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German Pages 187 Year 2012
Schriften zur Rechtstheorie Heft 258
Zum gemeinsamen Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe in der Philosophie Friedrich Nietzsches Von Sascha Straube
Duncker & Humblot · Berlin
SASCHA STRAUBE
Zum gemeinsamen Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe in der Philosophie Friedrich Nietzsches
Schriften zur Rechtstheorie Heft 258
Zum gemeinsamen Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe in der Philosophie Friedrich Nietzsches Von Sascha Straube
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Wintersemester 2010/2011 als Dissertation angenommen.
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© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13752-7 (Print) ISBN 978-3-428-53752-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83752-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort In den letzten Jahren hat die Beschäftigung mit den Gedanken Nietzsches zum Recht eine Renaissance erfahren. Die vorliegende Arbeit will ihren Teil dazu beitragen. Insbesondere soll endgültig der Abschied von der Assoziierung Nietzsches mit einem Recht des Stärkeren festgeschrieben und der Versuch unternommen werden, das vertragsrechtliche Denken Nietzsches als Basis seiner gesamten Rechtsphilosophie sichtbar zu machen. Für Nietzsche fußt jegliches Recht auf Kommunikation, da Recht nur als Ergebnis von Verhandlungen entstehen kann. Vertrag kommt von Vertragen. Die umfassende Untersuchung der von Nietzsche entworfenen Verhandlungskonstellationen ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, die in einem zweiten und dritten Schritt die Wiederkehr der gleichen Situationen auch für einen gerechten Austausch und das Bedürfnis nach Strafe feststellt. Nietzsche denkt in Zwei-Personen-Konflikt-Situationen, in ursprünglichen Beziehungen inter partes. Ihre Ergründung erfordert ein Eintauchen in die durch die Antike geprägte Vorstellungswelt Nietzsches und ein Hineinversetzen in die Lage der Verhandelnden. Die „gegenseitige Machtabschätzung“ zeigt sich als das zentrale und verbindende Element der von Nietzsche entworfenen Konstellationen. Die Arbeit folgt dem Altphilologen Nietzsche in antike Konfliktsituationen, wobei vor allem auf den Melier-Dialog bei Thukydides Bezug genommen wird. Die Situation einer belagerten Stadt und die dann aufgenommenen Verhandlungen der Parteien dienen Nietzsche als Beispiel. Aber auch die Bedingungen eines für Nietzsche gerechten Austauschs entstammen einer ursprünglichen Zwei-Personen-Konflikt-Situation. Und sogar die Rache hat ihren Ursprung in diesem Bereich. Der Vertrag ist für Nietzsche Basis aller zwischenmenschlichen Regelung. Schuld leitet sich von Schulden ab und der Gesetzesbrecher ist ein Vertragsbrüchiger gegenüber der Gesellschaft. Und jeder Vertragsschluss geht für Nietzsche mit einer Berücksichtigung von Machtaspekten einher, wodurch sich in seinem vertragsrechtlichen Denken der Wille zur Macht als das umfassende Prinzip Bahn bricht, als das Nietzsche ihn verstanden wissen wollte: Rechte sind lediglich anerkannte und gewährleistete Machtgrade. Diese Arbeit wurde Anfang 2011 der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München als Dissertation vorgelegt.
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Vorwort
Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. jur. Dr. jur. h.c. mult. Bernd Schünemann, der von Anfang an dieses Projekt einer interdisziplinären Dissertation befürwortet und unterstützt hat. Sein Interesse an den Gedanken Friedrich Nietzsches und seine Offenheit gegenüber dem fächerübergreifenden rechtsphilosophischen Thema der vorliegenden Arbeit legten den Grundstein für die erfolgreiche Promotion an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. jur. Lothar Philipps danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Prof. Dr. jur. Ulrich Schroth für die kurzfristige Bereitschaft, als Beisitzer in der mündlichen Doktorprüfung zu fungieren. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des rechtsphilosophischen Donnerstag-Seminars danke ich für die Möglichkeit, meine Dissertation im Rahmen eines Vortrags im Wintersemester 2010/2011 vorstellen und diskutieren zu können. Ganz besonders möchte ich mich bei Rechtsanwalt Peter Witting bedanken, der mir neben dem Berufsstart in der Strafverteidigung ermöglicht hat, das Promotionsprojekt zu verfolgen und abzuschließen. Darüber hinaus danke ich der gesamten Kanzlei WITTING CONTZEN DEGENHARD für den gewährten Rückhalt. Bei meiner Frau Constanze bedanke ich mich besonders herzlich, da sie meine Promotion über Jahre mit großem Verständnis begleitet und mich in allen Höhen und Tiefen immer wieder ermutigt hat. Ohne sie wäre dieses Projekt ein unvollendetes geblieben. Darüber hinaus danke ich meinen Eltern Dr. Helge und Michael Straube, die mir immer Mut zugesprochen haben und mich in jeglicher Hinsicht unterstützt und an mich geglaubt haben. Dabei bedanke ich mich bei meiner Mutter insbesondere für die anhaltende Motivation und bei meinem Vater für die tatkräftige Unterstützung bei der Korrektur und dem Lektorat der vorliegenden Arbeit. Dr. Bernhard Jakl danke ich für die zahlreichen Gespräche und die immer wieder hilfreiche Orientierung in den Irrungen und Wirrungen einer interdisziplinären Tätigkeit. Schließlich danke ich meinem Bruder Dr. Nicolas Straube für die guten Gespräche und all meinen Freunden für ihr Verständnis, dass ich immer mal wieder keine Zeit hatte. München, im Dezember 2011
Sascha Straube
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Ursprungssituation für die Entstehung von Recht in der Philosophie Friedrich Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Geburt des Rechts aus der Übermacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Naturzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Recht des Stärkeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Wille zur Macht bei Friedrich Nietzsche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Bedeutung des Herkommens für das Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Tier, das versprechen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entstehung des Rechts aus der Machtabschätzung . . . . . . . . . . . . a) Das Maßnehmen der Mächte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Prinzip des Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Begriff des Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Gleichgewicht als Voraussetzung, um sich zu „vertragen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Vertragen als Moment der Rechtsentstehung . . . . . . . . . . 3. Das kluge Rechnen – die Rückführung auf die Selbsterhaltung . . . . a) Die Zuträglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rechtszustände als Ausnahmezustände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Naturzustand in den Rechtszuständen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Melier-Dialog und der Abbruch der Verhandlungen . . . . . . . . . . . 3. Die Veränderung der Machteinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtszustände als Ausnahmezustände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 14 14 14 17 24 27 31 32 34 38 44 46 49 56 66 67 69 73 73 76 78 80
C. Die Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit in der Philosophie Friedrich Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I. Parallelität der Ursprungssituation von Recht und Gerechtigkeit. . . . . . . 82 II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Die Gerechtigkeit als Göttin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. suum cuique als Ideal der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3. Die Gerechtigkeit als instinkthafte Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4. Die Gerechtigkeit als dynamisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5. Die Anstrengung des gerechten Urteilens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6. Der übermenschliche Anspruch des Gerechten an sich selbst . . . . . . 103
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Inhaltsverzeichnis 7. Die Billigkeit als Fortbildung der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Gerechtigkeit als „Wünschbarkeit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Tauschcharakter der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gerechtigkeit als Austausch des jeweils Gewünschten . . . . . . . . . 2. Das Synallagma in einem gerechten Austausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gerechtigkeit als Vertragsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Machtabschätzung in der Einschätzung der Vertragstreue . . . . . . IV. Rache und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der gemeinsame Ursprungsbereich von Rache und Gerechtigkeit . . . 2. Die Rache der blinden Erbitterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Selbsterhaltung hinter der Rache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Gerechtigkeit fordert den Abschied von der Rache . . . . . . . . . . . .
105 109 111 112 113 116 118 121 121 123 126 129
D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen . . . . . . . I. Strafen in der Philosophie Friedrich Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die völlige Unverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Willkürlichkeit der Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Kultus in der Strafe als das Dauerhafte an ihr . . . . . . . . . . . . . b) Der Zweck in der Strafe als das Flüssige an ihr. . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Willkürlichkeit der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ursprung des Strafens in einer Zwei-Personen-Konflikt-Situation . . . . . . 1. Schmerzzufügung als Erinnerungstechnik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Obligationenrecht hinter dem Strafen I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Wohlgefühl des Geschädigten bei der Bestrafung des Schädigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Obligationenrecht hinter dem Strafen II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Mensch als das abschätzende Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Rache hinter der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Gesetzesbrecher als Vertragsbrüchiger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schonung als Praxis der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131 132 133 140 141 144 148 154 154 157 159 161 165 167 169 177
E. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
A. Einleitung Friedrich Nietzsche ist einer der berühmtesten und umstrittensten deutschen Denker. Er hat unsere Sprache beeinflusst wie es einem Philosophen zuvor noch nicht gelungen ist. Und obwohl die Nietzsche-Rezeption breit und ausführlich ist, gibt es in seinem aphoristischen Denken immer wieder Neues zu entdecken. Er ist mit vielen Begriffen in die Philosophie-Geschichte eingegangen, seine rechtsphilosophischen Überlegungen haben dagegen bisher keine entsprechende Verbreitung gefunden. Nietzsche hat sich vieler Themen angenommen, und er hat dies mit der ihm eigenen Leidenschaft und Präzision getan. Martin Walser adelt Nietzsches Berührung verschiedenster Themen als „Genauigkeitswunder“1. Und diese Genauigkeit hat Nietzsche auch in seinen rechtsphilosophischen Überlegungen gezeigt. Und so wie er selbst den menschlich allzumenschlichen Strukturen auf den Grund gehen wollte, indem er einen Blick in die Menschheitsgeschichte geworfen hat, so soll auch diese Arbeit einen Blick auf den Nietzsche so wichtigen Ursprung richten, den Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafen, wie Nietzsche ihn in seinem Denken greifbar zu machen versuchte. Gerade über das Strafen in der Philosophie Friedrich Nietzsches wurde schon viel geschrieben. Mit Begeisterung stürzten sich die Autoren vor allem auf die Textstelle in der Genealogie der Moral, in der Nietzsche eine Vielzahl von Strafzwecken anführt2 und natürlich auch auf die vielen anderen kleinen Stellen, in denen Nietzsche scharfsinnig einzelne Situationen des Strafens, die Geschichte des Strafens und seine Auswirkungen seziert. Allerdings beschränken sich diese Auseinandersetzungen darauf, die für das Strafrecht einschlägigen Stellen gesondert zu betrachten und über eine Stichwortsuche die Textpassagen zum Strafrecht zusammenzufassen und zu erläu1
Martin Walser, Nietzsche lebenslänglich, Hamburg 2010, S. 8. Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, 13.; nachfolgend werden die Werke Nietzsches abgekürzt zitiert. Einmal nach der Bezeichnung und Nummerierung, die Nietzsche selbst vergeben hat und zusätzlich nach der Kritischen Studienausgabe mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, so für die hier in Bezug genommene Stelle: Nietzsche, GM II 13; KSA 5, S. 316; Die Zusammenstellung „Der Wille zur Macht“ wird nach der Kröner-Ausgabe zitiert in der dort wiedergegebenen fortlaufenden Nummerierung der Aphorismen. Die Legende der Abkürzungen für die Werke Nietzsches findet sich im Literaturverzeichnis. 2
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A. Einleitung
tern3. Aber nur im Gesamtzusammenhang der Aphorismen4 zum Ursprung des Rechts, der Gerechtigkeit und des Strafens wird es möglich sein, zu einer umfassenden Einsicht in einen gemeinsamen Ursprung zu kommen und die dem allgemeinen juristischen Empfinden zuwider laufende Rückführung auch des Strafrechts auf einen Vertrag bzw. ein ursprüngliches Zwei-Personen-Verhältnis herauszuarbeiten. Die gegenseitige Machtabschätzung wird sich als das Element erweisen, welches die Entstehung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe in der Rechtsphilosophie Nietzsches verbindet. Die strenge Orientierung am Primärtext ist für die vorliegende Arbeit bewusstes Programm. Nietzsche philosophierte in Aphorismen, so dass durch das Zitieren bloßer Halbsätze immer die Gefahr besteht, eine These Nietzsches aus dem Zusammenhang zu reißen. Um dieser Gefahr vorzubeugen, werden nachfolgend die zentralen Textstellen bei Nietzsche in ihrer vollen Länge bzw. möglichst ungekürzt zitiert. Um diesem Ansatz treu zu bleiben, erhalten auch die Autoren der einschlägigen Sekundärliteratur dahingehend Raum, dass auch ihre Kernaussagen in Gänze zitiert werden. Nietzsche hat den Aphorismus als Form gewählt und benutzt wie kaum ein anderer Denker. Krüger weist darauf hin, dass Nietzsche auch seine Gedanken zu seinem aphoristischen Vorgehen in Aphorismen thematisiert hat, mithin seiner gefundenen philosophischen Form insoweit konsequent gefolgt ist.5 Der rechtsphilosophisch suchende Leser hat also damit zu kämpfen, dass sich die Rechtsphilosophie Nietzsches nicht als eigener Band aus dem Regal nehmen lässt. Aber auch wenn sich Nietzsche mit dem Aphorismus als philosophischer Form einer systematischen Darstellung seiner Gedanken verschlossen hat, so wird eine Geschlossenheit dennoch in der Zusammenschau der thematisch zusammenhängenden Aphorismen deutlich, was jedoch eine enge Arbeit am Primärtext erfordert. Mit Blick auf den Ursprung des Strafens bei Nietzsche wird der Bezug zu den Stellen, an denen er seine Ansichten über die Herkunft des Rechts und den Ursprung der Gerechtigkeit äußert, hergestellt. Nur wenn man Nietzsche dabei folgt, wie er dem Recht auf den Grund zu gehen versucht, kann festgestellt werden, dass sich auch das Strafrecht und das Strafen auf eine ähnliche, wenn auch nicht identische Ursprungskonstellation zurückführen lassen bzw. eine weitere vertragliche Verbindung aufdecken, die den 3
So jüngst Jochen Bung, Nietzsche über Strafe, ZstW 119 (2007), S. 120. Vgl. Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, Berlin 2008, S. 112. Petersen sieht ebenfalls die Notwendigkeit, die verstreuten Textpassagen bei Nietzsche im Zusammenhang zu betrachten und erkennt dabei zutreffend einen „inneren Kausal- und Verweisungszusammenhang“, ebd. und passim. 5 Vgl. insoweit und auch weiterführend: Heinz Krüger, Über den Aphorismus als philosophische Form, München 1988, S. 87. 4
A. Einleitung
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modernen Strafrechtswissenschaften fremd erscheinen wird. Nur in einer Gesamtschau der Textstellen ist eine umfassende Aussage über Nietzsches Position zum gemeinsamen Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafen zu treffen und nur mittels einer solchen vermag die Rückführung des Rechts wie auch des Strafrechts auf das Vertragsverhältnis zwischen zwei Personen als Grundkonstellation gelingen. Nietzsche denkt in vertragsrechtlichen Kategorien, sowohl hinsichtlich der Entstehung des Rechts, als auch in Bezug auf die Entstehungsmöglichkeit einer konkreten Gerechtigkeit und der Herkunft des Strafens. Dabei ist sein Blick nicht nur ein historischer in die Anfänge der Menschheitsgeschichte und ein psychologischer in die Tiefe des Menschen, sondern dem Grunde nach auch ein existentialistischer. Nicht im eigentlichen von Jean-Paul Sartre geprägten philosophischen Sinn, aber als der auch für Nietzsche entscheidende übereinstimmende Anknüpfungspunkt. Nietzsche betrachtet immer den Menschen, den einzelnen in Beziehung und Interaktion zu seinem Gegenüber. Das Recht und das Strafen sind menschliche, allzumenschliche Konstruktionen und Strukturierungen, bei denen sich Nietzsche die Frage erlaubt, auf welcher Grundkonstellation menschlicher Interaktion diese beruhen. Nietzsche lehnt die Existenz jeglichen Naturrechts ab und denkt den Begriff des Rechts als ein von Menschen gemachtes Kommunikationskonstrukt. So laut und aggressiv sich Nietzsche zu zahlreichen Aspekten des Strafens geäußert hat, so laut und aggressiv hat er sich auch zu seinem Rechtsverständnis geäußert. In der Rechtsphilosophie wurde er dennoch kaum gehört. Zu verstreut finden sich die einzelnen Stellen, zu laut waren die Stimmen derer, die im Werk Nietzsches gerade kein System und dementsprechend auch keinen grundsätzlichen Zusammenhang sehen wollten, oder die im Angesicht seiner Philosophie des Willens zur Macht mit einem schlichten Recht des Stärkeren jegliche feinere Differenzierung ausgeschlossen haben6. Die Töne zu seinem Gerechtigkeitsverständnis fallen bei Nietzsche im Grunde ebenfalls laut und schrill aus, seine Überhöhung und Verehrung der Gerechtigkeit machte es leicht, den sehr ernst gemeinten, konzeptionellen Kern seines Gerechtigkeitsverständnisses zu überhören. Und so wurde die Thematik der Gerechtigkeit bei Nietzsche erst in jüngster Zeit mehr in den Blick genommen7. 6 Vgl. Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, München 1977, S. 106. 7 Dae-Jong Yang, Die Problematik des Begriffs der Gerechtigkeit in der Philosophie von Friedrich Nietzsche, Berlin 2005; Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit 2008.
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A. Einleitung
Um das verbindende Element aufzudecken, soll im Folgenden zunächst der Ursprung des Rechts bei Nietzsche anhand der einschlägigen Textpassagen näher beleuchtet werden. In diesem Kapitel gilt es auch, die von Nietzsche dargestellten Grundvoraussetzungen für eine vertragliche Bindung des Menschen darzustellen, da für Nietzsche jegliches Recht auf einem Vertrag basiert. Der Mensch als Tier, das versprechen kann. Es werden einige Grundlagen zu bereiten sein, auf die dann in den folgenden Abschnitten zum Ursprung der Gerechtigkeit wie auch zum Ursprung des Strafens zurückgegriffen werden kann. Die Gemeinsamkeiten der Ursprungskonstellation zwischen den beteiligten Parteien und ihre Folgen werden sich deutlich zeigen. Der gemeinsame Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe in einem Zwei-Personen-Verhältnis mit einer gegenseitigen Machtabschätzung wird sich als Grundlage der Rechtsphilosophie Nietzsches erweisen. Denn es gibt in Nietzsches rechtsphilosophischem Denken eine Besonderheit, der die vorliegende Arbeit nachgehen will. Nietzsche denkt bezüglich der Entstehung von Recht, Gerechtigkeit und auch von Strafe in Zwei-Personen-Verhältnissen. Nietzsche verliert diese Grundkonstellation nie aus den Augen und baut sein Rechtsverständnis darauf auf. Petersen schreibt, dass Nietzsche in „obligationenrechtlichen Kategorien“ denkt und attestiert diesbezüglich eine noch fehlende Durchdringung seitens der Rechtsphilosophie.8 Mit der vorliegenden Arbeit sei ein erster Versuch unternommen. Das Schuldverhältnis als Grundkonstellation im Sinne zweier Vertragsparteien wählt Nietzsche so zielsicher als Basis von Recht und Strafe, da es relativ ist, inter partes besteht und damit immer die menschliche Komponente im Blick bleibt und – wie später noch zu zeigen sein wird – die Berücksichtigung der Abschätzung von Machtgraden erst möglich wird. Nietzsches großer philosophischer Entwurf des Willens zur Macht ist als umfassendes Prinzip mitzudenken, welches als Naturgesetz des Werdens und Strebens, als weltbewegendes und naturimmanentes Wirken zu verstehen ist. Die Abschätzung von Machtmöglichkeiten im zwischenmenschlichen Aufeinandertreffen ist für Nietzsche zentral, da nur so der Willen zur Macht die Berücksichtigung finden kann, die ihm gebührt. Da Nietzsche jegliche Form eines Naturrechts ablehnt, erscheint ihm das Recht und auch das Strafen letztlich als aus dem Spiel des Willens zur Macht hervorgegangen und diesem unterworfen. Und nur die von ihm entworfene vertragsrechtliche Ursprungssituation, sowohl bei der Entstehung des Rechts als auch des Strafens wie auch als Ursprungsbedingung für die Möglichkeit eines gerechten Austauschs, legt durch die Machtabschätzung das Wirken des Willens zur 8
Petersen, S. 193.
A. Einleitung
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Macht frei, welches sich allerdings nicht in einem schlichten Recht des Stärkeren erschöpft. Nietzsche spricht im Zusammenhang mit dem Ursprung von Recht davon, dass dieses auf Verträgen zwischen Gleichen beruht und eine Rechtsanerkennung in Form eines entsprechenden Vertrages so lange hält, wie die Beteiligten gleich oder ähnlich mächtig sind.9 Dieser Abschätzung und Relativität in den Vertragsbeziehungen gilt Nietzsches Aufmerksamkeit und weist darüber hinaus auch schon auf die Charakterisierung der Gerechtigkeit durch Nietzsche hin, die in ihrer Genialität jedem das Seine geben will und dazu jedes Ding in das beste Licht stellt und um dasselbe mit sorgsamem Auge herumgeht,10 also die unterschiedlichsten Blickwinkel einnimmt und damit eine Dynamik unterstreicht, der jede Verfestigung nicht gerecht werden würde. Eine Chance erhält die Gerechtigkeit bei Nietzsche nur dann, wenn die Beteiligten ungefähr gleich mächtig sind11 – die Parallelität der von ihm entworfenen Ursprungssituationen ist augenfällig. Bezüglich des Strafens geht dieser Ansatz auf die Täter-Opfer-Beziehung zurück und darauf, den Blick auf die grundsätzlich in dieser Beziehung entstandenen Schulden, die entstandene Schuld, die es auszugleichen gilt, zu richten. Dabei strebt der Ausgleich die Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts an, welches sich ebenfalls aus der Machtabschätzung und damit aus dem Wirken des Willens zur Macht ergibt. Darüber hinaus begreift Nietzsche aber auch das Verhältnis des Straftäters zur Gesellschaft, zum Staat als ein vertragliches, eine Beziehung inter partes. Das Strafrecht wird bei Nietzsche geradezu eine „Unterdisziplin des Obligationenrechts“12, ein Ansatz, der so bei Nietzsche noch nicht eingehend untersucht wurde. Hier setzt die vorliegende Arbeit an. Dabei wird das Zwei-Personen-Verhältnis als gemeinsamer Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe und als Basis der Rechtsphilosophie Friedrich Nietzsches herausgearbeitet und dargestellt werden. Die nachfolgenden Kapitel folgen dieser Konzeption und gehen nacheinander anhand der einschlägigen Textpassagen auf den Ursprung des Rechts, der Gerechtigkeit und des Strafens bei Friedrich Nietzsche ein. Die Zwei-Personen-Konflikt-Situation wird sich dabei als das verbindende und die Rechtsphilosophie Nietzsches bestimmende Element erweisen, da in ihr die gegenseitige Machtabschätzung vorgenommen und damit das Wirken des Willens zur Macht verankert wird. 9
Vgl. Nietzsche, MA II 26; KSA 2, S. 560. Vgl. Nietzsche, MA I 636; KSA 2, S. 361. 11 Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. 12 Petersen, S. 193. 10
B. Die Ursprungssituation für die Entstehung von Recht in der Philosophie Friedrich Nietzsches Nachfolgend soll die Entstehung von Recht im Denken Nietzsches anhand der verstreuten Textstellen präzise erfasst und definiert werden. Wann sieht Nietzsche Recht entstehen? Und wie charakterisiert sich dieses erste Recht? Was sind seine Voraussetzungen und wie denkt Nietzsche die Ursprungskonstellation? Und wird damit ein Naturzustand beendet? Dabei müssen die in Nietzsches Werk weit verstreuten Passagen zur Entstehung des Rechts genau betrachtet werden. Zunächst ist der Blick auf Nietzsches Rechtsphilosophie von einer schweren Last zu befreien, der irrigen Annahme, Nietzsche könnte das bloße Recht des Stärkeren im Rahmen seiner Philosophie des Willens zur Macht proklamieren. Eine solche Interpretation wird Nietzsches Rechtsphilosophie jedoch nicht ansatzweise gerecht, auch wenn sich einige Textstellen finden, die auf die Übermacht als Ursprung des Rechts hindeuten.
I. Die Geburt des Rechts aus der Übermacht? 1. Der Naturzustand Eine unterschiedlich charakterisierte Art von Naturzustand oder Urzustand spielt in vielen rechts- und staatsphilosophischen Positionen eine Rolle und bestimmt auch das Denkexperiment der rechtsphilosophischen Strömung der Vertragstheorie, die sich in einen Naturzustand des Menschen hineinversetzt und in diesem einen Vertragsschluss zur Staatsgründung angesiedelt sehen will.1 Zu den berühmtesten Vertretern zählen Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und John Locke.2 Eine Renaissance erfuhr die Vertragstheorie durch John Rawls in den 70-iger Jahren des letzten Jahrhunderts.3 1 Vgl. z. B. http://de.wikipedia.org/wiki/Vertragstheorie; die Vertragstheorie wird auch Kontraktualismus genannt und versucht, den Staat aufgrund eines aus natürlichen Interessen hervorgegangen Gesellschaftsvertrags der Individuen zu begründen. 2 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, Stuttgart 2000; John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt 1977; Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1986. 3 Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1998.
I. Die Geburt des Rechts aus der Übermacht?
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Auch wenn Nietzsche den Vertragstheorien eine klare Absage erteilt und diese als Schwärmerei bezeichnet4, finden sich bei ihm Passagen zu einem vorstaatlichen Zustand und zu dessen Beendigung. Nietzsche formuliert so nah an den Vertragstheorien, dass auch jüngste Autoren sich davon noch auf eine falsche Fährte locken lassen und Nietzsche letztlich eine kontraktualistische Beendigung des Naturzustandes unterstellen wollen.5 Und Nietzsche kann auch seine Ablehnung der Vertragstheorien nicht umfassend gemeint haben, da er durchaus auch von einem Gesellschaftsvertrag ausgeht – allerdings nicht als Beendigung des Naturzustandes. Er bemängelt in seiner Ablehnung des Kontraktualismus, dass der erste Übergang von einem Naturzustand zu ersten Gesellschafts- und Staatsformen nicht durch einen romantischen Vertragsschluss zustande kam, sondern vielmehr durch kriegerische Eroberungen und Überwältigungen. Im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung wird Nietzsche immer mehr von einem Vertrag zwischen der Gesellschaft und ihren Mitgliedern ausgehen. Seine Ablehnung der Vertragstheorien als Schwärmerei bezieht sich also zunächst einmal nur auf den ersten Übergang des Menschen aus dem Naturzustand zu organisierten Strukturen und ist somit nicht absolut gemeint. Darauf wird noch einzugehen sein. Nietzsche beschreibt den Zustand vor dem Staat, in dem der Mensch triebgesteuert und um das nackte Überleben kämpfend handelt. Eine solche Stelle findet sich in „Menschliches, Allzumenschliches“ im Zusammenhang mit der Bewertung von Handlungen als böse. „Alle ‚bösen‘ Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. [. . .] In dem Zustand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun würden. [. . .] Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches dies verhindern kann.“6
Nietzsche unterscheidet zwischen einem Zustand vor dem Staat und dem Zustand nach Staatengründung. Die Staatengründung selbst stellt für ihn den blutigen Anfang der Moralität und Kultur der Menschheit dar. 4
Vgl. Nietzsche, GM II 17; KSA 5, S. 324. Vgl. Cyril Freitag, Je mächtiger, desto menschlicher, Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche, in ZIS 6/2010, www.zis-online.com, S. 426. 6 Nietzsche, MA I 2, 99; KSA 2 S. 95 f. 5
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
An dieser Stelle kommt für ihn ein romantischer Vertragsschluss, wie ihn die Kontraktualisten annehmen wollen, nicht in Betracht. Der vorstaatliche Zustand selbst stellt sich auch Nietzsche als „Krieg aller gegen alle“7 dar, bei dem es um das Überleben des Einzelnen geht. Nietzsche hat bei dieser Betrachtung auch seine Machtkategorien angelegt, wenn er von grausamen Handlungen zur Erprobung und Festigung der Macht des Ausübenden spricht. Darauf und auf den Einfluss des Willens zur Macht wird noch einzugehen sein. Es kann aber schon einmal festgehalten werden, dass Nietzsche an dieser Stelle die Härte und Grausamkeit als taktisch abschreckendes Mittel definiert, welche aus Machterwägungen eingesetzt werden. Eine der entscheidenden Aussagen für die Suche nach dem Ursprung des Rechts ist die Feststellung Nietzsches, dass in dem vorstaatlichen Zustand, der durch den Mächtigeren beendet wird, kein Recht existiere. Der Überwältiger trifft auf keinerlei Widerstand im Sinne eines entgegenstehenden Rechtes, weder eines allgemeinen noch eines individuellen. Im Naturzustand existiert für Nietzsche kein Recht, auch und vor allem kein naturgegebenes Recht im Sinne eines Menschenrechts, eines Rechts auf Leben oder auf Menschenwürde. Aber auch der Mächtigere handelt nicht aufgrund eines Rechts, sondern nur aufgrund seiner größeren Stärke, seiner überlegenen Macht. An späterer Stelle in „Menschliches, Allzumenschliches“ findet sich ein Aphorismus mit dem Titel „Eitelkeit als Nachtrieb des ungesellschaftlichen Zustandes“, in dem Nietzsche die Absenz von Recht noch deutlicher ausdrückt. Er geht dabei von einer umfassenden Ungleichheit der Menschen aus, die in dem Naturzustand ums Überleben kämpfen müssen. „Stürzt aber das Gemeinwesen ganz zusammen, geräth Alles in Anarchie, so bricht sofort der Naturzustand, die unbekümmerte, rücksichtslose Ungleichheit hervor, wie diess auf Korkyra geschah, nach dem Berichte des Thukydides. Es giebt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.“8
Der ungesellschaftliche Zustand ist ein rechtsfreier Raum. Die Natur stellt kein Recht oder Unrecht zur Verfügung. Nietzsche lehnt jegliches Naturrecht kategorisch ab. Daraus folgt für ihn auch, dass die Menschen nicht gleich sind, vielmehr von Natur aus ungleich. Und diese Ungleichheit drückt sich in dem herrschenden Kampfgeschehen aus, in dem der Stärkere oder Intelligentere oder sonst Bevorteilte sich durchsetzt. Ein Recht verbindet Nietzsche damit nicht. Eine Rechtsentstehung findet an dieser Stelle 7 Thomas Hobbes, Leviathan, Stuttgart 2000, Erster Teil, Dreizehntes Kapitel, S. 115. 8 Nietzsche, MA II 31; KSA 2 S. 563.
I. Die Geburt des Rechts aus der Übermacht?
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noch nicht statt. Es gibt für ihn auch kein Recht des Stärkeren im Sinne eines Naturrechts des Stärkeren. Aus diesem Zustand heraus kommt es für Nietzsche zu einer ersten Gesellschafts- bzw. Staatsgründung – insoweit allerdings nicht durch einen hypothetischen Vertrag wie in den Vertragstheorien, sondern vielmehr durch ein Mehr an Macht, bloße Gewalt, Übermacht. „Dergestalt beginnt ja der ‚Staat‘ auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem ‚Vertrage‘ beginnen liess. Wer befehlen kann, wer von Natur ‚Herr‘ ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen!“9
Der Mächtigere setzt sich faktisch durch und diktiert seine Regeln. Er hat es nach Nietzsche gar nicht nötig, sich mit seinem Gegenüber zu vertragen. Und der Mächtigere richtete für Nietzsche auch erstmals Gesetze auf. Ob diesen mit Nietzsche überhaupt schon Rechtscharakter zugesprochen werden kann, wird nachfolgend zu klären sein. Jedenfalls können Gesetze immer nur Regeln für den Menschen sein, nicht für die Natur.10 Von Menschen für Menschen. In seiner Ablehnung der Vertragstheorien mutet die zitierte Stelle so an, als gäbe es scheinbar doch ein gewisses Recht aus der Natur, so zu verfahren wie der Mächtigere es tut, nämlich das Recht des Stärkeren. Eine solche Interpretation würde jedoch viel zu kurz greifen, auch wenn Nietzsches Theorie vom Willen zur Macht scheinbar zu einer solchen einlädt. 2. Das Recht des Stärkeren Wie in der gerade zitierten Stelle angeklungen, könnte man bei Nietzsche doch immer wieder zu dem Schluss gelangen, dass er für ein Recht des Stärkeren auf Basis seines Willens zur Macht Partei ergreift oder mit einem solchen sympathisiert und damit letztlich ein Naturrecht des Stärkeren propagiert. Dass diese Einordnung Nietzsches in der Rechtsphilosophie leider immer noch weit verbreitet ist, zeigt sich zum Beispiel in der aktuellen Auflage des Studienbuchs „Rechtsphilosophie“ von Zippelius von 2007. Dort heißt es an einer der beiden Stellen, an denen Nietzsche überhaupt erwähnt wird: „Und nicht zuletzt hat Friedrich Nietzsche das Naturrecht des Mächtigen neu belebt, wenn er die Wertschätzungen und damit die Ethik letztlich auf den Willen zur Macht reduzierte.“11 9
Nietzsche, GM II 17; KSA 5 S. 324. Vgl. Henry Kerger, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 242. 10
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Da noch immer solche Thesen zu Nietzsche vertreten werden, soll im Folgenden unter Bezug auf Platon das schlichte Recht des Stärkeren bei Nietzsche genauer untersucht werden. Bewusst ist dieser Abschnitt daher mit der Frage nach der Geburt des Rechts aus der Übermacht und nicht aus der Macht überschrieben. Den Begriff der Macht bei Nietzsche zu fassen ist schwierig. So stellt sich zum Beispiel Bung in seinem Beitrag zur Strafe bei Nietzsche dem Thema des Willens zur Macht überhaupt nicht. „Die Auseinandersetzung mit der Strafe durchzieht Nietzsches gesamtes Werk und lässt sich erstaunlicherweise dennoch relativ unabhängig erschließen. Man muss nicht in der Lage sein anzugeben, was er mit der Rede vom Willen zur Macht denn nun wohl genau gemeint hat, um Nietzsches fundamentale Skepsis gegenüber der strafenden Gesellschaft nachvollziehen zu können.“12
Diese Herangehensweise mag Nietzsches Skepsis gegenüber dem Strafen zeigen, sie wirft jedoch nur einen eingeengten Blick auf seine Thesen zum Strafen. Das in der zugrundeliegenden Grundkonstellation wirkende Spiel der Mächte und das gegenseitige Abschätzen der Mächte entgeht ihr. Für die vorliegende Untersuchung wird der Wille zur Macht bzw. die gegenseitige Abschätzung von Machtmöglichkeiten eine ganz zentrale Rolle spielen. Der Wille zur Macht wird dabei als umfassendes Natur- und Lebensprinzip verstanden, worauf unten noch eingegangen werden soll. An dieser Stelle wird jedoch lediglich die Frage gestellt, inwieweit die Übermacht Recht gebären kann. Bereits in der Antike findet sich die Formulierung eines Naturrechts des Stärkeren. So sprechen sich bei Platon in den Dialogen Politeia und Gorgias einmal Thrasymachos und einmal Kallikles für ein solches aus13. Dass Nietzsche sich als Professor für Altphilologie intensiv mit Platon beschäftigt hat, steht außer Frage14. Daher kann eine Untersuchung der einschlägigen Textpassagen bei Nietzsche nur vor dem Hintergrund der beiden Stellen bei Platon betrachtet werden. In Platons Politeia stellt Thrasymachos seine Position wie folgt dar. „Denn ich behaupte dies: Das Gerechte ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren. [. . .] Jede Herrschaft gibt die Gesetze nach ihrem Vorteil [. . .] Nach diesen Gesetzen kündigen sie diesen ihren eigenen Vorteil als das Gerechte für die Un11 Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie. Ein Studienbuch, 5. Aufl., München 2007, S. 70. 12 Bung, S. 121. 13 Platon, Politeia, Erstes Buch, 338c ff., S. 99. 14 Janz, Friedrich Nietzsches akademische Lehrtätigkeit in Basel 1869–1879, in: Nietzsche Studien, Bd. 3, Berlin/New York 1974, S. 192 ff.
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tertanen an, und jeden, der es übertritt, bestrafen sie, weil er das Gesetz verletze und Unrecht tue. [. . .] Überall ist das Recht dasselbe, nämlich der Vorteil des Mächtigeren!“15
Thrasymachos beschreibt demnach die elementare Überlegung, dass eine Rechtsetzung von oben stattfindet und sich dabei der Stärkere, der Mächtigere, der bereits Herrschende zu seinem Vorteil Gesetze schafft und diese den ihm Unterlegenen als das Recht, an das sie sich halten müssen, setzt. Dabei schwingt nicht nur der Egoismus als Motivation des Mächtigen mit, vor allem hat der Mächtige die Möglichkeit, Recht zu setzen. Qua seiner Macht kann er Recht schaffen und fordert Gehorsam ein. In der Rede des Kallikles geht dieser noch einen Schritt weiter, indem er diese Möglichkeit der Rechtsetzung zum eigenen Vorteil zu legitimieren sucht. Dabei wird das Recht des Stärkeren aus der Natur abgeleitet. „Die Natur selbst aber, denke ich, würde wohl zeigen, daß es gerecht ist, daß der Stärkere mehr habe als der Schwächere, und der Tüchtigere als der Untüchtige. Auch offenbart sie dieses vielfältig, daß es so ist, sowohl an den übrigen Geschöpfen als auch an ganzen Staaten und Geschlechtern der Menschen, daß als Recht erkannt ist, daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und mehr habe. Denn nach welchem Recht führte Xerxes sein Heer gegen Hellas oder sein Vater gegen die Skythen? und tausend anderes der Art könnte man anführen. So also handeln sie nach der Natur und, bei Zeus, nach dem Gesetz, dem Gesetz der Natur nämlich – allerdings nicht nach dem, das wir selbst zu dem Zweck setzen: die Besten und Stärksten unter uns schon in der Jugend einzufangen wie junge Löwen und sie durch Gesang und Zaubersprüche zu bändigen, indem wir behaupten, es müsse alles gleich sein, und dies sei eben das Schöne und Gerechte. Wenn aber – so meine ich – ein Mann ersteht von zulänglicher Natur, der schüttelt das alles ab, zerbricht es und ist frei, indem er all unsere Verträge, Gaukelwerk, Zaubersprüche, alle widernatürlichen Gesetze zu Boden tritt. So erhebt er sich, der Knecht, und offenbart sich als unser Herr, und dann leuchtet hervor das Recht der Natur.“16
In diesem Passus wird das Naturrecht des Stärkeren als unterdrückt dargestellt, welches aber als Naturgesetz unter jeglichem menschlich gemachten Gesetz schlummert und erweckt werden kann, indem sich ein herausragender Mann losreißt und die „widernatürlichen Gesetze“ überwindet. Der Stärkere setzt sich durch. Und aus dieser Überlegenheit soll in Rekurs auf die Natur auch das Recht dazu abgeleitet werden. Die Legitimation der Herrschaft des Stärkeren soll ihre Grundlage in der Ordnung der Natur nehmen, einem natürlichen Gesetz folgen. Die Überlegenheit als rechtsetzende Übermacht, legitimiert durch den Bezug auf ein Naturrecht des Stärkeren. So auch Yang: 15 16
Platon, Politeia, Erstes Buch, 338c ff., S. 99. Platon, Gorgias, 483d ff., S. 59.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
„Bei der Kallikles-Rede können wir nämlich die kausalanalytische Reduktion feststellen, welche einfach von der überlegenen Natur das Recht herzuleiten versucht, was bei Nietzsche nicht der Fall ist.“17
Wie dieser entscheidende Unterschied bei Nietzsches Genese des Rechts genau aussieht, wird in den folgenden Abschnitten noch en detail herausgearbeitet werden. Zunächst kann jedoch nicht einfach über die Situation der Überwältigung durch einen Stärkeren bei Nietzsche hinweggegangen werden, auch wenn sich die entscheidende Rechtsbegründung bei Nietzsche an anderer Stelle abspielt, denn der vorgenannte Überwältigungsprozess hat bei Nietzsche eine nicht zu unterschätzende Funktion. Ein solcher überwältigender Prozess durch einen Stärkeren gilt Nietzsche als ein kulturschaffender, als der blutige und grausame Weg und Untergrund, auf dem die menschliche Kultur die Möglichkeit erhält, zu Höherem zu streben. Eine Identifikation Nietzsches mit der sophistischen Lehre des Rechts des Stärkeren lässt sich daran jedoch nicht festmachen. Für ihn steht der schöpferische Prozess im Vordergrund, wobei Nietzsche geradezu mit Vergnügen den Finger in die Wunde legt und es als seine Aufgabe sieht, schonungslos auf den blutigen Anfang der höheren Kultur hinzuweisen. So schreibt er in „Jenseits von Gut und Böse“: „Sagen wir es ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: [. . .].“18
Nietzsche weist auf den barbarischen und blutigen Ursprung von Staaten und Gesellschaften hin. Es geht ihm an dieser Stelle um die Anfänge der höheren Kulturen. Der grausame Vorgang der Überwältigung, der sich austobenden Übermacht, hat als Gründungsprozess eine schöpferische Funktion. Und es sei darauf hingewiesen, dass Nietzsche weder eine Beschönigung noch Verherrlichung dieses Vorgangs vornimmt. Er stellt ihn lediglich fest, als eine für ihn historisch menschheitsgeschichtliche Gewissheit. Auffällig ist, dass von Recht dabei überhaupt nicht die Rede ist. Nietzsche liefert viel mehr eine historische Betrachtung in gewohnt bildgewaltiger Sprache. Die Übermacht der Stärkeren stellt sich zunächst einmal nicht als Recht dar, sondern nur als faktische Dominanz. Ein sich dem entgegenstellendes Recht fehlt mithin gerade. 17 18
Yang, S. 46. Nietzsche, JGB 257; KSA 5, S. 205.
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„Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige, der Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, [. . .].“19
Der ursprüngliche Staatengründer ist ein Stärkerer, ein Übermächtiger, der blutig von seiner Macht Gebrauch macht. Und dabei fehlt ein Gegengewicht. Es gibt schlicht noch kein Recht wie bereits oben in der Charakterisierung des Naturzustandes bei Nietzsche dargestellt. Der vorstaatliche Zustand ist ein Zustand ohne Recht. Darin überwältigt der Übermächtige weil er es kann. Und Nietzsche weist früh in seinem Schaffen auf diesen blutigen Ursprung hin. Bereits 1872 setzt sich Nietzsche mit der hohen Entwicklung des griechischen Staates in der Antike auseinander. Er bewundert die Möglichkeiten und die Höhe der Kultur der freien Bürger, wobei ihm das Sklaventum als Preis dafür nicht wirklich zu hoch erscheint. Die Griechen haben nach Nietzsche auf der Höhe ihrer kulturellen Entwicklung weiterhin die Stärke oder den Wahrheitssinn gehabt, auf den Ursprung allen Rechts aus der Gewalt hinzuweisen: „Die Gewalt giebt das erste Recht, und es giebt kein Recht, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung Usurpation Gewaltthat ist.“20
Nietzsche weist darauf hin, dass die Griechen in dieser Gewissheit zum Ausdruck brachten, dass in einer Grundsituation, in der eine Partei einer anderen vollkommen überlegen ist, zunächst einmal davon ausgegangen werden muss, dass die schwächere Partei schlicht und ergreifend überrannt und nachfolgend dominiert wird. Volker Gerhardt charakterisiert diese Stelle bei Nietzsche wie folgt: „In der 1872 abgefaßten Vorrede über das ungeschriebene Buch ‚Der griechische Staat‘ rühmt Nietzsche den völkerrechtlichen Instinkt der Griechen, die auf dem Gipfelpunkt ihrer Humanität sich nicht vor der erschreckenden Einsicht scheuten, daß alles Recht von der Gewalt ausgeht: [. . .].“21 19
Nietzsche, MA I 99; KSA 2, S. 96. Nietzsche, Nachgelassene Schriften, Fünf Vorreden, 3. Der griechische Staat; KSA 1, S. 770. 21 Volker Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, in: Pathos und Distanz, Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, S. 100. 20
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Im Folgenden weist Gerhardt darauf hin („man höre!“22), dass Nietzsche in der oben zitierten Stelle die Natur sich das grausame Werkzeug des Staates schmieden sieht, um zur Gesellschaft zu kommen. Die Betonung liegt demnach zum einen auf dem Verweis auf die blutigen und grausamen Anfänge der Staatengründung und zum anderen darauf, dass Nietzsche auf den schöpferischen Aspekt aufmerksam machen will. Man könnte an dieser Stelle vermuten, dass Nietzsche die Entstehung des Rechts schildert. Dem ist jedoch nicht so, denn auch wenn Nietzsche den Begriff des Rechts verwendet, geht es ihm eigentlich um die Entstehung der Gesellschaft und die Aufrichtung von Gesetzen, die der Mächtigere als bloßen Befehl, als reines Diktat erlässt. Insoweit kann eine Änderung in Nietzsches Ausführungen ausgemacht werden, als er – wie nachfolgend noch zu zeigen sein wird – in späteren Schriften den so aufgerichteten Gesetzen den Rechtscharakter absprechen würde. Sie sind bloßer Befehl, bloße Machtäußerung, die im Rahmen der ersten Ausbildung von Gesellschaftsstrukturen durch den Mächtigeren ausgeübt wird. So auch Yang, wenn er schreibt: „Aber was zuerst als die betonte Schilderung der Genese des Rechts durch die Machtergreifung der Stärkeren aussieht, läuft in dem weiteren Passus auf die Betrachtung der Gesellschaftsbildung hinaus. [. . .] Hier wird der Staat, der den auf Gewalttaten basierenden Ursprung hat, als ein unentbehrlicher Faktor für die Kulturbildung im großen Rahmen angesehen.“23
Es geht Nietzsche gerade nicht um die Entstehung des Rechts, sondern um den blutigen Gründungsakt der griechischen Gesellschaft wie auch deren Aufrechterhaltung. Sein Blick ist dabei – vor dem Hintergrund seiner altphilologischen Expertise naheliegend – auf die Antike gerichtet. Und nur wenn bei Nietzsches Philosophieren diese Orientierung an der Antike berücksichtigt wird, kann sein Verständnis einer Rechtsentstehung aufgedeckt werden. Nietzsche hinterfragt im Anschluss, wie die Hochkultur der griechischen Antike sich mit den blutigen Vorgängen verträgt: wie ist das zu rechtfertigen? Wie verträgt sich diese hohe, politische Kultur mit den grausamen, kriegerischen Akten? Und Nietzsche vermeint auch die Antwort zu erkennen. Gerade die Hochkultur ist Grund und Ursache für die Kriegstreiberei.24 Nietzsche sieht die Übermacht wirken, sie setzt sich durch. Er leitet daraus jedoch keine Legitimation in dem Sinne ab, wie das die sophistische 22
Ebd. Yang, S. 43. 24 Nietzsche, Nachgelassene Schriften, Fünf Vorreden, 3. Der griechische Staat; KSA 1, S. 771 f. 23
I. Die Geburt des Rechts aus der Übermacht?
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Lehre des Rechts des Stärkeren tun würde. Es geht ihm in letzter Konsequenz um die historische Betrachtung der blutigen Eroberungsprozesse als schöpferische zu einer Moralität hin. Und alles wird von der Klammer des Staates zusammengehalten, zusammengezwungen als Entstehung der Gesellschaft als solcher. Die ältesten Staaten gelten ihm „als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie“25. „[. . .] kurz die unablässige Erneuerung jener trojanischen Kampf- und Greuelscenen, in deren Anblick Homer lustvoll versunken, als ächter Hellene, vor uns steht – wohin deutet diese naive Barbarei des griechischen Staates, woher nimmt er seine Entschuldigung vor dem Richterstuhle der ewigen Gerechtigkeit? Stolz und ruhig tritt der Staat vor ihn hin: und an der Hand führt er das herrliche blühende Weib, die griechische Gesellschaft. Für diese Helena führte er jene Kriege – welcher graubärtige Richter dürfte hier verurtheilen?“26
Allerdings bescheinigt Nietzsche dem Stärkeren gerade kein Recht zu diesem Unterwerfen. Vielmehr ist die schöne Helena, die zivilisierte griechische Gesellschaft, eine Ausrede, ein Grund, aber keine Legitimation. Der Richter wird ein gewisses Verständnis aufbringen müssen. Aber Nietzsche spielt hier bewusst mit den Bildern der schönen Frau vor dem graubärtigen Richter, dem Mann, der zumindest in der Gefahr schwebt, sich von der Schönheit einer Frau blenden zu lassen und dadurch ein eigentlich angemessenes Verurteilen zu versäumen. Er vergisst in Ansehung der Schönheit, dass diese, an der Gerechtigkeit gemessen, eben gerade nicht als Legitimation taugt. Bei der ersten Strukturierung durch Überwältigung kommt es für Nietzsche auch zu einer erstmaligen Setzung von Gesetzen. Dabei sieht er den Ausgangspunkt bei den Starken, den Überlegenen. Sie können ohne Rücksichtnahme und ohne Einschränkung Gesetze schaffen. Es kommt zu einer Gesetzessetzung aus der Macht. Eine Genese des Rechts wird an dieser Stelle in der „Genealogie der Moral“ nicht in dem Sinne einer legitimierten Schaffung von Recht dargestellt. Vielmehr stellen die gesetzten Regeln der Übermächtigen eine Ausformung der zwingenden und gewaltsamen Bildung von Staaten dar. Die so gegebenen Gesetze sind bloßer Befehl, bloße Anweisung des Mächtigeren. Dabei will Nietzsche eine Motivation der Stärkeren auch darin sehen, die Triebe der Menschen zu kontrollieren, die Menschen zu formen und in die Gesellschaft zu integrieren, vielmehr zu zwingen. „Das Entscheidenste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle thut und durchsetzt – sie thut es immer, sobald sie irgend25
Nietzsche, GM II 17; KSA 5, S. 324. Nietzsche, Nachgelassene Schriften, Fünf Vorreden, 3. Der griechische Staat; KSA 1, S. 771 f. 26
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
wie stark genug dazu ist – ist die Aufrichtung des Gesetzes, die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe: [. . .].“27
Nietzsche hat hier in einem historischen, anthropologischen und sozialen Ansatz die Ursprungssituation einer staatenlosen Gesellschaft im Blick. Es geht ihm darum, auf eine allererste Setzung von Regeln in Form von Gesetzen aus der reinen Übermacht hinzuweisen und sich damit zunächst einmal von den Vertragstheorien abzugrenzen, die er für Schwärmerei hält28. Dies gilt jedoch nur für den ersten Schritt aus dem Naturzustand. Entscheidend ist der Entwicklungsschritt, den Nietzsche hier in den Blick genommen hat. Ihm geht es um den Übergang von einer vorstaatlichen Gesellschaft zu einer in einer Staatsform organisierten Gesellschaft. Es ist demnach nicht die Genese des Rechts aus der Macht, sondern die erste Staatengründung, die Nietzsche aus der Übermacht hervorgehen sieht. Der Mächtigere strukturiert die Menschen des Naturzustands zu ersten Gesellschaften. Der Übermacht alleine fehlt die Legitimation. Der sophistischen Betrachtung, das Recht des Stärkeren sei bereits in der Natur angelegt, schließt sich Nietzsche gerade nicht an. Vielmehr lehnt er jegliches Naturrecht ab. Und so gehen die Ansätze fehl, die sich zu sehr vom Prinzip des Willens zur Macht blenden ließen und bei Nietzsche eine bloße Neuauflage der sophistischen Position sehen wollten. Aber auch neueste Interpretationen bewerten den Schritt aus dem Naturzustand falsch, wenn sie Nietzsche unterstellen, er würde den Naturzustand mit dem Recht enden lassen.29 Dies wird sich bei der genauen Analyse und Definition der Rechtsentstehung in Nietzsches Denken noch zeigen.
II. Der Wille zur Macht bei Friedrich Nietzsche Der Begriff des Willens zur Macht bei Nietzsche ist schwer zu fassen, es sind mannigfaltige Interpretationen möglich, so als ästhetischer Antrieb hin zu einem schöpferischen Leben, psychologisch ausgedeutet als menschlicher Antrieb hinter allem Wollen und noch umfassender gedacht als Antrieb selbst jenseits allen Wollens. Auch wandelt sich die Verwendung des Begriffs durch Nietzsche selbst im Laufe seines Schaffens.30 27
Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 312. Nietzsche, GM II 17; KSA 5, S. 324. 29 Vgl. Freitag, S. 426. 30 Vgl. als Überblick Volker Gerhardt, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 351 ff. 28
II. Der Wille zur Macht bei Friedrich Nietzsche
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Für den Fortgang der vorliegenden Untersuchung wird der Willen zur Macht in der Philosophie Nietzsches als echtes philosophisches Prinzip, als welterklärendes Gedankengebäude im Sinne einer Metaphysik verstanden. Der Wille zur Macht gilt Nietzsche als das Grundprinzip alles Lebendigen. „Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.“31
Wolf spricht insoweit zutreffend vom Willen zur Macht als „Essenz allen Lebens“32. Und Gerhardt attestiert, dass sich Nietzsche mit dem „Willen zur Macht“ auf die Suche nach den „Triebkräften des Lebens überhaupt“ gemacht habe33. Und wo er fehlt, droht der Niedergang: „Ich nenne ein Thier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachtheilig ist. [. . .] Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachsthum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Niedergang.“34
Leben und Wille zur Macht sind untrennbar miteinander verbunden. Und die Instinkte spielen dabei bei dem Tier Mensch eine ganz maßgebliche Rolle.35 Und bei der Wirkkraft des Willens zur Macht kommt es nicht darauf an, dass das Lebewesen auch über einen Willen verfügt. „ ,Wille zur Macht‘ soll nicht nur die Triebkraft jener Wesen sein, die len haben, sondern soll als energetischer Impuls allen Geschehens werden. Nur so kann begriffen werden, dass alles nicht nur einfach sich in Ruhe oder Bewegung befindet, sondern dass alles mit allem in bildenden Zusammenhang steht.“36
einen Wilverstanden da ist und einem sich
Der Wille zur Macht gilt Nietzsche als umfassendes Prinzip alles Lebendigen. Leben ist zwar Bedingung für einen Willen, aber hinter allem wirkt der Wille zur Macht. „Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!“37 31
Nietzsche, JGB Erstes Hauptstück, 13; KSA 5, S. 27. Jean-Claude Wolf, Nietzsches Begriff der Macht, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 203. 33 Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, 4. Aufl., München 2006, S. 184. 34 Nietzsche, AC 6; KSA 6, S. 172; vgl. zur Bedeutung des Niedergangs und des gegenüber gestellten Wachstums in „Der Antichrist“: Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, passim. 35 Vgl. dazu Albert Vinzenz, Friedrich Nietzsches Instinktverwandlung, Basel, 1999. 36 Volker Gerhardt, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 351. 37 Nietzsche, Z II, Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, S. 149. 32
26
B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Der Wille zur Macht aber wirkt nicht einfach nur im Leben, er bringt das Lebendige überhaupt erst hervor und geht so auch über die Beschränkung auf das Wirken im Lebendigen hinaus.38 In seiner späteren Schaffensphase, bereits nach Entstehung von „Also sprach Zarathustra“ wird der Wirkbereich des Willens zur Macht nur immer noch umfassender. So schreibt Nietzsche 1885: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“39
Gerhardt spricht in seinem Beitrag im Nietzsche-Handbuch von einem Experimentieren Nietzsches mit dem Willen zur Macht als „Grundkraft allen Geschehens“40. Aber Nietzsche findet auch in seinen Überlegungen zum Willen zur Macht letztlich wieder zurück zur menschlichen Perspektive. Und so schreibt Gerhardt zutreffend: „So kommt es zum wohl wichtigsten Wort über den ‚Willen zur Macht‘, demzufolge er auch in seiner größten Reichweite nichts anderes als eine Selbstauslegung des Menschen ist.“41
Mag die Reichweite des Willens zur Macht auch immer eine menschliche Auslegung darstellen, so kann er aber doch nicht anders als für Nietzsche ganz zentral begriffen werden. Der Wille zur Macht ist ein umfassendes, energetisches Prinzip hinter dem Werden der Welt und damit letztlich als welterklärendes Prinzip zu verstehen. Der Wille zur Macht markiert für Nietzsche ein Streben der Natur nach Machtzugewinn, ist seine Beschreibung des Verlangens nach Wachstum und Fortpflanzung, nach Leben und Überleben, nach Mehr und Weiter. Möglichweise auch noch mehr, wenn er als „Grundkraft allen Geschehens“42 begriffen wird. Nietzsche gründet seine gesamte Kritik an der Religion und der Metaphysik auf eine Entfernung von der Natur. Der Wille zur Macht gilt ihm als natürliche Urkraft, Leben ist Wille zur Macht. Mootz spricht insoweit von einer Beschreibung der „essential characteristics of life“43. Der Mensch als lediglich vermeintliche Krone der Schöpfung unterliegt ebenfalls dem Willen zur Macht – nur in besonders ausgeprägter und kom38 Vgl. Volker Gerhardt, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 353. 39 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Juni–Juli 1885, KSA 11, S. 611. 40 Volker Gerhardt, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar, 2000, S. 354. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Francis J. Mootz III, Law, Hermeneutics and Rhetoric, Burlington 2010, S. 347.
III. Die Bedeutung des Herkommens für das Recht
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plexer Weise. Und der Aufdeckung seines Wirkens gilt Nietzsches Aufmerksamkeit. So auch im Rahmen seiner Gedanken zum Recht. Mit dieser weiten Auslegung, die sicher nur eine von vielen ist und an dieser Stelle auch nicht weiter vertieft werden kann, erhellt sich die gemeinsame Ursprungssituation von Recht, Gerechtigkeit und Strafen, da Nietzsche durch sein vertragsrechtliches Denken die gegenseitige Machtabschätzung in diese Ursprungssituation hineindenkt und damit dem Willen zur Macht sein Wirkungsfeld zuweist. Eine von Nietzsche gedachte ZweiPersonen-Konflikt-Situation wird sich als die gemeinsame und weiterführende Grundkonstellation in Nietzsches rechtsphilosophischem Denken erweisen und so das Wirken des Willens zur Macht offenlegen.
