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German Pages 267 [272] Year 2000
Michael Steinmann Die Ethik Friedrich Nietzsches
W DE
G
Monographien und Texte 2ur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) · Jörg Salaquarda f (Wien) Josef Simon (Bonn)
Band 43
2000 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die Ethik Friedrich Nietzsches
von
Michael Steinmann
2000 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. TEL 12/1 Ernst-Rcuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof l.D-53113 Bonn Redaktion Johannes Neininger, Aschaffenburger Str. 20, D-10779 Berlin
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einbeitsaufnahme Steinmann, Michael: Die Ethik Friedrich Nietzsches / von Michael Steinmann. — Berlin ; New York : de Gruyter 2000 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 43) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1998 ISBN3-11-016440-X
© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Für loanna
Vorwort Die vorliegende Studie wurde im April 1998 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen und ist für den Druck leicht überarbeitet worden. Entscheidende Impulse gaben mir die Nietzsche-Vorlesungen meines Lehrers Prof. Dr. Günter Figal. Er hat die Arbeit auch in praktischer Hinsicht unterstützt. Prof. Dr. Georg Wieland ist großzügig als Zweitgutachter eingesprungen. Für weitere Gutachten und Anregungen bin ich Prof. Dr. Manfred Frank und Prof. Dr. Otfried Hoffe verpflichtet. Prof. Dr. Volker Gerhardt hat meinen Überlegungen stets Interesse entgegengebracht. Für die Aufnahme in die Reihe der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung sei an dieser Stelle den Herausgebern gedankt. Peter Atzinger M.A. hat das Endmanuskript minutiös korrigiert. Der Fortgang der Arbeit wäre ohne die bleibende Unterstützung durch meine Eltern nicht möglich gewesen. Tübingen, Dezember 1999
M. S.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
1. Einleitung
2. Handeln und Vernunft
VII
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2.1. Der Gegensatz von Weisheit und Sokratismus
14
2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken
18
2.3. Das Dionysische: Nietzsches Wahrheitsbegriffe
26
2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst.... 33 2.5. Das Dionysische im Handeln: Deuten und Vergessen
41
2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
47
3. Handeln und Wollen
58
3.1. Die Selbstverhältnisse der Moral
58
3.2. Strukturmomente des Willens
70
3.3. Die Zirkularität des Wollens
79
3.4. Hinführung zu einem anderen Handeta
85
4. Grundlinien von Platons Ethik 4.1. Die Notwendigkeit des Guten für das Handeln
94 94
X
Inhaltsverzeichnis
4.2. Die Ermöglichung des Guten: Ethos und Wissen
101
4.3. Die Struktur des guten Lebens
114
4.4. Nachtrag: Die Konzeption des Philebos
123
5. Nietzsches Ethik des guten Lebens
129
5.1. Grundlagen
129
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
129
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
146
5.2. Handlungsweisen
163
5.2.1. Die Morphologie der Vornehmheit
163
5.2.2. Das Leben als Selbst
179
5.3. Ethischer Dualismus
191
6. Selbstverständnisse
205
6.1. Der Begriff des Willens zur Macht: Zurückübersetzung in die Natur .. 205 6.2. Die Konzeption der ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
217
Siglenverzeichnis
243
Literaturverzeichnis
245
Personenregister
251
Sachregister
254
l. Einleitung Der Titel dieser Untersuchung ist affirmativ zu verstehen: Nicht sollen einzelne ethische Aspekte in Nietzsches Denken nachgezeichnet werden, vielmehr ist zu zeigen, daß diesem ein systematisch genügendes Modell der Ethik entnommen werden kann. Genügend insofern, als es eine Handlungstheorie entwickelt, die Struktur des gelungenen Handelns oder Lebens klärt und die Beziehung zu anderen Modellen und Verständnisweisen diskutiert. Dabei knüpft die Untersuchung an bisherige Ergebnisse der Forschung an, und zwar in zweifacher Beziehung: Zum einen ist die Einsicht, daß in Nietzsches Denken zumindest ethische Momente liegen, weitgehend akzeptiert, wie wir noch im folgenden erläutern werden. Zum anderen ist der Ethiktyp, dem auch Nietzsches Überlegung zuzuordnen ist - die Strebensethik, als die Lehre von der Führung eines guten Lebens -, gerade auch in letzter Zeit in der philosophischen Diskussion aufgegriffen worden, teilweise sogar mit ausdrücklichem Bezug auf Nietzsche selbst. Auch daraufgehen wir später ein. Dennoch hat es, was allein die Nietzscherezeption betrifft, nicht den Anschein, als sei endgültige Klärung erreicht, denn auch wenn man sich über die ethischen Implikationen als solche klar ist, steht noch nicht fest, wie weit diese im einzelnen gehen. Es ist also durchaus sinnvoll, sich um eine weitergehende Klärung zu bemühen, die in zweiter Linie auch für die systematische Betrachtung aufschlußreich sein kann. In erster Linie gilt es hier jedoch, eine Nietzscheinterpretation zu leisten. Die Spezifikum der vorliegenden Untersuchung liegt darin, daß sie vom Begriff des Guten ausgeht. Sie wird zeigen, daß sich Nietzsches Ethik nur dann adäquat verstehen läßt, wenn man sie strukturell und inhaltlich auf ein Verständnis dieses Begriffes bezieht. Als Motto könnte ihr deshalb vorangehen: „Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?" (Za I, Wege des Schaffenden; 4, 81).
Nicht die bloße Überwindung der Moral ist Nietzsches Anliegen, auch nicht die bloße Selbstbestimmung oder Souveränität, sondern die Qualifikation dieser Bestimmung durch ein Telos des gelungenen Handelns oder Lebens. Dabei ist der Begriff des Guten, der das Telos konstituiert, keineswegs unproblematisch zu verstehen. Ihm eignet, schon vor jeder inhaltlichen Auffassung, eine strukturelle
2
l. Einleitung
Doppeldeutigkeit, insofern das Gute entweder relativ verwendet werden kann, in dem Sinn, daß etwas gut für jemanden ist, oder absolut, in dem Sinn, daß etwas in sich zweckgerecht oder gelungen ist. Freilich liegt die Schwierigkeit weniger darin, daß es diese zwei verschiedenen Hinsichtnahmen gibt, als in dem Umstand, daß sie sich in jeder Bestimmung des Guten unweigerlich überschneiden. So kann man, um ein Beispiel Platons aufzugreifen, von einem guten Zaumzeug sprechen und damit die Übereinstimmung des Geräts mit dem in ihm liegenden Zweck bezeichnen (Rep. 601 c ff.). Dennoch ist ein Zaumzeug für den Gebrauch bestimmt und immer gut für jemanden, genauer für den, der reiten will, bzw. gut reiten will, weil es in seinem Interesse liegt, das Pferd im Griff zu haben. Die absolute Verwendungsweise des Begriffes ist, von dieser Seite her gesehen, ohne den Bezug auf jemanden weder verstehbar noch relevant. Umgekehrt konstituiert jedoch diese Relativität die absolute Bestimmung nicht oder wenigstens nicht schlechterdings, sondern wird von ihr ermöglicht. Damit das Zaumzeug dem Interesse des Reitenden, gut zu reiten, Genüge leistet, muß man wissen, wie eine Verbindung von Lederriemen funktioniert, bzw. wie sie herzustellen ist, und dies setzt ein allgemeineres Wissen voraus, das man auch bei einem Sattlermeister erwarten kann, der vielleicht nie geritten ist1. Zusammengefaßt bedeutet dies, daß keine der beiden Hinsichtnahmen unabhängig, aber auch keine auf die jeweils andere zu reduzieren ist. Um dieses Verhältnis näher zu erläutern, können wir zeigen, wie der Begriff des Guten in einigen Ansätzen der gegenwärtigen Ethik verstanden wird. Dabei stellen wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr geht es nur darum, Möglichkeiten aufzuzeigen, in denen sich das gezeigte Verhältnis artikuliert. So kann als erster Jürgen Habermas als Vertreter einer Position herangezogen werden, für die nur eine relative Bestimmung des Guten möglich ist. Der Grund liegt in seiner Orientierung an der epistemologischen Frage der Begründbarkeit. Nach dem Wegfall der Metaphysik kann für Habermas keine Güterlehre als allgemeinverbindlich angenommen werden (1991, 183). Das Gute ist deshalb nur in Bezug auf den jeweiligen Willen bestimmbar, und zwar sowohl was die Ethik als auch was die Moral im eigentlichen Sinn betrifft. So fallen, nach Habermas, „die ethischexistentielle Selbstverständigung des Einzelnen und die ethisch-politische Klärung eines kollektiven Selbstverständnisses [...] in die Zuständigkeit der Betroffenen" (184). Desgleichen sind die Normen der Moral nur im Hinblick auf das begründbar, was alle wollen oder wollen können (108). Diese Beschränkung reicht jedoch nicht aus, um zu bestimmen, was ein gutes Leben ist (auf die Moral soll hier nicht 1
Vgl. Williams 1978, 51 f. Daß durch diese Dimension, die man auch „deskriptiv" nennen kann, nicht vorgegeben wird, welche Eigenschaften oder Dinge als gut zu bezeichnen sind, betont Mackie (1981, 77). Entsprechend folgt daraus kein Objektivismus von Werten, sondern nur „the task of providing criteria in the light of which choices or preferences may be evaluated" (Olson 1967, 369).
l. Einleitung
3
eingegangen werden). Nach Habermas verständigt man sich in der Frage nach dem guten Leben darüber, „wie man sich sieht und sehen möchte", d.h. man formuliert ein „Ich-Ideal", das die eigene Lebensweise nicht nur zu beschreiben, sondern zugleich zu bewerten hilft (104). Die Selbstverständigung ist also teleologisch auf einen „normativ gehaltvollen Lebensentwurf' (ebd.) ausgerichtet. Doch gerade wenn man dies zugesteht, hat man zu zeigen, wodurch der Prozeß der Verständigung an ein befriedigendes Ende gelangen kann. Legt man die Relativität des Guten zugrunde, muß man ja sagen, daß das Leben dann gut ist, wenn man es als gut versteht. Dementsprechend ist auch der Lebensentwurf dann „gehaltvoll", wenn er dem entspricht, was man in sich „sehen möchte". Diese Entsprechung bleibt jedoch willkürlich, wenn man nicht auch eine qualitative Bestimmung des Guten trifft, die zeigt, warum man das Leben als gut erachten kann. Zwar könnte Habermas dies zugestehen und dennoch darauf beharren, daß diese Bestimmung nicht allgemeinverbindlich vorzugeben sei, sondern eben durch den je Betroffenen entschieden wird. Immerhin würde damit aber eingeräumt, daß die Beschränkung auf das Wollen nicht genügt, sondern uneingestanden von der Möglichkeit qualitativer Wertigkeit zehrt. Habermas kann dieses Zugeständnis nur dadurch vermeiden, daß er die Wertigkeit in den Einzelnen zurückverlegt und, wie zitiert, von einer „existentiellen" Entscheidung spricht. Allerdings suggeriert der Existenzbegriff nur, daß eine Weitentscheidung nicht nur willkürlich ist, denn an sich liegt auch in ihm kein Gehalt. Aus derselben philosophiegeschichtlichen Ausgangsposition wie Habermas argumentiert auch Hans Krämer. Allerdings versucht er, gerade unter dieser Bedingung einen „affirmativen Begriff des Guten" im Sinn einer Güterlehre zu entwikkeln (1992, 79). Dabei stellt sich unter der ausdrücklichen Bedingung des Wegfalls jeder objektiven, d.h. ontologisch fundierten Teleologie das Problem, daß der Begriff des Guten weder auf allgemeinen Formprinzipien noch auf einem Verständnis des menschlichen Wesens beruhen kann (147). Er wird deshalb „bis hart an den Grenzfall der Vergleichgültigung herangeführt", und im weitestmöglichen Sinn verstanden (156). Als das Gute erscheint so das Können, im Sinn der Fähigkeit, Tätigkeiten qualifiziert auszuführen (157f.). Man kann diese Bestimmung so erläutern: Obwohl es völlig offen bleiben muß, was ein Einzelner als Gelingen seines Lebens sieht, setzt doch jeder voraus, daß er überhaupt über etwas verfügt und sein Leben nicht bloß erleidet. Doch selbst wenn man sagen kann, daß hierbei ein konkreterer Standpunkt eingenommen wird als bei Habermas, der wegen der vorausgesetzten Unbegründbarkeit die Frage nach dem Guten offen läßt, stellt sich doch auch in diesem Rahmen das Problem, daß man das Können jeweils qualifizieren muß. Jedes Können unterliegt in praxi einem Relevanzgesichtspunkt: Während es für einen sehr ängstlichen Menschen eine besondere Leistung darstellt, den Führerschein zu erwerben, ist ein weniger Ängstlicher erst dann zufrieden, wenn er
4
I.Einleitung
Andere überholt und die Höchstgeschwindigkeit seines Wagens ausnutzen kann. Das Können hat in diesen Fällen einen unterschiedlichen Sinn; bei dem einen vielleicht den, nicht mehr nur Bus fahren zu müssen, und beim anderen den, ein schnittiger Fahrer zu sein, den seine Beifahrer bewundern. Gut wird das Können also im Fall des einen wegen der Bedürmisnatur des Menschen, der nicht aus eigener Kraft überall dorthin gelangt, wo er hingelangen will, im Fall des anderen wegen der Anerkennung, die es nach sich zieht. Zwar könnte Krämer, ähnlich wie Habermas, erklären, daß eben wegen dieser unterschiedlichen Bedeutungen der Begriff des Könnens frei von jeder Qualifikation zu bleiben hat. Dennoch zehrt auch er uneingestanden von einer solchen, insofern auch er voraussetzt, daß es gut ist, daß man etwas Bestimmtes kann2. Ein Gegenkonzept zu den beiden hier genannten hat Alasdair Mclntyre erstellt. Er legitimiert die Möglichkeit, das Gute im Sinn einer qualitativen Bestimmung zu verwenden, durch das Wissen um die inhärenten Zwecke in jeder Tätigkeit. Wenn ein Gegenstand, aber auch eine Handlungsweise einen ihr inneren Zweck besitzt, kann sie in Bezug auf diesen als gut oder schlecht bewertet werden (1981, 56). Das Problem, das sich diesem Ansatz stellt, ist, wie Mclntyre selber eingestellt, die Vermeidung eines bloßen Funktionalismus (186f). Um eine qualitativ-sittliche Dimension des Guten annehmen zu können, setzt er voraus, daß Tätigkeiten teleologisch auf die Lebensganzheit des einzelnen Menschen bezogen sind, der sich, ausgehend von diesen Tätigkeiten, in seiner Identität zu bestimmen sucht. Diese Bestimmung erfolgt durch eine Geschichte, die der Einzelne über sich erzählt. Dabei nimmt Maclntyre an, daß sich der Einzelne, indem er die Einheit seines Charakters erzählend konstituiert, zugleich nach dem Guten seines Lebens fragt: Die Einheit des Lebens ist die Einheit des Lebens in seinem Gelingen, da nur eine gute Geschichte überhaupt eine Geschichte ist (202f.). Auf die hermeneutischen Prämissen dieses Ansatzes, der Identität als ein Produkt von Narrativität versteht, soll hierbei nicht eingegangen werden. Wichtig ist vielmehr, daß sich durch die Teleologie der Tätigkeiten auch die Hinsicht auf das Gute verändern muß: War es auf der funktionalen Ebene durch das Kriterium der Zweckgerechtigkeit absolut bestimmt, so wird es in den Narrationen notwendig relativ, da das gute Leben eben nur dasjenige ist, das sich in den Geschichten der Einzelnen in ihrer Tradition konstituiert. Auch der im Sinn Hegels erfolgende Hinweis, daß die Erzählung in einem Kontext bestehender Sittlichkeit erfolgt, sagt nur aus, daß es eine qualitative Bestimmung gibt, ohne Kriterien für sie anzuführen (206). Der in dem Ansatz liegende Funktionalismus wird also letztlich nicht überwunden.
2
Auf anthropologischer Ebene ergibt sich filr Krämer der Wert des Könnens aus der Hemmbarkeit der menschlichen Natur, der entgegengearbeitet werden muß (1992, 232-247; bes. 243). Allerdings folgt aus dem Umstand, daß es nicht gut ist, nicht zu können, nicht, daß jedes Können etwas Gutes ist.
l. Einleitung
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Um die Begründung der qualitativen Dimension des Guten bemüht sich auch Martin Seel in seiner Theorie des guten Lebens. Er geht wie Habermas vom Willen des Einzelnen als dem zureichenden Kriterium des Guten aus (1995, 253), legt aber dar, daß „nicht jeder Lebensentwurf [...] für jedes Subjekt gleich gut" sein kann (93). Vielmehr gibt es drei Kriterien eines Entwurfes: Seine Bezogenheit auf tatsächliche Lebensumstände - weil man sich nicht alles wünschen kann -, seine Kritikfähigkeit und seine Aussicht, Glück für den Einzelnen zu erwirken. Diese Kriterien können auch so zusammengefaßt werden, daß man sagt, ein Lebensentwurf müsse sinnvoll oder rational sein (95). Dabei ist die Vemünftigkeit ein nur formales Kriterium, das nicht selbst als Gut erstrebt wird, sondern das bestimmt, warum das, was man erstrebt, als Gut erachtet werden kann. Beziehen wir dies auf die Kategorien von Relativität und Absolutheit, so ergibt sich, daß bei Seel die relative Dimension des Guten selbst in den Status einer absoluten erhoben wird. Die Rede von der Rationalität eines Entwurfes bedeutet ja nur, daß der Entwurf so ist, daß man ihn unter den gegebenen Umständen wollen kann. Damit zeigt sich, daß auch er noch gehaltvollere Bestimmungen voraussetzten muß, um den Begriff des guten Lebens von einem bloß zweckrationalen Handeln abzugrenzen. Zwar gibt es ein gewichtiges Argument für den Primat des Wollens, denn es ist Seel zuzustimmen, wenn er sagt, daß das Gelingen des Lebens nicht „an das annähernde Erreichen einer Ordnung von Zielen" gebunden werden dürfe (116). Das gute Leben läßt sich in der Tat nur als selbstzweckhafter Vollzug beschreiben und nicht dadurch, daß man im Leben etwas Bestimmtes erreicht. In Seels Beschreibung heißt dies, daß das Leben dann gelingt, wenn man in freier Weise in ihm wollen kann und nicht auf die Umsetzung des Willens fixiert ist (l 14-118). Dennoch wird gerade dann eine Qualität des Wollens vorausgesetzt, die nicht mit dem Umstand des bloßen Wollens beschrieben werden kann. Auch Seel deutet sie an, wenn er sagt, es sei das Ziel des guten Lebens, „in Einklang mit dem eigenen [...] Wollen" leben zu können (115), mit dem Leben „übereinstimmen" zu können (68). Das Wollen gehört also seinerseits zu einer Lebensweise, die es als gelungene wollen kann, und konstituiert sie nicht vielmehr erst. Als letzter Ansatz ist der von Charles Taylor vorgetragene zu nennen. Ihm gelingt als einzigem in unserer Auswahl, die absolute Dimension des Guten konsistent zu formulieren. Wie Mclntyre verfährt er dabei hermeneutisch, bezieht sich jedoch nicht auf die narrative Konstitution des Guten in einer Geschichte, sondern auf seine Vorgegebenheit in Urteilen. Es gibt, so Taylor, in jedem Urteil ein „framework", das nicht durch dieses selbst begründet wird, sondern es seinerseits trägt. Dadurch wird eine qualitative, d.h. absolute Bestimmung des Guten vorausgesetzt, unter dessen Bedingung ein Einzelner allererst relative Aussagen treffen, d.h. sagen kann, was für ihn das Gute ist (1989, 20 u. 42). Diese Voraussetzung gilt sowohl in lebenspraktischer Beziehung (44f.) als auch im Rahmen der phi-
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1. Einleitung
losophischen Ethik. Taylors Pointe ist, daß gerade diejenigen Denker, die, wie Habermas, wegen des Fehlens objektiver Begründbarkeit qualitative Bestimmungen ausgeschlossen haben, diese in ihrer Ethik zugrunde legen, bzw. zugrundelegen müssen (87). Sie könnten sonst nicht sagen, warum man überhaupt moralisch handeln soll, d.h. sie könnten das Telos ihrer eigenen Bemühung nicht erfassen. Was dagegen Nietzsches Ansatz anbelangt, so ist er im Hinblick auf die hier gestellte Frage nach dem Guten zu dem Taylors analog. Auch er legt seiner Ethik ein qualitatives Verständnis des Begriffs zugrunde (wobei sich im einzelnen freilich spezifische Unterschiede zu Taylors Denken und Parallelen zu den anderen Betrachtungsweisen ergeben). Eine solche Einordnung muß verwundern, denn selbst wenn es auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen mag, in Nietzsche den Vertreter einer Ethik des guten Lebens zu erkennen, so folgt doch daraus nicht, daß er auch einen im gezeigten Sinn affirmativen Begriff des Guten vertritt. Wie wenig man mit einer solchen These erwarten kann, auf Konsens zu stoßen, zeigen allein die hier angeführten Denker. So schreibt Habermas: „Nietzsche bewahrt sich nur durch den Rückgriff auf eine Figur des ursprungsmythischen Denkens die Position des enthüllenden Kritikers, nachdem er die Grundlagen der Ideologiekritik durch einen selbstbezüglichen Gebrauch dieser Kritik zerstört hat" (1985, 153). Dies soll heißen: Nietzsche hat die - an sich sowohl berechtigte als nötige - Kritik der Erkenntnis in der Zurückführung auf Lebensinteressen so weit getrieben, daß mit ihr die Möglichkeit des kritischen Denkens selbst aufgehoben wurde. Das kritisierende Prinzip, die Reduktion von Geltungs- auf Machtansprüche, läßt keinen begründbaren Maßstab mehr bestehen (151). Um dennoch eine Form der Macht auszeichnen zu können, die nicht bloß Macht im Sinn der Negation von Geltung ist, sondern „die es verdient, geschätzt [...] zu werden" (ebd.), braucht Nietzsche die Annahme, daß das Ältere und Primitivere auch das Höherwertigere sei. Der Rückbezug auf antike Konzeptionen des guten Lebens verkörpert deshalb einen philosophischen Archaismus, wie er auch eine Grundtendenz moderner, avantgardistischer Ästhetik darstellt (147)3. Derselbe Vorwurf wird von Mclntyre erhoben: In Nietzsches Rückgang auf aristokratische Lebensformen zeige sich die Wiederkehr des Irrationalismus unter den Prämissen der modernen, aufgeklärten Welt (1981, 107). Nietzsche habe nach der Leugnung objektiver Werte keine Möglichkeit, ein Ideal zu konkretisieren. Was er als solches aufstellt, das Ideal des Übermenschen, sei unklar und sogar gefährlich4. (Was, nebenbei gesagt, im Fall des Übermenschen 3
In ähnlicher Weise spricht Lukäcs angesichts der Herrenmoral von Nietzsches „Ethik der Barbarei" (1962, 311f), die für ihn allerdings nicht, wie bei Habermas, aus der unbewältigten Erfahrung der Moderne, sondern als Mittel im Klassenkampf entwickelt wird (315). 4 Mclntyre 1981, 21. Vgl. auch 1966, 225. In der Rede von der Gefährlichkeit des Übermenschen klingt der Verdacht einer Vorläuferschaft, zum Faschismus an, der in der Gegenwart nicht etwa überwunden ist, sondern immer wieder neu erhoben wird (Tugendhat 1995, 218 u. Foot 1994, 13).
l. Einleitung
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auch insofern richtig ist, als er bewußt als eine leere Vorstellung entworfen worden ist. Deshalb ist er aber auch gerade nicht das Ideal von Nietzsches Ethik.)5 Hans Krämer knüpft dagegen zwar ausdrücklich an Nietzsche an - sein Begriff des Könnens ist teilweise synonym zu dem der Macht (1992, 158) -, aber unter der Prämisse, in ihm den Vollender der modernen „Entteleologisierung" (1985, 37) vorzufinden, was der Annahme einer ethischen Zielstruktur zuwiderläuft. Für Seel ist Nietzsches Ethik schließlich eine Reduktionsform antiker Strebensethik, die im Einklang mit intersubjektiven Normen stand; sie ist „einfach die Tugend dessen, der seiner selbst sicher ist" (1995, 31). Auch in diesem Fall wird Nietzsches Leistung also primär in einer Negation gesehen, die die Entscheidung über den Gehalt des Guten dem „ungezwungenen Wollen" (ebd.) der Einzelnen überläßt. Dies stimmt mit dem Vorwurf des Irrationalismus insofern überein, als in allen Fällen Nietzsches Denken als Rückgang auf einen bloßen Subjektivismus im Erkennen und Handeln verstanden wird. Dieser Reihe von Verständnisweisen könnten weitere zugeordnet werden, so z.B. die von Martin Heidegger, für den der Subjektivismus Nietzsches aus seiner Verhaftung in der Geschichte der Metaphysik resultiert. Auf Heidegger soll jedoch an späterer Stelle, bei der Frage nach dem Willen, eingegangen werden. Blicken wir von dem aus auf die Nietzscheforschung im strengeren Sinn, so zeigen sich freilich auch andere Verständnisweisen. Wir können sie typologisch in zwei Paradigmen unterteilen und uns dadurch die Möglichkeit verschaffen, einen Überblick über die im einzelnen sehr disparaten Deutungen zu erhalten. Nietzsches Ethik zeigt sich dann entweder als Ethik der Freiheit und Autonomie oder als Ethik des guten und selbstgestalteten Lebens. Beginnen wir mit ersterem. Daß es Nietzsche in der Moralkritik und angesichts des Nihilismus um den radikalisierten Vollzug menschlicher Freiheit geht, ist von Anfang an gesehen worden. Allerdings wurde Freiheit dabei überwiegend in einem kulturkritischen oder gar menschheitsgeschichtlichen Sinn verstanden, als Mittel zum Zweck der Emporbildung der menschlichen Art, bzw. als Mittel zur Schaffung einer höheren Kultur6, was bedeutet, daß sie an die persönlichen Bedingungen des Nietzscheschen Philosophierens gebunden blieb, an sein Schicksalshaft erfahrenes „Ethos des Auftrags" (Heimsoeth 1955, 533). Erst bei Friedrich Kaulbach findet sich ein Ansatz, der das Problem der Freiheit durchgehend systematisch aufzufassen sucht. Für ihn konkretisiert sich Freiheit methodisch im Begriff der Experimentalphilosophie: Diese Philosophie führt in der „Radikalisierung des Cartesischen Zweifels" zur Los3
Was Taylor anbelangt, so sieht er als einziger aus der Reihe der genannten Autoren eine positive Vorstellung des Guten bei Nietzsche, identifiziert sie aber fälschlicherweise mit der Haltung der Bejahung (l989, 102). 6 Vgl. Vaihinger 1916, 63ff. / Jaspers 1936, 134f. / Heimsoeth 1955, 487ff. / Ulmer 1962, 12 u. Balmer 1977, 126.
