstaltungen, die an den Bürgerkriegsbeginn erinnerten (während der Jahrestag des Kriegsendes 1989 praktisch unbeachtet verstrich); aber gemessen an der überragenden Bedeutung, die dieser Krieg für das Spanien der Gegenwart hat, hielten sich die Rückblicke eher in Grenzen. Die meisten Veran3
Zur Transition vgl. Bernecker, Walther L., Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München 1997, 213–232, sowie Bernecker, Walther L. und Collado Seidel, Carlos (Hrsg.), Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1975–1982, München 1993.
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Walther L. Bernecker
staltungen waren ohnehin in die eher „entschärfte“ Domäne der Historiker übergegangen. Darin waren sich nahezu alle politisch und wissenschaftlich Verantwortlichen einig: Keine erneuten Rechtfertigungen, sondern Erklärungen waren gefragt; nicht die Opas, die den Krieg geführt hatten, sondern die jungen Akademiker, die ihn nur über Quellen und Literatur kannten, waren die Protagonisten der Veranstaltungen. Auf diesen wurde immer wieder mahnend dazu aufgefordert, „objektiv“ und „historisch distanziert“ zu argumentieren, da man doch über ein längst vergangenes Ereignis spreche, das seit langem schon Teil der „Geschichte“ sei. Ergebnis dieser Tagungen und Kongresse waren mehrere Sammelbände, die ein weitgehend ausgewogenes Bild des Bürgerkrieges präsentierten; verbreitete historische Zeitschriften (etwa Historia 16) und Tageszeitungen mit hohen Auflagen (El País u.a.) brachten vielfältige Bürgerkriegsbeiträge. Im Gegensatz zu diesen historiographischen Beiträgen ließ sich das „offizielle“ Spanien so gut wie nicht vernehmen. Im Juni 1986, wenige Wochen vor dem eigentlichen Jahrestag des Bürgerkriegbeginns, standen Parlamentswahlen auf der politischen Tagesordnung, bei denen es für die regierende Sozialistische Partei um den Erhalt ihrer absoluten Mehrheit ging, und in dieser politisch heiklen Situation durften Wähler der Mitte und der gemäßigten Rechten nicht verunsichert oder gar verschreckt werden, indem öffentlich und über Massenmedien auf die Spaltung der spanischen Gesellschaft in den dreißiger Jahren hingewiesen wurde. Damals war ja die Sozialistische Partei eindeutig auf dem linken Spektrum des politischen Lebens angesiedelt gewesen. Die einzige Verlautbarung aus dem Moncloa-Palast – Ministerpräsident Felipe González verkündete sie als Regierungschef aller Spanier, nicht als Generalsekretär der Sozialistischen Partei – besagte, der Bürgerkrieg sei „kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn er für die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Episode in ihrem Leben darstellte“. Inzwischen sei der Krieg jedoch „endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung und der kollektiven Erfahrung der Spanier“; er sei „nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der 4 Toleranz basiert“. Sicherlich sind derartige Äußerungen in Zusammenhang mit dem demokratischen Neuaufbau nach 1975 und dem Schlüsselwort beim Abbau der Diktatur zu sehen: consenso, Zusammenwirken aller. Die traumatische Erfahrung von Bürgerkrieg, brutalster Gewaltausübung und gesellschaftlicher Spaltung dürfte unausgesprochen den Hintergrund vieler Haltungen und Maßnahmen in der Übergangsphase zur Demokratie gebildet haben: für die Akzeptierung der Monarchie durch die republikanischen Sozialisten, für die gemäßigten Positionen der Kommunisten, für das Zusammenwirken aller politischen Kräfte bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Die neue Demokratie sollte nicht von einem Teil gegen den
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„Una guerra civil no es un acontecimiento conmemorable“, afirma el Gobierno. In: El País vom 18.7.1986, 17.
Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien
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Willen des anderen, sondern möglichst unter Mitwirkung aller politischen Lager aufgebaut werden. Voraussetzung hierfür aber war die Wiederversöhnung aller ehemals verfeindeten Lager. Nicht alte, noch ausstehende Rechnungen sollten beglichen, sondern ein endgültiger Schlussstrich unter die Kämpfe und Feindschaften der Vergangenheit gezogen werden. Dieser Wunsch nach Aussöhnung und die Angst davor, alt-neue, nicht verheilte Wunden wieder aufzureißen, mögen die regierenden Sozialisten – die zu den Hauptverlierern des Bürgerkrieges gehörten! – mitbewogen haben, den Jahrestag 1986 offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja: zu verdrängen, und außerdem politisches Verständnis für die ehemals „andere“ Seite zu zeigen. Weiter heißt es nämlich in der Moncloa-Erklärung, die Regierung wolle „die Erinnerung an all jene ehren und hochhalten, die jederzeit mit ihrer Anstrengung – und viele mit ihrem Leben – zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie in Spanien beigetragen haben“; zugleich gedenke sie „respektvoll jener, die – von anderen Positionen aus als denen des demokratischen Spanien – für eine andere Gesellschaft kämpften, für die viele auch ihr Leben opferten“. Die Regierung hoffe, dass „aus keinem Grund und keinem Anlass das Gespenst des Krieges und des Hasses jemals wieder unser Land heimsuche, unser Bewusstsein verdunkle und unsere Freiheit zerstöre. Deshalb äußert die Regierung auch ihren Wunsch, dass der 50. Jahrestag des Bürgerkrieges endgültig die Wiederversöhnung der Spanier besiegle.“ Die bis 1996 regierenden Sozialisten griffen auf die Erblast der Angst als Folge des Krieges zurück, um ihre politische Vorsicht abzusichern, um keine radikalen Veränderungen vorzunehmen, die möglicherweise die Stabilität des Systems gefährden könnten. Die in Spanien nach 1975 relativ schnell erreichte Stabilität hatte ihren politischen und moralischen Preis, der soziopolitische Friede musste erkauft werden (Morán 1991). Das Überleben des franquistischen Symbolsystems erinnerte daran, dass die politische Reform aus einem Pakt hervorgegangen war, der innerhalb der autoritären Institutionen ausgearbeitet wurde und schließlich zur Transition führte. Die Tatsache, dass es keinen klaren demokratischen Bruch mit der franquistischen Diktatur gab, hat einen Schatten auf jene Bereiche der Vergangenheit geworfen, die von Pierre Nora „Orte des Gedächtnisses“ genannt werden (Nora 1984). Die transición stellte eine Art Ehrenabkommen dar, durch das die Kompensation der Franquisten für die Übergabe der Macht in der Praktizierung einer kollektiven Amnesie erfolgte. Dies gilt nicht nur für die konservativen Übergangsregierungen der Jahre 1977–1982; dies ist nicht weniger gültig für den Partido Socialista Obrero Español: Mit ihrer Geschichtslosigkeit setzte die spanische Sozialdemokratie den in der Franco-Zeit erzwungenen Gedächtnisverlust des Volkes fort. In beiden Fällen diente die Marginalisierung und Verdrängung von Geschichte der Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse. Ein weiterer wichtiger Grund für die offizielle Verdrängung des Bürgerkrieges dürfte in dem ideologischen Konsens gelegen haben, der in den Jahren der Transi-
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tion und des darauf folgenden ökonomischen Aufschwungs die spanische Gesellschaft bestimmte und der auf die Begriffe Modernisierung und Europäisierung gebracht werden kann. Hintergrund der Fortschrittsgläubigkeit, des extrovertierten Konsumrausches und der ungezügelten Europa-Euphorie jener Phase war ein tief sitzender Minderwertigkeitskomplex gerade in Bezug auf diesen Fortschritt und dieses Europa, von dem das Franco-Regime sich zuerst bewusst abgekoppelt hatte („Spanien ist anders“) und von dem es zuletzt aus politischen und ökonomischen Gründen ferngehalten worden war. Philosophen, Schriftsteller und Politiker haben sich immer wieder die Frage nach den Gründen für Spaniens „Rückständigkeit“ gestellt. Der Bürgerkrieg gilt in dieser Debatte als das historische Ereignis, durch das die Rückständigkeit der Spanier am klarsten zum Ausdruck kam, der Schlusspunkt in einer ganzen Reihe fehlgeschlagener Modernisierungsversuche. Die Folge des Bürgerkrieges, die Installierung des Franco-Regimes, führte nach 1945 zum Ausschluss Spaniens aus der internationalen Staatengemeinschaft, zur Ächtung und zum wirtschaftlichen Boykott. Minderwertigkeit, Isolierung und Spaltung in Sieger und Besiegte wurden in Spanien mit dem Bürgerkrieg und seinen Folgen assoziiert. Die Öffnung des Landes zur Demokratie, zu Fortschritt und zu Europa war eine bewusste Abkoppelung von dieser unerwünschten Vergangenheit. Über den Bürgerkrieg, noch mehr sogar über die ersten Jahre der Franco-Ära, legte sich zumindest im politischen Diskurs für längere Zeit eine Decke des gesellschaftlichen Schweigens; wahrscheinlich erachteten es die DemokratisierungsGenerationen nicht für ratsam, auf eine derart Konflikt beladene Epoche zurückzublicken. Auf dem Altar der Ausgleichsmentalität wurden auch jene Gedenkveranstaltungen geopfert, die viele von der Regierung 1986 bzw. 1989 oder auch 1996 erwartet hatten. Stattdessen lautete die offizielle, nach beiden Seiten hin gleichermaßen abgesicherte Parole: „Nie wieder!“ Der Bürgerkrieg wurde als „Tragödie“ bewertet, als Krise, die den Zusammenbruch aller Werte des Zusammenlebens heraufbeschwor; nicht von den Gründen und Verantwortlichkeiten für diese Tragödie war die Rede, sondern von den Folgen der „tragischen Krise“. Diktaturbewältigung besteht nicht nur aus der Änderung der Rechtsnormen oder aus einer demokratischen Erinnerungskultur, sondern nicht weniger aus dem konkreten Umgang mit den Eliten des alten Systems. Fragt man nun im spanischen Fall nach elitenbezogenen Reinigungsstrategien im Abbau der Diktatur, so stellt sich die Situation ausgesprochen komplex dar, da in den Jahren der Transition die neuen Eliten sich weitgehend aus den alten rekrutierten. Wie jedoch in anderen neu eingerichteten Demokratien, waren auch die Akteure der spanischen Transition dazu gezwungen, Stellung zur vorausgegangenen Diktatur zu beziehen, sich mit dem Franquismus auseinanderzusetzen und seine Institutionen aufzulö-