III. Die Bedeutung des Herkommens für das Recht Nietzsche selbst weist auf die zentrale Bedeutung der Geburtsstunde des Rechts hin, er deutet in die Vergangenheit und zu dem Punkt, dem Moment, in dem für ihn Recht entsteht. Und dabei macht er deutlich, dass sich mit diesem zeitlich weit entfernten Anfang des Rechts nicht bloß ein historischer Ursprung erschließt, sondern dass sich dieser Ursprung über das Herkommen bis in das aktuelle Recht fortsetzt. Nietzsches Blick auf das Recht ist nicht nur ein philosophischer, sondern auch ein psychologischer, historischer, anthropologischer und soziologischer. In der Frage der Herkunft und Genese des Rechts taucht bei Nietzsche immer wieder das Herkommen als zentraler Begriff auf. Dies allerdings, nach erfolgtem Blick in die Antike, mehr in Bezug auf das zeitgenössische Recht Nietzsches. Entscheidend wird die Frage zu stellen sein, ob bei Nietzsche dem Herkommen des Rechts eine über das rein Beschreibende hinausgehende Rolle zukommt. Doch zunächst zu dem von Nietzsche benutzten, sehr anschaulichen Beispiel. Er unterscheidet zwischen einem rationalen Recht, wobei ihm das römische Recht als typisches Beispiel gilt, und einem traditionellen, überlieferten Recht, wofür Nietzsche das germanische Recht anführt. „Die Juristen streiten, ob das am vollständigsten durchdachte Recht oder das am leichtesten zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste, dessen höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien als unverständlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner Rechtsempfindung. Die Volksrechte, wie zum Beispiel die germanischen, waren grob, abergläubisch, unlogisch, zum Theil albern, aber sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und Empfindungen.“44 44
Nietzsche, MA I 459; KSA 2 S. 297.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Nietzsche nimmt keine klare Position ein, schlägt sich nicht auf eine Seite in dem vermeintlichen Streit, aber er versucht, einen Unterschied deutlich zu machen, der gravierende Folgen hat. Das komplexe römische Recht wirkt auf den Laien in seiner Abstraktheit fremd, undurchschaubar. Und an dieser Stelle tritt wieder der Psychologe Nietzsche in Erscheinung. Die Entfremdung von einem komplizierten und dem Laien unverständlichen Recht führt zu einem Risikofaktor in jeder Rechtsordnung. Nietzsche geht allerdings schon einen Schritt weiter, wenn er attestiert, dass seinen Zeitgenossen das herkömmliche Rechtsgefühl fehlt. So setzt sich die obige Stelle fort: „Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist, da kann es nur befohlen, Zwang sein; wir haben Alle kein herkömmliches Rechtsgefühl mehr, desshalb müssen wir uns Willkürsrechte gefallen lassen, die der Ausdruck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht geben müsse.“45
Die Auswirkungen des fehlenden, herkömmlichen Rechtsgefühls sind immens. Nietzsche macht treffsicher auf eine Problematik aufmerksam, die sich noch heute im Aufschrei der Bürger findet, wenn eine Strafe vermeintlich zu milde ausfällt, ein vermeintlich zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilter Mörder nach fünfzehn Jahren freikommt oder ein zivilrechtlicher Prozess aus Gründen verloren geht, die sich dem Verständnis der Beteiligten entziehen. Wenn die Bürger das für sie geltende Recht nicht verstehen („Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand“), ist seine Durchsetzbarkeit und letztlich sein Bestand in Gefahr. Durch die Entfremdung der Bürger vom geltenden Recht mangels Nachvollziehbarkeit geht für Nietzsche eine Gefahr für den Bestand des Rechts aus – was in seinem Rechtsverständnis, bei dem Rechtszustände keine Dauerzustände sind, als durchaus normal und dem fortlaufenden Wandel geschuldet anzusehen ist. In diesem Zusammenhang wird auch noch auf den Schutz einzugehen sein, den der Staat dem Straftäter vor den unmittelbar Betroffenen gewährt. Denn auch dieser spezielle Schutz hat einen langen Weg des Wandels hinter sich und ist für die Verletzten einer Straftat nicht immer nachvollziehbar. Wenn die aktuelle Rechtsordnung nicht mehr mit dem Moralgefühl der Menschen übereinstimmt, dann tut sich an dieser Stelle ein Graben auf, der nur mittels Zwang geschlossen werden kann. So schreibt Petersen: „[. . .] dass das Recht für Nietzsche aus dem Herkommen und den Sitten eines Volkes begründet ist; das abhanden gekommene herkömmliche Rechtsgefühl repräsentiert ursprünglich auch die Moralvorstellungen der dem Recht Unterworfenen.“46 45 46
Ebd. Petersen, S. 76.
III. Die Bedeutung des Herkommens für das Recht
29
Dieser hier angesprochene Gleichklang von Moralvorstellungen einer Zeit und dem seinerzeitigen Recht ist dahin. Nietzsche attestiert ein fehlendes, herkömmliches Rechtsgefühl. Mit seiner Ansicht nach gravierenden Auswirkungen. Das Recht erhält die Eigenschaft eines von außen gesetzten Rechts, zu dem der Bezug von den dem Recht Unterworfenen nicht mehr von innen hergestellt werden kann. Allein die Einsicht in die Notwendigkeit eines Rechts lässt das von außen gesetzte, logische und abstrakte Recht als notwendiges Übel erscheinen, mit dem sich der Mensch abfinden muss. Allerdings ändert auch diese Einsicht bei Nietzsche nichts daran, dass ihm dieses Recht in seiner Gesetztheit fremd vorkommt und daher einen willkürlichen Charakter annimmt. Nietzsche bringt im Folgenden mit den Begriffen „Zwang“ und „Willkür“ diese Entfremdung zum Ausdruck. Der oben zitierte Aphorismus trägt den passenden Titel „Willkürliches Recht nothwendig“47. Petersen schreibt entsprechend: „Freilich ist es [das Juristenrecht römischer Prägung] durch diese Eigenschaften [Logik und innere Folgerichtigkeit] und die Einsicht in die Notwendigkeit gleichsam als notwendiges Übel auch hinnehmbar, was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass es Nietzsche aufgrund seiner Fremdheit willkürlich vorkommt. Nietzsche bedenkt das ihn daran Abstoßende bewusst mit den harten Worten des Zwangs und der Willkür.“48
Nietzsche sieht im Fehlen eines herkömmlichen Rechtsgefühls die Problematik einer Entfremdung von einem von außen gesetzten logischen Juristenrecht, welches damit einen Zwangscharakter nötig hat, um durchsetzbar zu bleiben. Und dabei schwer an seiner Willkürlichkeit zu tragen hat. Die Gefahr für die Rechtsordnung ergibt sich für Nietzsche aus der Bedeutung des Herkommens für das aktuelle Recht. Das Herkommen stellt bei Nietzsche einen konstitutiven Aspekt des aktuellen Rechts dar. Nietzsche versucht, dem Recht auf den Grund zu gehen und wirft den Blick weit in die Vergangenheit des Rechts. Das dabei Gesehene wirkt als Herkommen des Rechts auch aktuell fort. Zutreffend konstatiert Petersen: „Der Ursprung des Rechts ist für Nietzsche nach dem bisher Bedachten mehr als nur ein historisches Faktum, sondern wirkt für das Verständnis des Rechts fort. Das Herkommen ist daher nicht nur erklärend, sondern auch konstitutiv für das Recht.“49
Das Herkommen ist für Nietzsche immer auch im aktuellen Recht zu berücksichtigen, ist Teil des aktuellen Rechts und konstituiert selbiges mit. Insbesondere ist festzuhalten, dass Nietzsche nicht die klassische Unterscheidung von Moral und Recht trifft, sondern vielmehr auf die Verwoben47 48 49
Nietzsche, MA I 459; KSA 2 S. 297. Petersen, S. 100. Petersen, S. 87.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
heit dieser Aspekte hinweist. Das Herkommen stellt im Hintergrund als Vergangenheit eine Übereinstimmung von Recht und Moral her. Petersen hebt hervor, dass der Berufung Nietzsches auf das Herkömmliche im Recht etwas ganz Eigenes anhafte und nicht mit einer bloßen historischen Betrachtung gleichgesetzt werden kann.50 Nietzsche weist an einer Stelle in „Menschliches, Allzumenschliches“ über das Herkommen als Ursprung der Rechte hinaus auf ein diesem noch zugrunde liegendes Abkommen hin und transzendiert damit schon mit seiner Wortwahl eine bloße historische Betrachtung: „Ursprung der Rechte. – Die Rechte gehen zunächst auf Herkommen zurück, das Herkommen auf ein einmaliges Abkommen.“51
An dieser Stelle scheint Nietzsche zwar das Herkommen zum Ursprung des Rechts überhaupt zu erklären52. Allerdings schließt sich sofort ein weiterer Verweis auf einen noch davor liegenden Ursprung an. Nietzsche gibt in der oben zitierten Stelle selbst einige Hinweise auf den Charakter dieses Abkommens: „Man war irgendwann einmal beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich zu erneuern; so lebte man fort, wie wenn es immer erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf dem jedes Geschlecht weiterbauen müsse. Das Herkommen war jetzt Zwang, auch wenn es den Nutzen nicht mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen gemacht hatte.“53
Nietzsche charakterisiert das ursprünglich getroffene Abkommen als an einem damit verbundenen Nutzen orientiert. Petersen weist auf diese Stelle bezogen zutreffend darauf hin, dass hier von Nietzsche „zugleich der vertragstheoretische Anfangsgrund des Rechtsverständnisses berührt“54 wird. Nietzsche hält dabei erste Parameter fest, die dieses ursprüngliche Abkommen beeinflussen. So betont das Wort „beiderseitig“ den vertraglichen Charakter des getroffenen Abkommens. Der im letzten Satz angesprochene „Nutzen“ wird als Grund für das ursprüngliche Abkommen genannt. Die Vergesslichkeit, die im Folgenden noch als Gegenspielerin des Gedächtnisses und des Versprechens bedeutsam wird, wird weiterhin als Ursache für den nunmehrigen Zwangscharakter der einmal getroffenen Vereinbarung dargestellt. Und dass keine beständige Aktualisierung der Vereinbarung stattgefunden hat, begründet Nietzsche mit dem allzumenschlichen Charak50 51 52 53 54
Vgl. Petersen, S. 96. Nietzsche, MA II 2, 39; KSA 2 S. 569. So auch Petersen, S. 103. Nietzsche, MA II 2, 39; KSA 2 S. 569. Petersen, S. 103.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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terzug der Faulheit, die sich aus der Zufriedenheit mit der Vereinbarung ergeben hat. So auch Petersen: „Die Rechtsbegründung mutet durchaus lapidar an; rechtstheoretisch betrachtet, geht das kontraktualistische und damit normative Moment in ein faktisches, nämlich durch bloßen Zeitablauf ohne erneute normative Intervention über – einfacher gesagt: das ursprüngliche Abkommen perpetuiert sich durch reine Bequemlichkeit.“55
Petersen beschreibt hier die normative Kraft des Faktischen, die Nietzsche mit der Faulheit und dem Vergessen begründet, indem die Menschen passiv blieben und alles beim Alten gelassen haben. Dabei aber transportiert sich die ursprüngliche Bedeutung des Abkommens – auch wenn sie vergessen wurde – in die aktuelle Version des Rechts. Das aktuelle Recht ist zu einem gewissen Anteil auch Herkommen, das Recht wurzelt im Herkommen, im Ursprünglichen. Der Ursprung des Rechts liegt demnach auch in einem konstitutiven Sinne zu einem gewissen Teil im Herkommen. Will man jedoch dieser Ursprünglichkeit auf den Grund gehen, dann weist Nietzsche deutlich auf eine weitere Stufe der Entstehungsgeschichte hin. Welches Gewicht auch immer das Herkommen für das jeweils aktuelle Recht hat und wie groß auch immer der konstitutive Anteil sein mag, Nietzsche schickt den Leser auf der Suche nach dem Ursprung des Rechts, dem Entstehungsgrund des Rechts auf eine Reise zu einer noch davor liegende Entstehungsphase. Dabei drängt sich die Frage auf, welches Abkommen hier getroffen wurde. Es gilt die Geburtsstunde des Rechts bei Nietzsche festzustellen – den Anfang, den Ursprung, aus dem sich das Herkommen entwickeln konnte, den Anfang, der vergessen werden konnte – und den Nietzsche wieder in die Betrachtung einstellen will.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag Nachdem oben bereits dargestellt wurde, dass Nietzsche der Überwältigung durch einen Stärkeren zwar eine gewisse staatsgründerische Rolle zukommen lässt, aber zunächst einmal nur eine Aufrichtung von Gesetzen annimmt, gilt es im Folgenden die Geburtssituation des Rechts in seiner aphoristischen Philosophie dingfest zu machen. Nietzsche wirft zunächst einen Blick auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier. Er findet die griffige Formulierung, dass sich der Mensch als Tier offenbart, das versprechen kann. Und ohne diese Fähigkeit wäre für Nietzsche die Entstehung von Recht schlicht nicht denkbar. 55
Ebd.
32
B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
1. Das Tier, das versprechen kann Zu Beginn der Zweiten Abhandlung der „Genealogie der Moral“ kommt Nietzsche auf diese elementare Fähigkeit des Menschen zu sprechen. Diesbezüglich weist Thüring darauf hin, dass in diesem Werk Nietzsches „Gedächtnis“ und „Recht“ als eigene Themen auftauchen, die bis dahin vor allem den Notizbüchern vorbehalten waren.56 Und die beiden Begriffe werden nicht nur in einem veröffentlichten Werk explizit thematisiert, sie sind auch eng miteinander verbunden. „Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?“57
Im Folgenden führt Nietzsche weniger die Fähigkeit des Versprechens aus, sondern stellt dieser Fähigkeit zunächst einmal die entgegenwirkende Kraft der Vergesslichkeit gegenüber. Dabei erkennt Nietzsche eine funktionale Wichtigkeit dieser Kraft für den Menschen. „Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn ‚Einverseelung‘ nennen) ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte ‚Einverleibung‘ abspielt. Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen; [. . .] ein wenig tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues, [. . .] – das ist der Nutzen der, wie gesagt, aktiven Vergesslichkeit, einer Thürwärterin gleichsam, einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der Ruhe, der Etiquette: womit sofort abzusehn ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergesslichkeit.“58
Nietzsche beschreibt das Vergessen als wichtigen, aktiven Vorgang und war damit seiner Zeit und deren Forschungsstand weit voraus. So berichtete die Süddeutsche Zeitung erst jüngst über Erkenntnisse der Neurowissenschaften, welchen Aufwand das Gehirn betreibt, um Erinnerungen zu löschen. Yi Zhong von der Universität Peking folgert aus seinen Experimenten, dass das Vergessen ein aktiver Vorgang ist und so auch beim Menschen abläuft. Und Zhong beschreibt exakt auch Nietzsches Vorgehen wenn er sagt: „Wir beginnen Erinnerungen zu verstehen, wenn wir das Vergessen erforschen.“59 56 Vgl. Hubert Thüring, Das Gedächtnis als Grund und Abgrund des Rechts bei Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 57. 57 Nietzsche, GM II 1; KSA 5 S. 291. 58 Ebd.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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Die von Nietzsche so trefflich als überlebenswichtig und aktiv gezeichnete Vergesslichkeit steht ihrem direkten Gegenspieler gegenüber – dem Gedächtnis, der Erinnerung. Mit dem Gedächtnis soll in bestimmten Fällen die Vergesslichkeit ausgehebelt werden, namentlich in den Fällen, in denen versprochen werden soll. Nietzsche sieht an dieser Stelle auch in der Fähigkeit des Gedächtnisses kein bloß passives Nicht-vergessen, sondern vielmehr ein Nicht-vergessen-Wollen als eine wiederum – wie auch schon die Vergesslichkeit – aktive Fähigkeit des Menschen. „[. . .] ein Gedächtnis, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, das versprochen werden soll: somit keineswegs bloss ein passivisches Nicht-wieder-los-werden-können des einmal eingeritzten Eindrucks, [. . .] sondern ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches Gedächtnis des Willens: [. . .].“60
Im Folgenden geht Nietzsche den dafür notwendigen erlernten Fähigkeiten des Menschen weiter auf den Grund, indem er vor allem beschreibt, dass der Mensch, um über die Zukunft verfügen zu können, zunächst einmal das notwendige vom zufälligen Geschehen unterscheiden lernen musste, mithin kausal denken lernen musste. Nietzsche findet für das Versprechen auch den Begriff des „langen Willens“, der weitere neue Dinge und Umstände überdauert. Der einzelne Mensch geriert sich als das „souveraine Individuum“, das einen eigenen, unabhängigen, langen Willen hat und so versprechen darf61. Der einzelne Mensch begreift sich mithin als Herr des freien Willens, allem überlegen, was nicht versprechen darf. Auf die individuelle Verantwortlichkeit des Einzelnen wird unten im Kapitel zur Strafe noch einzugehen sein. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass der Mensch in Nietzsches Augen zunächst gegen seine Vergesslichkeit das Gedächtnis aufbauen musste und dass damit eine Willensäußerung möglich wird, die dem einzelnen ermöglicht, ein in die Zukunft gerichtetes Versprechen abzugeben, an dem er sich in der Zukunft auch festhalten lassen muss. Ohne die die Vergesslichkeit aushebelnde Fähigkeit des Gedächtnisses wäre ein „pacta sunt servanda“ nicht möglich. Und gerade in dem Verweis auf die ursprünglichen Vertragsverhältnisse von Kauf, Verkauf, Tausch und Handel betont Nietzsche das Versprechen: „Hier gerade wird versprochen; hier gerade handelt es sich darum, Dem, der verspricht, ein Gedächtniss zu machen; [. . .].“62 59 Süddeutsche Zeitung vom 19.02.2010, „Die Kunst des Vergessen“, mit weiterem Nachweis (Cell, Bd. 140, S. 579, 2010). 60 Ebd., S. 292. 61 Vgl. Nietzsche, GM II 2; KSA 5 S. 293. 62 Nietzsche, GM II 5; KSA 5, S. 298.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Diese für Nietzsche ursprünglichen Vertragsverhältnisse sind es demnach, die das Versprechen erfordern, die nach dieser menschlichen Fähigkeit verlangen. So schreibt zu der gerade zitierten Stelle Henry Kerger: „Nietzsche hebt als besonderes Wesensmerkmal des Vertrages als Ursprung des Rechtsverhältnisses von Person gegen Person das Versprechen hervor. [. . .] Nietzsche betont, daß es galt, dem Versprechenden ein ‚Gedächtnis zu machen‘, damit er der bindenden Kraft des Versprechens erinnerlich bleibt.“63
Diese Bindung an das Versprechen sollte nach Nietzsche durch Zwangsund Strafmöglichkeiten des Gläubigers erreicht werden. Kerger verweist in diesem Zusammenhang auf eine Parallele zu Rudolf von Jhering, der ebenfalls auf die Möglichkeit von Zwangsbefugnissen hingewiesen hat.64 Die elementare Fähigkeit des Menschen zu versprechen, gilt es als Grundvoraussetzung auch für die folgenden Kapitel festzuhalten, da sie sich als erste, gemeinsame Komponente der Geburtsstunde des Rechts, der Situation der Gerechtigkeit und der Herkunft des Strafens in der Philosophie Nietzsches erweisen wird. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang auch vom „Privilegium der Verantwortlichkeit“.65 Zumindest meint der Mensch, aufgrund seiner Fähigkeit, versprechen zu können, seine Zukunft auch frei disponieren zu können – und empfindet die Verantwortlichkeit für sein Tun als Privileg, legt diese als Freiheit aus. Aber der Mensch hält sich nur für frei, ist es jedoch für Nietzsche nicht.66 2. Die Entstehung des Rechts aus der Machtabschätzung Zunächst ist hier die Frage zu stellen, inwieweit die Entstehung des Rechts bei Nietzsche und seine Ausführungen zum Beginn der Gerechtigkeit überhaupt getrennt werden können. So verwendet Gerhardt in seinem Beitrag „Das Princip des Gleichgewichts“ die Begriffe variierend67. Kerger geht dabei so weit, die Verwendung der Begriffe bei Gerhardt in einer entsprechenden Fußnote als „unklar“ zu bezeichnen.68 Für die weitere Untersuchung der Ursprungssituationen von Recht und Gerechtigkeit in Nietzsches Philosophie muss der Blick gerade in dieser 63 64 65 66 67 68
Henry Kerger, Autorität und Recht im Denken Nietzsches, S. 15. Kerger, Autorität und Recht, S. 15. Nietzsche, GM II 2; KSA 5, S. 294. Vgl. Nietzsche, MA I 39; KSA 2, S. 64. Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 116 ff. Kerger, Autorität und Recht, S. 39 Fußnote 38.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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Hinsicht besonders geschärft sein. Wie bereits ausgeführt, stützt Nietzsche seine Genese des Rechts nicht auf ein Naturrecht des Stärkeren. Vielmehr gilt ihm der Naturzustand als ein rechtloser Zustand. Die darauf zunächst folgende Staatengründung ist für Nietzsche nicht viel mehr als ein blutiges Überwältigen des Schwächeren. Hier werden zwar Regeln für die Unterworfenen aufgestellt, aber auch hier entsteht noch kein Recht, sondern es herrscht bloße Dominanz durch faktische Überlegenheit. Selbstredend können die Begriffe Recht und Gerechtigkeit bei Nietzsche nicht synonym gebraucht werden. Allerdings fällt auf, dass Nietzsche, bezogen auf den Entstehungsgrund, für beide Begriffe eine ähnliche, wenn nicht gleiche Ursprungssituation schildert. In Bezug auf das Recht sei das von Nietzsche gefundene Ergebnis zunächst vorangestellt: „Ohne Vertrag kein Recht.“69
Wie es zu diesem Vertrag kommt, wird Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung sein. Daneben soll Nietzsche noch mit einem weiteren klaren Statement das Folgende einleiten: „Es giebt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.“70
Die Natur gibt für Nietzsche kein Recht. Der ursprüngliche Naturzustand gilt Nietzsche als rechtloser. Das Recht bedarf eines Vertragsschlusses. Gerhardt spricht diesbezüglich von einem spezifisch menschlichen Charakter des Rechts.71 Dass Nietzsche kein von der Natur begründetes oder gegebenes Recht des Stärkeren annimmt, wurde bereits dargestellt. Nietzsche unterscheidet an der Stelle, an der der Vertrag als Ursprung des Rechts genannt wird – übrigens im Rahmen einer Betrachtung des aufkommenden Sozialismus als politischer Strömung – die Frage nach der Macht und die nach dem Recht. Die Machtfrage stellt sich im Rahmen des „politischen Kräftespiels“72, und Nietzsche verweist hier auf die Naturmacht des Dampfes, der entweder in einer Maschine bezwungen und kontrolliert wird, oder durch einen menschlichen Fehler diese Maschine sprengt und den Menschen dabei gleich mit tötet.73 Streng von der reinen Macht, der bloßen Kraft unterscheidet Nietzsche den Begriff des Rechts: „Ein Recht gewinnt sich der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein 69 70 71 72 73
Nietzsche, MA I 446; KSA 2, S. 290. Nietzsche, MA II 2, 31; KSA 2, S. 563. Gerhardt, Prinzip des Gleichgewichts, S. 99. Nietzsche, MA I 446; KSA 2, S. 290. Ebd.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag entstehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg, noch Verträge, also auch keine Rechte, kein ‚Sollen‘.“74
Nietzsche verweist demnach im Unterschied zu einer reinen Machtfrage auf eine komplexere Ausgangssituation der Entstehung von Rechten. Dabei bringt er einige Faktoren ins Spiel, die jedenfalls einer genaueren Betrachtung bedürfen. Zum einen spricht er von „Krieg“. Er hätte aber auch den Begriff der Auseinandersetzung oder des Kampfes, des Konfliktes benutzen können. Nachfolgend wird sich zeigen, dass es sich dabei für Nietzsche um eine Voraussetzung in der Begegnung von unterschiedlichen Mächten handelt, die dadurch in die Situation gebracht werden, ihre Macht gegenseitig abzuschätzen. Es ist also eine Konfliktsituation festzuhalten. Daneben scheint es für Nietzsche ein „kluges Rechnen“ zu geben. Es stellt sich natürlich die Frage, was hier gerechnet wird und was mit der „Erhaltung und Zuträglichkeit“ auf beiden Seiten gemeint ist. Denn daraufhin kommt es erst zu einem Verlangen nach einem Vertrag, nach einem Vertragsschluss. Und erst wenn es zu einem solchen kommt, entsteht für Nietzsche Recht. Es findet also eine Rückführung auf eine elementare Situation des Vertragsschlusses zwischen zunächst einmal zumindest zwei Parteien statt. Zu dieser Grundkonstellation schreibt Nietzsche im Rahmen seines Entwurfs der Herkunft von Schuld: „Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unserer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person.“75
Nietzsche weist an dieser Stelle zum einen auf die Grundkonstellation zwischen zwei Personen hin, die sich gegenüber treten. Aber er bringt auch noch einen weiteren aktiven Vorgang ins Spiel: die beiden sich gegenüberstehenden Personen messen sich aneinander. An der oben zitierten Stelle aus „Menschliches, Allzumenschliches“ ist von einem „klugen Rechnen“ die Rede. Dies wird mit dem Maßnehmen oder Abschätzen verbunden werden müssen. Denn es wird die Frage zu klären sein, wie man klug rechnet? Und: kann man sich in den Augen Nietzsches auch verrechnen? Doch zunächst ist Nietzsches Begriffswahl noch einmal näher zu betrachten. Nietzsche spricht nicht von zwei Menschen, die sich gegenüberstehen und sich aneinander messen, sondern von zwei Personen. In diesem Zusammenhang hat Kerger aufgezeigt, dass Nietzsche mit den Schriften Rudolf 74 75
Ebd. Nietzsche, GM II 8; KSA 5, S. 305.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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von Jherings bestens vertraut war.76 Kerger weist, auf diese Stelle bezogen, darauf hin, dass Nietzsches Ausführungen mit denen Jherings über das Wesen des Vertrages im römischen Recht übereinstimmen, da dort ein Vertragsschluss nach Jhering nur mit der persona als Rechtssubjekt, nicht jedoch mit dem homo, dem Sklaven, möglich war.77 Inwieweit diese Definition nicht bereits Nietzsches Verständnis einer Entstehung von Recht im Sinne einer Anerkennung des anderen als Rechtssubjekt vorwegnimmt, wird noch zu untersuchen sein. Allerdings ergibt sich aus einer Gesamtschau der Textstellen bei Nietzsche nicht, dass seine Verwendung des Begriffes „Person“ in diesem Sinne streng definiert verstanden werden muss. Es ist sicher eine gewisse Nähe in Nietzsches Formulierungen zu Jhering nicht von der Hand zu weisen.78 Besonders hervorzuheben ist der Blick Nietzsches auf die Antike und das römische Recht und die darin liegende Möglichkeit, dass einem Menschen, der nicht persona in diesem Sinne ist, keine Rechte zugesprochen werden. Da es für Nietzsche kein Naturrecht gibt, sondern es vielmehr immer eines Vertragsschlusses bedarf, kann bei Nietzsche in der bloßen Verwendung des Begriffes Person („hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person“79) auch unter Bezug auf Jhering80 noch keine Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt abgeleitet werden. Vielmehr kann es durchaus zu einer gegenseitigen Abschätzung der Machtverhältnisse der Personen (eben auch im Sinne von Parteien) kommen, die im Ergebnis die eine Person zu dem Schluss kommen lässt, dass die andere Person hoffnungslos unterlegen ist und damit überrannt werden kann und ihr damit gerade keinerlei Rechte zugestanden werden. Eine Unterscheidung in homo und persona trifft Nietzsche gerade nicht. Zurück zum Maßnehmen. Nietzsche geht es darum aufzuzeigen, dass die beteiligten Personen bzw. Parteien jeweils ihre Macht aneinander messen. So heißt es in der „Genealogie der Moral“: 76
Kerger, Autorität und Recht, passim. Vgl. Kerger, Autorität und Recht, S. 12. 78 Auf die näheren Parallelen zwischen Nietzsche und Jhering wird im Laufe der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen, siehe dazu die Arbeit von Kerger. Es finden sich bei Jhering diverse Begriffe und Konstellationen, die Nietzsche zumindest als Denkanregung aufgenommen hat. Vgl. weiterführend auch zu den rechtstheoretischen Quellen, derer sich Nietzsche bedient hat: Andrea Orsucci, Strafe und Ressentiment, Nietzsches Rechtsverständnis und einige seiner Quellen, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 195. 79 Nietzsche, GM II 8; KSA 5, S. 305. 80 Vgl. zu der Beschäftigung Nietzsches mit Jhering auch Henry Kerger, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/ Weimar 2000, S. 307. 77
38
B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
„[. . .] der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das ‚abschätzende Thier an sich‘. [. . .] zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen.“81
In dieser an das Zwei-Personen-Verhältnis angelehnten Situation messen die Beteiligten ihre Macht aneinander. Damit bringt Nietzsche in die Geburtsstunde des Rechts die Dynamik und Relativität hinein, die ihm so entscheidend wichtig ist bei der Beschreibung des zutiefst menschlichen Phänomens Recht. Aber an welche Situation denkt Nietzsche dabei genau? Jedenfalls eine kämpferische, eine Auseinandersetzungssituation. Wie bereits gesehen, hat der eindeutig Überlegene nichts mit Verträgen zu schaffen, er empfindet keinerlei Verlangen nach einem Vertrag. Der Gegner, der dem eigenen Willen im Weg steht, wird schlicht überrannt. Also bedarf es bei dem Ergebnis des gegenseitigen Messens auch eines ganz bestimmten Ergebnisses. Nietzsche spricht dabei von einem Prinzip des Gleichgewichts. Es muss in der Abschätzung zu einer gewissen Gleichheit der Machteinschätzungen kommen. Doch zunächst zurück zu der maßnehmenden Situation selbst, die ja erst das Ergebnis einer vermeintlichen Gleichgewichtigkeit bringen kann. a) Das Maßnehmen der Mächte In der von Nietzsche gedachten Grundsituation treffen mindestens zwei Parteien aufeinander, zwischen denen es zu einer Auseinandersetzung kommt, zu einer Kollision ihrer Willen. Entscheidend für das Verständnis Nietzsches ist es, die Relativität und Dynamik in dieses Kräftemessen einzubeziehen, die durch das gegenseitige Maßnehmen in diesen Prozess hineingetragen wird. Über den Ausgang des Kampfes, der Auseinandersetzung entscheidet nicht die faktische Stärke der Parteien. Entscheidendes Moment ist die perspektivische, subjektive Sicht der Parteien auf die eigene Stärke und die Stärke des anderen. Es geht diesbezüglich um eine Schätzung – der eigenen Möglichkeiten und der Möglichkeiten des Gegenübers. Gerhardt spricht in diesem Zusammenhang von Machtschätzungen: „Recht ist das Produkt wechselseitiger, auf künftige Handlungen projizierter Machtschätzungen. Die Schätzungen bewegen sich im Medium gegenseitiger Anerkennung von Aktionspotentialen vor dem Hintergrund der Selbsterhaltung. Machtschätzungen dieser Art sind eben das, was die Soziologie heute unter ‚Handlungserwartungen‘ zu fassen sucht.“82 81
Nietzsche, GM II 8; KSA 5, S. 306.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
39
Bei den gegenseitigen Machtschätzungen handelt es sich um Interpretationen. Gerade nicht die objektive Kraftverteilung ist entscheidend, sondern die subjektiv geschätzte, geglaubte Kraftverteilung. „Die wechselseitig ‚geglaubte Macht‘, nicht das Faktum brutum irgendeiner Kraftverteilung, ist der Ursprung der Gerechtigkeit. Ausschlaggebend ist die Stellung der Menschen zu den eigenen und fremden Kräften, ihr Urteil, ihre Wertschätzung oder, wie man im Hinblick auf spätere Funktionen des Willens zur Macht auch sagen kann, ihre Interpretationen.“83
Diese jeweils subjektive Sichtweise der Parteien macht eine enorme Bandbreite der Ergebnisse der Machtschätzungen möglich. Nietzsche trägt damit nicht nur seiner menschlich-subjektiven Sicht auf die Welt Rechnung, sondern liefert in dieser dynamischen Auseinandersetzungssituation auch die Möglichkeit für objektiv nicht richtige Schätzungen – denn er lässt damit auch die Möglichkeit der Täuschung des anderen zu. Eine Möglichkeit, die dem Philosophen des Menschlich-Allzumenschlichen sicher bewusst war. Und wichtig. Denn die Dynamik dieses Kräftemessens liegt nicht in der Entfesselung der wahren Kräfte, sondern vielmehr in der subjektiven Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und der des Gegenübers. Hier sind sowohl Täuschung als auch Irrtum oder Fehlinterpretationen möglich. Darüber hinaus erhalten auch zutiefst menschliche Gefühle wie Hoffnung und Angst Zugang zu dieser Situation des Abschätzens. Die Hoffnung beeinflusst die Selbsteinschätzung und die des Opponenten. Aber auch die Angst – vor der eigenen Schwäche oder der gegnerischen Stärke. Und damit erhält noch ein weiterer Begriff Zugang zu dieser Situation: der der Information. Denn um die eigenen und die gegnerischen Möglichkeiten einschätzen zu können, muss der Einschätzende diese kennen. Und dabei handelt es sich um Informationen. Und diese können natürlich – falsch sein. Nietzsche öffnet hier dem Allzumenschlichen die Tür zu der Entstehungskonstellation des Rechts. Das gegenseitige Abschätzen der Macht und der Möglichkeiten bringt die menschliche, subjektive und relative Komponente in die Entstehungssituation des Rechts. Nietzsche macht seine Sicht auf diesen entscheidenden, abschätzenden Charakter noch einmal zusammenfassend deutlich, indem er den lateinischen Satz vom Ursprung des Rechts aus der Macht, den er als „berühmt“84 82
Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 116. Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 115 f. (An diesen beiden zitierten Stellen wird erneut deutlich, dass Gerhardt die Begriffe „Recht“ und „Gerechtigkeit“ austauschbar verwendet.). 84 Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 91. 83
40
B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
bezeichnet, umformuliert. Ob diese Formel wirklich so alt und berühmt ist, wie Nietzsche dies suggeriert mag mit Gerhardt angezweifelt werden.85 „Das Recht geht ursprünglich so weit, als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur).“86
Demnach spricht Nietzsche noch einmal aus, dass jemand nicht so viel Recht hat, wie er Macht hat, sondern wie viel man ihm an Macht zugesteht. Auf die Möglichkeiten der Schwächeren in dieser Situation und den spezifischen Zusammenhang mit der Selbsterhaltung in der Abschätzung des Überlegenen wird noch einzugehen sein. Der Unterschied in den Machtgraden ist für Nietzsche ein quantitativer, basierend auf der subjektiven Schätzung der Beteiligten, die ihren Blick sowohl auf ihre eigenen Kräfte als auch auf die der anderen richten müssen. Nietzsche schreibt in der „Morgenröthe“: „Nur auf Das, was in unsrer Macht steht, können sich die Rechte Anderer beziehen; es wäre unvernünftig, wenn sie Etwas von uns wollten, das uns selber nicht gehört. Genauer muss man sagen: nur auf Das, was sie meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht. Es könnte leicht auf beiden Seiten der gleich Irrthum sein: das Gefühl der Pflicht hängt daran, dass wir in Bezug auf den Umkreis unserer Macht den selben Glauben haben, wie die Anderen: nämlich dass wir bestimmte Dinge versprechen, uns zu ihnen verpflichten können.“87
Nietzsche weist hier auch auf den möglichen Irrtum in der Machtschätzung hin. Dieser müsste sich im Rahmen eines Vertrages, also der gegenseitigen Begründung von Pflichten, nur decken, um die Anerkennung von 85 Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 114 f. („Die ‚berühmte‘ Formel ist allerdings noch nicht so alt, wie es dem Kontext nach, der sich noch immer auf den Peloponnesischen Krieg bezieht, erscheinen könnte. Sachlich gibt es die Herleitung des Rechts aus der Macht zwar seit der Antike, aber als bündige These findet sich der Satz erst bei Luther, der ihn als exegetischen Zusatz zu einer alttestamentarischen Textstelle einfach hinzufügt: Es gehet Gewalt über Recht. Ausdrücklich verteidigt und begründet hat die These dann Spinoza, in dessen Tractatus politicus sich auch die lateinische Version nachlesen lässt. Nietzsche kannte diese Stelle durch die bestätigende Paraphrase Schopenhauers im § 124 der Parerga und Paralipomena. Schopenhauer verweist auf Hobbes und Machiavelli als die geistigen Väter dieser Formel. Berühmtheit hat der Satz vermutlich durch Goethes Faust erlangt, worin Mephisto sich zum Anwalt der spinozistischen Formel macht, und zum geflügelten Wort wurde er wohl erst zu Nietzsches Zeiten, und zwar gerade im Entstehungsjahrzehnt von Menschliches, Allzumenschliches, nachdem nämlich Bismarck immer wieder als Protagonist dieser Formel gescholten wurde.“) 86 Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 90 f. 87 Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 100.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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Rechten nicht zu verhindern. Beide Parteien müssen nur derselben falschen Auffassung von den jeweiligen Möglichkeiten sein. Und so wird die Abschätzung – sei sie auch fehlerhaft – Teil des Versprechens in dem Sinne, dass der andere auch glaubt, dass das Versprochene erfüllt und eingehalten werden kann. Petersen spricht in diesem Zusammenhang von einer hypothetischen Machtprobe, in deren Rahmen es zu einer Prognose von Machtansprüchen kommt: „In der Tat ist das an den gegenwärtigen und zukünftigen Machtverhältnissen ausgerichtete Verhältnis der Diagnose und Prognose von Machtansprüchen der gedankliche Ausgangspunkt und die Prämisse der Gerechtigkeitsvorstellung Nietzsches [. . .].“88
Petersen bringt hier interessante Begriffe ins Spiel, wenn er von der Diagnose und Prognose von Machtverhältnissen und Machtansprüchen spricht. Er macht hier die Dimensionen sichtbar, in denen die Machtabschätzung in dieser hypothetischen Machtprobe abläuft. Zunächst einmal müssen die beiden Parteien einen Blick auf die gegenwärtigen Machtverhältnisse werfen. Es findet eine Diagnose der aktuellen Machtverhältnisse statt – wie bereits ausgeführt – der eigenen und der des Gegenübers. Daran anschließend werfen die Parteien einen Blick in die Zukunft und wagen eine Prognose der zukünftigen Machtverhältnisse. Wiederum in Bezug auf die eigenen Möglichkeiten und die des Gegenübers. Bis zu diesem Punkt müssen bereits vier Einschätzungen getroffen werden. Petersen bringt aber noch einen weiteren Aspekt in diesen Vorgang der Machtabschätzung, indem er die Diagnose und Prognose auch auf die Machtansprüche angewendet sehen will. Die Parteien müssen demnach zusätzlich auch noch abschätzen, welche Ansprüche sie selbst stellen können und welche Ansprüche das Gegenüber stellen wird. Es kommen also noch zwei weitere Einschätzungen hinzu. Zum einen über die eigenen Ansprüche, die verfolgt werden sollen und zum anderen über die potentiellen Ansprüche des Gegenübers. Hier wird deutlich, wie komplex diese hypothetische Machtprobe gedacht werden muss, und vor allem auch, wie viele Einschätzungen hier vorgenommen werden müssen. Und jede dieser Einschätzungen bildet die Dynamik und Aktivität dieser Situation ab. Und jede dieser dynamischen Momente stellt ein Einfallstor für Fehler, Irrtümer, Hoffnungen, Ängste und 88 Petersen, S. 50; auch Petersen spricht an dieser Stelle von Gerechtigkeit, die abschätzende Situation bezieht sich bei Nietzsche allerdings auch und ursprünglich auf die Genese des Rechts.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Zweifel dar. Wie bereits angesprochen kommt dabei den verfügbaren Informationen grundlegende Bedeutung zu. Denn nicht nur die Diagnosen und Prognosen können falsch oder fehlerhaft sein, schon die zugrunde gelegten, vermeintlichen Fakten können es sein. Es gilt festzuhalten, dass sich die von Nietzsche als Ursprungssituation des Rechts gedachte Konfliktsituation in mehrfacher Hinsicht der Beeinflussung der vorzunehmenden Einschätzungen ausgesetzt sieht. Diese Beeinflussungen verdeutlichen den zutiefst menschlichen Charakter des Rechts, den Nietzsche an dessen Ursprung festmacht. Die Situation wird begleitet von menschlichen Faktoren, die die Subjektivität der jeweiligen Parteien widerspiegeln. Nietzsche macht dies noch einmal ganz klar, wenn er in diesem Zusammenhang von einem „Gefühl“ in Bezug auf die eigene Macht und die Macht der anderen spricht. „Das Recht Anderer ist die Concession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen Anderen.“89
Den Begriff des „Gefühls von Macht“ benutzt Nietzsche in dem Kontext, dass die Veränderung der eigenen Macht wie auch der Macht des anderen nach einer ersten Anerkennung von Rechten zu einem veränderten Gefühl von Macht führen kann und damit die Option eröffnet wird, dass einmal zuerkannte Rechte auch wieder abgesprochen werden und Rechtszustände wieder enden.90 Die Entstehungssituation des Rechts ist demnach nicht nur durch subjektive Einschätzungen charakterisiert, welche dazu führen, dass Fehler, Ängste und Hoffnungen berücksichtigt werden müssen, sondern auch von dem – ebenfalls subjektiven – Gefühl bezüglich der eigenen Macht und der Macht des Gegenübers. Damit unterstreicht Nietzsche die Aktivität, Dynamik und Subjektivität der Situation der hypothetischen Machtprobe. Auch Gerhardt macht diesen wesentlich subjektiven Zug in Nietzsches Konzeption deutlich. „Der Urteilsstandpunkt liegt stets in der Macht, die sich im Verhältnis zu einer anderen Macht als gleich beurteilt. Da in diese Schätzung notwendige Mutmaßungen über eigene und fremde Wirkungsmöglichkeiten eingehen und da die Schätzungen auch abhängig von jeweiligen Umständen und Absichten sind, kann man nur von einer ‚ungefähren Gleichheit‘ [. . .] sprechen. [. . .] Die Betonung des ungefähr Gleichen macht auch klar, dass gewisse Unterschiede zwischen den übereinkommenden Rivalen bestehen können. Der physischen Kraft des einen kann die größere List des anderen gegenüberstehen. Mit der Hereinnahme psychischer Faktoren, mit der überlegenen Kenntnis, der Erfahrung, der Beharrlichkeit usw. 89 90
Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 101. Vgl. ebd.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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kommen auch Hoffnungen und Ängste mit ins Spiel, die durch den Begriff der Gewalt gar nicht mehr abgedeckt wären.“91
Mit der „ungefähren Gleichheit“ bezieht sich Gerhardt auf eine Textstelle in „Menschliches, Allzumenschliches“, bei der die „ungefähre Gleichheit“ als Voraussetzung für den Ursprung der Gerechtigkeit genannt wird.92 Das Maßnehmen der Parteien ist also ein viel komplexerer Vorgang als das bloße In-Rechnung-Stellen von objektiven Möglichkeiten oder schlichter Gewalt bzw. Gewaltmöglichkeiten. Und um das noch einmal deutlich zu machen: Nietzsche spricht hier über die Entstehungssituation des Rechts. „So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade.“93
Die gegenseitige Machtabschätzung findet bei Nietzsche im Rahmen der Rechtsentstehung statt. Sie ist Voraussetzung derselben und geht ihr im Verlaufe der von Nietzsche entworfenen Entstehung chronologisch voraus. Dass die so geschaffenen Rechtszustände für Nietzsche keine unveränderlichen Dauerzustände sind, wurde bereits angesprochen und wird noch gesondert darzustellen sein. Aber alleine aus dieser Geburtssituation des Rechts ergibt sich bereits, dass das Recht selbst für Nietzsche als etwas Gemachtes, im Grunde Beliebiges, jedenfalls Relatives erscheint und dabei der Täuschung und dem Betrug Tür und Tor geöffnet sind. Aber auch die List oder die Überzeugungskraft vermag das Ergebnis zu beeinflussen. Auf diesen Aspekt weist auch Petersen hin wenn er schreibt: „Indem man zunächst sich selbst und durch die Selbstgewissheit in der Folge auch die anderen von seinem Recht überzeugt, erscheint das Recht als etwas Beliebiges, das letztlich von den Machtverhältnissen abhängt – und sei es von der Macht der eigenen Überzeugungskraft.“94
Zu der hier angesprochenen Macht der Überzeugungskraft nimmt Petersen auf eine Stelle bei Nietzsche Bezug, die sich genau mit dieser Macht beschäftigt und deutlich macht, dass es Nietzsche in seinem Rechtsverständnis gerade um die Konsequenzen dieser Subjektivität für das Recht geht und er sich dieser sehr wohl bewusst war. Nietzsche spricht in „Menschliches, Allzumenschliches“ von einem „Punct der Ehrlichkeit beim Betruge“95, der dann erreicht wird, wenn der Betrüger anfängt, an seine eigene Täuschung zu glauben und dieser Selbstbetrug dazu führt, dass der Betrüger umso glaubhafter agiert. 91 92 93 94 95
Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 105. Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 101. Petersen S. 39. Nietzsche, MA I 52; KSA 2, S. 72.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
„Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und Jene grossartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird.“96
Die hypothetische Machtprobe kann demnach auch alleine dadurch in die eine oder andere Richtung entschieden werden, dass die eine Partei von ihrer eigenen Prognose oder Diagnose fester überzeugt ist als die andere und dies auch so nach außen kommuniziert. Inwieweit sich die allerersten Machteinschätzungen decken müssen, um zu einer Verständigung zu gelangen, wird im folgenden Abschnitt zu untersuchen sein. Denn allein die eigene Schätzung (der eigenen Macht wie auch der des Gegenübers) gibt den Ausschlag für das eigene Verhalten. Bei einer als sicher angesehenen Überlegenheit wird derjenige, der sich so einschätzt, in den Kampf ziehen und den Schwächeren überwältigen (sofern diese Einschätzung richtig war). Wird in der gegenseitigen Abschätzung jedoch eine in etwa gleiche Machtstellung festgestellt, so entsteht nach Nietzsche das Verlangen nach einem Vertrag, um unvernünftige eigene Verletzungen zu vermeiden. Nietzsche spricht hier vom „Princip des Gleichgewichts“97. Die von Nietzsche angenommene subjektive Komponente des Abschätzens hat eine ganz entscheidende Auswirkung auf dieses Prinzip des Gleichgewichts. Denn dadurch kann es auf ein objektives Gleichgewicht der Macht und der Möglichkeiten jedenfalls nicht ankommen. b) Das Prinzip des Gleichgewichts Die Basis ist demnach das Maßnehmen, das Messen und Abschätzen der Kräfte. Eine für Nietzsche allzumenschliche und damit charakteristisch menschliche Fähigkeit. Die Parteien stehen sich gegenüber und schätzen ihre Kräfte ein – die eigenen und die der anderen Partei. Mit dem gegenseitigen Maßnehmen wird unterstellt, dass die eine Partei auch der anderen zutraut, dass sie über eine gewisse Macht verfügt, dass etwas in ihrer Macht steht. Die hypothetische Machtprobe ist ein komplexer Vorgang, der auch Einschätzungsfehlern, Täuschungen und allzumenschlichen Faktoren wie Angst und Hoffnung Einlass in die Situation der Rechtsentstehung gewährt. Nun aber soll Nietzsche die Frage gestellt werden, wann es bei einer solchen Macht-Abschätzung zur Anerkennung von Rechten des Gegenübers 96 97
Ebd. Nietzsche, MA II 2, 22; KSA 2, S. 555.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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kommt, wann Rechte festgelegt werden, mithin für Nietzsche Recht entsteht. Dabei ist von der zentralen Textpassage in „Menschliches, Allzumenschliches“ auszugehen, in der Nietzsche von einem Prinzip spricht, welches essentiell für den Entstehungsmoment des Rechts ist, dem Prinzip des Gleichgewichts: „Princip des Gleichgewichts. – Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen [. . .] Das Wesentliche ist: jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber Gleichgewicht zu halten; darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit, zu leben. Denn entweder müssen sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammenthun oder sich einem Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten).“98
Was aber bezeichnet Nietzsche als das Prinzip des Gleichgewichts? Die Geschichte der Gemeinde, die von einem Räuber bedroht wird, dient als Beispiel. An anderer Stelle wird die von einem übermächtigen Feind belagerte Stadt herangezogen.99 Die Gemeinde selbst ist nicht wehrhaft oder nicht stark genug, um sich selbst gegen den marodierenden Räuber zu verteidigen. Sie ist der Schwache in dieser Gleichung, bzw. um in dem Bild zu bleiben, eine Ansammlung von Schwachen. Die Bewohner könnten sich als Schwache zu einer im Hinblick auf den Räuber gleich wiegenden Macht zusammentun. Reichen die Kräfte, Waffen oder die Organisationsfähigkeit dazu nicht aus, so kann die Gemeinde auch die Dienste eines Dritten in Anspruch nehmen. Nietzsche betrachtet hier lediglich die Machtkonstellationen und kommt zu der Aussage, dass sich die Gemeinde bei dieser Option einem Mächtigeren unterwirft. Einem Mächtigeren, der aber im Bezug auf den Räuber gleich viel Gewicht hat. Die Gemeinde sieht sich also einer Bedrohung ausgesetzt, befindet sich in einer Konfliktsituation. Sie lotet ihre Möglichkeiten aus. Wie oben beschrieben mit diversen, allzumenschlichen, beeinflussenden Elementen: so könnte hier zum Beispiel auch die Überlegung eine Rolle spielen, dass die Gemeindebürger sich sehr wohl selbst zusammentun und gegen den Räuber stellen könnten, für diese gefährliche Aufgabe aber lieber jemanden bezahlen möchten. Ebenfalls möglich wäre es, dass entweder die Machtmöglichkeiten des Räubers oder die des ausgleichenden Dritten falsch bewertet werden, der Räuber zum Beispiel viel bedrohlicher empfunden wird, als er tatsächlich ist oder der zu Hilfe gerufene Dritte als dem Räuber gewachsen betrachtet wird, obwohl er es eigentlich nicht ist. Aber Nietzsche geht es an dieser Stelle um ein Prinzip. Denn gleich, welche Möglichkeiten die Gemeinde hat oder wählt, ihr Bestreben im Hinblick 98 99
Nietzsche, MA II 2, 22: KSA 2, S. 555. Vgl. Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 90.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
auf die Machtkonstellationen kann nur sein, ein Ungleichgewicht auszugleichen, ein Gegengewicht gegen die Bedrohung durch den Räuber aufzubauen und so die Machtbalance wieder herzustellen und die Gefahr abzuwenden. aa) Der Begriff des Gleichgewichts Gerhardt hat in seinem Beitrag zu diesem Prinzip des Gleichgewichts versucht, den Zeitgeist Nietzsches bei der Verwendung dieses Begriffes, dieses Bildes zu berücksichtigen. Es kommen hier verschiedene Kontexte zur Sprache, in denen die Vorstellung eines Gleichgewichts eine tragende Rolle spielt. An erster Stelle ist hier sicher die Metapher der Waage zu nennen, die auch im Bild der Justitia mit der Gerechtigkeit verknüpft ist. Nur bei gleichem Gewicht ist die Waage ausbalanciert. „Für die weitere Aufgabe, jedem das ihm Gebührende genau zuzumessen, hält die Justitia häufig eine Waage in der Hand.“100
Dieser Aspekt der Zumessung spielt in Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption die zentrale Rolle.101 Dementsprechend hat er mit der Begriffswahl des Gleichgewichts die Waage der Justitia im Auge. Aber es finden sich noch andere Zusammenhänge, die bei Nietzsches Vorstellung von einem Gleichgewicht mitgedacht werden müssen. So schreibt Gerhardt: „Das Prinzip des Gleichgewichts entstammt dem Vorstellungsbereich der alltäglichen Mechanik, und es ist seit alters durch die Metaphorik der Waage auch mit der Idee der Gerechtigkeit verknüpft.“102
Der Verweis, den Gerhardt hier auf die Mechanik macht, erfährt als naturwissenschaftliche Vorstellung noch eine Konkretisierung. So verweist er auf Dühring, der das Gleichgewicht als Grundlage des Rechts anspricht. Nietzsche hat Dührings „Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung“ noch im Erscheinungsjahr 1875 gelesen103. Gerhardt hält fest, dass Dühring eine dynamische Auffassung des Gleichgewichtsmodells vertritt104. Eine solche Konzeption passt gut zu Nietzsches „Princip des Gleichgewichts“, welches ebenfalls dyna100
Otfried Höffe, Gerechtigkeit, München 2007, S. 11. Vgl. unten C. 102 Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 106. 103 Nietzsche hat seine Lektüre im Sommer 1875 festgehalten. Dort heißt es: „Der Reihe nach: Dühring Werth des Lebens. Dühring Cursus der Philosophie.“ Vgl. KSA 8, S. 129. 104 Vgl. Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 109. 101
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misch ausgestaltet ist und auch in seinem Ergebnis nicht zu einer Erstarrung führt. Die Dynamik ergibt sich bei Nietzsche schon aus der Subjektivität und der Veränderlichkeit der gegenseitigen Machtabschätzungen. Gerhardt schreibt zu Dühring, dass dieser sich nicht nur als Philosoph gesehen habe, sondern auch als Physiker und Ökonom105. Als Physiker beschäftigte sich Dühring vor allem mit der Wärmemechanik von Robert Mayer, mit dem sich auch Nietzsche nachweislich auseinander gesetzt hat.106 „Als Physiker popularisiert er [Dühring] vornehmlich die Wärmemechanik Robert Mayers, dessen Energie-Erhaltungssatz auf der Vorstellung von einem Kraftgleichgewicht in geschlossenen Systemen basiert.“107
Nietzsche kannte die Arbeit Mayers und beschäftigte sich mit dem Werk Balfour Stewarts über „Die Erhaltung der Energie“108. Dieser Hintergrund und diese Vorstellungswelt ist demnach zu berücksichtigen, um Nietzsches Ausführungen zu einem Prinzip des Gleichgewichts richtig einordnen zu können. Mithin ist eine physikalische Vorstellung eines dynamischen und dennoch ruhenden Wirkens von Kräften zugrunde zu legen. Brusotti macht eine Veränderung von einem mechanischen hin zu einem dynamischen Kraftbegriff aus und spricht von einem Paradigmenwechsel: „Nietzsches großangelegter ethnologisch-historischer Konstruktion liegt ein Paradigmenwechsel zugrunde: die Ablösung des mechanischen durch einen dynamischen Kraftbegriff. Die zu Nietzsches Zeit weit verbreitete Übertragung des mechanischen Kraftbegriffs aus der Physik in andere Wissensgebiete [. . .] wird dabei durch eine ebenso allgemeine Übertragung des dynamischen Kraftbegriffs abgelöst [. . .].“109
Und Gerhardt macht noch auf einen weiteren Hintergrund aufmerksam, der Nietzsches Begriffswahl und Vorstellung geprägt hat. Es ist dies eine ökonomische Vorstellung eines Gleichgewichts. Dabei rekurriert er wiederum auf Dühring. „Als Ökonom propagiert er [Dühring] unter anderem die Ideen H. C. Careys und damit auch die Gleichgewichtsmodelle der älteren Nationalökonomie. Die neuzeitliche Physik und die ihr in kurzem Abstand folgende politische Ökonomie aber sind jene Theoriebereiche, in denen das Gleichgewicht als Erklärungsprinzip breite Anwendung gefunden hat und aus denen es auf andere Gebiete der Erkenntnis übertragen worden ist.“110 105
Ebd., S. 110. Vgl. Mazzino Montinari, Kommentar, KSA 14, S. 644. 107 Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 110. 108 Vgl. Nietzsche, KSA 14, S. 644 und KSA 8, S. 183 ff. 109 Marco Brusotti, Die Selbstverkleinerung des Menschen in der Moderne, in: Nietzsche-Studien, Bd. 21, Berlin/New York 1992, S. 82. 110 Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 110. 106
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Auch diesbezüglich ist nachweisbar, dass sich Nietzsche direkt mit Carey auseinandergesetzt hat.111 Auch wenn Gerhardt hier eine eher statische Auffassung des Gleichgewichts sehen will112, so ist doch schon der Bezug zu dem extrem dynamischen Großen der Volkswirtschaft und der Gesellschaft als entscheidende Prägung in Nietzsches Gedanken anzusehen. Denn alleine diese Vorstellung führt schon dazu, dass es sich bei dem von Nietzsche beschriebenen Gleichgewicht nicht um ein ewiges und statisches handeln kann – denn dafür wären die Faktoren und die in ein Gleichgewicht gebrachten Kräfte per se schon zu sehr im Fluss, zu dynamisch. Auch Grau hebt Nietzsches Orientierung an ökonomischen Verhältnissen in Bezug auf seine Gedanken zum Recht hervor.113 Und auch im Bereich der Politik spielte schon zu Nietzsches Zeiten der Begriff des Gleichgewichts eine Rolle. „Unabhängig davon hat sich im Vorstellungsbereich der Politik, insbesondere der Außenpolitik, schon früh die Rede vom ‚Gleichgewicht der Kräfte; durchgesetzt.“114
Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war diese Vorstellung noch lebendig. So wurde in den Zeiten des Kalten Krieges das Stillhalten der Weltmächte USA und UdSSR mit einer pax atomica beschrieben, einem Frieden, der nur deshalb hält, weil beide Seiten jeweils den Einsatz des Atomwaffenarsenals der anderen Seite fürchteten. Nach alledem wird deutlich, dass die bloße Referenz des Begriffs des Gleichgewichts im Rahmen der Rechtsentstehung bei Nietzsche auf die Waage der Justitia viel zu kurz greifen würde. Vielmehr ist Nietzsches Begriffswahl eindeutig vor dem Hintergrund eines in seiner Zeit in vielen Bereichen verwandten Erklärungsmodells zu sehen. So lassen sich Gleichgewichtskonzepte in der Physik, der Politik und der Ökonomie aufdecken, die Nietzsche in seiner Begriffswahl direkt beeinflusst haben. Diese Einflüsse spiegeln sich auch in dem von Nietzsche gewählten Beispiel, um sein „Princip des Gleichgewichts“ zu veranschaulichen. Er betrachtet eine ganze Gemeinde, also eine soziale Gemeinschaft, wählt damit einen sozialwissenschaftlichen Ansatz. Entscheidend für Nietzsche sind jedoch die aufeinander wirkenden Kräfte. Die Stärke und Macht der Gemeinde und die des Räubers. Und die Machtmöglichkeiten des Dritten. In 111
Nietzsche, KSA 8, S. 587. Vgl. Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 111. 113 Vgl. Gerd-Günther Grau, Macht, Recht und Moral bei Nietzsche, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 16. 114 Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 110. 112
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dieser Konstellation selbst könnte man in Rekurs auf den physikalischen Hintergrund ein abgeschlossenes System sehen. Denn natürlich würde die Abschätzung der Machtkonstellationen anders ausfallen, wenn es eine vierte zu berücksichtigende Partei gäbe, oder eine weitere Gemeinde oder eine Verstärkung für den Räuber. Nietzsche wählt geradezu eine Versuchsanordnung, die dem geschlossenen System des Energie-Erhaltungssatzes gleicht, um sein „Princip des Gleichgewichts“ zu erklären. Die Abschätzung der Möglichkeiten zielt darauf ab, eine Gleichgewichtigkeit der Machtkonstellationen zu erreichen. In diesem Beispiel selbst geht Nietzsche nicht weiter. Er veranschaulicht nur dieses Streben nach Ausgleich zwischen den Kräften. Beschreibt eine Befriedung durch ein Kräftegleichgewicht in einer Konfliktsituation. Die Bedeutung dieser Situation geht aber weit über dieses Befriedungsmodell hinaus, sie bildet für Nietzsche den Boden für die Entstehung des Rechts. bb) Das Gleichgewicht als Voraussetzung, um sich zu „vertragen“ Nietzsche entwirft in „Menschliches, Allzumenschliches“ bereits vor dem Aphorismus zum Prinzip des Gleichgewichts die Möglichkeiten, die ein solches Gleichgewicht eröffnet. Denn nur angesichts einer ungefähren Gleichheit der Machtmöglichkeiten kommen für ihn die Parteien an einen Punkt, an dem ihnen Verhandlungen sinnvoll erscheinen. „Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides [. . .] richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: [. . .].“115
Nietzsche attestiert an dieser Stelle Thukydides, dass er die ungefähre Machtgleichheit als Voraussetzung richtig begriffen habe. In der angesprochenen entscheidenden Stelle bei Thukydides heißt es: „[. . .] da ihr ebenso gut wie wir wisst, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen.“116
Dieses Berufen auf ein Naturrecht des Stärkeren hat Thukydides in dem Melier-Dialog den militärisch überlegenen Athenern in den Mund gelegt. Und diese historisch realistische und vor allem machtbewusste Betrachtung der Verhandlungssituation hat Nietzsche inspiriert. 115
Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Eine Auswahl, Der Melier-Dialog V 84–114, Stuttgart 2005, S. 53. 116
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
In einer Konfliktsituation treten die Parteien sich gegenüber und schätzen ihre Möglichkeiten ab. Sollte eine Seite sich selbst für überlegen, die andere Partei für unterlegen halten, so prophezeit Nietzsche einen Angriff, eine Überwältigung. Eine Verständigung hat die sich selbst für überlegen haltende Partei nicht nötig. Um in dem Beispiel der Bedrohung durch den Räuber zu bleiben: wäre der Räuber eine Armee, so würde er die Gemeinde nicht immer wieder überfallen, sondern diese unterwerfen. Wäre die Gemeinde selbst stark genug, so würde sie den Räuber fassen und richten. Aber Nietzsche geht hier von einem Ungleichgewicht aus, welches zwar nicht zu einer Entscheidung zwischen Gemeinde und Räuber führt, aber auch verhindert, dass sich die Gemeinde sicher fühlen kann. Vielmehr kommt eine dritte Partei ins Spiel, die den entscheidenden Ausgleich herbeiführt, das Gleichgewicht dahingehend herstellt, dass die Gemeinde durch die Unterstützung des Dritten stark genug wird, um den Räuber abzuwehren, wohl aber auch trotz des Dritten nicht stark genug, um die Bedrohung durch den Räuber dauerhaft aus der Welt zu schaffen. Der Dritte sorgt für ein ungefähres Gleichgewicht, welches den Räuber vor erneuten Übergriffen zurückschrecken lässt. Nietzsche führt an dieser Stelle das Beispiel nicht weiter aus. Die so beispielhaft beschriebene Gleichgewichtigkeit ist für Nietzsche die Voraussetzung der Entstehung von Recht durch einen Vertragsschluss. Erst wenn die Einschätzungen dahin kommen, dass eine ungefähr gleiche Macht angenommen wird, kommt den Parteien in einer solchen Konfliktsituation die Möglichkeit von Verhandlungen in den Sinn. Die Aussicht eines zu ausgeglichenen Kampfes, den beide Seiten – nach aktueller Diagnose und Prognose – teuer bezahlen müssten, spricht gegen eine Auseinandersetzung. Welche Erwägungen Nietzsche hier genau am Werk sieht, wird im Rahmen der Rückführung auf die Selbsterhaltung noch zu betrachten sein. Die Situation der Konfliktparteien spiegelt sich sehr gut in einer chinesischen Metapher, wonach bei einem Kampf zwischen zwei Tigern einer sterben und einer schwer verletzt werden wird. Damit wird eben diese Situation ausgedrückt, dass ein Kampf auf beiden Seiten zu herben Verlusten führen wird, selbst wenn eine Partei gewinnen sollte. Der Gewinner als der Schwerverletzte. In dieser Situation aufeinander prallender Willen bedarf es nach Nietzsche der als gleich beurteilten Machtpositionen, damit die Parteien den Gedanken an Verhandlungen entwickeln, die zu einer Verständigung führen können. Zu einem Vertrag. Nietzsche schreibt an anderer Stelle:
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„Man hat den Kriegsfuß hergestellt: man will etwas, man hat Gegner dabei, man erreicht es vielleicht am vernünftigsten, wenn man sich verträgt, – wenn man einen Vertrag macht.“117
In der Machtabschätzung kommen die Parteien also dahin, dass eine Einigung, ein Sich-Vertragen, ein Vertragsschluss sinnvoller ist, als den Konflikt in einem Kampf auszutragen. In die Erwägungen fließt die Intention ein, einen sinnlosen im Sinne von nicht zu gewinnenden oder zu belastenden Kampf zu vermeiden. An dieser Stelle nähert sich die Untersuchung dem von Nietzsche festgemachten exakten Punkt der Rechtsentstehung. Das Gleichgewicht als Ergebnis der hypothetischen Machtprobe bildet die Voraussetzung. Insoweit geht Freitag am Ende seiner Untersuchung unzutreffend davon aus, dass erst der Vertrag ein Gleichgewicht zwischen den Vertragsparteien entstehen lässt.118 Eindeutig führt Nietzsche aus, dass die angenommene Gleichgewichtigkeit der Machtmöglichkeiten gerade Bedingung für den Eintritt in Verhandlungen ist. Auch Kerger sieht die gegenseitige Machtabschätzung als Basis der Rechtsentstehung bei Nietzsche, bei der das eigene Interesse wie auch das Interesse des Gegenübers Berücksichtigung findet und vor allem zu einer in etwa gleichen Einschätzung der jeweiligen Machtmöglichkeiten führen muss: „Hierin liegt eine gegenseitige Bewertung der Handlungsmöglichkeiten in Hinsicht auf das jeweilige Interesse des anderen. Die gegenseitige Berechnung und Bewertung der Macht bewirkt die für den Vertragsschluss erforderliche ‚Gleichstellung, aufgrund welcher Rechte festgesetzt werden können‘. Die Anerkennung von Rechten beruht somit auf einer gegenseitigen Abschätzung und Bewertung der Macht, welche jeweils annähernd übereinstimmen muss, damit jene Gleichstellung der Gegner in Form des Vertrages vorgenommen werden kann. Die gegenseitige Anerkennung von Rechten folgt aus der annähernd übereinstimmenden Feststellung der Relation der beiden Mächte zueinander.“119
Zutreffend stellt Kerger fest, dass die Anerkennung von Rechten auf einer gegenseitigen Machtbewertung beruht. Allerdings verkennt er – wie auch Freitag – die Funktion und den Zeitpunkt der Annahme der Gleichheit in dieser Situation. Die Gleichheit ist nicht Ergebnis des Vertragsschlusses und Folge der Anerkennung von Rechten des anderen, sondern vielmehr conditio sine qua non für das Eintreten in Vertragsverhandlungen. Diese Reihenfolge ergibt sich aus der von Nietzsche vorgestellten Konfliktsituation. Wenn die Machtabschätzung nicht zu dem Ergebnis ungefähr 117 118 119
Nietzsche, WM, 739. Vgl. Freitag, S. 427. Kerger, Autorität und Recht, S. 26.