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I.Einleitung
lösung von jeglichem Glauben und zur schlechterdings freien Verfügung über Perspektiven (1980, 157). Kaulbach versteht Nietzsches Denken damit vor dem Hintergrund der idealistischen Tradition, die jedoch insofern durch ihn überwunden wird, als sich der freie Geist als verwurzelt in Phänomenen des Leibs begreift (16). Die für unsere Untersuchung entscheidende ethische Dimension der Freiheit wird am umfassendsten bei Volker Gerhardt dargelegt. Er beschreibt Nietzsches Ethik als „individuelle Moral" im Sinn der Selbstbestimmung des Menschen als Einzelnem (1992a, 170f.). Als Bezugspunkt gilt ihm dabei die Ethik Kants. Dieser Bezug wird möglich, da sich Kants Begriff der moralischen Autonomie seinerseits „radikal" (207) verstehen läßt, d.h. nicht von der Allgemeinheit des Nomos, sondern eben vom Individuum aus, das sich das Gesetz selbst auferlegt. In dieser Hinsicht verfolgt die Nietzscheinterpretation ein grundlegendes systematisches Interesse: Verbindlich, so Gerhardt, ist eine Moral nur dann, wenn ein Individuum sie als für sich verbindlich anerkennen kann. Dies darf jedoch nicht als Relativierung verstanden werden, da Geltung prinzipiell durch keine dem Einzelnen äußerlichen Instanzen zu erbringen ist (1992b, 41). Sowohl in ontologischer als auch in epistemologischer Beziehung ist jede Bestimmung auf ein Individuum angewiesen, dem sie zukommt oder das sie trifft (1997, 6). In dieser Perspektive erhält Nietzsches Moralkritik, die die Allgemeinverbindlichkeit von Pflichten leugnet und die unhintergehbare Instanz des Individuums zum tragenden Prinzip erklärt, die Funktion der Begründung oder auch Wiederbegründung der Moral, in dem Sinn, daß sie sie nicht schlechterdings negiert, sondern nur von unangemessenen Prämissen befreit (1989b, 429)7. Gerhardt betont deshalb die Elemente in Nietzsches Denken, die in Vernunft und Willen Möglichkeiten der moralischen Selbstverfügung beibehalten und sie keineswegs in ein immanentes Geschehen der Triebe überführen (1992b, 43). Ebenso betont er Tugenden wie Redlichkeit und Mut, die Nietzsche als unentbehrlich für den selbstverantwortlich Denkenden oder Handelnden angibt und die einen genuin moralischen Charakter tragen (1992a, 207). All diese konstitutiven Momente sowie der Begründungsanspruch Nietzsches werden sich auch in unserer Analyse bestätigen. Problematisch wird Gerhardts Deutung nur insofern, als sie die Selbstverfügung, in Analogie zu Kant, primär als eine Leistung der Vernunft bestimmt: „Die Bestimmtheit im Auftreten der Person ergibt sich erst mit der Gewißheit eines Grundes, in dem man sich festlegt, so und nicht anders zu sein" (1992b 44). Indem die Selbstbestimmung aber in der „Selbstbegründung" (47) gipfelt, tritt zugleich die Sphäre intersubjektiver, moralischer Entscheidungen 7
In vergleichbarer Weise hat bereits Bueb die moralischen Implikationen der Moralkritik betont. Ihr liegt, ihm zufolge, der ,,moralisch-geschichtlich[e] Selbstvollzug der Vernunft" zugrunde, der den Menschen zu „autonomer Selbstbehauptung" zwingt (Bueb 1970, 160). Sein Ansatz erreicht allerdings noch nicht die handlungstheoretische Differenziertheit, die dem Gerhardts zu eigen ist.
1. Einleitung
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in den Blick (49). Damit soll nicht gesagt sein, daß diese bei Nietzsche ausgeklammert wäre. Dennoch sieht er das Telos der Selbstbestimmung nicht darin, als Individuum vernünftig und moralisch handeln zu können, sondern als Individuum ein gutes Leben zu fuhren, was eine grundsätzlich andere Ausrichtung bedingt. Ebenso hat die praktische Vernunft für ihn nicht den Zweck der Rechenschaftsgabe, sondern der Selbstverständigung. An diesem Punkt muß eine prinzipielle Schwierigkeit der Deutung von Nietzsches Ethik angezeigt werden: Wo immer Selbstbestimmung als das Letztziel der Moralkritik und Tugendlehre angesehen wird, muß sie entweder als Zweck an sich betrachtet werden, was einer leeren Selbstaffirmation des Subjektes gleichkommt, oder auf eine Form der Verantwortlichkeit hin ausgerichtet werden, was den spezifischen Unterschied von Nietzsches Ethik zur Moral verwischt. Man macht seine Ethik also entweder unmoralischer, als sie ist, und sieht in ihr die Reduktionsform des Begriffs der Freiheit, oder moralischer, und macht sie zu einer individuell zugespitzten Weise der sozialkonformen Verantwortlichkeit. Letzteres zeigt sich eben bei Gerhardt, ersteres z.B. bei dem Ansatz Seels8. Dabei sind vor allem zwei Aporien zu erwähnen, die sich aus der erstgenannten Deutungsart ergeben. So ist es das Anliegen Hinrich Fink-Eitels, Nietzsches Ethik zugunsten seiner Moralistik zurückzudrängen: Während erstere nur eine „asoziale Selbstschaffung" vorgeben kann, liegt in letzterer eine rücksichtsvolle Einsicht in die Relativität von Lebensformen (1993, 879). Dieser Versuch, den (in der Tat leeren) Autonomiebegriff durch eine Haltung der Toleranz gegenüber Anderen moralisch zu füllen, ist jedoch verfehlt, weil er die Ethik überhaupt aus dem Blick verliert: Die Toleranz ist nicht mehr praktisch einlösbar und bleibt zuletzt ein theoretisches Ideal philosophischer Existenz9. Gleichfalls unplausibel ist es, wenn man zur Ansicht gelangt, als „verantwortungsbewußte Antwort auf die praktischen Probleme der Gegenwart [...] taugt die bloß stilvolle Ästhetik der Existenz nicht" (Hesse 1993, 903f). Zwar ist es richtig, daß von einer primär am Individuum interessierten Ethik kein Beitrag zur Bestimmung rechtlichen oder politischen Handelns erwartet werden kann10, dennoch darf man daraus nicht schließen, daß es illegitim wäre, eine Ethik zu begründen, die sich primär am Individuum orientiert. Auch für den Einzelnen stellen sich ethische Fragen, die man nicht dadurch vergleichgültigen darf, daß man Moral mit Sozialmoral identifiziert". Als Beispiel für das zweite Paradigma ist zunächst Walter Kaufmanns Ansatz anzuführen. Ihm zufolge hat Nietzsche durchaus eine Konzeption des guten 8
Vgl. auch Himmelmann 1986, 328f. u. Berkowitz 1995, 286. Schon Jaspers äußert diesbezügliche Bedenken (1936, 135-39). 9 Van Tongeren, der derselben Fehldeutung unterliegt, kritisiert folgerichtig Nietzsches „inpraktikables Ideal" (1989, 213). Eine vergleichbare Deutung entwickelt auch Ottmann 1987, 212ff 10 Vgl. Tugendhat 1995, 232. 1 ' Dazu grundsätzlich Krämer 1992, 75f.
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Lebens, deren Kriterium im Begriff der Macht begründet liegt. Macht aber ist ihrerseits nur gut, wenn sie Selbstüberwindung ermöglicht, d.h. wenn sie so ist, daß sie nicht geschwächt oder unterdrückt zu werden braucht (1982, 328). Vollkommen wird der Mensch nur dadurch, daß er Herrschaft über sich gewinnt (281). Zwar ist dies, mit den Worten Kants, nur ein hypothetischer Imperativ (170), erfüllt aber zugleich ein notwendiges Kriterium der Moral (249). Daß dieser Ansatz neben dem zuerst genannten Paradigma eher isoliert blieb und überdies heftigen Widerspruch fand, liegt weniger in seiner Durcharbeitung, als in seiner geschichtlichen Verortung. Kaufmann versteht die Selbstüberwindung als Sublimierung und in dieser Hinsicht als ein dem christlichen Denken analoges Ideal (304). Dafür finden sich in der Tat Hinweise bei Nietzsche (255ff), dennoch wird das gute Leben so von einer Teleologie her aufgefaßt, die primär in den Kontext der Moral gehört. Kaufmann verwischt den Unterschied von Strebens- und Sollensethik, wenn er Triebsublimierung als Grundzug einer jeden Ethik versteht (249). Ein weiterer gewichtiger Ansatz in dieser Richtung ist von Alexander Nehamas ausgearbeitet worden. Er führt auf die zugespitzte These, daß Nietzsches ethische Bemühungen eine Idealgestalt umschreiben, die er selber ist (1985, 233). Für diese These sind zwei Prämissen leitend. Zum einen die Annahme, daß der Perspektivismus Nietzsches allgemeine Bestimmungen nicht ohne Selbstwiderspruch zuläßt (230), zum anderen die Deutung des Begriffs der Individualität. Nehamas interpretiert ihn als eine am Modell des Kunstwerks angelehnte kontingente Ordnung der vielfältigen Dispositionen (188). Da es jedoch keine allgemeinen Regeln für gelungene Kunstwerke gibt, bleibt als Kriterium für die Ethik nur das jeweilige, singuläre Leben, d.h., für den Fall von Nietzsches Denken, Nietzsche selbst (229). In diesem Sinn kann Nehamas seine Philosophie auch als Literatur bezeichnen: Sie will nicht über die Tradition hinausgelangen - da sie dann als Antithese selbst dogmatischen Charakter anzunehmen hätte -, sie stellt sich gleichsam neben sie (224). Dieses Sich-zur-Seite-Stellen gilt nach Nehamas auch für Nietzsches Haltung gegenüber der Moral. So unterstreicht er, daß es Nietzsche einzig um die Loslösung vom absoluten Geltungsanspruch moralischer Imperative ging (214). Er hat also keine neue Moral zu begründen versucht, was sich, nach Nehamas, auch daran zeigt, daß alle Verhaltensregem, die er vorgibt - als wichtigste die Selbstbeherrschung - unbestimmt und deshalb letztlich als trivial anzusehen sind (222). Ihren Sinn erhalten sie nur im Rahmen seiner Selbstschaffung, die per se nicht auf Andere übertragbar ist. Gegen diese Deutung sind eine ganze Reihe von Einwänden zu erheben. So verwechselt Nehamas Allgemeinverbindlichkeit und Allgemeinheit, d.h. er verwechselt die Gültigkeit einer ethischen Kategorie mit ihrer Form: Selbst wenn Perspektiven niemals für alle gültig sein können, so folgt doch daraus nicht, daß sie in ihrem Gehalt ausschließlich nur partikulär sein können. In den Perspektiven zeigen sich Bedingungen des Lebens, deren Allgemeinheitsgrad
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zumindest die Stufe einer typologischen Beschreibung erreichen kann. Um dies zu erläutern, wird zu gegebener Zeit auf die methodischen Reflexionen Aristoteles' hinzuweisen sein, nach denen praktische Philosophie auch ohne schlechthinnige Generalisierung möglich ist12. Dieselbe Verwechslung gilt aber auch für den Begriff der Individualität: Auch wenn sich Individualität nicht durch allgemeinverbindliche Regeln herbeiführen läßt, sondern in einer, mit Heidegger gesagt, ,jemeinigen" Gestalt beruht, kann man doch zumindest formale Kriterien dafür angeben, wie es ist, ein Individuum zu sein. Jedes Individuum hat mit dem anderen zumindest dies gemein, daß es ein Individuum ist und diese Qualität im Handeln oder Dasein zu erkennen gibt. Zu dieser geltungstheoretischen Verwirrung gesellt sich der Umstand, daß Nehamas einen Ethikbegriff zugrundelegt, der sich unhinterfragt am Modell von Regeln orientiert: Daß eine Ethik gehaltvoll ist, heißt für ihn, daß sie sagt, wie man handeln soll. Für die Bestimmung eines guten Lebens sind jedoch in erster Linie die Zustände und Haltungen ausschlaggebend, die ein Einzelner als Ziele in sich auszuprägen hat, und nicht die Regeln und Verhaltensweisen, die ihm dies ermöglichen und die bloße Mittel dazu sind. Nehamas gelangt also, wie diejenigen Interpreten, die sich am Begriff der Autonomie orientieren, notwendig zum Eindruck inhaltlicher Leere. In diesem Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik sind zahlreiche andere Arbeiten zu verorten13. So die an Nietzsche angelehnten Überlegungen Michel Foucaults zu einer individualistisch ausgerichteten „Ästhetik der Existenz", auf die später einzugehen ist. Wir werden uns dabei an Wilhelm Schmids systematischer Aufarbeitung orientieren. Der Gedanke der Lebenskunst kann aber auch auf Nietzsches emphatisches Selbstverständnis als Philosoph bezogen werden, wobei das antike Ideal des kontemplativen Lebens als Bezugspunkt anzunehmen ist. Auf diesen Aspekt hat in systematischer Absicht vor allem Pierre Hadot (1993, 57) hingewiesen14. Gleichzeitig läßt sich das Ästhetische auch auf eine gemeinschaftliche Dimension beziehen, so z.B. im Ansatz Mirko Wischkes, der in der Tragödienschrift eine ästhetische Stiftung von Gemeinsinn nachzuweisen strebt (1994, 84). Eine völlige Reduktion der Ethik auf Ästhetik wurde ebenfalls erwogen15. 12
Richard Rorty kritisiert Nehamas gerade aus der umgekehrten Richtung. Für ihn ist er in der Selbstzurücknahme seines Ansatzes nicht weit genug gegangen. Vielmehr habe er den Perspektivismus verraten und den Geltungsanspruch traditioneller philosophischer Theorien erhoben (1989, 106f.). Die Selbstzurücknahme ist im übrigen ein Topos, der oft zum Verständnis von Nietzsches Denken herangezogen wird, so auch bei Richard Wisser, für den das Ziel des Immoralismus in der Erzielung von „Bescheidenheit" und der Verminderung des „subjektivistischen Machtgefuhls des Menschen" liegt (1972, 165). 13 Einen Überblick gibt Reuber 1989. 14 Vgl. jetzt auch Brusotti 1997, 132ff. 15 Vgl. die Deutung der Tragödienschrift von Peter Sloterdijk, für den das Apollinische als Ethik nicht mehr die Kompetenz der Zielsetzung, sondern eine „kybernetische Funktion" in der Regulierung von Lebensbewegungen besitzt, so z.B. in einer „Lust-Schmerz-Ökologie" (1986, 164f.).
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Anknüpfungspunkt für unsere Deutung sind jedoch nicht Ansätze, die sich primär an den Kategorien des Individuellen oder des Ästhetischen orientieren, sondern die, wie gesagt, einen Begriff des Guten zugrundelegen. Ein solcher Versuch, dies in expliziter Anlehnung an die Antike zu leisten, liegt in den Arbeiten Theodore R. Schatzkis vor16. Ihnen zufolge kann man Nietzsches Ethik als „Wesensethik" qualifizieren. Damit ist gemeint, daß Nietzsche einen Begriff des menschlichen Wesens voraussetzt, dessen graduelle Verwirklichung im Handeln ein Gesichtspunkt für Werte ist (1991, 76). Das Wesen liegt für Schatzki im Begriff des Willens zur Macht, dessen höchste Verwirklichung der Übermensch bedeutet (78). Antike Parallelen dazu sind die Stoiker oder die anthropologisch fundierte Ethik Aristoteles' (82). Der Ansatz bleibt jedoch unbefriedigend, zum einen, weil er Nietzsche ein traditionelles, Ideologisches Menschenbild unterstellt (86), zum anderen, weil er den Begriff des Willens zur Macht im Sinn der biologischen Natur des Menschen versteht. Zwar gibt es auch hierfür Parallelen zum antiken Denken, so z.B. in Platons Analogie von Tugend und Gesundheit (72) oder in der stoischen Forderung, nach der Natur zu leben (1994, 158f), dennoch gerät auf diese Weise das Spezifikum der Tugend als eines intentionalen Verhaltens aus dem Blick. Wir beenden damit unseren Überblick über die Möglichkeiten der Deutung von Nietzsches Ethik. Zwar könnte er in der einen oder anderen Hinsicht sicherlich erweitert werden, er dürfte allerdings genügen, um den Ort und die Ausrichtung unserer Untersuchung anzuzeigen. - Ein Wort sei abschließend zur Auswahl der Nietzscheschen Texte gesagt. Aufgrund des systematischen Interesses geht es uns primär darum, die Kohärenz und den Zusammenhang der Argumente und Begriffe in ihnen zu rekonstruieren. Dieser Zusammenhang wird jedoch durch kein einzelnes Werk als solcher dargestellt, sondern erscheint in den verschiedenen Kontexten in jeweils anderem Ausschnitt und mit jeweils anderem Akzent. Wir können also nicht alle Texte mit gleicher Gewichtung heranziehen, sondern müssen uns stets auf dasjenige Werk beschränken, das zur Klärung einer bestimmten Frage dient. So werden wir uns für das erste Kapitel, das nach der Vernunft im Handeln fragt, vorrangig an der Geburt der Tragödie orientieren, für das zweite Kapitel, das unter anderem nach den Bedingungen des Wollens fragt, an der Schrift Zur Genealogie der Moral, und für das vierte Kapitel, das den Vollzug des guten Lebens beschreibt, an Passagen aus Jenseits von Gut und Böse. Durch dieses Vorgehen wird die Verschiedenheit der Werkkontexte ebenso abgeblendet wie die Frage nach der Veränderung des ethischen Ansatzes in den verschiedenen Entwicklungsstadien von Nietzsches Denken. Gleichwohl heißt dies nicht, daß der systematische 16
Auf die Parallelen zur platonischen Idee der Selbstvervollkommnung verweist gelegentlich auch Martha Nussbaum (1986, 163). Gleichfalls stellt sie die Verbindung zum stoischen Denken heraus (1993, 832).
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Zusammenhang von außen an sein Werk herangetragen und auf Kosten philologischer Genauigkeit entwickelt würde. Die einzelnen Werke, die durch unsere Auswahl ins Zentrum rücken, sind nicht so isoliert und für sich stehend, daß der Zusammenhang erst durch ihre nachträgliche Zusammenfügung in der Untersuchung entstehen würde. Vielmehr stellen sie ihn, wie gesagt, nur in jeweils besonderer Akzentuierung dar. Auch wenn die Geburt der Tragödie bspw. mehr auf eine allgemeine Kulturtheorie und weniger auf die Handlungstheorie im strengen Sinn ausgerichtet ist, arbeitet sie doch Grundlagen aus, die sich bei deren Thematisierung in späteren Werken ebenfalls nachweisen lassen. Die vorausgesetzte Kohärenz wird sich damit in der Deutung der verschiedenen Kontexte als tatsächlich gegeben zeigen. Über dies hinaus werden Querverweise den Bezug zu anderen Werken oder gar Werkphasen deutlich machen und belegen, daß im eingangs erläuterten Sinn von der Ethik Nietzsches gesprochen werden kann.
2. Handeln und Vernunft 2. /. Der Gegensatz von Weisheit und Sokratismus Das Thema dieses ersten Teiles ist die Frage nach der Rolle der Vernunft im Handeln. Die Klärung dieser Frage bringt es mit sich, daß wir zeigen müssen, was Vernunft an sich für Nietzsche ist. Allerdings kann dieser weiterführenden Betrachtung nur insoweit nachgegangen werden, als es eben für die Einsicht in die handlungstheoretischen Funktionen nötig ist. Zahlreiche wichtige Aspekte können deshalb nur am Rand behandelt werden. Der hier verwendete Begriff der Vernunft muß zunächst in einem unterminologischen Sinn verstanden werden, als Sammelbegriff für jede Art von Wissen oder Reflexion. Es geht uns also keineswegs um eine begriffsgeschichtliche Erörterung, die sich an einem vorgegebenen Terminus orientiert; vielmehr ist unser Interesse sachlicher Natur und zielt darauf zu klären, welche Form des Wissens, Nietzsche nach, dem Handeln angemessen ist. Dies gilt um so mehr, als der Ausdruck nicht nur keine dominierende Rolle bei ihm spielt, sondern oft sogar negativ besetzt ist und als Titel für ein dogmatisches Denken steht1. Da zudem auch alle anderen, ihm verwandten Begriffe in einem solch mehrdeutigen Sinn verwendet werden können, ist es nicht möglich, sich bei der Klärung unserer Frage vorgängig auf eine der Nietzscheschen Bezeichnungen festzulegen. Aus diesem Umstand erklärt sich die im folgenden gewählte Vorgehensweise: Da wir uns nicht an allgemeinen Definitionen orientieren können, gilt es, auf Kontexte einzugehen, in denen das Problem der Sache nach behandelt wird und sich der Sinn der verwendeten Begriffe aus den Relationen zwischen ihnen ergibt. Als einen solchen Kontext wählen wir die Schrift zur Geburt der Tragödie. Das Problem der Vernunft wird dort anhand der Schilderung der Gestalten des Dionysischen und Apollinischen sowie des Sokrates nachzuzeichnen sein. Daß wir dabei auf den Kern der Nietzscheschen Gedanken stoßen, wird sich im wiederholten Ausblick auch auf andere Kontexte zeigen. Der zunächst für unsere Frage wichtige Abschnitt des Buches liegt in der Schilderung des Untergangs der antiken Tragödie. Entstanden war diese, Nietzsche zufolge, aus einem Zusammenspiel der Prinzipien des Dionysischen und Apollinischen, auf die im Anschluß näher einzugehen ist. Als Ursache ihres Untergangs
Vgl. WL 2; l, 886 u. GD, Vernunft 2; 6, 75.
2. l. Der Gegensatz von Weisheit und Sokratismus
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nennt er das Wirken zweier historischer Personen, Euripides und Sokrates. Beide verstehen die symbolische Darstellungsweise der alten Tragödie nicht mehr und bekämpfen sie, um einen größeren Naturalismus zu erreichen (GT 12; l, 84f.). Dabei liegt der Hauptakzent der Schilderung auf der Person des Sokrates: Nicht nur deshalb, weil Euripides von ihm die Begründung seiner ästhetischen Neuerungen erhielt (GT 12-13; l, 87f), sondern auch, weil Sokrates mehr bedeutet als eine einzelne historische Figur. Er ist, wie die Götter Dionysos und Apollo, zugleich die Verkörperung eines Prinzips: „Auch Euripides war in gewissem Sinn nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Das ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische" (GT 12; l, 83).
Was Nietzsche also im Medium einer geschichtlichen Entwicklung darzustellen sucht, ist eine Abfolge von Denkformen, für die die einzelnen Personen, Werke oder auch Geschehnisse letztlich nur ein Ausdruck sind. Als göttlich oder wenigstens durch Götter darstellbar kann er diese Denkformen bezeichnen, weil sie eine jeweils fundamentale Entscheidung über die Sinnrichtung bedeuten, in der sich das Denken und Handeln vollzieht. So hat Sokrates einen „Typus" inauguriert, genauer den „Typus des theoretischen Menschen"., der bis in die Gegenwart hinein Wesen und Ziel einer jeden geistigen Betätigung prägt und die Neuzeit als das Zeitalter der Wissenschaft charakterisiert (GT 15; l, 98ff.). Dieser Gegensatz zwischen der dionysischen und der sokratischen Denkform kristallisiert sich für Nietzsche in der Szene der platonischen Apologie, in der Sokrates erzählt, wie er das Wissen seiner Mitbürger prüfte und feststellen mußte, daß sie allesamt der Prüfung nicht genügen: Entweder, weil sie gar kein wirkliches Wissen haben, wie die Politiker, oder weil sie das, was sie tun, nicht aus Wissen tun, wie die Dichter, oder schließlich, weil sie Wissen nur in begrenztem Rahmen und nicht auch in Hinsicht auf die wichtigsten Dinge haben, wie die Handwerker (Apol. 21f.). Nietzsche greift diese Szene auf, kehrt jedoch den in ihr gelegenen Vorwurf um: „Mit Staunen erkannte er (Sokrates - M.S.), dass alle jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. „Nur aus Instinkt": mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen" (GT 13; l, 89).
