Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus 9783110875348, 3110129078, 9783110129076


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German Pages 305 [316] Year 1992

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Table of contents :
Vorwort
Umschrift und Datierung
Einleitung
A. Der begriffsgeschichtliche Begriff des Begriffs, der semasiologische und der onomasiologische Zugang, die Synchronie und die Diachronie
B. Der Nietzschesche Begriff des Begriffs, die entwicklungsgeschichtliche und die systematische Betrachtungsweise, die Entwicklung und das System
C. Der Nietzschesche Nihilismus-Begriff und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
I. Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie
A. Nietzsches Aufnahme des Nihilismus-Begriffs
B. Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs
C. Zurück- und vorgreifende Bemerkungen zum Nihilismus-Begriff
II. Das Umfeld des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie
A. Nietzsches Darstellungsformen als Folgen seines Denkens und ihre Konsequenzen für die Interpretation
B. Nietzsches Denkformen als Voraussetzungen seines Darstellens und ihre Konsequenzen für die Interpretation
C. Abschließende Bemerkungen zu den Konsequenzen für die Interpretation
III. Der Nihilismus-Begriff in Nietzsches Philosophie
A. Die „Entwerthung der bisherigen Werthe“
B. Die „Geschichte des europäischen Nihilismus“
C. Die „neue Werthsetzung“
Nachwort
A. Von der Aufnahme zur Preisgabe des Nihilismus durch Nietzsche
B. Die Stellung des Nihilismus im Corpus der philosophischen Schriften Nietzsches
C. Nietzsches Nihilismus-Begriff: ein Philosophem in einem offenen System
Anhang
A. Verzeichnis der Nihilismus-Stellen in Nietzsches Werken (KGW)
B. Verzeichnis der Nihilismus-Stellen in Nietzsches Nachlaß (KGW)
C. Verzeichnis der Nihilismus-Stellen in Nietzsches Briefwechsel (KGB)
Siglen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Verzeichnis der Tafeln
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Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus
 9783110875348, 3110129078, 9783110129076

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Elisabeth Kühn Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus

W DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel

Band 25

1992 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus von

Elisabeth Kühn

1992 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-4400 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33 Redaktion: Johannes Neininger, Ithweg 5, D-1000 Berlin 37

Die Deutsche Bibliothek — CI P-Einheitsauf nähme Kühn, Elisabeth: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus / von Elisabeth Kühn. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 25) Zugl.: Basel, Univ., Diss., 1988/89 ISBN 3-11-012907-8 NE: GT

Vorher: Basel, Univ., Diss., 1988 © Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Meine Studie über den Nihilismus-Begriffin Friedrich Nietzsches Philosophie ist aus meinen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen über den Nihilismus-Begriff im allgemeinen hervorgegangen. Es zeigte sich, daß sich verschiedenartige Traditionsstränge der vorgängigen Geschichte des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie zu einer Gesamtsicht zusammenfügten, die sich, meist eng verbunden mit Nietzsches Wirkungsgeschichte, in wiederum unterschiedliche Richtungen der nachfolgenden Geschichte des NihilismusBegriffs auffächern sollte. Suchte man nach einer Kristallisation der Geschichte des Nihilismus-Begriffs, so war sie in Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus zu finden. Diese Arbeit ist nach einer Vorbereitungszeit in den siebziger Jahren 1980 bis 1988 entstanden und als Typoskript bis auf einige Ergänzungen im Sommer 1988 abgeschlossen worden. Als sowohl entwicklungsgeschichtliche als auch systematische Untersuchung hätte sie auf Grund der fünf Bände der abgebrochenen „Historisch-kritischen Gesamtausgabe" von Nietzsches „Werken" aus den Jahren 1854 bis 1869 einschließlich späterer Zusätze und Ergänzungen, die Hans Joachim Mette, Karl Schlechta und Carl Koch von 1933 bis 1940 edierten, und der vier Bände der eingestellten „Historischkritischen Gesamtausgabe" von Nietzsches „Briefen" aus den Jahren 1850 bis 1877, die Wilhelm Hoppe und Karl Schlechta von 1938 bis 1942 herausgaben, allein und ohne die „Kritische Gesamtausgabe" von Nietzsches „Werken" aus den Jahren 1867 bis 1889 und „Briefwechsel" aus den Jahren 1849 bis 1889, die Giorgio Colli und Mazzino Montinari im deutschen Original seit 1967 und seit 1975 edierten, nicht unternommen werden können. Von unschätzbarem Wert war für mich auch der briefliche und mündliche Gedankenaustausch mit Herrn Prof. Dr. Mazzino Montinari, den ich vom 14. Januar 1980 bis zum 2. November 1986 erleben durfte und der in manchen Anmerkungen zu meinen Darlegungen dokumentiert ist. Aus diesem Dialog erwuchs schon mein Beitrag über Nietzsches frühe und mittlere Nihilismus-Rezeption im Rahmen des Seminars über „Grundfragen der Nietzsche-Forschung" im Wissenschaftskolleg zu Berlin am 13. Juli 1982. Er ist unter dem Titel „Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs" 1984 im Band 13 der „Nietzsche-Studien" erschienen. Das erste Kapitel der vorliegenden Studie bringt eine unter anderem um eine Nihilismus-Stelle in

VI

Vorwort

einem Brief an Nietzsche aus dem Jahr 1873 sowie um eine indirekte Quelle aus dem Jahr 1884 erweiterte und insbesondere um das Auftreten der Nihilismus-Thematik in Nietzsches Nachlaß, Briefwechsel und Werken vom März 1881 bis zum Sommer 1886 sowie um zwei weitere sowohl mittelbare als auch unmittelbare Quellen aus den Jahren 1883 und 1885 ergänzte Fassung dieser Publikation. Auf dieses Gespräch geht ferner mein Beitrag über Nietzsches späte Brunetiere-Rezeption zurück, der im Rahmen des von Montinari noch geplanten Seminars über „Nietzsche und Frankreich" in Paris hätte vorgetragen werden können. Er ist unter dem Titel „,Cultur, Civilisation, die Zweideutigkeit des ,Modernen". Ferdinand Brunetieres dritte Reihe der kritischen Studien über die Geschichte der französischen Literatur als Quelle für Friedrich Nietzsches Charakterisierungen des 17., des 18. und des 19. Jahrhunderts" 1989 im Band 18 der „Nietzsche-Studien" erschienen. Im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit kann am einschlägigen Ort unter Verzicht auf die entsprechenden Ausführungen auf diese Veröffentlichung verwiesen werden. In großer Dankbarkeit gedenke ich Mazzino Montinaris. Für die Genehmigung, Teilabschriften aus einzelnen Büchern aus Nietzsches Bibliothek mit Nietzsches Lesespuren anzuführen, bin ich Herrn Dr. Volker Wahl, Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätte der klassischen deutschen Literatur in Weimar, zu Dank verpflichtet. Für Auskünfte konnte ich mich an Frau lie. phil. Marianne Billeter-Ziegler, was das Sanskrit berührte, an Frau lie. phil. Susanne Steinrück-Klotz, was das Polnische anbelangte, und an Frau Dr. Pia Todorovic-Strähl sowie an Herrn Dr. Heinrich Riggenbach, was das Russische betraf, wenden, und Hinweise erhielt ich von Herrn Hans Erich Lampl insbesondere in Fragen der decadence. Herrn Prof. Dr. Karl Pestalozzi sei für die Betreuung dieser Untersuchung als Dissertation und für die Übernahme des Referats und Herrn PD Dr. Wolfram Groddeck sei für die Übernahme des Korreferats herzlich gedankt. Dem Druck liegt die im Winter-Semester 1988/89 von der PhilosophischHistorischen Fakultät der Universität Basel angenommene Dissertation zugrunde, die ich im Sommer 1990 überarbeitet und ergänzt habe. Basel, im Januar 1989 und im August 1990

Vorwort

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Wichtige 1991 erschienene Forschungsergebnisse konnten noch in diese Studie aufgenommen werden. Mein besonderer Dank gilt Herrn lie. phil. Hubert Thüring für die Erstellung des Personenregisters. Beiträge an die Druckkosten verdanke ich der Basler Studienstiftung, dem Dissertationenfonds der Universität Basel, dem Max Geldner-Fonds der PhilosophischHistorischen Fakultät der Universität Basel und dem Werenfels-Fonds der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel. Basel, im Oktober 1991

Elisabeth Kühn

Umschrift und Datierung Wörter aus dem Sanskrit und Vokabeln und Namen aus dem Russischen werden in Lateinschrift übertragen. Sie werden, abgesehen von der Beibehaltung anderer Weisen der Transkription in Zitaten, in der philologisch-wissenschaftlichen Umschrift wiedergegeben. Die russischen Verfassernamen werden, wo sie nicht in dieser Transliteration in den Originaltiteln erscheinen, den Titelangaben in der philologisch-wissenschaftlichen Umschrift vorangestellt. Im Literaturverzeichnis werden die Werke dieser Autoren und im Personenregister werden russische Namen gemäß der philologisch-wissenschaftlichen Umschrift eingeordnet. Zwischen der russischen und der europäischen Zeitrechnung bestand im 19. Jahrhundert eine Differenz von zwölf Tagen. Russische Daten werden, wo nicht besonders vermerkt, nach dem in Europa verwendeten Gregorianischen Kalender angegeben. Bis zum 1. Februar 1918 galt in Rußland die Julianische Zeitrechnung. Um das Gregorianische Datum zu gewinnen, muß man im 19. Jahrhundert zum Julianischen Datum zwölf Tage hinzuzählen.

Inhaltsverzeichnis Vorwort Umschrift und Datierung Einleitung

V VIII l

A. Der begriffsgeschichtliche Begriff des Begriffs, der semasiologische und der onomasiologische Zugang, die Synchronie und die Diachronie B. Der Nietzschesche Begriff des Begriffs, die entwicklungsgeschichtliche und die systematische Betrachtungsweise, die Entwicklung und das System C. Der Nietzschesche Nihilismus-Begriff und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

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I. Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie .

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A. Nietzsches Aufnahme des Nihilismus-Begriffs 1. Die Aufnahme der, semasiologisch gesprochen, frühesten Belege 2. Die Aufnahme der, onomasiologisch gesprochen, frühesten Belege 3. Zusammenschau

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13 15 17

B. Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs 1. Die Quellen der, onomasiologisch gesprochen, frühesten Belege 2. Die Quellen der, semasiologisch gesprochen, frühesten Belege 3. Zusammenschau

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20 37

C. Zurück- und vorgreifende Bemerkungen zum Nihilismus-Begriff 1. Rückblick 2. Vorschau

38 38 40

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Inhaltsverzeichnis

. Das Umfeld des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie . .