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gleicher Machtmöglichkeiten kommt, dann wird die überlegene Partei die andere schlicht überrennen. Nietzsche denkt hier kriegerisch, militärisch. Er verlangt von seinem Leser, sich in diese Situation hineinzuversetzen – denn dann wird deutlich, dass es ohne ein angenommenes Gleichgewicht gar nicht erst zu Verhandlungen kommen wird und sich schon gar keine Chance auf einen Vertragsschluss ergibt. Es wird demnach gerade keine „Gleichstellung der Gegner in Form des Vertrages vorgenommen“120. Diese Reihenfolge wird auch von dem physikalischen, politischen und ökonomischen Hintergrund, vor dem Nietzsche sein „Princip des Gleichgewichts“ entwickelt hat, gestützt. Nach dem Blick auf die Bedingung des Eintritts in Verhandlungen hilft auch der Blick in die Zeit nach dem Vertragsschluss weiter. Das von den Parteien unterstellte Gleichgewicht ist nicht statisch, sondern in ihm kommen die dynamischen Kräfte nur zu einer gewissen Ruhe. Wie noch auszuführen sein wird, ist dieses Gleichgewicht gerade nicht per se dauerhaft. Der Vertragsschluss selbst schreibt für Nietzsche keine Gleichheit fest, vereinigt eher die Unterschiede auf Basis eines unterstellten Gleichgewichts. Die Vereinbarung führt zu unterschiedlichen Rechten und Pflichten. Kerger scheint hier einen Schritt zu weit zu gehen, indem er bei Nietzsche die Gleichheit in den Vertrag selbst mit aufgenommen sieht. Dies lässt sich an den Textstellen bei Nietzsche nicht belegen. Es kommt nicht zu einer Gleichstellung der Parteien durch den Vertrag, die Annahme gleicher Kräfte ist vielmehr Voraussetzung für die Verhandlungen, die überhaupt erst in einen Vertragsschluss münden können. Die von Kerger zitierte Stelle der „Gleichstellung aufgrund welcher Rechte festgesetzt werden können“ steht bei Nietzsche in dem Kontext der Möglichkeiten, die auch ein Schwächerer in der entworfenen Konfliktsituation der belagerten Stadt noch gegenüber dem Stärkeren hat, indem er mit Selbstvernichtung droht, um damit den Erfolg einer Eroberung durch den Stärkeren zu schmälern.121 Die daraufhin angenommene Gleichstellung erfolgt aber nur als Basis für Verhandlungen. Das bedeutet gerade nicht, dass sie auch in den Vertrag selbst mit aufgenommen wird. Vielmehr stellt Nietzsche hier einen taktischen Trick des eigentlich Unterlegenen dar, wie er den Überlegenen doch noch an den Verhandlungstisch bewegt. Diese Quasi-Gleichstellung hebt den Schwächeren in der Machtabschätzung, also vor Beginn der Verhandlungen, auf ein Niveau der Gleichheit der Machtmöglichkeiten, die allein an dem objektiven Kräfteverhältnis gemessen offensichtlich gerade nicht besteht. 120 121
Ebd. Vgl. Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 90.
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Ein daraufhin geschlossener Vertrag würde nur belegen, dass im Rahmen der Machtabschätzung eine Gleichstellung angenommen wurde, da sonst überhaupt keine Verhandlungen aufgenommen worden wären. Aufgrund der subjektiven Faktoren, die Einfluss auf die jeweilige Machtabschätzung haben, kommt es auf eine objektive Gleichgewichtigkeit der Mächte nicht an. Dies zeigt sich deutlich bei der Möglichkeit des Unterlegenen, mit Selbstvernichtung zu drohen. Nietzsche verwendet noch zwei weitere Beispiele, welche die von ihm gedachte Konfliktsituation veranschaulichen. So beschreibt er an anderer Stelle das Beispiel von sich bekriegenden Häuptlingen und dabei eine zu dem Räuber-Beispiel verschiedene, aber sehr ähnliche Möglichkeit der ausgleichenden Macht eines Dritten. „Zwischen zwei nachbarlichen Häuptlingen war seit Jahren Hader: man verwüstete einander die Saaten, führte Heerden weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen Erfolge im Ganzen, weil ihre Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch die abgeschlossene Lage seines Besitzthums von diesen Fehden sich fern halten konnte, aber doch Grund hatte, den Tag zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen Nachbarn entscheidend zum Uebergewicht kommen würde, trat endlich zwischen die Streitenden, mit Wohlwollen und Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem Einzelnen zu verstehen gab, fürderhin gegen Den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit dem Andern gemeinsame Sache zu machen.“122
Auch in dieser Konstellation geht es um das Prinzip des Gleichgewichts. Nietzsche beschreibt anschaulich den wenig erfolgreichen Kampf der zwei in etwa gleich mächtigen Parteien. Hier besteht ein erstes ungefähres Gleichgewicht. Dieses scheinen die beiden Parteien jedoch nicht zu einem Eintritt in Verhandlungen zu nutzen. Vielmehr muss der Dritte den beiden den Wert und die Chancen dieses Gleichgewichts aufzeigen, ihnen auf die Sprünge helfen. Aus Sicht des Dritten ist dieses Gleichgewicht zwar noch keine Gefahr, seine Angst gilt jedoch der Entwicklung, dass eine der beiden Parteien doch ein Übergewicht entwickeln könnte. So steht es in seinem Interesse, das Gleichgewicht zu erhalten, allerdings nicht in diesem ausgewogenen, aber dennoch blutigen Kriegszustand. Der Dritte will das bestehende Gleichgewicht in einen Friedenszustand überführen. Und so wirft er seine Macht in die Waagschale und droht damit, an der Waage den Ausschlag zugunsten desjenigen zu geben, der von dem Anderen angegriffen wird. Nietzsche beschreibt im Fortgang der zitierten Passage in wunderbaren Worten die positiven Folgen des Friedenszustandes, wobei es ihm anschlie122
Nietzsche, MA II 190; KSA 2, S. 636.
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ßend vor allem darum geht aufzuzeigen, dass der Dritte – nicht wie man meinen könnte und wofür er vielleicht auch gelobt wird – uneigennützig handelte, nur weil sein Zustand sich ja eigentlich nicht verändert hat, sondern deutlich zu machen, dass es im ureigensten Interesse des Dritten stand, ein Gleichgewicht des Friedens herzustellen. Denn alleine aus Selbstschutzgründen griff der Dritte in den Krieg ein. Wäre er vollkommen sicher vor den Übergriffen der Kriegsparteien gewesen, so hätte er sich auch weiter heraushalten können.123 Auch in diesem Beispiel kommt es zu einer Abschätzung der Machtmöglichkeiten. Auch dabei geht es letztlich um ein Macht-Gleichgewicht, das Basis für eine vertragliche Verständigung ist – wobei hier sozusagen die Unvernunft der beiden Kriegsparteien, welche die Aussichtslosigkeit ihrer Kriegsbemühungen ob ihrer gleichen Kräfte nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten, durch die Vernunft des eingreifenden Dritten ersetzt wurde. Nietzsche verwendet noch ein drittes Beispiel, mit dem er ebenfalls eine solche Konfliktsituation abbildet. Dabei ist dieses Beispiel das wichtigste und entwirft die ursprüngliche Konstellation, da wirklich nur zwei Parteien in Konflikt stehen und kein Dritter eine Rolle spielt. Nietzsche bezieht sich124 auf den sogenannten Melier-Dialog des Historikers Thukydides, in dem dieser die Verhandlungen der athenischen Gesandten mit den Vertretern der Insel Melos schildert.125 Die Athener belagerten die Insel Melos. Ihre mächtige Flotte ankert vor der Küste. Der übermächtige Feind steht vor der Eroberung, es gibt kein Entrinnen. Die Athener entsenden Unterhändler, die die Melier zur Aufgabe angesichts der Übermacht überreden sollen. Gerhardt schreibt zu dieser für Nietzsche entscheidenden Referenz: „Im Dialog der übermächtigen Athener mit den Vertretern der militärisch unterlegenen Einwohnerschaft der Insel Melos sieht er [Nietzsche] die Darstellung des exemplarischen Ausgangssituation allen Rechts.“126
Nietzsche wählt Thukydides nicht ohne Grund und seine Beschreibung dieses Dialoges ebenso wenig. Thukydides betrachtet die Menschheitsgeschichte in den Augen Nietzsches genau richtig, nämlich zu allererst realistisch. Nietzsche selbst verleiht seiner Bewunderung Ausdruck: „Ein Vorbild. – Was liebe ich an Thukydides, was macht, dass ich ihn höher ehre, als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen 123
Nietzsche, MA II 190; KSA 2, S. 636 ff. Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. 125 Vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, V 84–114, S. 53 ff. 126 Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht, Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996, S. 145. 124
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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des Menschen und der Ereignisse [. . .]. Er hat eine grössere praktische Gerechtigkeit, als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen [. . .].“127
Die Unbefangenheit spielt auch im Rahmen der Gerechtigkeitskonzeption Nietzsches eine wichtige Rolle. Es ist dieser offene Blick auf den Menschen, den Nietzsche schätzt und der für ihn als Realismus bei Thukydides dem Idealismus bei Platon unversöhnlich gegenüber steht.128 Ottmann spricht insoweit von einer Verbeugung Nietzsches vor Thukydides als dem „Vater objektiver exakter Geschichtsschreibung“ und schreibt weiter: „Freie Geister sind die, welche nicht nach Herrschaft streben. Aber es sind auch jene, die sich über Realität und Wesen der Macht keinen Illusionen hingeben wollen. Solcher Realismus führt den ‚Sophisten‘ Thukydides und den Aufklärer Nietzsche zusammen.“129
In der Verhandlungssituation des Melier-Dialogs besteht offensichtlich ein Kräfteungleichgewicht. Historisch ging der Verhandlungswille letztlich auf die überlegenen Athener zurück, die sich einen Kampf damit in Gänze ersparen wollten. Aber auch den Schwächeren wäre nach Nietzsche ein letztes Gewicht verblieben, das sie in die Waagschale hätten werfen können – wenn sie dazu bereit sind. „Vom Rechte des Schwächeren. – Wenn sich Jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann. Deshalb entsteht hier eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. – Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig ist.“130
Der schwächeren Partei bleibt in dieser Konfliktsituation nur noch eine letzte Möglichkeit, mit der sie Druck auf den Stärkeren ausüben kann. Sie kann mit Selbstvernichtung drohen. Und damit eine „Art Gleichstellung“ erreichen. Von dieser Möglichkeit haben die Melier allerdings weder Gebrauch gemacht noch wurde in dem von Thukydides wiedergegeben Dialog mit den Athenern darüber gesprochen. 127
Nietzsche, M, 168; KSA 3, S. 150 f. Vgl. Ole Schütza, Nietzsche und Thukydides, Thukydides’ Herleitung des „Allgemein-Menschlichen“ aus dem Besonderen seiner Geschichtsschreibung und deren Rezeption durch Nietzsche, Nietzsche-Forschung, Bd. 11, Berlin 2004, S. 224. 129 Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 2. Aufl., Berlin/New York 1999, S. 222. 130 Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 90. 128
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Anhand dieses Beispiels wird noch einmal deutlich, dass die Gleichgewichtigkeit der Mächte keineswegs die objektiven Machtverhältnisse wiedergeben muss. Abgesehen von der jeweils subjektiven Machtabschätzung, die schon einer Objektivität entgegensteht, macht das Beispiel der belagerten Stadt deutlich, dass auch bei einem eklatanten Ungleichgewicht der objektiven Kräfte den Schwächeren noch eine Möglichkeit der Einflussnahme bleibt, indem sie mit Selbstvernichtung drohen und so die Rechnung des objektiv Mächtigeren mitgestalten können. Auch hier kommt es letztlich zu einer subjektiven Einschätzung, denn der Mächtigere kann sich natürlich fragen, ob die belagerte Stadt ihre Drohung wirklich wahr machen wird, oder ob es sich um einen Bluff handelt. Oder der Stärkere hat gar kein Interesse an der Stadt selbst oder setzt ihren Wert nicht so hoch an, als dass ihn eine Selbstzerstörung schrecken könnte. Dann läuft die Drohung des Schwächeren ins Leere. Die Gleichgewichtigkeit der eingeschätzten Machtmöglichkeiten ist demnach keine objektive Wiedergabe der wahren Machtverhältnisse. Aber die Annahme einer solchen Gleichgewichtigkeit ist die Voraussetzung für den Eintritt in Verhandlungen, die Basis für ein „Vertragen“. Und hier liegen für Nietzsche der Entstehungsgrund und der Entstehungspunkt von Recht, von Rechten. cc) Das Vertragen als Moment der Rechtsentstehung Damit ist die vorliegende Untersuchung am Ziel ihrer ersten Reise angekommen, am Kernpunkt der rechtsphilosophischen Überlegungen Friedrich Nietzsches zur Rechtsentstehung. Nachdem die Geburtskonstellation nachgezeichnet wurde, stellt sich nunmehr die Frage, in welchem Moment Nietzsche das Recht zur Welt kommen sieht. Dabei lassen sich zwei Momente in der von Nietzsche gedachten Konstellation festhalten. Zum einen der Moment, in dem das Gegenüber als Verhandlungspartner wahrgenommen und ihm die Eigenschaft zugestanden wird, Vertragspartner zu sein. Dieser Moment folgt direkt auf die Machtabschätzung und das dort erreichte Ergebnis eines angenommenen Gleichgewichts. Die gegnerische Partei wird nicht – da als hoffnungslos unterlegen eingeschätzt – überrannt und gezwungen, sondern es werden Verhandlungen aufgenommen. Damit wird dem Gegenüber die Anerkennung der Möglichkeit zuteil, für Verhandlungen in Frage zu kommen, mithin Rechtsträger und Vertragspartner sein zu können. Zum anderen entspringen dem Vertragsschluss selbst Rechte. In dem Vertragen werden für die Zukunft die Beziehungen der Konfliktparteien gere-
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gelt. Dabei kann zunächst einmal dahinstehen, wie ausführlich, wie langfristig und wie eindeutig diese Regelungen ausfallen. Entscheidend ist, dass es die getroffene Vereinbarung den Parteien möglich macht, aus derselben Rechte abzuleiten und sich auf diese zu berufen. Nietzsche spricht beide Momente an, wobei, bei seinem vorherrschenden Interesse für die weitere Entwicklung nach Vertragsschluss, die absolute Mehrheit der Textstellen die Rechte meint, die sich aus dem Vertrag für die Zukunft ableiten lassen. In der „Genealogie der Moral“ gibt Nietzsche einen entscheidenden Hinweis auf die Möglichkeit, Rechtsträger sein zu können: „Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits verrathen: in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist als es überhaupt ‚Rechtssubjekte‘ giebt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist.“131
Nietzsche selbst verwendet hier den Begriff des Rechtssubjekts und verweist auf die ältesten ursprünglichen Vertragsverhältnisse, welche zwischen Gläubigern und Schuldnern zustande kommen können und grundsätzlich auf Warenaustausch gerichtet sind. Kerger weist insoweit auf die Übereinstimmung zwischen Nietzsche und Jhering hin, die beide von dem Vertrag als dem ersten, ursprünglichen Rechtsverhältnis ausgehen, welches auf Ausgleich gerichtet ist.132 An der gerade zitierten Stelle gibt Nietzsche klar zu verstehen, dass Grundlage für einen Vertrag zunächst einmal ist, dass beide Parteien Rechtssubjekte sind, also Träger von subjektiven Rechten sein können. Vor dem Hintergrund der bereits ausgeführten Konstellation der sich gegenüberstehenden Konfliktparteien erfährt der verwendete Begriff „Rechtssubjekte“ eine entscheidende Konkretisierung. Da Nietzsche davon ausgeht, dass eine sich als überlegen ansehende Partei nichts mit Verträgen zu schaffen hat und das Gegenüber schlicht dominieren und beherrschen würde, wird deutlich, dass Nietzsche davon ausgeht, dass der anderen Partei der Status als Rechtssubjekt eingeräumt, zuerkannt werden muss. Er liegt keineswegs per se vor, nur weil das Gegenüber ein Mensch ist oder eine Stadt oder ein Staat. Aus der bloßen Tatsache, dass die Parteien natürliche oder juristische Personen sind, leitet Nietzsche noch nicht die Eigenschaft ab, 131
Nietzsche, GM II 4; KSA 5, S. 298. Henry Kerger, Verhältnis von normativer Regel und Handlungsrationalität bei Nietzsche, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 46. 132
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Rechtsträger sein zu können. Wie gesehen existiert ein Naturrecht für Nietzsche nicht. In der oben zitierten Stelle spricht Nietzsche davon, dass das Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner so alt ist, wie es Rechtssubjekte gibt. Vor dem Hintergrund der von Nietzsche entworfenen Konfliktsituation ergibt sich, dass die Anerkennung durch den Anderen dem Gegenüber erst zu dem Status als Rechtssubjekt verhilft. Anhand der oben bereits zitierten Stelle „Vom Rechte des Schwächeren“, an der Nietzsche die Möglichkeiten der Selbstvernichtung als Gewicht in der Waagschale der Verhandlungen mit dem übermächtigen Belagerer der Stadt darstellt, soll diese Anerkennung als Rechtssubjekt verdeutlicht werden. Dort heißt es: „Deshalb entsteht hier eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können.“133
An dieser Stelle ist der Aspekt der Anerkennung des anderen als Rechtssubjekt schon in der „Art Gleichstellung“ zu sehen. Denn sonst würde der stärkere Belagerer erst gar nicht in Verhandlungen mit dem Schwächeren eintreten, diesen gar nicht als potentiellen Verhandlungspartner wahrnehmen, sondern die Stadt angreifen und den Kampf gewinnen. Mit den von Nietzsche angesprochenen festzusetzenden Rechten sind diejenigen, welche in dem Vertrag festgelegt werden, mithin der zweite Moment der Rechtsentstehung. Insoweit stellt sich die Frage, wie Nietzsche seinen Begriff des Rechts gefasst hat. Die moderne Rechtswissenschaft fasst unter dem Begriff des Rechts sowohl das subjektive als auch das objektive Recht. Das Recht im objektiven Sinn ist die Gesamtheit der Rechtsvorschriften als Rechtsordnung, die das Verhältnis einer Gruppe von Menschen zueinander und zu übergeordneten Hoheitsträgern sowie zwischen diesen regelt. Unter einem subjektiven Recht wird eine Befugnis für einen Berechtigten verstanden, die sich aus dem objektiven Recht für diesen ergibt.134 Eine solche definierte Unterscheidung trifft Nietzsche nicht. Er spricht von Recht und von Rechten. Dann aber auch wieder von Gesetzen. Da es aber um die Betrachtung des Ursprungs von Recht geht, ist seine Begriffsverwendung allgemein und abstrakt zu denken. Nietzsche würde sowohl eine subjektive Berechtigung – woher auch immer diese abgeleitet wird – als auch die Gesetze einer Rechtsordnung als Recht bezeichnen. 133 134
Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 90. Vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch, 16. Aufl., S. 1058.
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In der von Nietzsche entworfenen Ursprungssituation unterscheidet er zunächst die Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt, woraufhin ein Vertrag geschlossen werden kann. Dieser selbst hält wieder Rechte fest. Nietzsche denkt das Recht als kommunikativen Vorgang, als Produkt einer Zuerkennung durch das Gegenüber. Einer Zuerkennung von Macht und Machtmöglichkeiten. So schreibt Ottmann: „Macht ist kein Faktum physischer Stärke. Sie ist für Nietzsche ein kommunikatives Phänomen, anerkannte und der Anerkennung bedürftige Macht. Recht hat daher deshalb nicht soviel, wie er Macht hat. Jeder hat soviel Recht, wie ihm Macht kreditiert wird.“135
Und aufgrund dieser Bedingung der gegenseitigen Zuerkennung von Recht auf der Grundlage der Zuerkennung von Macht kann auch die Anerkennung als Rechtssubjekt als Rechtsentstehung beschrieben werden. Auf Basis der erfolgten Machtabschätzung wird das Gegenüber als potentieller Vertragspartner gesehen. Wenn dieses Ergebnis kommuniziert wird, ist darin implizit die Forderung enthalten, selbst als möglicher Vertragspartner angesehen zu werden. Die Definition der modernen Rechtswissenschaft als Ausgangspunkt genommen, scheinen die Ausführungen zur Rechtsentstehung bei Nietzsche nur die Entstehung von Rechtsordnungen zu meinen, mithin von objektiven Rechten, von Gesetzen, Regeln und Strukturen. Aber den lediglich aus der Macht gesetzten Regeln, den Gesetzen, die der Stärkere aufstellt, spricht Nietzsche den Rechtscharakter ab. Und dass nicht alle Gesetze auch wirklich Rechtscharakter haben, zeigt zum Beispiel auch ein Blick in die Rechtsphilosophie von Radbruch, der dem unrichtigen Recht die Rechtsnatur abspricht. „[. . .] wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“136
Und auch Nietzsche spricht dem aus der bloßen Übermacht gesetzten Recht die Rechtsnatur ab. Allerdings ohne die Bezugnahme auf die Gerechtigkeit. Um seinen Ansatz nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, sich noch einmal in die von ihm entworfene Zwei-Personen-Konflikt-Situation hineinzuversetzen. Ein wie auch immer geartetes Naturrecht oder Naturunrecht existiert für Nietzsche nicht. Jegliches Recht ist etwas kommunikativ Zuerkanntes. Nietzsche formuliert: „Ohne Vertrag kein Recht.“137 135
Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 2. Aufl., Berlin/New York 1999, S. 223. 136 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unecht und übergesetzliches Recht, Anhang 3 zu Rechtsphilosophie, Heidelberg 1999, S. 216.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Jetzt könnte aus dieser Stelle geschlossen werden, dass in der Zwei-Parteien-Konflikt-Situation erst nach dem Vertragsschluss erstes Recht entsteht. Aber diese Aussage weist auch auf die Gegenseitigkeit und die Kommunikation hin, die für eine Entstehung von Recht erforderlich ist. Und sie birgt die gegenseitige Anerkennung, die in Nietzsches Konzeption von Recht enthalten ist. „So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade.“138
Die Konfliktsituation ist eine dynamische. Die Machtabschätzung ist dynamisch. Und auch ihr Ergebnis einer angenommenen Gleichgewichtigkeit ist dynamisch – und vor allem endlich. Das bedeutet, dass schon die Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt vertragliche Elemente enthält. Diese Anerkennung muss zumindest in Erwägung gezogen werden, um in Vertragsverhandlungen einzutreten. Kommt es daraufhin zu einem Vertragsschluss mit weiteren Rechten, so bezeugt der Vertrag diese Anerkennung als Rechtssubjekt. Aus dem Vertrag selbst ergeben sich für die Parteien weitere Rechte. Aber auch im Moment der Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt und sogar noch früher, nämlich in dem Moment, in dem die Machtabschätzung zu dem Ergebnis kommt, dass eine ungefähre Gleichgewichtigkeit der Mächte vorliegt und Verhandlungen aufgenommen werden sollten, wird dem Gegenüber ein Recht zuerkannt. An dieser Stelle ist Nietzsches Ablehnung jeglichen Naturrechts wörtlich zu nehmen. Wenn in Verhandlungen eingetreten wird, wird dem Gegenüber als potentiellem Vertragspartner jedenfalls jetzt schon ein Existenzrecht, ein Lebensrecht eingeräumt. Wäre die Machtabschätzung zu einem anderen Ergebnis gekommen, dann wäre ein Vertragen im weitesten Sinne gar keine Option und das Gegenüber wäre überwältigt worden. An die oben gegebene Definition in den Rechtswissenschaften angelehnt ergibt sich, dass Nietzsche gar keine subjektiven Berechtigungen und objektive Rechtsordnungen unterscheidet. Ihm gilt jedes Recht als zuerkannt und damit als intersubjektiv. Dieses Verständnis wird dadurch untermauert, dass Nietzsche die Gesetze keineswegs mit Recht gleichsetzt. In der modernen Definition sind die Gesetze immer zumindest als Teil der Rechtsordnung Recht. Bei Nietzsche nicht. Denn wenn der Stärkere befiehlt, dann fehlt diesem Befehl der Vertragscharakter. Es handelt sich für Nietzsche nicht um Recht, auch wenn dabei Gesetze befohlen werden. 137 138
Nietzsche, MA I 446; KSA 2, S. 290. Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 101.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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„Das Entscheidenste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle thut und durchsetzt – sie thut es immer, sobald sie irgendwie stark genug dazu ist – ist die Aufrichtung des Gesetzes, die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe: [. . .].“139
Diese Aufrichtung des Gesetzes durch den Stärkeren begründet kein Recht, sie ist bloße Dominanz und daher auch nur an den Interessen des Stärkeren ausgerichtet. Allerdings hat dieses erste Aufrichten von Regeln für Nietzsche eine wichtige Funktion: es beendet den Naturzustand.140 So entstehen die ersten Staaten, die jedenfalls eine partielle Überwindung des kriegerischen Naturzustandes darstellen.141 Nach alledem kann bei Nietzsche in der Rechtsentstehung ein Ablauf ausgemacht werden, der durchaus chronologisch dargestellt werden kann. Zunächst lebt der Mensch im Naturzustand, einem Zustand radikaler Ungleichheit und Auseinandersetzung. Dieser Zustand wird durch Stärkere beendet, die in einer Machtabschätzung zu dem Ergebnis kommen, dass sie überlegen sind. Der Eroberungsversuch lohnt sich. Sie unterwerfen andere und zwingen ihnen Regeln und Gesetze auf. Darin sieht Nietzsche den blutigen Anfang der Gesellschaft und kann die Vertragstheorien, die die Beendigung des Naturzustandes in einem Vertrag sehen wollen, als Schwärmerei abtun. „Dergestalt beginnt ja der ‚Staat‘ auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem ‚Vertrage‘ beginnen liess. Wer befehlen kann, wer von Natur „Herr“ ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen!“142
Der ursprüngliche Staatengründer unterwirft die Schwächeren.143 Insoweit führt Freitag unzutreffend aus, dass das Recht der Schritt aus dem Naturzustand sei. „Recht entsteht dort, wo sich Menschen vertragen. Es ist also der Schritt aus dem kriegerischen Naturzustand heraus, ein Schritt in Richtung Zivilisation.“144
Eben diesen Schritt vollzieht bei Nietzsche nicht das Recht, das für ihn nur Vertrag ist, sondern die imperative Aufstellung von Gesetzen durch den Stärkeren. Würde Nietzsche das Recht als Schritt aus dem Naturzustand ansehen, würde ihn von den Vertragstheorien schlicht nichts mehr unterscheiden und er könnte diese nicht als Schwärmerei ablehnen. 139
Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 312. Vgl. oben I. 1. 141 Vgl. Urs Marti, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 332. 142 Nietzsche, GM II 17; KSA 5, S. 324. 143 Vgl. Nietzsche, MA I 99; KSA 2, S. 96. 144 Freitag, S. 421. 140
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Zwischen den gewaltsam entstandenen Staaten und Strukturen – und Nietzsche als Altphilologe hat dabei vor allem die antiken griechischen Stadtstaaten im Blick – kommt es weiterhin zu Auseinandersetzungen. Auch wenn der Naturzustand überwunden ist, wird damit nicht der Krieg zwischen den Staaten oder der Existenzkampf der Individuen beendet.145 Die gegenseitigen Machtabschätzungen laufen weiter und richten sich auf Nachbarstaaten. Da mag es sich auch ergeben, dass der andere nicht einfach unterworfen werden kann, sondern in etwa gleich mächtig ist. Dann kommt er als Vertragspartner in Betracht. Eine erste Anerkennung des anderen als Rechtssubjekt wird vorgenommen, indem ihm Verhandlungen angeboten werden. An dieser Stelle entsteht in Nietzsches Augen erstmals Recht. Dem Gegenüber wird die mögliche Eigenschaft eines Rechtssubjekts eingeräumt. Auch an dieser Stelle ist Nietzsches Blick auf die Antike entscheidend, insbesondere auf das römische Recht, wie es Jhering dargestellt hat. Ein Vertragsschluss ist nur mit einer persona möglich, nicht mit einem Sklaven. Er hat kein Recht, keine Rechte und schon gar nicht ist er Rechtssubjekt.146 Mit diesem Blick Nietzsches ist die Begegnung der Stadtstaaten zu sehen. Das Gegenüber hat keinerlei Rechte. Nur wenn es in der Machtabschätzung zu einem angenommenen Gleichgewicht kommt und dem anderen als potentiellem Vertragspartner Verhandlungen angeboten werden, bekommt dieser überhaupt erstmals ein Recht im Sinne der potentiellen Eigenschaft, Träger von Rechten und Pflichten sein zu können. Aber auch ein Lebens- und Existenzrecht. Über den Ausgang der Verhandlungen sagt dies freilich noch nichts aus. Kommt es zu einem Vertrag, so bestätigt dieser die vormals getroffene Rechtseinräumung, dass es sich bei dem anderen um ein Rechtssubjekt handelt. Darüber hinaus ergeben sich aus dem Vertrag selbst Rechte für die Vertragspartner. Die Anerkennung als rechtsfähiges Subjekt ist Voraussetzung für den Vertragsschluss und geht diesem voraus. Dies führt allerdings in Konsequenz dazu, dass jede Vertragspartei qua Vertrag als Rechtssubjekt anerkannt wird – und zwar unabhängig davon, wie genau der Vertrag ausgestaltet ist. Der Vertrag bezeugt die Anerkennung als Rechtssubjekt. Die Dynamik der subjektiven Machtabschätzungen ermöglicht auch Vertragsschlüsse, die den nur vermeintlich Stärkeren bevorzugen – oder auch den besser Verhandelnden. Zu einer Anerkennung als Rechtssubjekt kommt es für Nietzsche allerdings immer. Dass es sich bei der als Gleichgewicht 145 Vgl. Urs Marti, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 266. 146 Vgl. Kerger, Autorität und Recht, S. 12.
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eingestuften Machtrelation nur um „eine Art Gleichgewicht“ handelt, wird in Nietzsches Konzeption dadurch Rechnung getragen, dass diese scheinbare Gleichgewichtigkeit sich in der differierenden Ausformung der in dem Vertrag geregelten Rechte widerspiegeln kann. Und in der Endlichkeit des Vertrages. Kerger trifft diese Unterscheidung in seinen Ausführungen zum Entstehungsgrund des Rechts im Denken Nietzsches nicht. Er stellt vielmehr zunächst auf die Anerkennung als Rechtssubjekt ab: „Da für Nietzsche in dem Vertragsverhältnis der Ursprung des Rechtsverhältnisses, d.h. der gegenseitigen Anerkennung als Rechtssubjekt liegt, betrifft das Merkmal der ‚Gleichstellung‘ die Anerkennung des anderen als Rechtssubjekt.“147
Allerdings führt dies dazu, dass er in der Belastungsprobe der Rechte von Schwächeren, die nach Nietzsche – in dem Beispiel der belagerten Stadt durch die Drohung mit Selbstvernichtung – auch noch die Möglichkeit besitzen, den Mächtigeren an den Verhandlungstisch zu zwingen, übersieht, dass sich die in der Dynamik der Machtabschätzung fußenden Auswirkungen derselben erst in den Regelungen des Vertrages niederschlagen und nicht bereits in einer fehlenden Begründung der Rechtsfähigkeit der Parteien. „Diese Rechtsstellung des Unterworfenen gegenüber dem Mächtigeren ergibt sich also ebenfalls aus einer ‚Art Gleichstellung‘, ohne jedoch die gegenseitige Anerkennung als Rechtssubjekt zu begründen.“148
Kerger verkennt an dieser Stelle, dass Nietzsche schon in dem Eintritt in Verhandlungen eine Anerkennung als Rechtssubjekt verwirklicht sieht. Der darauf aufbauende Vertragsschluss bestätigt diese Einschätzung und begründet weitere Rechte. Die quantitativen Unterschiede in den Machtgraden schlagen sich dann in den Regelungen des Vertrages nieder. Die Verhandlungen können aber auch scheitern, aufgrund einer veränderten Machtabschätzung kann es jederzeit auch wieder zur Aberkennung der gewährten Rechtssubjektivität kommen. So könnte der Eintritt in Verhandlungen auch schlicht eine Täuschung darstellen. Ein ernst gemeinter Eintritt in Verhandlungen setzt jedoch voraus, dass die andere Partei als Rechtssubjekt wahrgenommen wird und ihr dieser Status auch schon eingeräumt ist – zumindest für die Dauer der Verhandlungen. Recht ist für Nietzsche immer intersubjektiv eingeräumt. Ottmann spricht in diesem Zusammenhang von einem kommunikativen Phäno147 148
Kerger, Autorität und Recht, S. 30 f. Ebd., S. 29.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
men149, bei dem Rechte aus der Unterstellung von Machtmöglichkeiten zuerkannt werden. „Das Recht geht ursprünglich so weit, als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere.“150
Entscheidend ist, dass der Schwächere Rechte hat und damit von dem abschätzenden Gegenüber als Rechtssubjekt gedacht werden muss. Dass es sich dabei um geringere Rechte handelt, ist eine Ausdifferenzierung, die erst in den Regelungen des Vertrages ihren Niederschlag findet. Freitag unterscheidet in seinem Beitrag sehr fein zwischen Gleichstellung und Gleichgewicht. So definiert er die Gleichstellung in Nietzsches Konzeption als die Anerkennung des anderen als Rechtssubjekt und das Gleichgewicht als das Ergebnis des daraufhin geschlossenen Vertrages. Mutet diese Differenzierung zunächst vielversprechend an, weil damit beiden gerade dargestellten Momenten der Rechtsentstehung ein Begriff zugewiesen wird, so verwässert sie im Ergebnis Nietzsches Entwurf. Nietzsche geht für den Moment der ersten Machtabschätzung davon aus, dass sie im Ergebnis zu einer gewissen Gleichgewichtigkeit kommt, die Verhandlungen und nicht den offenen Kampf anrät. Schon aufgrund der Subjektivität der Einschätzungen handelt es sich dabei um ein lediglich angenommenes, ungefähres Gleichgewicht, also eine Gleichstellung. So weist Himmelmann unter Bezug auf die Wortwahl Nietzsches zutreffend darauf hin, dass es Nietzsche um ein Verhältnis geht, da er gerade nicht von Gleichheit spricht: „Damit ist von Anfang an betont, dass es um ein Verhältnis von Einheiten geht, denen jeweils Kraft und Stärke sowie – in einem übertragenen Sinn – Bedeutung, Wert und Wichtigkeit zukommen.“151
In diesem Verhältnis wird das Gegenüber als Rechtssubjekt wahrgenommen, ihm werden überhaupt erstmals Rechte eingeräumt. Im Rahmen der Verhandlungen kommt es – wie immer wieder und im Grunde andauernd – zu erneuten Machtabschätzungen. Der Vertrag legt dementsprechend Rechte und Pflichten fest, die Anerkennung des anderen als Rechtssubjekt findet Bestätigung, die angenommene Gleichgewichtigkeit setzt sich in dem Vertragsschluss für die Zukunft fort – und ist damit letztlich auch nur eine Gleichstellung. Es handelt sich in dem mit dem Vertrag 149
Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche ‚ S. 223. Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 90 f. 151 Beatrix Himmelmann, Gleichheit und Differenz: Nietzsches Gerechtigkeitsbegriff im Licht einer aktuellen Debatte, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 87. 150
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besiegelten und festgehaltenen Gleichgewicht um eine Fortsetzung der zuvor gefundenen Einschätzung einer ungefähren Gleichheit. Entscheidend war, ist und bleibt die gegenseitige Machtabschätzung. Freitag hingegen geht fälschlich davon aus, dass die Anerkennung als Rechtssubjekt eine Gleichstellung im Sinne eines nur angenommenen Gleichgewichts ist und erst der Vertragsschluss ein Gleichgewicht herstellt.152 Auf Grundlage der andauernden Machtabschätzungen in der von Nietzsche entworfenen Konfliktsituation handelt es sich in beiden Momenten um ein nur subjektiv angenommenes Gleichgewicht im Sinne einer Gleichstellung. Und die erste Gleichstellung im Sinne der Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt basiert schon auf einer angenommenen Gleichgewichtigkeit, da das Gegenüber sonst lediglich überrannt werden würde. Seiner begrifflichen Differenzierung entsprechend entsteht das Recht für Freitag bei Nietzsche erst in dem Vertragen, das für ihn gegenseitiges Recht-Zusprechen und Pflichten-Auferlegen ist.153 Wie oben dargestellt handelt es sich dabei bereits um den zweiten Moment der Rechtsentstehung, da das Vertragen mit Nietzsche schon beginnt, wenn die andere Partei nicht einfach überwältigt wird. Nietzsche spielt insoweit mit den Begriffen Vertrag und Vertragen.154 So wenig juristisch der Begriff des Vertragens im Vergleich zu dem genauen Zeitpunkt eines Vertragsschlusses anmuten mag, so wichtig ist er doch für Nietzsches Verständnis der Rechtsentstehung. Denn das Vertragen deckt zeitlich sowohl den Eintritt in die Verhandlungen als auch den daraus hervorgehenden Vertragsschluss selbst ab. Dabei ist die volle Intersubjektivität des Rechts in Nietzsches Konzeption auch in diesem Begriff enthalten. Und so müsste es bei Nietzsche vielleicht weniger „Ohne Vertrag kein Recht.“155 als vielmehr „Ohne Vertragen kein Recht“ heißen. Denn im Vertragen entsteht Recht in zweifacher Hinsicht – als Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt und in dem aus den Verhandlungen hervorgehenden Vertragsschluss. Und auch wenn Nietzsche über die Vertragstheorien spottet, ist seine eigene Theorie der Rechtsentstehung letztlich eine klassische Vertragstheorie – die jedoch auf einem ganz anderen Boden steht: der Abschätzung von Machtmöglichkeiten. Allerdings beenden diese Verträge nicht den Naturzustand, sondern konnten erst zwischen bereits geschaffenen Strukturen ge152 153 154 155
Vgl. Freitag, S. 423. Ebd. Vgl. Nietzsche, MA II 2, 26; KSA 2, S. 560. Nietzsche, MA I 446; KSA 2, S. 290.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
schlossen werden, die den Naturzustand bereits beendet hatten – wenn auch durch blutige Überwältigung durch den Stärkeren. Was aber gibt bei den sich abschätzenden Konfliktparteien den Ausschlag dafür, bei einer in etwa gleichen Machteinschätzung nicht zu kämpfen, sondern sich zu vertragen? 3. Das kluge Rechnen – die Rückführung auf die Selbsterhaltung In der Konstellation der Machtabschätzung wird in der ausgeführten hypothetischen Machtprobe eine Prognose vorgenommen – über die eigenen Machtmöglichkeiten und die des Gegenübers. Und dies jeweils auf Seiten beider Parteien. Kommen die Parteien nunmehr zu dem Schluss, dass ihre Machtmöglichkeiten in etwa gleich sind, eine Art Gleichgewicht besteht, entscheiden sie sich nach Nietzsche gegen einen Kampf. Aber warum? Oben wurde bereits angedeutet, dass die Parteien bei einem gleichgewichtigen Kampf hohe eigene Verluste in die Erwägung einstellen werden. Ein ausgeglichener Kampf aufgrund in etwa gleich wiegender Machtmöglichkeiten soll den Konfliktparteien als mit einem zu hohen Preis verbunden erscheinen. Es wurde bereits auf das chinesische Bild des Kampfes zweier Tiger verwiesen, von denen bei einem Kampf einer getötet und der Sieger schwer verletzt werden wird. Damit wird sehr gut die Situation anschaulich gemacht, dass ein Kampf in etwa gleich starker Gegner auf beiden Seiten zu herben Verlusten führen wird. Selbst wenn eine Partei gewinnt, wird sie schwere Verletzungen davontragen. Als Gegenprobe soll eine andere Konstellation dienen. So sind auch Situationen denkbar, in denen bei einer Gleichgewichtigkeit oder sogar bei einer Unterlegenheit eine Partei meint, kämpfen zu müssen. Um mit Nietzsche in historischen Situationen zu bleiben wäre hier die erste Schlacht an den Thermopylen zu nennen156. Ohne vertieft auf die Motive einzugehen, die auch schwerlich zu klären sein werden, besagt eine Deutungsvariante, dass die Stellung trotz aussichtsloser Situation gehalten werden sollte, um im Hintergrund den Abzug des griechischen Heeres zu sichern. Es wurde ein völlig aussichtsloser Kampf geführt. Die Mehrzahl der verbliebenen Soldaten starb dabei. Geht man von dieser Motivlage aus, wurde trotz eindeutiger Unterlegenheit und keinerlei Chancen auf einen Sieg gekämpft. Welche Überlegungen bringen Nietzsche demnach dazu, in der Situation der ungefähren Gleichgewichtigkeit der Machtmöglichkeiten von einem Ent156
Herodot, Historien Buch VII, Stuttgart 2005.
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schluss zu einer Vermeidung eines Kampfes auszugehen? Und ist mit seinen Überlegungen auch das Verhalten der verbliebenen Kämpfer an den Thermopylen zu erklären, die aus Unterlegenheit den Kampf hätten meiden müssen? Nietzsche spricht am Beispiel des aufkommenden Sozialismus seiner Zeit von einem klugen Rechnen: „Ein Recht gewinnt sich der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag entstehen lässt.“157
An dieser Stelle werden in die Abwägung der Parteien zwei Faktoren eingestellt, zum einen die „Erhaltung“ und zum anderen die „Zuträglichkeit“. Diese beiden Aspekte geben dem klugen Rechnen seine Gestalt. In den nachgelassenen Fragmenten findet sich eine Stelle, an der Nietzsche das Gleichgewicht in Bezug auf die Entstehung des Rechts noch einmal konkretisiert. An dieser Stelle macht er auch deutlich, dass die Klugheit des Rechnens immer nur in einem egoistischen Bezug zu dem jeweils Rechnenden steht: „Alle Rechtschaffenheit und alles Recht dagegen kommt aus einem Gleichgewicht der Egoismen: gegenseitige Anerkennung, sich nicht zu schädigen. Also aus Klugheit.“158
Das kluge Rechnen bezieht sich also auf jeweils egoistisch denkende Parteien. Es ist ihre Erhaltung und ihre Zuträglichkeit, die sie in ihrer Abwägung berücksichtigen und verfolgen. Auffällig ist, dass Nietzsche nicht von einem vernünftigen Rechnen spricht, mit welchem eine über den subjektiv Rechnenden hinausgehende Gesetzmäßigkeit in Bezug genommen würde, sondern mit der Klugheit gerade auf eine egoistische Schläue des Menschen hinaus will, auf eine in Nietzsches Augen menschliche, allzumenschliche Grundintelligenz, die den eigenen Vorteil im Blick hat. a) Die Zuträglichkeit Der Sprachgebrauch geht dahin, dass etwas jemandem zuträglich ist, wenn es für ihn gut, günstig oder nützlich ist. Ein Eindruck lässt sich bei einem Blick auf die Liste der Synonyme gewinnen. Die Synonyme, die zum Beispiel das Textverarbeitungsprogramm Word in der verwendeten 157 158
Nietzsche, MA I 446; KSA 2, S. 290. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KSA 7, S. 450.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Version für „zuträglich“ vorschlägt sind: „bekömmlich, förderlich, essbar, gedeihlich, gesund, gut, heilkräftig, kräftigend“159. Es darf angenommen werden, dass Nietzsche der Vorschlag „kräftigend“ im Hinblick auf den Willen zur Macht durchaus gefallen hätte. Vertieft lassen sich alleine für die Bedeutung von zuträglich als förderlich noch zahlreiche weitere Synonyme finden: „erträglich, aufbauend, ersprießlich, dienlich, nutzbringend, passend, heilsam, hilfreich, fördernd, fruchtbar, brauchbar, nützlich, annehmbar, bekömmlich, lohnend, geeignet, fruchtbringend“160. Auch die Nützlichkeit ist ein wichtiger Aspekt, vor allem im Kontext der gerade schon zitierten egoistischen Perspektive. Nietzsche spricht davon, dass der Mensch immer einen persönlichen Beweggrund für sein Handeln hat. An dieser Stelle in „Menschliches, Allzumenschliches“ führt Nietzsche eine sezierende Betrachtung der Möglichkeit unegoistischer Handlungen durch und kommt zu dem Schluss, dass solche Handlungen dem Menschen nicht möglich sind. Dieser Hintergrund ist für das Verständnis der Abwägung in der Situation der hypothetischen Machtprobe bedeutsam und spiegelt sich in der Verwendung des Begriffs der Zuträglichkeit. „Erstens ist ein Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig wäre, noch fabelhafter als der Vogel Phönix; es ist deutlich nicht einmal vorzustellen, schon desshalb, weil der ganze Begriff ‚unegoistische Handlung‘ bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein Mensch Etwas gethan, das allein für Andere und ohne jeden persönlichen Beweggrund gethan wäre; ja, wie sollte er Etwas thun können, das ohne Bezug zu ihm wäre, also ohne innere Nöthigung (welche ihren Grund doch in einem persönlichen Bedürfniss haben müsste)? Wie vermöchte das ego ohne das ego zu handeln?“161
Nietzsche attestiert dem Menschen, dass für ihn eine rein altruistische Handlung nicht möglich ist. Vielmehr liegt einer menschlichen Handlung immer ein persönliches Bedürfnis zugrunde. Der Mensch handelt immer egoistisch, und Nietzsche ist viel daran gelegen, die Selbsttäuschung zu entlarven, der Mensch sei zu rein unegoistischen Handlungen fähig. Er deckt das Allzumenschliche hinter vermeintlich altruistischen Handlungen auf und zeigt auf den dahinterliegenden Egoismus. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass Nietzsche, wenn er von einem Gleichgewicht der Egoismen spricht, den Menschen vor Augen hat, der gar nicht anders kann, als egoistisch zu handeln. 159 160 161
Synonyme für „zuträglich“ in Microsoft Word 2003. http://synonyme.woxikon.de/synonyme/zuträglich.php. Nietzsche, MA I 133; KSA 2 S. 126 f.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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In der hypothetischen Machtprobe kommt es zur Prognose der eigenen und der gegenüberstehenden Machtmöglichkeiten und Handlungsoptionen. Wenn Nietzsche hier von Zuträglichkeit spricht, dann hat er damit den rein egoistisch definierten Vorteil der abwägenden Parteien gemeint. Der Begriff der Zuträglichkeit beschreibt umfassend die Abwägung eigener Vor- und Nachteile. An anderer Stelle innerhalb des Beispiels der Gemeinde, die von einem Räuber bedroht wird und das Gleichgewicht durch einen bezahlten Dritten wieder herzustellen sucht, spricht Nietzsche von einer Kaufmanns-Moral und macht einmal mehr die Abwägung egoistischer Vorteile als zentralen Aspekt der Abwägung deutlich. „Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur dass der zweite seinen Vortheil anders, als der erste erreicht: nämlich durch regelmässige Abgaben, welche die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche Verhältniss wie zwischen Handelsmann und Seeräuber, welche lange Zeit ein und die selbe Person sind: wo ihr die eine Function nicht räthlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Verklügerung der Seeräuber-Moral: so wohlfeil wie möglich kaufen – womöglich für Nichts, als die Unternehmenskosten –, so theuer wie möglich verkaufen.)“162
Die Verfolgung des eigenen Vorteils ist das zentrale Motiv in der Abwägung der hypothetischen Machtprobe. Nietzsche stellt allerdings auf eine ungefähre Gleichgewichtigkeit ab, um die Option von Vertragsverhandlungen zu eröffnen. Auch hier spielt die Zuträglichkeit als egoistische Vorteilsabwägung eine wichtige Rolle – aber nicht die entscheidende. Denn gerade bei der nach Nietzsche erforderlichen Gleichgewichtigkeit der prognostizierten Machtmöglichkeiten kommt dem zweiten oben zitierten Faktor die ausschlaggebende Rolle zu: der Erhaltung im Sinne der Selbsterhaltung. b) Die Erhaltung Auch der Aspekt der Erhaltung ist zunächst einmal als egoistisches Motiv des Abwägenden zu verstehen. Allerdings geht dieses Motiv sehr tief in die elementaren Lebensprinzipien hinein wie auch in die Tiefen der Philosophie des Willens zur Macht. Mit Erhaltung ist eindeutig die Selbsterhaltung gemeint. „Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges 162
Nietzsche, MA II 2, 22; KSA 2, S. 555.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.“163
Eine kurze Betrachtung des Willens zur Macht wurde oben bereits unternommen. Anhand dieser aussagekräftigen Stelle wurde dargestellt, dass für Nietzsche das Prinzip des Willens zur Macht das entscheidende und allem zugrunde liegende Lebensprinzip ist. „Leben selbst ist Wille zur Macht“. Und obwohl Nietzsche den Selbsterhaltungstrieb als ganz grundlegenden Trieb aller lebendigen Wesen bezeichnet, gilt er ihm doch nur als Folge des Willens zur Macht. Auf die zunächst etwas kryptisch anmutende Formulierung des Auslassens von Kraft wird im Folgenden noch im Rahmen der Ausführungen zur Strafe zurückzukommen sein. Damit wird bei Nietzsche ein Wohlgefühl verbunden, welches bei der Ausübung von Macht, aber auch von Gewalt und Unterwerfung empfunden wird. Der Selbsterhaltungstrieb fußt also als ganz zentraler Trieb alles Lebendigen auf dem Willen zur Macht. Und diesen Grundtrieb meint Nietzsche, wenn er von Erhaltung spricht. Wie aber sieht das kluge Rechnen in Ansehung des Selbsterhaltungstriebes, der aus dem Willen zur Macht geboren wird, aus? Nietzsche schreibt: „Recht, auf Verträgen zwischen Gleichen beruhend, besteht, solange die Macht Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der nutzlosen Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen.“164
Die Charakterisierung als nutzlos weist wieder in Richtung der Zuträglichkeit, wirkt allerdings auch in den Aspekt der Erhaltung hinein. Gerhardt bezeichnet die gerade zitierte Stelle als Rechnung, deren Kalkül es zu beachten gilt. Und dieses sei die einsichtige Selbsterhaltung, die Nietzsche am Werke sieht.165 Der Begriff der einsichtigen Selbsterhaltung findet sich bei Nietzsche auch im Zusammenhang mit dem Ursprung der Gerechtigkeit, was deutlich auf die Parallelität der von Nietzsche gedachten Ursprungssituationen hindeutet.166 „Ursprung der Gerechtigkeit. – Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. [. . .] Gerechtigkeit ist also 163 164 165 166
Nietzsche, JGB Erstes Hauptstück 13; KSA 5, S. 27. Nietzsche, MA II 2, 26; KSA 2, S. 560. Vgl. Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, S. 114. Vgl. dazu unten C. I.