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2.1. Der Gegensatz von Weisheit und Sokratismus
Dezisiv für das Verständnis dieser Passage ist Nietzsches Hinweis auf die „bestehende" Kunst und Ethik: Was Sokrates demnach bei den Athenern als den Objekten seiner Prüfung findet, ist zwar in seinen Augen durch einen Mangel an Wissen geprägt, bildet an sich aber eine gelungene und sich selbst genügende Lebensform. Diese Lebensform hat nicht nur eine eigene Ethik und eigene Muster des künstlerischen Ausdrucks, sie wird auch von einer ihr eigenen Vemunftform reguliert. Daß dies so ist, wird deutlich, wenn Nietzsche in einem Vorgängertext zur Geburtsschrift in Hinsicht auf dieselbe Szene sagt: „Der Sokratismus verachtet den Instinkt und damit die Kunst. Er leugnet die Weisheit gerade dort, wo ihr eigenstes Reich ist" (ST; l, 542). Im Gegensatz zu dem von Sokrates erhobenen - oder besser: zu dem ihm unterstellten - Vorwurf an die Athener sucht Nietzsche also darzulegen, daß gerade der Mangel an begründbarem Wissen, das Handeln aus Instinkt, als ein Zeichen von Vernunft zu werten ist. Ihre bestimmte Form faßt er unter dem Begriff der Weisheit, den er seinerseits als „instinctive Weisheit" (ebd.) oder eben als Weisheit in ihrem „eigensten Reich", d.h. als vollendete Weisheit spezifiziert2. Freilich könnte auf den ersten Blick unklar erscheinen, ob er tatsächlich sagen will, daß der Instinkt in einer näher zu erläuternden Weise vemunft- und wissensartig sei, oder ob er nur sagen will, daß es vernünftig sei, dem Instinkt zu folgen. In letzterem Fall hätte man es nicht mit einer eigenen Vernunftform zu tun, sondern müßte den Instinkt als gewohnheitsmäßiges Befolgen von Verhaltensmustem oder, was die Kunst betrifft, als unbegründbare Inspiration verstehen. Nietzsche aber sieht in ihm durchaus eine Art von Urteilskraft, was deutlich wird, wenn er schreibt: „Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare Erscheinung, die als „Dämonion des Sokrates" bezeichnet wird. [...] Dies Stimme mahnt, wenn sie kommt, immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöpferischaffirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer" (GT 13; l, 90). Wie schon an der oben zitierten Stelle, sucht Nietzsche auch hier Elemente in der antiken Schilderung des Sokrates gegen den von ihm erhobenen Wissensanspruch zu verkehren. So wird das Daimonion zu der Form, in der auch Sokrates dem Instinkt Tribut zu zollen hat. Für unsere Frage heißt dies, daß der Instinkt keines2
Eine negative Verwendung des Begriffs der Weisheit zur Kennzeichnung dogmatischer Philosophie liegt vor in FW 359; 3, 606f.
2. l. Der Gegensatz von Weisheit und Sokratismus
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wegs mit der bloßen Ausführung von Handlungen und Tätigkeiten zusammenfällt, sondern in dem Medium einer inneren Stimme, als ein Wissen, in Erscheinung treten kann. Im Gegensatz zu diesem Wissen wird die bewußt von Sokrates vertretene Vernunftform als eine „rationalistische Methode" (GT 12; l, 85) charakterisiert. Ihr Kriterium ist zum einen die Bewußtheit, d.h. die klare und begriffliche Erkenntnis allen Tuns, zum anderen seine Begründungsfähigkeit. Diese Zuordnung ist in historischer Beziehung falsch, denn im Fall des ersteren reduziert Nietzsche den platonischen Wissensbegriff auf methodische Prämissen, wie sie dem neuzeitlichen Rationalismus, z.B. bei Descartes zu eigen sind, während er im Fall des letzteren nicht streng genug zwischen Dialektik und Syllogistik unterscheidet und dadurch einen zu engen Begriff der Begründung erhält3. Gleichwohl kann man seiner Hinsichtnahme insofern folgen, als sich sagen läßt, daß es ihm weniger um die präzise methodologische Form des Wissens ging, als um die Haltung, die das Wissen gegenüber dem zu Wissenden, d.h. dem Leben im allgemeinen, einzunehmen strebt. Dabei könnte man sich eine Formulierung aus dem Vorwort zur späteren Neuauflage der Geburtsschrift, dem Versuch einer Selbstkritik, zunutze machen, in der er unterstreicht, daß „das Problem der Wissenschaft [...] nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden" kann (GT, Versuch 2; l, 13). Man könnte also zugestehen, daß er zwar gegen die Methode des Denkens argumentiere, letztlich aber das in ihr liegende Motiv im Auge habe, d.h. das Motiv, von dem her sich bestimmt, was die Wissenschaft für das Leben überhaupt bedeutet. In der Wissenschaft liegt demnach uneingestanden eine „Lebensrichtung" (GT 13; 1,91), die ein Verhältnis zum Leben im ganzen mit sich bringt. Dementsprechend läßt sich dann folgende Äußerung verstehen, wo Nietzsche fragt: „wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik verkennen, das in jedem Schlüsse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen kann [...]. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: „Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche"" (GT 14; l, 94).
Selbstverständlich könnte auch hier eingewendet werden, daß Nietzsches Diagnose des Optimismus, vor allem wenn er dem Sokratismus die Absicht unterstellt, „das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren" (GT 15; l, 99), letztlich mehr auf die neuzeitliche Wissenschaftsemphase denn auf das antike Denken anzuwenden sei. Dennoch ist seine Deutung dann zumindest nicht unmöglich, wenn man ihm zugesteht, daß es einen Unterschied macht, ob es überhaupt eine philoso3
Vgl. zu letzterem GT 14; l, 94f. sowie die Wiederaufnahme JOB 191; 5, 112, die den Sokratismus als Utilitarismus interpretiert.
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2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken
phische Befragung des Lebens gibt oder nicht: Man könnte dann sagen, das jedes Denken, das die instinktive Weisheit nicht zu seinem Maßstab hat, sondern sie reflektiert, einen bestimmten Grad an Erkennbarkeit und Transparenz im Leben vorauszusetzen hat, um sich erfolgreich zu vollziehen, und daß es zudem an eine positive Wirkung seines Reflektierens glauben muß, wenn es nicht antriebslos zum Stillstand kommen will. Man könnte also zugestehen, daß es eine implizite Teleologie geben muß, aus der sich die neue Dominanz und Beständigkeit des philosophischen Verhaltens allererst erklärt. Freilich bleibt auch dann noch unklar, warum Nietzsche meint, den Gegensatz zwischen Weisheit und Rationalismus, zwischen Instinkt und Reflexion, derart dramatisieren zu müssen, daß der Sokratismus als das „mörderische Princip" (GT 12; l, 87) beschreibbar wird, an dem die gesamte, durch die ältere Tragödie geprägte Kultur zugrundegeht. Selbst wenn man zugibt, daß hier ein Gegensatz existiert, könnte man doch sagen, daß es keineswegs plausibel sei, der mit Sokrates einsetzenden Philosophie eine solch andersartige und zerstörerische Lebenshaltung zu unterlegen. Der Nietzschesche Gedanke kann jedoch verständlich werden, wenn wir die Konzeption der instinktiven Weisheit näher erläutern: Was bisher deutlich wurde, war ja nur der Umstand, daß sie für Nietzsche eine eigene Vemunftform darstellt, nicht jedoch, was ihre spezifische Vorgehensweise ist. Die Dramatik des Gegensatzes wird daraus zumindest nachvollziehbar werden.
2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken Als erstes ist auf die Beschreibung der Prinzipien des Dionysischen und Apollinischen einzugehen, da sie, nach den oben angeführten Worten Nietzsches, das „Reich" bilden, in dem sich die instinktive Weisheit bevorzugt zeigt. Ihren konkreten Sinn erweisen die Prinzipien zunächst im Medium der Kunst. Apollo und Dionysos, so schreibt Nietzsche zu Anfang seiner Schrift, sind die zwei „Kunstgottheiten", durch die sich die Entwicklung der Kunst sowohl bei den Griechen als auch in der Neuzeit erläutern läßt4. Apollo steht hierbei für die „Kunst des Bildners", d.h. für die Plastik, Dionysos für die Musik. Diese jeweilige Beschränkung auf eine Kunstart ist jedoch nur paradigmatisch zu verstehen, denn an sich bedeuten beide zwei bestimmte Formprinzipien, die sich in Plastik und Musik nur besonders deutlich zeigen. So liegt im Apollinischen Gestalt- und Formhaftigkeit als solche, die nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch im Epos zutage tritt. Dem Formprinzip entspricht dabei eine besondere Weise des Umgangs mit der Kunst oder auch der Kunsterfahrung, die Nietzsche in Analogie zum Träumen 4
Vgl. für das Folgende GT 1; l, 25-30.
2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken
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erklärt: Wie bei einem Traum „genießt" man die dargestellten oder erzählten Bilder, d.h. läßt sich von ihnen gefangen nehmen und weiß doch zugleich, daß sie nur scheinhaft bestehen. Er versucht also, in der Kunsterfahrung, die das Apollinische erzeugt, zwei Momente zu vereinen: Zum einen ein Fiktionsbewußtsein, das den Schein als Schein erkennen kann5, zum anderen eine Haltung, die das Dargestellte im Vollzug seines Anschauens oder Hörens wie ein Wirkliches behandelt und als das nimmt, was es scheint. Dabei ist das letztere primär, denn man nimmt, nach Nietzsche, eine Darstellung in dieser Weise an, nicht obwohl sie fiktiv ist und man sich von ihr für bestimmte Zeit täuschen läßt oder täuschen lassen will, sondern gerade weil sie fiktiv ist und eine Hinsicht auf die Welt erlaubt, die nur im Rahmen der Kunst besteht. Es gibt, mit anderen Worten, ein Bedürfnis, die Welt so zu sehen, wie das Apollinische sie zeigt. Dies wird im folgenden ausführlich zu erläutern sein. Im Dionysischen dagegen liegt als Formprinzip die Überwindung aller festen Formen und Gestalten, so wie sich diese neben der Musik auch in der Lyrik sowie in den ekstatischen Spielen der dionysischen Feste zeigt. Diese Kunsterfahrung ist dem Rausch analog: Sie bedeutet eine „Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte" (GT 2; l, 34), d.h. einen Zustand, in dem der Mensch danach strebt, sich in Formen auszudrücken und die Formen nicht, wie im Apollinischen, als in sich ruhende betrachtet, sondern als den augenblicklichen und in gewisser Weise auch beliebigen Ausdruck des grundlegenden Impulses. Für das Dionysische sind die Formen also nicht, sondern werden und verweisen in ihrem letztendlichen Sinn auf das Geschehen, dem sie entsprungen sind. Damit liegt auch im Dionysischen ein Fiktionsbewußtsein, das man aber gleichfalls nicht als Beschränkung seiner Relevanz erfährt. So ist es hier ausschlaggebend, daß das maßlose Geschehen überhaupt dargestellt wird. Auch in ihm wird eine Möglichkeit erfahrbar, die nur durch die Kunst besteht. Was aber die Entwicklung der griechischen Kunst betrifft, insofern sie durch die jeweilige Beziehung der beiden Prinzipien erläutert werden kann, so läßt sie sich nach Nietzsche in fünf Epochen untergliedern, von denen allerdings nur zwei für unsere Frage nach der Denkform wichtig sind (GT 4; l, 41 f.). Die erste ist eine Epoche, in der das Apollinische dominiert und das Dionysische nur implizit zu Geltung kommen läßt, die zweite eine, in der das Dionysische als solches hervortritt und eine Verbindung mit dem Apollinischen erzwingt, in der es seinerseits als dominierendes Moment erscheint. Historisch gesehen ist die erste Epoche die der olympischen Göttermythen, d.h. des homerischen Epos. Die Erfahrung des Maßlosen, die das Dionysische bedeutet, liegt diesen Mythen, z.B. in den Titanenkämpfen, implizit zugrunde, wird aber nicht als Darstellungsprinzip in sie integriert (GT 3; l, 35f). Die olympische Götterwelt verkörpert das Gestalthafte und vollendet ;
Vgl. hierzuauchGT7;l,53f.
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2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken
Geformte als zwar antwortend auf die Herausforderung des Maßlosen, aber zugleich auch als siegreich über sie. In diese Konstellation bricht die dionysische Bewegung ein, die durch die ihr eigene Musik den Rang einer eigenständigen Kunstrichtung besitzt. So tritt ein auf dem Maßlosen basierendes Formprinzip ausdrücklich in Konkurrenz zur Dominanz der Form. Als Versöhnung der sich so entgegensetzenden Prinzipien stellt sich die Tragödie dar: Sie entsteht aus der Musik und dem entfesselten Darstellungstrieb und „entladet" sich zugleich in apollinischen Visionen (GT 8; l, 62). Das heißt, sie nimmt die apollinischen Mythen als ihre Ausdrucksform, so daß sie nun nur mehr den Ausdruck eines fundamentaleren Geschehens bilden, gleichzeitig aber weiterhin als Form betrachtet werden können. Freilich ist es gerade dieses uneindeutige Verhältnis eines immanenten Verharrens bei gleichzeitiger Transzendenz der Form, das uns später noch beschäftigen wird. Beschränken wir uns für die Frage nach der Vernunft zunächst auf das apollinische Prinzip. Inhaltlich umfaßt es, wie gesagt, Gestalten, Formen oder Bilder (GT 1; l, 26f.). In allgemeinerer Beziehung sagt Nietzsche deshalb auch, es sei die Sphäre des principium individuationis, was in seiner Terminologie weniger die raum-zeitliche Vereinzelung des Seienden als seine Gestalthaftigkeit bedeutet (GT 4; l, 39f). Für die Frage nach der Denkform scheint sich daraus freilich zu ergeben, daß das Apollinische als Anschauung verstanden werden muß, was die Verbindung zum Begriff der Weisheit unklar lassen würde: Wie unter anderem Nietzsches Deutung des Daimonion als einer Stimme instinktiver Weisheit zeigte, verstand er Weisheit prinzipiell als diskursiv. Das Moment der Anschauung kann jedoch in der Tat als marginal betrachtet werden, da in ihm noch nicht Nietzsches eigener, d.h. angeeigneter Gedanke vorzufinden ist. Der Grund für seine Betonung des Anschauungshaften liegt nämlich nicht, wie man zunächst vermuten könnte, in der paradigmatischen Funktion der bildenden Kunst, sondern in der Übernahme zentraler Kategorien der Schopenhauerschen Philosophie. Dies soll kurz erläutert werden, allerdings nur insoweit, als es der Klärung unserer Frage dient. Geht man von Schopenhauer aus, so entspricht dem Apollinischen der Begriff der Vorstellung. Vorstellung und Wille bilden die beiden Aspekte, in denen die Welt als das Gesamte alles Seienden zu denken ist. Mit Vorstellung meint Schopenhauer aber nicht nur die formale Beziehung der erscheinenden Welt auf ein Subjekt, dessen Vorstellung sie ist (WWV l, 1; 2, 3). Obwohl er zwischen intuitiven und abstrakten Vorstellungen, d.h. Begriffen, unterscheidet, sind letztere doch „notwendig Nachbildung, Wiederholung, der urbildlichen anschaulichen Welt" (WWV l, 9; 2, 48), was bedeutet, daß man den Begriff der Vorstellung zumindest prinzipiell mit dem der Anschauung gleichsetzen kann. Die Welt als Vorstellung zu denken, heißt deshalb zugleich, sie in ihrer grundsätzlichen Gegebenheitsweise als Anschauung zu verstehen. Der Grund für dieses Verständnis ist der Umstand,
2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken
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daß die Welt nach Schopenhauer als die Erscheinung eines selbst nicht erscheinenden Prinzips zu denken ist (WWV l, 23; 2, 134), d.h. als Objektivation des an sich unerkennbaren und unabbildbaren Wirkprinzips des Willens. Da die Vernunft jedoch mit zur Welt gehört und deshalb selbst eine der Objektivationen bildet (WWV l, 27; 2, 181), läßt sich nicht sagen, daß sich der Gehalt des Denkens diskursiv konstituiert. Vielmehr gründet auch er auf Erscheinungen, in denen sich das Denken zwar reflektierend bewegt, deren letzte Evidenzen aber immer etwas Angeschautes und nicht weiter Hintergehbares sind (WWV l, 14; 2, 78). Was Nietzsche betrifft, so nimmt er diese Bestimmung zwar in seine Konzeption des Apollinischen auf, führt auf der Ebene des Willens jedoch eine durchaus entscheidende Korrektur an Schopenhauer ein. So notiert er sich einmal: „Im Willen giebt es Vielheit, Bewegung nur durch die Vorstellung: ein ewiges Sein wird erst durch die Vorstellung zum Werden, zum Willen, d.h. das Werden, der Wille selbst als Wirkender ist ein Schein. Es giebt nur ewige Ruhe, reines Sein. Aber woher die Vorstellung? Dies ist das Räthsel. Natürlich ebenfalls von Anbeginn, es kann ja niemals entstanden sein. [...] Weil wir bei den Wahnvorstellungen die Absicht des Willens erkennen, so ist die Vorstellung Geburt des Willens, so ist Vielheit bereits im Willen" (7, 5 [80]). Nietzsche setzt also am Objektivationsgedanken an, indem er fragt, wie dem Willen als einem unteilbaren und nicht abbildbaren Prinzip die Welt als seine Erscheinung überhaupt entspringen kann. Seine Lösung dieser Aporie liegt darin, das Erscheinungshafte in den Willen zurückzuübersetzen, was gleichbedeutend damit ist, den Willen als der erscheinenden Welt immanent zu verstehen. In der Bestimmung dieses Verhältnisses wird die Kunst für ihn zum Schlüssel, was sich zeigt, wenn er angesichts der dionysischen Erfahrung schreibt: „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches" (GT 1; l, 30). Der Wille wird nun als ein unmittelbar erfahrbares Wirkprinzip verstanden; er liegt nicht mehr hinter der erscheinenden Natur, sondern in ihr und bezeichnet die grundsätzliche Dynamik, die in der Ausbildung von Formen zur Erscheinung kommt6. Mit dieser Umdeutung des Objektivationsgeschehens in ein künstlerisches Schaffen tritt eine aktive Dimension hinzu, insofern die Welt jetzt nicht mehr bloß Erscheinung ist, sondern sich als so und so Erscheinende konstituiert. Dem
' Vgl. Kaulbach 1980, 12f.
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2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken
Apollinischen, das in der Anschauung als ein Gegebenes erscheint, wird eine „unbewußte formenbildende Kraft" zugrundegelegt, ein „Kunsttrieb" (7, 16 [13]), der seine Gegebenheit aus einen Formungsprozeß erklärt. Auf die Einzelheiten dieses Gedankens, der wie bei Schopenhauer dieselbe Kraft im Wirken der Natur wie auch im Denken annimmt, müssen wir hierbei nicht näher eingehen. Vielmehr genügt der Hinweis auf die Analogie zum Schaffensprozeß der Kunst, um zu belegen, daß dem Phänomen des Apollinischen neben dem Anschauungshaften ein Moment der Artikulation, der Formenbildung innewohnt, das eine Brücke zur Diskursivität der Weisheit schlägt. Freilich heißt das auch, daß wir andere Kontexte als die der Geburtsschrift hinzuziehen müssen, um dieses Moment angemessen zu verstehen. Ausgehend vom Begriff der Kraft empfiehlt sich hierzu Nietzsches Bestimmung der „plastischen Kraft". Sie bezeichnet die „Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur [...], jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, [...] zerbrochene Formen aus sich nachzuformen" (HL 1; l, 251).
Die Kontinuität zum Apollinischen wird in dieser Passage auch dadurch angezeigt, daß sich die plastische Kraft in Formen kulturellen Lebens, wie die antike Kunst sie bildete, niederschlägt. Überdies wird bekräftigt, daß die Schopenhauersche Dichotomie von Wille und Erscheinung, als Dichotomie von Prinzip und Prinzipiat, in der weiteren Entwicklung von Nietzsches Denken keine Rolle mehr spielt: Die plastische Kraft wird in den zitierten Worten nicht als ein externes, jedem Seienden eigenes Antriebsmoment geschildert, sondern als die Kraft, die sich im jeweiligen „Wachstum", d.h. in der jeweiligen Bildung von Formen im Denken, Handeln oder allgemein im Leben zeigt. So wie man in der Kunstbetrachtung kraftvolle von weniger kraftvollen Gestaltungsweisen unterscheidet, so bezeichnet sie den Umstand, daß die Formprozesse jeweils mehr oder weniger gelingen. Fragt man nun, wie die Bildung der Formen im einzelnen erfolgt, so zeigt sich, daß die plastische Kraft nicht ohne eine Art von Teleologie, von Zweckausrichtung, wirkt: Das „Wachstum" der Formen geschieht, nach dem obigen Zitat, entweder durch die „Einverleibung" des „Fremden" oder durch die „Nachbildung" „zerbrochener Formen", d.h. in jedem Falle dadurch, daß der Zusammenhang des eigenen Denken oder Handelns gegenüber allen ihn betreffenden Momenten Ganzheit und Geschlossenheit erlangt. Für diese Art von Teleologie ist es nicht notwendig, ein vorgegebenes Wesen im Menschen oder in den Völkern, das in den Formen seine Vollendung erreicht, anzunehmen. Vielmehr genügt es zu konstatieren, daß die plastische Kraft, nach Nietzsches Beschreibung, angesichts des ihr Entgegenstehenden die Tendenz zur Integretation besitzt.
2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken
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Von dieser Tendenz her läßt sich die Formenbildung jetzt auch als Synthese bezeichnen, insofern sie Verschiedenartiges und ihr gegenüber Ungebundenes so in eine Gestalt integriert, daß diese als eigenständige, neue Einheit erscheint. Freilich bleibt dabei noch unklar, was der Begriff der Synthese für das Verständnis der Vernunft bedeutet, denn auch angesichts der plastischen Kraft orientierten wir uns vorwiegend am Phänomenbereich der Kunst. Um die in ihm liegenden Bestimmungen zu verallgemeinern, können wir uns jedoch Analysen zum Begriff des Willens zur Macht zunutze machen, da dieser in sachlichem Einklang mit den hier diskutierten steht7. So notiert sich Nietzsche unter dem Titel „Wille zur Macht als Erkenntniss": „nicht „erkennen", sondern schematisiren, dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfhiß genug thut / In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfhiß maaßgebend gewesen [...] / das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen - derselbe Proceß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!" (13, 14 [152]).
Blenden wir hierbei die Frage ab, was Nietzsche mit dem angeführten praktischen Bedürfnis meint, so lassen sich unter dem Begriff der Synthese nicht nur Formen, sondern alle Momente von Regelhaftigkeit und Identität vereinen. Das Gleichbleibende setzt demnach voraus, daß die Varianz in den Phänomenen zurückgedrängt und in den Schein ihrer Einheitlichkeit umgebildet wird. Die genannten Momente könnte man dabei ergänzen durch die des Allgemeinen, des Gesetzlichen oder des Typischen, für die derselbe Vorgang der Angleichung und Zusammenfassung gilt (12, 7 [7]; S. 289f), oder auch durch den des Seins. Wenn Nietzsche festhält „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen - das ist der höchste Wille zur Macht" (12, 7 [54]),
dann heißt dies, daß die Fähigkeit des synthetischen Denkens, insofern sie zu einer neuen Einheit findet, auch zu etwas gegenüber der Veränderung Beharrendem gelangt. Der von Nietzsche selbst verwendete Begriff der Synthese ist demgegenüber ein Spezialfall, der zumeist den Sinn der Vereinigung und Bändigung von Gegensätzen trägt8. Die Berechtigung zu einer solchen Ausweitung des Gedankens der Formungsprozesse von der Kunst und Kultur auf die gesamte „Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien" (s.o.) kann allerdings bezweifelt werden. Es scheint nicht ausweisbar zu sein, wenn Nietzsche auch die logischen Prinzipien als gewordene, 7 8
Vgl. zu dieser sachlichen Kontinuität Figal 1999, 54. Vgl. 11,26 [204] u. 12,1 [105].