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sen oder umzubauen. Da die spanische Demokratie nicht aus einem Bruch mit der Diktatur resultierte, sondern aus einem Pakt zwischen alten und neuen Eliten hervorging, wurden vorerst die legitimatorischen Grundlagen des Franquismus von den politischen Funktionsträgern diskursiv nicht dekonstruiert. Die Träger der die Diktatur stützenden Eliten in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Militär und Justizwesen, hatten keine radikale Abrechnung zu befürchten. Dieser Umgang mit den Eliten der zu Ende gehenden Diktatur war entscheidend für das politische und das öffentliche Leben der Transitionsphase und darüber hinaus. Im Unterschied zu anderen Erfahrungen von Diktaturbewältigungen wurden in Spanien keine Fragen zur strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen in der Diktatur gestellt, die Verwicklung in das franquistische System wurde öffentlich nicht thematisiert, prägte aber über Jahre hin – im Grunde genommen bis heute – das politische Leben und die politische Kultur des Landes. Zusätzlich zu den oben genannten dürfte ein weiterer, wesentlicher Grund für diese auffällige Zurückhaltung im Hinblick auf eine mögliche „Abrechnung“ mit den Vertretern des alten Regimes darin gelegen haben, dass das franquistische Regime aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen war, in dem sich beide Seiten unendlich viel Unrecht zugefügt hatten. Die Aufarbeitung der Diktatur war somit nicht möglich ohne eine gleichzeitige Aufarbeitung des Bürgerkriegs; und während im Falle der Diktatur die Verantwortlichkeit für die Verbrechen noch eindeutig zugewiesen werden konnte, war das im Falle des Bürgerkrieges in vielen Fällen nicht möglich. Hinzu kam, dass die besonders gravierenden Fälle von Menschenrechtsverletzungen zum Zeitpunkt der Transition lange zurücklagen – zwischen 30 und 40 Jahre –, und der Wunsch nach Versöhnung sich weit deutlicher bemerkbar machte als der nach Abrechnung durch strafrechtliche Verfolgung. Es waren bezeichnenderweise Vertreter der linken Opposition, die am deutlichsten ein allgemeines Amnestiegesetz vertraten.
3.
Die „andere“ Aufarbeitung in Katalonien und im Baskenland
Die Erinnerungskultur stellte sich in den einzelnen Landesteilen ganz unterschiedlich dar; vor allem Katalonien und das Baskenland wichen vom gesamtspanischen Diskurs erheblich ab. Für den katalanischen Fall gilt, dass die polemischen Kontroversen und die krass differierenden Geschichtsbilder, die auf gesamtstaatlicher Ebene in den letzten Jahren das geschichtspolitische Klima vergiftet haben, weitgehender Übereinstimmung bei der Deutung der jüngsten Vergangenheit und bei der Erinnerung an die Repression wichen. Sicher gab (und gibt) es 5
Elster, Jon, Die Akten schließen. Nach dem Ende von Diktaturen, Frankfurt am Main 2005; Kenkmann, Alfons (Hrsg.), Nach Kriegen und Diktaturen: Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem. Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Essen 2005.
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auch in Katalonien (partei-)politische Unterschiede beim Blick auf die Vergangenheit. „Die Tatsache aber, dass die Bewertung der Vergangenheit keine grundlegenden Konflikte auslöst, verweist auf den Fortbestand eines besonderen Erinne6 rungskonsenses in Bezug auf die jüngere Geschichte.“ Seit Beginn der Transition unterschied sich die in Katalonien erinnerte Vergangenheit von der im restlichen Spanien. Die Differenzen lassen sich am Beispiel der Zweiten Republik festmachen: Nachdem nach 1975 die positiv integrierende Rolle der Monarchie die linken Parteien schon zur Hintanstellung ihres Republikanismus gezwungen hatte, lieferte auch die Verfassung der Zweiten Republik (1931) kein Vorbild bei der Ausarbeitung des neuen postfranquistischen Grundgesetzes, sondern stellte eher eine Negativfolie dar. Ganz anders war die Situation in Katalonien. Das Autonomiestatut von 1932 war der entscheidende Bezug im katalanischen Kampf um die Wiedererringung einer weitgehenden Selbstverwaltung nach Franco; damit erschien aber auch die Phase der Zweiten Republik in Katalonien in einem viel positiveren Licht als im restlichen Spanien (Brinkmann 2007: 110). Der 14. April – Tag der Ausrufung der Republik im Jahr 1931 – diente alljährlich der Artikulation weitgehender Autonomieforderungen, Francesc Macià als erster Präsident der republikanischen Generalitat erhielt vielfache Ehrungen, der von Franco später hingerichtete zweite Präsident Lluís Companys wurde zum zentralen Symbol der Autonomieforderungen, nachdem sich in seiner Person die Erinnerung an die gewaltsame franquistische Repression mit der Forderung nach Wiederherstellung der Selbstverwaltung bestens verbinden ließ. Dabei verlieh die größere zivilgesellschaftliche Dynamik, die auf eine breite katalanischantifranquistische Solidarität stieß, den Gedenkinitiativen ein stärkeres und eher überparteiliches Gewicht als im übrigen Spanien. Der negative Bezug auf den Franquismus wirkte in Katalonien zumeist legitimitätsstiftend, während im übrigen Spanien der Rekurs auf frühere Bürgerkriegsoder Antifranquismuspositionen eher tabuisiert war. Und auch wenn die Umbenennung franquistischer Straßen und Plätze selbst in Katalonien nicht so schnell und radikal vor sich ging, wie es manche Reformeiferer wünschten, besteht kein Zweifel daran, dass die Verbannung franquistischer Erinnerung aus dem öffentlichen Raum weitaus früher und systematischer erfolgte als im restlichen Spanien; Ende 1979 war in Katalonien kaum noch franquistische Symbolik anzutreffen. Die Errichtung eines Zentraldenkmals für die katalanischen Opfer des Franquismus im Fossar de la Pedrera war landesweit einzigartig und verweist auf die Erinnerungssingularität Kataloniens, wie auch der Rekurs auf den Antifranquismus und den aktiven Widerstand gegen das undemokratische Regime stets eine Quelle politischer Legitimität war. Insgesamt lässt sich somit von einer deutlich größeren Präsenz der jüngeren Vergangenheit in der katalanischen Öffentlichkeit des letz-
6
Brinkmann, Sören, Katalonien und der spanische Bürgerkrieg. Geschichte und Erinnerung, Berlin 2007, 9. Die folgende Argumentation folgt dieser Darstellung.
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ten Drittels des 20. Jahrhunderts sprechen. 2006/2007 trieb die Generalitat das früher schon diskutierte, aber vorerst hintangestellte Projekt einer historischen Mahn- und Erinnerungsstätte mit der Bezeichnung Memorial Democràtic voran, mit dem sämtlicher Opfer – von rechts und von links – politischer Repression gedacht werden soll – auch das eine Initiative, die im restlichen Spanien vorerst keine Nachahmung fand. 7 Auch der baskische Fall unterscheidet sich deutlich vom gesamtspanischen. Die kollektive Erinnerung an Bürgerkrieg und franquistische Repression hat in den Jahren der Transition das Verhalten der baskischen Politiker ganz entscheidend beeinflusst. Dabei muss die besondere Situation des Baskenlandes zu Beginn des Bürgerkrieges berücksichtigt werden: Die dominierende Partei PNV (Partido Nacionalista Vasco) schlug sich zwar auf die Seite der Republik, war aber in vielerlei Hinsicht eher unentschlossen, ohne genau zu wissen, welchem Lager sie sich anschließen sollte. Das Baskenland insgesamt wurde ideologisch gespalten: Während die Provinzen Vizcaya und Guipúzcoa letztlich doch die Republik unterstützten, sprachen sich Álava und Navarra für die Aufständischen aus. Die katholische Kirche des Baskenlandes war zweigeteilt: Während die Bischöfe von Vitoria und Pamplona sich auf die Seite der Aufständischen schlugen, ergriffen viele einfache Pfarrer Partei für die baskischen Nationalisten (und das hieß letztlich auch für die Republik). Ganz offensichtlich fehlte es den baskischen Bataillonen an Kampfgeist, wenn es um etwas anderes als um die Verteidigung des baskischen Territoriums ging. Da nicht klar war, wie der Krieg enden würde, wollte man sich nicht vorbehaltlos für die eine Seite gegen die andere engagieren. Ambivalentes Verhalten war weit verbreitet. Führende Politiker des PNV waren zu einem Separatfrieden mit Franco bereit, um das Baskenland vor allzu großer Repression seitens der Franquisten zu bewahren. All das sollte nichts nützen: Die Provinzen Guipúzcoa und Vizcaya wurden nach ihrer Niederlage als „Verräterprovinzen“ gebrandmarkt und gingen ihrer althergebrachten Sonderrechte verlustig, während Álava und Navarra sie behalten durften. Allerdings waren nach der Niederlage – entgegen der nationalistischen Klage in der Transition – die franquistischen Repressalien in den Baskenprovinzen nicht schlimmer als in anderen Teilen des Landes – einigen Autoren zufolge waren sie eher weniger weit reichend. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation stellte sich objektiv im Baskenland besser dar als in anderen Landesteilen; die Kindersterblichkeit etwa war weitaus geringer als im Rest Spaniens. Die mehrheitliche Perzeption der Basken im Hinblick auf den Franquismus war jedoch deutlich kritischer und negativer, als sie von der „objektiven“ Situation her gerechtfertigt gewesen wäre. Im späteren Franquismus, in den sechziger Jahren, nahm die Repression in Euskadi allerdings erheblich zu; in dieser Phase kann man durchaus von überdurchschnittlichem Leiden des baskischen
7
Die folgende Argumentation nach Aguilar, Paloma, La Guerra Civil en el discurso nacionalista vasco. Memorias peculiares para un aprendizaje político diferente, Madrid 1997.