IV. Die Geburt des Rechts aus dem Vertrag
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Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: [. . .] Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: ‚wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?‘ –“167
Der Maßstab ist auch hier das erfolglose, gegenseitige Schädigen, die nutzlose Vergeudung von Kraft. Dabei geht es Nietzsche um die Abwägung des eigenen Investierens, welches immer das Ziel verfolgt, die eigene Existenz zu sichern (Erhaltung) und auszubauen (Zuträglichkeit). Die einsichtige Selbsterhaltung gibt den Verweis auf den Selbsterhaltungstrieb, der für Nietzsche direkte Folge des Willens zur Macht ist. So jedenfalls in der späten Schrift „Jenseits von Gut und Böse“.168 Gerhardt merkt hierzu an: „Die Betonung der Selbsterhaltung gilt für die mittlere Phase in Nietzsches philosophischer Entwicklung. Mit der Herausbildung des ‚Willens zur Macht‘ tritt die Funktion der Selbsterhaltung zurück.“169
Ob es sich wirklich um ein Zurücktreten der Funktion der Selbsterhaltung in Nietzsches Denken handelt, kann hier dahinstehen, soll jedoch bezweifelt werden. Die Instinkte sind alle Ausfluss des Lebensprinzips des Willens zur Macht und werden dadurch in ihren ureigensten Funktionen nicht weniger bedeutsam für Nietzsches Denken. Die Konzeption des Willens zur Macht ist umfassender und macht den Selbsterhaltungstrieb für Nietzsche zu seiner direkten Folge. Nietzsche betont an der gerade zitierten Stelle wieder den wirkenden Egoismus. Wie bereits dargestellt, ist es dem Menschen in Nietzsches Philosophie unmöglich, nicht egoistisch zu handeln. Und auch im Rahmen der hypothetischen Machtprobe, die zur Entstehung von Recht führt, ist es letztlich eine Ausformung des Willens zur Macht, der in Form des Selbsterhaltungstriebes zu der rein egoistisch zu bewertenden Frage führt, ob ein Kampf bei in etwa gleichen Machtmöglichkeiten sinnvoll erscheint. Schiller schreibt in seinem Beitrag zur Gerechtigkeit im Nietzsche-Handbuch: „Nietzsche versteht Recht rein funktional, als Funktion des Willens zur Macht. Es dient der Selbsterhaltung; [. . .].“170
Und Gerhardt spricht bezüglich der einsichtigen Selbsterhaltung von einem Prinzip und schreibt: 167
Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. Vgl. Nietzsche, JGB Erstes Hauptstück 13; KSA 5, S. 27. 169 Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts, Fußnote 50, S. 129. 170 Wolfgang Schiller, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 241. 168
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
„Der Begriff der ‚einsichtigen Selbsterhaltung‘ benennt das Prinzip, auf dem die Generalisierung von Verhaltenserwartungen der um Ausgleich bemühten Mächtigen beruht. Der Egoismus der Partner, die an der Sicherung ihres Bestands und damit auch an der Wahrung ihrer Handlungsmöglichkeiten interessiert sind, ist die Ratio der Regelung auf Gegenseitigkeit. Ihr Medium ist die antizipierende Einsicht, die abwägende Beurteilung der jeweiligen Handlungschancen mit dem Ziel einer den eigenen Vorteil umfänglich garantierenden Entscheidung.“171
Der Egoismus der Vertragsparteien als Ratio der getroffenen Vereinbarung. Nietzsche spricht durchaus bewusst nicht von Vernunft, der Begriff der Ratio kann hier also nur insoweit Bestand haben, als er nicht wörtlich, sondern als Kalkül der Rechnung gemeint ist, als die Klugheit in diesem Rechnen. Die einsichtige Selbsterhaltung verweist auf diese Klugheit, die sich durch den Selbsterhaltungstrieb Gehör verschafft. Die egoistische Überlegung ist, warum eine Partei sich selbst schädigen sollte, obwohl sie damit nicht sicher sein kann, ihr Ziel überhaupt zu erreichen. Diese Überlegung allerdings macht nur Sinn vor dem Hintergrund der als in etwa gleich eingestuften Machtmöglichkeiten. Denn nur wenn die Kräfte als ungefähr gleich eingestuft werden, kommen die Parteien in ihrer Rechnung zu der Frage, inwieweit eine Auseinandersetzung sinnvoll sein kann. Um in dem Bild der sich kriegerisch gegenüberstehenden Parteien zu bleiben, ob ein Kampf als sinnvoll erscheint. Erst die Gleichgewichtigkeit der Machtmöglichkeiten schafft den Raum für das Einfallstor der einsichtigen Selbsterhaltung, die – aus purem Egoismus – zu Vertragsverhandlungen rät. Und jeder gegenseitige Vertrag steht für Nietzsche unter den Vorbehalten, die der Eigennutz als Bedingungen in den Vertrag aufgenommen sehen will: „In freieren Verhältnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes.“172
Da der Selbsterhaltungstrieb für Nietzsche direkte Folge des omnipräsenten und omniwirksamen Willens zur Macht ist, gelingt über diese Klugheit in der Abwägung der Machtmöglichkeiten nicht nur eine Rückführung auf die Selbsterhaltung, sondern auch auf den Willen zur Macht – das zentrale Lebensprinzip in der Philosophie Nietzsches. Und die in diesem Sinne unkluge Entscheidung der Kämpfer an den Thermopylen, sich zu opfern? Nietzsche selbst formuliert die egoistische Überlegung, die diese Entscheidung auch vor dem Hintergrund seiner Ausführungen und mit seinen Worten erklären kann, da er die Frage nach der nutzlosen Schädigung stellt.173 171 172 173
Gerhardt, Das Prinzip des Gleichgewichts. S. 114. Nietzsche, MA I 441; KSA 2, S. 288. Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89.
V. Rechtszustände als Ausnahmezustände
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Dass die verbliebenen Soldaten kämpften, obwohl ihr Kampf aussichtslos war, erklärt sich damit, dass sie die Selbstaufopferung gewählt haben, da diese keine nutzlose Schädigung war, sondern sie mit ihrem Opfer den Rückzug des übrigen Heeres gesichert haben. In diesem Sinne wurde der Selbsterhaltungstrieb überwunden und die Aufgabe über das eigene Leben gestellt. Dies mag zwar dem individuellen Streben nach Selbsterhaltung widersprechen, nicht jedoch dem Willen zur Macht des großen Ganzen, der den sicheren Rückzug des übrigen Heeres mitberücksichtigt. Inwieweit diese Selbsttranszendenz in der Motivation von den einzelnen Soldaten wirklich mitgetragen wurde, bleibt hierbei ungeklärt.
V. Rechtszustände als Ausnahmezustände Das Ergebnis der klugen Rechnung ist, dass ein Kampf sich nicht lohnt, da der Preis zu hoch wäre. Bei für in etwa gleich gehaltenen Machtmöglichkeiten wird das Gegenüber als potentieller Vertragspartner wahrgenommen, ihm wird die Eigenschaft, Rechtssubjekt zu sein, zugesprochen. Vollzogen wird dies im Folgenden in dem Vertragsschluss, der Rechte für beide Parteien festhält und so die angenommene Gleichheit zu perpetuieren versucht. 1. Der Naturzustand in den Rechtszuständen Nunmehr ist danach zu fragen, welche Folgen eine solchermaßen entworfene Rechtsentstehung für das daraus entstandene Recht hat. Wie sieht Nietzsche die Zukunft dieses Rechts? Was hat es für Konsequenzen, dass eine subjektive Machtabschätzung Grundlage des Vertragens ist? Mit dem Vertragsschluss wurde ein angenommen gleicher Status der Machtmöglichkeiten festgehalten, um eine gewisse Sicherheit zu erreichen. „Da die Menschen ihrer Sicherheit wegen sich selber einander gleich gesetzt haben, zur Gründung der Gemeinde, diese Auffassung aber im Grunde wider die Natur des Einzelnen geht und etwas Erzwungenes ist, so machen sich, je mehr die allgemeine Sicherheit gewährleistet ist, neue Schösslinge des alten Triebes nach Uebergewicht geltend: in der Abgränzung der Stände, in dem Anspruch auf Berufs-Würden und -Vorrechte, überhaupt in der Eitelkeit (Manieren, Tracht, Sprache u.s.w.).“174
Das Bedürfnis nach Sicherheit ist demnach für Nietzsche ein entscheidender Faktor für die angenommene Gleichheit. Die Sicherheit als zu bedenkender Aspekt fällt auch unter den egoistischen Blickwinkel der Zuträglichkeit, die oben bereits dargestellt wurde. Es besteht angesichts der er174
Nietzsche, MA II 2, 31; KSA 2, S. 563.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
strebten Sicherheit ein gewisser Wille zur Annahme einer Gleichheit, ein guter Wille in der Bewertung ob der Zielrichtung. Dieser gute Wille zeigt sich auch darin, dass die Parteien ein einmal angenommenes Gleichgewicht sogar zu stützen suchen.175 Allerdings wirkt der Wille zur Macht grundsätzlich weiter. Er lässt sich als Lebensprinzip nicht abschalten und verlangt in seiner Grundausprägung, nach Wachstum und Überwältigung zu streben. Nietzsche macht die Wirkung des Willens zur Macht auch in den komplexen, abgrenzenden Ausformungen der modernen Gesellschaft aus. Und auch das Recht stellt sich letztlich als Ausformung und Ergebnis von Konflikten dar, und auch in den Rechtszuständen und zwischen den Rechtsordnungen endet der Kampf nicht. Jhering hat Nietzsche dahingehend beeinflusst, auch das Recht selbst in einem andauernden Kampf zu sehen. Diese Rechtskonzeption stimmt mit der Vorstellung Nietzsches überein, dass das Recht selbst nicht nur in einer kämpferischen Situation entsteht, sondern der Kampf auch in Rechtszuständen nicht endet. So schreibt Jhering: „Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel dazu ist der Kampf. [. . .] Das Leben des Rechts ist Kampf, ein Kampf der Völker, der Staatsgewalt, der Stände, der Individuen.“176
Nietzsche beschreibt die Ursache dafür dahingehend, dass der Naturzustand nicht endet und der Wille zur Macht sowie die gegenseitige Machtabschätzung immer weiterlaufen. In den nachgelassenen Fragmenten findet sich ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Gleichgewicht Grundlage ist und dennoch nicht bedeutet, dass der Naturzustand damit beendet ist. „Recht so lange als Machtgleichheit. Der Naturzustand hört nicht auf.“177
Denn auch innerhalb des Rechts und auch die Rechtsordnungen selbst unterstehen andauernd dem Wirken des Willens zur Macht und der beständigen Abschätzung der gegenseitigen Macht. Das Recht ist letztlich auch als Teil eines Kampfes zu sehen.178 Dennoch handelt es sich bei dem Recht um einen Zustand zumindest zeitweise fixierter Machtbezüge. Dieses Rechtsverständnis hält Biebricher auch hinsichtlich der rechtsphilosophischen Überlegungen Michel Foucaults fest, der sich mit einem Aufsatz zu Nietzsches Verständnis der Rolle des Rechts geäußert hat: „Diesem realen Substrat der Geschichte [Foucaults historische Bestandsaufnahme von gesellschaftlichen Kämpfen und Konflikten] steht das Recht als einzig vorü175 176 177 178
Vgl. Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 101. Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, 8. Aufl., Frankfurt 2003, S. 5. Nietzsche, KSA 14, S. 186. Vgl. Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 312.
V. Rechtszustände als Ausnahmezustände
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bergehende Festschreibung der Kräfteverhältnisse in diesen Kämpfen gegenüber.“179
Und genauso sieht Nietzsche das Recht. Denn der festgehaltene Status der angenommenen Machtgleichheit als Grundlage des Rechts ist höchst fragil – und damit ist es auch das sich darauf gründende Recht. Das allzumenschliche Recht basiert auf diesem Gleichgewicht, das zu einem bestimmten Zeitpunkt als solches eingeschätzt wurde. Was aber, wenn sich diese Einschätzung ändert? Und droht bei Neubewertung der zugrunde liegenden Machtmöglichkeiten ein vollständiger Rückfall in den Naturzustand? Der zentrale Aphorismus dazu findet sich in „Menschliches, Allzumenschliches“: „Rechtszustände als Mittel. – Recht, auf Verträgen zwischen Gleichen beruhend, besteht, solange die Macht Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der nutzlosen Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser aber ist ebenso endgültig ein Ende gemacht, wenn der eine Theil entschieden schwächer, als der andere, geworden ist: dann tritt Unterwerfung ein und das Recht hört auf, aber der Erfolg ist der selbe wie der, welcher bisher durch das Recht erreicht wurde. Denn jetzt ist es die Klugheit des Ueberwiegenden, welche die Kraft des Unterworfenen zu schonen und nicht nutzlos zu vergeuden anräth: und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des Gleichgestellten war. – Rechtszustände sind also zeitweilige Mittel, welche die Klugheit anräth, keine Ziele. –“180
Hier fasst Nietzsche zunächst noch einmal die Aspekte seiner Rechtsentstehungstheorie zusammen und geht auch gleich auf die Folgen ein. Wenn das angenommene Gleichgewicht die Basis für das Vertragen und damit das Recht darstellt, dann muss selbstredend die Frage gestellt werden, wie sich das so entstandene Recht verhält, wenn dieses Gleichgewicht aus den Fugen gerät. Kommt eine weitere Machtabschätzung zu dem geänderten Ergebnis der Überlegenheit einer Partei, so ist für Nietzsche die Unterwerfung die Folge. Und mit der Unterwerfung hört für Nietzsche das Recht auf. Es gibt keinen Vertrag mehr. Es gibt kein Recht mehr. Der Stärkere überrennt den Schwächeren. Der Rechtszustand kann also enden, wenn das Gleichgewicht sich verändert bzw. verändert bewertet wird. Denn das Recht geht nur so weit, wie die Parteien sich als in etwa gleich mächtig einschätzen und sich so Rechte zuerkennen. Ändert sich diese Einschätzung, kommt es zum Kampf, oder angesichts der eindeutigen Übermacht direkt zur Unterwerfung. 179 Thomas Biebricher, Macht und Recht: Foucault, in: Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., Stuttgart 2009, S. 140. 180 Nietzsche, MA II 2, 26; KSA 2, S. 560.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Nietzsche trifft an dieser Textstelle ein für unsere Ohren hartes Urteil über das Recht. Das Recht ist vor dem Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte nur als Mittel anzusehen, nicht als Ziel. Der Weg zur Rechtsentstehung bestimmt sich durch die Zuträglichkeit und den Überlebensinstinkt als Ausfluss des Willens zur Macht. Dies hat zur Folge, dass der so geborene Rechtszustand für die Vertragsparteien jeweils nur ein Mittel zur Erreichung ihrer rein egoistischen und subjektiven Ziele ist. Der Rechtszustand selbst kann für die Parteien kein Ziel sein, und schon gar kein Ziel von Dauer. Auch wenn es einen gewissen guten Willen zur Annahme der notwendigen Gleichheit gibt. Die Klugheit des Überwiegenden, die Nietzsche anspricht, korreliert mit seinen Ausführungen zu den Rechten des Schwächeren, der immer noch mit Selbstzerstörung drohen und dem Mächtigeren so eine große Einbuße beibringen kann.181 Das Schonen des Unterlegenen kann demnach durch die Klugheit, die die eigene Zuträglichkeit im Blick hat, angeraten sein. Der Wille zur Macht als dahinter wirkendes Prinzip rät mithin keineswegs stets zu Zerstörung und Vernichtung. 2. Der Melier-Dialog und der Abbruch der Verhandlungen Allerdings wirkt der obige Absatz doch etwas euphemistisch. Richtet man den Blick auf den Melier-Dialog des Thukydides, den Nietzsche als Beispiel heranzieht und als „furchtbares Gespräch der athenischen und melischen Gesandten“182 bezeichnet, so darf man mit Thukydides annehmen, dass die Verhandlungen grandios gescheitert sind und die mächtigeren Athener die Insel Melos grausam und blutig überrannten. Die Feindseligkeiten der Athener begannen direkt nach Abbruch der Verhandlungen. Die Männer sollen hingerichtet und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft worden sein.183 Von einer Schonung der Unterlegenen also keine Spur in diesem 181
Vgl. Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 90. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89; siehe auch schon oben. 183 Hellmut Flashar, Nachwort zur Reclam-Ausgabe, S. 93: „Die Melier gehen auf die Bedingungen der Athener nicht ein; es gab Krieg, erst nach längerer Belagerung ergaben sich die Melier. Die Männer wurden von den Athenern getötet, die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Melierdialog: „Nach einer Beratung erklärten die melischen Oligarchen, dass sie ihre seit 700 Jahren bestehende Freiheit nicht aufgäben, sondern sich dem Beistand der Götter und der Spartaner anvertrauen und sich einer Unterwerfung widersetzen wollten. Die Athener begannen daraufhin mit der Belagerung der Stadt, die nach einem halben Jahr durch Verrat endete. Die Athener richteten alle Männer aus Melos hin und verkauften die Frauen und Kinder in die Sklaverei.“ 182
V. Rechtszustände als Ausnahmezustände
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von Nietzsche selbst gewählten Beispiel. Vielmehr ließen die Mächtigeren ihren Willen zur Macht an den Unterlegenen aus. Die Zuträglichkeitserwägungen scheinen dem Auslassen der Macht untergeordnet worden zu sein. So hätten auch die Männer als Sklaven verkauft werden können, wenn es um den reinen Profit gegangen wäre. Stattdessen wurden sie getötet.184 Das bedeutet, es erfolgte zwar eine erste Anerkennung als Rechtssubjekt durch die Athener (trotz ihrer Übermacht), die Melier wurden also durchaus als Verhandlungspartner wahrgenommen. Da aber im Rahmen der Verhandlungen die Athener angesichts ihrer Übermacht derart dominierende Rechte und Pflichten festlegen wollten, konnten die Melier sich auf einen solchen Vertragsschluss nicht einlassen – obwohl dieser gerade die Relationen der ersten Machtabschätzung widergespiegelt hätte. Nachdem die Melier einen solchen sehr ungleichen Vertrag nicht zu schließen bereit waren, besannen sich die Athener auf ihre Übermacht – und sprachen den Meliern die bis dato zuerkannten Rechte wieder ab. Sowohl die Eigenschaft, Rechtssubjekt sein zu können, potentieller Vertragspartner sein zu können, als auch das ganz grundlegende Existenzrecht der Stadt und das Lebensrecht der Einzelnen. Die Melier hatten keine Rechte mehr und die Athener nur ihre Stärke, ihre faktische Dominanz. Die Stadt wurde erobert, den Männern das Leben genommen, die Frauen und Kindern wurden zu Sklaven gemacht – was im antiken Griechenland im Übrigen mit einer völligen Rechtlosigkeit gleichzusetzen ist. Und diese grundsätzliche Rechtlosigkeit ist auch Nietzsches Ausgangspunkt. So gibt es für ihn weder ein Naturrecht noch ein Naturunrecht.185 Und Nietzsche meint das so ernst, wie dies sich im Ausgang des historischen Melier-Dialogs vollzogen hat. Im Nachlass findet sich insoweit eine klare Aussage: „Menschenrechte giebt es nicht.“186
Und das bedeutet, dass in Nietzsches Konstellation auch schon durch das Verhandeln selbst ein Recht zuerkannt werden kann und sich dann in der Zwei-Parteien-Konflikt-Situation auch erst im Rahmen der Verhandlungen ergeben kann, dass es nicht zu einem Vertragsschluss kommen wird. Es werden dann keine weiteren Rechte aus dem Vertrag zuerkannt, aber auch die bisherige Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt zurückgezogen. Und das bedeutet im antiken Griechenland und auch für Nietzsche die Auflösung jeglichen Rechts und damit letztlich offener Kampf und Überwältigung durch den Stärkeren. 184 185 186
Vgl. ebd. Vgl. Nietzsche, MA II 31; KSA 2 S. 563. Nietzsche, Nachgelassen Fragmente Herbst 1877, KSA 8, S. 482.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
Und dann kann der Stärkere tun und lassen was er will. Es gibt kein Recht, das die Hinrichtung der Besiegten hindern könnte.187 3. Die Veränderung der Machteinschätzung Wenn sich die Einschätzung der Machtmöglichkeiten gravierend ändert, wird dem Rechtszustand das Fundament des zugrunde liegenden Gleichgewichts genommen, und er bricht zusammen. Nietzsche spricht es deutlich aus: das Recht hört auf.188 In Konsequenz kommt es zum offenen Kampf, von dem die Parteien zuvor durch die Klugheit ihrer Selbsterhaltung abgehalten worden waren. Der geschlossen Vertrag wird hinfällig, was zur Folge hat, dass die Parteien aus diesem keine Rechte mehr ableiten können. Aber mit dem Vertrag fällt auch die Anerkennung des anderen als Rechtssubjekt. Die beiden Zuerkennungen von Rechten enden mit der Aufkündigung des Vertrages. Zunächst allerdings gibt es für Nietzsche auch einen gewissen Verteidigungswillen des einmal geschlossenen Vertrages, einen guten Willen, an dem Gleichgewicht festzuhalten. Wenn die Machtmöglichkeiten einmal als in etwa gleich eingestuft wurden und ein Vertrag geschlossen wird, wird nach Nietzsche an diesem bis zu einem gewissen Grad auch festgehalten, Änderungen werden abgewehrt. Erst bei einer erheblichen Änderung kommt es dazu, dass das Gleichgewicht aus den Fugen gerät und das Recht endet. „So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade. Verschieben sich die Machtverhältnisse wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sich neue, – diess zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen. Nimmt unsere Macht wesentlich ab, so verändert sich das Gefühl Derer, welche bisher unser Recht gewährleisteten: sie ermessen, ob sie uns wieder in den alten Vollbesitz bringen können, – fühlen sie sich hierzu ausser Stande, so leugnen sie von da an unsere ‚Rechte‘.“189
Nietzsche sieht also zunächst das Gegenüber an dem Gleichgewicht festhalten, ja sogar dafür aktiv werden. Wenn die eine Partei merkt, dass die Macht der anderen weniger wird, dann versucht sie zunächst sogar, diese wieder zu stärken. Ein Verhalten, das nur vor dem Hintergrund des einmal angenommenen Gleichgewichts und dem beiderseitigen Interesse daran zu verstehen ist. Die Parteien entwickeln einen gewissen guten Willen dahingehend, das gefundene Gleichgewicht zu erhalten. Sie wollen das Gleichgewicht. Im Nachlass findet sich eine sehr eindeutige Stelle, die diesen guten Willen festhält: 187 188 189
Vgl. Nietzsche, MA I 2, 99; KSA 2 S. 95 f. Vgl. Nietzsche, MA II 2, 26; KSA 2, S. 560. Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 101.
V. Rechtszustände als Ausnahmezustände
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„Daß zwei Mächte im Verhältniß zu einander dem rücksichtslosen Willen zur Macht eine Zaum anlegen und sich einander nicht nur als gleich lassen, sondern auch als gleich wollen, das ist der Anfang alles ‚guten Willens‘ auf Erden. Ein Vertrag enthält nämlich nicht nur eine bloße Affirmation in Bezug auf ein bestehendes Quantum von Macht, sondern zugleich auch den Willen, dieses Quantum auf beiden Seiten als etwas Dauerndes zu affirmiren und somit bis zu einem gewissen Grade selbst aufrecht zu erhalten: – darin steckt, wie gesagt, ein Keim von allem ‚guten Willen‘.“190
Dieser gute Wille zum Erhalt des Gleichgewichts funktioniert aber nur „bis zu einem gewissen Grade“. Denn ist eine Stärkung der anderen Partei nicht möglich, ist die Verschiebung des Machtverhältnisses „wesentlich“, wird die stärkere Partei die Rechte des Gegenübers leugnen. Die kann ihm auch nicht mehr helfen, das Gleichgewicht ist nicht mehr haltbar. Nietzsche setzt hier das Wort Rechte in Anführungszeichen. In demselben Satz kommt das Wort Recht schon einmal vor, dort allerdings ohne Anführungszeichen. Denn an erster Stelle gewährleistet die andere Partei noch das Recht – auf Basis des vormalig angenommenen Gleichgewichts. Wenn das Gegenüber die Rechte leugnet, setzt Nietzsche das Wort folgerichtig in Anführungszeichen – denn im Grunde gibt es ab diesem Moment schon nichts mehr, was die stärkere Partei leugnen müsste, das Recht endet vielmehr mit der fehlenden Akzeptanz durch das Gegenüber. Mit der Aufkündigung des Vertrages wird die Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt zurückgezogen, die Rechte aus dem Vertrag verfallen ebenfalls. Nietzsche spielt aber auch die andere Variante durch und stellt die Auswirkungen dar, wenn die eigene Macht erheblich zunimmt. Wäre es nur eine geringe Zunahme, würde diese von den Parteien ausgeglichen oder gar nicht wahrgenommen. Es bedarf demnach einer bestimmten Schwelle, die Nietzsche zuvor mit der Wesentlichkeit der Machtveränderung beschreibt, nachfolgend mit der Erheblichkeit derselben. Dann kippt das Gleichgewicht endgültig und reißt den bis dahin gehaltenen Rechtszustand mit sich. „Ebenso, wenn unsere Macht erheblich zunimmt, verändert sich das Gefühl Derer, welche sie bisher anerkannten und deren Anerkennung wir nun nicht mehr brauchen: sie versuchen wohl, dieselbe auf das frühere Maass herabzudrücken, sie werden eingreifen wollen und sich auf ihre ‚Pflicht‘ dabei berufen, – aber diess ist nur ein unnützes Wortemachen. Wo Recht herrscht, da wird ein Zustand und Grad von Macht aufrecht erhalten, eine Verminderung und Vermehrung abgewehrt. Das Recht Anderer ist die Concession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen Anderen. Wenn sich unsere Macht tief erschüttert und gebrochen zeigt, so hören unsere Rechte auf: dagegen hören, wenn wir sehr 190 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1886–Herbst 1887, KSA 12, S. 221.
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B. Ursprungssituation für die Entstehung von Recht
viel mächtiger geworden sind, die Rechte Anderer für uns auf, wie wir sie bis jetzt ihnen zugestanden.“191
Dass es einer erheblichen Machtveränderung bedarf, ergibt sich bereits aus der Dynamik und der oben dargestellten Art und Weise, wie die Macht abgeschätzt wird. In diesem Vorgang entscheiden nicht objektive Größen, sondern die zutiefst subjektive Einschätzung der Parteien. Das Gleichgewicht selbst ist ein dynamisches Gebilde, welches lebendig gedacht werden muss, sich bewegend, sich verändernd. Kleine Schwankungen sind Teil des Gleichgewichts, die entweder gar nicht auffallen, oder die von den Parteien sogar ausgeglichen werden. Bei der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts handelt es sich um einen aktiven Prozess der Parteien, die eine Verminderung und Vermehrung abwehren. Wird allerdings die Grenze zur Erheblichkeit der Machtveränderung überschritten, dann ist das Gleichgewicht nicht mehr haltbar und das Recht endet. Die über diese Schwelle erstarkte Partei hat die Anerkennung ihrer Rechte durch die andere Partei nicht mehr nötig, sie hat einen Vertrag nicht mehr nötig. Der Begriff der Pflicht, den Nietzsche hier verwendet, ist als Gegenbegriff zum Recht gebraucht. Dieser wird ebenfalls in Anführungszeichen gesetzt, da es auch diese Pflicht als Kehrseite des Rechts aus dem Vertrag nur auf Basis des angenommenen Gleichgewichts gibt. Wenn dieses fällt, dann enden das Recht und die Pflicht aus dem Vertrag in diesem Moment gleichermaßen. Das Gegenüber wird nicht mehr als Rechtssubjekt, das Träger von Rechten und Pflichten sein kann, bewertet. 4. Rechtszustände als Ausnahmezustände Der Wille zur Macht wirkt nicht nur bei der Rechtsentstehung, sondern als omnipräsentes Lebensprinzip auch weiterhin und dauerhaft nach Aufrichtung des Rechtszustandes. Und so gelten die Rechtszustände Nietzsche vor dem Hintergrund der jederzeit möglichen Veränderung der Machtabschätzung nur als zeitliche Gebilde, die dauernder Veränderung unterworfen sind oder ganz vergehen können. In der „Genealogie der Moral“ nimmt Nietzsche zu diesem Aspekt noch einmal in all seiner sprachlichen Brillanz und Radikalität, die dem Willen zur Macht geschuldet ist, Stellung und rekurriert dabei auf einen biologischen Standpunkt, der für ihn nichts anderes ist als der Standpunkt des Willens zur Macht. 191
Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 101 f.
V. Rechtszustände als Ausnahmezustände
81
„Man muss sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände sein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, grössere Macht-Einheiten zu schaffen.“192
Der Wille zur Macht ist der zentrale Antrieb des Menschen wie auch der Natur insgesamt. Auf der Basis der ausgeführten Rechtsentstehung können die so geborenen Rechtszustände immer nur Mittel der Parteien sein, nicht dauerhafte Ziele, jederzeit auch vom völligen Zusammenbruch bedroht. Der Wille zur Macht schläft nicht. Die biologische Perspektive bei Nietzsche soll dies verdeutlichen. Da jeder Rechtszustand auch eine Begrenzung und Beschneidung des Willens zur Macht darstellt, sieht Nietzsche dem Streben des Willens zur Macht dadurch Genüge getan, dass dieser sich nur beschränken lässt, um in der Bildung von größeren Einheiten zu wachsen und zu gedeihen. Eine Rechtsordnung, die jeglichen Kampf und damit den Willen zur Macht abschaffen will, hält Nietzsche dementsprechend für lebensfeindlich. „Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt, etwa gemäss der Communisten-Schablone Dühring’s, dass jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts.“193
An dieser Stelle in der „Genealogie der Moral“ hält Nietzsche fest, dass nur ein Verständnis von Rechtsordnungen als Mittel im Kampf von Machtkomplexen dem Wirken des Willens zur Macht gerecht wird. Eine Rechtsordnung, die als Mittel gegen jeglichen Kampf entworfen ist, stellt für Nietzsche ein lebensfeindliches Prinzip dar. Die Gleichstellung aller beteiligten Willen ist für Nietzsche mit dem Wirken des Willens zur Macht nicht vereinbar. In der Dynamik der konkurrierenden Willen gibt es keine von den Machtmöglichkeiten unabhängige Gleichheit, vielmehr eine natürlich gegebene Ungleichheit. Das für Nietzsche ursprüngliche Prinzip des Lebens ist der Willen zur Macht, der immer wirkt und sich nicht ausschalten lässt. Und so spielt er auch in der Rechtsentstehung die entscheidende Rolle. Rechtszustände sind daraus folgend für Nietzsche nur Ausnahmezustände, die als Mittel in einem noch größeren komplexeren Kampf zu verstehen sind – angetrieben durch den Willen zur Macht. 192 193
Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 312. Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 312.
C. Die Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit in der Philosophie Friedrich Nietzsches Nachfolgend wird der zentrale Aphorismus Nietzsches zum Ursprung der Gerechtigkeit – in Verbindung mit anderen Textstellen – die von Nietzsche entworfene Ursprungssituation als Chance zu einem gerechten Austausch aufzeigen. Insbesondere ist schon jetzt auf die Beiträge von Dae-Jong Yang und Jens Petersen hinzuweisen, die zu dem weit gefassten Thema der Gerechtigkeit in der Philosophie Nietzsches erst in den letzten Jahren Großes geleistet haben1. Nietzsche wird primär nur mit dem Willen zur Macht und dem Begriff des Übermenschen und dann auch gerne mit dem bloßen Recht des Stärkeren assoziiert. Dass dies seinem komplexen Rechtsdenken nicht gerecht wird, hat bereits das vorangegangene Kapitel gezeigt. Aber Nietzsche hat nicht nur die oben dargestellte, in sich geschlossene Rechtsentstehungsgeschichte vorgelegt, er ist auch als Freund und Bewunderer der Gerechtigkeit zu verstehen und neu zu entdecken. Dabei hat der Begriff der Gerechtigkeit bei Nietzsche viele Facetten, die von einer konkreten Austauschgerechtigkeit bis zu einer erkenntnistheoretischen Suche nach der Wahrheit reichen.
I. Parallelität der Ursprungssituation von Recht und Gerechtigkeit Die Gerechtigkeit erhält bei Nietzsche immer wieder ideale, geradezu göttliche Züge. Petersen spricht schon im Titel seines Beitrags von einer Genialität der Gerechtigkeit und zitiert damit Nietzsche in seiner Bewunderung für die Gerechtigkeit. Auffallend ist, dass Nietzsche eine ganz konkrete Konstellation für eine Chance auf einen gerechten Austausch entwirft. Dabei fußt die Gerechtigkeit bei Nietzsche – ebenso wie das Recht auf einer Grundsituation der 1 Dae-Jong Yang, Die Problematik des Begriffs der Gerechtigkeit in der Philosophie von Friedrich Nietzsche, 2005; Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008.
I. Parallelität der Ursprungssituation von Recht und Gerechtigkeit
83
Gleichgewichtigkeit von Mächten – auf einer auf ein Zwei-Personen-Verhältnis zurückführbaren Konfliktsituation zweier Parteien. Wiederum sind die in Nietzsches Werk nur verstreut zu findenden Stellen zusammenzutragen, um die werkimmanente Konsistenz der Gerechtigkeitskonzeption sichtbar zu machen. Die gedachten Entstehungssituationen des Rechts und der Gerechtigkeit sind in Nietzsches Konzeption identisch entworfen. Die entscheidenden Aphorismen nehmen immer wieder Bezug auf die bereits dargestellte ZweiParteien-Konflikt-Situation und die Gleichgewichtigkeit der Mächte, die angenommen werden muss, um überhaupt in Verhandlungen einzutreten. Es sind die von Nietzsche herangezogenen kriegerischen Konfliktsituationen, die als sehr anschauliche und ernst gemeinte Konstellationen zu diesem Ergebnis führen. Auch in der Ursprungssituation der Gerechtigkeit ist die erste Grundvoraussetzung, dass die sich gegenüber stehenden Parteien ihre Machtmöglichkeiten als in etwa gleich einschätzen. Denn dann können die Klugheit der Selbsterhaltung und damit der Wille zur Macht seine Wirkung entfalten. Als Einstieg in die Parallelität der Ursprungssituationen soll der Aphorismus vom Prinzip des Gleichgewichts dienen. In diesem wird das Beispiel der Gemeinde ausgeführt, die einen Dritten damit beauftragt, sie vor einem Räuber zu beschützen und gegen diesen Gleichgewicht zu halten. Im Fortgang des Aphorismus heißt es dann: „Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit.“2
Hier wird in Referenz auf die älteren Rechtslehren auf ein zugrundeliegendes Gleichgewicht hingewiesen, das Gleichgewicht als Basis der Gerechtigkeit bezeichnet. Die herausragende Rolle, die die Gleichgewichtigkeit für Nietzsches Gerechtigkeitsansatz spielt, wird dabei bereits deutlich. Aber Nietzsche stellt auch einen Bezug des Gleichgewichts zum Recht her. Noch eindeutiger zeigt sich die Parallelität der Rechtsentstehung und der Ursprungssituation der Gerechtigkeit in dem „Ursprung der Gerechtigkeit“ betitelten Aphorismus aus dem ersten Band von „Menschliches, Allzumenschliches“, da hier der Zusammenhang zur Klugheit der Selbsterhaltung hergestellt wird. „Ursprung der Gerechtigkeit. – Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolg2
Nietzsche, MA II 2, 22; KSA 2, S. 556.
84
C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
losen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit.“3
Das Gleichgewicht ist demnach, wie im Rahmen der Rechtsentstehung, der Beweggrund, sich an den Verhandlungstisch zu begeben. Die Parteien sprechen über ihren jeweiligen Willen, ihre Ziele, ihre Ansprüche. Nur wenn diese auf den Tisch kommen, können sie berücksichtigt werden, da Nietzsche die Gerechtigkeit als Tausch denkt. „Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. – Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: ‚wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?‘ – Soviel vom Ursprung der Gerechtigkeit.“4
Diese Stelle – und so betont es Nietzsche am Ende des Zitates – ist seine zentrale Aussage über die Ursprungssituation der Gerechtigkeit. In der beschriebenen Situation ist das übereinstimmende Moment die ungefähr gleiche Machtstellung und die Klugheit der Selbsterhaltung, die zu Verhandlungen rät. Denn in den einschlägigen Passagen zur Entstehung von Recht nimmt Nietzsche ebenfalls Bezug auf diese Klugheit der Selbsterhaltung und die ungefähre Gleichheit der Macht. So findet sich in den nachgelassenen Fragmenten eine Stelle, in der Nietzsche die Herkunft des Rechts aus einem Gleichgewicht der Egoismen ableitet, die in gegenseitiger Anerkennung aus Klugheit beschlossen haben, sich nicht gegenseitig zu schädigen.5 An anderer Stelle führt Nietzsche aus, dass das Recht so lange besteht, wie die Macht derer gleich oder ähnlich ist, die sich aus Klugheit vertragen haben, um die nutzlose Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten zu beenden.6 Die angenommene Gleichgewichtigkeit der Machtmöglichkeiten und die daran ansetzende Klugheit der Selbsterhaltung führen zu einer Übereinstimmung der Ursprungssituationen von Recht und Gerechtigkeit, da nur diese Bedingungen für Nietzsche überhaupt das Bedürfnis nach Verhandlungen aufkommen lassen. 3 4 5 6
Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KSA 7, S. 450. Vgl. Nietzsche, MA II 2, 26; KSA 2, S. 560.
I. Parallelität der Ursprungssituation von Recht und Gerechtigkeit
85
Dementsprechend nimmt auch Petersen sowohl für die Gerechtigkeit als auch für die Rechtsentstehung Bezug auf die hypothetische Machtprobe: „Unter Berufung auf Thukydides sieht er den Ursprung der Gerechtigkeit im Gleichgewicht der Macht. Ergibt die Einschätzung der Machtverhältnisse, dass auf keiner Seite ein deutliches Übergewicht besteht ‚und ein Kampf zum erfolglosen gegenseitigen Schädigen würde‘, so ‚entsteht der Gedanke, sich zu verständigen und über beiderseitige Ansprüche zu verhandeln‘. An anderer Stelle drückt er es noch sinnfälliger aus, indem er feststellt: ‚wenn man sich verträgt, – wenn man einen Vertrag macht‘. Dieser Zusammenhang ist unmittelbar für die Rechtsentstehung bedeutsam: ‚So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade.‘ “7
Auch Gerhardt geht von einem angenommenen Machtgleichgewicht als Ausgangspunkt für die Überlegungen Nietzsches zur Entstehung von Recht und von Gerechtigkeit aus. Wie bereits angesprochen, geht die Parallelität der Rechtsentstehung und der Voraussetzung der Gerechtigkeit so weit, dass Gerhardt in seinem Beitrag „Das Princip des Gleichgewichts“ die Begriffe Recht und Gerechtigkeit zum Teil austauschbar verwendet8. Die Parteien wollen etwas voneinander und sind darüber dergestalt in Konflikt geraten, dass sie das jeweils Gewollte zunächst einmal nicht bekommen können, da die andere Partei es hat und sich einer Herausgabe entgegen stellt. Die nachfolgende hypothetische Machtprobe verbindet sowohl die Entstehungssituation der Gerechtigkeit als auch des Rechts. Sie muss zu dem Ergebnis einer ungefähren Gleichheit kommen, da nur dann die Klugheit der Selbsterhaltung, wie im vorangegangen Kapitel bereits dargestellt zu Verhandlungen rät. Unzutreffend zweifelt dagegen Freitag in seinem Beitrag die Übereinstimmung der Voraussetzungen für die Entstehung von Recht und Gerechtigkeit bei Nietzsche an: „[. . .] erscheint es allerdings fragwürdig, ob Nietzsche in Bezug auf die Entstehung von Recht und Gerechtigkeit von den gleichen Grundvoraussetzungen ausgeht.“9
Dabei bezieht sich Freitag auf Ausführungen bei Kerger, der die Auffassung vertritt, dass die Entstehungssituationen von Recht und Gerechtigkeit unterschiedliche Bezüge haben. „Insbesondere beziehen sich Nietzsches Äußerungen, dass die Gerechtigkeit ihren Ursprung ‚unter ungefähr Gleichmächtigen‘ nehme, m. E. nicht auf die Entstehung von Rechten, [. . .] Nietzsches Äußerungen über den ‚Ursprung der Gerechtigkeit‘, 7 8 9
Petersen, S. 49. Vgl. Gerhardt, Prinzip des Gleichgewichts, passim. Freitag, S. 423.
86
C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
[. . .] betreffen m. E. allein die Frage nach der Entstehung der Gerechtigkeit, nicht jedoch diejenige der Entstehung von Rechten.“10
Kerger argumentiert damit, dass in den Entstehungssituationen zwischen Gleichstellung und Gleichheit in Bezug auf die Macht unterschieden werden muss. „Entscheidend für die hier vertretene Zuordnung der genannten Aphorismen spricht jedoch m. E. die bereits im vorhergehenden Satz angeführte Erwägung, dass sich das Merkmal der Gleichheit innerhalb der Äußerungen Nietzsches zur Entstehung der Gerechtigkeit von Anfang an auf die Macht bezieht, während innerhalb der Aphorismen über die Entstehung von Rechten von der ‚Gleichstellung‘ der Macht bzw. ihrer Aufrechterhaltung in Hinsicht auf das Recht die Rede ist.“11
Diese von Kerger vorgenommene begriffliche Unterscheidung verwirrt jedoch mehr als sie die von Nietzsche gedachte Ursprungssituation erhellt. Kerger bereitet mit dieser Differenzierung einem Fehler in dem chronologischen Ablauf der Entstehung von Recht und Gerechtigkeit den Boden. Er schließt aus seiner Unterscheidung auf eine Ablehnung eines durchgängigen Prinzips bei Nietzsche. „Es ist daher m. E. nicht möglich, von einem durchgängigen Prinzip des Machtgleichgewichts in Nietzsches Äußerungen betreffend die Entstehung des Rechts zu sprechen.“12
Wie gravierend diese unzutreffende Einschätzung ist, zeigt sich in ihren Folgen. Die für Nietzsche entscheidende Machtabschätzung und der Rückbezug auf das Wirken des Willens zur Macht werden damit abgeschnitten. Freitag lässt sich von Kergers Unterscheidung von Gleichstellung und Gleichheit auf die falsche Fährte locken, wenn er noch einen Schritt weiter geht und unter direktem Bezug auf Nietzsche schreibt: „Gerechtigkeit setzt ein ‚erreichtes Gleichgewicht‘ voraus.“13
Dabei zitiert er mit dem erreichten Gleichgewicht die Stelle bei Nietzsche, in der das Räuber-Beispiel ausgeführt wird. Nietzsche wirft dabei einen Blick auf die älteren und roheren Zeiten. In diesem Zusammenhang spricht er von dem erreichten Gleichgewicht, dass die Gerechtigkeit in der ebenso simplen wie grausamen Variante des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ voraussetzt und wieder herzustellen versucht. Damit ist aber nicht gemeint, dass ein erreichtes Machtgleichgewicht Voraussetzung für die Entstehung von Gerechtigkeit ist oder damit etwa ihre Ursprungssituation beschrieben wird, sondern nur, dass die Gerechtigkeit eine einmal angenom10 11 12 13
Kerger, Autorität und Recht, S. 31. Kerger, Autorität und Recht, S. 31 f. Kerger, Autorität und Recht, S. 32. Freitag, S. 423.
I. Parallelität der Ursprungssituation von Recht und Gerechtigkeit
87
mene Gleichgewichtigkeit mit solchen blutigen Maßnahmen in roheren Zeiten zu erhalten versuchte.14 Sowohl Kerger als auch Freitag liegen mit ihrer Einschätzung falsch, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass sie sich zu wenig in die von Nietzsche real kriegerisch gedachten und entworfenen Beispielssituationen hineinversetzt haben. Im Rahmen seiner Überlegungen zur Gerechtigkeit hat sich Nietzsche die Frage gestellt, wie eine Konstellation entworfen sein muss, aus der heraus die Gerechtigkeit eine Chance erhält. Dabei greift er zurück auf die ZweiParteien-Konflikt-Situation, da ihm die Gerechtigkeit einen Austausch anstrebt, der beiden Seiten das gibt, was sie wollen. Die Grundkonstellation ist demnach der Konflikt aufeinanderprallender Willen. Und in dieser Situation ist der für Nietzsche entscheidende Moment der der Machtabschätzung. Denn auch in dieser Konfliktsituation gilt grundsätzlich Nietzsches Überzeugung, dass der klar Überlegene sich einfach nimmt was er will – und dabei sicher nicht auf Gerechtigkeit achtet, oder gar darauf, dass der andere etwas bekommt, also ein Austausch stattfindet. Erst wenn die Parteien in einer Abschätzung der gegenseitigen Machtmöglichkeiten das Gegenüber als einen nicht einfach zu überrennenden Widerstand wahrnehmen, sondern sich die Parteien gegenseitig als in etwa gleich mächtig einstufen, rät die Klugheit der Selbsterhaltung zu Verhandlungen. Nur dann kommt es für Nietzsche überhaupt zu Verhandlungen. Und die Gerechtigkeit als Austausch begriffen, kann für Nietzsche nur aus Verhandlungen entspringen. Insoweit hilft die Unterscheidung der Begriffe Gleichstellung und Gleichgewicht nicht weiter. Mit der Gleichstellung könnte allenfalls ein Begriff für die erste Wahrnehmung des Gegenübers als möglichem Vertragspartner, als Rechtssubjekt ausgedrückt werden. Mit der Gleichgewichtigkeit der Machtmöglichkeiten als Ergebnis der hypothetischen Machtprobe hat die Gleichstellung nichts zu tun. Entscheidend ist das erforderliche Ergebnis einer ungefähren Gleichheit nach der gegenseitigen Machtabschätzung. Von einem „erreichten Gleichgewicht“15 als Voraussetzung für die Entstehung von Gerechtigkeit kann insoweit keine Rede sein. Und auch Kergers Überlegungen sind insoweit unzutreffend. Die „ungefähre“ Gleichheit in der Ursprungssituation der Gerechtigkeit16 kann mit 14 15 16
Vgl. Nietzsche, MA II 2, 22; KSA 2, S. 556. Freitag, S. 423. Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
Nietzsche nur das Ergebnis der gegenseitigen Machtabschätzung sein. Die von Nietzsche genannte ungefähr gleiche Macht ist mit einem „erreichten Gleichgewicht“17 als Voraussetzung für die Entstehung von Gerechtigkeit unvereinbar. Darüber hinaus ergibt sich auch aus dem von Nietzsche gewählten Beispiel des Melier-Dialogs, dass ein erreichtes Gleichgewicht nicht Voraussetzung für die Gerechtigkeit sein kann. Freitag selbst bezeichnet insbesondere den Melier-Dialog als stark beeinflussend für Nietzsche.18 Wie er dennoch von einem erreichten Gleichgewicht als Voraussetzung der Gerechtigkeit sprechen kann, verwundert. Die objektive Übermacht der Athener ist ebenso belegt wie der Abbruch der Verhandlungen mit den Meliern und das grausame Wüten der stärkeren Athener nach der Eroberung der Stadt. Wie könnte Nietzsche vor diesem historischen Hintergrund den MelierDialog als Beispiel des Eintritts in Verhandlungen über einen Austausch gewählt haben, wenn er von einem erreichten Gleichgewicht als Voraussetzung der Gerechtigkeit ausgegangen wäre? Die Verhandlungen des MelierDialogs werden von Nietzsche in dem zentralen Aphorismus zum Ursprung der Gerechtigkeit herangezogen. Und eben an dieser Stelle spricht Nietzsche von „ungefähr gleich Mächtigen“. Dass die Athener und Melier objektiv nicht gleich mächtig waren, war Nietzsche bekannt. Und dennoch zieht er gerade diese Verhandlungen als Beispiel heran. Die Gleichgewichtigkeit bei Nietzsche kann nur eine ungefähre, eine subjektiv eingeschätzte sein – und mithin kein bereits erreichtes Gleichgewicht. Ein Gleichgewicht zwischen den Athenern und den Meliern hat es nur als angenommenes in dem Sinne gegeben, dass die Athener die Melier als potentielle Vertragspartner und damit als Rechtssubjekte wahrgenommen haben – allerdings nur für die Dauer der Verhandlungen. Das verbindende Moment der Entstehung von Recht und von Gerechtigkeit ist die gegenseitige Machtabschätzung mit dem Ergebnis einer angenommenen Gleichheit und die dann wirkende Klugheit der Selbsterhaltung, die vor einer unnötigen Schädigung warnt. Entweder, weil die Kräfte gleich sind und ein Kampf hohe Verluste auf beiden Seiten erwarten lässt, oder weil die eine Partei zwar die überlegene ist, aber die unterlegene Partei mit Selbstzerstörung oder der Zerstörung von etwas droht, das der Stärkere bei seiner Eroberung erlangen möchte. Auch dann rät die Klugheit der eigenen Zuträglichkeit zu Verhandlungen.19 17 18 19
Freitag, S. 423. Vgl. Freitag, S. 419. Vgl. Nietzsche, MA I 93; KSA 2, S. 90.
II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption
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Grundsätzlich soll für die Konstellation der hypothetischen Machtprobe als Ursprungssituation der Gerechtigkeit auf den bisherigen Gang der Untersuchung Bezug genommen werden.20 Ausführlich wurden die verschiedenen Aspekte dieser Konfliktsituation vor dem Hintergrund des Willens zur Macht dargestellt: die einzelnen Komponenten der Machtabschätzung, der angenommenen, ungefähren Gleichgewichtigkeit der Machtmöglichkeiten, der Rekurs auf die Selbsterhaltung und damit das hintergründige Wirken des Willens zur Macht. Diese Ausführungen gelten auch für die von Nietzsche entworfene Ursprungssituation der Gerechtigkeit. Damit aber basieren Recht und Gerechtigkeit für Nietzsche im Moment ihrer Entstehung noch auf identischen Voraussetzungen, wachsen aus der gleichen Konstellation und erfahren so ursprünglich eine beachtliche Nähe. Auf dieser Entstehungssituation baut Nietzsche eine ganz eigene Gerechtigkeitskonzeption auf.21 Eine grundsätzliche und zusammenfassende Darstellung derselben ist für das Verständnis ihres Ursprungs unabdingbar. Und die Ursprungskonstellation der Gerechtigkeit prägt Nietzsches Entwurf einer konkreten und praktischen Gerechtigkeit, die er als gerechten Austausch denkt.
II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption Nietzsche charakterisiert die Gerechtigkeit als Tausch: „[. . .] der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit.“22
Diesem Tauschcharakter der Gerechtigkeit ist im Folgenden nachzuspüren, da sich gerade in diesem der Rekurs auf das zugrundeliegende, ursprüngliche Zwei-Personen-Verhältnis spiegelt und sich die konkrete Chance auf einen gerechten Austausch gerade auf die Verhandlungen stützt, in die angesichts des angenommenen Gleichgewichts eingetreten wurde. 1. Die Gerechtigkeit als Göttin Ein Überblick über Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption muss damit beginnen, dass Nietzsche als Verehrer, als „Fan“ der Gerechtigkeit vorgestellt 20
Vgl. B. IV. Insoweit sei seit weiterführend zum Thema der Gerechtigkeit bei Nietzsche noch einmal auf die Dissertation von Yang und die noch neuere akribische Texterschließung von Petersen verwiesen. 22 Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. 21
90
C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
wird. Eine wahre Hymne an den Gerechten findet sich in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“: „Wahrlich, niemand hat in höherem Grade einen Anspruch auf unsere Verehrung als der, welcher den Trieb und die Kraft zu Gerechtigkeit besitzt. Denn in ihr vereinigen und verbergen sich die höchsten und seltensten Tugenden wie in einem unergründlichen Meere, das von allen Seiten Ströme empfängt und in sich verschlingt. Die Hand des Gerechten, der Gericht zu halten befugt ist, erzittert nicht mehr, wenn sie die Wage hält; unerbittlich gegen sich selbst legt er Gewicht auf Gewicht, sein Auge trübt sich nicht, wenn die Wagschalen steigen und sinken, und seine Stimme klingt weder hart noch gebrochen, wenn er das Urtheil verkündet. Wäre er ein kalter Dämon der Erkenntniss, so würde er um sich die eisige Atmosphäre einer übermenschlich schrecklichen Majestät ausbreiten, die wir zu fürchten, nicht zu verehren hätten: aber dass er ein Mensch ist und doch aus lässlichem Zweifel zu strenger Gewissheit, aus duldsamer Milde zum Imperativ ‚du musst‘, aus der seltenen Tugend der Grossmuth zu allerseltensten Gerechtigkeit emporzusteigen versucht, dass er jetzt jenem Dämon ähnelt, ohne von Anbeginn etwas Anderes als ein armer Mensch zu sein, und vor Allem, dass er in jedem Augenblicke an sich selbst sein Menschenthum zu büssen hat und sich an einer unmöglichen Tugend tragisch verzehrt – dies Alles stellt ihn in eine einsame Höhe hin, als das ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch; [. . .].“23
Nietzsches Bewunderung für die Gerechtigkeit und den Einzelnen, der sich an ihr versucht, ist groß. Dabei verschwimmt allerdings immer wieder die Zielrichtung seiner Gerechtigkeitskonzeption. So scheinen seine Ausführungen teilweise eine konkrete Gerechtigkeit im Sinne eines gerechten Austauschs zu betrachten. An anderer Stelle scheint die Gerechtigkeit bei Nietzsche auf die Wahrheit zu zielen und erkenntnistheoretische Aspekte fassen zu wollen, die mitunter ins Metaphysische abgleiten. So geht Heideggers Lesart der Gerechtigkeitskonzeption Nietzsches dahin, den Gerechtigkeitsdrang und den Wahrheitsdrang zu verbinden und will im Begriff der Gerechtigkeit den metaphysischen Namen für das Wesen der Wahrheit sehen.24 Alleine auf ein nur darauf beschränktes Verständnis der Gerechtigkeit lassen sich Nietzsches Ausführungen nicht zusammenfassen. So liegt Heidegger auch falsch, wenn er dem Begriff der Gerechtigkeit bei Nietzsche jegliches juristisches Moment abspricht.25 Schon die Nähe der Ursprungssituationen von Recht und Gerechtigkeit sprechen hier eine andere Sprache, jedenfalls bezüglich einer von Nietzsche durchaus auch betrachteten konkreten Austauschgerechtigkeit. 23
Nietzsche, UB II 6; KSA 1, S. 286. Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. I, 1. Aufl., Pfullingen 1961, S. 637. 25 Vgl. ebd., S. 636; vertiefend zu Heideggers Nietzsche-Auslegung gerade im Bezug auf die Gerechtigkeit siehe Tadashi Otsuru, Gerechtigkeit und dike, Der Denkweg als Selbstkritik in Heideggers Nietzsche-Auslegung, Würzburg 1992. 24
II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption
91
Und auch ästhetische Ideale scheinen angesprochen, wenn Nietzsche immer wieder die Kraft des Einzelnen zur Gerechtigkeit betont und die Härte gegen sich selbst. In diesem Sinne wird der Gerechte bei Nietzsche als der einzelne Ausnahmemensch, der sein Leben mit dem Streben nach Höherem auszufüllen sucht, entworfen. Für die Untersuchung des Ursprungs der Gerechtigkeit wird sich letztlich der Entwurf einer konkreten Austauschgerechtigkeit und ihrer Bedingungen manifestieren. Um diese Ursprungssituation vollständig durchdringen zu können, bedarf es allerdings eines kurzen Blicks auf Nietzsches Idealisierung der Gerechtigkeit, denn die Gerechtigkeit hat bei Nietzsche eine große Spanne: vom persönlichen Leitbild für den Einzelnen hin zu einem Streben nach einer metaphysischen Wahrheit. Doch zunächst zurück zum einzelnen Menschen. Neben der bewundernden Lobpreisung des Gerechten spricht Nietzsche an der oben zitierten Stelle auch etwas an, das gerade in das Zentrum des Allzumenschlichen reicht: die Zerrissenheit des Menschen. Auf der einen Seite die Kälte der Erkenntnis, der Objektivität, der Sachlichkeit. Vor einem nur danach Urteilenden müsste man es nach Nietzsche mit der Angst zu tun bekommen. Aber auch der Urteilende ist immer nur und vor allem ein Mensch. Und damit nicht nur Erkennender. Denn in seinem Inneren findet ein ewiger Widerstreit und Kampf statt. An anderer Stelle heißt es dazu: „Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen. Das Feuer in uns macht uns für gewöhnlich ungerecht und, im Sinne jener Göttin, unrein; nie dürfen wir in diesem Zustande ihre Hand fassen, nie liegt dann das ernste Lächeln ihres Wohlgefallens auf uns. Wir verehren sie als die verhüllte Isis unseres Lebens; beschämt bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer uns brennt und verzehren will. Der Geist ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz verglühen und verkohlen; [. . .].“26
Das gemischte Wesen Mensch, gefangen zwischen dem Feuer der Leidenschaften und der Kühle des Geistes, schaut auf zur Gerechtigkeit, die eine Ausgewogenheit zwischen beiden Polen möglich erscheinen lässt bzw. zum Ideal macht. Diesem Bild folgend spricht Nietzsche im Zusammenhang mit den zu einem Verbrechen veranlassenden Umständen davon, dass manche besonders erschütternde Eindrücke dazu führen können, dass „unsere Leidenschaften zur Glühhitze komme und das ganze Leben lenken.“27 Nietzsche nimmt in seinem zuvor zitierten Lob dessen, der den Versuch des gerechten Urteilens unternimmt, Bezug auf seine wortgewaltige Charak26 27
Nietzsche, MA I 637; KSA 2, S. 362. Nietzsche, MA I 72; KSA 2, S. 82.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
terisierung der Menschlichkeit, die zwischen der Kälte des Geistes und dem Feuer der Leidenschaften hin- und hergerissen ist. Und setzt die Gerechtigkeit als göttliches Ideal für den Menschen. 2. suum cuique als Ideal der Gerechtigkeit Nietzsche verehrt die Gerechtigkeit nicht nur im Rahmen juristischer oder politischer Urteile. Seine Gerechtigkeitskonzeption ist weit umfassender entworfen. Nietzsche untersucht die Gerechtigkeit genealogisch als politisches, soziales und juristisches Phänomen.28 Aber die Gerechtigkeit hat bei Nietzsche auch „eine metaphysische Bedeutung jenseits gesellschaftlicher Erscheinungen und Ideologien“29. Nietzsche beschäftigt sich immer wieder mit der Thematik der Gerechtigkeit, Petersen spricht zutreffend und werkübergreifend von einer Genialität der Gerechtigkeit bei Nietzsche30, und diese Genialität ist auch auf alle von Nietzsche betrachteten Aspekte anzuwenden. Petersen weist auf die Problematik hin, dass der vielbeachtete Wille zur Macht für den rechtsphilosophisch interessierten Leser zunächst einmal gegen ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden bei Nietzsche zu sprechen scheint. Dabei müsse man Nietzsche gerade ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden attestieren.31 Dies kommt gerade in dem für Petersens Beitrag titelgebenden Aphorismus euphorisch zum Ausdruck, wenn es dort heißt: „Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität, die der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen, dieselbe niedriger zu schätzen, als irgend eine philosophische, politische oder künstlerische Genialität. Ihre Art ist es, mit herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil über die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der Ueberzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben – und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden und kurzsichtigen ‚Ueberzeugung‘ [. . .] geben was der Ueberzeugung ist – um der Wahrheit willen.“32
Nietzsche schwärmt von der Gerechtigkeit und ihrer Genialität, bzw. personifiziert sie in ihrem genialen Vorgehen. 28
Vgl. Wolfgang Schiller, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 241. 29 Ebd. 30 Petersen, passim. 31 Petersen, S. 1. 32 Nietzsche, MA I 636; KSA 2, S. 361.