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2.2. Das Apollinische: Synthetisches Denken
oder, nach den angeführten Worten, als „zurechtgemachte" versteht. Entweder müßte er dann zeigen, daß sie gar keine logischen Gesetze im strengen Sinn, sondern gleichsam nur Annäherungswerte sind - was das Problem aufwirft, zu erklären, wie die Annahme ihrer Gültigkeit entstehen kann -, oder er müßte sagen, daß sie gar nicht im gleichen Sinn wie ein Kunstwerk das Ergebnis von Formungsprozessen sind, was die Relevanz seines Gedankens für die Frage nach der Vernunft erheblich einschränken würde. Auf diese Aporie soll jedoch erst später eingegangen werden, wenn uns noch andere Argumente zur Verfügung stehen9. Zunächst genügt es, das synthetische Denken als einen Grundvorgang zu verstehen, der auch die Voraussetzungen des Denkens selbst umgreift. Der hier gewählte Oberbegriff der Synthese evoziert nicht ohne Absicht einen Terminus Kants. Zwar ist nicht zu leugnen, daß Nietzsche im Apollinischen mit seiner Orientierung an Formen und Gestalten zunächst die platonischen Ideen zum Bezugspunkt hat (7, 3 [36]). Dies ist auch durch die Beziehung zu Schopenhauer begründet, der die Ideenlehre gleichfalls in seine Konzeption übernahm. Sie bezeichnen bei ihm die direkten Objektivationen des Willens, d.h. die Objektivationen, in denen sich der Wille nicht in seiner äußerlichen, raum-zeitlichen Seinsweise offenbart, sondern als „außerzeitlicher untheilbarer Willensakt" (WWV l, 28; 2, 186). Dennoch ergibt sich durch die Zurückführung des bei Schopenhauer bloß Anschaubaren auf Formungsprozesse eine direkte sachliche Nähe zu Kant10. So versteht Kant die Erkenntnis als das Zusammenwirken dreier Momente (KrV B 104/A 78f.): Der Anschauung, in der das zu Erkennende allererst gegeben ist, der Einbildungskraft, die das Gegebene in seiner „Mannigfaltigkeit" vereint, und des Verstands, der diese Einheit begrifflich erfaßt. Die mittlere Stufe, die der Einbildungskraft, ist dabei die eigentliche Stufe der Synthese im Sinn des Vereinens der an sich vielfältigen Sinneseindrücke; der Verstand dagegen bringt die erfaßte Synthese, wie Kant sagt, nur auf den Begriff, d.h. er stellt die Einheit nicht mehr als Zusammenfassung des Verschiedenen, sondern als Einheit vor. Auf die Funktion der Einbildungskraft im Schematismus, d.h. in der Vermittlung zwischen den Polen der Anschauung in ihrer Vielfalt und des Verstands in seiner Einheitlichkeit, muß dabei nicht eigens eingegangen werden11. Was als Referenzpunkt für uns zählt, ist der Umstand, daß für Kant im Übergang vom unmittelbar Gegebenen der sinnlichen Erfahrung zur Erkenntnis eine konstituierende Leistung liegt, durch die das Vielfältige einheitliche Gestalt erlangt; eine Leistung, für die der Begriff der Synthese steht: 9
Siehe S. 50. Diese Nähe unterstreicht auch Heidegger: „Den dichtenden Charakter der Vernunft hat Kant zum ersten Male in seiner Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft eigens gesehen" (HN l, 584). In neuerer Zeit hat Lenk die Konzeption der Einbildungskraft für die Fundierung einer Philosophie der Interpretation fruchtbar gemacht (1993, 234f). 11 Vgl. KrVB 179/A140. 10
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„Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihrer Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen" (KrV B 103/A 77) Freilich zeigt sich hierbei sofort, daß Nietzsche, in der oben dargelegten Generalisierung der Synthese, über die dreifache Stufung der Kantischen Konzeption hinausgeht und sie auf ein einheitliches Vorgehen reduziert. Wie die oben zitierte Stelle zeigt, ist schon die Wahrnehmung in den Sinneseindrücken produktiv und bildet das Empfangene zu einem Bild12. Überdies sind die Verstandesbegriffe nicht mehr die spontan und unhintergehbar gegebenen Einheitsmomente, sondern werden gleichfalls in diesen Prozeß involviert. In den Termini Kants müßte man also sagen, daß bei Nietzsche nur noch das Vermögen der Einbildungskraft als wirksam gesehen wird. Deshalb fallt für ihn auch der Unterschied zwischen Phänomenalem und Noumenalem, d.h. zwischen Empirischem und Nicht-Empirischem dahin und wird durch den zwischen Ungeformtem und Geformtem ersetzt. Angesichts des Ungeformten, d.h. angesichts des Umstands, daß sie aus dem Gegebenen erst entsteht, ist jede Form im Kantischen Sinn empirisch bedingt. Wie jedoch bereits gesagt, soll auf die Frage nach der Konsistenz dieser Nietzscheschen These erst später eingegangen werden. Führen wir zunächst die Diskussion des Apollinischen weiter, so gilt es festzuhalten, daß wir den Begriff der Synthese keineswegs isoliert verwenden dürfen, da jede Synthese notwendig Synthese von etwas ist. Dies scheint trivial, bringt aber mit sich, daß als selbständiges Strukturmoment neben der jeweils erscheinenden Einheit etwas Vorsynthetisches - oder, mit den Worten der zitierten Stellen, „zerbrochene Formen" und das „Chaos" - anzunehmen ist. Wenn Synthesen immer erst entstehen, dann muß es etwas geben, das von sich her so geartet ist, daß es sich in neuer Weise fugen und verstehen läßt. Hierzu ist es im übrigen nicht nötig zu behaupten, daß sich jede Synthese auf ein gänzliches Chaos bezieht, denn auch dort, wo sie sich auf andere, schon bestehende Synthesen richtet, gelten diese als ein Ungeformtes, insofern in ihnen eine neue Form gebildet werden soll. Diesen Umstand könnte man, so scheint es, auch dadurch beschreiben, daß man sagt, das Ungeformte oder erst zu Formende sei die Ausgangsbasis oder auch das Material, aus dem man Formen bilden kann. Gleichwohl verschleierte eine solche Formulierung das Differenzmoment, das in der Beziehung auf das Ungeformte liegt, insofern dieses nämlich in die je vollzogene Synthese nicht als das integriert wird, was es an sich ist. Brauchte man es nur zu übernehmen oder aufzugreifen, so wäre es bereits ein Teil der Synthese, denn dann trüge es den einheitlichen Sinn, der die Synthese konstituiert, bereits in sich. Es wird also erst durch seine Eingliederung 12
Zur Kritik des Empirismus und Sensualismus vgl. auch 12, 9 [63] u. 13, 14 [122].
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2.3. Das Dionysische: Nietzsches Wahrheitsbegriffe
zu einem Teil oder Element in ihrem Ganzen. Versucht man die Beziehung unter dieser Hinsicht zu beschreiben, so kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, der mit der Konzeption des Willens zur Macht verbunden ist, nämlich der der Interpretation13. Er bezieht sich auf den Umstand, daß keine Synthese das, was sie ergreift, an sich beläßt, bzw. belassen kann, wenn sie ihre eigene, innere Geschlossenheit erreichen will. Mit dem Begriff der Interpretation, bzw. mit der Rede von dem Ungeformten kommt jedoch zugleich der Gegenpol zum Apollinischen, das Dionysische, in den Blick, dem wir uns deshalb nun eigens zuzuwenden haben.
2.3. Das Dionysische: Nietzsches
Wahrheitsbegriffe
Wie im vorigen Abschnitt gezeigt, bedeutet das Dionysische als Formprinzip die Verflüssigung der Form. Man muß also davon ausgehen, daß das Apollinische, wo es sich zur Geltung bringt, so wie dies in der Epoche der olympischen Göttermythen der Fall gewesen war, das Dionysische interpretiert und ihm von sich aus Formen auferlegt. Tatsächlich legt Nietzsche ein solches Verhältnis zugrunde, das er aber nicht nur strukturell beschreibt, sondern in seiner wechselseitigen Beziehung zugleich auch dramatisiert. Dadurch entsteht zwischen dem Dionysischen und Apollinischen zunächst ein ähnlich antithetisches Verhältnis wie zwischen der Verbindung des Dionysischen und Apollinischen auf der einen und dem Sokratismus auf der anderen Seite: „Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und Erkenntnis [...] laut wurde [...]. Das Individuum, mit all seinen Grenzen und Maasen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter [...]. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit" (GT 4; l, 41). Der hier verwendete Begriff des Übennaßes hat eine zweifache Bedeutung: Zum einen eine existentielle, der zufolge er die Irrelevanz des menschlichen Daseins angesichts des Daseins überhaupt bezeichnet. Diese Bedeutung ist zunächst abzublenden. Zum anderen eine erkenntnistheoretische: Ihr zufolge bezeichnet er all das, was sich keiner oder noch keiner Synthese fügt, jedoch nicht einfach als das 13
Vgl. bspw. 12, 2 [148]. Abel hat, vor allem in Auseinandersetzung mit Figl (1982), zu zeigen versucht, daß der Begriff der Interpretation bei Nietzsche als ein übergreifendes Geschehen zu verstehen ist, das die Trennung zwischen Interpretant und Interpretat nicht mehr zuläßt. Die Hermeneutik scheint ihm deshalb noch subjekttheoretisch beeinflußt zu sein (1984, 171 f.). Dabei wird allerdings der Begriff der Interpretation als solcher sinnlos, wie Gerhardt zurecht bemerkt (1987). - Die verschiedenen Aspekte des Begriffs bei Nietzsche werden von Figl und Hofmann (1994) umfassend dargestellt.
2.3. Das Dionysische: Nietzsches Wahrheitsbegriffe
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von ihr Interpretierte, sondern als Wahrheit, die die Synthese in ihrem Geltungsanspruch verneint. Die „Enthüllung" des Formlosen ist in diesem Sinn zugleich die Widerlegung der Form, bzw. des durch die Formen dargelegten Bilds der Welt. Historisch gesehen heißt dies, daß die olympischen Mythen nicht mehr weiter als Weltbild bestehen können, nachdem das Dionysische als ihre verborgene Wahrheit mit eigenem Geltungsanspruch im Leben der Griechen erscheint. Als Bedingungen für diese Dramatisierung des Verhältnisses sind zwei Momente zu nennen: Zum einen ein Adäquationsbegriff der Wahrheit, insofern im Formlosen als Grund des Seins ein objektiver Sachverhalt eingesehen wird, zum anderen, auch hier, eine Anschauung, der zufolge sich dieser Grund von sich her „enthüllt" und gleichsam geschehnishaft, ohne daß das Denken es beeinflußt hätte, offenbart. Beide Bedingungen sind letztlich aber problematisch, und zwar schon innerhalb des Rahmens der Geburtsschrift selbst. Fragt man nämlich angesichts der ersteren, was das objektive Sein ist, das das Denken erkennt, so ergibt sich, nach den oben zitierten Worten, das „Uebermaas der Natur in der Erkenntnis". Dies aber kann nur heißen, daß das Sein, insofern es die Qualität des schlechterdings Formlosen besitzt, an sich gar nicht erkannt werden kann. Es ist, wie Nietzsche anderenorts erwähnt, das „Unaufhellbare", das sich durch keine Einsicht und durch keine Kategorien fassen läßt (GT 15; l, 101). Damit ist es jedoch streng genommen gar nicht möglich, in ihm die Wahrheit und das wahrhaft Seiende zu sehen. Wollte man die Formulierung dennoch als sinnvoll anerkennen, so könnte man versucht sein, sie dahingehend zu erläutern, daß man sagt, es enthülle sich der Umstand, daß das Übermaß die Wahrheit sei. Die Enthüllung würde so vom Formlosen in die Formen verlegt, was insofern auch plausibel ist, als sich nur etwas Bestimmtes enthüllen kann. Die tatsächlich faßbare Wahrheit wäre dann die, daß die je verwendeten Formen ungeeignet sind, das ihnen Vorausliegende, Ungeformte adäquat zu verstehen. Doch auf diese Weise hätte man das Problem letztlich nur verschoben, denn es bliebe immer noch offen, was man im Vorgang der „Enthüllung" erkennt. Entweder müßte man dann immer noch versuchen zu sagen, man erkenne das Ungeformte an sich selbst, oder man müßte sich darauf beschränken, daß nur Geformtes erkennbar sei, was bedeuten würde, daß es unplausibel wäre, eine Wahrheit gleichsam hinter diesem anzunehmen. Mit diesem Einwand gegen die erste Bedingung zeigt sich auch die Fraglichkeit der zweiten, der Anschauungshaftigkeit. Wenn das Dionysische nicht ist, dann kann es sich nicht so enthüllen, daß man es als reines Phänomen, in einem schlichten Gegebensein erkennt. Vielmehr muß dann Nietzsches Rede von den „Zauberweisen der Dionysusfeier" (s.o.) insoweit hervorgehoben werden, als man sagt, das Formlose könne allenfalls in einem Medium, als ein Dargestelltes, zur Erscheinung kommen. Was dies heißt, läßt sich anhand der hier angesprochenen Musik erläutern: So ist die Musik ja nicht das Formlose selbst, sondern die Kunstform, deren Eigenart es ist,
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2.3. Das Dionysische: Nietzsches Wahrheitsbegriffe
dem Formlosen die ihm angemessene Erscheinungsform zu geben, d.h. diejenige Erscheinungsform, in der man Formen nicht als in sich ruhende, sondern auf ihr Werden hin versteht. Man versteht, anders gesagt, gerade in den Formen der Musik, daß sich Formen jederzeit verändern. Nietzsche drückt dies in seiner Schopenhauerschen Terminologie, die das Dionysische noch mit dem Willen identifiziert, so aus: „Hier unterscheide man nun so scharf als möglich den Begriff des Wesens von dem der Erscheinung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre - denn der Wille ist das an sich Unaesthetische -; aber sie erscheint als Wille" (GT 6; l, 50f).
Das Dionysische darf also nicht mit seiner Darstellung gleichgesetzt werden und wird doch eben in der Darstellung zum Phänomen. In diesem Fall könnte man tatsächlich sagen, daß nicht das Formlose selbst, aber der Umstand, daß es Formloses gibt, als anschaubar erscheint, denn hier erscheint das Formlose, weil die Darstellung es meint, und nicht, weil man es an sich erkennt. Gleichwohl führt auch dies zur oben gestellten Frage, denn wenn es das Formlose stets nur in Darstellungen und nie an sich selber gibt, dann ist nicht begründbar, warum man sich bei ihm auf eine Ebene des Seins beziehen soll. Blicken wir nun, ausgehend von diesen Überlegungen, auf die Schriften und Notizen der achtziger Jahre, so wird deutlich, daß Nietzsche das Problem der Wahrheit im Sinn dieser Einwände reflektiert. Es wird nun ausdrücklich betont, daß die Erkenntnis des Formlosen des Geformten als des einzig Erkennbaren bedarf: „Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war, konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden - ja zuletzt kann der Grundirrthum eingesehen werden worauf alles beruht (weil sich Gegensätze denken lassen)" (9, 11 [162]).
Zwar gibt Nietzsche die ontologische Fundamentalität des Formlosen oder, wie er auch sagt, des Werdens hier nicht auf, er postuliert jedoch nicht mehr, daß es als wahres Seiendes eingesehen werden könne. Seine Erkennbarkeit reduziert sich damit von der Selbstoffenbarung im Dionysischen auf die bloße Folgerung, daß es ein an sich Formloses geben muß14. Dennoch bleibt er bei dieser Lösung nicht stehen, sondern fragt, im Sinne unserer Überlegung, warum überhaupt ein wahres
14
Vgl. auch 12, 9 [89]. Der Ausgangspunkt der Folgerung ist dabei die sinnliche Erfahrung, daß es minimale Veränderungen gibt (GD, Vernunft 2-3; 6, 75 u. 9, 11 [227]).
2.3. Das Dionysische: Nietzsches Wahrheitsbegriffe
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Seiendes anzunehmen ist. So wird es für ihn denkbar, die Orientierung am Adäquationsbegriff der Wahrheit gänzlich fallen zu lassen: „Was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von „wahr" und „falsch" giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins, - verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht -, nicht eine Fiktion sein?" (JGB 34; 5, 53f). Es genügt, so lassen sich diese Worte paraphrasieren, sich an der Welt, so wie sie in den Interpretationen der Wahrnehmung und des Denkens erscheint, zu orientieren. Eine absolute Wahrheit kann und muß in ihr nicht eingefordert werden. Allerdings wird deutlich, daß diese für möglich gehaltene Abkehr doch nicht völlig über den Bezug zur Wahrheit hinausgelangt: Daß die Welt auch eine Fiktion sein darf, bedeutet ja, daß sie in ihrem Status weiterhin an der Idee eines wahrhaft Seienden gemessen wird. Ihre Geltung bleibt die des Scheins, auch wenn sich der Mensch nur innerhalb von Schein bewegt und ihn damit als das für ihn Wirkliche versteht. Letztlich muß man also sagen, daß Nietzsche den Adäquationsbegriff der Wahrheit mehr als ein Problem der Motivation betrachtet und die Frage stellt, warum der Mensch nicht fähig ist, sich von ihm zu lösen und die Unbegründbarkeit des Denkens hinzunehmen - als Grund hierfür macht er ein theologisches Vorurteil zugunsten der Wahrheit aus15 -, daß er sich jedoch nicht von seinen epistemologischen Bedingungen löst16. Damit stehen am Ende zwei Hinsichtnahmen unversöhnbar nebeneinander: Zum einen die adäquationstheoretische, die von der Fundamentalität des Werdens ausgeht, und zum anderen die Reflexion auf die Interpretativität, insofern diese den Maßstab für das Erkennbare bildet17. In den reifen Werken Nietzsches konnte so gesehen zwar die Dramatik des Gegensatzes zwischen Apollinischem und Dionysischem abgebaut werden, dennoch wird das Formlose oder das Werden weiterhin zu einer genuinen Erfahrung hypostasiert. Dies belegt auch die folgende, späte Notiz: „ Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie oder wissenschaftliche Hypothese (z.B. der Mechanismus), in der ein solcher nothwendig wird, ist durch die einzige Thatsache widerlegt. [...] Ich suche eine Weltconception,
15
Vgl. JGB 1; 5, 15 sowie FW 344; 3, 577 mit der Wiederaufnahme GM 3, 24; 5, 401. So auch Habermas 1973, 260 u. Nehamas 1985, 53. 17 Dies wäre gegen Stegmaier und Simon einzuwenden, die jeweils nur die zweite Seite des Verhältnisses, die Interpretativität, betonen (1985, 85ffu. 1986, 72ff). 16
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2.3. Das Dionysische: Nietzsches Wahrheitsbegriffe
welche dieser Tatsache gerecht wird: [...] das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick" (13, 11 [72]). Was dies bedeutet, kann im Vergleich mit dem Begriff des Werdens in der Platonischen Philosophie erläutert werden. Platon versteht das Werden nicht, wie Nietzsche, als den Gegensatz der Erkenntnis, sondern sieht in ihm den Modus des ungesicherten Erkennens, dem zufolge man zwar etwas für wahrscheinlich halten, aber noch nicht wirklich wissen kann. Deshalb negiert das Werden die Ideen auch nicht schlechterdings; vielmehr kann man sie in ihm zur Geltung bringen, insofern man sie als seinen Anfang, das in ihm Vorausgesetzte, sowohl zu erkennen als im Blick zu halten weiß (Rep. 511 b-e). Nietzsche will diese wechselseitige Bezogenheit zwischen Sein und Werden zugunsten des letzteren lösen: Das Werden soll sich jeglichem Bezug auf Kategoriales, d.h. auf Erkennbarkeit entziehen. Es ist deshalb nicht mehr mit dem Platonischen Begriff der yeveaiq zu übersetzen, der das Werden und Vergehen der Phänomene meinte, sondern spitzt sich auf ein nur mehr negativ zu fassendes Geschehen zu: Es wird gleichsam auf den reinen Augenblick ( ) verengt, der als Umschlagspunkt von Sein und Werden nicht mehr selbst als Phänomen erscheint (Parm.156 d f.). Die als Phänomenbestimmung fällt dagegen mit dem Seienden in eins, da für Nietzsche selbst das Werden der Erfahrung und der Wahrnehmung durch einen synthetisierenden Zugriff geformt werden muß. Dennoch will er nicht auf eine Ebene verzichten, in der das Werden selbst als Sein erscheint: Er will mit ihm die grundsätzliche „Weltbewegung" denken und führt so den , das schlechterdings Verschwindende, auf die platonische Beschreibungsebene der € zurück. Dadurch aber wird der Augenblick zum konstituierenden Element der Welt hypostasiert. Anstatt sich darauf zu beschränken, das Werden als ein analytisches Moment in der Veränderung von Formen anzunehmen und ihm damit den Rang einer bloßen Denknotwendigkeit zuzuerteilen, erteilt er ihm weiterhin ontologische Valenz. Gleichzeitig war Nietzsche allerdings, im Sinn der eben dargelegten Zweideutigkeit, bemüht zu zeigen, daß die Interpretativität genügt, um sich im Erkennen zu orientieren18. Dies wurde in der oben zitierten Stelle aus Jenseits von Gut und Böse offenbar. So versucht er, in der Rede von den „Stufen der Scheinbarkeit", nachzuweisen, daß, auch wenn es nichts anderes als Interpretationen gibt, keineswegs auf Einsicht und die Möglichkeit, sich von dem jeweils gegebenen Schein zu distanzieren, verzichtet werden muß. Eine Synthese kann das von ihr Erfaßte nie so endgültig integrieren, daß es nicht mehr möglich wäre einzusehen, daß dies auch anders geschehen könnte. Dadurch bleibt stets die Möglichkeit gewährt, in 18
Vgl. die systematische Ausarbeitung bei Kouba 1990 u. 1994.
2.3. Das Dionysische: Nietzsches Wahrheitsbegriffe
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relativem Sinn zu sagen, daß eine Synthese unangemessener oder unplausibler als eine andere ist. Es ist hierfür kein absoluter Maßstab nötig, wie Nietzsche auch in seiner Anspielung auf den Bereich der Malerei zu zeigen sucht (s.o.): Für gewöhnlich beurteilt man die Richtigkeit einer Farbgebung nach ihrer Funktion im Bild, nicht jedoch im Vergleich zur abgebildeten Realität. Das heißt, man vergleicht eine Farbe immer nur mit einer anderen und kann doch auf diese Weise sagen, was die jeweils beste Farbe ist. Auf die Ebene der Interpretationen übertragen heißt dies, daß eine Interpretation zwar immer nur durch eine andere kritisierbar ist, daß dadurch aber keine einfach hingenommen werden muß. Jede Interpretation kann als vorläufige und begrenzte eingesehen werden. Überdies glaubt Nietzsche nicht, mit der Betonung der Interpretativität dem Problem der Selbstanwendung zu unterliegen, das sich für gewöhnlich bei skeptizistischen Theorien stellt. Das heißt, er ist nicht der Meinung, daß die Einsicht, alles Denken basiere auf Interpretationen, so auf sich selbst zu beziehen wäre, daß die Einsicht ihrerseits als interpretativ bezeichnet und relativiert werden müßte. In der wohl exponiertesten Form hat er dies an folgender Stelle gezeigt: „Aber, wie gesagt, das (das Weltbild der Physik - M.S.) ist Interpretation, nicht Text; und es könnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde,- [...] Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist - und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? - nun, um so besser. -" (JOB 22; 6, 37).
Dieses „Um so besser" könnte, wenn es denn als Selbstanwendung zu verstehen wäre, nicht derart emphatisch an den Schluß des Aphorismus treten. Es muß deshalb so gelesen werden, daß durch den als möglich angesehenen Einwand die Notwendigkeit der Interpretation nur mehr bestätigt wird: Wer die Interpretation des anderen nur dadurch widerlegen kann, daß er sagt, sie sei auch nur Interpretation, der kann seinerseits auf keine objektive Wahrheit rekurrieren. Dies bedeutet auch, daß Nietzsche gar nicht zu beweisen suchen muß, daß es nur Interpretationen gibt: Die Beweislast liegt, um juridisch zu sprechen, nicht bei ihm, sondern bei dem, der bestreiten wollte, daß jedes Weltmodell so verfährt. Da dies jedoch letztlich nicht möglich ist, weil niemand die absolute Geltung seiner Deutung beweisen kann, gibt es kein Argument, das Nietzsches Einsicht widerlegt. Die hier zitierte Stelle ist im übrigen auch für das Verständnis des davor Gesagten fruchtbar, dort nämlich, wo Nietzsche vom „Hinblick auf die gleichen Erscheinungen" spricht: Die Syntheseleistungen des Denkens sind demnach keine willkürlichen Standpunkte eines monadischen Ichs, sondern Synthesen der Erfahrung der einen, gemeinsamen Welt. Dies soll allerdings nicht heißen, daß es in den „gleichen
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2.3. Das Dionysische: Nietzsches Wahrheitsbegriffe
Erscheinungen" empirische Tatsachen gäbe, die dann nur verschieden gedeutet würden. Damit höbe sich der Interpretationsgedanken auf. Vielmehr bedeutet es, daß es nicht zwingend ist, eine völlige Unvereinbarkeit von Interpretationen anzunehmen. Wer dem entgegen behaupten wollte, daß man einen absoluten Maßstab braucht, wenn man Sachverhalte beurteilen will, müßte erst beweisen, daß jede Interpretation auf etwas von den anderen gänzlich Verschiedenes zielt und kein sinnvolles Urteil möglich macht19. Zum Abschluß dieser Überlegung gilt es noch auf zwei Momente einzugehen, in denen die Problematik des Dionysischen nach der Geburtsschrift weiterentwikkelt wurde. So zeigt sich, daß Nietzsche die Situation des Einbruchs in eine Kultur, den das Dionysische bedeutet, auch für seine Gegenwart konstatiert. Er denkt ihn also keineswegs als ein singuläres, sondern als ein strukturelles Phänomen. So verhält sich der Nihilismus zum Glauben an Werte wie vormals das Dionysische zu den Mythen (12, 5 [71]; S. 214f.). Allerdings zeigt sich in dieser Hinsicht auch, inwieweit Nietzsche die Dramatik eines solchen Einbruchs nunmehr zu reflektieren versteht: „Die Kategorien „Zweck", „Einheit" „Sein", mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen - und nun sieht die Welt werthlos aus... [...] Resultat: der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus" (l 3, 11 [99]). Die Dramatik der Einsicht in die Nichtigkeit aller angenommenen Kategorien ist demnach nur das Resultat einer falschen Voraussetzung: Man ist über die Wertlosigkeit schockiert, weil man in der Welt einen Grund der Werthaftigkeit erwartet hat. Zwar ist dieser Schock nicht ganz dem in der Geburtsschrift dargelegten analog, da das Apollinische nicht auf einer solchen Voraussetzung beruhte, sondern zumindest implizit um die Nichtigkeit wußte und sie sich durch den Glanz der olympischen Götter nur „verhüllte" (GT 4; l, 40). Dennoch trug der Einbruch dort im Grunde den Charakter, der jetzt dem Nihilismus zugeschrieben wird, da Nietzsche ihn eben am Maßstab der jetzt verurteilten „Vernunft-Kategorien", wie der des Gegensatzes von Wahrheit und Schein, beschrieb. Die Weiterentwicklung gegenüber der Geburtsschrift liegt also darin, daß ein freier Umgang mit der Unwahrheit möglich wird. Dies zeigt auch das Motiv des Lachens: „Mag nämlich auch die Sprache [...] nicht über ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt; [...] hier und da begreifen wir es und lachen darüber, wie gerade noch die beste 19
So auch Nehamas 1985,49 u. Figal 1994, 84.
2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst
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Wissenschaft uns am besten in dieser vereinfachten [...] Welt festhalten will" (JOB 24; 5, 41f).
Während die Tragik die Aufhebung aller menschlichen Kategorien in einer fundamentalen Nichtigkeit bedeutete, bedeutet das Lachen nur die Einsicht in das Verfangen-Sein in diesen. Der Lachende distanziert sich von ihnen, aber nicht, weil er durch ihre Widerlegung dazu gezwungen würde, sondern weil er gewahr wird, daß er sich distanzieren kann.