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Volkes sprechen. Der Opferdiskurs des baskischen Nationalismus hat in der Transition sodann ganz offensichtlich die Repressionserfahrung der sechziger Jahre auf frühere Phasen – Bürgerkrieg und erste Nachkriegszeit – übertragen. Die baskisch-nationalistische Deutung des Bürgerkriegs besagt, „alle Basken“ hätten ihn verloren; daher sei es jederzeit gerechtfertigt gewesen, die Interessen ihrer Gemeinschaft denen ihrer politischen Alliierten im Krieg vorzuziehen. Mit diesem Argument wurden die baskischen Separatfriedensverhandlungen mit den Italienern in Santoña 1937 und die kampflose Übergabe der Fabriken Bilbaos an die Franquisten – Handlungen, die von Republikanern immer wieder als „Verrat“ an der gemeinsamen Sache der Republik gebrandmarkt wurden – zu einer lobenswerten Tugend, da es vor allem um die Verteidigung „alles Baskischen“ ging. Da die Transition nach 1975 auf der Grundlage des Schweigens über die Bürgerkriegsvergangenheit beruhte, wurde der PNV von niemandem wegen seines Verhaltens 1936/37 zur Rechenschaft gezogen. Zur „moralischen Autorität“ (Paloma Aguilar) des baskischen Nationalismus in der Transition gehörte der Hinweis auf die besonders harte Unterdrückung des Baskenlandes in den 1960er Jahren. Damals kam es verstärkt zu Attentaten und Überfällen, zu Bombenexplosionen und Straßenkrawallen, Generalstreiks und Volksmobilisierungen, und das Regime reagierte darauf mit einer deutlichen Intensivierung der Repressionsmaßnahmen und der wiederholten Ausrufung des Ausnahmezustandes im Baskenland. Der radikale baskische Nationalismus hat den Spanischen Bürgerkrieg nie als Kampf zweier ideologischer Lager gedeutet, die auch das Baskenland durchtrennten, sondern stets als einen „Befreiungskrieg“ gegen einen äußeren Feind – Spanien –, der das (geeinte) Baskenland seit damals besetzt hielt. Der PNV sah im Bürgerkrieg vor allem einen nationalbaskischen Kampf gegen einen ausländischen Besatzer. Der spätere Kampf von ETA richtete sich nur oberflächlich gegen die franquistische Diktatur; eigentlich ging es um viel mehr, nämlich um die Unabhängigkeit vom verhassten spanischen Besatzerstaat, unabhängig vom jeweiligen Regime. Dieses Ziel erklärt die Fortführung des bewaffneten ETA-Kampfes nach dem Übergang in die Demokratie und der Gewährung einer weit reichenden Autonomieregelung. Der PNV sprach in seinen Versammlungen während der Transition vom andauernden Kampf des Baskenlands seit den Tagen von Sabino Arana bis in die Gegenwart; der Kampf war stets „für das Baskenland“ (nicht etwa, im Bürgerkrieg, für die Republik, die ja eine „spanische“ war). Der PNV-Diskurs betonte stets, dass das oberste Ziel der Nationalisten immer „die Verteidigung der Interessen des baskischen Volkes“ gewesen sei. Wenn aber der Bürgerkrieg ein Krieg „zwischen Spaniern“ war, an dem die Basken sich gegen ihren eigenen Willen beteiligen mussten und dies schließlich nur taten, um die baskischen Interessen so gut wie möglich zu verteidigen, lässt sich aus baskisch-nationalistischer Sicht nur eine Lehre aus diesem Befund ziehen: Der (aufgezwungene) Pakt mit spanischen Kräften brachte Leid und Menschenver-
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luste im Krieg und damit eine vierzigjährige „Besatzung“ des baskischen Territoriums durch Spanier; in Zukunft müssten sich die Basken sehr genau überlegen, ob sie erneut einen Pakt mit spanischen Kräften eingingen, da ja das Zentrum ihrer Interessen die baskische Gemeinschaft sei und bleiben muss. Zugleich propagierten die Nationalisten das historisch falsche Bild eines im Kampf gegen die Aggressoren geeinten Baskenlandes; der Krieg wurde nicht als innerbaskischer Bürgerkrieg dargestellt – was er auch war –, sondern als gesamtbaskischer Abwehrkampf gegen einen äußeren Feind. Der Umgang mit der Vergangenheit von Bürgerkrieg und franquistischer Repression unterschied sich somit auch im Baskenland erheblich von dem im restlichen Spanien: Die baskischen Nationalisten konstruierten das Bild einer geeinten Gemeinschaft, der 1936 ein von ihnen nicht gewollter Krieg aufgezwungen worden war. Ab den 1960er Jahren kämpften die radikalen Nationalisten (ETA) mit Gewalt gegen die „spanische Besatzung“, während die eher gemäßigten Nationalisten (PNV) sich als Allzeitverteidiger der baskischen Interessen ausgaben und mit den negativen Erfahrungen im Bürgerkrieg ihre Distanzierung zu allem „Spanischen“ rechtfertigten – so auch ihre fehlende Zustimmung zur demokratischen Verfassung von 1978. Da die Basken, dieser Argumentation zufolge, keinerlei Verantwortung für den spanischen Bürgerkrieg traf, mussten sie bei der Vergangenheitsaufarbeitung nach 1975 auch nicht von der (in der Transition weithin akzeptierten) Maxime ausgehen, „alle“ seien am Bürgerkrieg „schuld“ und müssten deswegen im Demokratisierungsprozess Kompromisse eingehen und eine auf „Konsens“ 8 hinorientierte Politik betreiben.
4.
Zwischen Erinnern und Vergessen: Das Spanien der Republik
Nach dem Tod des Diktators war die Amnestiefrage rasch zu einem Hauptanliegen der Opposition und deren Lösung zugleich zur politischen Bewährungsprobe für das Regierungslager geworden. Die Forderung nach einer umfassenden Amnestie wurde gleichsam zum Kristallisationspunkt für alle Veränderungswünsche. Da die Amnestie sich auf die Taten beider Seiten erstreckte und deren symbolische Bedeutung als Hauptakt der nationalen Versöhnung nicht gefährdet werden sollte, durften keine einseitigen Schuldzuweisungen erfolgen. Das gesamte politische Spektrum bekannte sich zu einer „Amnestie aller für alle“ – so der baskische
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Es sollte hier nur um die Rekonstruktion des nationalistischen Diskurses während der Transition gehen. In der politischen Praxis der Jahre nach 1975 zeigte sich der PNV weit kooperationswilliger, als dieser Diskurs vermuten lässt.
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Nationalist Xavier Arzallus –, die ein besonders leidvolles Kapitel der spanischen 9 Geschichte besiegeln und die Grundlage für einen Neuanfang legen sollte. Bilanziert man diesen vergangenheitspolitischen Schlussstrich im Lichte der Bürgerkriegskategorien, so kann die Versöhnungsrhetorik nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Lager der „Verlierer“ insgesamt einen deutlich höheren Preis für die Wiedergewinnung der Demokratie zu zahlen hatte. Denn zur Niederlage im Krieg und deren unmittelbaren Folgen gesellte sich in der Regel die politische und sozialökonomische Diskriminierung von knapp 40 Jahren Diktatur. Die offizielle Anerkennung der einstigen Verlierer als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft war jedoch nicht allein mit juristischen Mitteln zu bewerkstelligen. Vielmehr galt es, das einst unterlegene Spanien in seiner Identität ernst zu nehmen und dessen besondere Geschichte als einen integralen Bestandteil der, wenn man so will, „nationalgeschichtlichen“ Erfahrung zu begreifen. Die Wiederaufnahme der Republikaner in den Schoß der postfranquistischen Gesellschaft stand somit offenkundig unter der Bedingung, die Kämpfe von gestern und selbst die Erinnerung daran im Exil zu lassen. Und wer hierzu nicht bereit war, blieb letztlich außerhalb des politischen Konsenses. Über diesen Verzicht auf Erinnerung wird bis heute spekuliert, und manche Kritiker sehen hier anstelle von kluger Zurückhaltung im Interesse von Freiheit und Demokratie eher die verbreitete Furcht der Opposition vor dem alten Establishment am Werke. Nicht zufällig ist daher in der Rückschau oftmals von einem „Pakt des Schweigens“ der Eliten, gar von „kollektiver Amnesie“ die Rede gewesen. Dagegen hat der Historiker Santos Juliá klargestellt, dass die Vergessensrhetorik der Transition keineswegs mit einem praktizierten Beschweigen der Vergangenheit gleichgesetzt werden kann. Denn die politische Öffentlichkeit redete und erinnerte sich tatsächlich unermüdlich, wenn auch die Art dieser Erinnerungsrhetorik vor allem darauf abzielte, den Bürgerkrieg und seine Folgen von der politi10 schen Debatte fernzuhalten. Was heute wie ein Verzicht auf Erinnerung erscheinen mag, war der letztlich erfolgreiche Versuch, die explosive Wirkungsmacht der Vergangenheit rhetorisch zu neutralisieren.