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A. Nietzsches Darstellungsformen als Folgen seines Denkens und ihre Konsequenzen für die Interpretation 1. Periodisierung 2. System und Aphorismus 3. Aphorismus

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B. Nietzsches Denkformen als Voraussetzungen seines Darstellens und ihre Konsequenzen für die Interpretation 84 1. Erkenntnistheorie 84 2. System 99 3. Methode 100 C. Abschließende Bemerkungen zu den Konsequenzen für die Interpretation 117 1. Anordnung 118 2. Auswahl 119 III. Der Nihilismus-Begriff in Nietzsches Philosophie

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A. Die „Entwerthung der bisherigen Werthe" 1. Erkenntnistheoretischer Bereich 2. Religiöser, metaphysischer und wissenschaftlicher Bereich 3. Ästhetischer Bereich 4. Moralischer, politischer und ökonomischer Bereich . . . .

121 121 122 125 129

B. Die „Geschichte des europäischen Nihilismus" 1. Die Ursprünge und die Bereiche des Nihilismus a) Religionen b) Moral c) Philosophie d) Naturwissenschaften e) Politik f) Ökonomie g) Geschichtswissenschaft h) Kunst i) Synopse; die „Moral-Hypothese" und die „VernunftKategorien" 2. Der Verlauf des Nihilismus a) Anamnese b) Diagnose c) Prognose d) Synopse; „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde" und das „tragische Zeitalter"

132 133 137 139 142 147 151 157 161 167 188 198 201 211 220 230

Inhaltsverzeichnis

3. Die Erscheinungsformen des Nihilismus a) Der Pessimismus als „Vorform" des Nihilismus . . . . b) Vom „unvollständigen" bis zum „extremsten" Nihilismus c) Der Nihilismus als „Logik" der decadence

XI

236 241 244 250

C. Die „neue Werthsetzung" 255 1. Der „Übermensch" und die „ewige Wiederkunft des Gleichen" als Aspekte der „neuen Werthsetzung" 256 2. Ausblick: Die „Entwerthung der bisherigen Werthe", die „Geschichte des europäischen Nihilismus" und die „neue Werthsetzung" aus drei entfernteren Perspektiven 257 Nachwort

260

A. Von der Aufnahme zur Preisgabe des Nihilismus durch Nietzsche 261 B. Die Stellung des Nihilismus im Corpus der philosophischen Schriften Nietzsches 263 C. Nietzsches Nihilismus-Begriff: ein Philosophem in einem offenen System 266 Anhang

270

A. Verzeichnis der Nihilismus-Stellen in Nietzsches Werken (KGW) 271 B. Verzeichnis der Nihilismus-Stellen in Nietzsches Nachlaß (KGW) 272 C. Verzeichnis der Nihilismus-Stellen in Nietzsches Briefwechsel (KGB) 275 Siglen

276

Literaturverzeichnis

278

Personenregister

289

Verzeichnis der Tafeln .

293

Einleitung Wenn Sie je daran kommen sollten [...] über mich etwas zu schreiben, so haben Sie die Klugheit, [...] mich zu c h a r a k t e r i s i r e n , zu „beschreiben", — n i c h t aber „abzuwerthen". Es giebt dies eine angenehme Neutralität: es scheint mir, daß man sein Pathos dabei bei Seite lassen darf und die f e i n e r e Geistigkeit um so mehr in die Hände bekommt. [...] Es ist durchaus n i c h t nöthig, nicht einmal e r w ü n s c h t , Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich i n t e l l i g e n t e r e Stellung zu mir. 1

Die vorliegende Studie über den Nihilismus-Begriffin Nietzsches Philosophie versteht sich als Nachzeichnung der inneren Bewegung und des inneren Aufbaus von Nietzsches Darstellen und Denken im ganzen, soweit diese für Nietzsches „Geschichte des europäischen Nihilismus" im einzelnen konstitutiv sind. Sie widmet sich den einzubeziehenden Themenbereichen auf Grund der Nietzscheschen Äußerungen, indem sie Nietzsches Darlegungen zu den jeweiligen Themenkreisen sichtet2, nach zu erarbeitenden immanenten Kriterien gliedert, darstellt und interpretiert und im Rahmen von aufzuzeigenden, relativierenden Bedingungen von Deutungen und Wertungen absieht, die über das von Nietzsche Ausgeführte hinausgehen. Sie berücksichtigt die für

1 2

KGB HI/5 Nr 1075, S. 375f., An Carl Fuchs, Sils, Sonntag d. 29. Juli . Eine der Auslegung vorausgehende Bestandsaufnahme der für einen Themenbereich bedeutsamen Stellen in Nietzsches Werken, Nachlaß und oft auch Briefen ist unumgänglich. Darin geht die vorliegende Arbeit mit der Auffassung Johann Figls einig, die er, bezogen auf den späten Nachlaß und auf das Thema der Interpretation, vertritt. (Vgl. Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß. Berlin, New York: 1982 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung. Bd7). [Vorher Diss. Wien 1980]. S. 17-28.) Das Vorkommen des Stichworts .Nihilismus' und seiner weiteren substantivischen und adjektivischen Ausformungen in Nietzsches Werken, Nachlaß und Briefwechsel wird im Anhang der vorliegenden Studie in drei Registern mitgeteilt.

2

Einleitung

den Nihilismus-Komplex relevanten Einflüsse aus Nietzsches nachgelassener und ideeller Bibliothek, indem sie an den einschlägigen Orten auf die schon erschlossenen direkten und indirekten Quellen in den „Nachberichten" zur „Historisch-kritischen Gesamtausgabe" von Nietzsches „Werken" und „Briefen" und im „Kommentar zur Kritischen Studienausgabe" von Nietzsches „Sämtlichen Werken" bzw. im „Nachbericht zur vierten Abteilung" sowie im „Nachbericht zur siebenten Abteilung" der „Kritischen Gesamtausgabe" von Nietzsches „Werken" oder in gesonderten Publikationen verweist oder aber neue unmittelbare und mittelbare Quellen nach Möglichkeit selbst erschließt3. Aus der begriffsgeschichtlichen Forschung übernimmt sie und in der Untersuchung von Nietzsches Darstellungs- und Denkformen modifiziert sie ein methodisches Instrumentarium, das sie der Interpretation der Nihilismus-Thematik zugrunde legt.

A. Der begriffsgeschichtliche Begriff des Begriffs, der semasiologische und der onomasiologiscbe Zugang, die Sjnchronie und die Diachronie

Zum Cartesischen „Kriterium der Wahrheit" des „ ,omne illud verum est, quod c l a r e et d i s t i n c t e p e r c i p i t u r ' c < 1 , steht Nietzsche mit der Feststellung in Opposition: „alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat"2. Diese Gegenüberstellung des Cartesischen Kriteriums der Wahrheit und des geschichtlichen Begriffs des Begriffs impliziert die Meinung, daß der „,klare' und ,distinkte' Begriff" 3 zu erzielen sei, wenn er vom geschichtlichen Wandel losgelöst würde, einerseits und die

3

Mit der Beachtung der Quellen wird einem „Desideratum der Nietzsche-Forschung" Rechnung getragen. Danach ist die „Rekonstruktion von Nietzsches .ideeller Bibliothek', d. h. seiner Lektüre, seiner konkreten Auseinandersetzung mit anderen Autoren", für das Verständnis von Nietzsches Aussagen notwendig. In einigen Fällen gelingt es, einen Beitrag zur „Erschließung der Quellen" zu leisten, „aus denen Nietzsches oft versteckte Exzerpte und Zitate stammen" (KGW VII/4/1, S. VIII, „Vorwort").

1

KGW VII1/2 9[91], S. 50, NF, Herbst 1887. KGW VI/2 Nr 13, S. 333, GM, „Zweite Abhandlung: .Schuld', .schlechtes Gewissen' und Verwandtes". J[oachim] Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Leitgedanken und Grundsätze. [Privatdruck für Herausgeber und Artikelautoren], (o. O. o. J. [Basel]: [1964]). S. 3; vgl. ders.: Leitgedanken und Grundsätze des .Historischen Wörterbuchs der Philosophie'. In: Archiv für Begriffsgeschichte. 11 (1967), S. 78.

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Der begriffsgeschichtliche Begriff des Begriffs

3

Ansicht, daß ein „Begriff" „klar" sein könne, aber „mehrdeutig"4 sein müsse, weil er dem geschichtlichen Wandel unterworfen sei, andererseits. 5 Mit beiden Standpunkten ist die „Auseinandersetzung" um eine „geschichtsfreie" oder „geschichtliche" „Begründung der Philosophie"6 indiziert, die sich in der „Spannung" zwischen der „positivistischen und mit der mathematischen Logik verbundenen Wissenschaftstheorie" und der „sich geschichtlich begreifenden Philosophie"7 aktualisiert. Macht sich die Wissenschaftstheorie die cartesianische Auffassung zunutze, es seien Begriffsdefinitionen zu entwikkeln, „aus welchen am Ende eine international verbindliche Terminologie der Philosophie hervorgehen könnte"8, so sieht die sich geschichtlich begreifende Philosophie davon ab, Begriffsdefinitionen zu bilden, die „dem Prinzip und dem Sinn begriffsgeschichtlicher Darstellung"9 widersprechen würden. Die sich geschichtlich begreifende Philosophie beruht auf dem „kritischen Bewußtsein", „das die Sprach- und Denkgewohnheiten [...] vor das Forum der geschichtlichen Tradition stellt, der wir alle gemeinsam angehören"10, auf einem Bewußtsein, aus dem heraus man „sich nicht von der Sprache treiben lassen will, sondern um ein begründetes geschichtliches Selbstverständnis bemüht ist" und „sich von einer Frage der Wort- und Begriffsgeschichte 4