2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst Nachdem wir so die epistemologischen Bedingungen des Apollinischen und Dionysischen erläutert haben, gilt es, auf ihre Funktion im Handeln einzugehen. Wir beginnen dabei wiederum mit dem Apollinischen: „Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende [...] Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische „Wille" einen verklärenden Spiegel vorhielt" (GT 3; l, 36).
Unsere Analyse dieses Abschnitts muß in zwei Schritten erfolgen. Der erste Schritt führt uns zu einer weiteren Bestimmung des synthetischen Denkens, das dem Apollinischen zugrundeliegt. Entscheidend ist hierbei Nietzsches Rede von der „olympischen Götterordnung", bzw. der „olympischen Welt". In den Synthesen werden demnach nicht nur einzelne Formen, sondern wird zugleich ein Rahmen geschaffen, in den Formen eingebettet sind. Dieser Rahmen bildet eine Welt. Freilich darf dies nicht nur als ein Zugehörigkeitsverhältnis angesehen werden, in dem Sinn, daß die olympische Welt nichts anderes wäre als der Ort, in den alle Denkund Handlungsvollzüge der ihr entsprechenden Epoche gehörten. Der Begriff der Welt meint hier nicht die Gesamtheit dessen, was existiert. So war er bei Kant und auch bei Schopenhauer verwendet worden20. Nietzsches Verständnis baut dagegen 20
Für Kant ist die Welt die „absolute Totalität" des Erkennbaren (KrV B 528/A 500). Zu Schopenhauer vgl.WWV l, 15; 2, 91.
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2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst
auf der faktischen Zugehörigkeit nur auf und erkennt in ihr ein qualitatives Zugehörig-Sein. Was wir mit der Metapher des Rahmens beschreiben, ist deshalb genauer ein Zusammenhang, d.h. ein Zusammenstimmen des Einzelnen untereinander. Ein solches Zusammenstimmen erschöpft sich nicht in der bloßen Summierung des Einzelnen, sondern tritt als prägendes Moment hervor. Wenn Nietzsche also sagt, daß in der Göttenvelt „alles Vorhandene vergöttlicht ist" (ebd., 35), so heißt dies, daß durch den Zusammenhang zugleich ein einheitlicher Sinn vorgegeben wird, der jedes Einzelne bestimmt. Umgekehrt, vom Einzelnen aus gesehen, heißt dies, daß eine Synthese nicht nur isoliert besteht, sondern über sich hinaus auf einen Zusammenhang verweist, in den sie gehört. Jede Synthese wird so verstanden, als ob alles andere in ihrer Art bestimmbar wäre; ihr eigentlicher Sinn ist, daß sie in ein sinnvolles, ihr entsprechendes Ganzes gehört. Es gilt also, das Telos der Geschlossenheit in den Synthesen auf ein weiteres Telos zu beziehen, nämlich das einer geschlossenen, weil in sich sinnvollen Welt. Paradigmatisch läßt sich ein solches Telos auch an der Kunst erläutern, auf die Nietzsche hier als auf ein gleichartiges Prinzip verweist: Eine künstlerische Darstellung ist stets so, daß sie einen Gesamtzusammenhang besitzt, auf den alles Einzelne als seinen Sinn bezogen werden kann. Wenn er anhand der Traumerfahrung sagt: „alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges" (GT 1; l, 26),
so gilt dies dem ästhetischen Phänomen, dem zufolge kein Teil eines Werks als indifferent gegenüber dem Werk als ganzem verstanden wird. Freilich hat die Analogie darin auch ihre Grenze, daß die Kunst die Zusammenhänglichkeit der Welt als solche darstellen kann, während die Welt das schlechthin Umfassende ist, das durch keine einzelne Darstellungsweise erschöpft wird, sondern diese umgekehrt fundiert. So läßt sich zwar sagen, daß jede Interpretation die Welt als ihren Sinn intendiert, dennoch kann dieser Sinn nicht selbst in ihr bezeichnet werden. Die „höhere Glorie" bspw., in der den Griechen, Nietzsche nach, das Dasein erschien, konnte damit zwar in jedem einzelnen der olympischen Götter ersichtlich und erfaßbar werden. Dennoch waren diese jeweils nur ein Ausdruck für die Möglichkeit, die Welt in einer solchen Glorie sehen zu können: Die Sinnhaftigkeit und stimmige Geschlossenheit der Welt, zu der sie gehörten, war nur an ihnen zu verstehen und wurde nicht durch sie gesagt, bzw. hergestellt. Im übrigen darf ein bewußtes Intendieren des Zusammenhangs auch gar nicht erfolgen: Wo man nur die Stimmigkeit als solche intendierte und nicht die Formen, an denen sie zum Ausdruck kommt, ginge die Bestimmtheit des Denkens verloren, denn als solche hat die Stimmigkeit keinen Gehalt. Auch Nietzsche zeigt dies an, wenn er sagt, daß sich die Götterordnung langsam entwickelt habe (s.o.): Ihr Zusammenhang war
2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst
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nicht auf einmal zu erbringen, sondern mußte aus der Stimmigkeit des Einzelnen erscheinen. Wollte man eine systematische Parallele zu anderen Denkern ziehen, so kommen, wie gesagt, für das Verständnis dieses Weltbegriffs Kant und Schopenhauer nicht in Betracht, da die Welt bei ihnen ein Objekt der Erkenntnis, nicht aber ein Erkenntnis- und Verstehensprinzip bedeutete. Dagegen kann der Weltbegriff auf den von Heidegger verwendeten bezogen werden. Wir zeigen dies im Hinblick auf Sein und Zeit. Zwar ist es der spezifischen Terminologie Heideggers im Grunde unangemessen, wenn wir uns dabei auf ein knappes Zitat beschränken, da dieses zu viele Voraussetzungen macht, um ganz erläutert werden zu können. Gleichwohl ist dieser Mangel hinzunehmen, da in einer freien Paraphrase nicht mehr deutlich würde, daß wir uns tatsächlich auf Heidegger beziehen. So schreibt er: „Dasein verweist sich je schon immer aus einem Worum-willen her an das Womit einer Bewandtnis, das heißt es läßt je immer schon, sofern es ist, Seiendes als Zuhandenes begegnen. Worin das Dasein sich vorgängig versteht im Modus des Sichverweisens, das ist das Woraufhin des vorgängigen Begegnenlassens von Seiendem. Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist das Phänomen der WelF (SZ 86) Daß es das Dasein, d.h. der Mensch ist, der sich an die Welt verweist, macht ihre systematische Funktion bei Heidegger offenbar, nämlich die, eine der Ausrichtungen des Verstehens als eines Grundvorgangs des menschlichen Lebens zu sein. Wir müssen dies abblenden21, kommen aber noch auf die Rolle des Daseins zurück. Die Welt als solche ist, nach diesen Worten, zunächst das Worin des Menschen, d.h. sein Ort. Heidegger baut damit auf ihrer gegenständlichen Bedeutung auf. Gleichzeitig aber ist das Worin ein Woraufhin, d.h. es ist sinnvoll, allerdings nicht so, daß man sagen könnte, der Ort habe Sinn, sondern so, daß der Ort selbst der Sinn ist, auf den man sich bezieht. Die Welt hat also nur vordergründig eine gegenständliche Bedeutung, grundsätzlich ist sie ein Zusammenhang, der Gegenständen der Erfahrung erst ihre Bedeutung gibt. Hier kommt der Ausdruck der Bewandtnis ins Spiel. Bewandtnis ist das Sein des Zuhandenen, d.h. der Dinge, insofern sie nicht bloß vorkommen, sondern jeweils bestimmte Funktionen erfüllen und dadurch Träger einer Bedeutung sind. Eine Sache hat Bewandtnis, insofern sie in Hinsicht auf etwas, das sie leistet, sinnvoll ist (SZ 84). Die Dinge oder Tätigkeiten brauchen damit eine Welt, gleichsam als Medium ihrer Verbundenheit, d.h. als Medium, das jedes Ding auf ein anderes beziehbar werden läßt:
21
Vgl. Figal 1988, 89ff.
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2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst „zum Beispiel mit diesem Zuhandenem, das wir deshalb Hammer nennen, hat es die Bewandtnis beim Hämmern, mit diesem hat es die Bewandtnis bei Befestigung, mit dieser bei Schutz gegen Unwetter" (ebd.).
Heidegger spricht in dieser Hinsicht ausdrücklich von einem Zusammenhang und von einer Ganzheit, genauer Bewandtnisganzheit (ebd.). Freilich werden auch anhand dieser kurzen Skizze die Unterschiede zu Nietzsche offenbar: Es geht ihm, ausgehend vom Grundvollzug des Verstehens, um den Umstand, daß die Welt in ihrem Wesen, ihrer „Weltlichkeit", ein Gefüge möglicher Beziehungen ist. Nietzsche dagegen interessiert sich für ihre Wirklichkeit, d.h. für die Konkretion und Geschlossenheit einer Welt zu einer bestimmten Zeit - oder, wie man auch sagen könnte, für eine jeweils singuläre Welt -, so daß er das Phänomen nicht wie Heidegger auf seine Bedingungen hin reflektiert. Die Begründung der Weltlichkeit durch das Verstehen kommt bei ihm nur indirekt, durch die Analogie zur Kunst in den Blick, was sie aber nicht begrifflich faßbar werden läßt. So könnte man fragen, inwieweit die Rede von der Welt überhaupt terminologisch bei ihm aufzufassen ist. Dennoch liegt in der Abkehr von der Vorstellung einer Ansammlung hin zu der eines Zusammenhangs zumindest der Sache nach die Einsicht in den Phänomenbereich vor, was auch das Folgende bestätigen wird (auch wenn sich dabei noch ein anderer, gewichtiger Unterschied zu Heidegger zeigt). Kommen wir nun jedoch auf die fundierende Rolle des Daseins für die Welt zurück. Der Bezugspunkt der Sinnganzheit der Dinge ist demnach der sinnverstehende Mensch: „Die Bewandtnisganzheit selbst aber geht letztlich auf ein Wozu zurück, [...] was selbst nicht Seiendes ist in der Seinsart des Zuhandenen innerhalb einer Welt, sondern Seiendes, dessen Sein als In-der-Welt-sein bestimmt ist, zu dessen Seinsverfassung Weltlichkeit selbst gehört. [...] Das primäre „Wozu" ist ein Worum-willen. Das „Unwillen" betrifft aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht" (ebd.).
Heidegger bezeichnet hierin eine weitere hermeneutische Bedingung: Wenn die Welt dem Wesen nach ein Sinngefüge ist, dann besteht sie nur für und durch denjenigen, der Sinn versteht. Sie ist also nicht nur das Medium der Bewandtnis als der Sinnhaftigkeit der Dinge in ihren Beziehungen, sondern geht zurück auf eine noch fundamentalere „Bedeutsamkeit", die sie für jemand hat. Mit diesem Begriff versucht Heidegger, die Bezogenheit der Welt auf das Dasein von der Bezogenheit der Dinge untereinander zu unterscheiden (SZ 87). Die Konsequenzen, die diese Bedingung bei ihm hat, können wir, wie gesagt, nicht zeigen. Wichtig für uns ist vielmehr nur der hier zutage tretende Primat des Daseins, denn er führt uns auf den
2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst
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zweiten Schritt, in dem die vorgegebene Passage der Geburtsschrift zu erläutern ist. In ihm wird das Telos des Weltbezugs auf ein weiteres und endgültiges Telos bezogen. Nietzsche hat dieses Telos in der weiter oben zitierten Rede vom „praktischen Bedürfnis" angesprochen, hier dagegen situiert er es in der Anforderung, das Leben zu ertragen zu können. Wir können jedoch, in Anlehnung an Heidegger, verallgemeinernd sagen, das Telos des Verstehens einer Welt sei das Selbst, das in ihr lebt. Damit kann der Anschein des Pragmatismus, der in den anderen Ausdrücken liegt, vermieden werden. (Auf die Frage nach dem Pragmatismus kommen wir noch zurück.) Der Begriff des Selbst, der hiermit eingeführt wird, ist in mehrfacher Hinsicht zu unterscheiden: Er bezeichnet die Gesamtheit des Denkens und Empfindens eines Einzelnen und ist damit weiter als der des Ichs, der den Akzent auf die Selbstidentifikation und das Selbstbewußtsein des Einzelnen legt22. Ebenso unterscheidet er sich von dem ontologisch ausgerichteten Begriff des Subjekts, da er nicht den Grund des Denkens und Empfindens bezeichnet, sondern das jeweils entfaltete Denken selbst, das vom Bewußtsein her immer auch als unverfügbar erfahren werden kann2". Was er jedoch konkret im Rahmen von Nietzsches Überlegung heißt, läßt sich wiederum in Abgrenzung zu Heidegger verdeutlichen. Heidegger ging es, wie auch hinsichtlich der Welt, um die Frage nach Bedingungen, genau gesagt um die Bedingungen, unter denen sich das Selbstsein als Wissen um sich konstituiert. Der von ihm für die Bezeichnung des Selbst gewählte Ausdruck Dasein bedeutete daher, daß der Mensch nur dadurch existiert, daß er sich verstehend in einem Gefüge von Beziehungen orientiert. Nietzsche aber geht es nicht um die Reflexion auf Bedingungen des Selbst, sondern, ebenfalls wie bei der Frage nach der Welt, um den Umstand, daß sich ein bestimmtes Selbst in einer bestimmten Welt versteht. Die von ihm gemeinte Welt ist deshalb nicht nur in einem strukturellen Sinn, für jemand, sondern auch in einem possesiven Sinn; sie ist die jeweils eigene Welt, d.h. die Welt, die sich ein Selbst ausdrücklich als die ihm eigene zuschreiben kann. Dies zeigt sich darin, daß er sagt, die Götterwelt sei der „verklärende Spiegel" der Hellenen gewesen24. Sie hatte die Funktion, den Griechen bildhaft vorzuführen, was sie sind. Diese Bezogenheit der Welt auf ein bestimmtes Selbst liegt im übrigen auch in dem Begriff des Horizonts, der in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung hervorgehoben wird. Wenn Nietzsche sagt, 22
Vgl. zu dieser Unterscheidung Za I, Verächter des Leibes; 4, 38f. sowie Stegmaier 1985, 79f. u. Riedel 1998, 69. Daß Nietzsches Selbstbegriff die Identität des Einzelnen nicht in ihrer Formalität und Allgemeinheit, sondern in ihrer Steigerbarkeit und Besonderheit unterstreicht, zeigt Schacht 1992, 274ff. 23 Vgl. zu diesem Aspekt EH, Menschliches 4; 6, 326. 24 Vgl. zur Metapher des Spiegeins auch 12, 9 [102]. Eine umgekehrte Verwendung der Metapher zeigen JBG 207; 5, 135 u. 11, 25 [12].
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2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst
„Jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden" (HL 1; 1,251),
so bezieht er sich dabei in einer anderen Terminologie auf dasselbe Phänomen: Der Horizont meint eine Welt im Sinn eines Beziehungsgefuges, jedoch nicht in seiner Zusammenhänglichkeit, sondern in seiner Begrenztheit, die es stets nur durch und für jemanden hat. Er bezeichnet die Welt in ihrer Abhängigkeit von einem Selbst25. Doch was bedeutet die Rede vom „verklärenden Spiegel" genau? Würde man sich nur am Attribut des Verklärenden orientieren, so käme man vielleicht dazu zu sagen, die Welt sei eine bloße Fiktion. Man könnte dann gerade nicht behaupten, daß das Selbst sich in der Welt verstünde, sondern daß es durch die Welt gleichsam von sich abzulenken suchte. Diesem Einwand läßt sich prinzipiell mit Heidegger begegnen: Weil es gar keinen anderen Maßstab der „Bedeutsamkeit" der Welt gibt, als den des Selbst, ist die Welt notwendig immer in Bezug zu ihm. Es kann deshalb keine Selbstvergessenheit in etwas geben, da auch die Vergessenheit eine Haltung des Selbst erforderlich macht26. Auch wenn das verklärende Bild der Götter also nichts anderes wäre als ein vorgegaukelter Schein, könnte es nur dadurch als maßgeblich angenommen werden, weil es eine Bereitschaft gab, dies zu tun. Damit bliebe freilich immer noch die Ansicht möglich, daß es sich bei dieser Widerspiegelung um eine Täuschung handle, denn selbst wenn man sagen muß, daß die Welt notwendig auf das Selbst bezogen bleibt, so könnte sie doch immer noch eine Verfälschung seines Daseins sein. Dem ist aber zu entgegnen, daß das Selbst, insofern es sich in den Gegebenheiten einer Welt versteht, keineswegs zu einer adäquaten, gleichsam naturalistischen Widerspiegelung seines eigenen Seins gelangen muß. Vielmehr bringt es Möglichkeiten zur Entfaltung, die zwar in ihm angelegt sind, aber nur durch das Verstehen im Medium des anderen zur Geltung kommen. In diesem Sinn wird nicht nur die Welt durch das Selbst interpretiert, sondern das Selbst indirekt auch durch die Welt. Es entsteht ein Wechselverhältnis, das nicht auf bestimmte Gegebenheiten festzulegen ist, sondern die Möglichkeit offen läßt, daß die Welt und mit ihr das Selbst einen anderen, höheren Sinn erhält. Die Griechen täuschten sich deshalb nicht über sich in ihren Mythen, sondern kamen in ihnen auf produktive Weise gerade zu sich selbst. Dieser Umstand wirft auch ein besonderes Licht auf den Begriff des Selbst. Obwohl dieser wesentlich als Relationsbegriff anzusehen ist, vom dem aus sich Eigenheit und Fremdheit unterscheidet, geht es für Nietzsche doch nicht darum, daß sich das Selbst im Umgang mit der Welt jeweils nur in seiner Eigenheit bestätigt. Wir können dies in der Fortsetzung der gerade zitierten Stelle zeigen, in der es heißt: 25 26
Vgl. auch M 117; 3, 110. Vgl. Heideggers Charakteristik des Verfallens (SZ 179).
2.4. Das Apollinische im Handeln. Die Beziehung von Welt und Selbst
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„Ist es (das Lebendige - M.S.) unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder überhastig [...] dahin" (ebd.).
Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, daß das Selbst nicht am Mangel, sondern auch am Überfluß an Selbstigkeit eingehen soll. Man kann die Stelle aber so paraphrasieren, daß man sagt: Wo das Selbst in der unausweichlichen Auseinandersetzung mit anderem immer nur auf sich beharren kann und das andere nicht zu einem Bestandteil seiner eigenen Welt umbilden kann, gerät es unter den Zwang beständiger Abgrenzung und reibt sich in dieser auf. Seine Selbstigkeit ruht also erst dann in sich, wenn sie im Austausch in sich ruhen kann27. Wie wir überdies an späterer Stelle, in der Ethik, sehen werden, ist das Selbst sogar dann gerade bei sich, wenn es sich im Austausch und im anderen übersteigt. Neben den ethischen sind aber auch die methodischen Bedingungen dieses Begriffs zu nennen. Obwohl sich Nietzsche notieren kann, daß die selbstischen Triebe die „einzig realen" (12, 10 [57]) seien, fragt er sich doch einmal an anderer Stelle: „Wie kann man nur solchen Genuß an der Trivialität haben, daß Selbstliebe die Motive aller unserer Handlungen abgiebt! [...] Weil ich lange nichts davon wußte (metaphysische Periode)" (8, 30 [187]).
Der bloße Umstand der Bezogenheit von Verständnisweisen auf ein Selbst ist demnach allgemein und bringt keine wirkliche Erkenntnis; relevant wird er erst dadurch, daß er immer auch verkannt werden kann28. Das heißt, daß der Bezug auf das Selbst nur innerhalb eines sachlichen Weltbezuges sinnvoll ist, in dem man ihn rekonstruierend erschließt, und nicht an sich. Dies gilt es auch in Hinsicht auf einen zu späterer Zeit ins Zentrum rückenden Begriff zu beachten, nämlich in Hinsicht auf den Begriff der Perspektive: „Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches „Erkennen"; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser Begriff dieser „Sache"" (GM 3, 12; 5, 365).
Auch dieser Hinweis auf die Selbstbezogenheit wäre eine Trivialität, wenn er nicht als Selbstbezogenheit im Weltverstehen aufzufassen wäre. Perspektiven sind also insofern „Augen" als sie über sich hinaus auf anderes zielen und dabei die in ihnen 27 28
Vgl. auch die kritischen Bemerkungen FW 377; 3, 630 u. JOB 207; 5, 134. Vgl. auch JOB 220; 5, 155.
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2.4. Das Apollinische im Handeln: Die Beziehung von Welt und Selbst
liegende Erschließungsleistung verdecken. Man kann nicht allgemein von ihnen ausgehen, sondern geht in der Reflexion des jeweiligen Erkennens auf sie zurück. Um jedoch, wie angekündigt, auf den Anschein des Pragmatismus zurückzukommen, so läßt er sich deshalb widerlegen, weil es keine praktischen Zwecke gibt, die dem Verstehen, sowohl der Welt als auch des Selbst, vorgängig wären. Vielmehr bildet erst die Welt einen Zusammenhang, in dem man handeln kann. Die Götterordnung wird also nicht imaginiert, um ein bestimmtes Handeln zu ermöglichen, sondern ein Handeln-Können, das sich überhaupt erst Ziele setzt. Auch das von Nietzsche angeführte Streben danach, weiterleben zu können, ist kein Zweck, sondern die Bedingung dafür, daß man Zwecke haben kann29. Dies läßt sich auch im Ausgang von der Wirkung illustrieren, die die Einsicht in den dionysischen Grund des Lebens auf den Menschen hat. Nietzsche schreibt: „Die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv [...]. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins" (GT 7; l, 57).
Was sich in der Einsicht verschließt, ist also die Überzeugung der Sinnhaftigkeit im Handeln oder allgemein im Tun. Zwar könnte man hiergegen erwidern, daß es dann eben das pragmatische Ziel sei, Sinn zu stiften oder zu erfahren, doch wäre dieser Einwand leer. Sinn ist eine wenigstens zweistellige Relation, so daß er nur an etwas existiert, das sinnvoll ist. Es gibt also keinen Übergang von der Erfahrung des Sinnschwunds hin zu der des Sinns, ohne daß man Sinnvolles erfährt, d.h. ohne daß man schon handeln kann30. Indem somit die Funktion des Apollinischen für das Handeln deutlich wurde, zeigten sich zugleich erste Bestimmungen des Handelns selbst. Wenn es nach dem Gesagten für das Handeln ausschlaggebend ist, sich auf eine Welt beziehen zu können, in der man handeln kann - eine Welt, „die uns etwas angeht", wie Nietzsche an einer schon genannten Stelle sagt (JOB 34; 5, 54) jl . -, dann ist das Handeln primär durch einen Selbstbezug charakterisiert. Man handelt dann sowohl aus sich selbst - dies ist der angesprochene Punkt der Motivation - als auch als Selbst. Dies erscheint ebenfalls trivial, trifft aber erste Vorentscheidungen, die wir in den späteren Kapiteln auszuführen haben. So gilt es dann bspw. zu fragen, welcherart die Ziele in der Intentionalität des Handelns sind. Was ebenfalls noch nicht behan29
Die These vom praktischen oder pragmatistischen Charakter des Perspektivismus haben Vaihinger und des neueren auch Gerhardt vertreten (Vaihinger 1920, 780ff. u. Gerhardt 1989a, 274ff.) Dagegen HN l, 572 u. Nehamas 1985, 54f. 30 Vgl. auch 10, 8 [25] u. 13, 14 [152]. 31 Vgl. zu dieser oft gebrauchten Formulierung auch FW 301; 3, 540 / JGB 80; 5, 88 u. 12,2 [154].
2.5. Das Dionysische im Handeln: Deuten und Vergessen
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delt werden kann, ist die Ausgangsfrage, inwiefern das Apollinische als instinktive Weisheit in einem Gegensatz zum Rationalismus steht. Dies wird sich erst nach einem Blick auf die Funktion des Dionysischen im Handeln zeigen.
2.5. Das Dionysische im Handeln: Deuten und Vergessen Ob das Dionysische eine Funktion im Handeln besitzt, muß als durchaus fraglich angesehen werden, wenn man bedenkt, daß es das Scheitern der Geschlossenheit des Sinns bezeichnet und damit sowohl die Welthaftigkeit als auch den Bezug des Selbst zu ihr zerstört. Es scheint also, als müßten wir uns für unser handlungstheoretisches Interesse mit dem Apollinischen begnügen. Tatsächlich ergibt sich aber auch im Dionysischen eine solche Funktion, und zwar dadurch, daß es in gewisser Weise auch von sich aus auf das Apollinische führt und so zumindest indirekt im Handeln wirkt. Dies geschieht insofern, als es nicht nur die Einsicht in die Wahrheit mit sich bringt, sondern zugleich eine Weise der ästhetischen Erfahrung. So ist die Kunst im Dionysischen, wie Nietzsche sagt, „die rettende, heilkundige Zauberin [...]; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt" (GT 7; l, 57). Diese Formulierung ist anhand des Wesens der Tragödie zu explizieren. Wie gesagt, deutet Nietzsche die Tragödie als Versöhnung und Zusammenspiel der Prinzipien des Apollinischen und Dionysischen: Das virulent und unverdeckbar gewordene Dionysische bedient sich der apollinischen Mythen, die durch es in semer Geltung aufgehoben wurden und verwendet sie als seine Ausdrucksform. So läßt es den „absterbenden Mythus" noch einmal lebendig werden, indem es ihm einen neuen, auf sich bezogenen Sinn verleiht (GT 10; l, 74). In concrete wird dieses Verhältnis von Nietzsche so beschrieben: „Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet. [...] In mehreren aufeinander folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt" (GT 8; l, 62).