9
Zur Amnestie nach 1975 vgl. Aguilar, Paloma, Memoria y olvido de la Guerra Civil española, Madrid 1996. 10 Vgl. Juliá, Santos, Echar al olvido. Memoria y amnistía en la transición, in: Claves de razón práctica 129 (2003), 14–25. Vgl. auch ders. (Hrsg.), Memoria de la Guerra y del Franquismo, Madrid 2006. Die Haltung von Santos Juliá, der seit Jahren die These eines „Pakts des Schweigens“ bestreitet und immer wieder behauptet, seit der Transition sei ausführlich über alle Aspekte des Bürgerkriegs (einschließlich der massiven Repression im Krieg und in der Nachkriegszeit) debattiert und geschrieben worden, wird heftig kritisiert von Espinosa Maestre, Francisco, De salvaciones y olvidos. Reflexiones en torno a un pasado que no puede pasar, in: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea 7 (2007) (http://hispanianova.rediris.es), der mit Nachdruck die Geschichtsvergessenheit der Transition und die fehlende Aufarbeitung der repressiven Vergangenheit hervorhebt.
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Charakteristisch hierfür waren Distanzierungsstrategien, mit denen die traumatische Erfahrung der dreißiger Jahre in möglichst weite Ferne zur Gegenwart geschoben wurde. Der erste Schritt mentaler Distanzierung war bereits mit der Anerkennung des Krieges als „Bruderkrieg“ und „nationale Tragödie“ erfolgt. Die Kollektivschuldthese verhinderte nicht nur die späte Aufrechnung politischer Verbrechen, sondern auch die öffentliche Anerkennung der Tatsache, dass die politische Repression auf franquistischer Seite bedeutend mehr Opfer gefordert hatte. Politischer Mord, Unterdrückung, Exil und Zwangsarbeit, kurzum, die Leidensgeschichte des republikanischen Lagers verwandelte sich so in einen hochsensiblen Sperrbereich des öffentlichen Diskurses, der nur selten betreten wurde.
5.
Zur Repolitisierung der Vergangenheit in der Regierungszeit der Konservativen
Auf die lange Regierungszeit der Sozialisten folgte 1996 der Wahlsieg des konservativen Partido Popular, dessen Vorsitzender José María Aznar vier Jahre lang einer Minderheitsregierung vorstehen und weitere vier Jahre mit absoluter Mehrheit regieren sollte. Das neue Selbstbewusstsein der Rechten, das proportional zur Krise der Sozialisten im Verlauf der neunziger Jahr gestiegen war, sollte nicht ohne Folgen für die Geschichtspolitik insgesamt und den Blick auf die jüngste Vergangenheit im besonderen bleiben. Sichtbar wurde dies allerdings erst mittelfristig. Als neu erwiesen sich zunächst der Nachdruck und die Lautstärke, mit der eine ultrakonservativ aufgeladene Vergangenheitsdeutung zu dieser Zeit in die politische Öffentlichkeit drängte. Dabei ging es nicht nur um Teilaspekte, sondern letztlich um die Deutungshoheit über den Bürgerkrieg insgesamt. Getarnt als Kampf gegen die vermeintliche Usurpation der Geschichte des Bürgerkrieges durch die Linke, zielte eine revisionistische, neo-franquistische Rechte mit ihren Arbeiten praktisch auf die Gesamtheit der universitär verankerten, kritischen Gesellschaftsgeschichte. Als Antwort auf das von zahllosen Einzelstudien geformte, fachhistorische Bild des Bürgerkrieges warteten die Revisionisten mit mehreren Titeln auf, deren generelle Tendenz in der Minimierung der Verantwortlichkeiten der Aufständischen lag, während die Handlungen des gegnerischen 11 Lagers regelmäßig zu einem apokalyptischen Schreckbild gesteigert wurden. Zentraler Fluchtpunkt war hierbei stets die so genannte Oktoberrevolution von 11 Der bekannteste dieser Revisionisten ist Pío Moa, dessen zahlreiche Werke über den Bürgerkrieg zu Bestsellern wurden. Vgl. (als kleine Auswahl) Moa, Pío, Contra la mentira. Guerra civil, izquierda, nacionalistas y jacobinismo, Madrid 2003; ders., Los crímenes de la guerra civil y otras polémicas, Madrid 2004; ders., Una historia chocante. Los nacionalismos vasco y catalán en la Historia Contemporánea de España, Madrid 2004; ders., Los mitos de la guerra civil, Madrid 2003. Eine radikale Abrechnung mit Moa ist Reig Tapia, Alberto, Anti Moa, Barcelona 2006; vgl. auch, als Decouvrierung zahlreicher Mythen der Rechten zum Bürgerkrieg, ders., La Cruzada de 1936. Mito y memoria, Madrid 2006.
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1934, jener Aufstandsversuch, der wie kein anderes Ereignis der kurzen republikanischen Phase die mangelnde Republiktreue der Linken belegen sollte. Indem man den Ausbruch des Bürgerkrieges gleichsam auf diese Ereignisse vordatierte, avancierte der 18. Juli 1936 zu einer Aktion konterrevolutionärer Selbstverteidi12 gung. Hatte der 50. Jahrestag noch ganz im Zeichen fachhistorischer Eintracht gestanden, so kündigte sich also zehn Jahre später das Wiederaufleben ideologisch verzerrter Vergangenheitsdeutungen und damit auch das Ende der in der Transition geübten, geschichtspolitischen Zurückhaltung an. 1999 legten die damaligen Oppositionsparteien einen gemeinsamen Gesetzentwurf vor, mit dem 60 Jahre nach Kriegsende das Andenken der Bürgerkriegsexilanten geehrt und Gelder für Entschädigungszahlungen bereitgestellt werden sollten. Neben dieser Würdigung des Exils zielte der Gesetzentwurf auf eine „offizielle“ Neubewertung der Kriegsschuldfrage, insofern diese erstmals auf die Verantwortlichen jenes „faschistischen Militärputsches gegen die republikanische Legalität“ zugespitzt wurde. Damit aber verabschiedete sich der Text von der bis dahin gültigen Sprachregelung des offiziellen Spanien, die eine auf beide Lager gleichmäßig verteilte Kollektivschuld unterstellte. Im Regierungslager war man keineswegs bereit, sich der neuen Sicht der Dinge anzuschließen. Zwar erklärten sich die Konservativen mit einem eigenen Vorschlag bereit, die Ehrung der „Opfer“ zu unterstützen. Bürgerkrieg und Diktatur aber seien „überwundene Perio13 den“, deren Ursachen nicht zur politischen Debatte stehen dürften. In ihrer zweiten Legislaturperiode sahen die Konservativen sich sodann mit zahlreichen Anträgen und Initiativen der linken Opposition konfrontiert. Diese „entdeckte“ in der Frage der Vergangenheitspolitik plötzlich eine neue politische Arena: In regelmäßigen Abständen legten Sozialisten und „Vereinigte Linke“ von nun an Gesetzesinitiativen vor, die mit der Forderung nach Rehabilitation und Entschädigung nacheinander die verschiedenen Opfergruppen der FrancoDiktatur ins Spiel brachten. Mehr als der Sache selbst diente diese als Feldzug „gegen das Vergessen“ deklarierte Kampagne aber wohl dazu, den moralischen Druck auf die Regierung zu erhöhen und diese zum Schwur zu zwingen. Die Aussichten auf eine staatliche Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten blieben zunächst gering, zumal alle Umfragen für die im März 2004 anstehenden Parlamentswahlen eine Bestätigung der Konservativen im Amt voraussagten. Bekanntlich waren es dann aber die Madrider Terroranschläge vom 11. März, in deren Folge das politische Meinungsbild im Lande in kürzester Zeit umstürzte und die oppositionellen Sozialisten unverhofft den Sieg davontragen konnten. Dieses unerwartete Ergebnis weckte auf Seiten der Bürgerinitiativen 12 Als Beispiel für viele vgl. Moa, Pío, 1934: Comienza la guerra civil. El PSOE y la Ezquerra emprenden la contienda. Madrid 2004. 13 Humlebæk, Carsten, Usos políticos del pasado reciente durante los años de gobierno del PP, in: Historia del Presente 3 (2004), 161, sowie El País digital vom 1. Juni 1999.