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Reinhart Koselleck: Richtlinien für das .Lexikon Politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit'. In: Archiv für Begriffsgeschichte. 11 (1967), S. 86; vgl. ders.: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. (Hg. im Auftr. des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte e.V.). Bd 1. Stuttgart: (1972). S. XXIII; vgl. ders.: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme. Hg. v. Peter Christian Ludz. Opladen: (1972) ( = Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderh. 16). S. 124; auch in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. (Frankfurt a. M.): (1979) (Theorie). S. 120. Vom Gegensatz zwischen dem geschichtsfreien und dem geschichtlichen Begriff des Begriffs gehen Ritters Erklärungen zur Theorie und Methode der begriffsgeschichtlichen Lexikographie der Philosophie explizite und Kosellecks Erläuterungen zur Theorie und Methode der begriffsgeschichtlichen Lexikographie der Geschichte implizite aus. Setzt sich Ritter vom Cartesischen Begriff des Begriffs ab, so führt Koselleck den Nietzscheschen Begriff des Begriffs an. Ritter: Historisches Wörterbuch [...], S. 3; vgl. ders.: Leitgedanken [...], S. 78. Joachim Ritter: Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Unter Mitw. v. mehr als 700 Fachgelehrten in Verb, mit Guenther Bien [u. a.] hg. v. Joachim Ritter. Völlig neubearb. Ausg. des .Wörterbuchs der philosophischen Begriffe' v. Rudolf Eisler. Bd 1. Basel, Stuttgart: (1971). S. VII. Ritter: Historisches Wörterbuch [...], S. 3; vgl. ders.: Leitgedanken [...], S. 78; vgl. ders.: Vorwort, S. VII. Ritter: Historisches Wörterbuch [...], S. 6; vgl. ders.: Vorwort, S. IX. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3., erw. Aufl. Tübingen: 1972. (M 960). S. XXXI. -

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Einleitung

in die andere genötigt"11 sieht. In dieser „philosophischen Fragestellung" gründend, und „nicht als ein der Philosophie nur äußerliches gelehrtes Werk"12 erlangt die Begriffsgeschichte um die Mitte des 20. Jahrhunderts den „Rang" einer vom „Historismus" und von der „Verweltanschaulichung" unabhängigen „Disziplin der Philosophie"13. Die begriffsgeschichtliche Forschung „kann im Zusammenhang einer Idee von Philosophie wirksam werden, für welche Philosophie im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung der Schulen und Richtungen als die Eine perennierende Philosophie das ihr immanente Prinzip vernünftigen Begreifens zu immer reicherer Entfaltung bringt. Sie kann auch einfachhin als die Aufmerksamkeit für die geschichtliche Vielschichtigkeit des philosophischen Gegenstandes und als die kritische Reflexion genommen werden, die der ,abstrakten' Festlegung philosophischer Begriffe und ihrem unreflektierten dogmatischen Gebrauch entgegenwirkt, indem sie ihre geschichtliche Prägung und Formierung in das Bewußtsein hebt."14 Die Verfahrensweisen der Begriffsgeschichte „entstammen" „dem Umkreis der philosophischen Terminologiegeschichte, der historischen Philologie, der Semasiologie und der Onomasiologie"15. Die begriffsgeschichtliche Methode „zielt weder auf eine Wortgeschichte noch auf eine Sach- oder Ereignisgeschichte, noch auf eine Ideen- oder Problemgeschichte", „bedient" „sich" aber „deren Hilfen"16. Das erste Vorgehen der Begriffsgeschichte ist die Semasiologie, d. h. der „die Verbindungen eines Wortkörpers mit verschiedenen Begriffen"17 anbelangende Gesichtspunkt. „Die Semasiologie oder Bedeutungslehre geht vom Wort selbst aus und fragt nach dem Wandel der Bedeutungen eines Wortes, nach dem Wie und nach dem Warum dieses Wandels"18; bei der 11

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Ebd. S. 7; vgl. ders.: Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie. Opladen: (1971) (= Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Geisteswissenschaften. H. 170). Ritter: Historisches Wörterbuch [...], S. 4; vgl. ders.: Leitgedanken [...], S. 79. H(elmut) G. Meier: Begriffsgeschichte. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Unter Mitw. v. mehr als 700 Fachgelehrten in Verb, mit Guenther Bien [u. a.] hg. v. Joachim Ritter. Völlig neubearb. Ausg. des .Wörterbuchs der philosophischen Begriffe' v. Rudolf Eisler. Bdl. Basel, Stuttgart: (1971). Sp. 788. Ritter: Historisches Wörterbuch [...], S. 4; vgl. ders.: Leitgedanken [...], S. 79; vgl. ders.: Vorwort, S. VII. Koselleck: Begriffsgeschichte [...], S. 116; vgl. ders.: Einleitung, S. XIXf. Ebd. S. XX; vgl. ders.: Richtlinien [...], S. 83. Kurt Baidinger: Sprache und Kultur. Die Entwicklung zur modernen Sprachwissenschaft. In: Ruperto-Carola. 29 (1961), S. 35. Ebd. S. 33.

Der begriffsgeschichtliche Begriff des Begriffs

5

Semasiologie handelt es sich um eine „Struktur von Bedeutungen"19. In der begriffsgeschichtlichen Forschung hat „der semasiologische Zugriff einen arbeitstechnisch bedingten Vorrang", „weil die Begriffe von den sie tragenden Worten her angegangen werden"20. In einer Begriffsgeschichte des Nihilismus-Begriffs wird mit dem Vorkommen des Wortes ,Nihilismus' zu beginnen sein. Das sich zum ersten Verfahren komplementär verhaltende, zweite Vorgehen der Begriffsgeschichte ist die Onomasiologie, d. h. der „die Verbindungen eines Begriffes mit verschiedenen Wortkörpern"21 betreffende Blickwinkel. „Die Onomasiologie" oder Bezeichnungslehre „geht nicht vom Wort sondern vom Gedanken, vom Begriff aus und fragt, wie, d. h. mit welchen Wörtern dieser Gedanke, dieser Begriff in der Sprache gefaßt wird"22; bei der Onomasiologie handelt es sich um eine „Struktur von Bezeichnungen"23. In der begriffsgeschichtlichen Forschung tritt „der onomasiologische Zugriff alternierend" mit dem semasiologischen Zugang „in den Vordergrund, da der Wandel" geistes- und realgeschichtlicher „Strukturen, also außersprachliche Inhalte, im sprachlichen Medium gesucht werden"24. In einer Begriffsgeschichte des Nihilismus-Begriffs wird das Auftreten der Wörter ,Pessimismus', ,Nirvana', ,Nichts' und ,Nichtsein' mit zu berücksichtigen sein. Das dritte Verfahren der Begriffsgeschichte ist die Synchronie, d.h. die „Querschnittsanalyse"25 des Zustandes eines Begriffs in einer „gegebenen Situation"26. Die Synchronie nicht nur als Zustand eines Begriffs zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern auch als Beschreibung dieses Zustandes schließt „Situation und Zeitlage"27 ein. In der begriffsgeschichtlichen Forschung bilden die synchronischen Analysen einen ersten „Durchgang"28. In einer Begriffsgeschichte des Nihilismus-Begriffs wird ein bestimmtes Vorkommen des Wortes .Nihilismus' zum Beispiel nach seinem Bezug zu den politischen Verhältnissen in Rußland, vermittelt durch einen bestimmten Sprechenden in einem bestimmten Text mit bestimmten Adressaten, zu befragen sein. 19

Ebd. S. 35.

20

Koselleck: Einleitung, S. XXII; vgl. ders.: Richtlinien [...], S. 84; vgl. ders.: Begriffsgeschichte [...], S. 125. Baidinger: Sprache [...], S. 35. Ebd. S. 33. Ebd. S. 35. Koselleck: Einleitung, S. XXII; vgl. ders.: Richtlinien [...], S. 84f.; vgl. ders.: Begriffsgeschichte [...], S. 125. Koselleck: Einleitung, S. XXVI. Koselleck: Richtlinien [...], S. 89. Koselleck: Begriffsgeschichte [...], S. 121; vgl. ders.: Einleitung, .S. XX. Koselleck: Begriffsgeschichte [...], S. 121.

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Einleitung

Das das dritte Vorgehen ergänzende, vierte Verfahren der Begriffsgeschichte ist die Diachronie, d. h. die „Tiefenbestimmung"29 der Veränderung eines Begriffs von „Situation" zu „Situation"30. Die Diachronie nicht nur als Veränderung eines Begriffs in seiner geschichtlichen Entwicklung, sondern auch als Darstellung dieser Veränderung begreift „Dauer, Wandel oder Neuheit von Wortbedeutungen" 31 ein. In der begriffsgeschichtlichen Forschung werden die synchronischen Analysen in einem „zweiten Durchgang"32 in die diachronische Bestimmung überführt. In einer Begriffsgeschichte des Nihilismus-Begriffs wird ein bestimmtes Auftreten des Wortes ,Nihilismus' beispielsweise in seinen Funktionen innerhalb der politischen Verhältnisse in Rußland einmal als pejorative Fremdbezeichnung, ein andermal als meliorative Selbstbezeichnung zu ermitteln sein. Zwischen dem semasiologischen und dem onomasiologischen Zugriff pendelnd, wird das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit den horizontalen Achsen der Synchronie und der vertikalen Achse der Diachronie des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs mittels synchronischer Querschnittsanalysen und einer diachronischen Tiefenbestimmung folgen. Untersuchungsgegenstand werden, semasiologisch gesehen, alle Stellen und, onomasiologisch betrachtet, repräsentative Stellen zum Nihilismus-Begriff in Nietzsches Nachlaß, Briefwechsel und Werken vom Winter 1865/66 bis zum Sommer 1886 sein. B. Der Niet^schesche Begriff des Begriffs, die entwicklungsgeschichtliche und die systematische Betrachtungsweise, die Entwicklung und das System

Zur cartesianischen „Tyrannei der .ewigen' Begriffe"1 setzt sich Nietzsche mit der Erwartung in Gegensatz: mit „voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwicklungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen"2. Über die Opposition des geschichtsfreien und des geschichtlichen Begriffs des Begriffs hinaus beinhaltet diese Entgegensetzung der cartesianischen Tyrannei der ewigen Begriffe und der 29 30 31 32 1 2

Koselleck: Koselleck: Koselleck: Koselleck:

Einleitung, S. XXVI. Richtlinien [...], S. 89. Begriffsgeschichte [...], S. 122; vgl. ders.: Einleitung, S. XX f. Begriffsgeschichte [...], S. 121.

KGW VII/3 35[36], S. 248, NF, Mai-Juli 1885. KGW IV/2 Nr 10, S. 26, MA I, „Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen".