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2.5. Das Dionysische im Handeln: Deuten und Vergessen
Der Ausgangspunkt der Tragödie ist nach Nietzsche also der dionysische Chor. Er drückt sich in seiner Ekstase zunächst lyrisch-musikalisch aus. Aus diesem Ausdruck folgt dann in einem zweiten Schritt, gleichsam als Überschuß, eine apollinische Vision, die eigentliche Handlung der Tragödie, die sich zwischen Einzelpersonen und in einer ruhigeren, der Distanz des Epos nahen Redeweise abspielt. Die tragische Handlung hat also ursprünglich keine Selbständigkeit, in dem Sinn, daß sie etwa wie ein Opemlibretto zur Musik hinzugenommen worden wäre. Nietzsche lehnt ein solches Verständnis ausdrücklich abj2; vielmehr ist die Handlung für ihn nur in Beziehung auf das musikalische Geschehen, als seine „Entladung" in ein anderes Medium, zu verstehen. Dementsprechend liegt der Sinn der Handlung in der Darstellung der Einheit mit dem formlosen Grund des Seins, was bedeutet, daß die einzelnen, bestimmten Elemente nicht als solche angesehen werden dürfen, sondern als Verweise, in denen etwas anderes aufscheint, als an sich geschildert wird. Das Spiel der Figuren wird, indem es angeschaut wird, zugleich „verneint" (GT 22; l, 140) und auf das nicht abbildbare Werden alles Seienden bezogen. Wenn dies aber so ist, dann stellt sich erst recht die Frage, ob die lähmende Wirkung des Dionysischen nicht grundsätzlich überwiegt. Warum kann Nietzsche sagen, daß die Kunst die Retterin des Lebens und damit auch des Handelns ist? Inwiefern läßt es sich gerade mit den so entstandenen Vorstellungen leben, wenn diese als Darstellung des Dionysischen doch nur dessen „veräusserlichte Abbilder" sind (GT 21; l, 139)? Nietzsche hat die Antwort hierauf in seiner Beschreibung der Wirkungen von Wagners Tristan und Isolde auf den Zuschauer zu geben versucht. Das Anschauen der Bühnenhandlung hat demnach die Wirkung einer „wonnevollen Täuschung" (ebd., 136): Anstatt sich völlig der Musik hinzugeben, wird der Zuschauer in seinem Interesse auf das Bühnengeschehen abgelenkt. Weiter heißt es dann: „So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzückt uns für die Individuen; [...] durch diese befriedigt es den nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es fuhrt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in ihnen enthaltenen Lebenskernes. [...] Was vermag nicht der heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst in uns die Täuschung aufregen kann, als ob [...] die Musik sogar wesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen Inhalt sei?" (ebd., 137). Durch das geschaute Apollinische kehrt sich letztlich also der Primat in der Darstellungsbewegung um: Es scheint nun, als käme die Musik zur Handlung hinzu, um sie zu illustrieren und in ihrer Wirkung zu vertiefen. Der Grund für diese Um32
Vgl. GMD; 1,517.
2.5. Das Dionysische im Handeln: Deuten und Vergessen
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kehrung liegt aber nicht in einer besonderen Beschaffenheit der Handlung, im dem Sinn etwa, daß sie bewußt eine Gegenwelt zum Dionysischen entwerfen und behaupten würde. Vielmehr genügt es, daß die Handlung, auch wenn sie das Dionysische mehr oder weniger deutlich symbolisiert, überhaupt als solche angeschaut und aufgenommen wird. Als Darstellung spricht sie zum Schönheitsempfinden des Zuschauers und als Handlung zu seinem praktischen Wissen, mit dessen Hilfe er sich mit dem Gesehenen identifiziert. Er kann nicht anders, denn die dargestellte Schönheit als Schönheit empfinden und das dargestellte Handeln als ein ihm zumindest prinzipiell erfahrbares verstehen. Das heißt, verkürzt gesagt, er kann nicht nicht verstehen und wird deshalb unweigerlich als Handeln-Könnender berührt. Damit befindet er sich, zumindest für die Dauer seines Schauens, in einer apollinischen Welt. Wollte man die hierin liegende hermeneutische Einsicht allgemein und losgelöst vom Kontext der Tragödie formulieren, so ließe sich sagen: Die Vorstellungen, die aus dem Dionysischen entstehen, genügen für das Leben allein schon deshalb, weil sie Vorstellungen sind. Auch wo nur das Formlose gedeutet wird, liegt eine Deutung vor, zu der sich ein Selbst als zu einem Ausdruck seiner Welt verhalten kann. Welthaftigkeit ist nichts substantiell Gegebenes, sondern besteht nur im Vollzug des Deutens selbst. Auch darin liegt ein Unterschied zu Heideggers Konzeption: Während für diesen die Welt eine vorgängige Bedingung war, durch die etwas allererst als etwas erscheint, und somit prinizipiell nicht schwinden konnte33, muß sie für Nietzsche, insofern sie eine jeweils singuläre Welt ist, durch eine Deutungsleistung, wenn nicht konstituiert, so doch wenigstens angeeignet werden. Sie besteht als eigene Welt nur im mehr oder weniger ausdrücklichen Bezug. Freilich bleibt an dieser Stelle unklar, warum es allein die Kunst sein kann, der dieser rettende Rückgang auf den Vollzug des Deutens zuzuschreiben ist. Zwar ist sie für einen solchen Vollzug sicherlich paradigmatisch, dennoch liegt in ihm ein grundsätzliches Vermögen, für das die Kunst als solche nur ein mögliches Beispiel ist. Erklären läßt sich ihre Indienstnahme jedoch mithilfe der zuvor geschilderten Verhaftung Nietzsches an den Kriterien eines adäquationstheoretischen Wahrheitsbegriffs. Weil er das Deuten unwillkürlich an diesen Kriterien mißt, kann er es immer nur als Verfälschung eines wahrhaft Seienden beschreiben. Es fehlt ihm die Möglichkeit, einen hermeneutischen Wahrheitsbegriff zu formulieren, der es aus dieser defizitären Stellung lösen würde. Für einen solchen Wahrheitsbegriff wäre hier der sachliche Ort angelegt. Er ginge von dem Umstand aus, daß der Gehalt von Welt und Selbst niemals in einer verifikativen Weise bestimmbar ist, sondern nur interpretativ erschlossen werden kann. Dabei ließe sich zusätzlich sagen, daß Welt und Selbst einer Art von Hinsichtnahmen zugehören, die 33
„Mit der Zugänglichkeit von innerweltlichem Zuhandenem [...] ist je schon Welt vorerschlossen. Sie ist demnach etwas, „worin" das Dasein als Seiendes je schon war" (SZ 76).
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2.5. Das Dionysische im Handeln: Deuten und Vergessen
gar keine andere Zugangsart als eine deutende und sinnverstehende zulassen, so daß der dramatische Gegensatz zur Wahrheit wegfallen und durch die Einsicht in die Eigengesetzlichkeit dieses Verhaltens ersetzt werden könnte. Weil dies jedoch ein Schritt ist, den Nietzsche nicht gehen kann oder nicht gehen will, braucht er ein Modell für ein Verstehen, das sich in seinen Deutungen nicht hinsichtlich seines Wahrheitsgehaltes legitimieren muß. Als ein solches Modell dient ihm die Kunst in der zu Anfang angesprochenen zweifachen Funktion: Zum einen ist sie fiktional und besteht gerade deshalb als Kunst, weil man ihre Darstellungen als Darstellungen versteht. Sie ist also nicht durch die Wahrheit widerlegbar34. Zum anderen aber ermöglicht sie Darstellbarkeit und läßt dadurch Deutungsmöglichkeiten allererst entstehen. So zeigt sie, wie es möglich ist, die Welt in „Gesammtbildem" (GT 18; l, 119), d.h. in der ihr einzig angemessenen synthetischen Betrachtungsart zu denken35. In dieser Hinsicht kann man also nicht behaupten, daß sie die Einsicht in die Vorgehensweise des Deutens behindern würde. Dennoch löst sich Nietzsche wegen ihrer Vorbildhaftigkeit nicht von der Kategorie der Fiktionalität, was seine Einsicht nicht zu voller Klarheit kommen läßt. Gegen diese Einschätzung könnte allerdings die folgende Stelle angeführt werden, in der er sagt, daß der Satyrchor in der Tragödie „das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns: sie will gerade das Gegenteil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit" (GT 8; l, 58).
Hier scheint eine ausdrückliche Verbindung von Kunst und Wahrheit vorzuliegen. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings klar, daß der Wahrheitsbegriff ebenfalls adäquationstheoretisch gefaßt ist: Die Kunst ist hier ein adäquater Ausdruck der Formlosigkeit und Absurdität des Seins. Sie wird in Beziehung auf das tatsächlich Gegebene wahr36. Ein solches Verhalten wie das an der Tragödie exemplifizierte, das sich angesichts einer sinnlosen oder wenigstens sinnfremden Welt ausdrücklich deutend verhält und sie dadurch in seine eigene Welt verwandelt, hat Nietzsche zu einem späteren Zeitpunkt explizit als ein Mittel individueller Lebensführung dargestellt. Zwar ist der Ausgangspunkt dabei nicht so radikal gefaßt wie bei Dionysischen, dennoch bleibt die Anforderung an das Sinnverstehen des Menschen gleich. So heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft:
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Vgl. auch FW 107; 3, 464 u. GM 3, 25; 5, 402. Vgl. auchGTl; 1,27. 36 Dies zeigt auch GT 16; l, 108. 35
2.5. Das Dionysische im Handeln: Deuten und Vergessen
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„Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, anziehend, begehrenswert!} zu machen, wenn sie es nicht sind? - und ich meine, sie sind es an sich niemals! [...] Sich von den Dingen entfernen, bis man Vieles von ihnen nicht mehr sieht und Vieles hinzusehen muss, um sie noch zu sehen - oder die Dinge um die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen - oder sie so stellen, dass sie sich theilweise verstellen und nur perspectivische Durchblicke gestatten - oder sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröte anschauen - oder ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle Transparenz hat: das alles sollen wir den Künstlern ablernen und im Uebrigen weiser sein, als sie. Denn bei ihnen hört gewöhnlich diese ihre feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört und das Leben beginnt; wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein" (FW 299; 3, 538).
In diesem kurzen Abschnitt liegt eine Gesamtübersicht über die Möglichkeiten des deutenden Verhaltens. Demnach kann man sich entweder ganz von den Dingen entfernen, solange bis man nicht mehr unter ihrer direkten Wirkung steht und seine eigene Deutung zur Entfaltung kommen lassen kann, oder man kann nur Teile und Aspekte an ihnen sehen, oder man kann Beziehungen zwischen den Dingen erkennen, die das Einzelne in einem jeweils neuen Sinn erscheinen lassen, oder man kann die Dinge von einem gelösten, überlegenen Standpunkt her betrachten, oder man kann sie schließlich als ästhetisches Phänomen verstehen, bei dem man sich bewußt am Spiel der oberflächlichen Effekte hält. Dieses weitere Beispiel zeigt uns allerdings, daß das hermeneutische Verhältnis, das angesichts der Wahrheit eingenommen wird, eine prekäre und vorläufige Rettung des Handelns bleibt: Als „Dichter seines Lebens" geht das Selbst gerade nicht in den Intentionen des Handelns auf, sondern beschränkt sich darauf, Möglichkeiten seines Handelns zu entwerfen. Es schafft Perspektiven auf die Dinge, von denen zumindest nicht garantiert ist, daß es sie auch in den Umgang mit den Dingen, d.h. in das Handeln, überführen kann37. Wo es deshalb um die Relevanz der Deutens für das Handeln geht und nur dies bildet hier unser Interesse -, kann die am Modell der Kunstbetrachtung angelehnte Haltung nicht genügen. Der Handelnde darf seine Welt nicht nur als gedeutete erfahren, sondern muß sie in der Vergänglichkeit - und damit auch Unausdrücklichkeit - erfahren können, die konstitutiv für das Heideggersche Verständnis des Begriffes war. Die Geburtsschrift weist darauf ausdrücklich hin: „Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewußtsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann, so dass die-
37
Dies zeigt auch FW 17; 3, 389.
46
2.5. Das Dionysische im Handeln: Deuten und Vergessen
se beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion [...] zu entfalten genöthigt sind" (GT 25; l, 155). Der Notwendigkeit der Wahrheit entspricht also die Notwendigkeit der Welt. Dies heißt auf der einen Seite, daß die Welt keineswegs lückenlos zur Geltung kommen muß: So lag die Leistung der apollinischen Welt ja gerade darin, daß sie eine Antwort auf die implizit gewußte Wahrheit bildete. Die Leistung lag, mit anderen Worten, nicht im bloßen Verdrängen der Einsicht, sondern in der Wirkungskraft der Deutung, die die Einsicht gar nicht völlig zu verdrängen brauchte, um zu bestehen. Auf der anderen Seite heißt dies aber auch, daß die Wahrheit zumindest zeitweise verdrängt bleiben muß. Das Handeln muß von der Schaffung seiner Bedingungen entlastet werden können, um sich überhaupt als Handeln zu vollziehen. Nietzsche muß also ein Prinzip angeben können, durch das es möglich wird, vollständig im Apollinischen eingehüllt zu sein und nicht nur bei der Reaktion auf die dionysische Erfahrung zu verbleiben. Dieses Prinzip liegt klarerweise nicht im Apollinischen als solchem, d.h. in den Strukturbedingungen der Welt, sondern in der Haltung, unter der man sie erfahrt. Nietzsche faßt das Prinzip mithilfe des Begriffs des Vergessens, der in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung prominent beschrieben wurde, jedoch schon in der Geburtsschrift als zeitweiliges „lethargisches Element" im Dionysischen Erwähnung fand (GT 7; l, 56). In der Betrachtung wird das Vergessen mit der Anforderung begründet, einen geschlossenen Sinnhorizont zu erwirken. So schreibt Nietzsche, unter Bezug auf die „mächtigste und ungeheuerste Natur", die denkbar wäre: „Das was eine solche Natur nicht bezwingt, weiss sie zu vergessen; es ist nicht mehr da, der Horizont ist geschlossen und ganz, nichts vermag daran zu erinnern, dass es noch jenseits desselben Menschen, Leidenschaften, Lehren, Zwecke giebt" (HL 1; l, 251). Das Vergessen ist also eine der Bedingungen für das Erreichen von Synthesen. Damit ist jede Synthese zugleich ein Vergessen, da sie nicht zur Einheit gelangen könnte, wenn sie beständig auf das Uneinheitliche bezogen bliebe. In einer gegen Hegel gerichteten Pointe könnte man dies auch so beschreiben, daß man sagt: Keine Synthese ist „absolute Synthese" und integriert die gesamten Möglichkeiten, die das Denken in sich schließt38; vielmehr grenzt sie im Vergessen, an einem Punkt, der sich durch die Leistungsfähigkeit des Selbst bestimmt, das andere einfach aus. Sie bleibt als Akt der Integration gegenüber anderem partikulär und formt sich nicht zur Totalität. Dabei darf das Vergessen freilich nicht allein als 38
Vgl. Hegel Werke 2, 24.
2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
47
Abgrenzung, d.h. als Gegensatz zum Wissen, angesehen werden. Nietzsche unterstreicht dies an späterem Ort: „Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen [...]; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen" (GM 2, 1; 5, 291f.).
Das Vergessen ist also nicht nur Vergessen des Fremden, das nicht zur Welt des Selbst gehört. Es ist zugleich ein Vergessen in der eigenen Welt. Im Licht unseres handlungstheoretischen Interesses könnte man auch sagen, es sei das Vergessen im Vollzug des Handelns selbst, der sich nicht über ein gewisses Maß hinaus von sich distanzieren darf, wenn er überhaupt geschehen soll. Damit scheint die Forderung, vergessen zu können, eine fast schon triviale Bedingimg des Handelns zu formulieren. Nicht trivial ist sie jedoch insofern, als sie eine grundsätzliche Entscheidung über das Verhältnis von Vernunft und Handeln mit sich bringt: Da man nach Nietzsche, wie gesehen, nur als Selbst zum Handeln kommt, kann und darf man nicht aus allgemeinen Gründen oder auch aus der Berücksichtigung der Gründe anderer handeln. Die Vernunft des Handelns muß stets die Vernunft des Selbst bleiben können, wenn das Handeln angemessen geschehen soll.
2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus Kommen wir nun auf den anfangs dargestellten Gegensatz zwischen der instinktiven Weisheit und dem Rationalismus zurück. Es kann jetzt nachvollziehbar werden, warum Nietzsche im Rationalismus, der mit Sokrates auftritt, das „mörderische Prinzip" (s.o.) erkennt, daß die vordem bestehende Denkform zerstört. Freilich gilt es auch jetzt noch, genau zu unterscheiden. Geht man nämlich davon aus, daß auch die logischen Kategorien für Nietzsche aus Synthesebildungen entstehen, dann fällt die Annahme eines absoluten Gegensatzes zwischen Kunst und Rationalismus dahin. Die „sokratische Lust des Erkennens" kann dann als eine weitere „Illusion" neben das Apollinische und Dionysische treten und eine Welt erzeugen, die dem Bedürfnis eines Selbst entspricht. Sie schafft, auch für Nietzsche, eine eigene Kultur und Lebensformen39. Man könnte also seine Formulierung, „in dem logischen Schematismus [habe] sich die apollinische Tendenz verpuppt" (GT 14; l, 94), so verstehen, als läge im Rationalismus nur eine andere Art des Apollinischen. Dieser formalen Gleichartigkeit wäre dann auch eine in39
Vgl. GT15; l, 98 u. GT 18; l, 115.
2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
haltliche beizuordnen, der zufolge die Wissenschaft zu derselben Einsicht in die Unerkennbarkeit des Seins gelangt wie das Dionysische. So „haben grosse allgemein angelegte Naturen [...] das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheiden zu leugnen" (GT 18; l, 118).
Namentlich handelt es sich bei diesen Naturen um Kant und Schopenhauer. In der Geburtsschrift wird ihre Leistung als eine Rückkehr zur tragischen Daseinshaltung geschildert: Die Wissenschaft gelangt zur ursprünglichen Einsicht in die Unergründbarkeit des Seins, die sie im optimistischen Glauben an die Tragfähigkeit ihrer Methoden und Begriffe in den Hintergrund gedrängt hatte, zurück. In späteren Schriften bezieht sich Nietzsche nicht mehr auf diese Denkfigur der Rückkehr zu einem vergessenen Ursprung; jetzt wird die „Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit" (FW 107; 3, 464) ohne Bezug auf die Weisheit der Antike allein als eine Leistung der modernen Wissenschaft gefaßt. Inhaltlich geht die Konzeption des Dionysischen also durchaus mit den Einsichten der Wissenschaft in eins oder kann sich zumindest ihre Einsichten zunutze machen, so z.B. wenn Nietzsche später den Gedanken der ewigen Wiederkehr als die „wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen" bezeichnet (12, 5 [71]). Der Grund, aus dem er den Rationalismus und damit auch die Wissenschaftlichkeit als ein zerstörerisches Denken bezeichnet, kann also weder auf der geltungstheoretischen noch auf der inhaltlichen Ebene gefunden werden. Vielmehr liegt er in der Methode, die sie verwenden, sowie in den Konsequenzen, die aus der Anwendung dieser Methode entstehen. Was den Rationalismus kennzeichnet, ist so zunächst die Unfähigkeit, in einem umfassenderen Sinn als in den Kategorien der Wissenschaft synthetisch zu denken: „Wer recht genau sich selber prüfen will, [...] der mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte Wunder empfangt: ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psychologische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt [...] Daran nämlich wird er messen können, wie weit er überhaupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann" (GT 23; l, 145).
Der Rationalismus verlangt Begründungen sowie empirische Genauigkeit; er muß einen Handlungszusammenhang analytisch in eine Handlungs/ö/ge zerlegen können und kann die in ihm dargestellte Welt nicht in einem Gesamtbild denken. Zwar schafft auch er eine Welt, insofern es dem Menschen nicht möglich ist, nicht in
2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
49
einer Welt zu leben, dennoch wird diese Welt nicht als ein geschlossener Horizont erfahren40. Daß Nietzsche hier im übrigen von Mythus spricht und diesen als gleichberechtigt neben das Kausalitätsdenken stellt, darf nicht irritieren, denn sein Begriff des Mythus basiert, wie schon die Analyse des Apollinischen zeigte, keineswegs auf einer einfachen Entgegensetzung zur Vernunft. Insofern der Mythus als „zusammengezogenes Weltbild" gilt, ist er vielmehr ein Beispiel für die Fähigkeit, Zusammenhänge in ihrem Gesamtsinn verständlich zu machen. Darin liegt a fortiori, daß er keine historische Epochengrenze bezeichnet, denn die Vernunftform, die er darstellt, zeigt sich zwar zu verschiedenen Epochen in verschiedener Weise, ist jedoch an sich kein geschichtliches Phänomen. Sie kommt nicht allein traditionellen, religiös geprägten Gesellschaften zu, sondern wirkt im Weltverstehen und in der Kunst unabhängig von diesen fort. Das hier nachvollzogene Argument ist, wie gesagt, streng von der inhaltlichen Frage zu unterscheiden. Es besagt nicht, daß das Denken am Leitfaden der Kausalität zu falschen Ergebnissen führen würde. Der Erkennmiswert der Wissenschaft nach den von ihr gesetzten Kriterien, gleichsam ihre interne Funktionstüchtigkeit, wird überhaupt nicht in Frage gestellt. Dies kann auch folgende Stelle erläutern: „Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, [...] eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehen und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivität [...]. Eine „wissenschaftliche" Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der dümmsten, das heisst sinnärmsten aller möglichen WeltInterpretationen sein [...]. Eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell sinnlose Welt!" (FW 373; 3, 626).
Daß Nietzsche hier auch die Wissenschaft als Interpretation bezeichnet, darf gleichfalls nicht als inhaltlicher Einwand genommen werden, denn es betrifft nicht die einzelnen Resultate, die sie erbringt, sondern ihre Stellung zum Dasein im ganzen. Im Gegenteil wird ihr ein funktionaler Erkenntniswert eben dadurch zugesprochen, daß sie als eine der möglichen Interpretationen bezeichnet wird. Der eigentliche Einwand liegt also darin, daß sie das Kriterium des Sinns im Weltverstehen nicht erfüllen kann. Ihre methodischen Mittel - die Mathematik und die Empirie - sind ungeeignet, den Sinn, der eine Welt als Welt konstituiert, zu erläutern. An diesem Punkt läßt sich dann auch der Unterschied zur dionysischen Erkenntnis deutlich machen: Sie erkennt die Fiktionalität und Nichtigkeit der als gültig angenommenen Kategorien nicht nur mithilfe des „Rüstzeugs" der Wissenschaft selbst (s.o.), sondern zugleich unter dem Kriterium des Sinns. Das heißt, sie widerlegt nicht nur die Kategorien, sondern deutet diese Widerlegung selbst als 40
Vgl. auchGT l; 1,27.
50
2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
Schwund der Sinnhaftigkeit des Daseins, als Einsicht in seine „Entsetzlichkeit" und „Absurdität" (s.o.). Dadurch bleibt es möglich, daß sie explizit in das Sinnverstehen umschlagen kann: Die Wissenschaft ist für sie nur ein Mittel, das sie nicht daran hindert, sich deutend auf die Welt zu beziehen41. Dieses Argument gegen die Dominanz der Wissenschaft, das auf dem Kriterium des Sinns beruht, kann als konsistent und sachlich richtig angesehen werden, im Gegensatz zu der geschilderten Zurückführung der logischen Kategorien und Prinzipien auf Synthesebildungen. Letztere muß als unhaltbar gewertet werden, denn es ist an diesen Prinzipien und besonders an ihrer Grundlage, dem Satz vom Widerspruch, nicht nachweisbar, daß er sich durch Gewöhnung oder andere Tätigkeiten erst konstituiert42. Ebensowenig ist es plausibel, wenn Nietzsche schreibt: „Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder" (HL 1; l, 248).
Daß das Phänomen des Bleibenden einzig der Gedächtnisleistung des Menschen zuzuschreiben ist und keinerlei fundamentum in re besitzt (ebd., 249), läßt sich an dem, was als Bleibendes erscheint, nicht belegen. Ausgehend von der Frage nach dem Sinn kann nun jedoch verdeutlicht werden, worin der Fehler dieser Annahmen beruht: Während sie die Nicht-Entsprechung von Zahlen oder logischen Prinzipien zur Wirklichkeit dadurch begründen, daß diese durch das Denken erst geschaffen wurden, stützt sich das Argument des Sinns allein auf die externe Unangemessenheit zu dem, was gezählt und in logische Formen gebracht wird. Die „Fälschung der Welt durch die Zahl" (JGB 4; 5, 18) muß also nicht dadurch begründet werden, daß die Zahlen an sich Verfälschungen des Unzählbaren sind, sondern nur dadurch, daß sie dem Wesen des Gezählten nicht entsprechen und daß man die Welt durch ihre Anwendung verfälscht. Es wäre für Nietzsches Zwecke also gar nicht nötig gewesen, die Synthesebildung auf alles Denkbare auszudehnen. Da er jedoch nicht streng genug zwischen der Natur und der Anwendung des Logischen unterschied, mußte er zu dieser Ansicht kommen43. Aus dem methodischen Mangel des Rationalismus erklärt sich nun auch seine zerstörerische Konsequenz: Wenn der Rationalismus Sinnhaftigkeit nicht nachvollziehen kann, dann ist er nicht geeignet, eine Welt zu verstehen, die in ihrer Geschlossenheit zugleich eine Welt ist, die ein Selbst als die seine anerkennt. Er unterbricht dann die Widerspiegelung des Selbst in seiner Welt:
41
Vgl.hierzuauchGT18;l,118. Zu Nietzsches Versuch einer empirischen Herleitung des Satzes vom Widerspruch vgl. auch FW 111; 3, 471 u. 12, 9 [97]. 43 Denselben Vorwurf macht Bittner 1987, 76. 42
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„Erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. [...] Man vergegenwärtige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist - das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus" (GT 23; l, 145f).