II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption
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Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Gerechtigkeit für Nietzsche das Bestreben hat, jedem das Seine zu geben. Kleine Worte für einen großen Anspruch, jedenfalls dann, wenn man ihn mit Nietzsche tiefgehend ernst nimmt. Das „suum cuique“ geht letztlich auf Platon zurück. Im vierten Buch von „Der Staat“ heißt es zur Gerechtigkeit, dass jeder einzelne eine der Aufgaben des Staates durchführen solle, wozu sich seine Naturanlage am besten eigne33. Später heißt es dann im Zusammenhang mit der Rechtsprechung, dass keiner des Seinen beraubt werden solle34. Also ein Geben nach dem persönlich Möglichen, aber auch ein Nehmen und Erhalten des Eigenen. Bei Cicero findet sich dann die Formel, jedem das Seine zuzuteilen, „suum cuique tribuendo“, wobei er an dieser Stelle auf die Ableitung des griechischen Wortes für Gesetz (nomos) von dem Wort zuteilen (nemein) hinweist, also eine Referenz zu einem Gesetz aufzeigt, welches schon in seiner Bezeichnung auf seine Funktion, jedem das Seine zuzuteilen, hinweisen soll. „Darum meinen sie auch, die Klugheit sei das Gesetz, deren Kraft darin bestehe, daß sie befehle, recht zu handeln, verbiete, sich zu vergehen, und diese Sache, glauben jene, sei mit griechischem Namen nach dem ‚Jedem-das-Seine-Geben‘ geheißen worden, mit unserem nach dem Auswählen, wie ich meine. Denn wie jene die Bedeutung der Gleichheit, so legen wir die der Auswahl in das Gesetz, eigentümlich ist jedoch beides dem Gesetz.“35
Die Formel des „suum cuique tribuendo“ greift Nietzsche auf und versucht an der zitierten Stelle, eine mögliche Umsetzung dieses großen Anspruchs, den die Gerechtigkeit für ihn hat, zu fassen. Allerdings wird die Gerechtigkeit an dieser Stelle für Nietzsche zu einem umfassenden Prinzip, welches sich zu der genannten Formel verdichtet. Petersen spricht insoweit von einem elementaren Gebot: „Damit wird die oben aufgeworfene Frage [Gerechtigkeit als Verwirklichung des suum cuique] dahingehend beantwortet, dass Nietzsche in der Tat im suum cuique das elementare Gebot der Gerechtigkeit verwirklicht sieht.“36
Es geht Nietzsche bei Weitem und ganz deutlich nicht nur um die Gerechtigkeit zwischen den Menschen, vielmehr denkt er das Prinzip Gerechtigkeit umfassend, Belebtes oder Totes, Wirkliches oder Gedachtes sind gleichermaßen erfasst. Ein Prinzip, welches für Nietzsche weit über die Rechtsphilosophie hinausgeht. 33
Vgl. Platon, Der Staat, Viertes Buch 433a, S. 223. Vgl. Platon, Der Staat, Viertes Buch 433e, S. 224. 35 Marcus Tullius Cicero, Über die Rechtlichkeit (De legibus), Erstes Buch, 19, Stuttgart 1977, S. 13. 36 Petersen, S. 138. 34
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
„Die Gerechtigkeit im Sinne Nietzsches ist daher viel umfassender als das, was die Rechtsphilosophie im engeren Sinne darunter versteht. Es geht Nietzsche im Wortsinne darum, allem gerecht zu werden.“37
Auch in der Bewunderung Nietzsches für die Gerechtigkeit wird deutlich, dass die Gerechtigkeit im Sinne des suum cuique für Nietzsches Denken insgesamt zentral ist. Aber wie kann die Gerechtigkeit ihren großen Anspruch verfolgen? Nietzsche stellt hier erstaunliche Bezüge her, so zur „reinen Erkenntnis“ und der „Wahrheit“. Er charakterisiert das Prinzip der Gerechtigkeit als ein Urteilen, welches sich nicht blenden lassen darf, welches idealiter einer reinen Erkenntnis bedarf, um jedem das Seine zu geben. Die Gerechtigkeit muss sich dafür der Beeinflussung bei Urteilsfindung erwehren. Und auch dafür findet Nietzsche eine geniale Formel. Für eine reine Erkenntnis stellt die Gerechtigkeit „jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum“38. Befand sich Nietzsche gerade noch in den idealen Sphären eines reinen Erkennens, das sich bei seinem Urteilen jeglicher Beeinflussung erwehren muss, allerdings vor dem Hintergrund der zuvor charakterisierten Zerrissenheit des Menschen zwischen dem Feuer der Leidenschaften und der Kälte des Geistes auch nicht zu einer reinen Kälte entwickeln darf, die man dann nur noch fürchten könnte, bringt er mit dieser Formel wieder einen gehörigen Anteil Menschliches in dieses Erkennen, denn er besteht dabei auf einem guten Willen. Mit dem „besten Licht“, in das jedes Ding gestellt wird, ist ein guter Wille, eine gewisse Nachsicht, ein Wohlwollen, eine Milde verbunden, welche jedem Ding bei der Frage anzugedeihen ist, was denn das Seine sei. Auch das „sorgsame“ Auge spricht diese Menschlichkeit an, Milde und Gnade klingen hier an, eine Aufmerksamkeit für das Ding, dem es das Seine zu geben gilt. Allerdings bleibt Nietzsche die Antwort auf die schwierige Frage schuldig, wie zu entscheiden ist, was jedem zusteht. In Anlehnung an seine Annahme einer radikalen Ungleichheit der Menschen und einem entsprechenden Rückbezug auf die natürlichen Gaben eines Menschen, wäre jedenfalls als eine Interpretationsvariante die Zumessung nach den natürlichen Fähigkeiten der Menschen möglich. Letztlich zu beantworten ist diese Frage nicht. Fest steht, dass Nietzsche die Idee einer umfassenden Gerechtigkeit dahingehend, dass jeder bekommt, was ihm zusteht, fasziniert hat. „Jedem das Seine“ ist der göttliche Anspruch der Gerechtigkeit.
37 38
Petersen, S. 33. Nietzsche, MA I 636; KSA 2, S. 361.
II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption
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3. Die Gerechtigkeit als instinkthafte Tugend Nietzsche gilt die Gerechtigkeit als höchste Tugend, als verehrtes Ideal. So spricht auch Petersen zu Beginn seines Beitrages, zunächst als Hypothese, davon, dass die Gerechtigkeit bei Nietzsche eine ganz enge Verknüpfung an die menschlichen Tugenden erfährt. „Wenn Gerechtigkeit aufs engste mit der Menschlichkeit verbunden ist und sich die höchsten menschlichen Tugenden in ihr verbergen, so liegt nahe, dass Großmut und Güte, Liebe und Nachsicht mit ihr in Zusammenhang stehen, [. . .].“39
Die Gerechtigkeit ordnet Nietzsche selbst unter die Tugenden ein, sozusagen als Schmelztigel der höchsten und seltensten Tugenden. „[. . .] Denn in ihr [der Gerechtigkeit] vereinigen und verbergen sich die höchsten und seltensten Tugenden wie in einem unergründlichen Meere, [. . .] aber dass er ein Mensch ist und doch aus lässlichem Zweifel zu strenger Gewissheit, aus duldsamer Milde zum Imperativ ‚du musst‘, aus der seltenen Tugend der Grossmuth zu allerseltensten Gerechtigkeit emporzusteigen versucht, [. . .].“40
Und noch deutlicher: „Wie niedrig steht, an ihr [der Gerechtigkeit] gemessen, schon die Grossmuth auf der Stufenleiter der Tugenden, [. . .].“41
Die Gerechtigkeit ist also auch für die anderen Tugenden Ideal und gleichzeitig Maßstab. An anderer Stelle bezeichnet Nietzsche auch einige sokratische Tugenden als Anfang der Gerechtigkeit und führt sie sogar auf einen Trieb zurück. „Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mässigung, Tapferkeit, – kurz Alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist thierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen.“42
Diese Verbindung Nietzsches der Tugenden mit den Instinkten erscheint nach den vorangegangenen Ausführungen verständlicher. Klugheit und Mäßigung stehen in direktem Zusammenhang mit den auch im Menschen waltenden tierischen Instinkten, die alle nur Ausfluss des Willens zur Macht sind. Er rät als Klugheit der Selbsterhaltung aus taktischen Gründen zur Mäßigung, zum Verzicht auf das primär erstrebte Überwältigen. Für die Tugenden als Anfang der Gerechtigkeit kann dies aus den vorangegangen Untersuchungen seine Bestätigung finden. In der ursprünglichen 39 40 41 42
Petersen, S. 30. Nietzsche, UB II 6; KSA 1, S. 286. Nietzsche, UB II 6; KSA 1, S. 288. Nietzsche, M 26; KSA 3, S. 37.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
Zwei-Parteien-Konfliktsituation setzt bei einer ungefähren Gleichheit der Machtmöglichkeiten das kluge Rechnen ein, was – wie gesehen – nichts anderes ist, als ein Rekurs auf den Instinkt der Selbsterhaltung. Dieser wiederum ist nichts Anderes als Ausfluss des Willens zur Macht. Der an dieser Stelle vorgenommene Rekurs Nietzsches auf die Instinkte hinter den Tugenden kann für den Aspekt der Anfänge der Gerechtigkeit wieder einmal als Beweis einer werkimmanenten und insoweit auch geschlossenen, wenn auch sich entwickelnden Gedankenwelt Nietzsches herangezogen werden. Die Textpassage aus der „Morgenröthe“ rückt die Gerechtigkeit in die Nähe der sokratischen Tugenden, wobei sie weit über den anderen Tugenden steht. Insoweit hält auch Petersen fest, dass Nietzsche die Gerechtigkeit selbst unter die Tugenden einreiht. „Zum einen enthält es [das obige Zitat aus der ‚Morgenröthe‘] eine implizite Klarstellung im Hinblick auf das Verständnis der Gerechtigkeit als einer sokratischen Tugend, die sogar ‚auf der Stufenleiter der Tugenden‘ ganz oben steht.“43
Die Anfänglichkeit der Gerechtigkeit als sokratische Tugend deutet in der „Morgenröthe“ nur an, was Nietzsche zuvor bereits in „Menschliches, Allzumenschliches“ und den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ entworfen hat. An dieser Stelle in der „Morgenröthe“ kokettiert Nietzsche damit, die höchste Tugend Gerechtigkeit als tierischen Trieb darzustellen. Auf der Grundlage der bereits dargestellten Ursprungssituation der Gerechtigkeit und der Rückführung auf die Selbsterhaltung wird jedoch deutlich, wie ernst Nietzsche an dieser Stelle zu nehmen ist. 4. Die Gerechtigkeit als dynamisches Prinzip Wie bereits aus „Menschliches, Allzumenschliches“ zitiert, stellt Nietzsche die Gerechtigkeit als Gegnerin der Überzeugungen dar. So zeichnet er die Gerechtigkeit – entsprechend ihres Ursprungscharakters – als Ausdruck ungebrochener Dynamik, als Prinzip, das gegen jegliche Erstarrung streitet, ein Ideal, das nicht anders kann, als in Bewegung zu bleiben. Auch wenn die Gerechtigkeit Nietzsches ihrem hohen Ideal des suum cuique folgt, so geht es Nietzsche mit der Aktivität der Gerechtigkeit auch um eine konkrete Anwendung dieses Ideals. Die Praxis der Gerechtigkeit zeichnet Nietzsche als aktiv. Die Ursprungssituation fußt auf der gegenseitigen Machtabschätzung, das angenommene Gleichgewicht selbst ist dynamisch zu denken. Es kann kip43
Petersen, S. 46 f.
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pen. Die Gerechtigkeit steht aber nicht nur auf der Basis eines dynamischen Gleichgewichts, sondern ist für Nietzsche auch in ihrem Vorgehen selbst pure Dynamik. So hält Petersen unter Bezugnahme auf Karl Jaspers fest: „Nur diese aktive Gerechtigkeit kann wahrhaft richten.“44
Jaspers schreibt: „Die echte Gerechtigkeit beruht auf einem aktiven, nicht, wie jener Missbrauch, auf einem reaktiven Gefühl.“45
Nietzsche charakterisiert die Dynamik der Gerechtigkeit an ihrem Gegenstück – dem Stillstand. Und Nietzsche hat hier einen speziellen Stillstand im Auge. Er meint den geistigen Stillstand und nennt diesen Überzeugung. Dies wird im folgenden Aphorismus deutlich, in dem dann nicht nur der dynamische Charakter der Gerechtigkeit hervortritt, sondern die Gerechtigkeit für Nietzsche göttliche Züge erhält. „Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen; die Trägheit des Geistes lässt diese zu Ueberzeugungen erstarren. – Wer sich aber freien, rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern nur Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem Kopfe haben. – Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen.“46
Damit wird klar, warum Nietzsche die Gerechtigkeit als Gegnerin der Überzeugung entwirft. Die Überzeugung ist eine erstarrte Meinung, ihr fehlt es an Dynamik, an Beweglichkeit. Als Ursache der Erstarrung macht Nietzsche die Trägheit des Geistes aus. Eine Überzeugung ist für Nietzsche in diesem Sinne der Feind eines jeden gerechten Urteils, was sich aus seiner zuvor zitierten Definition und Charakterisierung der Gerechtigkeit ergibt, denn die erstarrte Meinung ist nicht in der Lage, ein Ding rein zu erkennen, es in das beste Licht zu stellen und um es mit „sorgsamem Auge“ zu betrachten.47 Und vor allem ist es einer Überzeugung unmöglich, jedem das Seine zu geben. Die Überzeugung wirkt wie ein Vorurteil, eine Vorverurteilung. Sie steht einer Offenheit gegenüber dem zu beurteilenden Objekt entgegen. Und nur aus dem Objekt kann sich das ergeben, was das Seine ist. 44
Petersen, S. 201. Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, S. 207. 46 Nietzsche, MA I 637; KSA 2, S. 362. 47 Vgl. Nietzsche, MA I 636; KSA 2, S. 361. 45
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Dieser Entwurf der Gerechtigkeit als Aktivität, als der Dynamik des Prozesses, jedem das Seine zu geben, entspringend, reicht für Nietzsche bis in den Ursprung der Gerechtigkeit bzw. ergibt sich in seiner Dynamik aus demselben. „– Hier ein ablehnendes Wort gegen neuerdings hervorgetretene Versuche, den Ursprung der Gerechtigkeit auf einem ganz andren Boden zu suchen, – nämlich auf dem des Ressentiment.“48
Damit wendet Nietzsche sich mit einem Gegenentwurf gegen den Ansatz der Rache hinter der Gerechtigkeit als eines reaktiven Gefühls. Auf die dennoch im Bereich der Gerechtigkeit angesiedelte Rache wird noch einzugehen sein. Im Rahmen der Charakterisierung der Gerechtigkeit als einer Aktivität ist festzuhalten, dass die Gerechtigkeit für Nietzsche nicht als bloße Reaktion gedacht werden kann. „[. . .] so wird es nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehen zu sehn, [. . .], die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen – wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre – und mit der Rache die reaktiven Affekte überhaupt und allesammt nachträglich zu Ehren zu bringen.“49
Die Gerechtigkeit kann in ihrem Prinzip des suum cuique in der umfassenden Dimension Nietzsches keine bloße Reaktion auf eine Verletzung sein. Damit könnte sie in Nietzsches Augen ihrem Anspruch niemals gerecht werden. So auch Jaspers, der die reaktiven Gefühle bei einem Täuschungsversuch ertappt sehen will: „Die reaktiven Gefühle benutzen Gerechtigkeit als Schein, um jener Ohnmacht ein täuschendes Machtgefühl durch ein scheinbar an sich Gültiges oder Unwirkliches, wie es Forderungen der Gerechtigkeit sind, zu verschaffen. Oder durch reaktive Gefühle verschwindet sogleich jede Gerechtigkeit im bloßen Affekt [. . .].“50
Nietzsche trifft anschließend in der ihm eigenen Wortgewalt die Unterscheidung zwischen dem reaktiven und dem aktiven, für ihn auch aggressiven Menschen, wobei der aggressive noch näher an der Gerechtigkeit steht, als der reaktive Mensch, der nur zu einer falschen Einschätzung im Hinblick auf die Gerechtigkeit kommen kann. „Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive; es ist eben für ihn durchaus nicht nöthig, in der Art, wie es der reaktive Mensch thut, thun muss, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen. Thatsächlich hat deshalb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Muthigere, Vornehmere, auch das 48 49 50
Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 309. Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 310. Jaspers, Nietzsche, S. 207.
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freiere Auge, das bessre Gewissen auf seiner Seite gehabt: umgekehrt erräth man schon, wer überhaupt die Erfindung des ‚schlechten Gewissens‘ auf dem Gewissen hat, – der Mensch des Ressentiment!“51
Wieder einmal spielt die Stärke für Nietzsche eine Rolle. Vor dem bereits dargestellten Hintergrund der gegenseitigen Machtabschätzung ist die Stärke einer Partei auch immer ein Stück Freiheit dahingehend, auch für andere ein Gewicht darzustellen und nicht einfach dominiert zu werden. In der Frage der Gerechtigkeit ist es die Freiheit, sich erlauben zu können, einen Sachverhalt oder ein Objekt unvoreingenommen und aktiv wohlwollend, im besten Licht und mit „sorgsamem Auge“ abzuschätzen. Der lediglich reagierende Mensch ist schon alleine durch die ihn bestimmende Reaktion voreingenommen. Nietzsche macht dies direkt vor der gerade zitierten Passage anhand des Beispiels deutlich, dass gerade dann die Gerechtigkeit verwirklicht wird, wenn der Verletzte gegen seine Schädiger gerecht bleibt, obwohl er sich als selbst Betroffener durchaus zu einer Reaktion berechtigt sehen könnte. „Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht nur kalt, massvoll, fremd, gleichgültig: Gerechtsein ist immer ein positives Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchste Meisterschaft auf Erden, [. . .].“52
Dem Verletzten, der allen Grund zu einer direkt durch die eigene Verletzung bestimmten Reaktion hat, fällt ein maßvolles Urteilen besonders schwer. Und selbst das genügt Nietzsches hohem Maßstab der Gerechtigkeit nicht. Schafft es der Verletzte aber, in Nietzsches Sinne positiv gerecht gegen den Schädiger zu sein, dann ist ihm Nietzsches Bewunderung sicher. Nietzsche spricht dabei von der Gerechtigkeit als einem positiven Verhalten, zu verstehen im Sinne eines aktiven Verhaltens. Dieses erfährt besondere Schwierigkeit, wenn der richtende Mensch selbst der Verletzte ist. Aber Nietzsche gibt an dieser Stelle auch noch einmal eine wertvolle Charakterisierung der Gerechtigkeit vor, die deutlich macht, dass es ihm nicht um eine bloße objektive und sachliche Beurteilung eines Sachverhaltes geht. Die Gerechtigkeit im Sinne Nietzsches hat bei aller angestrebten Objektivität eine Milde in ihrem Blick, die schon zuvor in dem „sorgsamen Auge“ zum Ausdruck kam und durch das „beste Licht“ ergänzt wurde, in welches die Gerechtigkeit das zu beurteilende Objekt stellt. Diese Milde ist ein entscheidender Aspekt in Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption. Denn 51 52
Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 311. Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 310 f.
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eine bloß objektive Gerechtigkeit wäre für Nietzsche „nur kalt, massvoll, fremd, gleichgültig“53. Dass Nietzsche von einer höchsten Meisterschaft spricht, macht noch einmal deutlich, wie sehr er die Gerechtigkeit in der von ihm entworfenen Charakterisierung verehrt. Die Gerechtigkeit, die das hehre Ziel verfolgt, jedem das Seine zu geben, kann nur aktiv gedacht werden, der Prozess des Beleuchtens und Suchens kann für ihn nur ein aktiver sein. Als bloße Reaktion könnte eine Handlung in seinen Augen niemals gerecht ausfallen. Als Reaktion des Verletzten noch weniger. Yang spricht insoweit von einer dynamischen Geisteshaltung.54 Würde die Gerechtigkeit zur Ruhe kommen, würde sie gerade zur Überzeugung erstarren und ihre Dynamik verlieren. „Die ruhende Gerechtigkeit, die sich selbst absolut setzt, verselbständigt und verewigt, läuft Gefahr, zu versteinern und sich so in ihr Gegenteil, also in die Überzeugung zu verwandeln.“55
Nur als aktiver Prozess verstanden kann die Gerechtigkeit ihren hohen Anspruch verfolgen, jedem das Seine zu geben. Nietzsche fordert den „beständigen Wechsel“, um der Erstarrung zu entgehen.56 Die Überzeugung als verfestigte Meinung wäre nur dazu in der Lage, mit einer schon vorgefertigten Meinung an eine Bewertung eines Sachverhalts oder Objekts heranzugehen. Gerade die Einnahme wechselnder Perspektiven, verstanden als das sorgsame Auge, welches um das Objekt herumgeht, ist für Nietzsche Grundvoraussetzung dafür, jedem das Seine zu geben. Das Vorurteil, die Vorverurteilung, die Überzeugung schließen in diesem Sinne den Prozess der Gerechtigkeitsfindung in Nietzsches Augen aus. In Bezug auf die von Nietzsche entworfene Ursprungssituation der Gerechtigkeit auf Grundlage eines angenommenen Machtgleichgewichts spiegelt sich diese Dynamik in den Verhandlungen wider, die einen gerechten Austausch als Chance in sich tragen. Nur über den aktiven und dynamischen Austausch über die gegenseitigen Positionen und Vorstellungen kann ein gerechter Tausch vereinbart werden. Denn in der Verhandlungssituation zwingt der Verhandlungspartner zur Einnahme wechselnder Perspektiven – insbesondere der des Gegenübers. Und die Verhandlungssituation selbst fußt ebenfalls auf einer dynamischen Situation, einer KonfliktSituation, die aus einer gegenseitigen Machtabschätzung zu dem Ergebnis geführt hat, dass Verhandlungen angeraten sind. 53 54 55 56
Ebd. Vgl. Yang, S. 59. Ebd. Vgl. Nietzsche, MA I 637; KSA 2, S. 362.
II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption
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Die Dynamik der Verhandlungssituation zeigt sich auf dieser Basis auch darin, dass die Verhandlungen auch jederzeit abgebrochen werden können, was zu einem Rückfall in die ursprüngliche Konfliktsituation führt. 5. Die Anstrengung des gerechten Urteilens Nietzsche knüpft die Gerechtigkeit immer wieder an den einzelnen Menschen. Er bewundert den freien Geist, der sich an der Gerechtigkeit versucht – aber er erwartet diese Freigeistigkeit auch. Nur durch die Einnahme wechselnder Perspektiven bleibt der Geist vor dem Abgleiten in die Überzeugung gefeit und sieht sich das Objekt seiner Bewertung mit „sorgsamem Auge“ an. Die Huldigungen und Lobpreisungen Nietzsches für den Gerechten werden vor diesem Hintergrund noch verständlicher, da Gerechtsein als positives Verhalten Kraft kostet und nach einer beständigen Aktivität des Geistes verlangt. Nietzsches Maßstäbe sind hier ins Ideale überhöht. Die Anstrengung der Gerechtigkeitsfindung muss allerdings als ganz konkrete Forderung verstanden werden. So schreibt Yang: „Wenn wir es aber auf die philosophische Erkenntnissituation übertragen, wo zwischen den konkurrierenden Weltperspektiven ein gerechtes Urteil im Sinne des ordnenden und strafenden Weltgerichtes gesucht wird, dann ist der aktive, an- und übergreifende Akt genau die Widerspiegelung der Fortschreitung des robusten freien Geists, der durch den absichtlichen Perspektivenwechsel seinen Willen zur Gesundheit manifestiert und so die bisher bekannten und hochgeschätzten Weltperspektiven an- und überzugreifen anfängt. Allein wer diese harte Schule der Aktivität tätig durchläuft, könnte unterwegs die für das gerechte Urteilen nötige Umfänglichkeit der Perspektiven erarbeiten.“57
Diese „harte Schule“, wie Yang sich treffend ausdrückt, ist das, was Nietzsche von demjenigen verlangt, der sich an einem gerechten Urteilen versucht. Die Betonung muss hier auf die absichtlichen Perspektivenwechsel gelegt werden, das tätige Durchlaufen der harten Schule der Aktivität. Und Nietzsche traut nur herausragenden Einzelindividuen ein gerechtes Richten zu. So schreibt Geijsen: „[. . .] stellt sich heraus, dass Gerechtigkeit durchaus möglich ist. Allerdings steht nicht Zeiten und Generationen das Richteramt zu, sondern nur hervorragenden Einzelnen.“58
Der hohe Anspruch Nietzsches an die Gerechtigkeit lässt ihn auch strenge Forderungen an den Menschen stellen, der gerecht zu urteilen ver57
Yang, S. 67. J. A. L. J. J. Geijsen, Geschichte und Gerechtigkeit, Grundzüge einer Philosophie der Mitte im Frühwerk Nietzsches, Berlin/New York 1997, S. 42. 58
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sucht. Dabei ist der freie, rastlose und robuste Geist vor die Aufgabe gestellt, ständig die Perspektiven zu wechseln und immer vor dem Erstarren seiner Meinungen auf der Hut zu sein. Auch in „Also sprach Zarathustra“ findet Nietzsche treffende Worte für die „mildblickende Objektivität des gerechten, richtenden Auges“59 und formuliert seinen Anspruch an die Augen der Richter noch einmal anders. „Ich mag eure kalte Gerechtigkeit nicht; und aus dem Auge eurer Richter blickt mir immer der Henker und sein kaltes Eisen. Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist?“60
Die Gerechtigkeit als Liebe mit sehenden Augen stellt Nietzsche der kalten Gerechtigkeit gegenüber, die immer schon die Verurteilung erkennen lässt. Diese Charakterisierung hat zwei Aspekte: der eine zielt auf eine Schonung im Bereich des Strafens, der andere ist der des sehenden, also des hinschauenden Auges. An dieser Stelle spricht Nietzsche nicht aus, was es genau bedeutet, mit sehenden Augen zu richten. Unter Bezugnahme auf die bereits ausgeführten und von Nietzsche eingeforderten Perspektivenwechsel zeigt sich dies jedoch deutlich. Denn es gilt mit sorgsamem Auge um das zu beurteilende Objekt herum zu gehen – und es dabei in das beste Licht zu stellen.61 Das beste Licht, die Milde ist hier mit der Liebe ausgedrückt. So erschließt sich diese Passage in „Also sprach Zarathustra“ durch die werkimmanente Gesamtkonzeption der Gerechtigkeit. Das Richten mit sehenden Augen ist gerade als Gegenentwurf zur blinden Justitia zu verstehen. Justitia soll ohne Ansehen der Person urteilen und wird mit verbundenen Augen dargestellt. Nietzsche entwirft sein Gerechtigkeitsideal gerade als ein ganz genaues Hinsehen, ein Betrachten von allen Seiten. Allerdings muss sich diese Konzeption einer praktischen Gerechtigkeit vorhalten lassen, dass sie bei einer im Grunde endlosen Vielzahl von Perspektiven zu keiner Entscheidung kommen wird. So schreibt Han zutreffend kritisch: „Aber diese unendliche Gerechtigkeit wird gerade der faktischen Endlichkeit des menschlichen Seins nicht gerecht. Es ist zum einen unmöglich, alle möglichen Perspektiven in den Blick zu nehmen bzw. zu antizipieren. Und wer allen Perspektiven gerecht werden will, wird zum anderen faktisch zu keiner bestimmten Entscheidung kommen können.“62
59
Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 310 f. Nietzsche, Z, Erster Teil: Vom Biss der Natter; KSA 4, S. 88. 61 Vgl. Nietzsche, MA I 636; KSA 2, S. 361. 62 Byung Chul Han, Liebe und Gerechtigkeit bei F. Nietzsche, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 80 f. 60
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Aber Nietzsche fordert die umfassenden Perspektivenwechsel dennoch. Auch wenn er die Antwort auf die Problematik der konkreten Umsetzung letztlich schuldig bleibt. Und das von ihm geforderte Vorgehen ist anstrengend. Und Nietzsche traut es den wenigsten Menschen zu. „Der Wahrheit dienen Wenige in Wahrheit, weil nur Wenige den reinen Willen haben gerecht zu sein und selbst von diesen wieder die Wenigsten die Kraft, gerecht sein zu können.“63
Bringen auch einige noch den Willen zur Gerechtigkeit auf, die Kraft dafür haben sie in Nietzsches Augen nicht. Die Gerechtigkeit hat Seltenheitswert. Jaspers schreibt: „Aber gibt es Gerechtigkeit? Bei dem Durchschnitt der Menschen kaum.“64
Dabei nimmt er Bezug zu der obigen Stelle aus den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, in der es zuvor bei Nietzsche auch heißt: „So scheint zwar die Welt voll zu sein von solchen, die ‚der Wahrheit dienen‘; und doch ist die Tugend der Gerechtigkeit so selten vorhanden, noch seltener erkannt und fast immer auf den Tod gehasst: [. . .].“65
Nietzsche stellt an den Menschen, der gerecht zu urteilen versucht, hohe Anforderungen und denkt dabei grundsätzlich eine intellektuelle Elite, in der sich nur die Wenigsten an die Gerechtigkeit wagen können. Und das liegt daran, dass die Gerechtigkeit mit Nietzsche eine unerbittliche Anwendung auf den Urteilenden selbst verlangt. 6. Der übermenschliche Anspruch des Gerechten an sich selbst Vor dem Hintergrund des genauen Hinsehens und der möglichst zahlreichen Perspektivenwechsel und im Kontext der Bewunderung, die Nietzsche für die Gerechtigkeit hegt und die seiner Ansicht nach derjenige verdient, der sich um Gerechtigkeit in diesem Sinne bemüht, erhält der Gerechte Züge des Übermenschen.66 So hält auch Petersen fest: „Der wahrhaft Gerechte erscheint daher, [. . .], als Übermensch.“67 63
Nietzsche, UB II 6; KSA 1, S, 287. Jaspers, Nietzsche, S. 206. 65 Nietzsche, UB II 6; KSA 1, S, 287. 66 Auf den Begriff des Übermenschen wird nicht näher eingegangen werden, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Aber auch ohne eine genauere Erfassung bei Nietzsche werden die hohen Anforderungen an den Gerechten deutlich. 67 Petersen, S. 217. 64
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Auch zu Beginn seines Beitrags stellt Petersen diesen Bezug bereits her.68 Und auch Yang schickt den Mächtigsten als Übermenschen auf die Suche nach der Gerechtigkeit.69 In diesem Zusammenhang kommt die vorliegende Untersuchung einem wesentlichen Zug der Gerechtigkeitskonzeption Nietzsches auf die Spur – einem echten Perspektivenwechsel, dem Blick des gerecht Urteilenden auf sich selbst. Ein bedeutender Teil der übermenschlichen Anstrengung der Gerechtigkeit ist der hohe Anspruch, den die Gerechtigkeit an den Urteilenden selbst stellt. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bedarf es aber nicht nur eines sehenden Auges, welches mit Milde und Unvoreingenommenheit auf das zu beurteilende Objekt blickt, also eines besonderen Blickes nach außen, sondern – wie so oft bei Nietzsche – auch eines besonderen Blicks nach innen. So schreibt er in dem berühmten Aphorismus aus „Jenseits von Gut und Böse“: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“70
Dieser Blick nach innen ist es auch, den Nietzsche demjenigen abverlangt, der gerecht zu urteilen sucht. In diesem Sinne besteht die übermenschliche Aufgabe nicht nur darin, dem hohen Anspruch der genialen Gerechtigkeit zu genügen, sondern auch, diesen Anspruch in besonderem Maße auf sich selbst anzuwenden. Dazu bedarf es in Nietzsches Augen der nötigen Kraft. „Der Wahrheit dienen Wenige in Wahrheit, weil nur Wenige den reinen Willen haben gerecht zu sein und selbst von diesen wieder die Wenigsten die Kraft, gerecht sein zu können.“71
Es bedarf einer besonderen Stärke, um den Maßstab der Gerechtigkeit in dem von Nietzsche geforderten Anspruch auf sich selbst anzuwenden, was für ihn aber gerade Voraussetzung dafür ist, sich an dem Anspruch der genialen Gerechtigkeit zu versuchen. Der Gerechte hat die Pflicht, gerade gegen sich selbst unerbittlich zu sein. „Die Hand des Gerechten, der Gericht zu halten befugt ist, erzittert nicht mehr, wenn sie die Wage hält; unerbittlich gegen sich selbst legt er Gewicht auf Gewicht, sein Auge trübt sich nicht, wenn die Wagschalen steigen und sinken, und seine Stimme klingt weder hart noch gebrochen, wenn er das Urtheil verkündet.“72 68 69 70 71
Vgl. Petersen, S. 29. Vgl. Yang, S. 163. Nietzsche, JGB, Viertes Hauptstück, 146; KSA 5, S. 98. Nietzsche, UB II 6; KSA 1, S. 287.
II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption
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Die Unerbittlichkeit liegt nicht nur in den geforderten, fortlaufenden Perspektivenwechseln, sondern auch in der Anwendung des hohen Anspruchs der Gerechtigkeit auf sich selbst. Auch Yang spricht in diesem Zusammenhang vom Übermenschen und verbindet den übermenschlichen Anspruch der Gerechtigkeit mit dem umfassenden lebensbejahenden Prinzip Nietzsches, welches sich in der ewigen Wiederkunft des Gleichen73 ausdrückt. „Wenn ein Mächtiger, wie z. B. der Übermensch, sei er der Stärkste, oder sei er der Weiseste, auf seiner Suche nach Gerechtigkeit, also bei seinem ständigen Perspektivenwechsel, die Notwendigkeit der totalen Bejahung, repräsentiert mit der Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen, einsieht, wird er durch diese letzte Überwindung der Zeit seinem ganzen Leben gegenüber gerecht.“74
Die Gerechtigkeit verlangt demjenigen, der sich an ihr versucht, viel ab. Vor allem durch den besonders scharfen Blick auf sich selbst. Petersen fasst am Ende seines Beitrages seine Erkenntnisse zur Genialität der Gerechtigkeit bei Nietzsche zusammen, wobei die Bürde des Gerechten, sein Richten gerade auch gegen sich selbst unerbittlich anzuwenden, noch einmal klar formuliert wird. „Der wahrhaft Gerechte richtet schonend und nachsichtig nur gegen Andere, streng auch gegen sich selbst.“75
Auf die hier angesprochene Schonung und Nachsicht wird als Praxis der Gerechtigkeit noch einzugehen sein. Fest steht schon jetzt, dass Nietzsche über den idealen Maßstab der Gerechtigkeit hinaus verlangt, dass der Gerechte die Formen der Milde nicht auf sich selbst anwendet, sondern gegen sich selbst vielmehr unerbittlich ist. 7. Die Billigkeit als Fortbildung der Gerechtigkeit Doch Nietzsche geht in seinem Denken noch über den Begriff der Gerechtigkeit hinaus, indem er den „billigen Menschen“ entwirft. Die Billigkeit ist ihm die Fortbildung der Gerechtigkeit und erfasst die geforderte Milde und ein feines Gespür für die aktuelle Einschätzung der Machtgrade. „Der ‚billige Mensch‘ bedarf fortwährend des feinen Tactes einer Wage: für die Macht- und Rechtsgrade, welche, bei der vergänglichen Art der menschlichen 72
Nietzsche, UB II 6; KSA 1, S. 286. Die Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen ist eine der zentralen Thesen Nietzsches, deren Darstellung an dieser Stelle den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten würde. Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Miguel Skirl, Ewige Wiederkunft, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 222 ff. 74 Yang, S. 163. 75 Petersen, S. 239. 73
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Dinge, immer nur eine kurze Zeit im Gleichgewichte schweben werden, zumeist aber sinken oder steigen: – billig sein ist folglich schwer und erfordert viel Übung, viel guten Willen und sehr viel sehr guten Geist.“76
Die von Nietzsche angenommene Ursprungssituation der Gerechtigkeit als der hypothetischen Machtprobe zweier sich kriegerisch gegenüberstehender Parteien mag die Möglichkeit eines gerechten Austausches in sich bergen, lässt jedoch scheinbar zunächst einmal keinerlei Raum für Milde und die Herangehensweise des sehenden Auges, welches in das beste Licht rückt. Vielmehr würde zunächst das gute Gespür in der Machtabschätzung genügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. In Kombination mit Täuschung und Informationsbeeinflussung könnte die Konzeption Nietzsches dahin führen, dass die Partei sich die größten Vorteile sichert, die mit dieser Situation am besten umgehen kann. Inwieweit der so geschlossene Tauschvertrag noch ein gerechter sein kann, wäre dann mehr als fraglich. Auch wenn der Tauschcharakter für Nietzsche die Gerechtigkeit beschreibt, da dabei die Möglichkeit besteht, dem umfassenden Prinzip des suum cuique zu folgen, macht er andererseits deutlich, dass der Tausch nur die anfängliche Gerechtigkeit charakterisiert.77 Die von Nietzsche eingeführte Billigkeit ist Fortbildung der Gerechtigkeit und macht den überragenden Anspruch an denjenigen deutlich, der gerecht urteilen möchte. Nietzsche belässt es nicht bei dem Tauschcharakter der Gerechtigkeit, vielmehr steht in seiner Gerechtigkeitskonzeption das „hinsehende Auge“ für den Begriff der Billigkeit. Über diesen gelangt die Schonung in die Ausübung der Gerechtigkeit. Im zweiten Band von „Menschliches, Allzumenschliches“ heißt es: „Billigkeit. – Eine Fortbildung der Gerechtigkeit ist die Billigkeit, entstehend unter Solchen, welche nicht gegen die Gemeinde-Gleichheit verstossen: es wird auf Fälle, wo das Gesetz Nichts vorschreibt, jene feinere Rücksicht des Gleichgewichts übertragen, welche vor- und rückwärts blickt, und deren Maxime ist ‚wie du mir, so ich dir‘. Aequum heisst eben ‚es ist gemäss unserer Gleichheit‘; dies mildert auch unsere kleinen Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab und will, dass wir Manches uns nachsehen, was wir nicht müssten.“78
Nietzsche führt damit etwas ein, das in der Ursprungssituation seiner Gerechtigkeit noch nicht enthalten ist: die Nachsicht und die Schonung. Entscheidend an dieser Stelle ist, dass etwas nachgesehen wird, was nicht nachgesehen werden müsste. Es gibt gerade kein Machtkalkül, welches zur Nachsicht rät. Und dennoch zeigt sich die Nachsicht nur mit Blick auf das erhaltenswerte Gleichgewicht, welches die verbindende Gemeinsamkeit 76 77 78
Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 102. Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. Nietzsche, MA II 32; KSA 2, S. 564.
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schafft. Es ist kein direktes Machtkalkül, sondern ein feiner Blick auf das größere Machtgefüge. Wie gesehen kann schon der Wille zur Macht über die Zuträglichkeit in der Selbsterhaltung zur Mäßigung raten. Allerdings richtet der Wille zur Macht dabei seinen Blick auf ein größeres Ziel, die Mäßigung ist letztlich Taktik. Die von Nietzsche entworfene Billigkeit als Fortbildung der Gerechtigkeit scheint sich von diesem taktischen Machtkalkül abzukoppeln. Sie ist guter Wille an einer Stelle, an der dieser gerade nicht sein müsste. Ein Hauch von Altruismus scheint das nachsichtige Handeln anzuwehen – und die Möglichkeit altruistischen Handelns lehnt Nietzsche in Gänze ab. Und bei genauer Betrachtung des zitierten Aphorismus wird doch deutlich, dass auch in der hier beschriebenen Milde als Billigkeit ein eigenes Ziel angestrebt wird. Nietzsche schreibt von einer feineren Rücksicht auf das Gleichgewicht, aequum als gemäß der gemeinsamen Gleichheit. Und auf dieser Basis werden kleinere Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herabgemildert. Unter Heranziehung der von Nietzsche gedachten Ursprungssituation erschließt sich sowohl die offensichtlich nur scheinbare Gleichheit wie auch die Rücksicht, die darauf genommen wird. In der von Nietzsche gedachten Konfliktsituation hat die Gerechtigkeit überhaupt nur eine Chance, wenn die gegenseitige Machtabschätzung zu dem Ergebnis einer ungefähren Gleichheit kommt. Denn nur dann kommt es zu Verhandlungen. Im Sinne einer Rechtsentstehung kommt das Gegenüber als Vertragspartner in Betracht, wird mithin als Rechtssubjekt wahrgenommen. Kommt es daraufhin zu einem Vertragsschluss, so werden die vormals abgeschätzten Machtgrade als Rechtsgrade auf Grundlage einer angenommenen ungefähren Gleichheit festgehalten. Das so angenommene Gleichgewicht stellt einen Wert dar, da ein Zusammenbruch desselben zum neuerlichen Ausbruch des ursprünglichen Konflikts führen würde. Kleinere Machtschwankungen, die nicht die Schwelle der Erheblichkeit überschreiten, werden ausgeglichen.79 Und da auch ein geschlossener Vertrag nicht alles regeln kann, ist es die Billigkeit als Schonung, die nicht sein müsste, die mit dem Blick in die Vergangenheit und die Zukunft mit dem Ziel des Erhalts des angenommenen Gleichgewichts kleinere Verschiedenheiten abmildert und Verstöße nachsieht. 79
Vgl. oben B. V. 3.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
Und so zeigt sich die Billigkeit letztlich auch als taktische Nachsicht im Hinblick auf den gewollten Erhalt der einmal angenommenen Gleichheit. Über die Bestrebungen der Selbsterhaltung und der Zuträglichkeit wirkt letztlich auch an dieser Stelle der Wille zur Macht, der sich diesmal als Schonung zeigt, die gar nicht sein müsste, da selbst die Gerechtigkeit eine andere Reaktion erlauben würde. Petersen schreibt in Bezug auf die Billigkeit, dass es mit ihr eine Herausforderung für den Einzelnen gibt, die auf einer höheren Ebene eingelöst werden muss. „Bereits die mannigfachen sprachlichen Bekräftigungen (,viel‘, ‚sehr‘) [in dem oben zitierten Passus aus der ‚Morgenröthe‘, 112] legen nahe, dass Nietzsche den von ihm so genannten ‚billigen Menschen‘ vor einer besonderen Herausforderung sieht, die nicht einfach dadurch bewältigt wird, dass der Betreffende ein besonders fein entwickeltes Gespür für die gegenwärtigen Machtverhältnisse hat und einen erspähten Machtverlust der Gegenseite blitzschnell auszunutzen weiß. Vielmehr wird hiermit deutlich, dass diese Herausforderung auf einer höheren Ebene anzusiedeln ist, auf der sie demzufolge auch nur eingelöst werden kann. Sie ist inhaltlich gleichbedeutend mit der Genialität der Gerechtigkeit, [. . .].“80
Petersen will die von ihm ins Feld geführte höhere Ebene als Verweis auf die Genialität der Gerechtigkeit und den hohen Anspruch derselben verstanden wissen. Die Billigkeit als Fortbildung der Gerechtigkeit geht in dieser Definition zwar über die Gerechtigkeit selbst hinaus, stellt mithin eine höhere Ebene dar. Aber diese höhere Ebene kann auch nur bedeuten, dass sich Konstellationen ergeben können, in denen selbst die Gerechtigkeit in dem nach Nietzsche angesetzten höchsten Anspruch eine Verurteilung oder Sanktion zuließe – und es dennoch einen guten Grund dafür gibt, auf diese zu verzichten, Nachsicht zu zeigen. Wie gerade dargestellt, verfolgt der Nachsichtige, der „billige Mensch“ dabei keine altruistischen Motive, sondern zeigt sich milde mit Blick auf den Erhalt des großen Ganzen, des angenommenen, ungefähren Gleichgewichts. In diesem Sinne gibt es zwar eine höhere Ebene, da der billige Mensch sich nachsichtig zeigt, obwohl dies nicht einmal die geniale Gerechtigkeit Nietzsches fordert. Aber diese Nachsicht verfolgt auch ein egoistisches Ziel. Daran ändert auch die Charakterisierung des billigen Menschen nichts, der sich durch ein besonders feines Gespür für die Machtgrade auszeichnet. Denn dafür, dass er dieses Gespür nicht dahingehend ausnutzt, eine aufscheinende Schwäche sofort zum Anlass für einen Angriff zu nehmen, hat einen guten Grund – den Erhalt der scheinbaren Gleichheit. 80
Petersen, S. 56.
II. Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption
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Die Verknüpfung, die Petersen zwischen dem billigen Menschen Nietzsches und seiner Genialität der Gerechtigkeit, jedem das Seine geben zu wollen, herstellt, übersieht wohl das umfassend wirkende Prinzip des Willens zur Macht, der eben auch zur Schonung raten kann – im Hinblick auf das große Ganze, mithin taktisch. Petersen wertet an dieser Stelle und spricht dem billigen Menschen eine besondere Größe zu. „In diesem Sinne zeichnet sich auch der ‚billige Mensch‘ nicht allein durch die intellektuelle Fähigkeit aus, die den Macht- und Rechtsverlust des Anderen begründenden Schwächen zu erkennen und auszunutzen, sondern vor allem auch die Größe, darüber hinwegsehen zu können. Auf dieser höheren Ebene kann und will der ‚billige Mensch‘ im Sinne Nietzsches ‚jedem das Seine geben‘.“81
Um eine solche Größe geht es Nietzsche nicht. Er beschreibt nur, dass es durchaus Momente geben kann, in denen selbst die Gerechtigkeit angesichts des angestrebten Erhalts des angenommenen Gleichgewichts falsch liegen kann und ein Mensch mit besonderem Gespür für die Machtrelationen erkennt, dass Nachsicht und Schonung zum Ziel führen. In dieser Konstellation verzichtet der billige Mensch auf die ihm zustehende Gerechtigkeit. Dieser Verzicht hat allerdings nichts mit der Genialität der Gerechtigkeit zu tun, ist vielmehr ein Jenseits der Gerechtigkeit, eine Form der Selbstaufhebung der Gerechtigkeit. Nietzsche schreibt in der „Genealogie der Moral“: „Die Gerechtigkeit, welche damit anhob ‚Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt werden‘, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend.“82
Die Billigkeit stellt sich demnach als Verzicht auf die berechtigte Abzahlung dar. Aber nicht, um der Genialität der Gerechtigkeit zu folgen, sondern um für das größere Ziel des Erhalts der angenommenen Gleichheit gerade die Gerechtigkeit zu transzendieren. 8. Die Gerechtigkeit als „Wünschbarkeit“ Nietzsche denkt das Prinzip des suum cuique umfassend und über die Rechtsphilosophie hinausgehend. Dass die Gerechtigkeit dadurch geradezu göttliche Züge erhält und doch Richtschnur sein kann, macht er an der bereits zitierten Charakterisierung des Menschen deutlich, der immer zwischen der Kälte seiner Vernunft und dem Feuer seiner Leidenschaften hinund hergerissen ist.83 Ein gerechtes Urteil im Sinne Nietzsches ist kaum zu 81 82 83
Petersen, S. 57. Nietzsche, GM II 10; KSA 5, S. 309. Nietzsche, MA I 637; KSA 2, S. 362.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
erreichen, aber seine Konzeption der Gerechtigkeit kann sehr wohl ein Ideal sein, welches im Rahmen des Menschenmöglichen zu erreichen versucht werden kann. Diese Entrücktheit der Gerechtigkeitskonzeption Nietzsches wird auch bei Petersen und Yang thematisiert – mit unterschiedlichen Worten. So versucht Petersen gerade die Bezeichnung der Gerechtigkeit als Ideal zu vermeiden und schlägt mit den Worten Nietzsches eine andere Bezeichnung vor. „Die Form der Frage (,wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist?‘) legt nahe, dass es sich bei dieser Gerechtigkeit um ein ‚Ideal‘ oder, besser gesagt – da es nämlich eine absolute Gerechtigkeit für ihn nicht gibt – eine ‚Wünschbarkeit‘ handelt, wobei die Besonderheit darin besteht, dass die Gerechtigkeit nicht inkommensurabel ist, sonder der Maßstab (,Liebe mit sehenden Augen‘) die eigentliche Herausforderung darstellt.“84
Petersen folgt an dieser Stelle dem Vorschlag Nietzsches aus „Der Wille zur Macht“, eine Kritik der Ideale damit zu beginnen, das Wort Ideal durch das Wort Wünschbarkeit zu ersetzen.85 Daneben betont auch Petersen, dass es der Maßstab der Gerechtigkeit in Nietzsches Konzeption selbst ist, der die eigentliche Herausforderung darstellt. Petersen kommt am Ende seines Beitrages noch einmal auf die Verwendung des Begriffes Wünschbarkeit im Sinne Nietzsches zurück. Zugleich wird dabei noch einmal Nietzsches Verehrung für die Gerechtigkeit herausgestellt. „Zum einen deuten die Formulierungen des ‚Heiligens‘ bzw. des hier nicht zitierten späteren ‚zu Ehren Bringens‘ eine besondere Hochschätzung der Gerechtigkeit an. Sie ist für Nietzsche offenbar in weit höherem Maße, als es in der bisherigen Diskussion der Fall ist, zwar kein absoluter Wert, so doch eine ‚Wünschbarkeit‘, um das Wort Ideal bewusst zu vermeiden, an dessen Stelle er den genannten Begriff gesetzt wissen will.“86
Diese besondere Hochschätzung, die Nietzsche für die Gerechtigkeit und ihr Prinzip, jedem das Seine zu geben, hegt, ist mit einer Forderung verknüpft: der Forderung, diese Wünschbarkeit erreichen zu wollen, ihr nachzueifern, sie als Orientierung auf höchster Ebene zu setzen. Die Genialität der Gerechtigkeit setzt diesen höchsten Anspruch – als Wünschbarkeit, um dieses Wort bewusst zu verwenden, eine Wünschbarkeit, die für den Menschen unerreichbar scheint, aber immer anzustreben ist. „Hieran sieht man zugleich, dass der von Nietzsche beschriebenen Genialität der Gerechtigkeit immer auch etwas Unerfüllbar-Utopisches anhaftet, das schwerlich in Reinkultur zu verwirklichen, aber immer zu erstreben ist.“87 84 85 86
Petersen, S. 44. Vgl. Nietzsche, WM 330; Ausgabe Kröner, S. 226. Petersen, S. 200.
III. Der Tauschcharakter der Gerechtigkeit
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Nietzsche selbst bringt diese Forderung auf den Punkt und wischt gleichzeitig alle einwendbaren Schwierigkeiten beiseite, wenn es in den nachgelassenen Fragmenten heißt: „Es sei, wie es sei: wir wollen gerecht werden und es darin so weit treiben als es uns irgend möglich ist.“88
Nietzsche lässt keine Ausreden gelten. Das gerechte Urteilen ist so gut wie möglich zu versuchen, das hohe Ideal der Gerechtigkeitskonzeption dabei anzustreben. Dabei ist sich der Mensch selbst das größte Hindernis auf dem Weg zu gerechtem Handeln. Petersen bezeichnet den Menschen insoweit als das eigentliche Problem der Gerechtigkeit. „Damit ist aber der Mensch selbst für Nietzsche das eigentliche Problem der Gerechtigkeit. Das kommt in seiner Formulierung der ‚Wünschbarkeit‘ zum Ausdruck, wonach ‚der weiseste Mensch der reichste an Widersprüchen wäre, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat‘. Das wäre zugleich der gerechte Mensch, in dem sich Weisheit und Gerechtigkeit vereinen, was zugleich erklärt, warum Nietzsche die Genialität der Gerechtigkeit so hoch schätzt.“89
Dennoch verlangt Nietzsche, der Mensch solle versuchen, so gerecht wie möglich zu sein. Dieser Versuch fordert eine „harte Schule“90, fordert Aufopferung, Arbeit an sich, Härte gegen sich und das Streben nach der Wünschbarkeit der genialen Gerechtigkeit, die jedem das Seine zu geben versucht.
III. Der Tauschcharakter der Gerechtigkeit Der entscheidende und ursprüngliche Charakterzug der Gerechtigkeit ist für Nietzsche der des Tausches91, bei dem dafür gesorgt werden soll, das Prinzip der Gerechtigkeit umzusetzen und jedem das Seine zu geben. Diese Charakterisierung der Gerechtigkeit geht auf eine Konfliktsituation zwischen zwei Parteien zurück. Im Zusammenhang mit der Rechtsentstehung und auch der Ursprungssituation der Gerechtigkeit spricht Nietzsche von einem Vertrag, den Voraussetzungen des Vertragens, die in der ungefähren Gleichgewichtigkeit der Machtmöglichkeiten liegen, um überhaupt in Verhandlungen einzutreten. 87 88 89 90 91
Petersen, S. 171 f. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1881, KSA 9, S. 634. Petersen, S. 237. Yang, S. 67. Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
1. Die Gerechtigkeit als Austausch des jeweils Gewünschten Nietzsche charakterisiert die Gerechtigkeit zwischen zwei Parteien dem Grunde nach als Tauschvorgang. Vor dem Hintergrund des von Nietzsche umfassend gedachten Prinzips der Gerechtigkeit, jedem das Seine zu geben, erscheint der Tauschcharakter folgerichtig, wenn zwei Parteien etwas von einander wollen. Das umfassende Prinzip des suum cuique mag im Blick haben, das jeweils Gewünschte und Gewollte an den Einzelnen zu geben. Da aber die Ursprungssituation der Gerechtigkeit bei Nietzsche die der Konfliktsituation zweier sich gegenüberstehender Parteien ist, kann als „anfänglicher Charakter der Gerechtigkeit“ nur der Tausch in Frage kommen, denn in dieser Konfliktsituation können nur die beiden Parteien sich das jeweils Gewollte geben und dabei das selbst Gewollte erhalten. Nietzsche beschreibt diesen Tauschcharakter wie folgt: „[. . .] der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung [. . .].“92
Die „gleiche Machtstellung“ als Ergebnis der hypothetischen Machtprobe wurde bereits umfassend dargestellt. Ohne die Annahme einer ungefähr gleichen Macht kommt es für Nietzsche gar nicht zu Verhandlungen, das jeweils Gewünschte kann schon gar nicht berücksichtigt werden. Der Vorgang des Tausches wird von Nietzsche im ganz klassischen Sinne merkantil verstanden. Der eine hat etwas, was der andere haben möchte und vice versa. Dabei sieht Nietzsche in dieser Situation die Basis dafür, dass die Gerechtigkeit die Chance erhält, ihrem Prinzip nach zu wirken und jedem das Seine zu geben – wenn darüber in Verhandlungen getreten wird. Dieses merkantile Verständnis als Grundlage seiner Herangehensweise findet sich auch in der „Genealogie der Moral“. An dieser Stelle unternimmt Nietzsche den Versuch, im Rahmen seiner Gedanken zum Strafen den Ursprung einer angenommenen Äquivalenz zwischen Schaden und Schmerz herzuleiten. „Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits verrathen: in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist als es überhaupt ‚Rechtssubjekte‘ giebt und seinerseits 92
Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89.
III. Der Tauschcharakter der Gerechtigkeit
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wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist.“93
Der Tauschcharakter der Gerechtigkeit muss also wie auch der Zusammenhang von Schaden und Schmerz vor dem Hintergrund der Menschheitsgeschichte betrachtet werden und weist für Nietzsche auf die Grundformen menschlicher Interaktion hin, in Bezug auf die Gerechtigkeit also auf den ganz ursprünglichen Tauschhandel. Die eine Partei hat etwas, das sie herzugeben bereit ist, verlangt aber dafür etwas Anderes, das sie lieber hätte. Ebenso ergeht es der anderen Partei. Dabei treffen mindestens zwei Willen aufeinander. Es ist eine Konfliktsituation, die die Möglichkeit beinhaltet, das Gewollte durch Gewalt an sich zu bringen. Erst auf der Grundlage ungefährer Gleichheit der Machtmöglichkeiten besteht die Chance auf einen Tausch, der in dem Sinne des suum cuique gerecht sein kann, als jedem das gegeben wird, das er sich mehr wünscht. Petersen schließt aus der sprachlichen Stellung der Begriffe eine Gleichsetzung von Tausch und Gerechtigkeit. „Wie die wörtliche Wiederholung veranschaulicht, werden Tausch und Gerechtigkeit gleichgesetzt – freilich nur auf der Grundlage einer gleichartigen Einschätzung der Machtverhältnisse.“94
Diese Gleichsetzung meint den Austausch des jeweils Gewünschten auf Grundlage der vorangegangenen Verhandlungen. Das jeweils Eigene definiert sich als das jeweils Gewünschte. Und erhält jeder das Gewünschte als Ergebnis der Verhandlungen, so müsste ein solcher Austausch mit Nietzsche als gerecht bezeichnet werden, da jeder das Seine erhält. 2. Das Synallagma in einem gerechten Austausch Der Tauschcharakter der Gerechtigkeit unterstreicht aber auch, dass die Leistung der einen Partei immer nur in Bezug und in Verbindung auf die Leistung der anderen Partei vorgenommen werden soll. Petersen gebraucht diesbezüglich den juristischen Fachbegriff für diese Gegenseitigkeit und spricht von Synallagma. Allerdings wechselt er dann in der Erklärung des Synallagmas bei Nietzsche direkt wieder in die Begrifflichkeit des Rechtsverhältnisses, wobei nicht ganz klar wird, ob hier von dem Tauschverhältnis als der Charakterisierung der Gerechtigkeit die Rede ist, oder doch vielmehr von den Rechtsverhältnissen, die vor dem Hinter93 94
Nietzsche, GM II 4; KSA 5, S. 298. Petersen, S. 52.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
grund eines geschlossenen Vertrages auch einen gegenseitigen Austausch wechselseitiger Rechte und Pflichten vorsehen. Bei Petersen heißt es unter der Überschrift „Synallagma“: „Der synallagmatische Charakter des Rechtsverhältnisses bestätigt sich auch mit Blick auf die Gegenrechte des anderen Teils. Rechte und Pflichten bedingen einander.“95
Ein weiterer Bezug zu dem gerade dargestellten Tauschcharakter der Gerechtigkeit fehlt an dieser Stelle. Vielmehr geht Petersen dann auf den allgemein für Nietzsches Rechtsdenken wesentlichen Begriff des Tausches ein.96 Da die Charakterisierung der Gerechtigkeit auf die von Nietzsche entworfene Zwei-Personen-Konflikt-Situation zurückgeführt werden kann, mithin die gegenseitige Machtabschätzung das verbindende Element von Rechtsentstehung und Ursprung der Gerechtigkeit darstellt, ist danach zu fragen, ob sich der synallagmatische Charakter auch als Beschreibung für den auf dieser Situation fußenden Tausch gedacht werden muss. Das Synallagma zeichnet sich im juristischen Gebrauch dadurch aus, dass es die gegenseitigen Vertragsverpflichtungen mindestens zweier Parteien beschreibt. „Ein gegenseitiger Vertrag ist ein Vertrag, bei dem die notwendig beiderseitigen Verpflichtungen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis – Synallagma – stehen; [. . .].“97
Und auf diese Grundsituation kommt es Nietzsche gerade an. Dabei ist mitzudenken, dass sich die beiden Konfliktparteien gegenüber stehen und ihnen die Klugheit zur Verständigung rät. Anschließend gilt es auszuloten, was das Gegenüber will und wie die eigenen Ziele gesteckt sind. Und es wird zu klären sein, was die jeweiligen Parteien zu geben bereit sind. Der gerechte Austausch zeichnet sich für Nietzsche gerade dadurch aus, dass jeder den anderen zufrieden stellt, indem jeder bekommt, was er mehr schätzt als das nunmehr Seinige und dagegen das empfängt, was er sich wünscht.98 Denkt Nietzsche diesen Tauschcharakter der Gerechtigkeit als gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis im Sinne eines Synallagmas? Davon ist vor dem Hintergrund der hypothetischen Machtprobe mit Sicherheit auszugehen. In dieser gedachten Ursprungssituation prüfen die Parteien zunächst, ob es nicht möglich sei, sich das Gewünschte einfach zu 95 96 97 98
Petersen, S. 52. Vgl. ebd. Creifelds, Rechtswörterbuch, 16. Aufl., Gegenseitiger Vertrag, S. 517. Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89.