Der Nietzschesche Begriff des Begriffs

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Notwendigkeit einer Entwicklungsgeschichte der Begriffe die Einsicht, daß „Begriffe sich ändern, und zwar nicht nur wegen des Wandels der Wirklichkeit, auf die sie bezogen sind, sondern ebenso auch wegen des praxisvermittelten Wandels des Systems der Beziehung auf die Wirklichkeit, dessen Momente sie sind"3. Die vorliegende Studie wird Nietzsches Verständnis der Wirklichkeit, auf die sich der Nihilismus-Begriff bezieht, mit zu beachten haben. Sie wird auch Nietzsches Konzeption des Systems der Beziehung auf die Wirklichkeit, in dem der Nihilismus-Begriff ein Moment ist, mit zu berücksichtigen haben. Diese Reflexion hat zum einen aus einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive zu geschehen. Sie wird unter zu erarbeitenden Gesichtspunkten das ganze Corpus der philosophischen Schriften Nietzsches zu umfassen haben. Sie wird mit der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise den Anfang bilden. Sie wird von der Frage nach der Periodisierung von Nietzsches Philosophie ausgehen. Diese Reflexion hat zum anderen aus einer systematischen Optik stattzufinden. Sie wird sich unter aufzuzeigenden Aspekten als unabschließbaren Systematisierungsversuch zu begreifen haben. Sie wird die systematische abwechselnd mit der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise zum Tragen bringen. Sie wird mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen System und Aphorismus in Nietzsches Philosophie weiterfahren. Diese Reflexion hat sich ferner in ihrem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz an Nietzsches Auffassung der Entwicklung zu orientieren. Sie wird unter zu erarbeitenden Gesichtspunkten die Dynamik und die wechselnden Umgebungen ihrer Gegenstände transparent zu machen haben. Sie wird von Nietzsches Verständnis der Entwicklung ihren Ausgang nehmen. Sie wird mit der Untersuchung von Nietzsches Erkenntnistheorie einsetzen. Diese Reflexion hat sich weiterhin in ihrem systematischen Ansatz nach Nietzsches Konzeption des Systems zu richten. Sie wird sich unter aufzuzeigenden Aspekten nicht nur als unvollendbaren, sondern auch als nur relative Gültigkeit beanspruchenden Systematisierungsversuch zu begreifen haben. Sie wird Nietzsches Auffassungen des Systems und der Entwicklung miteinander verbinden. Sie wird die Erörterung von Nietzsches Verständnis des Systems fortsetzen. Die entwicklungsgeschichtliche und die systematische Perspektive in zusätzlichen Darlegungen zu Nietzsches Aphorismus und Methode zusammenführend, wird das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit die wechselseitige Bestimmung von Nietzsches Konzeptionen der Entwicklung und des Systems 3

Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg, München: (1965). S. 17.

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Einleitung

als Voraussetzung für die weitergehende Auslegung des Nihilismus-Komplexes entfalten. Als für Nietzsches Auffassung der Wirklichkeit sowie für Nietzsches Verständnis des Systems der Beziehung auf die Wirklichkeit als Bedingungen des Nihilismus-Begriffs und für deren Interpretation grundlegend wird sich Nietzsches Konzeption des „Willens zur Macht" erweisen.

C. Der Niet^schesche Nihilismus-Begriff und die Gleichzeitigkeit des Ungleichseitigen

„Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen — sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter. Nämlich die Schichten liegen durcheinander und übereinander — und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen können."1 Mit dieser Betonung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen stellt Nietzsche für die Menschheit fest, worauf die Begriffsgeschichte für den Begriff abzielt, wenn sie „die Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen eines Begriffs" klärt und damit über „die strikte Alternative der Diachronie oder Synchronie" hinausführt und auf „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die in einem Begriff enthalten sein kann"2, verweist.3 Die vorliegende Studie wird die Mehrschichtigkeit der chronologisch aus verschiedenen Zeiten stammenden Bedeutungen des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs über die Alternative der Synchronie und der Diachronie hinauszuführen haben. Sie wird mit dem Befund der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die im Nietzscheschen Nihilismus-Begriff impliziert ist, nicht nur 1 2 3

KGW VII1/2 11 [226], S. 329, NF, November 1887-März 1888. Koselleck: Begriffsgeschichte [...], S. 128; vgl. ders.: Einleitung, S. XXI. Nietzsche hält hier mit dem Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, onomasiologisch gesehen, für die Menschheit fest, was Koselleck hier mit der Wendung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, semasiologisch betrachtet, für den Begriff fruchtbar macht. In einem dritten Sinne sind „Gleichzeitigkeit" und „Ungleichzeitigkeit" Kategorien Ernst Blochs; mit ihnen sucht Bloch nicht ohne Parallelisierung des „Ungleichzeitigen" mit Nietzsches Konzept des Unzeitgemäßen in „Erbschaft dieser Zeit" 1935 in erster und 1962 in zweiter Ausgabe die Entstehung des Nationalsozialismus zu verstehen. (Vgl. Erbschaft dieser Zeit. Erw. Ausg. (Frankfurt a. M.): (1962). ( 935) (= Gesamtausgabe. Bd 4). S. 115. - Zu den Blochschen Kategorien der „Gleichzeitigkeit" und der „Ungleichzeitigkeit" im einzelnen vgl. ferner auch M[ichael] Theunissen u. H(einrich) Brinkmann: Gleichzeitigkeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Unter Mitw. v. mehr als 800 Fachgelehrten in Verb, mit Guenther Bien [u.a.] hg. v. Joachim Ritter. Völlig neubearb. Ausg. des ,Wörterbuchs der philosophischen Begriffe' v. Rudolf Eisler. Bd 3. Basel, Stuttgart: (1974). Sp. 675.)

Der Nietzschesche Nihilismus-Begriff

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einem möglichen Resultat der Begriffsgeschichte, sondern auch der Diagnose Nietzsches entsprechen. Aus dem Blickwinkel der „Heraufkunft" des „europäischen Nihilismus" werden die beiden ersten Ausprägungen des Nietzscheschen - NihilismusBegriffs erstens als „erster Nihilismus" resp. als drei Formen des „Nihilism als psychologischer Zustand" und zweitens als „eigentlicher Nihilism" anheben. Aus der Optik des Bestehens des „europäischen Nihilismus" werden die beiden ersten Ausformungen des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs erstens als „unvollständiger Nihilism" und zweitens als „vollkommener Nihilism" hervortreten, wobei sich der vollkommene Nihilismus drittens als „passiver Nihilism" und viertens als „aktiver Nihilismus" bekunden kann. Aus der Perspektive der „Selbstüberwindung" des „europäischen Nihilismus" werden sich die beiden letzten Ausgestaltungen des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs fünftens als „radikaler Nihilismus" und sechstens als „extremste Form des Nihilismus" manifestieren. Die zunächst gesonderten Begriffe des Pessimismus und der dacadence werden als Parallelbegriffe des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs in eine Dreiheit eingehen, wonach der „Pessimismus" zur „Vorform des Nihilism" werden wird, der „Nihilism" aber „keine Ursache, sondern nur die Logik der decadence" sein wird. Den in die Schilderung der Synchronie und der Diachronie des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs integrierten semasiologischen und onomasiologischen Zugang und die an Nietzsches Auffassungen der Entwicklung und des Systems orientierte entwicklungsgeschichtliche und systematische Betrachtungsweise verflechtend, wird das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit den Nietzscheschen Nihilismus-Begriff in seinen teils sukzessiven, sich teils überschneidenden und teils simultanen Erscheinungsformen nachzeichnen, die auf einer die Synchronie und die Diachronie übersteigenden Ebene als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erscheinen werden. Als Voraussetzung der Metamorphosen des „europäischen Nihilismus" wird sich die „Entwerthung der bisherigen Werthe" vom Christentum als Dogma bis zum Christentum als Moral und als Ablösung der Metamorphosen des „europäischen Nihilismus" wird sich die „neue Werthsetzung" mit den Konzeptionen des „Übermenschen" und der „ewigen Wiederkunft des Gleichen" herausstellen, wobei die „Entwerthung der bisherigen Werthe" und die „neue Werthsetzung" ihrerseits aus einer entfernteren Perspektive als in die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen eingebunden zu denken sein werden. Nietzsches Denken und Darstellen werden weder dem Irrationalismus noch dem Rationalismus zuzuweisen sein; sie werden sich vielmehr als TransRationalismus zeigen.

I. Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie Der Nihilismus-Begriff fließt, sowohl aus semasiologischer Perspektive als auch in onomasiologischer Optik beobachtet, aus mehreren Quellen und in verschiedenen Phasen in Nietzsches Philosophie ein. Onomasiologisch gesehen, stellt sich die Frage nach Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs vor dem Hintergrund der historischen Situation der Begriffe .Pessimismus', ,Nirvana', ,Nichts' und ,Nichtsein' um 1870.1 Semasiologisch betrachtet, erhebt sich die Frage nach Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs vor der Folie der geschichtlichen Lage des Begriffs ,Nihilismus' um 1880.2 Beide Themenstellungen aber gehen zunächst vom historischen Stadium des Nihilismus-Begriffs um 1880 und von den einschlägigen Hypothesen in der Nihilismus- und in der Nietzsche-Forschung aus. Die gegebene Textlage des Corpus der Nietzscheschen Schriften erleichtert Studien auf dem Gegenstandsgebiet von Nietzsches Aufnahme und Quelle des Nihilismus-Begriffs. Aus den in diesen Untersuchungen herauszuarbeitenden Gesichtspunkten dieses Themenbereichs werden zudem nach und nach Angaben für eine Sicht gewonnen werden, die nicht nur Nietzsches Rezeption und Reproduktion im Hinblick auf den Nihilismus-Begriff um 1870 und um 1880 einschließt, sondern auch Nietzsches Produktion in bezug auf den Nihilismus-Begriff vom Winter 1865/66 bis zum Sommer 1886 umfaßt. Der Nihilismus-Begriff erfuhr um 1880 eine Polemisierung und Bedeutungsverkürzung, die durch die Attentate russischer Oppositioneller auf gezielt ausgesuchte politische Persönlichkeiten ausgelöst wurde und die sich als Synonymität von Nihilismus und Terrorismus in der russischen und in der europäischen nicht-fiktionalen Literatur bis in die Zeitungen hinein niederschlug.3 Dem Nihilismus-Begriff widerfuhr gleichzeitig eine Bedeu1