Wo die Welt nicht in einem einheitlichen Sinn verstanden werden kann, muß auf das Fremde zurückgegriffen werden, um von ihm her Fülle und Geschlossenheit zu erlangen. So kommt es zu einem Eklektizismus der Lebensformen, aber auch zum Historismus als der Beschäftigung mit vergangenen Kulturen (JGB 223; 5, 157). Nietzsche diagnostiziert überall dort, wo das Fremde oder Andere als gleichrangig, wenn nicht als bestimmend für sich anerkannt wird, den Versuch, fehlende Selbsthaftigkeit zu kompensieren. Dieser Versuch unterliegt jedoch der Aporie, daß der Mangel eben durch das Selbst verursacht wird und deshalb durch nichts Äußeres behoben werden kann. Die Hinwendung zu Fremdem verstärkt ihn sogar noch, da sie das Selbst immer weiter von sich entfernt44. Dabei geht es keineswegs darum, daß die Selbstigkeit der Welt bruchlos bestehen sollte, wie wir angesichts der Proportion von Welt und Wahrheit zeigten. Es geht nur darum, angesichts der Dominanz des Fremden, die der Historismus mit sich bringt, die „Gefahr" des völligen Selbstverlustes abzuwehren (JGB 224; 5, 160). Ideal ist dabei die verstehende Integration des Fremden. Nietzsche zeigt dies darin, daß er Formen des historischen Denkens für möglich hält, in denen der Primat des Selbst gewährleistet bleibt. Es sind dies die bekannten Formen der monumentalischen, antiquarischen und kritischen Historie. Auf sie kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden; vielmehr genügt es zu erkennen, daß sie Formen sind, die einem je verschiedenen Selbstinteresse „dienen" (HL 2; l, 258). In analoger Weise läßt sich zeigen, daß er keineswegs die völlige Verdrängung aller Wissenschaft verlangt: Sie kann neben dem Verstehen existieren, wenn sie, wie eben diese Formen der Historie, nicht über die Funktion eines Mittels hinauszugehen und die bestimmende Methode für das Denken vorzugeben sucht. Dasselbe Verhältnis haben wir schon angesichts der dionysischen Einsicht dargestellt. Der Rationalismus wird für Nietzsche also nicht durch seine Abschaffung bewältigt, sondern dadurch, daß man ihn einem höheren, d.h. in ihm selbst nicht faßlichen Ziel unterstellt. Die zielgebende Kompetenz liegt dabei in einem Denken, das den Primat des Selbst auch im Bereich des Erkennens beibehält, bei der Philosophie. Auf diese Einschätzung der Philosophie kann hier jedoch ebenfalls nicht eingegangen werden45.
44 45
Vgl. auch GT 18; l, 119f. Vgl. als Hinweis PHG 3; l, 817 / JGB 211; 5, 144f. u. GM 3, 24; 5, 400.
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2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
Freilich resultiert aus diesen Überlegungen nur eine allgemeine Gegnerschaft des Rationalismus zum synthetischen Denken, die zuletzt sogar in eine Form der Koexistenz umgewandelt werden könnte. Es ist also immer noch nicht klar, warum der erstere das letztere in seinem Bestand gefährdet oder gar zerstört. Für diese Frage können wir uns nun an folgendem Abschnitt orientieren: „Die ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben" (GT 10; l, 74).
Diese Stelle zeigt, daß der Punkt, an dem das Bestehen der einen Denkform das Bestehen der anderen ausschließt, in ihrer jeweiligen Verwirklichung begründet liegt. Der Rationalismus läßt, indem er die Kriterien des Sinnverstehens nicht beläßt, auch seine Resultate nicht bestehen, denn das Welt- und Selbstverstehen kann sich nicht entfalten, wo es in direkte Konkurrenz zum begründenden Denken tritt. Der Grund für dieses Unvermögen liegt in der Natur des synthetischen Denkens selbst: Seine Einheitsbildungen sind aus dem jeweils Vorgegebenen nicht abzuleiten oder zu begründen, denn sonst lägen sie bereits in ihm und würden nicht erst konstituiert. Die Synthese muß also ursprünglich gebildet werden können, sie muß aus sich heraus anfangen können, wenn sie überhaupt entstehen soll. Damit kann das Sinnverstehen zwar sein Eigenrecht gegenüber dem Rationalismus begründen, indem es dies aber tut, hat es sich in ein distanziertes Verhältnis zu sich begeben. Freilich darf dies nicht so verstanden werden, als ob jede Synthese in einem absoluten Ursprungsakt entstünde. Wäre dies der Fall, dann könnte sie schon von sich aus keinen Bestand erlangen. Nietzsche spricht deshalb vom „Weiterleben und Weiterwuchern" der mythischen Religion: Das in ihr vollzogene Sinnverstehen lag in einer Kontinuität von Deutungen, in dem jede neue Deutung nur die Deutung einer früheren Deutung war. So bleibt der Ursprungsakt zwar formal zur Erklärung der Veränderung von Deutungen bestimmend, basiert jedoch dem Inhalt nach auf einem vorgegebenen Sinn, welcher nicht durch einen gänzlich neuen zu ersetzen, sondern eigentlich nur umzudeuten ist46.
46
Vgl. die Formulierung „Alles Schaffen ist Umschaffen" (10, 10 [20]). An dieser Stelle wäre ein Vergleich zu Gadamers Hermeneutik reizvoll, für die die strukturelle Kontinuität zugleich das Zeichen einer wesenhaften Kontinuität alles Sinnhaften in der geistigen Tradition, der sogenannten „Wirkungsgeschichte", ist (Gadamer 1990, 311). Für Nietzsche beschränkt sich die Kontinuität dagegen auf einzelne Handlungszusammenhänge oder Kulturen und ist jederzeit revidierbar. Zur Kontrastierung der beiden Ansätze vgl. Figal 1996, 22ff.
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Diese Kontinuität im Sinnverstehen stellt das Problem des Anfangs jedoch noch deutlicher heraus, denn sie zeigt, daß es nicht nur nötig ist, einmal zu verstehen, sondern immer wieder neu verstehen zu können. An diesem Punkt kommt der auch für alles weitere entscheidende Begriff der Macht zum Tragen: „Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnisphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt: denn er hat in ihm den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden: vielleicht noch nicht für ihn, den Lebenden" (HL 1; l, 257).
Diese Stelle hilft uns zugleich, Nietzsches Verwendung des Begriffs der Macht aus einer Phänomenbeschreibung und nicht nur begrifflich zu erschließen. Eine Handlungsweise besitzt demnach Macht, wenn ein Selbst sie unmittelbar als für sich maßgebend erkennt oder besser: sich in ihr erkennt. Sie verliert diese Macht, wenn sie begründet werden soll, denn dadurch wird das selbsthaft Angesehene auf allgemeine Gründe und Motive überstiegen. Macht ist also, in einem ersten Anlauf, als die Fähigkeit zu definieren, nach der etwas aus sich selbst anfangen und bei sich bleiben kann, als Fähigkeit des Selbstseins47. Daß Nietzsche meint, eine solche Fähigkeit dem Handeln zugrundelegen zu müssen, heißt dann, daß das Handeln, insofern es dem Wesen nach als Handeln für und durch das Selbst erfolgt, auf einem entsprechenden Prinzip beruhen muß. Ein solches Prinzip kann nicht in der Erkenntnis liegen, insofern sie auf allgemeine Gründe zielt: Für sie ist eine Selbstwelt immer willkürlich und partikulär; sie kann die Widerspiegelung des Selbst in ihr nicht nachvollziehen48. Macht bezeichnet also eine Eigenschaft des Selbst in seinem Bestehen als Selbst. Wie schon der Begriff der Kraft, genauer der plastischen Kraft, muß sie als Prinzip deshalb angenommen werden, weil es nicht selbstverständlich ist, daß sich ein Selbst im Widerspiel zu Anderen als solches zur Geltung bringt49. Die Begriffe von Macht und Kraft sind damit koextensional, betonen aber unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens: Während im Begriff der Kraft schon eine gewisse Zielausrichtung liegt, meint der Begriff der Macht zunächst nur das vorhandene Vermögen, die potentiell gegebene Kraft. Das Moment der Herrschaft, das der ursprünglichen Bedeutung nach in dem Begriff liegt - Macht setzt eine Relation auf etwas Bemächtigtes voraus -, läßt sich dabei ohne weiteres mit dem Selbstsein vereinen, als Mittel, durch das es sich gegenüber 47
Vgl. auch 11, 36 [18], Vgl. auch 7, 3 [10]. 49 Vgl. Gerhardt 1996, 8: „Auf die Macht läßt sich immer nur schließen; sinnlich wahrzunehmen sind nur ihre Wirkungen oder deren Anzeichen."
48
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2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
Fremdem oder Widerständigem erhält. Gleichwohl liegt das Ziel der Macht, zumindest von der Ethik her gesehen, nicht darin, daß sie anderes beherrscht, sondern daß sie eben diese Möglichkeit des Selbstseins schafft. Es liegt, mit anderen Worten, nur in dem, der sie besitzt, und nicht in dem, was er mit ihr gegenüber Anderen erreicht. Mehr ist zu dem Begriff an dieser Stelle freilich nicht zu sagen, da er uns noch weiterhin begegnen wird50. Es genügt hier, seine Funktion in Hinsicht auf die Frage nach dem Anfang einzusehen. Nunmehr läßt sich auch erweisen, inwiefern das apollinische und dionysische Denken erstens eine Vernunftform bildet und zweitens als Vernunft nur im Modus des Instinktes, d.h. als instinktive Weisheit vorzufinden ist. So wurde dieses Denken, was das erstere betrifft, zwar am Bereich der Kunst entfaltet, darf jedoch nicht in gegenständlicher Bedeutung nur als Kunst bezeichnet werden, sondern ist ein Denken, genauer eine Form des Wissens und Erkennens. Der Bezugspunkt dieses Wissens ist die Welt und das Selbst, das sich in ihr spiegelt, seine Methode läßt sich als hermeneutische, d.h als interpretative fassen. Es wurde also deutlich, warum Nietzsche im Instinkt eine eigene Form der Urteilskraft verorten konnte: In ihm liegt das Vermögen zu erkennen, was in Hinsicht auf sich selbst und auf die eigene Welt das angemessene Handeln ist. Der Instinkt kann damit sowohl nach dem Kriterium der Wahrheit unterscheiden - wobei Wahrheit als Wahrheit des Sinns, d.h. als nicht verifikativ belegbar, anzusehen ist - als auch nach dem des Richtigen und Guten, da das Selbst mit seiner Hilfe Entscheidungen im Handeln trifft. Auf diese zweite Dimension sind wir freilich weniger eingegangen, sie war jedoch implizit im Bezug auf das sokratische Daimonion als einer abratenden Stimme enthalten. Daß diese Vemunftform aber, was das zweite anbelangt, notwendig instinkthaft auszuüben ist, ergibt sich ohne weiteres aus der zuletzt gezeigten Forderung der Selbstbewegung im Verstehen: Was der wahre Sinn der eigenen Welt und was das richtige Handeln für sich ist, läßt sich nicht durch allgemeine Gründe finden, sondern muß originär verstanden werden. Wo die Vernunft des Selbst sich suchen muß, ist sie gestört oder liegt bereits nicht mehr vor. Wollte man diese Konzeption begriffsgeschichtlich einzuordnen suchen, so müßte man sagen, daß sie in einer Linie mit dem Begriff der Phronesis ( ) steht. Methodisch ist die Phronesis, folgt man ihrer Beschreibung bei Aristoteles, ein Wissen, das im Handeln zur Entfaltung kommt, als Wissen um das jeweils Tunliche und die angemessenen Mittel zur Erreichung eines guten Lebens. In ihm liegt deshalb ein Verständnis der einzelnen Gegebenheiten, die an sich nicht generalisierbar sind (EN 1141 b 14-17). In ihrem Ursprung aber bedeutet die Phronesis eine Tugend der menschlichen Seele, d.h. ein Vermögen, das der Mensch als Mensch besitzt und deshalb nicht wie ein technisches Wissen weiter ausbilden 50
Siehe S. 77ff.
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oder steigern kann. Wo er in ihr fehlt, fehlt er deshalb nicht nur in Hinsicht eines praktischen Problems, sondern in Hinsicht seiner sittlichen Natur (EN 1140 b 22ff.)· Zwar nimmt Nietzsche keinen Bezug auf diese Konzeption, er zeigt jedoch durch die Verwendung anderer Ausdrücke an, daß er sich der Sache nach auf ein dieser Tugend analoges Vermögen bezieht. So spricht er auch von der „Klugheit des Instinkts" (13, 24 [6]) und bezieht sich damit auf die lateinische Weiterfuhrung der Phronesis als prudentia, oder er spricht von der „practischen Weisheit des Lebens" (FW 113; 3, 474). Den Erkenntnischarakter der Phronesis spricht er an, wenn er in vergleichbarem Kontext von einer „individuellen Wissenschaft" (9, 4 [118]) des Einzelnen spricht oder vom Instinkt als der „intelligentesten" Art der Intelligenz" (JOB 218; 5, 153). Die vielfältigen Begriffe sprechen dabei nicht gegen unsere These, sondern bestärken sie im Gegenteil; sie umschreiben das Phänomen, auch ohne es begrifflich zu fixieren. Wollte man einen entsprechenden Begriff aus der neueren Philosophie beibringen, so wäre auf den vergleichbaren Versuch Hans-Georg Gadamers zu verweisen, der, den Anregungen Heideggers folgend, die aristotelische Phronesis als „praktisches Wissen" interpretiert. Das praktische Wissen hat dabei mit Nietzsches Instinktkonzeption gemein, daß es nicht durch einen allgemeinen Inhalt, sondern durch den unmittelbaren und unaufhebbaren Bezug auf semen Träger zu definieren ist: Es ist ein Wissen um etwas, das man je nur für sich weiß (Gadamer 5, 242). Ein Wort ist noch zur Verwendung des Instinktbegriffs im Spätwerk anzuführen. Nietzsche bedient sich hier einer explizit physiologischen Sprache, so z.B. wenn er Dekadenz - sein Wort für die Verfassung des modernen Menschen - als Erkrankung der Lebensfähigkeit beschreibt51. Der Instinkt kommt dabei als ein Zeichen der Gesundheit und Stärke ins Spiel52. Wichtig ist jedoch, daß er auch in dieser Beschreibungsweise seine Funktion als Vernunftfomi beibehält. So schreibt Nietzsche bspw.: „Abgerechnet nämlich, dass ich ein decadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter Anderem, dass ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte: während der docadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel wählt" (EH, Weise 2; 6, 266). Auch wenn es in diesem Kontext schwer fällt zu sagen, der Instinkt sei eine Weise der Vernünftigkeit, weil Nietzsche ihn ganz auf den Bereich des Physiologischen zurückbezieht, so bildet er doch die Vernunft im Physiologischen, das Urteilsvermögen, das der Körper im Austausch mit seiner Umwelt hat. Die Stelle gehört also dennoch zum Kontext der instinktiven Weisheit, der in der Geburtsschrift darge51 52
Vgl. WA5;6,22f. Vgl. WA, Nachschrift; 6,40f. u. GD, Irrthümer 2; 6, 89f.
56
2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
boten wird. Man kann sogar umgekehrt behaupten, daß die körperlichen Phänomene erst vor dem Hintergrund der Kriterien von Welt- und Selbsthaftigkeit deutbar werden. Wenn Nietzsche in demselben Kontext, mit Hinsicht auf das Klima sagt: „Es steht Niemandem frei, überall zu leben" (EH, Klug 2; 6, 281),
so heißt dies, daß der Körper umwillen des Lebens und seiner Eingebundenheit in eine Welt, in der man leben kann, zum Tragen kommt. Es besteht also ein heuristischer und sachlicher Primat der geistigen Dimension des Selbst, aus dem sich die Funktion des Körpers erst erklärt. Dieser Deutung könnte allerdings noch eine prominente Stelle aus dem Zarathustra entgegengehalten werden, in der Nietzsche nicht in einer solchen Weise unterscheidet, sondern das Selbst mit dem Körper, genauer dem Leib, identifiziert. Doch auch diesem möglichen Einwand kann begegnet werden: „"Ich" sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, - dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. / [...] Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ich's Beherrscher. / Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er" (Za I, Verächter des Leibs; 4, 39f.).
Diese Stelle resümiert zunächst die bisher dargelegten Elemente: Das Selbst ist das Prinzip der Urteilskraft, es hat den Status einer Vemunftform, es hat Macht. Ebenso wird seine Selbstbewegtheit angesprochen, wenn Nietzsche sagt, daß das bewußte Ich sich nicht kraft seiner Reflexion begründe, sondern kraft der Ursprungsbewegung des Selbst. Neu ist gegenüber dem Gezeigten nur die Betonung des Leibs, bei der jedoch der Formulierung Nietzsches streng zu folgen ist: Der erste Teil des Satzes sagt nur, das Selbst wohne im Leib, während erst der zweite dieses Wohnen zu einer Identifizierung steigert. Dies bedeutet, daß das Selbst nicht schlechthin mit dem Leib identisch ist, in dem Sinn, daß man es auf eine biologische Gegebenheit reduzieren könnte. Vielmehr ist seine Identifikation mit diesem nur ein Ausdruck der Bemühung, einen metaphysischen Dualismus zu vermeiden, der das Selbst substantiell vom Körper zu trennen sucht. Freilich bleibt dann noch zu klären, was die Rede vom Wohnen im Leib bedeutet. Zunächst ist hier jeder Anklang an eine hegelianisierende Redeweise zu vermeiden, indem man etwa sagt, der Leib sei die Erscheinung oder Konkretwerdung der Vernunft. Das Selbst ist kein eigenständiges Prinzip, das sich veräußert, wenn es in den Körper tritt; vielmehr ist das Wohnen in ihm ein Aspekt in seinem Dasein überhaupt. Man kann
2.6. Die Unfähigkeit des Rationalismus
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Nietzsches Metapher also so paraphrasieren, daß man sagt, daß zu jedem Selbst ein Leib gehört, den es weder wählen noch ablegen kann, sondern der es seinerseits in seinen Lebensmöglichkeiten prägt. Man kann, mit anderen Worten, den Aspekt der Naturhaftigkeit im Selbst akzentuieren und sagen, das Selbst sei immer auch Natur53, muß dabei jedoch beachten, daß das Selbst auf die Natur zurückbezogen und nicht die Natur zur Begründung der Selbsthaftigkeit herangezogen wird.
33
Vgl. hierzu schon 7, 5 [79].
3. Handeln und Wollen 3. L Die Selbstverhällnisse der Moral
Im folgenden gilt es, zentrale Aspekte der Nietzscheschen Handlungstheorie zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion geschieht weitgehend in struktureller Hinsicht, noch ohne den Bezug auf die Frage nach dem Guten. Dennoch steht sie unweigerlich in ihrem Horizont, insofern in den Strukturen zugleich deutlich wird, was für Nietzsche gutes oder schlechtes Handeln ist. Wie im letzten Kapitel werden wir uns hier ebenfalls an einem Kontext orientieren, an der Schrift Zur Genealogie der Moral. Die Vorgehensweise dieser Schrift hat Nietzsche selbst mithilfe eines Kantischen Begriffes definiert. So lautet seine „neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen - und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben" (Vor. 6; 5, 253).
Wie bei Kant heißt also auch bei Nietzsche Kritik nicht Widerlegung oder Anbringung von Gegengründen gegen etwas, sondern Zurückfuhrung auf Bedingungen, von denen her sein Geltungsanspruch erst beurteilt werden kann. So sollen die Bewertungsschemata der Moral nicht einfach verworfen, sondern auf einen allgemeineren Wertgesichtspunkt bezogen werden1. Damit ist auch gesagt, daß wir uns mit der Kritik keineswegs von unserem Ziel, der Darlegung der positiven Ethik, entfernen, sondern direkt zu den sie bestimmenden Prinzipien gelangen. Überdies ist sie als Anfangsthema auch heuristisch angeraten, da sie der Ethik durch die Kontrastierung zusätzliche Bestimmung gibt. In den systematisch gegliederten Entwürfen zu seinem Werk über den Willen zur Macht hat Nietzsche deshalb stets die Kritik der Moral vor die eigentliche „Umwertung" gesetzt2. Die kurze, hier zitierte Stelle macht aber auch die Unterschiede in der Nietzscheschen Verwendung des Begriffs ersichtlich. Bei Kant vollzog sich die Kritik als Analyse des Vernunftgebrauchs, mit dem Zweck 1 2
Vgl. KrVB25f./Allf. Vgl. 12, 2 [100] 712, 2 [131] u. 13, 18 [17]. Zum Begriff der Umwertung vgl. Salaquarda 1978.
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„die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen" (KpV A 31).
Für diesen Zweck genügt die begriffliche Unterscheidung in formale, d.h. rein vernünftige, und materiale, d.h. empirische Bestimrnungsgründe (KpV A 48). Wenn Nietzsche dementgegen von Bedingungen des Entstehens spricht, so liegt der Punkt, an dem er eine Unterscheidung trifft, nicht in der Vernunft, als dem Vermögen, Gründe anzugeben, sondern im Bereich des Handelns selbst. Dort wird die Kritik zur Genealogie, da er versucht, die Handlungsformen der Moral aus den Motiven, die sie in Bewegung setzten, zu verstehen. Allerdings trifft der Begriff der Genealogie allein keineswegs das Spezifische der Nietzscheschen Kritik. Seine Schrift wurde eben deshalb Zur Genealogie betitelt und nicht einfach Genealogie, weil er sich mit anderen Versuchen, die Entstehung der Moral zu rekonstruieren, polemisch auseinandersetzt. So wirft er seinen, zumeist englischen Vorgängern vor, daß ihnen bei ihrer Genealogie „der historische Geist selbst abgeht" (GM l, 2; 5, 258). Man muß seine Form der Genealogie demnach als historische Genealogie spezifizieren. Was dies im einzelnen bedeutet, zeigt sich, wenn er von der Moral als von einem „Sklavenaufstand" spricht - was im Anschluß noch erläutert werden wird -, und von diesem sagt, er sei .jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er - siegreich gewesen ist..." (GM l, 7; 5, 268).
Die Moral ist im Lauf der Geschichte so dominant geworden, daß sich ihr Entstanden-Sein verbirgt und sie als einzig mögliche Form der Wertgebung erscheint. Selbst dort, wo sie genealogisch betrachtet wird, geschieht dies nur innerhalb des von ihr gesetzten Rahmens. Die Historisierung hat somit dieselbe Funktion wie die Veraunftanalyse bei Kant, nämlich die, die „Anmaßung" (s.o.) einer Ethikform, ihren unbedingten Geltungsanspruch, zu begrenzen. Sie bedeutet keineswegs eine historistische Relativierung, in dem Sinn, daß die Moral allein deshalb als begrenzt erachtet werden müßte, weil sie entstanden ist. Die Historisierung hat nicht den Zweck, alle Phänomene als gewordene zu relativieren, sondern beschränkt sich darauf, aus dem Rahmen der Kriterien dieses einen Phänomens hinauszugelangen und ihm weitere, mögliche zu konfrontieren. Sie ist so gesehen nur ein Mittel und nicht selber das Erkenntnisziel3. Dies belegt auch die Kritik, die Nietzsche an der Kantischen Vemunftkritik übt: Sie verfehlt, so Nietzsche, ihr Ziel, weil sich in ihr 3
Ein analoges Erkenntnisziel liegt in GM 2, 12; 5, 314. Die kritische Funktion historischer Betrachtung in der Genealogie unterstreicht auch Foucault 1978, 91'ff. Vgl. zudem Stegmaier 1994, 65f.