III. Der Tauschcharakter der Gerechtigkeit
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nehmen. Nur bei in etwa gleich eingeschätzten Machtmöglichkeiten flüstert die Klugheit des Willens zur Macht und der Selbsterhaltung den Parteien ein, dass sich ein Kampf nicht lohnt und über eine Verständigung ein besseres Ergebnis erzielt werden kann. Erst dann eröffnet sich überhaupt die Möglichkeit des Tausches und damit der Gerechtigkeit. So wird deutlich, dass die eine Partei der anderen das Gewünschte nur geben will, wenn sie dafür auch das ihrerseits Gewünschte erhält. Diese Option des Austausches zeichnet sich also gerade durch den Charakter einer gegenseitigen Abhängigkeit der beiderseitigen Leistungen aus. Gerecht ist der Austausch für Nietzsche dann, wenn jeder das Seine erhält, das sich als das Gewünschte definiert und beide Parteien dadurch zufrieden gestellt werden, dass sie das jeweils mehr Geschätzte erhalten. Dieser Tausch kann nur unter der Bedingung des gegenseitigen Gebens gedacht werden, da die zugrundeliegende Situation die eines Konfliktes ist, bei der das Wollen zweier Parteien aufeinandertrifft. Es wird nur gegeben, um zu erhalten. So sieht es die juristische Definition des gegenseitigen Vertrages vor. „[. . .] die eine Leistung soll nur um der anderen willen erbracht werden (Austauschverhältnis; ‚do ut des‘ = ich gebe, damit du gibst).“99
Die Ausführungen von Petersen zu den sich gegenseitig bedingenden Rechten und Pflichten gelten demnach auch und gerade für den Tauschcharakter der Gerechtigkeit, auch wenn an dieser Stelle bei Petersen eine gewisse Unschärfe Einzug gehalten hat, da er nicht mehr von der Tauschsituation spricht, die sich auf Basis der gleichwiegenden Machteinschätzung ergeben hat, sondern seinen Blick schon wieder einem Rechtsverhältnis zugewandt hat, ohne dieses genau zu definieren.100 Nach den obigen Ausführungen zur Situation der Rechtsentstehung muss zwischen den beiden Aspekten unterschieden werden, dass ein erstes Recht durch die Anerkennung des Gegenübers als Rechtssubjekt entsteht, aber auch durch den Vertragsschluss selbst, der wiederum Rechte enthält, auf die sich die Parteien berufen können. Im Hinblick auf die Entstehungsmöglichkeit der Gerechtigkeit ist ebenfalls eine solche Differenzierung vorzunehmen. Wie gezeigt denkt Nietzsche die Situation, die die Möglichkeit der Gerechtigkeit in sich trägt, genauso wie die der Rechtsentstehung. Bei der Charakterisierung der Gerechtigkeit als Tausch stellt sich insoweit die Frage, ob Nietzsche wiederum einen Vertragsschluss in Form eines Tauschvertrages annimmt und worin genau die Entfaltungsmöglichkeiten der Gerechtigkeit liegen. 99 100
Creifelds, Rechtswörterbuch, 16. Aufl., Gegenseitiger Vertrag, S. 517. Vgl. Petersen, S. 52.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
Angesichts der vorangegangenen hypothetischen Machtprobe denkt Nietzsche den Tauschcharakter der Gerechtigkeit als synallagmatischen Charakter. Nur wenn die eine Partei bekommt, was sie möchte, wird sie der anderen geben, was diese wünscht. Eine altruistische Einseitigkeit wäre an dieser Stelle für Nietzsche nicht denkbar, da in der gedachten Zwei-Parteien-Konstellation sich gerade zwei Willen in einem Konflikt gegenüberstehen. Die Möglichkeit einer Schenkung könnte als Ausfluss einer Übermacht genauer betrachtet werden, denn auch die altruistische Handlung führt Nietzsche auf eine egoistische zurück. Eine solche Handlungsweise kommt jedoch für die gedachte Konstellation nicht in Betracht, da Nietzsche an dieser Stelle das Beispiel kriegerischer Parteien gewählt hat. Die von Nietzsche gedachte Situation soll noch einmal deutlich gemacht werden. Er selbst bezieht sich auf den Melier-Dialog bei Thukydides101. Die kriegerische Situation der Belagerung ist demnach Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Eine Schenkung hat hier zunächst einmal außen vor zu bleiben. Der synallagmatische Charakter kann sich in dieser Situation nur auf den vereinbarten Tausch beziehen, also auf den Vertragsschluss selbst, mithin auf den Tauschvertrag. Zwar kommt es auch dabei zu einer Anerkennung des Gegenübers als Verhandlungspartner. Dies mag zwar – wie gesehen – eine erste Rechtsentstehung als Rechtszuerkennung markieren, aber eine Entstehung von Gerechtigkeit ist dabei noch nicht auszumachen. Dem Tauschvertrag wohnt für Nietzsche zumindest die Möglichkeit der Gerechtigkeit inne, indem jede Partei erhalten könnte, was sie mehr begehrt als die andere. Der Ursprung der Gerechtigkeit stellt sich demnach grundsätzlich als Chance auf Gerechtigkeit dar. Die als ungefähr gleich eingeschätzten Mächte sind für Nietzsche die Grundlage, auf der es überhaupt zu der Möglichkeit eines Austausches kommen kann, indem Verhandlungen aufgenommen werden. Das Rechtsverhältnis, das von Petersen im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit als synallagmatisch bezeichnet wird, kann demnach nur der Tauschvertrag selbst sein. Das Synallagma bezieht sich auf den Erhalt des jeweils Gewünschten, der aufgrund von Verhandlungen in einem Vertrag festgehalten wird. 3. Die Gerechtigkeit als Vertragsgerechtigkeit Damit geht es Nietzsche in seinem Entwurf einer Chance auf Gerechtigkeit um eine Vertragsgerechtigkeit im weitesten Sinne. Sein Entwurf der Gerechtigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass die Gerechtigkeit zum einen 101
Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89.
III. Der Tauschcharakter der Gerechtigkeit
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als umfassende Wünschbarkeit gedacht wird und zum anderen als konkreter Maßstab auf den in der Ursprungssituation ausgehandelten Vertrag anzuwenden ist. So schreibt Petersen zutreffend: „Der alte rechtsphilosophische Grundsatz des suum cuique erscheint hier also einmal als abstrakt-generelle Maxime, ein anderes Mal als Verwirklichung der Vertragsgerechtigkeit [. . .].“102
Diese Unterscheidung findet sich auch in den von Nietzsche gewählten Formulierungen, worauf auch Petersen an der gerade zitierten Stelle aufmerksam macht. So schreibt Nietzsche in dem Aphorismus von der Genialität der Gerechtigkeit, in dem es um das umfassend gedachte Prinzip der Gerechtigkeit geht: „[. . .] sie [die Gerechtigkeit] ist folglich eine Gegnerin der Überzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben [. . .].“103
Jedem das Seine, auf alles angewendet, der Grundsatz des suum cuique als umfassendes Prinzip. Im Rahmen des Aphorismus zum Ursprung der Gerechtigkeit ändert Nietzsche diese Perspektive und bezieht sie auf den geschlossenen Vertrag. „[. . .] da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere. Man giebt Jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte.“104
Jetzt spricht Nietzsche in Bezug auf die vorangegangenen Verhandlungen und die Einigung von dem, was der andere mehr schätzt, weist also darauf, was aus Sicht der Parteien jeweils vereinbart werden soll. Und damit auf die Rechte der Parteien, die erst durch den Vertragsschluss entstehen. Damit kommt der Tauschvertrag selbst in Nietzsches Ursprungssituation der Gerechtigkeit in den Blick. Die Vertragsgerechtigkeit steht sodann im Vordergrund. Die Definition dessen, was das ist, was den Parteien jeweils zustehen soll, wird über die Verhandlungen bestimmt. Wie Nietzsche natürlich bekannt war, führten die Verhandlungen der Melier mit den Athenern gerade nicht zu einem gerechten Austausch, sondern zu einem furchtbaren Gemetzel. Die Verhandlungen wurden abgebrochen. Die Anerkennung als Rechtssubjekt endete und direkt nach dem Ende der Verhandlungen wurde die Insel Melos überrannt105. Die Gerechtigkeit 102 103 104 105
Petersen, S. 53. Nietzsche, MA I 636; KSA 2, S. 361. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. Siehe oben B. V. 2.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
konnte nicht ansatzweise verwirklicht werden, es kam schon gar nicht zu einem Austausch, da es nicht zu einem Tauschvertrag kam. Die von Nietzsche zitierte Situation birgt also die Möglichkeit der Gerechtigkeit in sich, zeigt den Tauschcharakter derselben auf. Ob es indes auch zu einer Verwirklichung kommt, hängt davon ab, ob es bei der gegenseitigen Machteinschätzung bleibt oder ob diese im Laufe der Verhandlungen korrigiert wird, und damit auch davon, ob überhaupt ein Tauschvertrag geschlossen wird. Denn Vertragsgerechtigkeit kann es nur in einem geschlossenen Vertrag geben. 4. Die Machtabschätzung in der Einschätzung der Vertragstreue Der Charakter der Gegenseitigkeit im Tauschvertrag führt zu dem Folgeproblem, dass die hypothetische Machtprobe, also das gegenseitige Einschätzen und Abschätzen mit seiner gesamten Subjektivität und den Faktoren Informationsfluss, Täuschung und Irrtum, auch die Überlegung der Parteien bestimmt, ob die andere Partei sich wirklich an den Vertrag halten wird. Schließlich wird nur gegeben, um zu erhalten. Der Tauschvertrag kann insofern gerecht sein, als jeder das erhält, was er sich mehr wünscht und dafür der Vertragspartei das ihrerseits mehr Gewünschte gibt. Der Austausch steht allerdings vor dem Hintergrund der vorangegangenen, hypothetischen Machtprobe in einem Synallagma. Das bedeutet, dass auch nach Abschluss des Tauschvertrages weiterhin die Machtabschätzung eine Rolle spielt, da sich im Rahmen des Gebens um zu erhalten immer die Frage stellt, ob sich die gebende Partei darauf verlassen kann, dass sie das ihrerseits Gewünschte auch erhält, oder ob sich die andere Partei als so überlegen einschätzt, dass sie es sich leisten kann, doch zu nehmen ohne zu geben. Dieses Folgeproblem wird bei Nietzsche nicht thematisiert und findet sich, soweit ersichtlich, auch nicht in der bisherigen Sekundärliteratur. Vielmehr scheint die von Nietzsche gedachte Machtabschätzung in der Ursprungssituation derart umfassend, dass sie zu dem endgültigen Ergebnis führt, ein Kampf wäre unklug, woraus sich ergibt, dass die Parteien sich später auch an den Austauschvertrag gebunden sehen, da die Machtabschätzung ihre Gültigkeit bewahrt. Allerdings läuft die gegenseitige Machtabschätzung immer weiter, auch nach Vertragsschluss.106 Und die hypothetische Machtprobe ist ein Einfalls106
Vgl. oben B. V. 1.
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tor für Täuschung, Informationsvorsprung und Irrtum. Und dies gilt entsprechend auch für die hypothetische Machtabschätzung, die nach Nietzsche der Gerechtigkeit die Basis verleiht. Auch hier müssen beide Seiten mit der Täuschung rechnen, in dem Fall des Austausches mit der Täuschung über die Austauschwilligkeit. Und gerade im Falle des Tausches spiegelt sich die Machtabschätzung noch einmal im Synallagma des Tauschvertrages, da bei der kriegerisch gedachten Grundsituation keine Partei bereit wäre zu geben, ohne dafür auch zu erhalten. Der grundlegende Unterschied zur Ursprungssituation des Rechts ist, dass die Verhandlungen mit der gegenüberstehenden Partei schon zur Entstehung eines Rechts geführt haben, nämlich die Anerkennung des Gegenübers als Vertragspartner. Erst in einem zweiten Schritt kommt es mit einem Vertragsschluss zu weiteren Rechten, die aus dem Vertrag abgeleitet werden können. Hier setzt die Gerechtigkeit überhaupt erst an – als Vertragsgerechtigkeit. Sie bekommt ihre Chance in der identisch gedachten Ursprungssituation erst mit dem Vertragsschluss, ihre Verwirklichungschance erst mit der Durchführung des Tauschvertrages. Sie ist damit der großen Gefahr ausgesetzt, dass es nicht zu ihrer Verwirklichung kommt. Die von Nietzsche gedachte Ursprungssituation muss vielmehr als Keimzelle der Gerechtigkeit verstanden werden, bei der auf dem Weg zur Verwirklichung des gerechten Tausches, bei dem jeder das Seine erhält, noch allerhand schief gehen kann. Die Gerechtigkeit ist eine Chance, die in der Situation von in etwa gleich wiegenden Mächten angelegt ist. Das Synallagma dieses Tausches beschreibt Nietzsche in der „Morgenröthe“ deutlich, wenn er die Rechte und Pflichten in Verhältnis setzt. „Unsere Pflichten – das sind die Rechte Anderer auf uns. [. . .] Nur auf Das, was in unsrer Macht steht, können sich die Rechte Anderer beziehen; es wäre unvernünftig, wenn sie Etwas von uns wollten, das uns selber nicht gehört. Genauer muss man sagen: nur auf Das, was sie meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht.“107
Nietzsche macht an dieser Stelle die Gegenrechte des Vertragspartners klar, indem er Pflichten als Rechte anderer auf uns definiert. Damit ist zwar noch nicht das „do ut des“ festgehalten. Dieses ergibt sich aber aus der kriegerischen Ursprungssituation. In dieser wird ein Tauschvertrag dahingehend geschlossen, dass gegeben wird, um zu erhalten. Die gegenseitige Machtabschätzung dauert an: sie wird nicht einmal durchgeführt, um dann zu erstarren, sondern ist ein andauerndes Überprüfen 107
Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 100.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
der eigenen Stellung und der des Gegenübers, was, wie gesehen, auch zur Beendigung von Rechtszuständen führen kann, wenn sich die Machtmöglichkeiten erheblich verändern.108 Schon die von Nietzsche dargestellte Beendigung von Rechtszuständen setzt voraus, dass weitere Machtabschätzungen stattfinden, da sonst die Veränderung nicht bemerkt würde. Die gegenseitige Einschätzung ist pure Dynamik und versucht ein dynamisches Gleichgewicht zu erfassen. Diese Dynamik ergibt sich schon aus der von Nietzsche als Ursprungssituation der Gerechtigkeit gedachten Zwei-Personen-Konflikt-Situation. Die herangezogenen Beispiele und namentlich der Melier-Dialog rekurrieren auf die kriegerische Situation zweier Heere, zweier Völker oder in dem Räuberbeispiel auf eine Dorfgemeinschaft und den sie überfallenden Räuber – also immer auf eine Mehrzahl von Menschen. Letztlich aber können die sich gegenüberstehenden Mehrheiten auf zwei Parteien im Sinne von zwei entscheidenden Positionen reduziert werden. Und so werden auch die grundlegenden Geschäfte als Verträge zwischen zwei Parteien geschlossen und sind als einfachste Form des Tauschvertrages anzusehen. Nietzsche spricht von den Grundformen Kauf, Verkauf und Tausch.109 Dieses Denken in zwischenmenschlichen Kategorien, unter dem dauernden Einfluss des Willens zur Macht stehend, schärft den Blick für das Allzumenschliche, welches für Nietzsche schon immer die Hauptrolle in jeder Zwei-Personen-Konflikt-Situation gespielt hat. Die Dynamik der gegenseitigen Machtabschätzung bleibt erhalten, und es kommt zu immer neuen Bewertungen der gegenseitigen Macht. Auch nachdem es zu ersten Verhandlungen gekommen ist, können diese aufgrund eines anderen Ergebnisses einer neuerlichen Machtabschätzung abgebrochen werden. Selbst wenn der Tauschvertrag schon geschlossen wurde, vielleicht sogar gerecht im Sinne Nietzsches, bleibt die gegenseitige Abschätzung schon deshalb aktiv, weil sich jede Partei beständig fragen muss, ob die andere sich an den Vertrag halten wird. Aufgrund des Willens zur Macht bleibt die gegenseitige Machtabschätzung immer aktiv. Und so wie sie zur Chance auf Gerechtigkeit geführt hat, kann sie in den Verhandlungen und in der nachfolgenden Durchführung des geschlossenen Vertrages jederzeit zu einer veränderten Einschätzung gelangen und jegliche Chance auf Gerechtigkeit wieder zunichtemachen.
108 109
Vgl. oben B. V. 3. Vgl. Nietzsche, GM II 4; KSA 5, S. 298.
IV. Rache und Gerechtigkeit
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IV. Rache und Gerechtigkeit Es wird deutlich, worauf Nietzsche sein Hauptaugenmerk richtet: auf die Rückführung und Bezugnahme seiner Rechts- und Gerechtigkeitskonzeption auf eine Zwei-Parteien-Konflikt-Situation, in der die gegenseitige Machtabschätzung das zentrale Element darstellt und nur mit dem Ergebnis einer ungefähren Gleichgewichtigkeit der Machtmöglichkeiten zu Verhandlungen führt. Und Nietzsche gibt einen weiteren Hinweis auf diese Zwei-PersonenKonflikt-Situation, indem er Rache und Gerechtigkeit einander näherbringt. Hierzu findet sich in dem Aphorismus zum Ursprung der Gerechtigkeit eine eindeutige Aussage: „[. . .] der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit.“110
Nietzsche führt in diesem Passus neben dem Charakter der Gerechtigkeit als Austausch noch einen weiteren Aspekt ein: die Vergeltung. Gerechtigkeit ist ihm nicht nur Tausch, sondern auch Vergeltung, die Rache gehört für ihn in den Bereich der Gerechtigkeit. Und die Rache selbst ist Austausch. 1. Der gemeinsame Ursprungsbereich von Rache und Gerechtigkeit Dieser Verweis auf die Rache hinter der Gerechtigkeit führt erneut zu der festgestellten Zwei-Personen-Konflikt-Situation. Dabei setzt Nietzsche Rache und Gerechtigkeit keineswegs gleich. Vielmehr gehört die Rache nur zum Bereich der Gerechtigkeit. So auch Petersen, wenn er schreibt: „Allerdings gehört die Rache eben nur ‚in den Bereich der Gerechtigkeit‘, so dass sie mitnichten gleichbedeutend ist mit der Herstellung der Gerechtigkeit [. . .].“111
Petersen präzisiert die fehlende Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Rache bei Nietzsche dahingehend, dass er auf die Durchführung abstellt. Rache als durchgeführte Rache stellt noch keine Gerechtigkeit her. Die Rache ist als Handlung zu denken, die einen Austausch bewirken soll. Und auch die Gerechtigkeit strebt einen Austausch an. Wieder einmal 110 111
Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. Petersen, S. 67.
122
C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
ist der Blick auf die Ursprungssituation, auf das Herkommen zu richten. Denn wenn die Rache zum „Bereich der Gerechtigkeit“ gehört, dann ist dieser Bereich von entscheidendem Interesse. Ebenfalls auf den gemeinsamen Ursprung verweisend schreibt Petersen: „[. . .] die Rache gehörte also nicht gleichsam archaisch zur Gerechtigkeit, sondern sie ist – ebenso wie die Dankbarkeit – von ihrem Ursprung her der Gerechtigkeit zugeordnet. [. . .] Aus dieser wiederholten Exemplifizierung folgt zugleich eine Erweiterung des Tauschbegriffs, durch die dessen zentrale Bedeutung zusätzlich aufgewertet wird.“112
Zutreffend erteilt Petersen der Auffassung eine Absage, Nietzsche würde die Rache als quasi archaische Form der Gerechtigkeit denken. Vielmehr hält er fest, dass die Beispiele von Rache und Dankbarkeit den Bereich des Austausches, in dem auch die Gerechtigkeit anzusiedeln ist, umreißen. Nietzsche selbst geht an anderer Stelle noch einen Schritt weiter und setzt – vor dem Hintergrund seines Denkens in einem fortlaufenden Werden und Wandeln, Leiden und Vergehen113 – die Rache in der geschichtlichen Entwicklung vor die Gerechtigkeit. In einem Aphorismus, der sich in der Zusammenstellung „Der Wille zur Macht“ findet, heißt es prägnant: „Gerechtigkeit als Entwicklung des Rachetriebes.“114
Diese Feststellung führt allerdings in die Irre, da daraus geschlossen werden könnte, Nietzsche wolle eine direkte Entwicklung der Gerechtigkeit aus dem Rachetrieb herleiten. Dies ist nicht der Fall, da er sich selbst an anderer Stelle gegen ein Herkommen der Gerechtigkeit aus der Rache stellt, die Gerechtigkeit ist ihm immer aktive wohlwollende Tätigkeit und kann daher nicht auf einer reinen Reaktion beruhen. Und der Rachetrieb gilt ihm gerade als bloße Reaktion auf eine Verletzung. Die Gerechtigkeit dagegen kann vor dem Hintergrund des hohen Anspruchs des suum cuique in der Ausformung des sorgsamen Auges und der wohlwollenden engagierten Aktivität nicht bloße Reaktion sein, mithin keine direkte, unmittelbare Entwicklung des Rachetriebes. Nietzsche trennt Rache und Gerechtigkeit an anderer Stelle strikt: „[. . .] so wird es nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehen zu sehn, [. . .], die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen – wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Ge112
Petersen, S. 66 f. Vgl. dazu zum Beispiel Wolfgang Schiller, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 350: „Nietzsche sieht in der Welt ein chaotisches Werden, Leiden und Vergehen. Die Welt ist stets im Fluß, niemals faßbar, begreifbar, auf den Begriff zu bringen; ohne feststellbare Tatsachen.“ 114 Nietzsche, WM 255, Kröner, S. 184. 113
IV. Rache und Gerechtigkeit
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fühle des Verletzt-seins wäre – und mit der Rache die reaktiven Affekte überhaupt und allesammt nachträglich zu Ehren zu bringen.“115
Das Bild der Aussagen Nietzsches rundet sich diesbezüglich wieder ab, wenn er an der eingangs zitierten Stelle von einem „Bereich“ der Gerechtigkeit spricht, dem die Rache zuzuordnen ist.116 Dieser Bereich ist der des Austauschs, nicht der Reaktion. Und in Bezug auf den Austausch kann Nietzsche dann wieder von einer Entwicklung sprechen. Aber es ist keine direkte Entwicklung, sondern vielmehr eine, die in der Menschheitsgeschichte im gemeinsamen Bereich des Austauschs erfolgte. 2. Die Rache der blinden Erbitterung Bei diesem Blick auf die Menschheitsgeschichte macht Nietzsche ein gemeinsames Element im Bereich des Austausches aus: das angestrebte Gleichgewicht. Dieses verbindende Element bestimmt den gesamten Bereich des Austauschs, sowohl hinsichtlich der Rache als auch hinsichtlich der Gerechtigkeit. „Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung erhalten: sodass, wenn jetzt der Eine sich gegen den Anderen vergeht, der Andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermöge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse wiederhergestellt: denn ein Auge, ein Arm mehr ist in solchen Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewicht mehr.“117
Nietzsche unterscheidet hier schon eine erste Stufe der Regelung in dem archaisch und grausam anmutenden Talion und der noch ursprünglicheren „Rache der blinden Erbitterung“. Das mit dem jus talionis angestrebte Gleichgewicht ist zwar ein grausames, aber es stellt eine erste Regelung der Rache dar, die versucht, diese in Bahnen zu lenken. Die Rache im jus talionis ist kanalisiert. Und die eigentliche Rache kann nur außerhalb des Rechts genommen werden, wurde ursprünglich außerhalb des Rechts genommen. Für Brusotti braucht die Rache gerade die Rechtlosigkeit, um sich austoben zu können: „[. . .] schon auf dieser primitiven Stufe begründet die Rache also das Recht nicht, sie tobt sich im Gegenteil erst in einem Raum der Rechtlosigkeit aus.“118 115
Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 310. Vgl. Nietzsche, MA I 92; KSA 2, S. 89. 117 Nietzsche, MA II 2, 22; KSA 2, S. 556. 118 Marco Brusotti, Die Selbstverkleinerung des Menschen in der Moderne, in: Nietzsche-Studien, Bd. 21, Berlin/New York 1992, S. 97. 116
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
Mit der Rache wird ein Gleichgewicht angestrebt, welches durch die Schädigung gestört wurde und durch eine blutige direkte Ausgleichung wieder hergestellt werden soll. Bei dem Verlust eines Auges soll auch dem Schädiger das Auge genommen werden, also ein Ausgleich unter den beiden Parteien herbeigeführt werden. Die Todesstrafe für die Tötung eines anderen Menschen weist dann auf ein weiteres Gleichgewicht hin, da es mit dem Geschädigten als dem Getöteten keinen Ausgleich mehr geben kann. Aber wenn der Geschädigte nicht mehr lebt, so soll es auch der Schädiger nicht. Allerdings kann das Fehlen des Lebens des Geschädigten durch das Nehmen des Lebens des Schädigers nicht ausgeglichen werden. Nietzsche als entschiedener Gegner der Todesstrafe geht allerdings nicht auf diesen Aspekt ein. Nietzsche sieht im Talion bereits eine erste Entwicklungs- und Regelungsstufe vollzogen, der Geschädigte nimmt nicht mehr wie zuvor selbst eine Rache der blinden Erbitterung. Um aber dem Rachetrieb noch näher zu kommen, sei der Blick erneut auf dieses ursprüngliche Rachenehmen gerichtet. Die urmenschliche Reaktion auf eine Verletzung kann vor diesem Hintergrund der Drang nach Rache sein, der direkt aus der Wut und dem Schmerz über die Verletzung resultiert und in dieser Wut und in dem Vergeltungsdrang zu einer überschießenden und rasenden Blindheit führen kann, ausgelöst durch die rein subjektive Erbitterung und Empörung über die eigene Verletztheit. Dieser Drang nach Rache ist zunächst einmal höchstpersönlich und gilt inter partes. Der Geschädigte will sich an dem Schädiger rächen, er verlangt von dem Schädiger einen Ausgleich, aber eigentlich auch etwas mehr dafür, dass der ihn überhaupt geschädigt hat. Der Rachetrieb ist ein subjektiver Trieb, der sich nur zwischen den beiden Konflikt-Parteien abspielt. Er ist das höchstpersönliche Anliegen des Verletzten, an dem Schädiger Rache zu üben oder geübt zu sehen. An dieser Stelle gelingt nunmehr auch der Brückenschlag zu Nietzsches strafrechtlichen Überlegungen und dem Ursprung strafrechtlicher Regelungen in einem Zwei-Personen-Verhältnis. Darauf wird im nächsten Kapitel einzugehen sein, um zu untersuchen, wie Nietzsche auch im Bereich des Strafrechts in obligationenrechtlichen Kategorien denkt und in dem Aufbau seiner Rechtsphilosophie folgerichtig auch das Strafrecht auf der Zwei-Parteien-Konflikt-Situation beruht, die eine gegenseitige Machtabschätzung beinhaltet und auch in das spätere Strafen durch den Staat hineinträgt. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass auch die Rache für Nietzsche zum Bereich der Gerechtigkeit gehört und auf eine Zwei-Personen-Konstellation verweist, die in ihrer Ursprünglichkeit auf den subjektiven Drang nach Ver-
IV. Rache und Gerechtigkeit
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geltung deutet und sich auf eine zwischenmenschliche Beziehung inter partes bezieht. Nietzsche weist noch an anderen Stellen auf dieses Näheverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Rache hin, so in „Also sprach Zarathustra“ wenn es dort heißt: „Und Andre sind stolz über ihre Handvoll Gerechtigkeit und begehen um ihrerwillen Frevel an allen Dingen: also dass die Welt in ihrer Ungerechtigkeit ertränkt wird. Ach, wie übel ihnen das Wort ‚Tugend‘ aus dem Munde läuft! Und wenn sie sagen: ‚ich bin gerecht‘, so klingt es immer gleich wie: ‚ich bin gerächt!‘ Mit ihrer Tugend wollen sie ihren Feinden die Augen auskratzen; und sie erheben sich nur, um Andre zu erniedrigen.“119
Diese Stelle weist zum einen auf die Nähe von Gerechtigkeit und Rache hin, enthält andererseits aber auch eine klare Wertung, dass hier keine Identität bestehen kann und darf. Des Weiteren wird der Vorwurf angedeutet, den Nietzsche in der „Genealogie der Moral“ ausspricht, nämlich dass versucht werde, die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen.120 Die Gerechtigkeit verwirklicht sich angesichts ihres hohen Anspruchs nicht in einer persönlichen Rache. So auch Kerger, der in seinem Beitrag „Autorität und Recht im Denken Nietzsches“ ebenfalls diese Wertung Nietzsches betont: „Hierbei ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich diese Äußerung Nietzsches ebenfalls auf den ‚Ursprung der Gerechtigkeit‘ und nicht auf die von ihm entwickelte Gerechtigkeitstheorie [. . .] bezieht.“121
Kerger geht in seinem Beitrag ausführlich auf die Denkanstöße ein, die Nietzsche von Eugen Dühring erhalten hat. Nietzsche wettert an zahlreichen Stellen offen gegen Dühring, den er in der „Genealogie der Moral“ als „Berliner Rache-Apostel“ und „Moral-Grossmaul“ bezeichnet.122 Die entscheidende Abgrenzung von Dühring sieht Kerger gerade in der Herausnahme der Rache aus der Gerechtigkeitskonzeption Nietzsches über die Abgrenzung der Gerechtigkeit als eines positiven und aktiven Handelns, welches nicht mit der Reaktivität der Rache auf eine Verletzung hin zusammenpasst.123 Die Gerechtigkeit ist für Nietzsche immer ein aktiver Vorgang und kein reaktiver.124 119
Nietzsche, Z II, Von den Tugendhaften, KSA 4, S. 122. Vgl. Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 310. 121 Kerger, S. 34. 122 Vgl. Nietzsche, GM III 14; KSA 5, S. 370. 123 Vgl. insbesondere § 3 in Kerger „Autorität und Recht im Denken Nietzsches“. 124 Vgl. C. II. 4. 120
126
C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
Der erste Impuls zur Reaktion führt zu einer „Rache der blinden Erbitterung“.125 Dass die Blindheit mit dem sehenden Auge der Gerechtigkeit unvereinbar ist, erschließt sich schon aus dem von Nietzsche verwendeten Bild. Die Gerechtigkeit ist Nietzsche genaues Hinsehen, von allen Seiten hat der Gerechtigkeitssuchende das zu beurteilende Objekt zu betrachten – und dabei wohlwollend zu sein. Die eigene Verletztheit macht den Menschen blind und schließt damit für Nietzsche die Möglichkeit gerechten Urteilens nahezu aus. Dem persönlich Verletzten, der es dennoch schafft, gerecht zu urteilen, wäre Nietzsches höchste Bewunderung sicher.126 3. Die Selbsterhaltung hinter der Rache Die große Bedeutung der Rache für das Verständnis der Gerechtigkeitskonzeption Nietzsches liegt in ihrem Verweis auf die Zwei-Parteien-Konflikt-Situation. Und diese füllt Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“ mit Leben und attestiert auch der Rache den Hintergrund der Selbsterhaltung. Dabei nimmt Nietzsche eine genaue Unterscheidung vor, indem er zwischen der ersten spontanen Reaktion auf eine Verletzung und der von langer Hand geplanten Rache unterscheidet. „So ist auch ‚Rache‘ bald Diess, bald Jenes, bald etwas sehr Zusammengesetztes. Man unterscheide einmal jenen abwehrenden Zurückschlag, den man fast unwillkürlich auch gegen leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben (wie gegen bewegte Maschinen), ausführt: der Sinn unserer Gegenbewegung ist, dem Beschädigen Einhalt zu thun, dadurch dass wir die Maschine zum Stillstand bringen.“127
Nietzsche zeichnet hier das Bild der ersten spontanen Reaktion auf eine Verletzung, worin er einen abwehrenden, unwillkürlichen Gegenschlag sehen will, der das primäre Ziel verfolgt, die Verletzung zu beenden. Dieser erste Akt des spontanen Zurückschlagens ist Nietzsche Ausfluss der Selbsterhaltung. Und auch an dieser Stelle verknüpft Nietzsche wieder die Selbsterhaltung mit der Klugheit, die dieser innewohnt. „So benimmt man sich auch gegen schädigende Personen bei der unmittelbaren Empfindung des Schadens selber; will man diesen Act einen Rache-Act nennen, so mag es sein; nur erwäge man, dass hier allein die Selbst-Erhaltung ihr Vernunft-Räderwerk in Bewegung gesetzt hat, und dass man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei denkt: wir handeln so, ohne wieder schaden zu wollen, sondern nur, um noch mit Leib und Leben davonzukommen.“128 125 126 127
Nietzsche, MA II 2, 22; KSA 2, S. 556. Vgl. Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 310 f. Nietzsche, MA II 2, 33; KSA 2, S. 564.
IV. Rache und Gerechtigkeit
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Nietzsche knüpft also die spontane Reaktion auf den Schmerz an die Selbsterhaltung und damit auch an den Willen zur Macht, der hinter der Selbsterhaltung wirkt. Es handelt sich um eine Abwehr, die als Reaktion auf eine Verletzung als Rache bezeichnet werden könnte. Die von langer Hand geplante Rache ist Nietzsche dagegen auf eine Wiederherstellung gerichtet und nicht direkt Ausfluss der Selbsterhaltung. „Man braucht Zeit, wenn man von sich mit seinen Gedanken zum Gegner übergeht und sich fragt, auf welche Weise er am empfindlichsten zu treffen ist. Diess geschieht bei der zweiten Art der Rache: ein Nachdenken über die Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit des Andern ist ihre Voraussetzung; man will wehe thun.“129
Hinter der angestrebten Wiederherstellung wirkt das Verlangen nach einem Ausgleich, nach der Wiederherstellung eines Gleichgewichts, das gestört wurde. Und dabei wirkt letztlich der Wille zur Macht, der die erlittene Störung nicht hinnehmen will, da sie eine Einbuße von Macht bedeutet. Beide Rachearten zeichnet mit Nietzsche aber ein gemeinsames Charakteristikum aus: beide führen zu einem starken Gegenschlag. Nur aus ganz unterschiedlichen Gründen. Bei der zweiten Art der Rache bestimmt sich die Stärke des Gegenschlages nach dem, was dem Verletzten zugefügt wurde. Bei der direkt aus der Selbsterhaltung geborenen, spontanen Rache verfolgt die Stärke des Gegenschlages jedoch ein ganz anderes Ziel: es soll nicht noch zu einer weiteren Verletzung kommen können. Insoweit ist der Blickwinkel ein anderer. Einmal ist der Blick des Geschädigten auf sich gerichtet und einmal auf den Geschädigten. „Die Stärke des Gegenschlags muss mitunter, um diess zu erreichen, so stark sein, dass er die Maschine zertrümmert; wenn dieselbe aber zu stark ist, um vom Einzelnen sofort zerstört werden zu können, wird dieser doch immer noch den heftigsten Schlag ausführen, desser er fähig ist, – gleichsam als einen letzten Versuch.“130
Die erste spontane und direkt auf die Verletzung folgende Reaktion ist Nietzsche ein direkter Ausfluss der menschlichen Selbsterhaltung, die in dem Gegenschlag daher auch so stark ausfallen wird, dass das Verletzen tatsächlich beendet wird. Diese erste Reaktion geschieht mit Blick auf die Möglichkeit eines zweiten Angriffs. „War es bei der ersten Art von Rache die Angst vor dem zweiten Schlage, welche den Gegenschlag so stark wie möglich machte [. . .].“131 128 129 130 131
Nietzsche, Nietzsche, Nietzsche, Nietzsche,
MA MA MA MA
II II II II
2, 33; KSA 2, S. 565. 2, 33; KSA 2, S. 565. 2, 33; KSA 2, S. 564. WS 33; KSA 2, S. 565.
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C. Ursprungssituation für die Entstehung von Gerechtigkeit
Diese erste Reaktion führt aus Angst vor einem zweiten Angriff zu einem starken Gegenschlag. Nietzsche beschreibt an dieser Stelle eine Konstellation, die sich im heutigen Notwehrrecht des § 32 StGB wiederfindet. Nach § 32 StGB ist in einer Notwehrsituation die Handlung gegen den Angreifer gerechtfertigt. Dabei ist allerdings nur die erforderliche Notwehrhandlung gerechtfertigt. Und die Erforderlichkeit setzt zunächst eine Geeignetheit der Verteidigungshandlung voraus. Dabei muss die Abwehrhandlung geeignet sein, den Angriff sofort zu beenden (oder abzuschwächen) und die Gefahr endgültig abzuwenden (oder zu verringern).132 Und dieses Kriterium der Geeignetheit, das sich daran messen lassen muss und darf, dass der Angriff endgültig beendet wird, findet sich eben in der von Nietzsche beschriebenen starken, ersten Reaktion auf die Verletzung – von der Selbsterhaltung gesteuert, aus Angst vor einem zweiten Angriff. Nach § 32 StGB kann auch ein solcher Gegenschlag gerechtfertigt sein, der stärker ist als der Angriff selbst, der auch eine höhere Stufe einer Rechtsverletzung in Kauf nimmt, um dafür zu sorgen, dass der Angreifer von seinem Vorhaben wirklich ablässt. Eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter findet grundsätzlich nicht statt, so dass es auf eine Gleichwertigkeit hinsichtlich der Rechtsgüter nicht ankommt.133 Und die Notwehr als Recht, sich selbst verteidigen zu dürfen, gründet sich in dem Anspruch auf Leben und körperliche Unversehrtheit, letztendlich auf den Selbsterhaltungstrieb, der immer dazu führen wird, dass sich ein Mensch gegen einen Angriff verteidigen wird. Die Rechtfertigung der Verteidigung in § 32 StGB sagt rechtlich nur, dass der Angegriffene sich straflos wehren darf. Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, dass der erste von Nietzsche beschriebene Akt der Rache als selbsterhaltende, spontane Reaktion gerechtfertigt ist. Doch gerade die Rache der zweiten Art, die sich an der Verletzung bzw. an der subjektiv empfundenen Schwere derselben orientiert, führt nach Nietzsche zu einer Reaktion in blinder Erbitterung. Die Verletzung wird in ihrer Schwere natürlich subjektiv gemessen – die Schwere des Gegenschlages als Racheakt nimmt aber gerade daran ihr Maß. Die anschaulichen Beispiele Nietzsches in diesem Abschnitt von „Menschliches, Allzumenschliches“ machen wieder einmal die analytischen Qualitäten Nietzsches deutlich, der im Grunde das Kriterium der Erforderlichkeit im heutigen Notwehrrecht skizziert hat, wobei es ihm als Philoso132 Vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl., München 2010, § 32, Rn. 28. 133 Ebd., Rn. 31.
IV. Rache und Gerechtigkeit
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phen und Psychologen um die Aufdeckung der Beweggründe und Mechanismen dahinter geht, da er auch in dieser Situation die Selbsterhaltung und damit den Willen zur Macht am Werke sieht. Und damit ein Abschätzen von Macht. Darin besteht eine tiefgreifende Verbindung zur Entstehung der Gerechtigkeit, die ebenfalls, wie bereits dargestellt, in der Überlegung des unnötigen Schädigens zu dem Ergebnis kommt, einen Austausch herbeizuführen und damit ebenfalls von der Selbsterhaltung gelenkt wird. Und erst das Ergebnis ungefähr gleicher Machtmöglichkeiten nach erfolgter Machtabschätzung rät so zu Verhandlungen. Zunächst scheint es so, dass nur die erste spontane Reaktion als Rache erster Art sich mit einer Gemeinsamkeit mit der Gerechtigkeit in der Steuerung durch die Selbsterhaltung schmücken kann – die Rache zweiter Art gerade nicht mehr, da sie auf einen Austausch und eine Wiederherstellung gerichtet ist, aber nicht direkt von der Selbsterhaltung angetrieben wird. Doch auch bei der zweiten Art der Rache führt der Wille zur Macht Regie, indem er auf einen Ausgleich sinnt, da die Verletzung nicht folgenlos bleiben soll. Denn die Schädigung bezeugt, dass der Schädiger es wagte anzugreifen. Der Schädiger hat eine Machtabschätzung vorgenommen, in deren Ergebnis er seine Macht höher eingeschätzt hat. Durch die Verletzung selbst wurde diese Einschätzung bestätigt und sogar noch vertieft. Und so ist diese zweite Art der Rache dem Ursprung der Gerechtigkeit noch näher, da sie ebenfalls einen Austausch anstrebt – einen Ausgleich für erlittenen Machtverlust. 4. Die Gerechtigkeit fordert den Abschied von der Rache Eine in beiden Akten der Rache zu betonende Gemeinsamkeit zur Ursprungssituation der Gerechtigkeit ist die reine Orientierung an der „Beziehung“ der sich gegenüber stehenden Parteien. Die Rache, sei es als erste spontane Reaktion oder als von langer Hand geplanter Gegenschlag, stellt eine Beziehung zu dem Verletzenden her. Und diese ist in der Grundkonstellation immer eine Zwei-Parteien-Beziehung. Die Rache wird inter partes angestrebt. Die Härte des Gegenschlages orientiert sich in der spontanen Reaktion an der Stärke des Angreifers, um diesen stoppen zu können. Bei der lange geplanten Rache wird an der subjektiven Empfindung der Verletzung Maß genommen und an möglichen Schwächen des Schädigers. Zu Beginn dieses Abschnitts wurde Nietzsche damit zitiert, dass die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit gehört. Dieser „Bereich“ wird nun-
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mehr deutlicher. Genauer müsste man sagen, dass für Nietzsche die Rache in den Bereich der Ursprünglichkeit der Gerechtigkeit gehört – in der Gemeinsamkeit der Lenkung durch die Selbsterhaltung und die Beziehung der Parteien in der Konfliktsituation, die einen Ausgleich nur inter partes anstreben können. Aber bei allen aufschlussreichen Gemeinsamkeiten von Rache und der Ursprünglichkeit der Gerechtigkeit besteht Nietzsche letztlich auf einem Abschied von der Rache, um Gerechtigkeit zu ermöglichen. So wie Rache nicht mit Gerechtigkeit verwechselt werden darf, so beeinflusst der Geist der Rache das Denken der Menschen für Nietzsche zu stark. „Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, sollte immer Strafe sein. ‚Strafe‘ nämlich, so heisst sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen. [. . .] ‚Und diess ist selber Gerechtigkeit, jenes Gesetz der Zeit, dass sie ihre Kinder fressen muss‘: also predigt der Wahnsinn.“134
An anderer Stelle in „Also sprach Zarathustra“ wird Nietzsches Position noch deutlicher, wenn er zunächst beschreibt, dass die Rache hinter der vermeintlichen Gerechtigkeit sichtbar gemacht werden soll, um letztlich die Menschen von der Rache zu erlösen. „Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wuth euch aus eurer Lügen-Höhle locke, und eure Rache hervorspringe hinter eurem Wort ‚Gerechtigkeit‘. Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern.“135
Beide Stellen aus „Also sprach Zarathustra“ zusammengenommen skizzieren die verbindende Rolle der Rache sowohl zur Gerechtigkeit als auch zur Strafe und leiten damit auch zum nächsten Kapitel über, das sich mit dem vertragsrechtlichen Denken Nietzsches im Bereich des Strafrechts beschäftigt. Aber bei allem, was die Rache und die Gerechtigkeit verbindet, verlangt Nietzsche den Abschied von ihr. Die Gerechtigkeit ist für Nietzsche als Rache gar nicht möglich, eine Reaktion auf eine Verletzung und das genaue wohlwollende Hinsehen schließen sich aus. Die konkrete Chance auf eine Tauschgerechtigkeit kann für Nietzsche nur auf Verhandlungen fußen, die aufgrund eines ungefähren Machtgleichgewichts aufgenommen wurden. Die Rache dagegen stolpert geradezu einem Machtungleichgewicht hinterher. Und auch das Verlangen nach Strafe führt nicht zu einem gerechten Ausgleich, zeigt sich hinter der Strafe doch wieder das Verlangen nach Rache. 134 135
Nietzsche, Z, II, Von der Erlösung; KSA 4, S. 180. Nietzsche, Z, II, Von den Taranteln; KSA 4, S. 128.
D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen Nietzsche kommt über sein Gesamtwerk verstreut immer wieder auf einzelne Situationen des Strafens, die Geschichte des Strafens und seine Auswirkungen zu sprechen. Schild spricht insoweit von „Gedankensplittern“1. Die gängigen Auseinandersetzungen mit Nietzsches Aussagen zum Strafen beschränken sich darauf, die für das Strafrecht einschlägigen Stellen gesondert zu betrachten und zu erläutern2. Daneben erlangte Nietzsche vor allem mit seinen radikalen Ansätzen einer vollkommenen Unverantwortlichkeit aller Menschen aufgrund eines fehlenden freien Willens einige Berühmtheit. Vor diesem Hintergrund widerstrebte Nietzsche das Strafen überhaupt, unterstützt durch seine skeptische Haltung dem Staat gegenüber. Dass Nietzsche dennoch bisher nicht in der ihm zustehenden Weise in der Straftheorie rezipiert wurde, mag gerade mit der Radikalität einiger seiner Thesen zusammenhängen. Dass ihm eigentlich ein bedeutenderer Platz in der Diskussion zustünde, hält auch Bung zu Beginn seines Beitrages „Nietzsche über Strafe“ zutreffend fest.3 Zusätzlich wird die Rezeption von Nietzsches straftheoretischen Überlegungen dadurch erschwert, dass die einschlägigen Stellen über das gesamte Werk verteilt sind und den Eindruck erwecken, keine geschlossene Theorie zu liefern – wie dies auch schon in Bezug auf die Gerechtigkeit und Nietzsches Ausführungen zum Ursprung des Rechts den Anschein hatte. Diesem Eindruck kann jedoch entgegengehalten werden, dass bei einer Gesamtbetrachtung der verstreuten Aussagen durchaus ein innerer Zusammenhang erkennbar und damit auch eine entsprechende Geschlossenheit sichtbar wird.4 1 Wolfgang Schild, Zwischen triebhafter Rache und autonomer Selbstbestrafung, Die Dimensionen des Strafrechtsdenkens Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 107. 2 So jüngst J. Bung, Nietzsche über Strafe, ZStW 119, 2007, S. 120. 3 Vgl. Bung, S. 121: „Er [Nietzsche] verdiente es längst, als Klassiker der Straftheorie anerkannt und in die Diskussion einbezogen zu werden – auf Augenhöhe mit Kant, Hegel, Feuerbach und von Liszt.“
132
D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
Auf die von Nietzsche genannten Strafzwecke und auch auf seine Ansätze einer Unverantwortlichkeit soll nachfolgend nur zusammenfassend eingegangen werden, da beide Aspekte Stoff für zahlreiche Arbeiten sein könnten. Vielmehr gilt das Hauptaugenmerk wiederum dem Ursprung des Strafens und damit des Strafrechts als Betrachtung einer Zwei-ParteienKonflikt-Situation. Wieder soll ein Blick auf die von Nietzsche genau herausgearbeiteten Anfänge gerichtet werden, um deutlich zu machen, wie Nietzsche auch im Bereich des Strafrechts in Vertragsbeziehungen, in einem Verhältnis inter partes denkt. Im Ursprung bezieht sich Nietzsche hier auf das Verhältnis von Schädiger und Geschädigtem. Aber aufgrund seiner oben ausgeführten Rechtsentstehungskonzeption sieht Nietzsche auch in dem Verhältnis zwischen der Gesellschaft als Staat und dem Straftäter, dem Gesetzesbrecher eine Zwei-Parteien-Konflikt-Situation, nämlich einen Vertragsbruch. Doch für das Verständnis von Nietzsches vertragsrechtlichem Denken im Bereich des Strafens ist zunächst ein kurzer Überblick über seine allgemeinen Positionen zum Strafen und dem Strafrecht zu geben.
I. Strafen in der Philosophie Friedrich Nietzsches Nietzsche hat immer wieder zum Strafen und dem Strafrecht, aber auch zur Rolle der Richter und zum Umgang der Gesellschaft mit Verbrechern Stellung genommen. Und er hat dabei äußerst treffende Worte gefunden. Das Archaische des Strafens und der Kultus, der für ihn mit dem Strafen verbunden ist und der ihm die lange und blutige Herkunft des Strafens als Schauspiel für das Volk noch immer offenbart, bedeuten für Nietzsche immer auch einen Rückfall der Gesellschaft in frühere Stadien der Menschheitsgeschichte. Aber bei aller Kritik und Aufdeckung von allzumenschlichen Hintergründen und Mechanismen, faszinierten ihn das Verbrechen und der Verbrecher aber auch.5 Nietzsches radikalste These im Zusammenhang mit dem Strafen, die sicher auch mitursächlich dafür war, dass Nietzsche in der Rechtsphilosophie so spärlich beachtet wurde, attestiert dem Menschen eine vollkommene Unverantwortlichkeit. Petersen spricht in diesem Zusammenhang zutreffend davon, dass Nietzsche mit seiner These „so stark an den Grundfesten [rüt4
So auch zutreffend Bung wenn er von einer geschlossenen theoretischen Konzeption spricht, die Nietzsche eben doch geliefert habe, vgl. Bung, S. 120; so auch Petersen in seiner Untersuchung zur Gerechtigkeit im Denken Nietzsches, passim. 5 Vgl. dazu Petersen, S. 111.
I. Strafen in der Philosophie Friedrich Nietzsches
133
telt], dass daraus beim besten Willen keine konkreten Folgerungen für die praktische Rechtsanwendung mehr gezogen werden konnten“.6 Nietzsche entwirft die These einer Unverantwortlichkeit aller Menschen für ihre Handlungen, da er die Willensfreiheit des Menschen als lediglich durch den Menschen projiziert annimmt. 1. Die völlige Unverantwortlichkeit Die Radikalität seiner eigenen These war Nietzsche durchaus bewusst. So schreibt er im abschließenden Satz des einschlägigen Aphorismus in „Menschliches, Allzumenschliches“: „Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht Jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.“7
Und so sei das Ergebnis von Nietzsches Überlegungen vorangestellt, der „helle“ Satz bereits ausgesprochen: „Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein.“8
Mit diesem Ansatz entzieht Nietzsche jeglichem schuldorientierten Strafen das Fundament. Und die menschliche Schuld ist für das moderne Strafrecht geradezu axiomatische Grundlage. So spricht Roxin hinsichtlich der Bejahung menschlicher Schuld von einer normativen Setzung, einer sozialen Spielregel, nach der der Mensch vom Staat als frei und verantwortungsfähig behandelt wird. Die Frage nach dem wirklichen Bestehen der Willensfreiheit kann und muss dabei ausgeklammert werden.9 In seiner Radikalität fußt Nietzsches Ergebnis auf der für ihn zu Unrecht angenommenen Willensfreiheit. Diese ist als Zurechnungsgrund der Vorwerfbarkeit für das Strafen entscheidend: „Jener jetzt so wohlfeile und scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke [. . .] ‚der Verbrecher verdient Strafe, weil er hätte anders handeln können‘, ist thatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffinirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens; [. . .].“10
Die Willensfreiheit ist also Voraussetzung des Strafens, da der Vorwurf an den Täter lautet, dass er auch anders hätte handeln können. Um dieser 6
Petersen, S. 133. Nietzsche, MA I 39; KSA 2, S. 64. 8 Ebd. 9 Vgl. Claus Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 3, Rn. 55. 10 Nietzsche, GM II 4; KSA 5, S. 298. 7
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D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
Zurechnung nachzugehen, richtet Nietzsche sein Augenmerk auf die zugrunde gelegte Willensfreiheit. Der Aphorismus hierzu findet sich in „Menschliches, Allzumenschliches“ und trägt den bezeichnenden Titel „Die Fabel von der intelligiblen Freiheit“. Nietzsche zeichnet hier seine Version der Geschichte der moralischen Empfindungen nach. Wieder einmal deutet er in die Vergangenheit, auf das Herkommen und fordert dazu auf, sich dieses näher zu betrachten. Er zieht dabei eine Parallele zwischen der Geschichte der Bezeichnung gewisser Handlungen als gut oder böse und der in seinen Augen ebenso verlaufenden Bezeichnung von Menschen als gut und böse. Er macht darin einen gravierenden Irrtum aus, der sich durch einen Blick auf die Herkunft aufklären lasse. „Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen und schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft ‚gut‘ oder ‚böse‘ innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet – also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst.“11
Nietzsche geht davon aus, dass ursprünglich allein die Folgen von Handlungen betrachtet und bewertet wurden und dadurch dieses Bewertungsergebnis auf die Handlungen abfärbte. Das Vergessen führte dann zu einem Verblassen dieser ursprünglichen Perspektive, so dass nunmehr die Färbung der Handlung selbständig übrig geblieben ist. Wie es vormals zu der Bewertung kam, ist dem Vergessen anheim gefallen. Handlungen werden nach Nietzsche „an sich“ als gut oder schlecht bezeichnet. Die Handlungen sind mit ihrer ursprünglich aus ihren Folgen genommenen Bewertungen verschmolzen. „Sodann legt man das Gut – oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig.“12
Die Handlungen selbst sind jetzt bemakelt, ohne dass noch ein Verständnis für das Herkommen besteht. Und darauf folgend färben die bemakelten Handlungen auf die dahinterliegenden Motive ab. Und diese wiederum auf den Menschen, der eine solche Handlung vornimmt. „Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich.“13 11 12 13
Nietzsche, MA I 39; KSA 2, S. 62 f. Ebd. Ebd.
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Nietzsche zeichnet hier eine betont sprachlich analysierte Rekonstruktion der Bezeichnung von Handlungen als gut und böse nach, die er im Anschluss parallel auch bei der Bezeichnung des ganzen Menschen als gut oder böse verwirklicht sieht. Die okkupierende Macht, die Nietzsche dabei in der sprachlichen Benennung sieht, ist als zusätzlicher Aspekt mitzudenken. Durch die sprachliche Bezeichnung selbst wird eine Gestaltung ausgeübt, die Nietzsche als starke Machtausübung begreift. So schreibt er in „Zur Genealogie der Moral“: „Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen ‚das ist das und das‘, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.“14
Diese Inbesitznahme durch die Ausübung sprachlicher Bezeichnung ist in der obigen Herleitungskette noch zusätzlich zu berücksichtigen, wenn erst Handlungen und später Menschen als gut oder böse bezeichnet werden. Dabei sieht Nietzsche ganz ursprünglich noch den Maßstab der Nützlichkeit und Schädlichkeit als offen angelegt. Erst in der weiteren Entwicklung und Übung soll der Blick auf diesen Maßstab verstellt worden sein, was dazu geführt hat, dass nunmehr die Handlungen „an sich“ als gut oder böse bezeichnet wurden. Diese fehlerhafte oder zumindest nicht mehr offen vorgenommene Bewertung führte dazu, dass aus der bewerteten Handlung auf das zugrundeliegende Motiv geschlossen wurde – also eine als „an sich“ böse ausgemachte Handlung letztlich nur auf bösen Motiven beruhen kann. Und da das Motiv im handelnden Menschen angesiedelt ist, wirkt wiederum das bewertete Motiv auf die Bewertung des Menschen. Über die Handlung wird auf die Motive geschlossen, über die Motive auf das Wesen des Menschen. Für Nietzsche ein kolossaler Fehlschluss, der insbesondere die ursprüngliche, nachvollziehbare Bewertung der einzelnen Handlungen verdeckt. Denn ursprünglich entschieden die Folgen über die Bewertung einer Handlung. Und das bedeutet, dass gleiche Handlungen ursprünglich unterschiedlich bewertet werden konnten. Nietzsche attestiert, dass inzwischen der handelnde Mensch aufgrund der einmal bemakelten Handlungen verantwortlich gemacht wird. Dieser Entwicklung der Verantwortlichkeit stellt Nietzsche die vermeintlich gesicherte Erkenntnis entgegen, dass das Wesen Mensch eine notwendige Folge der Einflüsse vergangener und gegenwärtiger Dinge sei: „Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass der 14
Nietzsche, GM I 2; KSA 5, S. 260.
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Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen.“15
Das Wesen Mensch ist geprägt von den Einflüssen der Vergangenheit und der Gegenwart. Nicht in einer roboterhaften Weise, die ein determiniertes Leben wie auf Schienen zur Folge hätte, aber doch in einem psychologischen und tiefenpsychologischen Sinn. Nietzsche weist wieder einmal visionär der Psychologie und Psychoanalyse den Weg. Für Nietzsche reiht sich in der dargestellten Geschichte der Verantwortlichkeit Irrtum an Irrtum, letztlich auf der falschen Annahme der Willensfreiheit beruhend. Er wendet sich dabei ausdrücklich gegen Schopenhauer, der in seinen Augen mit seinem Schluss auf die Willensfreiheit einen gravierenden Fehlschluss gezogen hat. „Damit [dass der Mensch notwendige Folge der Einflüsse ist und damit nicht verantwortlich gemacht werden kann] ist man zur Erkenntnis gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht. – Schopenhauer schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen Unmuth (,Schuldbewusstsein‘) nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; [. . .] Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sein, nicht so oder so zu handeln.“16
So geht Schopenhauer für Nietzsche sehr wohl auch von einer Notwendigkeit im Handeln der Menschen aus, versucht jedoch dann in Bezug auf das Sein doch noch zu einer Freiheit zu kommen. Nietzsche hält dem Ansatz eines vorkommenden Unmuts über eine Handlung wiederum gekonnt die Vertauschung von Ursache und Wirkung entgegen: „Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissenbisse.“17
Daneben führt Nietzsche das Argument ins Feld, dass dieser Unmut gar nicht bei allen Menschen bezüglich bestimmter Handlungen vorkommt, demnach als allgemein gültig nicht taugen kann. „[. . .] bei vielen Menschen ist er [der Unmut] in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden.“18
Petersen weist darauf hin, dass Nietzsche sich mit seiner Kritik nicht nur gegen Schopenhauer wendet, sondern auch und gerade gegen Kant.19 15 16 17 18
Nietzsche, Nietzsche, Nietzsche, Nietzsche,
MA MA MA MA
I I I I
39; 39; 39; 39;
KSA KSA KSA KSA
2, 2, 2, 2,
S. S. S. S.
63. 63. 64. 64.