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Mehrere dieser Quellen hat 1980 der „Kommentar zur Kritischen Studienausgabe" bereits angeführt. (S. u. S. 19, 20.) Diese Quellen habe ich 1982 bekannt gemacht und 1984 in den „Nietzsche-Studien" erstmals veröffentlicht. (S. u. S. 41 Fußn. 7.) Zum Verhältnis von Nihilismus und Terrorismus und zu ihrer Gleichsetzung vgl. insbes. Thfomas] G[arrigue] Masaryk: Russland und Europa. Studien über die geistigen Strömungen in Russland. F. 1: Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie. Soziologische Skiz-

Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie

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tungsinflation und Sinnentleerung, die durch seine Verbreitung und Popularisierung gefördert wurde und die sich als Auffächerung der Synonymität von Nihilismus und Terrorismus in die Besetzbarkeit mit den verschiedensten Bedeutungen bis hin zum Verlust der Spezifität in der internationalen fiktionalen Literatur bis in die Trivialliteratur hinein auswirkte. 4 Der Polemisierung und Bedeutungsverkürzung, der Bedeutungsinflation und Sinnentleerung des Nihilismus-Begriffs sollte durch Nietzsche Einhalt geboten werden. In der Nihilismus- und in der Nietzsche-Forschung haben die Fragen nach dem Zeitpunkt, zu dem Nietzsche das Wort ,Nihilismus' aufgriff, und nach der Quelle, aus der er es schöpfte, unterschiedliche Antworten gefunden. Als Jahr der Aufnahme werden 18835, 18826, 18867 und 18808 angenommen oder behauptet; als Vermittler werden Paul Bourgets „Essais de psychologic contemporaine"9 bzw. der russische Anarchismus, vermittelt durch Bourgets „Essais de psychologic contemporaine"10, bzw. Ivan Sergeevic Turgenevs Nihilismus-Konzeption, vermittelt durch Bourgets „Essais de psychologic contemporaine"11, Zeitungsberichte über die russi-

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zen. Bd 2. Jena: 1913. S. 103 — 123. — Zur Auseinandersetzung mit dem russischen Nihilismus in der russischen und in der europäischen nicht-fiktionalen Literatur vgl. insbes. HansGeert Falkenberg: Strukturen des Nihilismus im Frühwerk Ludwig Tiecks. Diss. Göttingen 1957 [Masch. vervielf.]. S. 49; und Dieter Arendt: Der .poetische Nihilismus' in der Romantik. Studien zum Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit in der Frühromantik. Bd 2. Tübingen: 1972 (= Studien zur deutschen Literatur. Bd 30). (Zugleich Habil.-Schr. Marburg 1972). S. 546 Fußn. 34. Zum Eingang des Nihilismus als Thema in die internationale fiktionale Literatur vgl. insbes. Falkenberg: Strukturen [...], S. 50. Vgl. Charles Andler: Nietzsche, sä vie et sä pensee. (Bd 6:) La Derniere Philosophie de Nietzsche. Le Renouvellement de toutes les valeurs. Paris: 1931. S. 266 (Der erste Band von Paul Bourgets „Essais de psychologie contemporaine", von dem Andler annimmt, daß Nietzsche ihn gelesen hat, erschien 1883.). Vgl. Falkenberg: Strukturen [...], S. 50. Vgl. Georg Jänoska: Zur Geschichte des Nihilismus. In: Studia Philosophica. (Basel). 29 (1969), S. 2 Fußn. 3. Vgl. Qharles] A[nthony] Miller: Nietzsches „Soteriopsychologie" im Spiegel von Dostoevskijs Auseinandersetzung mit dem europäischen Nihilismus. Diskussion. In: NietzscheStudien. 7 (1978), S. 156. Vgl. Andler: Nietzsche [...], (Bd 6,) S. 266. Vgl. Wolfgang Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie. Berlin, New York: 1971. S. 67 f. (Diese Quelle gilt Müller-Lauter, verglichen mit den auch möglichen der Turgenevschen Romane „Väter und Söhne" und „Neuland", von denen es Müller-Lauter nur für höchst wahrscheinlich hält, daß Nietzsche sie gelesen hat, als am besten abgesichert.). Vgl. Fritz Ernst: Friedrich Nietzsche und die Russen. Zur Geschichte der deutschen Russophilie. In: Ders.: Aus Goethes Freundeskreis und andere Essays. Berlin, Frankfurt a. M.: (1955) (= Bibliothek Suhrkamp. Bd 30). S. 220 f.

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Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie

sehen Attentate 12 bzw. die europäische Diskussion über die Bewegung der russischen Oppositionellen13 und Turgenev14 bzw. Turgenevs „Väter und Söhne"15 vermutet oder postuliert. Zur Datierung kristallisieren sich folglich vier, zur Vorlage drei bzw. sieben verschiedene und zudem noch meist dürftig oder gar nicht belegte Antworten in der Nihilismus- und in der Nietzsche-Forschung heraus. Das Corpus der Nietzscheschen Schriften hat die beiden frühesten Nihilismus-Stellen, also die möglichen Schlüssel zur Festlegbarkeit des Zeitpunkts, zu dem Nietzsche die Vokabel ,Nihilismus£ aufnahm, und zur Feststellbarkeit der Quelle, aus der er sie gewann, denn auch gar nicht enthalten. Erst in der „Kritischen Gesamtausgabe" sind sie 1964 in italienischer Übersetzung 16 , 1970 in französischer Übertragung 17 und 1971 im deutschen Original18 publiziert worden. Diese Nihilismus-Stellen erlauben es, die Vielfalt der Antworten nicht nur hinsichtlich des Jahres der Aufnahme des Wortes ,Nihilismus' durch Nietzsche, sondern auch bezüglich der Vermittlung der Vokabel ,Nihilismus' an Nietzsche durch je eine Antwort zu ersetzen.

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Vgl. Theodor W[iesengrund] Adorno: Negative Dialektik. (2. Ausg.). (Frankfurt a. M.): (1970). ( 966). S. 370; auch in: Dieter Arendt (Hg.): Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts. Darmstadt: 1974 (= Wege der Forschung. Bd 360). S. 304. Vgl. Manfred Riedel: Nihilismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. (Hg. im Auftr. des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte e. V.). Bd 4. (Stuttgart): (1978). S. 404. Vgl. Walter Bröcker: Nietzsche und der europäische Nihilismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 3 (1948-49), S. 161. Vgl. Dieter Arendt: Der Nihilismus — Ursprung und Geschichte im Spiegel der ForschungsLiteratur seit 1945. Ein Forschungsbericht. " (KGB 1/2 Nr491, S. 103, An Franziska und Elisabeth Nietzsche) zu datierenden Brief an Mutter und Schwester hofft Nietzsche, „daß das Lama [d. i. die Schwester] doch noch im Laufe dieses Jahres in den gefräßigen Besitz ihrer Pfefferkuchen gekommen ist: also vorläufig noch keine pessimistischen Lebensansichten braucht" (ebd. S. 104). In einem mit „(Leipzig, 27. April 1866>" (KGB 1/2 Nr 504, S. 126, An Hermann Mushacke) zu datierenden Brief an Hermann Mushacke gibt Nietzsche dem Freund seine und Carl von Gersdorffs Verärgerung über zwei Werke über Schopenhauer bekannt: „Sehr zu unsrer dh. Gersdorffs und meiner Verstimmtheit haben noch zwei Schriften beigetragen, nämlich .Arthur Schopenhauer' von Haym und ,der Pessimismus und Schopenhauer' von Kyi. Nicht als ob sie überzeugend wären: aber sie sind, besonders die erste, sehr bösartiger Natur." (Ebd. S. 128.) In die Zeit von September bzw. Oktober 1867 bis April 1868 fällt die Erinnerung an die erste Schopenhauer-Lektüre und Nietzsches erste eingehende Analyse von Schopenhauers Philosophie unter dem Titel „Zu Schopenhauer" (vgl. BAW 3, S. 352 — 361). — Zum Pessimismus in Nietzsches Briefen nach den ersten beiden Pessimismus-Stellen vom 12. Januar 1866 und vom 27. April 1866 bis zum Winter 1869/70 vgl. ferner KGB 1/2 Nr 559, S. 249, An Erwin Rohde, Naumburg 1-3 Febr. 1868; vgl. KGB 1/2 Nr 562, S. 256, 258, An Carl von Gersdorff, Naumburg am 16 Febr. 1868; vgl. KGB II/l Nr 58, S. 93, An Erwin Rohde, (Basel, Ende Januar und 15. Februar 1870). Vgl. KGW HI/3 3[51], S. 74; 3[55], S. 75; 3[95], S. 86, NF, Winter 1869-70-Frühjahr 1870; vgl. KGW HI/3 5[50], S. 110; 5[68], S. 112, NF, September 1870-Januar 1871; vgl. KGW HI/3 7[22], S. 149, NF, Ende 1870-April 1871; vgl. KGW HI/3 8[31], S. 244, NF, Winter 1870-71-Herbst 1872; vgl. KGW HI/4 19[52], S. 24, NF, Sommer 1872-Anfang 1873; vgl. KGW HI/4 29[4], S. 230, NF, Sommer-Herbst 1873.

Nietzsches Aufnahme des Nihilismus-Begriffs

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Vom Nirvana ist von Nietzsches Buddhismus-Rezeption an, die sich schon im April 18629 ankündigt und die durch die Schopenhauer-Rezeption im Winter 1867/6810 gefördert wird, die Rede. Im zwischen Winter 1869/70 und Anfang 1873 verfaßten Nachlaß kommt es im Zusammenhang mit der Wissenschaft bzw. mit der Philosophie und mit der Kunst vor.11 Das Nichts und das Nichtsein werden von Nietzsches Schopenhauer- und Buddhismus-Rezeption an zum Gegenstand.12 Im zwischen Winter 1869/70 und Frühjahr 1873 niedergelegten Nachlaß tauchen sie in Verbindung mit der indischen13 und der jüdischen 14 Religion, mit der Erkenntnistheorie15, mit der Kunst 16 und mit dem Selbstverständnis Nietzsches17 auf.