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berechtigte Hoffnungen, denn nach dem parlamentarischen Engagement in Sachen Vergangenheit in den vorangegangenen Monaten stand der PSOE nun moralisch in der Pflicht.
6.
Die Mobilisierung kollektiver Erinnerung um die Jahrtausendwende
Im Spanien der Jahrtausendwende war die zeitliche Parallelität eines plötzlich wachsenden gesellschaftlichen Engagements zu beobachten, das im Zusammenspiel mit verschiedenen politischen Akteuren den öffentlichen Umgang mit der 14 Bürgerkriegserinnerung nachhaltig verändert hat. Sucht man auf zivilgesellschaftlicher Ebene nach einem Ausgangspunkt, so fällt der Blick rasch auf den aus León stammenden Lokalreporter Emilio Silva. Anfang 2000 hatte sich dieser auf die Suche nach den sterblichen Überresten seines im Bürgerkrieg verschollenen Großvaters begeben und damit ganz unverhofft einen Stein ins Rollen gebracht (Silva & Macías 2003). Ein Artikel zu seinem Vorhaben, publiziert in einer Lokalzeitung, löste unerwartete Hilfsbereitschaft aus. Zeitzeugen meldeten sich zu Wort, und Archäologen und Gerichtsmediziner boten ihre Hilfe an. Rasch formierte sich eine lokale Bürgerinitiative, die unter dem Namen Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica („Verein zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung“) bald darauf zur Tat schritt. Noch im Herbst desselben Jahres kam es so – nach einer Unterbrechung von rund zwanzig Jahren – im leonesischen Priaranza del Bierzo im Nordwesten Spaniens zur Öffnung erster anonymer Bürgerkriegsgräber. Die Exhumierungen von León hatten für das ganze Land eine überraschende Signalwirkung: 25 Jahre nach dem Tod des Diktators rückte plötzlich die Frage nach den desaparecidos, den Verschwundenen des Krieges, ins öffentliche Bewusstsein. Wie selbstverständlich wurde eines der düstersten Kapitel der Zeitgeschichte aufgeschlagen, namentlich jenes der teils spontanen, teils systematischen Gewaltexzesse und Hinrichtungen, die zu Kriegsbeginn und danach auf beiden Seiten 15 der Front durch Städte und Dörfer fegten. Ein jahrelang verborgenes Wissen um die in Straßengräben sowie auf Äckern und Feldern verscharrten Opfer des „nati14 Vgl. den guten Überblick über die verschiedenen Phasen der (fehlenden) Vergangenheitspolitik in der Demokratie von Gálvez Biesca, Sergio, El proceso de la recuperación de la ,memoria histórica’ en España: Una aproximación a los movimientos sociales por la memoria, in: International Journal of Iberian Studies, Bd. 19, 1 (2006), 25–51, der für die letzten Jahre im einzelnen auf die Vereine „zur Wiedergewinnung der Geschichte“, auf die Historiographie (zur franquistischen Repression) und auf die interkulturellen Initiativen (Regierung, Autonomien) eingeht. 15 Zu den unkontrollierten Morden auf beiden Seiten zu Beginn des Bürgerkriegs und zu der unterschiedlichen „Qualität“ der Verbrechen vgl. Espinosa Maestre, Francisco, La memoria de la represión y la lucha por su reconocimiento. (En torno a la creación de la Comisión Interministerial), in: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea 6 (2006) (http://hispanianova.rediris.es).
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onalen“ Lagers brach sich Bahn, und rasch machte die Zahl von 30.000 nicht identifizierten Toten die Runde. Von León ausgehend breitete sich die Bewegung mittels zahlreicher lokaler Initiativen über das ganze Land aus. So zählt die Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica mittlerweile neun regionale Arbeitsgruppen. Darüber hinaus ist eine kaum mehr überschaubare Anzahl weiterer, lokal oder regional verankerter Vereine und Bürgerinitiativen auf den Plan getreten, die – zumeist über das Internet vermittelt – die Interessen von Opfern und Angehörigen vertreten und sich an der Suche nach den Verschwundenen beteili16 gen. Schon bald folgten daher auch in anderen Regionen Exhumierungen. Die Vergangenheit drängte gleichfalls über andere Kanäle in die Öffentlichkeit. Eine geradezu modische Begeisterung entfaltete sich in der Fachwissenschaft, wo man den inhaltlichen Fokus um all jene Bereiche der republikanischen Geschichte erweiterte, die bisher nur geringe Aufmerksamkeit erhalten hatten. Das größte Interesse aber erregt nach wie vor die franquistische Repression, deren Grausam17 keit und Systematik seither bis in die letzten Winkel hinein ausgeleuchtet wird. Noch in einem anderen Sinne spielte die Erinnerungskultur eine herausragende, öffentliche Rolle. Denn zur Jahrtausendwende waren die metallenen Zeugnisse der Führer-Verehrung nach wie vor präsent. In Gestalt großer Reiterstandbilder sowie mehrerer Statuen und Bronzebüsten war der Caudillo zu diesem Zeitpunkt auf einigen städtischen Plätzen und Straßen noch immer gegenwärtig. Weniger auffällig, aber noch deutlich weiter verbreitet ist außerdem der Namenskanon von Mitstreitern und Kriegsschauplätzen aus dem Bürgerkrieg, der bis heute das Straßenregister unzähliger Städte und Ortschaften schmückt. Eine quantitative Erhebung zur franquistischen Straßennomenklatur ergab, dass in 79 Prozent der Provinzhauptstädte nach mehr als 25 Jahren Demokratie in Sachen franquistischer Symbolik die Kontinuität vor dem Wandel stand. Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit von all dem heute noch eine politisch infektiöse Wirkung ausgeht. Eine Tatsache ist aber, dass – mit Ausnahme von Katalonien und dem Baskenland – praktisch im ganzen Land der politische Wille zur Eliminierung derartiger Relikte bisher gefehlt hat. Weniger eindeutig als dieser Befund sind im Einzelfall die zugrundeliegenden Motive. Einzelne Ortschaften waren bekannt für konservative Mehrheiten im Stadtrat, für die der Erhalt franquistischer Symbole offenbar lange Zeit eine Herzensangelegenheit darstellte. Der statistische Vergleich zeigt jedoch, dass auch Städte mit wechselnden oder stabil
16 Zu lokalen und regionalen Wiedergutmachungsinitiativen vgl. Egido León, Angeles, La historia y la gestión de la memoria. Apuntes para un balance, in: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea 6 (2006) (http://hispanianova.rediris.es). 17 Zur neueren Literatur vgl. die Sammelrezension von Bernecker, Walther L., Entre la historia y la memoria: Segunda República, Guerra Civil española y primer franquismo, in: Iberoamericana 11 (2003), 227–238; ders., Represión y terror en el primer franquismo, in: Iberoamericana 25 (2007), 217–228. Zum neueren Stand der Forschung über die Bürgerkriegsopfer vgl. Juliá, Santos (Hrsg.), Víctimas de la guerra civil, Madrid 1999.
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sozialistischen Mehrheiten nach nunmehr sieben Wahlperioden nicht notwendigerweise ein anderes Bild bieten. Der lange Fortbestand franquistischer Herrschaftszeichen erscheint symptomatisch für die spanische Vergangenheitspolitik nach 1975. Allerdings hat die neue vergangenheitspolitische Sensibilität unterdessen auch diesen Bereich unbewältigter Zeitgeschichte in den Blick gerückt. Seither haben landesweit ganz unterschiedliche Initiativen die Forderung aufgegriffen und die Zerstörung franquistischer Symbole bisweilen sogar in die eigenen Hände genommen. Während aber nach Jahrzehnten der Tatenlosigkeit wenigstens die Sozialisten endlich Handlungsbedarf erkannten, entschlossen sich die Konservativen im gereizten Klima ihrer zweiten Amtsperiode nun erst recht zu systematischer Blockadepolitik. So geriet die nach allen Maßstäben demokratischer Kultur längst überfällige Demontage der franquistischen Regimesymbolik zum Gegenstand neuer Streitereien und zu einem weiteren vergangenheitspolitischen Auftrag an die seit Frühjahr 2004 amtierende Regierung Rodríguez Zapatero.
7.