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Es bleibt als entscheidender Baustein in Nietzsches Straftheorie festzuhalten, dass er der Willensfreiheit eine Absage erteilt und damit den Zurechnungszusammenhang in Form des Vorwurfs, dass der Täter hätte anders handeln können, unterbricht. Engelhardt weist darauf hin, dass Nietzsche nicht von einem determinierten Menschen ausgeht, sondern hinsichtlich jeder Tat von einer „Determinante des Augenblicks“20. Für Engelhardt verdichtet sich bei Nietzsche die Tat unter dem Einfluss der Selbsterhaltung und dem Lustprinzip gehorchend zu einer Fatalität des Augenblicks der Tat, womit er bei Nietzsche eine dritte Alternative neben Determinismus und Willensfreiheit ausmacht: „[. . .] die Fatalität des Augenblicks, in dessen Medium allein lebensgeschichtliche Notwendigkeiten und Zwänge gelten.“21
Nietzsches Ablehnung des freien Willens ließe sich als ein Determinismus ohne Vergangenheit zusammenfassen, der in jedem Augenblick als Notwendigkeit und Unschuld zu Tage tritt: „Alles ist Nothwendigkeit, – so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: [. . .].“22
Dementsprechend kommt Nietzsche zu dem bereits zitierten Ergebnis, dass niemand für seine Taten und sein Wesen verantwortlich ist und im Richten immer eine Ungerechtigkeit liegt.23 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Verweis Nietzsches auf die den Menschen prägenden, beeinflussenden Umstände. Denn abgesehen von der Radikalität der Folge der abgelehnten Willensfreiheit, beschreitet Nietzsche mit seinem Blick auf die Umstände und den Augenblick der Tat und des Täters wieder einmal Neuland und erweist sich – abgesehen von den radikalen philosophischen Schlüssen, die er daraus zieht – erneut als Vorreiter psychologischer und tiefenpsychologischer Ansätze. Inzwischen nehmen nicht nur die Tatumstände, sondern auch die Lebensgeschichte und die Kindheit des Täters Raum im Rahmen jeder Gerichtsverhandlung ein, zumeist – zumindest in Kapitalstrafsachen – unterstützt durch umfangreiche psychologische Sachverständigengutachten. Mit Nietzsche geht allerdings auch dabei die Berücksichtigung der Vergangenheit 19 Petersen, S. 129 – auf diese Auseinandersetzung Nietzsches mit Schopenhauer und Kant kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht vertiefend eingegangen werden. 20 Knut Engelhardt, Die Transformation des Willens zur Macht, ARSP 1985, S. 513. 21 Ebd., S. 515. 22 Nietzsche, MA I 107; KSA 2, S. 105. 23 Nietzsche, MA I 39; KSA 2, S. 64.
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entweder nicht weit genug – oder zu weit, indem sie den Augenblick der Tat verlässt. Nietzsche betont in seinen Überlegungen den prägenden Charakter der komplexen und zahlreichen Einflüsse auf den einzelnen Menschen und stellt pointiert die Frage: „Wenn unsereiner kein Verbrechen, z. B. keinen Mord auf dem Gewissen hat – woran liegt es? Dass uns ein paar begünstigende Umstände dafür gefehlt haben.“24
Es ist dieser Blick auf die Umstände, auf den Weg bis zu einer Tat, der auch neben seinem radikalen Ergebnis einen inzwischen etablierten Ansatz in den modernen Straftheorien vorwegnimmt. Nietzsche macht auf die Bedeutung der Umstände und der Einflüsse auf den Menschen aufmerksam, die sich in einer bestimmten Tat zeigen. An anderer Stelle bezeichnet Nietzsches diese Umstände als die veranlassenden Umstände: „Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, – ich meine die veranlassenden Umstände.“25
Die Umstände, das Erleben des einzelnen Menschen sind für Nietzsche der lange Weg zu einer bestimmten Tat – die immer nur in einem Augenblick stattfindet. Doch nur bei wenigen Menschen kommt es zu einem solchen augenblicklichen Ausbruch. Nietzsche präzisiert die veranlassenden Umstände: „Daran, dass man gewisse erschütternde Anblicke und Eindrücke gehabt oder nicht gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen Ueberfalls, hängt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Glühhitze kommen und das ganze Leben lenken oder nicht.“26
Die veranlassenden, bei dem einen vorliegenden und bei dem anderen nicht vorliegenden Umstände sind Nietzsche Beweggrund für eine Tat. Es ist ein besonderes, psychologisches Gelenktwerden, welches er mit der Glühhitze der Leidenschaften bezeichnet. Mit Schuld hat diese Dominanz der Umstände für Nietzsche nichts zu tun – und mit der Möglichkeit, anders handeln zu können auch nicht. Nietzsche folgert daraus seine Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit aller.27 Würde man ihr folgen, so wäre das Strafen abzuschaffen, da es schlicht am Anknüpfungspunkt für eine Bestrafung fehlt. Nietzsche geht vielmehr von einer Fatalität des Augenblicks aus. 24 25 26 27
Nietzsche, WM 740, Kröner, S. 498. Nietzsche, MA I 70; KSA 2, S. 81. Nietzsche, MA I 72; KSA 2, S. 82. Mit weiteren Nachweisen: Petersen, S. 123 ff.
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Nietzsches radikale Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit lässt sich sicher kritisieren und schwerlich in die Praxis umsetzen, ohne die staatliche Ordnung zu gefährden. So fasst Petersen in seiner Würdigung zu Nietzsches Verweis auf die veranlassenden Umstände zusammen: „Insofern ist der Gedanke aus heutiger Sicht durchaus richtungweisend, wenn er auch über das Ziel hinausschießt, da er die Schuld allein im Bereich der den Täter prägenden Personen und Einflüsse sucht und ihn dadurch zur Gänze entschuldigt.“28
Sicher eine berechtigte Kritik, der sich möglicherweise in naher Zukunft neue Ergebnisse aus der neuro-physiologischen Forschung entgegenstellen werden, die weitere neuronale Besonderheiten bei Kapitalstraftätern aufdecken könnten. Solche objektivierbaren Unterschiede in Gehirnen von Kriminellen wären eine Bestätigung der Ansätze Nietzsches. Für das moderne Schuldstrafrecht wären sie jedenfalls schwer zu schluckende Forschungsergebnisse. Die fehlende Möglichkeit, anders handeln zu können, bedingt sich für Nietzsche nicht nur durch die vergangenen Einflüsse, sondern speist sich vielmehr aus der Notwendigkeit und Unschuld des menschlichen Handelns, das sich nur in einzelnen Augenblicken betrachten lässt. Die Vehemenz seiner Lehre von der Unverantwortlichkeit war Nietzsche sehr wohl bewusst. Soweit ersichtlich hat er sich allerdings nie dazu geäußert, wie er sich eine entsprechende Umsetzung gerade vor dem Hintergrund des überall und andauernd wirkenden Willens zur Macht vorstellt. Allerdings wäre insoweit zumindest auf die obigen Ausführungen zur Endlichkeit von Rechtszuständen zu verweisen, so dass man annehmen darf, dass für Nietzsche im Ergebnis auch ein Abschaffen des Strafens letztlich nur zu einem neuen Recht führen würde – als neuem Vertragsschluss, wobei man sich zunächst durchaus blutige Veränderungen vorstellen darf. Eine andere, mögliche Variante der Abschaffung von Strafe, die etwas utopisch anmutet, kann sich Nietzsche dann vorstellen, wenn die Gesellschaft besonders stark und stabil ist und aus einer Übermacht heraus auf das Strafen verzichten kann. Auf die schonende Ausübung des Strafens, die Nietzsche an anderer Stelle anregt, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da die Konsequenz aus der Unverantwortlichkeit nur die Abschaffung von Strafe sein kann. Nietzsche weiß um die Schwierigkeit des Abschaffens von Strafe und malt sich als Reaktion aus, dass die Menschen die Konsequenzen scheuen. 28
Petersen, S. 128.
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Aber er gibt doch einen Hinweis auf die Richtung, in die man gehen könnte. „Lehrer an Stelle der Richter. – Wider die strafende Gerechtigkeit. An deren Stelle kann nur die belehrende treten (welche die Vernunft verbessert und die Gewohnheiten eben dadurch – das Motiv-schaffende!).“29
Es ist die Belehrung, die Anweisung, die Nietzsche im Sinn hat, um das Strafen möglichst abzuschaffen, er zeigt an dieser Stelle aus dem Nachlass eine Möglichkeit auf, die er sich in seiner Ablehnung des Strafens konkret vorstellen könnte. In dem bereits zitierten Aphorismus zu den veranlassenden Umständen wendet sich Nietzsche zugespitzt gegen das Strafen allgemein und die Todesstrafe im Besonderen. Er weist an dieser Stelle aber auch auf einen weiteren, großen Aspekt in seinem kritischen Denken zum Strafen hin – die Zwecke, die mit dem Strafen erreicht werden sollen, wobei ihm die Generalprävention als der grausamste Strafzweck überhaupt gilt. „Hinrichtung – Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr beleidigt, als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, – ich meine die veranlassenden Umstände.“30
Eine Schuld liegt für Nietzsche nicht im Täter, sondern wenn überhaupt eine auszumachen ist, dann in den Umständen und dem langen Weg zu einer Tat. Die besondere Grausamkeit in der Vollstreckung einer Todesstrafe sieht Nietzsche in der akribischen Vorbereitung dieser Tötung und vor allem in der damit angestrebten Generalprävention. Und die Abschreckung anderer als Zweck in der Strafe ist für Nietzsche nur einer von vielen Strafzwecken, deren Bestimmung vollkommen beliebig festgelegt werden kann. 2. Die Willkürlichkeit der Strafzwecke Nietzsche ist es ein Bedürfnis, immer wieder darauf hinzuweisen, dass alle Gesetze, das Recht und das Strafen von Menschen geschaffen wurden, menschlich-allzumenschlich sind und damit nicht nur ein Herkommen in sich tragen, sondern auch einer steten Veränderung unterworfen sind – und damit die Vergänglichkeit und die Beliebigkeit in ihnen gesehen werden muss. 29 30
Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Juli–August 1879, KSA 8, S. 606. Nietzsche, MA I 70; KSA 2, S. 81.
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Nietzsche liefert in „Zur Genealogie der Moral“ eine ganze Liste von Strafzwecken und versucht damit aufzuzeigen, wie beliebig die Strafzwecke sind. Interessant ist die Liste, die er selbst so bezeichnet31, aber nicht nur als Ausweis der Beliebigkeit, sondern auch wegen der beeindruckenden Fülle von Strafzwecken, die Nietzsche an dieser Stelle zusammengetragen hat. a) Der Kultus in der Strafe als das Dauerhafte an ihr Nietzsche weist einleitend zu seiner Liste der Strafzwecke auf eine ihm wichtige Unterscheidung hin und unterstreicht damit noch einmal die Veränderlichkeit der nachfolgenden Strafzwecke. „– Man hat also, um zur Sache, nämlich zur Strafe zurückzukehren, zweierlei an ihr zu unterscheiden: einmal das relativ Dauerhafte an ihr, den Brauch, den Akt, das ‚Drama‘, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits das Flüssige an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft.“32
Der in der Strafe gesehene Zweck ist ihm das „Flüssige“ an der Strafe und lediglich der Brauch, der Kult, der Ritus als solcher dauerhaft. Und diesen gab es in Nietzsches Augen auch schon vor dem Strafen. „Hierbei wird ohne Weiteres vorausgesetzt [. . .], dass die Prozedur selbst etwas Älteres, Früheres als ihre Benützung zur Strafe sein wird, dass letztere erst in die (längst vorhandene, aber in einem anderen Sinne übliche) Prozedur hineingelegt, hineingedeutet worden ist, [. . .].“33
Das Dauerhafte an der Strafe ist das Ritual, insbesondere die öffentliche Inszenierung und das große Zuschauen. An anderer Stelle stellt Nietzsche dieses Dauerhafte des Rituals nicht nur im Bereich des Rechts, sondern auch in der Moral und in der Religion heraus und benutzt auch dabei den Begriff des Flüssigen in seiner Unterscheidung. „In den rechtlichen, moralischen und religiösen Dingen hat das Aeusserlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Ceremonie am meisten Dauer: sie ist der Leib, zu dem immer eine neue Seele hinzukommt. Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte.“34
Diese immer neue Ausdeutung wird als die Veränderlichkeit der Strafzwecke näher zu betrachten sein. Denn letztlich spiegelt sich darin für Nietzsche der untaugliche Versuch, die Strafe durch einen hineininterpre31 32 33 34
Nietzsche, GM II 14; KSA 5, S. 318. Nietzsche, GM II 13; KSA 5, S. 316. Ebd. Nietzsche, MA II 2. 77; KSA 2, S. 587.
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tierten Zweck zu begründen. Dahingehend auch Gschwend wenn er schreibt: „Auf der anderen Seite begreift er [Nietzsche] die Strafe als flüssiges, als nachträglich hineininterpretiertes, Sinn und Zweck vergeblich definierendes, bewegliches und erfundenes Element.“35
Und Nietzsche weist auch an anderer Stelle auf den Kultus in der öffentlichen Bestrafung hin, in typischer Überspitzung, indem er einen Blick in die Vergangenheit wirft und die Grausamkeit der öffentlichen Hinrichtungen als Teil festlicher Zeremonien ausmacht. Insbesondere die Grausamkeit als selbstverständlicher Teil des öffentlichen Lebens früherer Generationen ist es, auf die Nietzsche aufmerksam machen möchte und damit auf das Herkommen und die Vergangenheit des Strafens, den archaischen, aber immer noch aktiven Teil, der auch heute noch in jeder Bestrafung wirkt. „Es widersteht, wie mir scheint, der Delikatesse, noch mehr der Tartüfferie zahmer Hausthiere (will sagen moderner Menschen, will sagen uns), es sich in aller Kraft vorstellig zu machen, bis zu welchem Grade die Grausamkeit die grosse Festfreude der älteren Menschheit ausmacht, ja als Ingredienz fast jeder ihrer Freuden zugemischt ist; [. . .].“36
Nietzsche macht auf die fortschreitende Vergeistigung der Grausamkeit aufmerksam, um den modernen Menschen, den Leser, zu zwingen, sich die Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit der Grausamkeit bewusst zu machen. Dabei betrachtet Nietzsche die Grausamkeit als Teil der menschlichen Kultur und weist ihr sogar eine kulturschaffende Funktion zu.37 Bei der Strafe als öffentlich durchgeführtes Ritual der Grausamkeit weist Nietzsche auf ihren Festcharakter hin. „Jedenfalls ist es noch nicht zu lange her, dass man sich fürstliche Hochzeiten und Volksfeste grössten Stils ohne Hinrichtungen, Folterungen oder etwa ein Autodafé nicht zu denken wusste, [. . .] Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Festliches!“38
Es ist das Ritual der (öffentlichen) Bestrafung, welches für Nietzsche dauerhaft ist. Der Zweck, der damit verfolgt wird und auch das Maß der Strafe haben sich zwar massiv verändert, die Grausamkeit der Strafen ist unblutig geworden, aber Nietzsche zeigt auf das Herkommen, auf die Grausamkeit dahinter und darunter. Und die Faszination an der Grausamkeit hat 35 Lukas Gschwend, Nietzsche und die Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Nietzsche und das Recht, hrsg. v. Kurt Seelmann, ARSP Beiheft 77, Stuttgart 2001, S. 134. 36 Nietzsche, GM II 6; KSA 5, S. 301. 37 Vgl. Knut Ebeling, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 248. 38 Nietzsche, GM II 6; KSA 5, S. 301 f.
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sich für Nietzsche auch nicht mit der fortschreitenden Zivilisierung aufgehoben, sondern nur verändert, vergeistigt. Und Nietzsche findet, wie so oft, nicht nur Worte, sondern auch anschauliche Bespiele. „Fast Alles, was wir ‚höhere Cultur‘ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz; jenes ‚wilde Thier‘ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist Grausamkeit; [. . .] Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, [. . .] die Wagnerianerin, welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich ‚ergehen lässt‘, – was diese Alle geniessen und mit geheimnisvoller Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen Circe ‚Grausamkeit‘.“39
So mag die Grausamkeit in Teilen unblutig geworden sein, sich für Nietzsche vergeistigt haben. Aber von ihrer Faszination hat sie nichts eingebüßt. Und sie ist verbunden mit dem Ritual, dem öffentlichen Auftritt, der Zusammenkunft und dem Zuschauen, dem Brauch und dem Kultus. Und ganz besonders mit den Empfindungen der zuschauenden Menschen. Dabei sind Nietzsches ausführliche Studien der griechischen Tragödie mitzudenken, die er als junger Professor für Altphilologie unternahm. Die griechische Tragödie als Volksschauspiel, als großer, mehrtägiger Festakt, die Katharsis als tief empfundene Reinigung für den Zuschauer. Ebenfalls als großes, öffentliches Ritual inszeniert. Die Grausamkeit findet sich im Bereich des Strafens zum einen in der Strafe selbst. Aber sie ist auch verknüpft mit der Faszination an der vergeistigten Grausamkeit im öffentlichen Zusehen bei einem alten Ritual – ganz abgesehen davon, dass die blutigen oder intimen Details, die in einem entsprechenden Verfahren im Laufe der Verhandlung in der Öffentlichkeit ausgebreitet werden, als Grausamkeit im ganz ursprünglichen Sinne zu bezirzen vermögen. Aber auch die heutige öffentliche Hauptverhandlung mit ihren Prozessbeteiligten in schwarzen Roben und den mitunter vollen Zuschauerrängen vermag als Ritual zu faszinieren. Umso mehr, wenn der Angeklagte von zwei Polizeibeamten mit Handschellen vorgeführt wird. Denn es ist die Sensationslust und das voyeuristische Zusehen, das leichte Gruseln, das auch heute noch die großen Prozesse zu Massenveranstaltungen werden lässt und vor allem zu einem Massenthema durch die Reichweite der Medien. Und mag es auch den mittelalterlichen Pranger nicht mehr geben, durch die umfassende Berichterstattung wird oftmals der Angeklagte landesweit an den Pranger gestellt. So hat sich auch dieses Ritual der öffentlichen Anfeindung und Verachtung als sehr dauerhaft erwiesen. 39
Nietzsche, JGB Siebentes Hauptstück 229; KSA 5, S. 166.
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b) Der Zweck in der Strafe als das Flüssige an ihr Der Zweck der Strafe wird mit Nietzsche immer wieder veränderlich und wandelbar, mithin beliebig bestimmt. Und dabei ist nicht nur ein Sinn auszumachen. „Was nun jenes andre Element an der Strafe betrifft, das flüssige, ihren ‚Sinn‘, so stellt in einem sehr späten Zustande der Cultur (zum Beispiel im heutigen Europa) der Begriff ‚Strafe‘ in der That gar nicht mehr Einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von ‚Sinnen‘: die bisherige Geschichte der Strafe überhaupt, die Geschichte ihrer Ausnützung zu den verschiedensten Zwecken, krystallisirt sich zuletzt in eine Art Einheit, welche [. . .] ganz und gar undefinirbar ist.“40
Die Strafe wird in Nietzsches Augen immer schon zu dafür benannten Zwecken benutzt. Diese Zwecke werden immer wieder neu benannt, in ihrem Aggregatzustand der Flüssigkeit verändern sie sich beständig durch die Menschheitsgeschichte hindurch. Und wie gesehen ist mit Nietzsche auch jede Benennung selbst als Inbesitznahme im Sinne einer Machtausübung zu verstehen. Nietzsche hat an der genannten Stelle eine beeindruckende Liste von Strafzwecken gesammelt. Bung empfiehlt diese Liste als Bereicherung für jedes Lehrbuch des Strafrechts.41 Nietzsche selbst spricht dabei ironisch bescheiden von einem verhältnismäßig kleinen und zufälligen Material, dass sich ihm so ergeben habe.42 Es sei fast vollständig zitiert, da an mehreren Stellen Nietzsches rechtsphilosophisches Denken in vertragsrechtlichen Kategorien deutlich wird: „Strafe als Unschädlichmachen, als Verhinderung weiteren Schädigens. Strafe als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgend einer Form (auch in der einer Affekt-Compensation). Strafe als Isolirung einer Gleichgewichts-Störung, um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten. Strafe als Furchteinflössen vor Denen, welche die Strafe bestimmen und exekutiren. Strafe als eine Art Ausgleich für die Vortheile, welche der Verbrecher bis dahin genossen hat [. . .]. Strafe als Ausscheiden eines entarteten Elementes [. . .]. Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich niedergeworfnen Feindes. Strafe als ein Gedächtnissmachen, sei es für Den, der die Strafe erleidet – die sogenannte ‚Besserung‘, sei es für die Zeugen der Exekution. Strafe als Zahlung eines Honorars, ausbedungen Seitens der Macht, welche den Übelthäter vor den Ausschweifungen der Rache schützt. Strafe als Compromiss mit dem Naturzustand der Rache, [. . .]. Strafe als Kriegserklärung und Kriegsmaassregel gegen einen Feind des Friedens, des Gesetzes, der Ordnung, der Obrigkeit, den man als gefährlich für das Gemeinwesen, als vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen Voraussetzungen, 40 41 42
Nietzsche, GM II 13; KSA 5, S. 317. Vgl. Bung, S. 129. Nietzsche, GM II 13; KSA 5, S. 317.
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als einen Empörer, Verräther und Friedensbrecher bekämpft, mit Mitteln, wie sie eben der Krieg an die Hand giebt.“43
Mag die Liste auch beeindruckend sein und auch sehr interessante Aspekte enthalten – so wird nachfolgend noch auf die genannte Affektkompensation einzugehen sein, die eine Form der Abzahlung des Schadens an den Geschädigten darstellt – so sind die Strafzwecke für Nietzsche ob ihrer Beliebigkeit als Betätigungsfeld im Bereich der Beschäftigung mit dem Strafrecht uninteressant und unergiebig, eben weil sie so beliebig und austauschbar sind. Nietzsche ist vielmehr davon überzeugt, dass nur der Blick auf den Ursprung der Strafe Ansatz für eine ergiebige Beschäftigung mit dem Strafen sein kann.44 So kritisiert Nietzsche die Beschäftigung mit den Strafzwecken als Ansatz, bei dem der Ursprung und der Zweck der Strafe in einen Topf geworfen werden. „Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck der Strafe – zwei Probleme, die auseinander fallen oder fallen sollten: leider wirft man sie gewöhnlich in Eins. Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle? Naiv, wie sie es immer getrieben haben –: sie machen irgend einen ‚Zweck‘ in der Strafe ausfindig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und – sind fertig.“45
Diese Vorgehensweise kann nicht geeignet sein, den Seinsgrund der Strafe wirklich ausfindig zu machen, weil gerade die Strafzwecke in ihrer Beliebigkeit immer wieder neu benutzt und benannt werden. Aus ihnen auf den Ursprung der Strafe zu schließen, greift für Nietzsche zu kurz und verwechselt letztlich Ursache und Wirkung. Die Benutzung der Strafzwecke als Machtausübung steuert – Nietzsches Gesamtbetrachtung folgend – der Wille zur Macht. So stellt er fest, „[. . .] dass nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schliessliche Nützlichkeit, dessen thatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen; dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretiren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ‚Sinn‘ und ‚Zweck‘ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.“46 43 44 45 46
Nietzsche, GM II 13; KSA 5, S. 317 f. So auch zutreffend Bung, S. 128. Nietzsche, GM II 12; KSA 5, S. 313. Nietzsche, GM II 12; KSA 5, S. 313 f.
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Der Zweck ist also nachrangig und beliebig, wandelbar und jedenfalls auch den Wirkungen des Willens zur Macht ausgeliefert. Wie bereits ausgeführt, sieht Nietzsche in der sprachlichen Benennung selbst eine Machtausübung der Herrschenden. Erst recht gilt dies für das Strafrecht, für die Bezeichnung dessen, was erlaubt und was verboten ist. Dies sieht auch Bung, wenn er vom Strafrecht im Lichte seiner Zwecke als Verfügungsmasse politischer Macht spricht, allerdings klammert er in seinen Zitaten das Wirken des Willens zur Macht aus.47 Doch gerade das Wirken des Willens zur Macht in Form des Überwältigens und Herrwerdens ist die für Nietzsche entscheidende Kraft hinter der Wandelbarkeit und dem Benutzwerden des Strafrechts als Machtausübung des Stärkeren bzw. der Herrschenden. „Das Entscheidenste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle thut und durchsetzt [. . .] ist die Aufrichtung des Gesetzes, die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe: [. . .].“48
Es ist die Definition des Strafbaren, welche eine enorme Machtausübung darstellt, die die Gesellschaft entscheidend gestaltet. Die Strafzwecke sind dabei noch beliebiger und wandelbarer als die Vorschriften selbst. Über den Ursprung des Strafens und damit den entscheidenden und ergiebigsten Teil der Straftheorie sagen sie in seinen Augen nichts aus, da Sinn und Zweck der Strafe immer neu interpretiert wird. Insoweit auch zutreffend und eindeutig Bung, wenn er schreibt: „Diese Liste mit zum Teil gänzlich heterogenen und unverträglichen Funktionsbestimmungen macht deutlich, dass die Strafzweckdiskussion so willkürlich ist, wie die Instrumentalisierung des Strafrechts durch die gerade herrschende Macht; [. . .].“49
Nietzsche selbst kritisiert aber nicht nur die Beliebigkeit der Strafzwecke, sondern auch deren Sinn selbst. So wendet er sich eindrucksvoll gegen den spezialpräventiven Aspekt der Strafe und erweist sich wieder einmal als bemerkenswerter Psychologe. „Die Strafe soll den Werth haben, das Gefühl der Schuld im Schuldigen aufzuwecken, man sucht in ihr das eigentliche instrumentum jener seelischen Reaktion, welche ‚schlechtes Gewissen‘, ‚Gewissensbiss‘ genannt wird. Aber damit vergreift man sich selbst für heute noch an der Wirklichkeit und der Psychologie: und wie viel mehr für die längste Geschichte des Menschen, seine Vorgeschichte! Der ächte Gewissensbiss ist gerade unter Verbrechern und Sträflingen etwas äusserst Seltenes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind nicht die Brutstätten, an denen 47 48 49
Vgl. Bung, S. 129. Nietzsche, GM II 11; KSA 5, S. 312. Bung, S. 130.
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diese Species von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht: [. . .] In’s Grosse gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab; sie concentrirt; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung; sie stärkt die Widerstandskraft.“50
Nietzsche führt weiter aus, dass auch der Effekt nicht vernachlässigt werden darf, dass das Strafverfahren selbst Prozeduren anwendet, die dem Verurteilten als strafbar verboten sind und es sich somit offensichtlich nicht um „an sich“ verbotene Handlungen handelt, wenn sie im Rahmen des Strafverfahrens und der Strafe durchgeführt werden dürfen. „Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine That, die Art seiner Handlung, an sich als verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt: also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und durchtriebne Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschuldigte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiednen Arten der Strafe sich ausprägt, – Alles somit von seinen Richtern keineswegs an sich verworfene und verurtheilte Handlungen [. . .].“51
Der Staat und die vom Staat unterhaltenen Organe der Strafverfolgung handeln mitunter so, wie es der einfache Bürger nicht darf. Und die Strafe ist staatlich angeordnetes Handeln, das für den Bürger ansonsten strafbar ist. So bezüglich der Tötung eines Menschen: als Vollstreckung einer Todesstrafe erlaubt, staatlich angeordnet und durchgeführt, für die Bürger des Staates als Mord oder Totschlag bei Strafe verboten. Oder: das Einsperren als Vollstreckung einer Freiheitsstrafe für den Staat erlaubt, für die Bürger als Freiheitsberaubung verboten. Und natürlich der unmittelbare Zwang, den die ausführende Staatsgewalt zum Beispiel in Form der Polizei anwendet und der den Bürger untereinander zum Beispiel als strafbare Nötigung verboten ist. Die ausgeführte Beliebigkeit und Ausnutzbarkeit der Strafzwecke lässt sich für Nietzsche auch an einer weiteren zentralen Stelle im Rahmen des Strafverfahrens ausmachen – nämlich im Rahmen der Strafzumessung. Die Strafzumessung gilt Nietzsche als ebenso beliebig und willkürlich wie die Strafzwecke, wobei er sich in diesem Zusammenhang auch einmal in interessanter Weise zur Rolle des Strafverteidigers äußert, der für den Angeklagten das Erstaunen des Richters über die Tat zu mildern hat – im Grunde so lange, bis keine Schuld mehr übrig bleibt.
50 51
Nietzsche, GM II 14; KSA 5, S. 318 f. Nietzsche, GM II 14; KSA 5, S. 319.
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D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
3. Die Willkürlichkeit der Strafzumessung Nietzsche macht seinen Standpunkt schon im Titel des zentralen Aphorismus deutlich, wenn es dort heißt: „Das Willkürliche im Zumessen der Strafen.“52
Nietzsche betrachtet unter dieser Überschrift den Vorgang der Strafzumessung und beschäftigt sich mit strafmildernden und strafschärfenden Kriterien. Als Beispiel dient ihm zunächst der Gewohnheitsverbrecher. „Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der That, derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen; es ist ja ein Hang entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen, wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmässigen Verbrechens vorliegt, härter gestraft; die Gewohnheit wird als Grund gegen alle Milderung geltend gemacht.“53
Nietzsche argumentiert wieder einmal psychologisch und führt den Hang zur Begehung von Straftaten an, der es dem Straftäter schwerer macht, keine Straftaten zu begehen. Er nimmt eine gewisse Gewohnheit an im Sinne einer Einübung, die sich auch auf den Täter dahingehend auswirkt, dass er bei nächster sich bietender Gelegenheit angesichts einer solchen Gewohnheit schwerer Nein zu einer weiteren strafbaren Handlung sagen kann. Nietzsche schaut auf den Täter mit einem verständigen und nachsichtigen Blick, den er angesichts seiner Gerechtigkeitskonzeption fordern muss. Ein genaues Hinsehen im Anklang an das „sehende Auge“, welches den Täter von allen Seiten betrachtet. Aber in der Strafzumessung ist die Wertung eine ganz andere. Nietzsche stellt dem Gewohnheitsverbrecher den gesetzestreuen Bürger gegenüber, der straffällig wird. Zwingt den Leser erneut zu genauem Hinsehen – beim jeweiligen Täter. „Eine vorherige musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen um so fürchterlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen lassen! Aber sie pflegt die Strafe zu mildern.“54
Nietzsches Blick auf den Täter und das Verständnis für die Begehung seiner Tat, das er als Maßstab für die spätere Strafzumessung heranziehen will, ist im Licht seines besonderen Gerechtigkeitsempfindens zu sehen. Die Betrachtung des Täters von allen Seiten hat zum einen mit seinem deterministischen Ansatz zu tun, dass der Täter letztlich als Summe seiner Erfahrungen und Umstände überhaupt erst zum Täter wurde. Aber es ist auch der im Rahmen seiner Gerechtigkeitskonzeption von Nietzsche geforderte 52 53 54
Nietzsche, MA II 2. 28; KSA 2, S. 561. Ebd. Ebd.
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Wechsel der verschiedenen Perspektiven, die einzunehmen sind, um jedem das Seine geben zu können – wenn schon ein Strafen erfolgen soll und der Lehre der Unverantwortlichkeit nicht gefolgt wird. So macht auch Petersen auf diesen Zusammenhang von Nietzsches besonders sensiblem Gerechtigkeitsempfinden und dem genauen Blick auf den Täter aufmerksam. „Die Parteinahme für den Täter, [. . .] ist auch dort, wo sie nicht frei von Überspitzungen ist, paradoxerweise wiederum Ausweis seines seismographischen Gerechtigkeitsempfindens. Indem er auf den Täter sieht und dessen Verhalten auf seine innere Folgerichtigkeit hin untersucht, stellt er zugleich die Frage, wie es dahin kommen konnte.“55
Allerdings ist Nietzsches Blick auf den Täter nicht „paradoxerweise“ auf sein starkes Gerechtigkeitsempfinden zurückzuführen, sondern spiegelt gerade in der von Petersen zutreffend festgestellten Frage Nietzsches danach, wie es zu der Tat kommen konnte, seine Forderungen an den Versuch eines gerechten Urteilens wider. Es ist innerhalb von Nietzsches Gerechtigkeitskonzeption folgerichtig, eine Grundlage von zahlreichen Blickwinkeln zu fordern bei dem Versuch, jedem das Seine zu geben, mithin gerecht zu urteilen. Sofern dies im Zumessen einer Strafe überhaupt möglich sein kann was Nietzsche verneinen würde. Aber er würde wohl, wenn denn das Strafen noch sein muss, den Versuch am Ideal der Gerechtigkeit fordern. Die Strafzumessung funktioniert zu Nietzsches Leidwesen jedoch anders, da alleine die Perspektive der Gesellschaft entscheidend ist. Nur so ist es für Nietzsche erklärlich, wie es in der Strafzumessung zu den aufgezeigten Wertungen kommt, einen Gewohnheitsverbrecher härter und einen vormals mustergültigen Bürger milder zu bestrafen, ein Muster, welchem auch die heutige Strafzumessung noch folgt. „So wird Alles nicht nach dem Verbrecher bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren Schaden und Gefahr: frühere Nützlichkeit eines Menschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten addirt, und demnach die Strafe am höchsten zugemessen.“56
Mit diesem Fingerzeig auf die Perspektive der Strafzumessung weist Nietzsche auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat hin, dem er gerade im Bereich des Strafrechts eine besondere Stellung zuschreibt. Auf den Aspekt des Straftäters als Vertragsbrüchigen gegen die Gesellschaft wird noch einzugehen sein. Nietzsche selbst geht in diesem Aphorismus nicht darauf ein, baut vielmehr seine Kritik an der zu kurz greifenden Berücksichtigung der Vergangenheit und an der Lehre des freien Willens aus. 55 56
Petersen, S. 116 f. Nietzsche, MA II 2. 28; KSA 2, S. 561.
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„Wenn man aber dergestalt die Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt [. . .], so sollte man noch weiter zurückgehen und die Ursache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und belohnen, ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft u.s.w.; in vielen Fällen wird man dann die Richter irgendwie bei der Schuld betheiligt finden.“57
Der Seitenhieb auf die mögliche Beteiligung der späteren Richter, den Bung als „süffisante“ Bemerkung Nietzsches bezeichnet58, ist die für Nietzsche typische Überspitzung und Pointe, die mehr zum Nachdenken anregen soll, als eine allgemein gültige Wahrheit zu verkünden. Nietzsche gibt noch einmal den Hinweis auf die Geschichte einer Tat und die Vergangenheit des Täters. Wenn schon die Vergangenheit berücksichtigt werden soll, dann muss der Blick auf die Eltern, die Erzieher und die Gesellschaft selbst gerichtet werden. Er nimmt in seiner eigenen Argumentation zu Überprüfungszwecken die von ihm abgelehnte Position ein, dass es einen freien Willen in dem Sinne, dass der Täter anders hätte handeln können, gäbe. Dann aber fordert Nietzsche Konsequenz. Denn dann dürfte in seinen Augen die Vergangenheit gar nicht berücksichtigt werden – weder strafmildernd noch strafschärfend. „Es ist willkürlich, beim Verbrecher stehen zu bleiben, wenn man die Vergangenheit straft: man sollte, wenn man die absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehn bleiben und nicht weiter zurückblicken: also die Schuld isoliren und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung bringen ‚ sonst wird man zum Sünder gegen die Logik. Zieht vielmehr, ihr Willens-Freien, den nothwendigen Schluss aus eurer Lehre von der ‚Freiheit des Willens‘ und decretirt kühnlich: ‚keine That hat eine Vergangenheit‘.“59
Nietzsche versucht, die Vertreter des freien Willens, die davon ausgehen, der Täter hätte auch anders handeln können und daraus ergäbe sich die ihm vorwerfbare Schuld, argumentativ in die Enge zu treiben. Den Anhängern des freien Willens wirft Nietzsche vor, die Vergangenheit nur eingeschränkt zu berücksichtigen, und zwar nur im Hinblick auf den Täter und sein Vorleben – und diese Berücksichtigung der Vergangenheit ist für ihn willkürlich. Er versucht zu zeigen, dass die Vergangenheit entweder ganz berücksichtigt werden muss – und dann auch die Schuld der Eltern, der Umstände und der Gesellschaft Berücksichtigung finden muss – oder gar nicht. Mit dieser Kritik an den Kriterien der Strafzumessung erhebt Nietzsche wieder den Vorwurf der Willkür – wie er dies auch schon in Bezug auf die wandelbaren und beliebigen Strafzwecke getan hat. Der, wie von ihm beschriebenen, auch heute noch so vorgenommenen Strafzumessung haftet im 57 58 59
Nietzsche, MA II 2. 28; KSA 2, S. 561 f. Vgl. Bung, S. 132. Nietzsche, MA II 2. 28; KSA 2, S. 562.
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Hinblick auf die Berücksichtigung der Vergangenheit des Täters der Makel der Willkürlichkeit an. Nietzsche zeigt diesen Aspekt der Willkürlichkeit in der Strafzumessung aber auch noch anhand einer weiteren Perspektive auf. Er wirft einen Blick auf die Richter und bringt deren zufällige und wandelbare Subjektivität ins Spiel. Denn Nietzsche macht als ein weiteres Kriterium der Strafzumessung das Erstaunen der Richter ob der abzuurteilenden Tat aus. „Der Verbrecher, der den ganzen Fluss der Umstände kennt, findet seine That nicht so ausser der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler; seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grade von Erstaunen zugemessen, welches jene beim Anblick der That als einer Unbegreiflichkeit befällt.“60
Es geht Nietzsche dabei weniger um den Aufschrei der Empörung, der durch das Richtergremium gehen könnte. Er hat vielmehr die Berücksichtigung der Vergangenheit im Sinn, die Berücksichtigung der Umstände. Der Täter kennt die gesamten Umstände, die Motive, den genauen Hergang, die Vorgeschichte. Vor allem die Verdichtung im Augenblick der Tat. Diese Kenntnis aber fehlt den Richtern, sie haben zunächst nur die Tat als solche zu beurteilen und verstehen diese nicht. Sehen nur die vom Gesetzgeber als strafbar qualifizierte Handlung. Ohne noch einmal auf die Fatalität des Augenblicks einzugehen, versucht Nietzsche an dieser Stelle die Vergangenheit und die Umstände der Tat zu Gehör zu bringen, indem sich aus diesen zumindest eine gewisse Notwendigkeit zur Tatbegehung ergeben soll. Er will an dieser Stelle eigentlich gar nicht mehr auf die absolute Unverantwortlichkeit hinaus, jedenfalls nicht auf eine solche, die sich aus der fehlenden Möglichkeit, anders zu handeln, ergibt. Letztendlich jedoch kommt Nietzsche wiederum zu seinem Ergebnis, dass letztlich keine Schuld besteht. Petersen weist diesbezüglich darauf hin, dass Nietzsche wieder einmal eine Ungerechtigkeit aufdecken will. „Es ist also das rechtsethische Befremden, das die Höhe der Strafe ausmacht und das Nietzsche ungerecht erscheint.“61
Das Befremden der Richter angesichts der Tat macht Nietzsche als Faktor der Strafzumessung aus. In diesem Zusammenhang äußert er sich auch dezidiert zur Rolle des Strafverteidigers, der hinsichtlich des Kriteriums des Erstaunens zur Aufgabe hat, dieses Staunen der Richter zu mildern, Verständnis für die Tat und die Umstände, die diese umgeben, ins Feld zu führen. Eine Aufgabe, die jedenfalls bei jeder Strafmaßverteidigung, bei der die Täterschaft des Angeklagten grundsätzlich beweisbar scheint oder 60 61
Nietzsche, MA II 2. 24; KSA 2, S. 559. Petersen, S. 118.
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gar feststeht, auch heute noch eine ganz zentrale Aufgabe des Strafverteidigers ist. Aber Nietzsche überspitzt auch an dieser Stelle, spannt letztlich aber wieder den großen Bogen zu der von ihm vertretenen Entschuldbarkeit jeder Schuld. Denn nimmt der Strafverteidiger den Richtern das Erstaunen, mildert er es und begleitet die Richter zu dem Ergebnis, dass es eine gewisse Notwendigkeit zur Tatbegehung gab, dann – so stellt Nietzsche in den Raum – müsste sich doch die Schuld ganz hinwegmildern lassen. „Wenn die Kenntniss, welche der Vertheidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht, so müssen die sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher: der Vertheidiger wird schrittweise jenes verurtheilende und Strafe zumessende Erstaunen mildern und zuletzt ganz aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständniss nöthigt: ‚er musste so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Nothwendigkeit bestrafen.‘ “62
Nietzsche kommt an dieser Stelle sozusagen auf einem anderen Weg noch einmal zu dem Ergebnis, dass bei der von ihm geforderten Konsequenz auch das vollkommene Mildern der Schuld letztlich zu einer umfassenden Entschuldigung führen müsste. Allerdings handelt es sich eher um ein Gedankenspiel, das verdeutlicht, wohin ein konsequentes Berücksichtigen der Tatumstände und der Täterumstände eigentlich führen müsste. Bung scheint die Argumentation Nietzsches an dieser Stelle beim Wort zu nehmen und sieht sich gedrängt, mögliche Gegenargumente in Stellung zu bringen. „Dass man alles versteht, heißt eben nicht zwangsläufig, dass man auch alles verzeiht.“63
Damit hat er per se natürlich recht, allerdings ist eine solche Entkräftung der Argumentation Nietzsches gar nicht erforderlich, da er selbst in dieser Überspitzung nur deutlich machen möchte, dass das partielle Berücksichtigen von Umständen und Motivationen inkonsequent ist und eigentlich bei umfassender Kenntnis eine vollkommene Entschuldigung zur Straffreiheit führen müsste. Die Kenntnis von den Umständen der Tat ist dabei für Nietzsche zunächst mit dem Verteidiger verbunden. Dieser ist es, der sich die Kenntnis über seinen Mandanten und die Tat beschaffen kann, um sie dann zu den Richtern zu übermitteln. 62 63
Nietzsche, MA II 2. 24; KSA 2, S. 559. Bung, S. 133.
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Für die Einschätzung, dass Nietzsche diese Art der Hinwegmilderung der Schuld nicht ganz ernst gemeint hat, spricht auch, dass Nietzsche bei seiner Schlussfolgerung nicht stehen bleibt, sondern im Schlusssatz des Aphorismus’ bemerkt, dass diese Abhängigkeit vom Wissen um die Umstände nicht der Maßstab sein kann. Er erhöht in seiner Argumentation den Druck und macht jetzt deutlich, dass vor dem Hintergrund, das Erstaunen der Richter sei ebenfalls Kriterium für die Strafzumessung, diese von dem Kenntnisstand über die Hintergründe der Tat abhängt – und damit von einer Variablen, bei der man sich fragen muss, inwieweit die erforderliche Kenntnis überhaupt gewonnen werden kann. „Den Grad der Strafe abmessen nach dem Grad der Kenntniss, welchen man von der Historie eines Verbrechens hat oder überhaupt gewinnen kann, – streitet diess nicht wider alle Billigkeit?“64
Und wie gesehen geht die Billigkeit in seinem Verständnis sogar noch über die Gerechtigkeit hinaus, da sie jenseits der Gerechtigkeit Nachsicht zeigt. Die Strafzumessung ist für Nietzsche schon mit dem Heranziehen von Teilen der Vergangenheit des Täters beliebig und inkonsequent, mit der Berücksichtigung der Person des Richters und seinem Erstaunen angesichts der Tat und der fehlenden oder auch nur eingeschränkt zu gewinnenden Kenntnis der Umstände derselben, wird der Vorgang der Strafzumessung für Nietzsche nur noch willkürlicher. Und entfernt sich noch weiter von dem Anspruch der Gerechtigkeit, jedem das Seine zu geben, wenn der Maßstab für die Bemessung der Strafe nicht der Täter ist, sondern die Perspektive der Gesellschaft und der Richter auf den Täter. Dabei ist in seinem Hinweis auf die Problematik der Gewinnung einer umfassenden Kenntnis von der Vorgeschichte der Tat noch gar nicht berücksichtigt, inwiefern dies im Alltag der Strafjustiz allein aus zeitlichen und finanziellen Gründen überhaupt versucht werden könnte und inwieweit nicht angesichts fehlender Ressourcen und knapper Terminierung die Unkenntnis um die Tat und den Täter den Regelfall darstellt. Und damit ist mitunter das Erstaunen der Richter noch immer ein nicht zu unterschätzendes Kriterium der heutigen Strafzumessung. Nietzsche spricht an dieser Stelle nur die Kenntnis von den Umständen der Tat an, von den Beweggründen des Täters, die die Richter nicht kennen und deshalb erstaunt sind angesichts der Tat. An Nietzsches Gedanken anknüpfend könnten auch noch die Lebensumstände der Richter selbst zu be64
Nietzsche, MA II 2. 24; KSA 2, S. 559.
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rücksichtigen sein, die auch Auswirkungen auf den Grad des Erstaunens und das Verständnis für die Beweggründe des Täters haben. Die individuelle Stimmung der Richter am Tag der Verurteilung und deren Einfluss auf das Urteil sei als allzumenschlicher Faktor nur ergänzend erwähnt. Der Maßstab für die Zumessung von Strafe wird mannigfaltig beeinflusst und gilt Nietzsche als ebenso willkürlich wie der Zweck der Strafe. Über den Ursprung des Strafens ist damit noch nichts ausgesagt und damit für Nietzsche auch nicht viel über ihren Charakter selbst.
II. Ursprung des Strafens in einer Zwei-Personen-Konflikt-Situation Nachdem Nietzsches wichtigste Positionen zum Strafen kurz dargestellt wurden, ist deutlich geworden, dass er als vehementer Kritiker des Strafens begriffen werden muss. Seine eigentliche These ist die der vollkommenen Unverantwortlichkeit. Seine Kritik am Strafen selbst findet viele Ansatzpunkte, vor allem die Willkürlichkeit der Strafzwecke und der Strafzumessung. Doch um seinen Blick auf das Strafen richtig bewerten zu können, ist Nietzsches vertragsrechtliches Denken aufzudecken, und zwar in seinem Blick auf die Herkunft des Strafens. Eine Perspektive, die Nietzsche immer wieder einnimmt und auch anmahnt: in die Menschheitsgeschichte zurückzugehen, um der Idee des Strafens auf den Grund zukommen. Und wieder stößt der Leser bei genauem Hinsehen auf die von Nietzsche zentral gedachte Zwei-Personen-Konflikt-Situation, in der eine gegenseitige Machtabschätzung stattfindet. Diesmal zwischen Schädiger und Geschädigtem, zwischen Täter und Opfer, welches einen Ausgleich für den entstandenen Schaden einfordert – aber nicht nur das. Das Opfer fordert eine Superkompensation. Mit Nietzsche: eine Affektkompensation65. Aber auch in der Beziehung der strafenden Gesellschaft zum Straftäter sieht Nietzsche ein Vertragsverhältnis verletzt, in dem die Machtabschätzung eine entscheidende Rolle spielt. 1. Schmerzzufügung als Erinnerungstechnik Bereits zu Beginn des zweiten Kapitels wurde die Grundfähigkeit des Menschen für die Rechtsentstehung dargestellt, die Nietzsche darin sieht, dass er den Menschen als das Tier charakterisiert, das versprechen kann.66 65
Vgl. Nietzsche, GM II 13; KSA 5, S. 317.
II. Ursprung des Strafens in einer Zwei-Personen-Konflikt-Situation
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Daraus entwickelt er das grundsätzliche Verständnis des Menschen von sich als verantwortliches Wesen. Wie bereits ausgeführt, sieht Nietzsche die Menschheit aus einem Naturzustand kommend, der durch den blutigen und chaotischen Krieg aller gegen alle gekennzeichnet ist. Die Entwicklung des Naturzustandes hin zu stabileren, gesellschaftlichen Zuständen entwirft er als großangelegte Geschichte einer Disziplinierung des Tieres Mensch. Dabei weist er mit Wonne darauf hin, dass viele ursprüngliche Facetten aus dem Naturzustand immer noch in jedem Menschen schlummern oder sich nur andere Ventile und Kanäle gesucht haben.67 Das Versprechen arbeitet gegen die wichtige Fähigkeit des Vergessens. Für Nietzsche ist das Versprechen ein Charakteristikum, das den Menschen ein Ausdruck scheinbar unabhängiger Individualität zu sein scheint.68 Im Rahmen des Blicks auf das Herkommen des Strafens kommt der Arbeit gegen das Vergessen eine ganz besondere Bedeutung zu. Den Menschen wurde eingeimpft, was erlaubt und was verboten, mithin strafbar ist. Eine fortschreitende Disziplinierung aus dem Naturzustand heraus. Dabei zeigt der Blick in die Vergangenheit, dass das Strafen in früheren Zeiten vor allem darin bestand, Schmerzen zuzufügen. Der Schmerzzufügung misst Nietzsche die Aufgabe zu, gegen das Vergessen zu wirken – Schmerzzufügung als Erinnerungstechnik. „ ,Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss‘ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. [. . .] Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte [. . .] – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.“69
Die Funktion des Schmerzes auf dem Weg zu einer zivilisierteren Gesellschaft – Nietzsche weist gerne auf die blutige und grausame Vergangenheit hin, immer mit dem anprangernden Unterton, dass die modernen Menschen sich nur nicht allzu viel auf ihre Zivilisiertheit und ihren Fortschritt einbilden sollen. So zeichnet er eine Vergeistigung der Grausamkeit nach, nicht ihr Ende.70 66 67 68 69 70
Nietzsche, GM II 1; KSA 5 S. 291. Vgl. Nietzsche, MA II 2, 31; KSA 2, S. 563. Vgl. B. IV. 1. Nietzsche, GM II 3; KSA 5, S. 295. Vgl. Nietzsche, JGB 229; KSA 5, S. 166.
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Und Nietzsche versäumt es nicht, auch dem Volk der Dichter und Denker den Spiegel vorzuhalten und auf die Grausamkeiten zu deuten, die als Erinnerungstechnik für ihn hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zu finden sind. Wie grausam und blutig die Zukunft mit den beiden Weltkriegen und dem Dritten Reich werden würde, konnte Nietzsche nicht ahnen. Umso treffender muten seine Worte aus heutiger Sicht an: „Wir Deutschen betrachten uns gewiss nicht als ein besonders grausames und hartherziges Volk, [. . .] aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinter zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein ‚Volk von Denkern‘ heranzuzüchten [. . .]. Diese Deutschen haben sich mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtniss gemacht, um über ihre pöbelhaften Grund-Instinkte und deren brutale Plumpheit Herr zu werden: man denke an die alten deutschen Strafen, zum Beispiel an das Steinigen [. . .], das Rädern (die eigenste Erfindung und Spezialität des deutschen Genius im Reich der Strafe!), das werfen mit dem Pfahle, das Zerreissen- oder Zertretenlassen durch Pferde (das ‚Viertheilen‘), das Sieden des Verbrechers in Öl oder Wein [. . .], das beliebte Schinden (,Riemenschneiden‘), das Herausschneiden des Fleisches aus der Brust; [. . .].“71
Nietzsche deutet auf die grausamen Details, den blutigen Preis, den die Menschen für die Zivilisierung zahlen mussten. Und die Gesellschaft fordert das Versprechen, fordert einen Pakt, gewisse Dinge nicht zu tun. Die grausamen Strafen sollten es einbrennen in die Erinnerung. Nietzsche schreibt weiter: „Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs ‚ich will nicht‘ im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societät zu leben, [. . .] wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller ‚guten Dinge‘! [. . .].“72
Entscheidend ist an dieser Stelle das Versprechen, das Bedingung für eine Teilhabe am Gemeinschaftsleben, für eine Aufnahme in die Gesellschaft ist. Auf dieses Versprechen, diesen Pakt mit der Gesellschaft, mit dem Staat wird noch einzugehen sein, denn auch hier kristallisiert sich ein Vertragsverhältnis, ein Verhältnis inter partes heraus. Da Nietzsche eine Verbindung herstellt zwischen der Zivilisierung und dem Schmerz als Erinnerungstechnik, stellt er diese auch zwischen der Grausamkeit der Schmerzzufügung und dem Zustand des Gedächtnisses der jeweiligen Gesellschaft her. „Je schlechter die Menschheit ‚bei Gedächtniss‘ war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen Maassstab dafür ab, wie viel Mühe sie hatte, gegen die Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen [. . .].“73 71 72 73
Nietzsche, GM II 3; KSA 5, S. 296. Nietzsche, GM II 3; KSA 5, S. 296 f. Nietzsche, GM II 3; KSA 5, S. 296.
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Die Härte der Strafgesetze gilt Nietzsche als Maßstab für den Fortschritt der Disziplinierung, für den Grad der Verinnerlichung des Verbotenen. Nietzsche verknüpft das Strafen als Schmerzzufügung mit dem Schmerzzufügen als Erinnern an Verbote. Er denkt die Menschheitsgeschichte als grausame und blutige Erziehung hin zu einer zivilisierter werdenden Gesellschaft, als Disziplinierung des Menschen durch Strafen. Engelhardt spricht insoweit von der „Erzeugung sozialer Konformität“74. Damit weist Nietzsche zwar weit in die Vergangenheit des Strafens, beschreibt aber noch nicht den Ursprung, sondern die frühere Verwendung des Strafens in der Entwicklung der Menschheit. Entscheidend ist insoweit die Funktion, die Nietzsche speziell dem Schmerz zuweist und die Gleichsetzung von Strafen und Schmerzzufügen. Denn auf dem Weg zum wahren Ursprung des Strafens bei Nietzsche spielt diese Korrelation eine zentrale Rolle, bei deren Aufdeckung wieder einmal sein psychologisches Gespür erkennbar wird. 2. Das Obligationenrecht hinter dem Strafen I Der insoweit zentrale Aphorismus wurde bereits zitiert. Er ist ebenfalls der „Genealogie der Moral“ entnommen und schließt sich direkt an Nietzsches obige Ausführungen an. Diese Stelle ist der zentrale Verweis auf das vertragsrechtliche Denken Nietzsches, welches sein gesamtes, rechtsphilosophisches Denken prägt und seine insgesamt psychologische und menschheitsgeschichtliche Betrachtungsweise des Rechts offenlegt. „Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits verrathen: in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist als es überhaupt ‚Rechtssubjekte‘ giebt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist.“75
An dieser Stelle wird die zentrale Funktion des Schmerzes wieder aufgegriffen und hinterfragt. Entscheidend ist, dass Nietzsches psychologisches Gespür ein Äquivalent zwischen Schaden und Schmerz ausmacht. Auf dieses ursprüngliche Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner wurde bereits in den vorangegangenen Kapiteln Bezug genommen. Nietzsche weist hier auf Grundformen menschlicher Kommunikation und Interaktion hin, die immer zurückführen zu einer Vertragskonstellation, zu einem Zwei-Parteien-Verhältnis, einer Beziehung inter partes. 74 Knut Engelhardt, Die Transformation des Willens zur Macht, ARSP 1985, S. 500. 75 Nietzsche, GM II 4; KSA 5, S. 298.
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Nietzsche sieht den Ursprung der Äquivalenz zwischen Schaden und Schmerz in der Möglichkeit zu einem Vertragsverhältnisses zwischen den Menschen – auf Grundlage der Möglichkeit, versprechen zu können. Wie aber kann der Schmerz ein entsprechender und eingeforderter Ersatz eines erlittenen Schadens sein? Wie wird durch Schmerz der erlittene Schaden wieder gutgemacht? Nietzsche hat hier seinen ganz eigenen psychologischen Ansatz. Er attestiert, dass Schmerzzufügung ein ganz besonderes Wohlgefühl auslöst, vor allem wenn die Schmerzzufügung als Ausgleich eines erlittenen Schadens erfolgt. Doch zunächst stellt Nietzsche noch einmal die Entkoppelung von Schuld und Strafe fest und verweist auf ein schuldunabhängiges Strafen. „Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus nicht gestraft worden, weil man den Übelanstifter für seine That verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu strafen sei: – vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der sich am Schädiger auslässt, – dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifizirt durch die Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Äquivalent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers.“76
Nicht die Verantwortlichkeit ist nach Nietzsche der Anknüpfungspunkt für das Strafen, sondern vielmehr der erlittene Schaden und die damit verbundene Reaktion des Geschädigten, der zornig auf die Schädigung reagiert. Nach Nietzsche war so ursprünglich nicht die Schuld der Strafgrund, auch wenn Nietzsche dem Schuldstrafrecht ein weit fortgeschrittenes Entwicklungsstadium zugesteht, sondern die direkte und persönliche Reaktion des Geschädigten, des Opfers. Nietzsche spricht in Bezug auf den Anknüpfungspunkt der Verantwortlichkeit von einer hohen Stufe der Vermenschlichung, die allerdings auch erst spät erreicht wurde und mit dem eigentlichen Ursprung des Strafens und dem ursprünglichen Anlass nicht verwechselt werden darf. „[. . .] ‚der Verbrecher verdient Strafe, weil er hätte anders handeln können‘ ist thatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffinirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens; wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern an der Psychologie der älteren Menschheit.“77
Aber vor dem Hintergrund der bereits zu Beginn dieses Kapitels gemachten Ausführungen zum Strafen ist zu betonen, dass Nietzsche diesen Anknüpfungspunkt der Verantwortlichkeit nicht nur nicht für den Ursprung des Strafens hält, sondern vielmehr die Anknüpfung an eine Schuld per se ablehnt, da er von einer vollkommenen Unverantwortlichkeit des einzelnen ausgeht. 76 77
Nietzsche, GM II 4; KSA 5, S. 298. Nietzsche, GM II 4; KSA 5, S. 298.
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Bung findet insoweit die richtigen Worte und fasst diesen bereits dargestellten Ansatz Nietzsches treffend zusammen wenn er schreibt: „Schuld, argumentiert er [Nietzsche], kommt von Schulden und nicht von Freiheit: [. . .].“78
Und mit Schulden ist das von Nietzsche aufgedeckte Vertragsverhältnis gemeint. Doch bevor dieses näher zu bestimmen ist, bedarf es einer Klärung, wie Nietzsche den Schmerz als Ausgleich für einen erlittenen Schaden begründet. Der Zorn über einen erlittenen Schaden wird von ihm als Strafgrund, als Auslöser gesetzt. Dabei müssen diesem Zorn Grenzen gesetzt werden, da er sonst über das Ziel hinausschießt. Diese Begrenzung des rein subjektiven und reaktiven Zorns auf den Schaden und seinen Verursacher erfolgt in einer Relation zu dem erlittenen Schaden. Es bedarf eines Messens des Schadens und der dafür angemessenen Wiedergutmachung, die auch in der Schmerzzufügung bestehen kann. 3. Das Wohlgefühl des Geschädigten bei der Bestrafung des Schädigers Nach der Schädigung stellt sich für den Geschädigten die Frage nach einem Ausgleich. Wie aber kann die Zufügung von Schmerzen dem Geschädigten aus Ausgleich dienen? Nietzsche spricht hier von einem Wohlgefühl, das dem Geschädigten, dem Gläubiger zuteilwird. „Machen wir uns die Logik dieser ganzen Ausgleichsform klar: sie ist fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zu gestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, [. . .].“79
Es ist dieses Auslassen der Macht, das nach Nietzsche zu einem guten Gefühl bei demjenigen führt, der die Erlaubnis dazu bekommt, das Recht. In dem sich direkt anschließenden Aphorismus macht Nietzsche dieses besondere Wohlgefühl noch einmal deutlich und stellt selbst noch einmal die Frage, wie Schmerz als Ausgleich für Schulden dienen kann. „Nochmals gefragt: in wiefern kann Leiden eine Ausgleichung von ‚Schulden‘ sein? Insofern Leidenmachen im höchsten Grade wohl that, insofern der Geschä78 79
Bung, S. 124. Nietzsche, GM II 5; KSA 5, S. 299.