3. Zusammenschau Beide Rezeptionsphasen zeigen den Umkreis an, in dem die Frage nach Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs behandelt werden kann. 9 10

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Vgl. BAW 2, S. 61, „Willensfreiheit und Fatum". In einem mit „Naumburg d. 3 November 1867" (KGB 1/2 Nr 552, S. 230, An Erwin Rohde) datierten Brief an Erwin Rohde teilt Nietzsche dem Freund mit: „Ich versichere Dich bei dem schon erwähnten Hund, meine Philosophie hat jetzt [Nietzsche ist Soldat in Naumburg (vgl. ebd. S. 235)] Gelegenheit, mir praktisch zu nützen. [...] Mitunter [...] raune ich unter dem Bauch des Pferdes versteckt .Schopenhauer hilf; und wenn ich erschöpft und mit Schweiß bedeckt nach Hause komme, so beruhigt mich ein Blick auf das Bild [sc. Schopenhauers, eines Geschenks Rohdes (vgl. BAB 2, S. 442, Anm. zu Nr 345, „Nachbericht")] an meinem Schreibtisch: oder ich schlage die Parerga auf, die mir jetzt, sammt Byron, sympathischer als je sind." (KGB 1/2 Nr 552, S. 233.) Im selben Brief erinnert sich Nietzsche „an unser Gedenkmal am Ufer jenes Leipziger Stromes, das wir Nirwana tauften" (ebd. S. 235; vgl. ebd. S. 234; vgl. KGB 1/2 Nr 559, S. 247, An Erwin Rohde, Naumburg 1-3 Febr. 1868; vgl. BAW 3, S. 315, „Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre", September 1867April 1868). — Zum Nirvana in Nietzsches Briefen von der ersten Nirväna-Stelle vom 3. November 1867 bis zum Winter 1869/70 vgl. ferner KGB 1/2 Nr 554, S. 240, An Carl von Gersdorff, Naumburg (24. November und) l Dez. 1867. Vgi. KGW III/3 3[55], S. 75, NF, Winter 1869-70-Frühjahr 1870; vgl. KGW HI/4 19[45], S. 22, NF, Sommer 1872-Anfang 1873. Nietzsches Briefe vom Winter 1865/66 bis zum Winter 1869/70 weisen nur eine unspezifische Nichts-Stelle auf. (Vgl. KGB 1/2 Nr 504, S. 127, An Hermann Mushacke, (Leipzig, 27. April 1866>.) Vgl. KGW III/3 3[55], S. 75, NF, Winter 1869-70-Frühjahr 1870; vgl. KGW II1/3 5[53], S. 110; 5[59], S. 111, NF, September 1870-Januar 1871. Vgl. KGW HI/3 7[19], S. 148 f., NF, Ende 1870-April 1871. Vgl. KGW III/3 7[125], S. 191, NF, Ende 1870-April 1871; vgl. KGW III/4 26[11], S. 176, NF, Frühjahr 1873. Vgl. KGW HI/3 7[174], S. 215, NF, Ende 1870-April 1871; vgl. KGW HI/3 9[105], S. 325, NF, 1871. Vgl. KGW /4 26[24], S. 188, NF, Frühjahr 1873.

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Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie

Semasiologisch gesehen, geht das Wort ,Nihilismus' in derjenigen Bedeutung in Nietzsches Philosophie ein, in der es zur Zeit seiner Aufnahme durch Nietzsche im Sommer 1880, hervorgerufen durch die politischen Verhältnisse in Rußland, am bekanntesten war. ,Nihilismus' bezeichnet wohl schon im Nachlaßfragment 4[103] und eindeutig im Nachlaßfragment 4[108] die Haltung der russischen Oppositionellen. Onomasiologisch betrachtet, bereitet sich die Nihilismus-Thematik vom Herbst 1865 bzw. vom Winter 1867/68 an, veranlaßt durch Nietzsches Schopenhauer- und Buddhismus-Rezeption, in der Beschäftigung mit dem Pessimismus, mit dem Nirvana und mit dem Nichts und dem Nichtsein vor. Der Pessimismus, mit dem sich die Auseinandersetzung im Nachlaß zwischen Winter 1869/70 und Herbst 1873 erweitert, wird in Verbindung mit der Erkenntnistheorie und mit der Kunst problematisiert; das Nirvana, mit dem sich die Beschäftigung im Nachlaß zwischen Winter 1869/70 und Anfang 1873 verstärkt, wird im Zusammenhang mit der Wissenschaft bzw. mit der Philosophie und mit der Kunst erörtert; das Nichts und das Nichtsein, mit denen sich die Auseinandersetzung im Nachlaß zwischen Winter 1869/70 und Frühjahr 1873 steigert, werden in Verbindung mit der indischen und der jüdischen Religion, mit der Erkenntnistheorie, mit der Kunst und mit der Selbstauffassung Nietzsches diskutiert. Die erste, zwischen dem Herbst 1865 bzw. zwischen dem Winter 1867/68 und dem Jahr 1873 durch die Schopenhauer- und die Buddhismus-Rezeption angeregte Rezeptionsphase und die zweite, im Sommer 1880 durch die Rezeption der politischen Verhältnisse in Rußland ausgelöste Rezeptionsphase sind in zweierlei Hinsicht Indikatoren. Sie stecken den Beginn und das Ende der Zeitspanne — den terminus a quo und den terminus ad quem — ab, in deren Rahmen die Frage nach Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs zu stellen ist, und sie geben drei Rezeptionsbereiche — denjenigen Schopenhauers, des Buddhismus und der politischen Verhältnisse in Rußland — an, vor deren Hintergrund die Frage nach Nietzsches Quelle des NihilismusBegriffs zu beantworten sein müßte.

B. Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriff s

Die Frage nach Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs versteht sich als Frage nach den Vorlagen, denen Nietzsche die mit den Termini,Pessimismus', ,Nirvana', ,Nichts' und .Nichtsein' bezeichneten Themenkreise und deren späteren gemeinsamen Nenner ,Nihilismus' entnommen hat. Vierfach läßt sich diese Frage für die, onomasiolögisch gesehen, frühen Stellen und zwei-, eventuell dreifach für die, semasiologisch betrachtet, frühesten Stellen nicht

Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs

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nur bis zur Vermutung der Rezeption, sondern bis zum Nachweis der Reproduktion — sei es durch Nietzsches eigene Äußerungen oder durch erschließbare Zitate — beantworten.

1. Die Quellen der, onomasiologisch gesprochen, frühesten Belege Als Quellen der, onomasiologisch gesehen, frühen Stellen treten vier, die den obengenannten Kriterien der Nachweisbarkeit durch Nietzsches eigene Aussagen oder durch die Erschließung von Zitaten genügen, in den Vordergrund. Es sind Schriften Schopenhauers und im „Kommentar zur Kritischen Studienausgabe" bereits beigebrachte Werke von Max Müller (eig. Friedrich Maximilian Müller), Carl Friedrich Koeppen und Afrikan Spir. Dem Pessimismus begegnete Nietzsche nach einer eigenen Äußerung zuerst in Schopenhauers Philosophie1, über einzelne von dessen Schriften er zunächst in den jeweilen neuesten Auflagen verfügte 2 , bis er schließlich die Ausgabe von Julius Frauenstädt, bestehend aus dem Band „Aus Arthur Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen und Fragmente". Leipzig: 1864 und aus den sechs Bänden „Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke". Leipzig: 1873 — 74, anschaffte 3 . 1 2

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Vgl. KGW VII/3 34[204], S. 209, NF, April-Juni 1885. Ende Oktober 1865 erstand Nietzsche Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung"; den ersten, erstmals 1819 in Leipzig und den zweiten, zum erstenmal 1844 in Leipzig publizierten Band dieser Schrift benutzte Nietzsche damals in deren dritter Auflage von 1859 (vgl. BAW 3, S. 438, 443, „Nachbericht zu den .Philosophischen Notizen'"). Im Dezember 1865 umfaßte sein Weihnachtswunsch Schopenhauers „Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften"; die zuerst 1851 in Berlin erschienenen zwei Bände dieses Werkes verwendete Nietzsche danach in dessen zweiter Auflage von 1862 (vgl. ebd.). Der „Nachbericht" zu Nietzsches Brief vom vermutlich 9. Dezember 1865 an Franziska und Elisabeth Nietzsche in BAB 2 teilt ferner eine Notiz aus Nietzsches Studentenzeit mit (vgl. BAW l, S. LXXVIIIf., „Sachlicher Vorbericht zur Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches"), die folgende Titel und Auflagen Schopenhauerscher Schriften verzeichnet: „über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 3. Aufl. 1864. Leipz. Brockhaus", „die beiden Grundprobleme der Ethik 2. Aufl. 1860 Leipz. Brockhaus", „über den Willen in der Natur 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1854" (BAB 2, S. 406, Anm. zu Nr 288). Nietzsches erste umfangreichere Ausführungen „Zu Schopenhauer", die sehr wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des März und zu Beginn des April 1868 entstanden sind (vgl. BAW 3, S. 443, „Nachbericht zu den .Philosophischen Notizen'"), erstrecken sich auf die beiden Bände von „Die Welt als Wille und Vorstellung" und auf den zweiten Band der „Parerga und Paralipomena" (vgl. die Zitaten nach weise zu den Aufzeichnungen „Zu Schopenhauer" aus der Zeit von Oktober 1867 bis April 1868 in BAW 3, S. 452 f., Anm. zu S. 352-361, „Nachbericht zu den .Philosophischen Notizen'"). Diese Bände der Frauenstädt-Ausgabe sind in Nietzsches nachgelassener Bibliothek erhalten (vgl. (Max Oehler): Nietzsches Bibliothek. (Weimar): 1942 (= 14. Jahresgabe der Gesellschaft

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Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie

Für das Nirvana boten sich Nietzsche außer Schopenhauers Schriften in erster Linie die von ihm zitierten Werke von Müller „Essays. Bd 1: Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft". Leipzig: 1869 und „Essays. Bd 2: Beiträge zur vergleichenden Mythologie und Ethologie". Leipzig: 1869 und die Schrift von Koeppen „Die Religion des Buddha und ihre Entstehung". Berlin: 1857 an. 4 Zum Nichts und zum Nichtsein fand Nietzsche außer in Schopenhauers, Müllers und Koeppens Schriften Bedeutsames im Werk von Spir „Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie". (Bd 1.) Leipzig: 1873.5