Die Polemik um das Memoria-Gesetz
Das wiederholt angekündigte „Gesetz zur moralischen Rehabilitierung der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur“, das umgangssprachlich nur „Gesetz der historischen Erinnerung“ (Ley de Memoria Histórica) genannt wird, wurde nach mehreren Verschiebungen und Verzögerungen im Sommer 2006 endlich vom Ministerrat verabschiedet. Der Gesetzesentwurf sah vor, dass das spanische Parlament mit einer Dreifünftelmehrheit ein fünfköpfiges Expertengremium einsetzen sollte, das ein Jahr lang über Anträge zu befinden gehabt hätte, als Opfer des FrancoRegimes anerkannt zu werden und finanzielle Wiedergutmachung zugesprochen zu bekommen. Die moralische Rehabilitierung sollte somit auf Einzelantrag entschieden werden. Bei den bestehenden Mehrheitsverhältnissen im Parlament konnte dieses Gremium nur mit Zustimmung der konservativen Volkspartei ernannt werden; die Volkspartei gab Anfang 2007 allerdings zu verstehen, dass sie die Einsetzung eines derartigen Gremiums definitiv ablehnte. Damit aber hatte das „Herzstück“ des Gesetzes keine Aussicht auf Realisierung. Der Gesetzesentwurf kam auch der Forderung vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht nach, die Urteile der franquistischen Militär- und Sondergerichte pauschal zu „Unrechtsurteilen“ zu erklären; Ministerpräsident Zapatero erklärte, der spanischen Regierung sei es nicht möglich, die Urteile der Franco-Justiz in toto aufzuheben, da ein derartiger Akt einen „Bruch der Rechtsordnung“ bedeuten würde. Diese Interpretation wurde von namhaften Juristen (bisher erfolglos) zurückgewiesen. Weiter sah das Gesetz vor, den Kreis der Pensions- und Entschädigungsberechtigten wegen franquistischer Urteile zu erweitern. Schließlich sollen von allen
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staatlichen Gebäuden jene Symbole entfernt werden, die einseitig eine der beiden Bürgerkriegsparteien glorifizieren. Im Herbst 2006 begann die parlamentarische Debatte. Bald war abzusehen, dass der Gesetzesentwurf in der vorgelegten Form keine parlamentarische Mehrheit finden würde. Die Konservativen lehnten das gesamte Projekt ab, da es angeblich die Gräben der Vergangenheit wieder aufriss. Die links von den Sozialisten angesiedelten Parteien und die zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisierten den Entwurf, da er ihnen nicht weit genug ging. Es war keine Aufhebung der franquistischen Unrechtsurteile vorgesehen, die finanzielle Unterstützung der Exhumierungsarbeiten hielt sich in engen Grenzen. Das Gesetz bewegte sich im Wesentlichen im symbolischen Bereich. Da die Sozialisten im Parlament über keine Mehrheit verfügten, war mit substantiellen Veränderungen des Gesetzesentwurfs zu rechnen, bevor er schließlich die Zustimmung einer Mehrheit finden konnte. Amnesty International verglich das Gesetzesprojekt mit einem „Schlusspunktgesetz“ (wie das argentinische, das die Verfolgung zahlreicher Menschenrechtsverletzungen unmöglich machte) und kritisierte insbesondere, dass die Namen der Denunzianten und Henker anonym bleiben sollten; stattdessen forderte die Menschenrechtsorganisation die Einrichtung einer Wahrheitskommission und die Eliminierung der Mechanismen, die Straflosigkeit der Verantwortlichen zur Folge hatten. Im Februar 2007 wurde auf regionaler Ebene – in Valencia – eine erste Wahrheitskommission eingerichtet, deren Aufgabe in der Untersuchung der fran18 quistischen Repression zwischen 1939 und 1953 bestand. Ende 2006 rückte der PSOE allmählich von seinem Gesetzesentwurf ab und kündigte eine gründliche Überarbeitung an, um doch noch eine parlamentarische Mehrheit für sein Vorhaben zu erhalten. Zu den polemischen Aspekten des Gesetzesprojektes hatte die Regierungsabsicht gehört, die Gerichtsurteile des Franquismus „aus Gründen der Rechtssicherheit“ nicht zu annullieren. Trotz massiver Kritik seitens der Linken beharrte die Regierung auf ihrer Haltung, erklärte sich nunmehr aber bereit, die „Ungerechtigkeit“ der Verurteilungen und Strafen anzu19 erkennen und die Sondertribunale als „illegitim“ zu bezeichnen. Wirtschaftliche Entschädigungsfolgen sollte das Gesetz allerdings nicht haben. Gewissermaßen als „Antwort“ auf das Gesetzesprojekt kündigte die Katholische Kirche an, dass im Herbst 2007 weitere 498 „Märtyrer“ des Spanischen Bürgerkriegs in Rom selig gesprochen werden sollten (Conferencia Episcopal Española 2007). Damit erhöhte sich die Zahl der im 20. Jahrhundert selig gesprochenen Spanier auf rund 10.000. Die gesellschaftliche und politische Debatte über die Ley de Memoria Histórica zeitigte im Jahr 2006 einen bizarren Nebeneffekt. In den großen Tageszeitungen erschienen Hunderte von Todesanzeigen, in denen Freunde und Angehörige von 18 „Valencia lanza una Comisión de la Verdad sobre el franquismo“. In: El País, 10.2.2007, 25. 19 Vgl. „El proyecto de Ley de Memoria Histórica divide al Congreso“. In: El País, 14.12.2006, 30 f. Vgl. auch den Wortlaut des Gesetzesentwurfs in El País, 20.4.2007, 18.
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während des Bürgerkrieges und danach Hingerichteten das Schicksal der Opfer in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in drastischen Formulierungen schilderten. In den Todesanzeigen der republikanischen Seite war die Rede von den „mörderischen Handlungen der franquistischen Horden“, von den „Verfolgungen, Einkerkerungen und Erschießungen wegen Treue zur Republik“, von den „Opfern des franquistischen Terrorismus“; auch ein hoher General wie der Aufständische Gonzalo Queipo de Llano, der in Sevilla Hunderte von Erschießungen angeordnet hatte, wurde nun öffentlich „Mörder“ genannt. Die Franquisten sprachen in ihren Todesanzeigen von den „Morden der roten Horden“, von dem „Martyrium in einer Tscheka“, von den „grausamen Hinrichtungen 20 durch hemmungslose Marxisten“. Den Anfang dieses Todesanzeigen-Krieges hatten enttäuschte Republikaner gemacht, die mit der Aufarbeitung der Vergangenheit in den 30 Jahren seit dem Tod des Diktators unzufrieden waren und endlich ihrer Wut und Trauer öffentlich Ausdruck verleihen wollten; auf diese ersten Anzeigen reagierte die neofranquistische Seite, die merkte, dass sie in der öffentlichen Meinung einen Krieg verlor, den sie 1939 gewonnen zu haben glaubte. Fortan sollte es kein Tabu mehr bei der Schilderung der Grausamkeiten auf beiden Seiten geben. Im Sommer 2007 sprach alles dafür, dass das Gesetz scheitern würde. Zwischen der Regierung und ihren parlamentarischen Verhandlungspartnern war es zu einer Kommunikationsblockade gekommen, da sie sich in zentralen Fragen – etwa dem Problem der Illegalität der franquistischen Standgerichtsurteile – nicht einigen konnten. Buchstäblich in letzter Minute kam dann doch noch ein Übereinkommen zustande, wobei vor allem die Regierung einige Konzessionen machen musste. Auf Antrag von Convergencia i Unió wurde auch die antiklerikale Gewalt im Bürgerkrieg auf Seiten der Republik verurteilt. Und die franquistischen Standgerichtsurteile wurden endgültig (und pauschal) als „illegitim“ gebrandmarkt, was in konkreten Einzelfällen den Weg für Verfahrensrevisionen öffnete. Am 31. Oktober erhielt das Gesetz schließlich die erforderliche Mehrheit im Parlament; nur der konservative Partido Popular und die katalanischen Linksnationalisten von Esquerra Republicana de Catalunya lehnten das Projekt weiterhin entschieden ab. Im außerparlamentarischen Bereich kritisierten etliche Bürgerinitiativen und Menschenrechtsorganisationen auch fortan das Gesetz, da sie in ihm allenfalls eine graduelle Verbesserung der Situation der Opfer erkennen konnten.
8.
Ausblick
Am Ende der ersten Regierungszeit von Rodríguez Zapatero blieb in der Frage der offiziellen Erinnerungskultur ein ambivalenter Eindruck zurück. In den ersten Jahren der Legislaturperiode geschah in dieser Frage sehr wenig. Ab Sommer 20 Vgl. „Esquelas de las dos Españas“. In: El País, 10.9.2006, 28 f.
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2006 erlangte sodann die Gesetzesinitiative eine gewisse Dynamik, und zwischen Sommer und Herbst 2007 konnte das Projekt schließlich soweit vorangetrieben werden, dass das Gesetz im Parlament zur Verabschiedung kam, allerdings mit etlichen Veränderungen gegenüber dem ursprünglichen Entwurf. Trotz aller nach wie vor von zivilgesellschaftlichen Organisationen geübten Kritik muss jedoch betont werden, dass die Ley de Memoria Histórica im Vergleich zu den vorhergehenden Jahrzehnten geradezu einen Meilenstein im offiziellen Umgang mit der jüngeren Vergangenheit bedeutet: Während der langen Franco-Diktatur war eine kritische Auseinandersetzung mit Bürgerkrieg und terroristischer Nachkriegsphase nicht möglich gewesen. Am Anfang der neuen Demokratie stand dann ein Generalkonsens aller relevanten politischen Lager, demzufolge alle Seiten auf eine allzu explizite Verurteilung der 21 jüngsten Vergangenheit verzichteten. Als gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine neue, deutlich jüngere Generation von Spaniern der Erinnerungskultur neue Popularität verschaffte, wurde schnell deutlich, dass das Gedenken an Krieg und Diktatur keineswegs auf einem Erinnerungskonsens beruhte, der zu einem Ausgleich der politischen Lager führen würde, sondern – ganz im Gegenteil – zu einer Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung führte. Offenbar ist in Spanien eine kritische Aufarbeitung der Geschichte nur um den Preis verschärfter politischer Konfrontationen und einer Art Lagerbildung zu haben. Diese Erkenntnis bestätigt nachträglich die politische Klugheit des viel geschmähten „Schweigepaktes“ der Transition, denn eine derart polarisierende gesellschaftliche Debatte, wie sie Spanien in den letzten Jahren geführt hat, hätte die erst im Entstehen begriffene Demokratie kaum verkraften können. Gute dreißig Jahre später sieht die Situation anders aus. Es ist ja weitgehend unstrittig, dass von Vergangenheitsarbeit überwiegend positive Impulse für die demokratische Konsolidierung eines Gemeinwesens zu erwarten sind, da sie Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaats schafft. So bleibt auch im spanischen Fall zu hoffen, dass der mühsam erarbeitete Gesetzeskompromiss nach den Verwerfungen der letzten Jahre die Grundlage für einen längerfristig offenen, vorurteilslosen Umgang mit der Geschichte gelegt hat.