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digte für den Nachtheil, hinzugerechnet die Unlust über den Nachtheil, einen ausserordentlichen Gegen-Genuss eintauschte: das Leiden-machen, – [. . .].“80
Nietzsche weist auf eine ursprüngliche Rechnung hin. Der erlittene Schaden ist zu berücksichtigen, aber auch die Unlust angesichts des erlittenen Schadens. Und dafür erhält der Geschädigte einen anderen Genuss, einen Gegengenuss wie Nietzsche sagt. An dieser Stelle wird deutlich, warum Nietzsche in seiner Liste der Strafzwecke diesbezüglich von einer Affektkompensation spricht. „Strafe als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgend einer Form (auch in der einer Affekt-Compensation).81
Die in der Aufzählung noch unbestimmte Form der Abzahlung des Schadens zeigt sich jetzt als Ausgleich des Leidens durch einen Genuss. Nietzsche spricht von einem erhebenden Gefühl für den Gläubiger, der sich als Ausgleich des erlittenen Schadens das Recht auf Grausamkeit erworben hat. „Vermittelst der ‚Strafe‘ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem HerrenRechte theil: endlich kommt auch er ein Mal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein ‚Unter-sich‘ verachten und misshandeln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die ‚Obrigkeit‘ übergegangen ist, es verachtet und misshandelt zu sehen. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit.“82
Nietzsche unterscheidet an dieser Stelle strikt zwischen dem ursprünglichen, persönlichen Strafen durch den Geschädigten und dem Strafen durch den Staat, wenn dieser schon das Gewaltmonopol und die Strafgewalt erhalten hat. Der ursprüngliche Gedanke aber, dass es eine Äquivalenz zwischen Schaden und Schmerz geben kann, weist nicht nur auf die ursprünglichen Vertragsverhältnisse, sondern letztlich auf den Vorgang des Tauschens, bei dem Werte erst gesetzt werden. So schreibt Stegmaier zutreffend: „Die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz muss uns, so Nietzsche, selbstverständlich durch die Idee des Tauschs geworden sein, nach der ganz unterschiedliche Dinge, um getauscht werden zu können, in ihrem ‚Wert‘ gleichgesetzt werden.“83
Diese Wertsetzung auf Grundlage der gegenseitigen Abschätzung und der Abwägung von Lust und Unlust ermöglicht dem Menschen die Abzahlung eines Schadens in Schmerzen. Nur durch eine entsprechende Wertsetzung konnte einem solchen Tausch zugestimmt werden. 80
Nietzsche, GM II 6; KSA 5, S. 300. Nietzsche, GM II 13; KSA 5, S. 317. 82 Nietzsche, GM II 5; KSA 5, S. 300. 83 Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“, Darmstadt 1994, S. 141. 81
II. Ursprung des Strafens in einer Zwei-Personen-Konflikt-Situation
161
4. Das Obligationenrecht hinter dem Strafen II Entscheidend an der gerade zitierten Stelle ist, dass Nietzsche die Strafe in einem Atemzug mit dem Gläubiger und dem Schuldner nennt – er setzt die Strafe sogar in Anführungszeichen, da es sich genaugenommen bei einem schon bestehenden Vertragsverhältnis in Form eines zivilrechtlichen Vertrags und einer daraus erwachsenden Abzahlung in Schmerzen nicht um eine Strafe im eigentlichen Sinne handelt, sondern vielmehr um eine Vertragsstrafe. Der Geschädigte erhält einen „Anweis auf Grausamkeit“, ein Recht dahingehend, ein Wohlgefühl aus der „Misshandlung“ des Schädigers ziehen zu dürfen. Andersherum jedoch wird in Zusammenhang mit der eingangs zitierten Stelle des Verweises auf die Grundformen der Verträge zwischen Menschen deutlich, dass Nietzsche die Strafe zunächst einmal als Beziehung zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten denkt, die im Moment der Schädigung entsteht. Er unterscheidet zwei Varianten, die zu dem Recht auf Machtauslassung führen können. Die eine Variante ist diejenige, dass ein Vertrag zwischen den Parteien geschlossen wurde und zur Untermauerung des gegebenen Versprechens eine ganz besondere Absicherung erfolgte. „Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet Kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst noch ‚besitzt‘, über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder sein Leben [. . .].“84
Hier verweist Nietzsche wieder auf die Grundformen des Vertragsschlusses zwischen zwei Parteien und auf die Fähigkeit des Menschen, versprechen zu können. Die Verpfändung von Leib und Leben als Untermauerung des Versprechens. Bei dieser von Nietzsche beschriebenen Variante handelt es sich um den Fall, in dem es zunächst einmal um einen klassischen Vertrag im zivilrechtlichen Sinne geht, also beispielsweise einen Darlehensvertrag, bei dem zur Bekräftigung des Versprechens, wie von Nietzsche beschrieben noch Leib und Leben in die Waagschale geworfen werden. Die Bestrafung des säumigen Schuldners ist demnach keine Strafe im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine Vertragsstrafe. Der von Nietzsche jedoch ganz grundsätzlich ausgemachte Ursprung des Strafens im Sinne einer zornigen Reaktion des Geschädigten auf das Han84
Nietzsche, GM II 5; KSA 5, S. 299.
162
D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
deln des Schädigers ist von einem solchen Vertrag unabhängig, beschreibt vielmehr unter Verweis auf die Grundformen des Vertragsschlusses eine Beziehung inter partes, die in dem Moment der Schädigung entsteht. Dies ist die zweite Variante der Entstehung eines Bedürfnisses nach Strafe. Es entsteht ein Verhältnis zwischen Täter und Opfer. Auch hier findet sich wieder die ursprüngliche Zwei-Personen-Konflikt-Situation. Die Schädigung ist ein offensichtlicher Konflikt, ein Aufeinanderprallen von zwei Willen, zwei Positionen. Es entsteht eine Beziehung, eine Verbindung, die ein Ungleichgewicht beschreibt, bei der die erste und ursprüngliche Reaktion des Geschädigten zum Beispiel die Wut, der Zorn auf den Schädiger sein kann. Und das Verlangen nach Ausgleich. Die ursprünglichste und einfachste Form des Ausgleichs wäre das schon angesprochene alte Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben für Leben. Grundsätzlich wird auch insoweit der Ausgleich eines gestörten Gleichgewichts angestrebt.85 Die persönliche und individuelle Reaktion ist das Sinnen auf Rache, dazu sogleich. Das Strafrecht ist eine Regelung und Kanalisierung der Rachegedanken des Geschädigten, um diese in Grenzen zu halten, wie Nietzsche dies auch schon hinsichtlich des Zorns beschrieben hat. Die bereits weiter entwickelte, disziplinierte Gesellschaft, in der die Strafgewalt auf den Staat übergegangen ist, beschützt den Schädiger sogar vor der persönlichen und direkten Reaktion des Geschädigten. „[. . .] der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaassen zügellos an ihm [dem Einzelnen, dem Vergehen vorgeworfen werden] auslassen, – vielmehr wird von nun an der Übelthäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von Seiten des Ganzen vertheidigt und in Schutz genommen.“86
Der Schädiger wird demnach insbesondere vor der direkten Reaktion des Geschädigten geschützt, wenn die Gesellschaft schon weiter entwickelt ist, damit sich dessen unkontrollierte, persönliche Vergeltung nicht ungehindert an dem Schädiger austobt. Nietzsche beschreibt diese an anderer Stelle als Rache der blinden Erbitterung.87 Um noch einmal auf den Ausgangspunkt der Äquivalenz zwischen Schaden und Schmerz zurückzukommen. Die Schmerzzufügung ist eine Möglichkeit des Schadensausgleichs, der nach Nietzsche durch das Wohlgefühl des Geschädigten erreicht werden soll, das dieser beim Anblick des Bestraf85 86 87
Vgl. Nietzsche, MA II 2, 22; KSA 2, S. 556. Nietzsche, GM II 10; KSA 5, S. 308. Vgl. Nietzsche, MA II 2, 22; KSA 2, S. 556.
II. Ursprung des Strafens in einer Zwei-Personen-Konflikt-Situation
163
ten empfindet. Genau dieses Prinzip beschreibt Nietzsche auch in Bezug auf die Kanalisierung der Rache, worauf noch einzugehen sein wird. Bung spricht insoweit, auf den Schmerz bezogen, von einem Synallagma zwischen Schaden und Schmerz. „Dieser Gedanke eines mit den vertraglichen Leistungsversprechen verkoppelten, subsidiären Synallagmas zwischen Schaden und Schmerz geht in eine ganz andere Richtung als die uns vertraute Vorstellung von der Schuld als einem Maßstab gerechter Vergeltung.“88
Hier ist eine gewisse Klarstellung geboten. Synallagma bedeutet, dass zwischen den vereinbarten Leistungen ein strenges Gegenseitigkeitsverhältnis besteht. Die eine Leistung soll nur um der anderen Willen erbracht werden. Es wird nur gegeben um zu erhalten (do ut des).89 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Bung hier nur die erste Variante meint, bei der im Rahmen eines Vertragsschlusses zur Untermauerung derselben auch noch Leib und Leben verpfändet werden. Er spricht von einer Koppelung mit den vertraglichen Leistungsversprechen, wobei diesbezüglich als moderner, juristischer Begriff die Vertragsstrafe oder der pauschalierte Schadenersatz treffender erscheint, da angenommen werden darf, dass das Zufügen von Schmerzen nicht von vornherein als Teil dieses Gegenseitigkeitsverhältnisses gelten sollte. Es ist vielmehr ein Ersatz für die Nichtleistung oder die erlittene Schädigung. Nietzsche spricht daher zutreffend nur von Äquivalent. Diesem Begriff kann auch insoweit eine ganz bewusste Verwendung unterstellt werden, als die bisherigen Untersuchungen schon gezeigt haben, wie zentral für Nietzsches Denken der Begriff des Gleichgewichts ist. Denn letztlich geht es in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner auch um ein Gleichgewicht, welches wieder hergestellt werden muss – und sei es durch das Erleiden von Schmerzen auf Seiten des Schuldners, der den Vertrag nicht einhalten kann. Oder durch eine Bestrafung, ursprünglich direkt und persönlich, später durch den Staat. Auch dabei ist das Gleichgewicht das Ziel. Die Annahme eines synallagmatischen Verhältnisses dagegen kann im Hinblick auf die Option der Schmerzzufügung nicht überzeugen, auch wenn dieses als „subsidiäres Synallagma“ beschrieben ist90, da bei dem letztlich erstrebten Ausbalancieren eines Gleichgewichts zwischen den Parteien in 88 89 90
Bung, S. 124. Vgl. oben C. III. 2. Vgl. Bung, S. 124.
164
D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
Bezug auf die Abzahlung in Schmerzen die charakteristische Gegenseitigkeit fehlt. Für das Verständnis von Nietzsches Überlegungen zum Strafen ist die zweite Variante entscheidend, bei der nicht im Rahmen eines zivilrechtlichen Vertragsschlusses eine besondere Verpfändung oder Vertragsstrafe vereinbart wird, sondern bei der aus dem Aufeinandertreffen von Schädiger und Geschädigtem, von Täter und Opfer eine Beziehung entsteht, die in dem Streben nach Ausgleich als inter partes beschrieben werden kann. Nietzsche spricht hier von einer obligationenrechtlichen Sphäre, der auch der Begriff der Schuld entstammt. „In dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt ‚Schuld‘, ‚Gewissen‘, ‚Pflicht‘, ‚Heiligkeit der Pflicht‘ ihren Entstehungsheerd, – ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden.“91
Diese Analyse Nietzsches weist tief in die Vergangenheit und zu den Urformen menschlicher Interaktion. Und damit begreift er das Strafen ganz anders, als das die heutigen Strafrechtswissenschaften tun, die den Anknüpfungspunkt in der Schuld des Täters finden, der seinem freien Willen nach auch anders hätte handeln können. Nietzsche entwickelt sein Verständnis des Strafens aus der historisch-psychologischen Betrachtung der ursprünglichen Reaktion auf das Erleiden eines Schadens. Bung spricht von einer schonungslosen Psychologie. „Wir haben es hier nicht mit einem normativen Konzept, sondern mit einem Lehrstück in besonders schonungsloser Psychologie zu tun.“92
Und diese schonungslose Psychologie weist auf das besondere Verhältnis des Geschädigten zu seinem Schädiger hin. Die Möglichkeit der Schmerzzufügung legt dabei letztlich das Bedürfnis des Einzelnen nach Vergeltung offen. Diese wird durch die Bestrafung vollzogen und bereitet dem Geschädigten ein Wohlgefühl durch das Leiden seines Schädigers. Bung bezeichnet diese Art der Vergeltung im Zusammenhang mit dem Wohlgefühl daran als Sadismus: „Hinter der Maske des Rechts und der Gerechtigkeit verbirgt sich insoweit nackter Sadismus, [. . .].“93
Der Begriff des Sadismus in heutiger Verwendung ist jedoch nicht ganz treffend. Die Freude am Auslassen von Macht ist nicht gleichzusetzen mit einer Lust am Quälen. Vielmehr geht es dem Geschädigten letztlich um die Wiederherstellung eines gestörten Machtgleichgewichts, die nicht anders er91 92 93
Nietzsche, GM II 6; KSA 5, S. 300. Bung, S. 124. Bung, S. 125.
II. Ursprung des Strafens in einer Zwei-Personen-Konflikt-Situation
165
reicht werden kann, als durch eine Herabsetzung des Schädigers in seiner Macht. Das persönliche Verhältnis zwischen Täter und Opfer charakterisiert für Nietzsche den Charakter des Strafens und des Strafrechts. Die Schuld leitet sich aus diesem Verhältnis ab und nicht aus der nur vermeintlich gegebenen Möglichkeit, anders handeln zu können. Und Nietzsche bezeichnet dieses Verhältnis auch als Personenverhältnis. „Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person.“94
Einzelne Personen treten sich in dieser Grundform der Interaktion gegenüber – und sie nehmen Maß. Denn in dieser Situation zieht für Nietzsche letztlich wieder der Wille zur Macht die Fäden. Und damit auch die gegenseitige Machtabschätzung, die sich schon in der Ursprungskonstellation von Recht und Gerechtigkeit als entscheidend erwiesen hat.95 Und der Mensch kann in Nietzsches Augen auch gar nicht anders. 5. Der Mensch als das abschätzende Tier Der Blick auf die Menschheitsgeschichte offenbart Nietzsche, dass die ersten Interaktionen auf der Basis der Möglichkeit des Versprechens dazu geführt haben, dass die Menschen Maß genommen haben. Der eigenen Möglichkeiten und auch der Möglichkeiten des Gegenübers. Der Mensch nicht nur als das Tier, das versprechen kann, sondern auch als das abschätzende Tier, kann gar nicht anders, als Maß zu nehmen. „[. . .] der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das ‚abschätzende Thier an sich‘. Kauf und Verkauf, sammt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgend welcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe [. . .] übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen.“96
Über die Grundformen der Beziehungen inter partes ist das Abschätzen und Maßnehmen für Nietzsche Teil der menschlichen Natur geworden. Vor 94 95 96
Nietzsche, GM II 8; KSA 5, S. 305 f. Vgl. oben B. und C. Nietzsche, GM II 8; KSA 5, S. 306.
166
D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
dem Hintergrund des Willens zur Macht ein zentraler Aspekt, weil es bei dem Maßnehmen auch immer um den Vergleich der Machtmöglichkeiten geht.97 Und dabei souffliert der Wille zur Macht auch immer die Option, das Gegenüber einfach zu überwältigen, sich nicht an das Versprechen zu halten, sich zu nehmen, was begehrt wird. Das uralte Abschätzen, das menschheitsgeschichtlich für Nietzsche noch älter ist, als die ersten Gesellschafts- oder gar Staatsformen, hat den Menschen auf dieses Abschätzen trainiert. Und der abschätzende Blick des Menschen, in Zwei-Personen-Konstellationen meist auf einen Austausch oder Ausgleich gerichtet, prägte nach Nietzsche die Menschheitsgeschichte nachhaltig. „Das Auge war nun einmal auf diese Perspektive eingestellt: und mit der plumpen Consequenz, die dem schwerbeweglichen [. . .] Denken der älteren Menschheit eigenthümlich ist, langte man alsbald bei der grossen Verallgemeinerung an ‚jedes Ding hat seinen Preis; Alles kann abgezahlt werden‘ – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der Gerechtigkeit, [. . .].“98
Und dieses Abschätzen in der Zwei-Personen-Konflikt-Situation des strafbaren Schädigens führt für Nietzsche zu dem ursprünglichen Impuls des Strafens als Ausgleich, als eine besondere Form des Abzahlens in Form der Strafe, zum Beispiel in Form von Schmerzen. Dabei ist für Nietzsche der Anknüpfungspunkt für die Strafe nicht die Schuld des Täters, sondern die Beziehung zwischen Opfer und Täter und damit ein ursprüngliches Zwei-Personen-Verhältnis, das unter dem Einfluss des Willens zur Macht zu einem Ausgleich des gestörten Gleichgewichts verhelfen soll. Unter Bezug auf die Herkunft dieses plumpen Ausgleichsdenkens erweist sich für Nietzsche das Strafen immer auch als Rückfall in eine letztlich auf einem Genuss am Überwältigen beruhende blutige und von Zorn und Wut geleitete Vergeltung. Der Mensch wurde nach Nietzsche auf das andauernde Abschätzen trainiert, geradezu konditioniert. Das Maßnehmen ist als Grundcharakteristikum des Menschen zu begreifen. Der Geschädigte erwartet einen Ausgleich für den ihm zugefügten Schaden. Aber der Geschädigte erwartet auch immer etwas mehr. Nietzsche bringt hier zumindest die Unlust über den erlittenen Schaden als Faktor ins Spiel, der bei der Berechnung des Ausgleichs zu berücksichtigen ist.99 Die Machtabschätzung aus Sicht des Opfers ergibt ein Ungleichgewicht durch die ihm zugefügte Schädigung. Das Machtgleichgewicht ist gestört 97 98 99
Vgl. dazu oben B. IV. 2. Nietzsche, GM II, 8; KSA 5, S. 306. Vgl. Nietzsche, GM II 6; KSA 5, S. 300.
II. Ursprung des Strafens in einer Zwei-Personen-Konflikt-Situation
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worden und der Verletzte verlangt nach Wiederherstellung – letztlich durch ein Herabstufen des Täters in seiner Macht. Aber das Abschätzen führt beim Strafen dazu, dass die Betonung in der Strafe immer auf der Superkompensation liegt. Es wird nicht nur der Schaden ausgeglichen, sondern darüber hinaus Vergeltung geübt. Der ursprüngliche Impuls dazu entspricht für Nietzsche dem Sinnen auf Rache durch den Geschädigten. 6. Die Rache hinter der Strafe Bei den gerade zitierten Passagen weist Nietzsche zunächst nur auf den Zorn als Beweggrund hinter dem Strafen hin, der in Grenzen gehalten werden muss.100 Dass der Impuls des Geschädigten auch der nach Rache ist, ist Nietzsche natürlich bewusst und er stellt im Rahmen seiner Betrachtungen der Äquivalenz zwischen Schaden und Schmerz fest, dass sich auch die Rache fragen lassen muss, wie die Schmerzufügung als Befriedigung der Rache dienen kann. „[. . .] und wer hier [bei der Ergründung der Schmerzzufügung als Gegengenuss für den Geschädigten] den Begriff der ‚Rache‘ plump dazwischen wirft, hat sich den Einblick eher noch verdeckt und verdunkelt, als leichter gemacht (– Rache selbst führt ja eben auf das gleiche Problem zurück: ‚wie kann Leiden-machen eine Genugthuung sein?‘).“101
Auf die Rache im Denken Nietzsches wurde oben bereits eingegangen.102 Die Rache ist für Nietzsche als erste Reaktion und als Rache der ersten Erbitterung in Zaum zu halten. Insoweit sind noch einmal seine Ausführungen zu einer letztlich hinter der Rache wirkenden Selbstverteidigung und damit letztlich der Selbsterhaltung in Erinnerung zu rufen. Nietzsche beschreibt die Rache als zweigeteilt. So als erste Reaktion auf eine Verletzung, die ihm reine Selbsterhaltung ist und mit der Geeignetheit im Rahmen der Erforderlichkeit der als Notwehrhandlung gerechtfertigten Handlung im Sinne des § 32 StGB korreliert. Die Rache zeigt sich aber auch als auf eine Wiederherstellung eines ursprünglichen Gleichgewichts gerichtete, von langer Hand geplante, Vergeltung. Und auch diese zweite Form der Rache lässt sich als Wiederherstellung eines erschütterten Machtgleichgewichts letztlich auf die Selbsterhaltung und damit auf das Wirken des Willens zur Macht zurückführen. 100 101 102
Vgl. Nietzsche, GM II 10; KSA 5, S. 308; GM II, 4; KSA 5, S. 298. Nietzsche, GM II 6; KSA 5, S. 301. Vgl. C. IV.
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D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
Der Schädiger hat durch die Schädigung gezeigt, dass er den Geschädigten nicht fürchtet – und der Geschädigte wird diese Herabstufung seiner Machtmöglichkeiten durch seine Rache wieder herstellen wollen. Die Schädigung wertet Nietzsche in der Zwei-Personen-Konstellation als Angriff gegen den Geschädigten. Wie gesehen spielt für Nietzsche das Abschätzen die zentrale Rolle, jedoch nicht nur bei der Ermittlung des zu fordernden Ausgleichs für die Schädigung, sondern schon in der Verletzungssituation der ursprünglichen Zwei-Personen-Konstellation als gegenseitige Machtabschätzung. Der Schädiger hätte den Geschädigten nicht angegriffen, wenn er sich den Angriff nicht zugetraut hätte, wenn er die Machtmöglichkeiten des Geschädigten höher als seine eigenen eingestuft hätte. Durch den Angriff zeigt er, dass er den Geschädigten als nicht gleich mächtig eingestuft hat und ihn nicht fürchtet. Den Geschädigten treibt sein Verlangen nach Rache in den Augen Nietzsches daher an, weil er diese Machteinschätzung so nicht stehen lassen kann und sich schon aus Wiederherstellungsgründen gegen eine derartige Herabstufung wehren muss. Der Geschädigte muss seine Rache aber nicht notwendigerweise selbst verfolgen. Nietzsche sieht diesen Aspekt auch dann als prägend, wenn sich der Geschädigte an die Gerichte wendet, da er auch dann letztlich seine private Rache, seine persönliche Genugtuung verfolgt. „Jedermann wird sich rächen, er sei denn ehrlos oder voll Verachtung oder voll Liebe gegen den Schädiger und Beleidiger. Auch wenn er sich an die Gerichte wendet, so will er die Rache als private Person: nebenbei aber noch, als weiterdenkender vorsorglicher Mensch der Gesellschaft, die Rache der Gesellschaft an Einem, der sie nicht ehrt. So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre wiederhergestellt: das heißt – Strafe ist Rache.“103
Auf den Aspekt der Rache der Gesellschaft durch das Strafen wird nachfolgend noch einzugehen sein. Nietzsche betont in seinen Ausführungen den persönlichen Aspekt des Verlangens nach Vergeltung und nach Strafverfolgung. Der Geschädigte betreibt aus der Beziehung der Zwei-PersonenKonflikt-Situation heraus eine Wiederherstellung seiner angegriffenen Position. Dabei kann ihm der bloße Ausgleich des erlittenen Schadens nicht genügen. Vielmehr verlangt es ihn nach Superkompensation, die eine ganz private Verletzung ausgleichen soll. Und vor allem eine ganz private Herabstufung des Geschädigten in seiner Machtposition durch den angreifenden Schädiger. 103
Nietzsche, MA II 33; KSA 2, S. 567.
III. Der Gesetzesbrecher als Vertragsbrüchiger
169
Nietzsche stuft die Rache als an den Machtmöglichkeiten gemessene Fähigkeit zur Gegenwehr ein. Dies zeigt sich an anderer Stelle, an der er über den Umgang mit Tieren schreibt. Zwar schreibt Nietzsche an anderer Stelle, dass Tiere keine Rechte gegen uns haben, da sie keine Verträge schließen können, was seiner Rechtskonzeption entspricht: „Rechte der Thiere gegen uns giebt es nicht, weil diese sich nicht zu gleichwiegenden Mächten zu organisieren verstehen und keine Verträge schliessen können.“104
Aber dennoch machen sich für ihn Menschen verdächtig, die roh mit Tieren umgehen, auch mit schwächeren Menschen in ähnlicher Weise zu verfahren. Und dabei definiert Nietzsche die Schwäche als Unfähigkeit zur Rache: „Zudem erweckt der, welcher roh gegen Thiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein; [. . .].“105
Damit wird noch einmal deutlich, welche Funktion Nietzsche der Rache grundsätzlich beimisst. Der in seinen Machtmöglichkeiten niedriger eingeschätzte Geschädigte will dem Schädiger zeigen, dass seine Einschätzung nicht richtig war, oder zum Zeitpunkt der Rache nicht mehr richtig ist. Es geht Nietzsche auch an diesem Punkt letztlich um ein Gleichgewicht der Egoismen bzw. der sich gegenüberstehenden Machtmöglichkeiten und Willen. Und der Geschädigte strebt einen Ausgleich des gestörten Gleichgewichts durch Vergeltung an. Die Möglichkeit zur Rache ist die Drohung mit dem Gegenschlag als Selbstverteidigung, die sich aus dem dauerhaften Trieb zur Selbsterhaltung speist. In der durch den Geschädigten gerichtlich gesuchten Bestrafung verfolgt dieser seine ganz persönliche Rache. In diesem Sinne ist Strafe für Nietzsche Rache. Immer. Und immer persönlich. Aber auch die Gesellschaft nimmt Rache an dem Gesetzesbrecher dafür, dass er der Gesellschaft, in der er lebt, nicht die gebotene Ehre erwiesen hat. Auch in diesem Sinne bedeutet die Strafe durch den Staat für Nietzsche nichts anderes als Rache.
III. Der Gesetzesbrecher als Vertragsbrüchiger Wie gerade dargestellt führt Nietzsche den Begriff der Schuld und das Verlangen nach Strafe auf die ursprüngliche Zwei-Personen-Konflikt-Situa104 105
Nietzsche, KSA 14, S. 188. Nietzsche, MA II 57; KSA 2, S. 578.
170
D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
tion zwischen Geschädigtem und Schädiger zurück, welche letztlich wie die Grundformen gegenseitiger Verträge funktioniert. Die gegenseitige Machtabschätzung regiert die Zwei-Personen-Konflikt-Situation zwischen Täter und Opfer sowohl im Moment der Verletzung als auch danach im Bestreben des Opfers nach Ausgleich. Und der Wille zur Macht lenkt die gegenseitige Machtabschätzung. Nietzsche macht aber noch ein anderes Vertragsverhältnis im Bereich des Strafens aus, indem er den Gesetzesbrecher als Vertragsbrüchigen gegen die Gesellschaft und ihre Ordnung beschreibt. Nietzsche begreift die Entwicklung der Menschheitsgeschichte aus einem Naturzustand des Krieges aller gegen alle hin zu immer zivilisierteren Gesellschaftsformen. Dabei gilt ihm die erste Staatsgründung weniger als Vertrag, denn als Überwältigung und Eroberung von Schwächeren. In der weiteren Entwicklung aber ändert sich das, indem auch in dem Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern letztlich ein Vertragsschluss über die Mitgliedschaft in der Gesellschaft besteht. Denn für Nietzsche ist jegliches Recht nicht ohne einen Vertrag denkbar. Nietzsche versucht, das von ihm ausgemachte Herkommen in die aktuellen Zeiten und Strukturen einzubeziehen. „Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist): so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern.“106
In heutigen Worten ausgedrückt könnte man sagen, dass der Mensch in Nietzsches Augen irgendwann einmal einen Deal gemacht hat. Er hat auf Rechte verzichtet, so auf die persönlich vorgenommene Rache. Er hat viele Gewaltmöglichkeiten abgegeben, um in den Genuss der Vorteile der Gemeinschaft zu kommen. „Man lebt in einem Gemeinwesen, man geniesst die Vortheile eines Gemeinwesens [. . .], man wohnt geschützt, geschont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in Hinsicht auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen der Mensch ausserhalb, der ‚Friedlose‘, ausgesetzt ist [. . .].“107
Aus diesem Deal leitet die Gemeinschaft jedoch ebenfalls Rechte ab. Denn das Mitglied der Gemeinschaft muss sich an die Spielregeln halten. Tut es dies nicht, hält es seinen Teil des Deals nicht ein. Und das gilt insbesondere für den Straftäter. Dabei ist der konkret angerichtete Schaden nur ein Teil der begangenen Verletzung. 106 107
Nietzsche, GM II 9; KSA 5, S. 307. Ebd.
III. Der Gesetzesbrecher als Vertragsbrüchiger
171
„Es handelt sich hier am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet hat: von ihm noch abgesehn, ist der Verbrecher vor allem ein ‚Brecher‘, ein Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in Bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Antheil gehabt hat.“108
Der Straftäter wird von der Gemeinschaft als Verräter empfunden, der sich zunächst auf den Deal eingelassen hat, Vorteile genutzt hat, und diese dann jedoch nicht zu schätzen wusste, sondern aus dem Deal ausgebrochen ist. Nietzsche attestiert nicht nur den Vertragsbruch, sondern geht noch einmal auf das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner ein. „Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vortheile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift: daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vortheile verlustig, – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, was es mit diesen Gütern auf sich hat.“109
Zwar unterscheidet Nietzsche hierbei nicht zwischen der Schwere der Strafen, so dass er eigentlich nicht mit dieser Absolutheit davon ausgehen kann, dass jede Strafe auch zu einem vollständigen Verlust der durch die Gemeinschaft gewährten Vorteile führt, auf Teile des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung angewandt, greift Nietzsches Feststellung allerdings voll durch. So kann die Verhaftung, die Untersuchungshaft und auch die Strafhaft als Verlust des Vorteils der Freizügigkeit, der Unverletzlichkeit der Wohnung, der freien Berufsausübung und der allgemeinen Handlungsfreiheit beschrieben werden. Und dabei kommt es nicht darauf an, wie lange die Haft dauert, da in der Zeit der Haft die von der Gesellschaft garantierten Grundrechte ausgesetzt werden. Nietzsche setzt dann die obige Passage fort und beschreibt den Zorn der Gesellschaft. „Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustand wieder zurück, vor dem er bisher behütet war: es stösst ihn von sich, – und nun darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen. Die Strafe ist auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der Mimus des normalen Verhaltens gegen den gehassten, wehrlos gemachten, niedergeworfnen Feind, der nicht nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist; [. . .].“110
Den Zorn als erste Reaktion auf eine Schädigung setzt Nietzsche mit der Rache gleich. Strafe gilt Nietzsche als Rache, wobei die Strafe gerade in 108 109 110
Ebd. Ebd. Nietzsche, GM II 9; KSA 5, S. 307 f.
172
D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
Bezug auf das Vertragsverhältnis zwischen dem Mitglied der Gesellschaft und der Gesellschaft als Ganzem eine Besonderheit aufweist. Wie bereits gezeigt, unterscheidet Nietzsche bei der Rache zwei Aspekte, den der ersten Reaktion, die er als bloße Selbstverteidigung und damit letztlich als Selbsterhaltung begreift, und das längerfristige Sinnen auf Rache als Verlangen nach einer Wiederherstellung des Gleichgewichts vor Eintritt der Schädigung.111 In der Strafe, die durch die Gesellschaft, durch die Gerichte vollzogen wird, sieht er diese beiden Aspekte in Bezug auf das Vertragsverhältnis zwischen Gesellschaft und Bürger vereint. Die Wiederherstellung des vormaligen Gleichgewichts beschreibt Nietzsche als die Wiederherstellung der Ehre, mithin der Gesellschaftsehre. Aber die Gesellschaft agiert mit der Bestrafung auch mit Blick auf ihre eigene Selbsterhaltung. „So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre wiederhergestellt: das heisst – Strafe ist Rache. – Es giebt in ihr unzweifelhaft auch noch jenes andere, zuerst beschriebene Element der Rache, insofern durch sie die Gesellschaft ihrer Selbst-Erhaltung dient und der Nothwehr halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe will das weitere Schädigen verhüten, sie will abschrecken. Auf diese Weise sind wirklich in der Strafe beide so verschiedenen Elemente der Rache verknüpft, [. . .].“112
Die Gesellschaft straft den Verbrecher als Vertragsbrüchigen aus beiden Gründen, zum einen zur Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichts, zum anderen als Akt der Selbsterhaltung. Aus diesem Hintergrund des Ursprungs des Strafens kann Nietzsche schlussfolgern, dass die Härte der Strafen in einer Beziehung zur Stabilität und Stärke der jeweiligen strafenden Gesellschaft stehen. Nietzsche erwähnt im Zusammenhang mit der Schmerzzufügung als Erinnerungstechnik, dass die Härte der Strafen von dem Grad des Gedächtnisses der Menschen abhängt, also letztlich vom Fortschritt der bisherigen Disziplinierung. „Je schlechter die Menschheit ‚bei Gedächtniss‘ war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen Maassstab dafür ab, wie viel Mühe sie hatte, gegen die Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen [. . .].“113
Wenn aber das Verhältnis zwischen Bürger und Staat als Vertragsverhältnis begriffen wird und das Strafen auch als Akt der Rache in dem Sinne, 111 112 113
Vgl. D. II. 6. Nietzsche, MA II 33; KSA 2, S. 567. Nietzsche, GM II 3; KSA 5, S. 296.
III. Der Gesetzesbrecher als Vertragsbrüchiger
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eine erlittene Schädigung auszugleichen, einen Zustand wiederherzustellen, der vor der Schädigung bestanden hat, dann kann Nietzsche den Faktor der Machtmöglichkeiten auch auf die Gesellschaft und ihr Verhältnis zu ihren Mitgliedern anwenden. Nietzsche begreift das Strafrecht als „soziale Ausprägung des Machtverhältnisses zwischen dem Gemeinwesen und dem Einzelnen“.114 Wie gesehen findet auch im Vorfeld einer Schädigung ein Maßnehmen der Mächte statt, der Mensch kann nach Nietzsche gar nicht anders. So findet dieses Maßnehmen zwischen Täter und Opfer statt. Aber findet es nicht auch zwischen Täter und Gesellschaft statt? Wenn sich der Straftäter gegen die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen entscheidet, dann auch vor dem Hintergrund, dass er seine Machtmöglichkeiten und die des Staates abgeschätzt hat. Und wenn diese Abschätzung nur darin bestand, dass er davon ausgeht, der Staat werde ihn bei seinem Handeln nicht ertappen. Bezüglich des Verhältnisses des Individuums zur Gesellschaft werden die Erscheinungsformen von Strafe und Verbrechen zu Indikatoren. Und der Verbrecher ist ein Ausbrecher aus dem Korsett der Konformität. „Im Akt des Verbrechens, so lässt sich Nietzsche verstehen, tritt der historische Stand der Vergesellschaftung individueller Subjektivität zutage, aber in einem immanent kritischen Sinn: das konform gestellte Subjekt bezeugt sich und der Sozialität ein nicht restlos vereinnahmtes und zu vereinnahmendes Potential autonomen Willens in sozial transformierter Gestalt, das verzerrt und schuldgerüttelt, wenngleich noch mit der zerstörerischen Gewalt des ‚Willens zur Macht‘, aufscheint.“115
Das erklärt auch, warum Nietzsche sich immer wieder von dem Verbrechen und dem Verbrecher fasziniert gezeigt hat und zum Beispiel in der Strafzumessung seine Perspektive einnimmt. Der Verbrecher ist immer auch ein unangepasstes Individuum, das Nietzsche in dieser Rolle Respekt abnötigt. Und dabei muss die zugrundeliegende Machtabschätzung keine bewusste gewesen sein. Der Verbrecher als Ausbrecher wurde alleine vom Willen zur Macht zu einer Aufbäumung gegen die Gleichheit bewogen. Aber Nietzsche macht noch eine weitere Machtabschätzung aus. Denn straft die Gesellschaft auch unter dem Aspekt der Selbsterhaltung und gleichzeitig mit Blick auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichts, so wird ihre Macht zu einem Faktor im Strafverfahren. 114
Vgl. Henry Kerger, in: Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, S. 333. 115 Knut Engelhardt, Die Transformation des Willens zur Macht, ARSP 1985, S. 501.
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D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
„Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder an’s Licht.“116
Nietzsche eröffnet hier den Zusammenhang zwischen Stärke und Selbstbewusstsein der Gesellschaft und der Härte des Strafrechts. Die starke und sich ihrer selbst sichere Gesellschaft hat im Hinblick auf ihre Selbsterhaltung das geringere Bedürfnis, hart zu strafen, stark abzuschrecken, überschießend auf Wiederherstellung des vor Schädigung bestehenden Zustandes zu bestehen. Sie kann sich in Nietzsches Augen angesichts ihrer Stärke und ihrer Macht mehr Nachsicht und Gnade leisten. Eine starke Gesellschaft hält mehr aus. „Der ‚Gläubiger‘ ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selbst das Maass seines Reichthums, wie viel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden.“117
An diesen Maßstab anknüpfend entwirft Nietzsche eine an die Stärke der Gesellschaft geknüpfte Utopie der umfassenden Gnade. „Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt,- ihre Schädiger straflos zu lassen. ‚Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!‘ [. . .].“118
Nietzsche macht den Erweis von Mitleid und damit verbundener Nachsicht auch an anderer Stelle von der Stärke und Macht abhängig. Es bedarf nach seiner Konzeption eines gewissen Machtreichtums, um Macht verschenken zu können. Der Gnädige muss sich die Gnade leisten können – und das kann er nach Nietzsche nur, wenn er dadurch seine Machtposition nicht gefährdet, sondern noch genug Macht übrig hat. „Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der der schenken und abgeben möchte: – auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt.“119
Am Ende der oben zitierten Ausführungen zum Luxus der Straflosigkeit schließt Nietzsche den großen Kreis hin zu seinem Gerechtigkeitsverständnis, indem er die Gerechtigkeit, die davon ausgeht, dass alles abzahlbar ist, sich als Gnadenerweis selbst aufheben lässt. 116 117 118 119
Nietzsche, GM II 10; KSA 5, S. 308 f. Nietzsche, GM II 10; KSA 5, S. 309. Ebd. Nietzsche, JGB IX 260; KSA 5, S. 209 f.
III. Der Gesetzesbrecher als Vertragsbrüchiger
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„Die Gerechtigkeit, welche damit anhob ‚Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt werden‘, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts.“120
Und diese Selbstaufhebung ist für Nietzsche im Bereich des Strafens auch die einzige mögliche „Verwirklichung“ der Gerechtigkeit, da seine Lehre von der vollkommenen Unverantwortlichkeit ein Strafen grundsätzlich ungerecht erscheinen lässt und alle entsprechenden Versuche nur zum Scheitern verurteilt sein können. „Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht, dass man Jedem das Seine giebt.“121
Gerechtigkeit ist bei Nietzsches hohem Anspruch des suum cuique im Bereich des Strafens nicht möglich. „Weder Strafe noch Lohn sind Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch auf sie zu erheben hätte.“122
Denn letztlich sind es immer zielgerichtete und letztlich perspektivische und egoistische Motive, die den Staat und die Gesellschaft weiterhin strafen lassen. Und Nietzsche macht auch eine treibende Kraft hinter der Forderung nach harten Strafen aus, indem er eine griechische Polis als Beispiel eines aristokratischen Gemeinwesens heranzieht. „Sie [die aristokratische Moral] thut es [das Züchten von bestimmten sich aus dem Überleben definierenden Tugenden] mit Härte, ja sie will die Härte; jede aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse von Alt und Jung, in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden in’s Auge fassen): [. . .].“123
Wie bereits ausgeführt, sind die mit dem Strafen verbundenen Zwecke willkürlich und an Nützlichkeiten ausgerichtet. Eine solche kann zum Beispiel der Selbsterhalt und damit letztlich der Wille zur Macht einer herrschenden Machtelite sein. Die Möglichkeit eines gerechten Strafens ist für Nietzsche vor diesem Hintergrund gar nicht möglich. Aber er bleibt nicht bei der Anprangerung 120 121 122 123
Nietzsche, GM II 10; KSA 5, S. 309. Nietzsche, MA I 105; KSA 2, S. 102. Ebd. Nietzsche, JGB IX 262; KSA 5, S. 215.
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D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
und der Aufdeckung stehen. Und auch wenn Nietzsche die Radikalität seiner Lehre der völligen Unverantwortlichkeit durchaus bewusst ist, finden sich über sein Werk verstreut doch einige Ansatzpunkte für praktische Überlegungen, die nicht gleich eine Straffreiheit für alle verlangen. So findet sich im Nachlass der bereits zitierte Aphorismus, in dem Nietzsche vorschlägt, Richter durch Lehrer zu ersetzen. „Lehrer an Stelle der Richter. – Wider die strafende Gerechtigkeit. An deren Stelle kann nur die belehrende treten (welche die Vernunft verbessert und die Gewohnheiten eben dadurch – das Motiv-schaffende!).“124
Und eine wie von ihm geschilderte, starke Gesellschaft könnte sich diese Ablösung strafender Richter leisten. Die Generalprävention missbraucht in Nietzsches Augen den Verurteilten als Mittel zum Zweck der Abschreckung. Und aus spezialpräventiven Gesichtspunkten ist auch im modernen Strafrecht die Lehre, die die Strafe dem Verurteilten erteilen soll, das beherrschende Moment. Für Nietzsche kann es eine strafende Gerechtigkeit überhaupt nicht geben. Die Strafe härtet eher ab und verschärft die Entfremdung von der Gesellschaft. Eine ernsthaft angestrebte Resozialisierung könnte sich demnach gerade auf Nietzsche berufen und in der „Strafe“ eine belehrende Gerechtigkeit anstreben. Und das gesamte Strafverfahren ist auch für diejenigen keine erhebende Erscheinung die nicht vor Gericht stehen. Es zwingt die Gesellschaft vielmehr auf frühere Stufen der Kultur zurück. Abschließend sei dieses vernichtende Urteil Nietzsches über das Strafverfahren in Gänze zitiert: „Zurückbildend. – Alle Verbrecher zwingen die Gesellschaft auf frühere Stufen der Cultur zurück, als die ist, auf welcher sie gerade steht: sie wirken zurückbildend. Man denke an die Werkzeuge, welche die Gesellschaft der Nothwehr halber sich schaffen und unterhalten muss: an den verschmitzten Polizisten, den Gefängnisswärter, den Henker; man vergesse den öffentlichen Ankläger und den Advocaten nicht; endlich frage man sich, ob nicht der Richter selber und die Strafe und das ganze Gerichtsverfahren in ihrer Wirkung auf die Nicht-Verbrecher viel eher niederdrückende, als erhebende Erscheinungen sind; es wird eben nie gelingen, der Nothwehr und der Rache das Gewand der Unschuld umzulegen; und so oft man den Menschen als Mittel zum Zwecke der Gesellschaft benutzt und opfert, trauert alle höhere Menschlichkeit darüber.“125
124 125
Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Juli–August 1879, KSA 8, S. 606. Nietzsche, MA II 2. 186; KSA 2, S. 633.
IV. Schonung als Praxis der Gerechtigkeit
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IV. Schonung als Praxis der Gerechtigkeit Das Strafen ist für Nietzsche eine in die archaische Vergangenheit weisende Prozedur, die mit seiner Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit nicht vereinbar ist. Das Strafen zwingt die Gesellschaft auf frühere Entwicklungsstufen zurück. Und letztlich kann Nietzsche konsequenterweise nur die Abschaffung des Strafens fordern. Im Zusammenhang mit der Unmessbarkeit der Schmerzempfindlichkeit des Verbrechers und dem Fragezeichen dahingehend, wie dann überhaupt die Strafe proportional zur Größe des Verbrechens weh tun kann, fordert Nietzsche die Abschaffung des Strafens: „Aber, in Anbetracht, daß es nicht leicht gelingen möchte, bei einem Verbrecher die Grad-Skala seiner Lust und Unlust festzustellen, so würde man in praxi wohl auf das Strafen verzichten müssen? Welche Einbuße! Nicht wahr?“126
Und dass Nietzsche den Ausruf „Welche Einbuße!“ ironisch meint, dürfte nach dem Vorangegangenen eindeutig sein. Und Nietzsche spricht dem Menschen das Recht zur Strafe ab. „Zu allerletzt: wenn die Uebelthäter wirklich gewusst hätten, was sie thaten, – so würden wir doch nur dann ein Recht zur Vergebung haben, wenn wir ein Recht zur Beschuldigung und Strafe hätten. Diess aber haben wir nicht.“127
Seine Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit hält er für geeignet, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben.128 Und aus Angst vor den Folgen, flüchten sich die Menschen in seinen Augen wieder zurück aus dem Licht der Erkenntnis der Unverantwortlichkeit in den Schatten der Unwahrheit.129 Nietzsche ist die Schwierigkeit des Abschaffens von Strafe durchaus bewusst. Und dennoch gilt ihm das Strafen letztlich immer als Gewaltakt, dessen Aufgabe er fordert. „Abschaffung der ‚Strafe‘. Der ‚Ausgleich‘ an Stelle aller Gewaltmittel.“130
Der an dieser Stelle aus dem Nachlass geforderte Ausgleich an Stelle des Strafens behält letztlich doch ein verletztes Gleichgewicht im Blick. Auf die Schonung kommt es Nietzsche ganz besonders an. Petersen spricht hier von einem für Nietzsche wesentlichen Begriff, der die innere Mitte des Gerechtigkeitsverständnisses von Nietzsche berührt.131 126 127 128 129 130
S. 93.
Nietzsche, WM 743., S. 500. Nietzsche, MA II 2, 68; KSA 2, S. 582. Vgl. Nietzsche, MA II WS 81; KSA 2, S. 588. Vgl. Nietzsche, MA I 39; KSA 2, S. 64. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente November 1887–März 1888, KSA 13,
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D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
Doch zunächst sei noch auf einen anderen Passus bei Nietzsche hingewiesen, in dem er sehr konkrete Anhaltspunkte für einen Ausgleich statt einer Bestrafung skizziert: „[. . .] soll man Nichts verabsäumen, um vor allem dem Verbrecher den guten Muth und die Freiheit des Gemüthes wieder zu geben; man soll Gewissensbisse wie eine Sache der Unreinlichkeit ihm von der Seele wischen und ihm Fingerzeige geben, wie er den Schaden, welchen er vielleicht an dem Einen geübt, durch eine Wohlthat am Anderen, ja vielleicht an der Gesammtheit ausgleichen und überbieten könne. Alles in äusserster Schonung! Und namentlich in Anonymität oder unter neuem Namen und mit häufigerem Ortswechsel, damit die Unbescholtenheit des Rufes und sein künftiges Leben so wenig wie möglich dabei Gefahr laufe.“132
Und wieder führt Nietzsche die Schonung ins Feld. Daneben gibt er allerdings sehr konkrete Vorschläge für eine Anleitung des Verbrechers, wie er den von ihm verursachten Schaden ausgleichen kann, indem er den Geschädigten direkt entschädigt, alternativ oder kumulativ auch an der gesamten Gesellschaft einen Ausgleich vornimmt. Den angesprochenen „Fingerzeig“ an den Verbrecher sieht Nietzsche an anderer Stelle als Belehrung statt Bestrafung überhaupt als Ablösung der Strafe, wenn er „Lehrer an Stelle der Richter“ setzen will.133 Nietzsche stellt sich die Belehrung als möglichen Ausweg vor, um auf die Bestrafung verzichten zu können. Eine solche müsste Hand in Hand mit einem Ausgleich des entstandenen Schadens gehen. Diese belehrende Schonung korrespondiert mit Nietzsches Vorstellung einer schonenden Gerechtigkeit. Einer Gerechtigkeit, die wohlwollend auf das zu beurteilende Objekt blickt, die hart gegen sich selbst ist, nachsichtig aber gegen andere. Und die vor dem Hintergrund des Ideals des suum cuique eine „Strafe“ nach dem Täter und nicht nach der Gesellschaft bemessen müsste. Doch letztlich fordert die Gerechtigkeit den Freispruch von jedermann: „Ich mag eure kalte Gerechtigkeit nicht; und aus dem Auge eurer Richter blickt mir immer der Henker und sein kaltes Eisen. Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist? [. . .] So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die Jeden freispricht, ausgenommen den Richtenden!“134
131 132 133 134
Vgl. Petersen, S. 146. Nietzsche, M 202; KSA 3, S. 177. Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Juli–August 1879, KSA 8, S. 606. Nietzsche, Z, Vom Biss der Natter, KSA 4, S. 88.
IV. Schonung als Praxis der Gerechtigkeit
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Die Gerechtigkeit fordert das genaue Hinsehen, nicht die Blindheit. Und sie fordert ein umfassendes Verständnis, gewonnen aus zahlreichen eingenommenen Perspektiven, geformt durch ein liebevolles Begreifen: „So arbeitete ich damals an jener Verfeinerung der Moral, welche ‚Lohn‘ und ‚Strafe‘ bereits als ‚unmoralisch‘ empfindet und den Begriff ‚Gerechtigkeit‘ nicht mehr zu fassen weiß als ‚liebevolles Begreifen‘, im Grunde ‚Gutheißen‘.“135
Die Gerechtigkeit ist mit Nietzsche ein nachsichtiges Urteil, ein mit Wohlwollen getroffenes Urteil, das er zu einem Gutheißen überspitzt. Yang sieht darin einen Entwicklungsprozess, den er mit dem Gerechtigkeitssuchenden verknüpft und dessen subjektiver Entwicklung, die ihn letztlich zu einer Nachsicht und Schonung in seinem Urteilen führt: „Entstanden von dem fast zwanghaften auf Selbsterhaltung fußenden Vertrag, geschliffen mit der an- und übergreifenden Aktivität, viele bisher unbetretene Gegenden und unvorgestellte Gegner besucht und ein-, bzw. abschätzend unterworfen und organisierend bekämpft, wendet sich der Gerechtigkeitssuchende zu guter letzt dem liebevollen Begreifen, Gutheißen und der Schonung zu.“136
Und diese Schonung ist auch ein Davonkommenlassen in Bezug auf den Straftäter. Wie schon angesprochen kann sich Nietzsche im Zusammenhang mit einem entsprechend starken Gemeinwesen eine Gesellschaft vorstellen, die so stark ist, dass sie ihren Schädiger, den Verbrecher als Vertragsbrüchigen, straflos lassen kann.137 Denn die Schonung ist für Nietzsche die praktische Umsetzung der Gerechtigkeit: „Schonung ist die Praxis der Gerechtigkeit: vieles sehen, aber nicht bemerken wollen, vieles ertragen, aber, um des allgemeinen Friedens willen, freudig dazu sehen – [. . .].“138
Diese Schonung, die auch einmal über etwas hinwegsieht, obwohl sie es sieht, die auf einen Ausgleich verzichtet, obwohl sie dazu berechtigt wäre, beschreibt Nietzsche auch als Billigkeit, die sich bei ihm als Fortbildung der Gerechtigkeit darstellt. Der billige Mensch verzichtet mit Gespür für die Machtbalance auf etwas, das ihm eigentlich zusteht.139 Im Hinblick auf die gegenseitige Machtabschätzung muss allerdings noch dazu gesagt werden, dass der Schonende sich die Schonung auch leisten können muss.
135
Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885–Frühjahr 1886, KSA 12,
S. 13. 136 137 138 139
Yang, S. 68. Vgl. Nietzsche, GM II 10; KSA 5, S. 309. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Ende 1880, KSA 9, S. 323. Vgl. Nietzsche, M 112; KSA 3, S. 102.
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D. Ursprung der Strafe in einer Machtabschätzung und die Folgen
Und wo die Schonung die Praxis der Gerechtigkeit ist, da ist dieser Verzicht auf den berechtigten Anspruch auf Ausgleich und die berechtigte Strafe die Überschreitung der Gerechtigkeit – als Gnade. „Die Gerechtigkeit, welche damit anhob ‚Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt werden‘, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts.“140
Wenn die Schonung und das wohlwollende Urteilen für Nietzsche die Praxis der Gerechtigkeit sind, und auf der Grundlage eines ungefähren Machtgleichgewichts ein gerechter Austausch möglich wird, der sich an der Wünschbarkeit des suum cuique orientiert, dann ist die Gnade die Überwindung der Gerechtigkeit selbst – als ihre Selbstüberwindung.
140
Nietzsche, GM II 10; KSA 5, S. 309.
E. Schlussbetrachtung Die vorliegende Arbeit hat den Versuch unternommen, den rechtsphilosophischen Gedanken Nietzsches in einer Betrachtung der von ihm entworfenen Ursprungssituationen von Recht und Gerechtigkeit näher zu kommen. In jüngster Zeit hat Nietzsche in der rechtsphilosophischen Rezeption eine Renaissance erfahren, wobei auch sein umfassendes vertragsrechtliches Denken sichtbarer wurde. So spricht Petersen das obligationenrechtliche Denken Nietzsches an, welches auch das Strafrecht entgegen der etablierten rechtstheoretischen Klassifizierung als Unterdisziplin des Vertragsrechts einordnet. Und Freitag begeistert sich in seinem Aufsatz für Nietzsches Betrachtung des verletzten Vertragsverhältnisses zwischen dem Straftäter und der strafenden Gesellschaft. Das neue Interesse der Rechtsphilosophie an Nietzsche steht erst am Anfang und hat eine Vielzahl interessanter Textstellen im Gesamtwerk Nietzsches noch nicht erschlossen. Dabei wird in der bisherigen Rezeption immer noch darüber gestritten, ob sich in Nietzsches Werk ein in sich geschlossenes Gedankengebäude zur Rechtsphilosophie ausmachen lässt, oder ob die versprengten Aphorismen nur vereinzelte Gedanken widerspiegeln. Für die Ursprungssituationen von Recht und Gerechtigkeit jedenfalls konnten die von Nietzsche ausgeführten Elemente auch über sein Werk hinweg immer wieder ausgemacht werden. Die vorliegende Arbeit hat sich um eine grundlegende Analyse der Ursprungssituationen von Recht, Gerechtigkeit und Strafe bemüht und die nach Nietzsche entscheidenden Vorgänge identifiziert. Die einschlägigen Aphorismen wurden zusammengestellt und umfangreich zitiert. Dabei ist die enge Arbeit am Primärtext als bewusstes Programm zu verstehen. Dabei wurde die gegenseitige Machtabschätzung als das bestimmende Element in der Rechtsentstehung eingehend untersucht. Insbesondere war die von Nietzsche dargestellte Zwei-Personen-Konflikt-Situation als kämpferische Situation aufeinanderprallender Willen ernst zu nehmen, um seine Gedanken hinsichtlich der gegenseitigen Machtabschätzung einordnen zu können. Die Klugheit der Selbsterhaltung rät von einem offenen Kampf ab – auf Grundlage der Überlegung, dass sich bei ungefährer Gleichheit der Machtmöglichkeiten ein Kampf nicht lohnt. Dabei dirigiert der Wille zur Macht sowohl die Selbsterhaltung als auch die gegenseitige Machtabschätzung.
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E. Schlussbetrachtung
Der Rat zu Verhandlungen verbindet für Nietzsche die Ursprungssituationen des Rechts und der Gerechtigkeit. Die so aufgenommenen Verhandlungen tragen die Chance eines gerechten Austauschs in sich. Die Wahrnehmung des Gegenübers als Rechtssubjekt konnte als Moment erster Rechtsentstehung ausgemacht werden. Darüber hinaus wurde der von Nietzsche gezeichnete Weg des Menschen aus dem Naturzustand nachvollzogen. Das Recht als Vertrag tritt dabei noch nicht als Übergang aus dem Naturzustand auf, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt, in dem sich bereits organisierte Städte, Staaten oder Völker kriegerisch gegenüber standen. Das Recht ist für Nietzsche nichts anderes als von Parteien zuerkannte und gewährleistete Machtgrade, im Ergebnis also ein Vertrag. Ein Naturrecht ist Nietzsche vollkommen fremd. Das Recht als auf Kommunikation angewiesener Vorgang wird weitreichend dynamisiert und trägt für Nietzsche auch immer den Keim des Untergangs in sich – hängt es doch lediglich von der gegenseitigen Zusprechung von Machtgraden ab. Ein Naturrecht des Stärkeren ist aus Nietzsches Gedanken nicht abzuleiten. Er beschreibt zwar die jederzeit mögliche Überwältigung durch den Stärkeren in einer Konfliktsituation und auch die Aufstellung von Regeln durch diesen Eroberer – aber damit ist für ihn gerade noch keine Rechtsentstehung verbunden. Nietzsche spricht so errichteten Gesetzen den Rechtscharakter ab. Die gewonnenen Erkenntnisse aus den von Nietzsche dargestellten Ursprungssituationen wurden im letzten Kapitel auf das Strafen angewandt. Nach Darstellung der wichtigsten Thesen Nietzsches zum Strafen, die in eine totale Ablehnung des Strafens münden, wurde die gegenseitige Machtabschätzung als den Menschen charakterisierende Eigenschaft in die ursprüngliche Situation des Verletzens und des daraus geborenen Verlangens nach Vergeltung transportiert. Es scheint wieder die Machtabschätzung auf, zwischen Täter und Opfer, aber auch im Rahmen der Rache als versuchter Wiederherstellung eines ursprünglichen Gleichgewichts. Die Nähe von Rache und Gerechtigkeit konnte ausgemacht werden, um letztlich doch mit Nietzsche den Abschied von der Rache im Namen der Gerechtigkeit festzuhalten. Daneben folgt Nietzsche konsequent seinem vertragsrechtlichen Denken und sieht ein Vertragsverhältnis verletzt, wenn ein Täter sich mit seiner Straftat nicht an die gesellschaftlichen Regeln hält. Auch in diesem Vertragsverhältnis zwischen Straftäter und strafender Gesellschaft konnte die gegenseitige Machtabschätzung ausgemacht werden. So setzt Nietzsche die
E. Schlussbetrachtung
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Härte der Strafen in Bezug zur Stabilität und dem Selbstbewusstsein der strafenden Gesellschaft. Die Rechtsphilosophie Nietzsches ist ohne den Vorgang der gegenseitigen Machtabschätzung undenkbar, auch sein vertragsrechtliches Denken aus der Grundkonstellation der Zwei-Personen-Konflikt-Situation sollte die Berücksichtigung finden, die Nietzsche dieser beigemessen hat. Und so sollte der Abschied von dem scheinbar naheliegenden Gedanken, aus dem Willen zur Macht auf ein Naturrecht des Stärkeren zu schließen, leicht fallen und den Weg in die juristischen Lehrbücher der Rechtsphilosophie finden. Denn Nietzsches Gedanken zum Recht, zur Gerechtigkeit und zum Strafen erweisen sich als weitaus fruchtbarer.
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