2. Die Quellen der, semasiologisch gesprochen, frühesten Belege Als Quellen der, semasiologisch betrachtet, frühesten Stellen können hier zwei, möglicherweise drei, die dem obenerwähnten Kriterium der Nachweisbarkeit durch die Erschließung von Zitaten entsprechen, mitgeteilt werden. Es sind Schriften von Prosper Merimee und Turgenev. Zuvor soll jedoch ein kurzer Exkurs über die Situation, in der sich der die Vokabel ,Nihilismus' rezipierende Nietzsche zwischen 1865 und 1880 befand, das Umfeld verdeutlichen, in dem Nietzsches Übergang von der Aufnahme zur Wiedergabe stattfand. Vorab soll ferner ein Überblick über die Weisen, wie Nietzsche zu zitieren pflegte, die Aufgabe vergegenwärtigen, die Nietzschesche Texte dem Quellen-Forscher stellen. Zwischen 1865 und 1880 rezipierte Nietzsche, wie aus der Erwähnung einschlägiger Autoren in seinem Nachlaß, in seinen Werken und in seinen Briefen ersichtlich ist, außer den Vertretern der Französischen Revolution Repräsentanten aller Perioden der neuzeitlichen bzw. modernen Geschichte des Nihilismus-Begriffs. Diese Phasen entwickelten sich im Zusammenhang mit den folgenden geistes- und realgeschichtlichen Komplexen: 1. Deutscher Idealismus. 2. Deutsche Frühromantik. 3. Katholische, protestantische und jüdische Glaubenstradition. 4. Hegelianismus. 5. Europäische BuddhismusRezeption. 6. Russische Opposition, russischer Liberalismus und russischer

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der Freunde des Nietzsche-Archivs). S. 21; vgl. BAW 3, S. 443 f., „Nachbericht zu den .Philosophischen Notizen'"; vgl. KSA 14, S. 40, „Kommentar zur Kritischen Studienausgabe"). Vgl. die Zitatennachweise zu Fragmenten aus der Zeit von September 1870 bis Januar 1871 in KSA 14, S. 534 f., Anm. zu 5[30] ff., „Kommentar zur Kritischen Studienausgabe". Vgl. die Zitatennachweise zu Fragmenten aus dem Frühjahr 1873 in KSA 14, S. 547, Anm. zu 26[1], 26[11], „Kommentar zur Kritischen Studienausgabe".

Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs

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Konservativismus. 6 Die Anzahl der Quellen des Nihilismus-Begriffs vor, aber auch nach dem Sommer 1880 erhöht sich noch um solche, die keinen unmittelbaren Niederschlag in Nietzsches Nachlaß, in seinen Werken und in seinen Briefen gefunden haben, die jedoch, wie in den nachstehenden beiden Beispielen, in den Briefen an ihn und in seiner postumen Bibliothek dokumentiert sind. Vor dem Sommer 1880 konnte Nietzsche das Wort ,Nihilismus' in seiner adjektivischen Ausformung in einem Brief lesen. Carl Fuchs kündigte ihm am 16. Januar 1873 eine Publikation an. „Mit nächstem erscheint von mir die vierhändige Übersetzung einer (in Ihrem Sinne) ,naiv'-schopenhauerischen Composition für Orchester, .Ballade' genannt, von einem ganz jungen Componisten Georg Riemenschneider, nach dem gleichfalls zweifellos ohne Schopenhauer-Kenntniß nihilistischen Gedicht von J. N. Vogl"7. In seiner Antwort vom 29. Januar 1873 nahm Nietzsche diese Stelle nicht auf. 8 Nach dem Sommer 1880 wurde Nietzsche mit einer französischen Stellungnahme zu einem einflußreichen Werk der russischen Literatur bekannt. In Ferdinand Brunetieres zum erstenmal 1882 in Paris veröffentlichter und in der Auflage von 1884 von Nietzsche erworbener Sammlung von Studien unter dem Titel „Le Roman naturaliste" versah er den Aufsatz über „Le Roman du nihilisme russe" mit zahlreichen Unterstreichungen und Anstreichungen.9 Der Artikel handelt vom „evangile du nihilisme russe"10, von Cernysevskijs Roman „Que faire?" also, von dem11 wie von Nietzsches Lesespuren in Brunetieres Abhandlung 12 noch die Rede sein wird. Die Studie Brunetieres ist eine indirekte Quelle geblieben.13 Dem rezipierenden Nietzsche kam mithin die 6

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Zur Geschichte des Nihilismus-Begriffs vgl. insbes. Riedel: Nihilismus, S. 371—411; und W[olfgang] Müller-Lauter u. W(ilhelm) Goerdt: Nihilismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Unter Mitw. v. mehr als tausend Fachgelehrten in Verb, mit Guenther Bien [u. a.] hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Völlig neubearb. Ausg. des .Wörterbuchs der philosophischen Begriffe' v. Rudolf Eisler. Bd 6. Basel, Stuttgart: (1984). Sp. 846-854. KGB II/4 Nr 401, S. 175. Vgl. KGB II/3 Nr292, S. 116 f. Vgl. Le Roman naturaliste. Nouv. ed. Paris: 1884. ['l 882]. S. 29-50. - Vgl. KGW VII/4/2, S. VII, „Vorwort"; und KGW VII/4/2, S. 58 Fußn. 2, „Chronologie der Manuskripte von Band VII 2 und VII 3". Brunetiere: Le Roman naturaliste, S. 47. S. u. S. 23 f. S. u. S. 42 f., 45 Fußn. 30, 47 Fußn. 38, 49 f. Fußn. 51. Ein weiteres Beispiel für Nietzsches Nihilismus-Rezeption stellt eine erstmals 1989 bekannt gemachte Stelle in einer Kollegnachschrift aus dem Sommer-Semester 1865 in Bonn dar. In seiner Nachschrift der Vorlesung „Allgemeine Geschichte der Philosophie" von Carl Schaarschmidt notierte sich Nietzsche die Kennzeichnung des Buddhismus als eines „pantheist Nihilismus" (zit. n. Johann Figl: Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens. Auf der Grundlage seiner unveröffentlichten Kollegnachschrift aus Philosophiegeschichte . In: Nietzsche-Studien. 18 (1989), S. 466).

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Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie

Vokabel ,Nihilismus' nicht nur in Schriften über die Schopenhauersche Philosophie, die sich übrigens nicht als nihilistisch begreift und der das Etikett .Nihilismus' auch nicht gerecht wird, und über die buddhistische Religion, deren ursprüngliche Gestalt sich nebenbei bemerkt nicht als nihilistisch versteht und der die Aufschrift ,Nihilismus' auch nicht angemessen ist, schon vor 1880 immer wieder zu Gesicht oder zu Gehör; der produzierende Nietzsche wählte den von ihm geschätzten Merimee und den mit diesem befreundeten Turgenev als Anreger zur Abfassung der ersten beiden Nihilismus-Stellen. Nicht nur in den nachgelassenen Fragmenten, sondern auch in den von Nietzsche publizierten und zum Erscheinen bestimmten Werken verwendete Nietzsche nicht nur die in wissenschaftlichen Texten übliche Zitierweise. Nietzsche pflegte auf folgende vier Arten zu zitieren: 1. Vollständig, d. h. mit Anführungen und mit der Angabe von Schrift und Seite. 2. Weniger vollständig, d. h. mit Anführungen, aber ohne die Angabe von Schrift und Seite. 3. Noch weniger vollständig, d. h. ohne Anführungen und ohne die Angabe von Schrift und Seite. 4. Paraphrasierung.14 Der Quellen-Forscher hat demnach auch dort Zitate zu erwarten, wo sie nicht als solche kenntlich gemacht oder in die sinngemäße Übertragung eingegliedert worden sind. Für die beiden Nihilismus-Stellen in den Nachlaßfragmenten 4[103] und 4[108] erweisen sich Merimees „Lettre a l'editeur", „A M. Charpentier", und Turgenevs Roman „Peres et enfants" als Quellen. Für die zweite NihilismusStelle kann zudem noch Turgenevs Roman „Terres vierges" bzw. „Neuland" als Vorlage gedient haben. Merimees Brief hat in der französischen, von Turgenev und Louis Viardot besorgten und von Merimee revidierten Fassung von Turgenevs „Otcy i deti" (dt. „Väter und Söhne", eig. „Väter und Kinder"), die erstmals 1863 und sogleich in Buchform in Paris erschien, die Stelle des Vorworts inne.15 Die erste, für das Nachlaßfragment 4[103] relevante Passage in Merimees Brief nimmt Bezug auf mehrere bedeutsame Abschnitte in Turgenevs Roman. Der Beleg in Merimees Brief lautet: 14

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Zu Nietzsches Zitierweisen vgl. Jörg Salaquarda: Der Antichrist. In: Nietzsche-Studien. 2 (1973), S. 116. Vgl. Prosper Merimee: Etudes de litterature russe. Bd 2: Nicolas Gogol — Ivan Tourguenief. Texte etabli et annote par Henri Mongault. Paris: 1932 (= CEuvres completes. [Bdll]). S. 548, Anm. zu „Lettre ä M. Charpentier"; und ders.: Etudes de litterature russe. Bd 1: Pouchkine — Lermontof. Texte atabli et annote avec une introd. par Henri Mongault. Paris: 1931 (= OEuvres completes. [Bd 9]). S. CVIIIf. - Vgl. Ivan [Sergeevic] [Turgenev]: Peres et enfants. Par Ivan Tourguenef. Precede d'une lettre ä Pediteur par Prosper Merimee. Paris: 1863.

Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs

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Naguere on pensait a Saint-Petersbourg d'apres Hegel; presentement, c'est Schopenhauer qui a la vogue. Les adeptes de Schopenhauer prechent act i o n , parlent beaucoup et ne font pas grand'chose, mais l'avenir, disentils, leur appartient. Us ont leurs theories sociales qui effrayent fort les gens de l'ancien regime; car pour un peu ils vous proposent de faire table rase de toutes les institutions existantes.16

Mit der Anführung der Hegelianer als Vorfahren der Schopenhauer-Anhänger, des Predigens der Tat durch die Oppositionellen, ihrer Geschwätzigkeit, ihrer Hoffnungen auf die Zukunft, ihrer Theorien und ihrer Wendung gegen die Institutionen greift Merimee Gedanken aus „Peres et enfants" auf. Das Werk wurde 1860 und 1861 ausgearbeitet17 und auf russisch erstmals 1862 in der Zeitschrift „Russkij vestnik" (dt. „Russischer Bote") veröffentlicht 18 . Der Roman, dessen Handlung in Rußland spielt, am 20. Mai 1859 Julianischer Zeitrechnung einsetzt und in Übereinstimmung mit dem Abschluß des Turgenevschen Manuskripts im August 1861 abläuft, hat den Konflikt zwischen der von den vierziger Jahren bestimmten Generation und der von den sechziger Jahren geprägten Generation zum Inhalt. 19 Historischer Anlaß zur Schilderung dieses Generationenkonflikts ist die Bewegung, die Hegelianer in den vierziger Jahren eingeleitet hatten. Die Initiatoren waren Vissarion Grigor'evic Belinskij20, Alexander Herzen bzw. Aleksandr Ivanovic Gercen (eig. Aleksandr Ivanovic Jakovlev)21 und Michail Aleksandrovic Bakunin 22 . Die Oppositionellen führten diesen Auftakt in den fünfziger und in den sechziger Jahren in die erste Periode ihrer Aktivitäten, diejenige der Bildung ihrer Theorie, über. Die theoretische Grundlegung fand zwischen 1853 und 1861 statt und mündete in Antworten auf den Roman Turgenevs ein. Darin nannten sich Oppositionelle 1863 ,neue Menschen'23 und 1864 ,Rea16 17

Ebd. S. u.