21 Einen guten Überblick über die (fehlenden) Vergangenheitspolitiken seit der Transition bis heute liefert Rodrigo, Javier, La Guerra Civil: „Memoria“, „Olvido“, „Recuperación“ e „Instrumentalización“, in: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea 6 (2006) (http://hispanianova.rediris. es).
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Autoren-Liste Dr. h.c. Joachim Gauck, Pfarrer, Vorsitzender des Vereines "Gegen Vergessen – Für Demokratie" e.V., Stauffenbergstr. 13–14, 10785 Berlin. Prof. Dr. Thomas Hoppe, Professur für Katholische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialwissenschaften und der Sozialethik, Helmut Schmidt Universität der Bundeswehr, Postfach 700822, 22008 Hamburg. Prof. Dr. Michael Bongardt, Institut für Vergleichende Ethik, Freie Universität Berlin, Schwendenerstr. 31, 14195 Berlin. Prof. Dr. Ralf K. Wüstenberg, Institut für Evangelische Theologie, Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, [email protected]. Prof. Dr. Axel Montenbruck, Fachbereich Rechtswissenschaft, Boltzmannstr. 3, 14195 Berlin. Prof. Dr. Gerhard Werle, Juristische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10999 Berlin. Prof. Dr. Stefan Rinke, Lateinamerikainstitut, Rüdesheimer Str. 54–56 — Raum 238, 14195 Berlin. Prof. Dr. Walther L. Bernecker, Universität Erlangen-Nürnberg, Zentralinstitut 06, Sektion Lateinamerika, Bismarckstraße 1, 91054 Erlangen.
Register Abu Garda, B. I. 139 Agüero, F. 152, 165 Aguilar, P. 177, 178, 180, 189 Ahlbrecht, H. 130, 133, 137, 145 Akayesu, J. P. 136 Alexander der Große 110 Allende, S. 155, 157 Altstötter, J. 134 Ambos, K. 140, 145 Améry, J. 31, 52 Andrés, J. 169, 190 Angell, A. 150, 151, 165 Anselm von Canterbury 68, 76 Antulov, M. 13 Aquin, T. v. 111, 113, 126 Arana, S. 178 Aristoteles 110, 111, 113, 125 Arzallus, X. 180 Ashworth, A. 107, 125 Augustinus, A. 60, 76 Aylwin, P. 151, 152, 155, 156 Aznar, J. M. 181 Bachl, G. 68, 76 Balthasar, H. U. v. 72, 76 Baño, R. 160, 165 Bantekas, I. 140, 145 Barbie, K. 135 Barrientos, A. 153, 165 Bassiouni, M. Ch. 137, 145 Baum, G. 143, 146 Behnke, K. 41, 42, 52, 53 Behrendt, R. 13 Benzien, J. 94, 95, 96 Berger, P. L. 57 Bernecker, W. 12 Bernecker, W. L. 12, 169, 170, 171, 184, 189, 191 Bernedo, P. 149 Betz, J. 156, 167
Bierhoff, H. W. 120, 126 Blomeier, H. H. 158, 159, 165 Bock, P. 81, 97 Boeninger, E. 150, 165 Bohley, B. 26 Bongardt, M. 10, 13, 57, 191 Bonhoeffer, D. 92, 97 Boraine, A. 86, 97 Bormann, M. 132 Boschert-Kimmig, R. 45, 53 Brandt, K. 134 Braun, L. v. 140, 145 Brinkmann, S. 170, 176, 189 Brüne, S. 156, 167 Brunner, J. J. 160, 165 Bulickx, N. 140, 145 Burkert, W. 104, 125 Butollo, W. 31, 52 Calderón, A. 163, 165 Cassese, A. 138, 145 Cassirer, E. 59, 76 Catalán, C. 161, 166 Cattepoel, J. 65, 76 Ceauşescu, N. 58 Chui, M. N. 139 Clapp, R. A. 153, 165 Clinton, B. 138 Cohen, H. 72, 76 Collado Seidel, C. 171, 189 Colli, V. G. 61, 77 Companys, Ll. 176 Constable, P. 150, 165 Contreras, M. 157 Copes, H. 121, 126 Cortázar, R. 155, 165 Cortés, F. 162, 165 Cox, C. 162, 165 De Luce, D. 50, 52
Register
Defert, D. 63, 76 Dirlmeier, F. 111, 125 Domaschk, M. 42 Donatsch, A. 132, 146 Dönitz, K. 132 Drake, P. W. 150, 165 Dupuy, P.-M. 132, 142, 147 Dürig, G. 115, 125 Durkheim, D. É. 116, 120, 125 Dyilo, T. L. 139 Ebel, F. 105, 125 Egido León, A. 184, 189 Eichmann, A. 135 Eisenberg, U. 57, 76, 120, 125 Eissler, K. R. 31, 52 Elster, J. 175, 189 Eser, A. 142, 144, 145 Espinosa Maestre, F. 180, 183, 189 Espinoza, P. 157 Eyzaguirre, N. 154, 165 Faber, E.-M. 69, 76 Fechner, E. 111, 125 Fehrle, E. 104, 126 Feil, E. 97 Feltes, T. 108, 125 Fermandois, J. 152, 164, 165 Finta, I. 135 Fleet, M. 150, 165 Flick, F. 132, 134, 146 Forbes, A. 95, 96 Foucault, M. 63, 76 Fowler, W. 161, 166 Foxley, A. 153, 154, 165 Foxley, A. M. 163, 165 Franco, F. 12, 24, 170, 171, 173, 174, 176, 177, 182, 185, 188, 189 Frank, H. 132 Frei, E. 151, 152 Freud, A. 61, 76 Freud, S. 61, 63, 65, 67, 76
193
Freudiger, K. 134, 145 Frick, W. 132 Frisch, M. 50, 52 Fritzsch, G. 41, 52 Fritzsche, H. G. 132 Fuchs, J. 41, 42, 52, 53 Funk, W. 132 Gäde, G. 68, 76 Gálvez Biesca, S. 183, 189 Garretón, M. A. 149, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 166, 167 Gauck, J. 10, 17, 73, 89, 191 Gebauer, G. 103, 125 Geiß, R. 140, 145 Gerdes, H. 65, 68, 70, 72, 76, 77 Gerhardt, P. 70 German, Ch. 150, 166 Giordano, Ch. 123, 126 Girard, R. 104, 125 Gleich, M. 151, 166 Goldschmitt, L. 76 Gombo, J.-P. B. 139 González, F. 172 Göring, H. 132 Grabowski, S. 46, 52 Graessner, S. 32, 52, 53 Grande, D. 39, 49, 53 Graupner, A. 64, 76 Greifelt, U. 134 Grewe, W. 130, 145 Greyerz, K. v. 117, 126 Grommes, S. 104, 125 Gropengießer, H. 144 Gurris, N. F. 32, 44, 52 Guzmáns, J. 157 Guzmans, P. 157 Gwynne, R. N. 149, 154, 166 Habermas, J. 73, 75, 76, 77 Haft, F. 101, 125 Hahn, F. 60, 76
194
Register
Hamber, B. 85, 97 Hanke, I. 43, 52 Hankel, G. 131, 145 Hariri, R. 140 Härle, W. 90, 97 Hassemer, W. 113, 120, 125 Haupt, G. 81, 97 Hayner, P. B. 89, 97 Hegel, G. W. F. 101 Heinsch, R. 140, 145 Heitmann, S. 79 Hennings, A. 41, 52 Heraclitus Ephesius 110, 125 Heß, R. 132 Himmler, H. 23 Hinkelammert, F. J. 68, 76 Hiob 60 Hirsch, E. 65, 68, 70, 72, 76, 77 Hitler, A. 23, 57 Hobbes, T. 64, 76 Hoffmann-Holland, K. 57, 76 Hofmeister, W. 149, 166 Hojman, D. E. 154, 161, 166 Höpken, W. 37, 52 Hoppe, T. 10, 29, 191 Hosea 66 Huber, W. 92, 97 Huhle, R. 35, 52 Humlebæk, C. 182 Huntington, S. P. 80, 81, 97 Hussein, Saddam 58 Imbusch, P. 153, 166 Jacobs, P. 95 Jäger, H. 37, 52 Jäger, J. 154, 166 Jallow, H. B. 137, 147 Janowski, B. 59, 76, 77 Jaspers, K. 10, 20, 21, 22, 28, 73, 76, 89, 97 Jerez, F. 163
Jescheck, H.-H. 104, 125, 130, 132, 146 Jeßberger, F. 144, 147 Jesus von Nazareth 67, 68 Jocelyn-Holt, A. 164, 166 Jodl, A. 132 Joerden, J. C. 120, 126 Juliá, S. 180, 184, 189 Jung, H. 107, 125 Jung, S. 132, 146 Kabuga, F. 137 Kaleck, W. 144, 146 Kaltenbrunner, E. 132 Kambanda, J. 136 Kant, I. 60, 76, 111, 118, 125 Karadžić, R. 137 Karl V. 170 Katanga, G 139 Kaul, H.-P. 138, 143, 146 Kaulbach, F. 111, 126 Kay, C. 149, 166 Keitel, W. 132 Kenkmann, A. 175, 189 Kierkegaard, S. 65, 68, 70, 72, 76, 77 Kirby, E. C. 150, 151, 166 Kistner, W. 82, 98 Kleger, H. 116, 125 Kleinig, J. 107, 125 Klerk, F. de 79, 82 Koch, M. 151, 153, 154, 163, 166 Kocka, J. 81, 97 König, R. 120, 121, 125, 126 Krauch, C. 134 Krawietz, W. 111, 126 Kreicker, H. 142, 144, 145 Kreß, C. 132, 142, 144, 146 Kritz, N. 80, 81, 97 Krupp, A. 134 Kunig, Ph. 57, 77, 115, 125
Register
Ladurner, U. 38, 52 Lagos, M. 161, 166 Lagos, R. 151 Lahera, E. 161, 162, 163, 165, 166 Langthaler, R. 75, 77 Ledesma, J. L. 169, 189 Leeb, W. v. 134 Lefort, F. 154, 165 Leipziger, D. M. 154, 165 Leiser, E. 39, 52 Letelier, O. 158 Leteliers, O. 157 List, W. 134 Llano, G. Q. de 187 Locke, J. 64 Luckmann, T. 75, 77 Lüderssen, K. 118, 126 Luf, G. 118, 125 Luther, M. 11, 90, 91, 97 MacArthur, D. 133 Macià, F. 176 Macías, S. 183 MacLean, P. 143, 146 Madl, P. 123, 126 Maier, H. 104, 126 Malina, B. J. 59, 77 Mandela, N. 79, 80, 82 Manzi, J. 161, 166 Marcic, R. 110, 126 Maruna, Sh. 121, 126 Marxen, K. 82, 84, 86, 97, 143, 146 Matza, D. 121, 126 Maunz, T. 115, 125 Mayer, J. P. 64, 76 McAdams, A. J. 152, 167 Meier, B.-D. 108, 126 Meißner, J. 143, 146 Merino, R. 163, 166 Merkel, R. 132, 146 Metz, J. B. 45, 53 Middelbeck-Varwick, A. 60, 77
195
Milch, E. 134 Mildt, D. W. de 134, 146 Milgram, S. 120, 121, 126 Milošević, S. 136 Mladić, R. 137 Moa, P. 181, 182, 189, 190 Montenbruck, A. 11, 99, 117, 126, 191 Montinari, M. 61, 77 Morán 173 Morris, M. A. 152, 165 Moulian, T. 151, 160, 163, 164, 166, 167 Mujawayo, E. 46, 47, 53 Müller, A. 116, 125 Müller, H. E. 57, 76 Müller, K.-D. 41, 53 Münch, I. v. 57, 77, 115, 125 Munizaga, G. 149, 162, 166 Nagl-Docekal, H. 75, 77 Naucke, W. 132, 146 Naudé, B. 82, 98 Navia, P. 160, 167 Nerlich, V. 34, 53 Neurath, K. H. K. v. 132 Nietzsche, F. 61, 63, 65, 77 Nitschack, H. 163 Nolte, D. 156, 167 Nora, P. 173 Ockenfels, W. 117, 126 O'Donnell, G. 150, 167 Offe, C. 80, 97 Ohlendorf, O. 134 Olszewski, J. 46 Opp, K.-D. 119, 126 Osten, Ph. 133, 146 Othman, M. 140, 145 Palomo Suárez, G. 129 Papen, F. v. 132
196
Register
Parra, M. A. de la 164, 167 Patry, J.-L. 123, 126 Paulus 67, 68 Peikert, N. 39, 53 Perl, J. C. 60, 76 Perry, G. 154, 165 Peukert, H. 74, 77 Philipp II. 170 Pinochet, A. 12, 38, 52, 144, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 161, 162, 164, 165, 167 Pion-Berlin, D. 156, 167 Pizarro, C. 153, 155, 165 Platon 115 Pohl, O. 134 Pollack, B. 151, 165 Pollack, M. 151, 167 Pothast, U. 118, 126 Pritchard, J. R. 133, 146, 147 Pröpper, T. 60, 77 Pross, Ch. 41, 42, 53 Quante, M. 63, 77 Quaritsch, H. 92, 97 Rachwalowa, S. 39 Raeder, E. 132 Rauscher, A. 117, 126 Reginbogin, H. R. 132, 147 Reichel, P. 129, 132, 134, 143, 146 Reig Tapia, A. 181, 190 Reusch, W. 47, 53 Reyna, J. L. 149, 167 Ribbentrop, U. F. W. J. v. 132 Richard, N. 163, 164, 167 Ricœur, P. 58, 77 Rinke, S. 12, 149, 164, 167, 191 Rivera, J. A. P. de 171 Roberts, K. M. 151, 167 Rodrigo, J. 169, 188, 189, 190 Rodríguez, B. 169, 190 Röhl, K. F. 118, 126
Romano, C. 140, 146 Rosenberg, A. 132 Rothman, L. 39 Rottensteiner, Ch. 156, 158, 167 Rückerl, A. 134, 146 Ruge, C. 35, 53 Ruiz-Vargas, J. M. 169, 190 Rumsfeld, D. 144, 146 Rüter, C. F. 134, 146 Sachs, A. 83, 97 Sack, F. 120, 121, 125, 126 Safferling, Ch. J. M. 132, 147 Santamaría, C. 49, 53 Satzger, H. 144, 146 Sauckel, E. F. Ch. 132 Sauerland, K. 38, 53 Schaaf, S. 34 Schacht, G. 132 Schaffner, M. 117, 126 Scheffler, U. 108, 119, 126 Schirach, B. v. 132 Schlieffen, K. v. 101, 125 Schmitt, C. 64, 77 Schmitt, F. S. 68, 76 Schnackenburg, R. 72, 77 Schneider, J. 13 Schneider, T. 69, 77 Schreiner, J. 59, 77 Schroeder, K.-P. 105, 126 Schuster, E. 45, 53 Schwengler, W. 147 Schwind, H.-D. 108, 125 Selle, D. v. 131, 147 Senghaas, D. 115, 126 Seyß-Inquart, A. 132 Shany, Y. 140, 147 Siebenhüner, K. 117, 126 Siep, L. 111, 126 Silva, E. 183 Simmons, R. v. 57, 76 Smith, B. H. 150, 165
Register
Smith, W. C. 154, 167 Snell, B. 110, 125 Sommer, G. 120, 126 Speer, A. 132 Stange, R. 157 Steinbach, P. 80, 97, 143, 147 Stephan, A. 41, 53 Streicher, J. 132 Streng, F. 113, 126 Striet, M. 72, 77 Sutil, J. C. 152, 167 Sykes, G. M. 121, 126 Tacitus, P. C. 104, 126 Tammelo, I. 110, 126 Tanner, K. 86, 97 Tapia, J. G. 158 Taubes, J. 64, 77 Teltschik, H. 88, 97 Thielmann, G. 105, 125 Thurman, Q. C. 121, 126 Tironi, E. 162, 163, 165, 167 Toloza, C. 161, 162, 163, 165, 166 Tomuschat, Ch. 132, 142, 147 Trechsel, S. 146 Tulchin, J. S. 159, 167 Tutu, D. 25, 34, 51, 79 Ueberschär, G. R. 134, 147 Ulibarri, L. 163, 167 Ulrich, S. 35, 53 Valdés, J. G. 152, 167 Valdivieso, P. 149 Valenzuela, A. 150, 165 Vásquez, D. 149 Vergara, P. 154, 167 Villa-Vicencio, Ch. 26 Volker, G. 111, 126
197
Wagner, H. 72, 77 Wagner, U. 120, 126 Walter, P. 75, 77 Wandres, T. 142, 143, 147 Wasik, M. 107, 125 Wassermann, R. 87, 120, 125 Weber, M. 73 Weigend, T. 104, 125 Weinke, A. 134, 143, 147 Weischedel, W. 111, 125 Weizsäcker, E. v. 134 Weizsäcker, R. v. 79, 97 Welker, M. 59, 77 Werbick, J. 68, 71, 77 Werle, G. 11, 12, 32, 53, 80, 82, 84, 86, 88, 97, 129, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 140, 141, 142, 143, 144, 147, 191 Wiesel, E. 45, 53 Wiesenthal, S. 37, 44, 53 Wiggenhorn, H. 131, 147 Wilckens, U. 68, 77 Wilde, A. 156, 157, 167 Wohlmuth, J. 68, 77 Wolf, J. 41, 52 Wolff, E. A. 118, 125 Wolfrum, E. 81, 97 Wollmann, H. 80, 97 Wulf, Ch. 103, 125 Wüstenberg, R. K. 11, 13, 25, 28, 74, 79, 89, 90, 97, 98, 191 Yengeni, T. 95 Zaczyk, R. 118, 125 Zaide, S. M. 133, 146, 147 Zaldívar, A. 151 Zapatero, R. 185, 187 Zimmermann, A. 132, 147 Zippelius, R. 99, 126