Vgl. Peter Brang: I. S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk. Wiesbaden: 1977. S. 100. Vgl. Wolf-Heinrich Schmidt: Nihilismus und Nihilisten. Untersuchungen zur Typisierung im russischen Roman der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. München: (1974) (= Forum Slavicum. Bd 38). (Zugleich Diss. Berlin 1974). S. 60 Fußn. 6; und Brang: I. S. Turgenev [...], S. 100. 19 Zu „Otcy i deti" vgl. im übrigen insbes. Schmidt: Nihilismus [...], bes. S. 60 — 89; und Brang: I. S. Turgenev [...], bes. S. 100-106. -° Zur Hegel-Rezeption Belinskijs vgl. insbes. Dmitrij [Ivanovic] [Cizevskijj: Hegel in Rußland. In: Hegel bei den Slaven. Hg. v. Dmitrij Tschizewskij . 2., verb. Aufl. Darmstadt: 1961. ( 934). [Zugleich Diss. Halle-Wittenberg 1934 (Teildr.)]. Bes. S. 207-229. :1 Zur Hegel-Rezeption Herzens vgl. insbes. ebd. bes. S. 263-279. ^ Zur Hegel-Rezeption Bakunins vgl. insbes. ebd. bes. S. 189—207. -3 1863 wurde Nikolaj Gavrilovic Cernyäevskijs Roman „Cto delat'? Iz rasskazov o novych ljudjach" (dt. „Was tun? Erzählungen von neuen Menschen") ira der Zeitschrift „Sovremennik" (dt. „Zeitgenosse") publiziert. Darin bezeichnen sich die „neuen Menschen" nicht als .Nihilisten'. Die Vokabeln ,Nihilist', ,Nihilistin', .Nihilismus' und .nihilistisch' kommen 18

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Der Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie

listen'24, bevor die Fremdbezeichnung ,Nihilist' vor allem durch die Begriffsklärung Herzens aus dem Jahr 1869 mit den Selbstbestimmungen als ,neue Menschen' und als ,Realisten' gleichgesetzt25 und zur Selbstbezeichnung der Oppositionellen geeignet wurde. Die Exponenten dieser Phase waren Nikolaj Gavrilovic Cernysevskij 26 , Nikolaj Aleksandrovic Dobroljubov 27 und Dmitrij

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darin nicht vor. (Vgl. Was thun? Erzählungen von neuen Menschen. Roman v. N. G. Tschernyschewskij. Aus dem RUSS, übertr. Th. 1—3. Leipzig: 1883.) 1864 erschien Dmitrij Ivanovic Pisarevs Essay „Realisty" (dt. „Realisten") in der Zeitschrift „Russkoe slovo" (dt. „Russisches Wort"). Darin nennen sich die „Realisten" nicht .Nihilisten'. Das Wort .Nihilist' taucht darin nur bezogen auf die Turgenevsche Zentralfigur Bazarov auf. (Vgl. Realisten. In: Russische Kritiker. (Belinskij / Dobroljubow / Pissarew). Ausgewählte Schriften. Mit einer Einl. vers. v. Efraim Frisch. (Übers, v. Fega Frisch). München: 1921 (Bücherei für Politik und Geschichte des drei Masken Verlages). S. 220.) Herzen gab hauptsächlich in den von ihm teilweise in Zusammenarbeit mit Nikolaj Platonovic Ogarev veröffentlichten Zeitschriften „Poljarnaja zvezda" (dt. „Polarstem") und „Kolokol" (dt. „Glocke"), beides Organe der von Herzen und Ogarev begründeten freien russischen Presse im Ausland, mehrere Stellungnahmen zum russischen Nihilismus ab. Am 15. Februar 1869 drückte er in einem „Supplement ä la Cloche" sein Verständnis der Termini ,neue Menschen', .Realisten' und .Nihilisten' aus. Der Text ist als offener Brief an Grigorij Nikolaevic Vyrubov gerichtet, der Herzen gegenüber protestiert hatte, er sei nicht Nihilist, sondern Positivist. „[...]. Quant ä moi, j'avoue que je ne partage pas vos scrupules. Le mot n i h i l i s m e est un mot d'argot; ce sont d'abord les ennemis du mouvement radical et realiste, en Russie, qui l'ont mis en avant. Le mot est reste. Ne cherchez done pas une definition du n i h i l i s m e dans l'etymologie. La destruction, prechee par nos realistes, tend par toutes ses aspirations a l'affirmation. [...] Quant au terme d ' h o m m e n o u v e a u — il ne vous froisse que parce que vous me pretez une maniere d'entendre ce mot, qui n'est pas exactement la mienne. L'idee ne m'est jamais venue d'appliquer la division des quadrumanes (simiae a n t i q u a e c o n t i n e n t i s , s i m i a e n o v a e c o n t i n e n t i s ) ä nos contemporains. II ne s'agit pas de geographic, mais de l'independance complete de la t r a d i t i o n c h r e t i e n n e , m o n a r c h i q u e , i d e a l i s t e , j u r i d i q u e , e c o n o m i q u e d u vieux monde, il s'agit de l'Etat, ,sans Dieu ni Eglise', comme vous le desirez. J'ai employe le terme d ' h o m m e n o u v e a u , comme un aquivalent au nouvel Adam des chretiens. [...] Or, cette maniere de poser carrement les questions, sans egards, sans managements, sans respect, a toujours le trait distinctif de nos nihilistes, de nos hommes n o u v e a u x , hommes sans tradition, sans drapeau .use par la victoire' — mais avec une conviction forte et une enorme audace de logique, qui, ayant rompu avec la tradition, ne se sont pas embrigades dans une ecole." (A(leksandr) I(vanovic) Gercen: Reponse a M. G. Vyrouboff. In: Ders.: Sobranie socinenij v tridcati tomach. Bd XX, 2. Moskva: 1960. S. 507 f.; vgl. S. 829—831, Anm. zu „Reponse a M. G. Vyrouboff .) Im zweiten Brief entwickelt Nietzsche die Erscheinung der decadence in den Künsten am Beispiel von Hugo Riemanns „Phrasirungslehre" und setzt die „rhythmische decadence" in Analogie zum Stil der decadence in der Architektur: „Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten R e d e t h e i l e der Musik (— ich möchte, Sie und Riemann wendeten die Worte an, die Jeder aus der Rhetorik kennt: Periode (Satz), K o l o n , K o m m a , je nach der Größe, insgleichen Fragesatz, C o n d i t i o n a l s a t z , I m p e r a t i v — denn die Phrasirungslehre ist schlechterdings das, was für Prosa und Poesie die I n t e r p u n k t i o n s lehre ist), — also: wir betrachteten diese Beseelung und Belebung der kleinsten Theile, wie sie in der Musik zur Praxis Wagner's gehört und von da aus zu einem fast herrschenden Vortrags-System (selbst für Schauspieler und Sänger) geworden, mit verwandten Erscheinungen in a n d e r e n Künsten: es ist ein t y p i s c h e s V e r f a l l s - S y m p t o m , ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen z u r ü c k g e z o g e n hat und im Kleinsten l u x u r i i r t . Die ,Phra,sirung' wäre demnach die Symptomatik eines Niedergangs der organisirenden Kraft: anders ausgedrückt: der Unfähigkeit, große Verhältnisse noch rhythmisch zu überspannen — eine Entartungsform des R h y t h m i s c h e n ... Dies klingt beinahe paradox. Die ersten und leidenschaftlichsten Förderer der rhythmischen Präzision und Eindeutigkeit wären nicht nur Folgeerscheinungen der rhythmischen decadence, sondern auch deren stärkste und e r f o l g r e i c h s t e Werkzeuge! In dem Maße, in dem sich das Auge für die rhythmische Einzelform (.Phrase') einstellt, wird es myops für die weiten, langen, großen F8iffi£fl: genau wie in der Architektur des Berninismus. Eine Veränderung der O p t i k des Musikers — die ist überall im Werke: n i c h t nur in der rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten, unsere G e n u ß f ä h i g k e i t b e g r e n z t sich i m m e r mehr auf die d e l i k a t e n kleinen sublimen Dinge ... folglich m a c h t man nur auch noch solche " (KGB III/5 Nr 1096, S- 401, An Carl Fuchs, Sils, Sonntag. .) Zwischen dem großen Stil, zu dem in der Architektur der Palazzo Pitti zu zählen ist (vgl. ferner insbes. KGW VIII/3 14[61], S. 39, NF, Frühjahr 1888) und der in der Musik aussteht (vgl. insbes. ebd. S. 38—40), und dem Stil der decadence, zu dem in der Architektur der Berninismus zu rechnen ist (vgl. ferner insbes. KGB III/5 Nr 1184, S. 518, An Ferdinand Avenarius, (Turin, 10. Dezember 1888» und der sich in der Musik Wagners verwirklicht (vgl. insbes. ebd.), findet ein Wechsel der Perspektive statt. Gegenüber Bourgets Hypothese zum Stil der decadence kommt Nietzsches Beschreibung des Stils der decadence mit der Umkehrung des Ausgangspunkts der Bewegung vom Allgemeinen ins Besondere und des Fluchtpunkts der Bewegung vom Besonderen ins Allgemeine der von ihm festgestellten Optik der decadence nach.

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Der Nihilismus-Begriffin Nietzsches Philosophie

„kleinen Pariser decadents"465.466 Der Nietzsche der „Artisten-Metaphysik" in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" negiert gemäß dem „Versuch einer Selbstkritik" die „Wahrhaftigkeit" des christlichen „Gottes"467 und antizipiert ein Jenseits des christlichen „ ,Gut und Böse' '