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3. l. Die Selbstverhältnisse der Moral
das zu Kritisierende selbst kritisiert und sich dadurch nicht von seinen eigenen Voraussetzungen löst4. Wir beschränken uns im einzelnen zunächst auf die Überlegungen der Ersten Abhandlung. Dies hat seinen Grund in der Nietzscheschen Verwendung des Begriffs Moral. Er hat eine allgemeine und eine spezifische Bedeutung. In der allgemeinen Bedeutung bezeichnet er jegliches Wertsystem5. Nietzsche kann also, wie im folgenden deutlich werden wird, von Herrenmoral und Sklavenmoral, d.h. von verschiedenen Moralen sprechen und den Begriff im Plural verwenden. Er macht in diesem Sinn auch keinen Unterschied zwischen Ethik und Moral, sondern verwendet beides synonym6. Der spezifische Gebrauch dagegen bezieht sich auf die eine, hier zu kritisierende Moral. Er spricht von ihr im Singular, d.h. von der Moral. Dabei ist zur Unterscheidung der Moral von den anderen, möglichen Moralen jeweils ein unterscheidendes Kriterium beizubringen: Es gibt die Moral nicht als homogene Gestalt, sondern nur in den verschiedenen Aspekten, in denen sie kontrastiv zu anderen Moralen aufgewiesen wird. Zwar soll dies nicht heißen, daß man sich dann nur an den Aspekten orientieren dürfte, denn sie sind untereinander so verwoben, daß sich durchaus ein einheitlicher Sinn ergibt. Dennoch müssen wir uns für die Diskussion der Bedingungen des Handelns auf die jeweiligen Kriterien und ihre Kontexte einlassen, da in ihnen jeweils auch ein anderer Aspekt des Handelns angesprochen wird. Im einzelnen gibt es drei Kriterien, die für uns zu verschiedenen Momenten wichtig werden: Ein handlungstheoretisches, ein existentielles und ein politisches. Das erste führt zu einer Unterscheidung zwischen Ethiktypen und bestimmt die Erste Abhandlung der Schrift, die uns, wie gesagt, zunächst interessiert. Das zweite wird in der Dritten Abhandlung bestimmend, in der Frage nach der Askese, die zugleich eine Frage nach der Haltung zum Leben im ganzen ist. Das dritte Kriterien, dem zufolge die Sklavenmoral zugleich Herdenmoral bedeutet, wird in anderen Schriften breiter ausgeführt. Der Ausgangspunkt der Ersten Abhandlung ist die Frage nach dem Ursprung des Begriffes „gut". So sind es für Nietzsche der Entstehung nach zunächst „"die Guten" selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften" (GM l, 2; 5, 259). Dieses Wertungsschema nennt Nietzsche die „vornehme Moral" (GM l, 10; 5, 270) oder, an früherer Stelle, die „Herren-Moral" (JGB 260; 5, 208). Sie gründet 4
Vgl. M, Vor. 3; 3, 13 u. 12,2 [165]. Vgl. besonders JGB 19; 5, 34. 6 Vgl. FW1;3, 370f. 5
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soziologisch gesehen im Selbstverständnis einer aristokratischen Schicht, die ihre eigene Lebensform als Ideal, die Lebensformen anderer, niedrigerer Schichten aber als entsprechend minderwertiger, d.h. als „schlecht", bestimmt. Formal bezeichnet sie den Ethiktyp der Strebensethik, der das Gute als das gelingende Leben des Einzelnen oder der Gruppe bestimmt7. Dementsprechend wird das Gute nicht mit „unegoistischem", d.h. altruistischem Handeln identifiziert (GM l, 2; 5, 260), sondern schließt hedonistische und eudaimonistische Momente ausdrücklich ein (GM l, 7; 5, 266f). In Beziehung auf die Anderen können deshalb nur Verpflichtungen der Sitte, und auch diese nur, wenn man die Anderen als Gleiche sieht, bestehen; wenn sie keine Gleichen oder wenn sie Feinde sind, dagegen keinerlei (GM l, 11; 5, 274). Das Weitungsschema ist jedoch auch insofern strebensethisch, als der Ausdruck „schlecht", für Nietzsche, „noch ohne einen verdächtigenden Seitenblick" (GM l, 4; 5, 261f.) verwendet wird: Er dient nicht der Verurteilung bestimmter Motive - und damit der Träger, welche die Motive haben -, sondern der Bezeichnung einer Lebensweise, die nicht fähig ist, dem Ideal zu folgen. In diesem Sinne wird der Schlechte sogar als bedauernswert, und gerade nicht als verwerflich angesehen (GM l, 10; 5, 271 f.). Freilich soll dies nicht bedeuten, daß aristokratische Gesellschaften denjenigen, der ihre Gesetze und Gebote übertrat, nicht straften; es bedeutet nur, daß sie ihn nicht deshalb schon als schlechten Mensch verstanden, weil er die Gebote übertrat. Strafwürdigkeit, mit anderen Worten, war kein Anlaß für den Unwert der Person. Genau an diesem Punkt setzt nun die Moral im spezifischen Sinne an, der „Sklavenaufstand in der Moral", der für Nietzsche von den nicht-aristokratischen Schichten getragen und von Priestern angestoßen und verkündet worden ist. Seine konkreten Urheber sind die Juden als ein nicht machtausübendes und „priesterliches" Volk (GM l, 7; 5, 267f). Durch sie wandelt sich die Dichotomic von „gut" und „schlecht" in die von „gut" und „böse" und damit in ein anderes Wertungsschema um: Der Ausgangspunkt der Wertung ist nicht mehr das Selbstverständnis der Vertreter einer eminenten Lebensweise, sondern die Ablehnung von bestimmten Handlungen. Nietzsche schreibt: „Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb", zu einem „Anders", zu einem „Nicht-selbst": und dies Nein ist ihre schöpferische That" (GM1, 10;5,270f.)
7
Vgl. Krämer 1992, 10. Daß die Verbindung zwischen Strebensethik und Aristokratie nicht nur eine historische, sondern eine strukturelle ist, wird sich aus dem Folgenden ergeben, kann hier jedoch noch nicht erläutert werden.
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3. l. Die Selbstverhältnisse der Moral
Die Handlungsweisen, um die es dabei geht, sind alle aggressiven oder einfach machtausübenden Handlungen der aristokratischen Schicht gegenüber ihren Sklaven oder denen, die sie dadurch erst zu Sklaven machen (GM l, 11; 5, 274f.). Der Sklavenmoral entspricht damit, formal gesehen, der Ethiktyp der Pflicht- oder Sollensethik, insofern der Anspruch an den Einzelnen ergeht, solche Handlungen zu unterlassen (GM l, 13; 5, 280). Überdies wird der, der solche schlimmen Handlungen begeht, nicht nur als strafwürdig, sondern auch als „böse", d.h. als an sich verwerflich, in Betracht genommen. Er wird nicht nur bedauert, sondern gehaßt (GM l, 11; 5, 274). Die Moral im spezifischen Sinn erbringt also eine Verinnerlichung der Betrachtung, sie versteht das Handeln nicht mehr nur nach dem, was getan wird oder was jemand kann, sondern nach seinen Motiven und kommt so zu einer Beurteilung seines persönlichen Seins8. Analog zum Bösen verändert sich auch die Wertung „gut": Sie ist jetzt nicht mehr die Primärbestimmung, da die Wertung ihren Ausgang eben in den abzulehnenden Handlungsweisen hat, sondern nimmt die nachgeordnete Stelle ein, die in der anderen Moral der Wertung „schlecht" vorbehalten war. In dieser Hinsicht ist sie gleichsam eine positive Defizienz: Gut ist man jetzt, wenn man nicht so wie die „Bösen" handelt (GM l, 10; 5, 274). Damit tritt nun auch das „Unegoistische" als positiver Wert hervor. Was bedeutet dies nun für die Frage nach den Entstehensbedingungen der Moral? Die Antwort liegt darin, daß Nietzsche nicht von einem Gegensatz zwischen Strebens- und Sollensethik, sondern zwischen vornehmer und Sklavenmoral spricht. Eine Sollensethik zu vertreten ist so ein Zeichen dafür, Sklave zu sein oder zumindest als Sklave zu empfinden. Dies ist freilich nur äußerlich als soziologische oder historische These gemeint. Es zielt vielmehr auf die strukturelle Einsicht, daß die Ablehnung des Handelns Anderer nicht als ein neutraler Akt verstanden werden kann: Auch wenn der Andere, objektiv gesehen, schlimme Handlungen vollzieht, so ist seine Ablehnung doch stets nur in Beziehung auf die eigene Handlungsfähigkeit zu sehen. Ein Vertreter der Moral lehnt den Anderen deshalb ab, weil er nicht in gleicher Weise handeln kann oder handeln darf wie er. Das dabei zugrundeliegende Gefühl der Ohnmacht nennt Nietzsche auch „das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten" (ebd.; 270).
Das Ressentiment ist der Haß, der daraus entsteht, daß man sich einer Handlungsweise nicht gleichrangig, sondern unterlegen fühlt und sie deshalb nur erleiden, aber nicht erwidern kann. Die Bedingungen, um die es Nietzsche geht, liegen damit in den Fähigkeiten des jeweiligen Selbst. Genauer gesagt liegen sie in dem 1
Vgl. GM l, 6; 5, 266 sowie JOB 32; 5, 50f.
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formalen Unterschied, ob das Selbst im Handeln sich bejaht und Andere nicht als ein bestimmendes Moment für sich versteht, oder in seinem Handeln nur auf das Handeln Anderer reagiert. Die Wertungsschemata der zwei Ethiktypen werden also ähnlich auf ein Selbst zurückbezogen, wie wir dies im vorigen Kapitel für die jeweils vorgestellte Welt zu zeigen suchten. Mit zwei wiederum von Kant übernommenen Begriffen könnten wir diesen Unterschied auch als Unterschied zwischen einer autonomen und heteronomen Bestimmung des Selbst bezeichnen (KpV A 58). Dies ist allerdings eine nur vorläufige Bestimmung, da wir sehen werden, daß dieses Begriffspaar der Nietzscheschen Handlungstheorie in wesentlicher Hinsicht unangemessen ist. Sprechen wir hier vom Selbst, so ist im übrigen zu sehen, daß der Begriff formal verwendet wird, nämlich im kontrastiven Sinn, nach dem sich das Selbst im Gegensatz zu Anderen definiert. Wäre dies nicht der Fall, dann wäre Nietzsches Überlegung eine materialistische oder naturalistische Rekonstruktion der Entstehung der Moral, in dem Sinn, daß er dann zeigen würde, wie das Selbst, das die Moral geschaffen hat, an sich beschaffen war. Es geht aber nicht darum, die Moral aus dem Selbst abzuleiten, sondern umgekehrt das Selbst aus der Moral. Nietzsches Betrachtung ließe sich also so paraphrasieren: Wenn in der Sollensemik primär die Anforderung zum Unterlassen von aggressiven Handlungen liegt, und wenn es so ist, daß man stets als Selbst handelt und die Anderen nur nach den Bedingungen seines Selbst bewerten kann, dann muß man so geartet sein, daß man nicht auf die aggressiven Handlungen antworten könnte, sondern die sie Vollführenden zum Unterlassen bringen will. Es wird also nur gefragt, was die Moral für das Selbst bedeutet, wenn immer die Bedeutung einer jeden Perspektive in dem Selbst begründet liegt, das sie vertritt. Das Sein wird aus dem Tun erschlossen und nicht umgekehrt9. Ein Naturalismus oder Materialismus ist aber auch deshalb auszuschließen, weil Nietzsche die Entstehung der Sollensethik nicht als eine physiologische Reaktion im Sinn eines Kausalverhältnisses sieht. Die Heteronomie, und dies ist der erste Unterschied zu Kant, ist nicht „Abhängigkeit vom Naturgesetze" (KpV A 59), so daß die Sollensethik notwendig aus der Affektion durch die Taten der aristokratischen Machtausübenden erfolgte. Sie entspringt vielmehr einer eigenen, selbstbewegten Handlung. Zwar bleibt die Affektion dann weiterhin Bedingung für die Moral, da sie ihren Sinn ja nur in der Verneinung hat, aber einzig als ein Anlaß, auf den sie in nicht vorherzubestimmender Weise reagiert. Man könnte die Sollensethik sowie das ihr entsprechende Handeln deshalb auch eine Interpretation 9
Vgl. auch Golomb 1986, 303. Golomb bezeichnet Nietzsches Methode allerdings als Phänomenologie, während sie in Wahrheit hermeneutisch-rekonstruktiv verfährt und sich nicht auf die Selbstevidenz der Sinnstruktur in einem Moraltyp berufen kann. Vgl. dagegen Schrift 1987, 103ff, der die hermeneutische Dimension im Ausgang von Nietzsches philologischen Methodenkenntnissen beschreibt.
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3. l. Die Selbstverhältnisse der Moral
der Strebensethik sowie des ihr entsprechenden Handelns nennen. Dabei ist freilich nicht gemeint, daß der Handelnde sein eigenes sowie das Handeln der Anderen interpretiert. Handlungen sind hier nicht das Objekt von Interpretationen im Sinn der im Handeln wirkenden praktischen Vernunft. Vielmehr sollen Handlungen als solche, in Existenz und Wesen, als Interpretationen anderer Handlungen aufgefaßt werden. Die Moral war demnach die Weise, in der sich eine bestimmte Gruppe von Menschen in ihrem Handeln gegenüber dem Handeln einer anderen Gruppe verhielt. Warum uns dieser Begriff hier treffend erscheint, ist, daß er die beiden Seiten der Bedingtheit und der Freiheit der Reaktion enthält. Dies läßt sich auch zeigen, wenn man für das Verständnis des Interpretieren vom Modell des Textverstehens ausgeht. So ist jede Textinterpretation „auf sich selbst gestellt und zugleich gebunden"10: Auf sich selbst gestellt, da der Sinn der Texte nicht in diesen vorliegt und nur abgelesen werden muß, sondern erst in einer eigenen Rekonstruktion erscheint; gebunden, da diese Rekonstruktion nur wegen des vorgegebenen Textes und nur als Rekonstruktion eben dieses Textes geschieht. In derselben Weise ist kein Handeln durch das Handeln Anderer festgelegt, sondern kann in eigener Weise auf es reagieren, und wird doch insofern von ihm bestimmt, als es sich in einem von den Anderen geschaffenen Kontext vollzieht, in dem sich sein Handeln verorten und in seinem Sinn definieren muß11. Man handelt also stets als Selbst, denn wo man nicht als Selbst handelte, wiederholte man das Handeln Anderer, so daß in strengem Sinn nicht mehr von einem Handeln auszugehen wäre; und handelt doch als Selbst nicht ohne die Bedingung, daß auch Andere handeln oder schon gehandelt haben. Freilich stellt sich hier die Frage, wodurch die Freiheit begründet wird, die sich im Interpretationsverhältnis zeigt. Ihrer Herkunft nach ist sie eine doppelte, denn sowohl das vorgegebene als auch das eigene Handeln lassen von sich aus Freiheit bestehen. Was ersteres betrifft, so können wir uns, um dies zu erklären, wiederum am Modell des Textverstehens orientieren. Ein Text ist demnach ein „Spielraum von Verständnismöglichkeiten"12, der nicht auf einen eindeutigen Sinn festzulegen ist. Auch Nietzsche zeigt dies, wenn er sagt: „Genau dieselben milieu's können entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenutzt werden: es giebt keine Tatsachen" (12, 2 [175]).
Freilich muß dann, wenn man diese Potentialität betont, zugleich eine Bedingtheit im Interpretierenden angenommen werden, da sonst von einer schlechthinnigen 10
Figall994, 15. Vgl. Hoffe, der sich aus analogen Gründen, aber auf der Ebene der Moralphilosophie, gegen eine „ethisch neutralisierte Handlungstheorie" (1981, 23) wendet und den „Horizont der Sittlichkeit" (42) im Handeln unterstreicht. Die Vorgegebenheit des Sittlichen betont auch Gadamer (4, 182f). 12 Figall996, 18. 11
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Beliebigkeit der Reaktionen auszugehen wäre. Die Potentialität muß durch den Interpretierenden zu einer mehr oder weniger offenen, vielleicht auch ganz geschlossenen Wirklichkeit reduziert werden13. Wäre dies nicht der Fall, dann könnte es nie zu Handlungen oder Interpretationen im Sinn von tatsächlichen Rekonstruktionen kommen. Nietzsche unterstreicht eine solche Bedingtheit, wenn er die ausschlaggebende Rolle des Judentums für die Entstehung der Sollensethik hervorstellt und den Ethiktypus damit auf eine gleichsam zum Menschheitsschicksal hypostasierte Mentalität zurückbezieht. So heißt es bspw., die Juden seien ,jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volksthümlichmoralische Genialität sonder Gleichen innewohnte" (GM l, 16; 5, 286f.). Darin liegt sicherlich eine Übersteigerung; dennoch verdankt sich diese auch dem strukturellen Umstand, daß die Reaktion nicht aus dem Gegenüber abzuleiten ist, sondern eine eigene Tat des Reagierenden verbleibt. Die Reduktion des Spielraums in der jeweiligen Reaktion muß dem Handelnden zugeschrieben werden. Wie gesagt, muß jedoch im Interpretierenden und Handelnden neben dieser prinzipiellen Begrenztheit auch die Möglichkeit der Freiheit vorzufinden sein: Wäre dies nicht der Fall, dann könnte er auf die Offenheit der Kontexte nicht so reagieren, daß von einer Handlung zu sprechen ist. Nietzsche spricht von dieser Freiheit im Zusammenhang der Kraft: „Woraus wird gehandelt? Das ist meine Frage. Das wozu? wohin? ist etwas Zweites. Entweder aus Lust (überströmendem Kraftgeruhl, welches sich austhun muß) oder aus Unlust (Hemmung des Machtgefuhls, welches sich befreien und entschädigen muß) [...] Ein und dieselbe Krqflgefühls-Menge kann sich auftausend Weisen entladen: dies ist „Freiheit des Willens" - das Gefühl, daß im Verhältniß zu der nothwendigen Explosion hundert von Handlungen gleich gut dienen. Das Gefühl einer gewissen Beliebigkeit der Handlung in Betreff dieser Spannungs-Erleichterung" (10, 7 [77]). Auf Kraft, bzw. Macht als Begriffe für die Fähigkeit des Selbstseins waren wir schon eingegangen. Jetzt wird uns ein weiterer Aspekt in ihnen offenbar: Im Hinblick auf die Kraft als Eigenschaft des Selbst sind die einzelnen Handlungsvollzüge keine isolierten Tätigkeiten, sondern Ausdrucksweisen, d.h. „Entladungen" und „Explosionen" eben dieser Kraft. Jede Handlung muß daher als repräsentativ für eine allgemeine Fähigkeit des Selbst verstanden werden. Dabei wird das Repräsentationsverhältnis von Nietzsche so weit gefaßt, daß es für jede Art von menschlichen Vollzügen gilt. Auch das Denken, insofern es bewußt und formulierbar ist,
Vgl. auch 9, 11 [98].
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3.1. Die Selbstverhältnisse der Moral
vollzieht sich demnach repräsentativ für allgemeine Kraftverhältnisse, die sich in ihm zur Erscheinung bringen14. Da die Repräsentation aber als Entladung zugleich eine Form der Aktivität bedeutet, kann sich Nietzsche auch den Satz notieren: „Gedanken sind Handlungen" (12, l [16]). Freilich interessiert uns dieser ausgeweitete Bezug nur insofern, als er die Fundamentalität der Betrachtung anzeigt. Auch die noch weiter generalisierte naturphilosophische Dimension, die in ihr liegt, muß in der Konzentration auf den Bereich des Handelns ausgeblendet bleiben. Sie führt, allgemein gesprochen, auf die Frage nach dem Prinzip von Ursächlichkeit überhaupt. Dabei wird die Selbstbewegung als Moment der Kraft auf alles Seiende übertragen, was wir noch anzusprechen haben, wenn wir uns dem Begriff des Willens zur Macht zuwenden werden. Zunächst stellt sich jedoch die Frage, wie ein solches Verhältnis der Repräsentation nachweisbar im Handeln ist, ohne daß man ein Subjekt hinter den Vollzügen postuliert. Wie gesehen, verweist Nietzsche auf das „Gefühl einer gewissen Beliebigkeit der Handlung". Selbst wenn man leugnen wollte, ein solches Gefühl tatsächlich zu besitzen, so könnte man doch auch nicht sagen, daß man in jedem Fall notwendig nur auf eine Weise handeln kann. Man kann sich als anders handelnd zumindest vorstellen und macht auch die Erfahrung, daß man auf ähnliche oder vergleichbare Situationen je auch anders reagiert. Wenn dies aber so ist, und wenn man nicht gänzlich auf die Annahme einer Kontinuität in seinen Handlungen verzichten will, dann muß man diese in der Tat als den Ausdruck einer allgemeinen Fähigkeit verstehen, die sich in ihren einzelnen Repräsentationen nicht erschöpft. An diesem Punkt rückt dann auch das Moment der Freiheit in den Blick: Zwar ist die Kraft in ihrer jeweiligen Beschaffenheit notwendig und konstituiert die Bedingtheit, von der wir oben sprachen. Dennoch liegt von ihr aus gesehen in jedem einzelnen Vollzug gleichsam ein Überschuß von Möglichkeiten, der dem Handelnden als ein Mehr-Können deutlich wird15. Er fühlt sich frei, weil er weiß, daß er nicht nur diesen einzelnen Vollzug erbracht hat, sondern ihn noch einmal und noch andere erbringen könnte. (Auf die Frage nach der Willensfreiheit, die hier anklingt, soll erst später eingegangen werden.) Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob man, wie oben geschildert, aus überströmender oder aus gehemmter Macht, d.h. ob man als Vornehmer oder als Sklave zum Handeln kommt: Auch der Sklave entlädt in seinem Handeln eine dispositioneile Kraft, von der der einzelne Vollzug nicht notwendig vorgegeben wird. Auch ihm steht es frei, seinen Haß in verschiedener Weise zu artikulieren. Spricht man in diesem Sinn von Freiheit, so muß im übrigen, in einem Umkehrverhälmis zu oben, eine Bedingtheit angenommen werden, die im Handlungskontext selber liegt. Die „Beliebigkeit" der Vollzüge muß durch den Spielraum, in dem sie sich artikulieren könnten, auf einer prinzipiellen Ebene beschränkt sein. 14 15
Vgl. 12, l [20]. Vgl. zum naturwissenschaftlichen Hintergrund dieser Begriffe Abel 1984, 43ff. Vgl. auch 9, 3 [48] u. 13, 15 [107].
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Praktisch gesehen kann seine Potentialität, wie die der Reaktion, nicht in Sinne eines weiten Möglichkeitsbegriffes aufzufassen sein, der alles Denkbare als möglich anerkennt. Möglich ist vielmehr nur das, was aktual vollzogen werden könnte (ohne daß alles vollzogen würde, was möglich ist). Dies zu explizieren, leistet eben der Begriff der Interpretation: Er bedeutet eine Freiheit auf dem Grund eines bestimmten und damit begrenzten Vorgegebenen. Da wir den Begriff der Interpretation anhand der Strukturen der Moral in unsere handlungstheoretische Beschreibung integrierten, gilt es nun, ihn auch auf die Handlungen des anderen Ethiktyps zu übertragen. In Bezug auf diese scheint es allerdings problematisch zu sein, von einem Interpretationsverhältnis auszugehen, da wir sie zuvor als das autonome Handeln des Selbst als Selbst bestimmten. Es ist also nicht offensichtlich, ob dieses Handeln das Handeln Anderer in derselben konsumtiven Weise interpretiert wie die Moral. Nietzsche aber schreibt: „Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich [...] in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine Feinde, seine Unfälle, seine Unikaten selbst nicht lange ernst nehmen können - das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuss plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender Kraft ist"(GMl, 10; 5, 273).
Das als autonom bezeichnete Handeln ist somit kein schlechthin durch sich selbst begründeter Vollzug: Es wird eben dadurch autonom, daß es sich in Hinsicht auf die vorgegebenen Bedingungen des Handelns autonom erhält. Deshalb unterscheidet es sich gegenüber der Moral auch nicht durch ein fest bestehendes Wesen, sondern durch ein steigerbares Können, das es ihm erlaubt, nicht so zu reagieren, wie es diese tut. Seine Differenz, mit anderen Worten, ist nicht substantiell, sondern nur dynamisch. Wenn dies aber so ist, dann muß es, wie das Handeln der Moral, als Interpretation verstanden werden, da es dann seine innere Bestimmung ebenfalls erst im Kontrast zu Anderen erfährt. Nachdem sich also der Kantische Begriff der Heteronomie als unangebracht erwies, widerfährt dies nun auch dem der Autonomie: Wenn sich der Primat des Selbst erst im Kontrast zu Anderen konstituiert, dann ist er nie schlechthin selbstbestimmt, so wie dies Kant in seiner Definition der Autonomie als der Bestimmung des Willens durch die reine, nicht empirisch beeinflußte Vernunft vorgegeben hat (KpV A 58f). Auch für das auf sich beruhende Selbst sind Kontexte ausschlagend, in denen es sich als ein Selbst artikuliert. Es gibt kein Selbstverständnis des Vornehmen ohne den Kontrast zu
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Nicht-Vornehmen, wie Nietzsche immer wieder unterstreicht16. Freilich kann, ausgehend von der dynamischen Differenz zur Moral, doch von einem strukturellen Unterschied in der Haltung des Interpretierens ausgegangen werden: Die Interpretation hat zwar die Anderen als ihr Objekt, aber nicht als ihren Grund, in dem Sinn, daß auch ihr Gehalt im Tun der Anderen läge. Vielmehr findet sie ihn in sich selbst, so daß sie im Hinblick auf die Anderen als eine vorweggenommene Interpretation bezeichnet werden kann. Sie deutet die Anderen, indem sie ihr Selbstverständnis im Kontrast zu ihnen nur bestätigt. So bezeichnet Nietzsche die Vornehmheit auch als „das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefuhl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu eier niederen Art, zu einem „Unten"" (GM l, 2; 5, 259).
Das Grundgefühl besteht also nicht ohne den Kontrast, doch es besteht nicht so, daß es sich aus dem Kontrast herzustellen hätte. Vielmehr muß man sagen, daß es den Kontrast von sich aus erst bestimmt. Nietzsche spricht deshalb an der oben angeführten Stelle auch von einem Überschuß an Kräften in der vornehmen Moral: Ihr Selbstsein ist derart, daß es sich angesichts der Anderen stets behaupten kann und stets auch weiß, daß es sich behaupten wird. Nunmehr läßt sich auch besser verdeutlichen, was Moralkritik bei Nietzsche heißt. Zwar betont er immer wieder die Aporien der Moral: Daß es gar nicht möglich ist, altruistisch und aus Pflicht zu handeln17, oder daß die Moral selbst unmoralische Mittel anwenden muß18. Dies alles hat aber nur den Sinn, ihre strukturelle Unmöglichkeit aufzuweisen und dient noch nicht als Argument. Wollte er der Moral Unmoralität oder Verhaftung in der Partikularität vorwerfen, so setzte er ihre eigenen Kriterien voraus. Er würde die Moral dann moralisch kritisieren, was nach dem von ihm verwendeten Kritikbegriff bedeuten würde, daß er sie gar nicht kritisierte. In diesen Einwänden geht es also nur darum zu zeigen, daß die Moral ihren eigenen Kriterien nicht genügt. Das eigentliche Argument gegen sie liegt, wie wir zeigten, in der Stellung des Selbst zu den Anderen. Sein Maßstab ist, inwieweit das Selbst angesichts der Anderen selbsthaft bleiben kann. Freilich gilt es, auch dieses Argument richtig zu verstehen. Nietzsche reflektiert zugleich darauf, welche Konsequenzen die Kritik in Hinsicht auf das Kritisierte haben kann. Zwar ist die Moral abzulehnen, doch mit ihrer Ablehnung hat man nicht schon die Bedingungen getilgt, aus denen sie entstand. So heißt es:
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Vgl. JOB 257; 5, 205 u. AC 43; 6,217f. Vgl. FW 21; 3, 391 u. JOB 220; 5, 155. 18 Vgl. GM 2, 3; 5, 295 u. GD, Verbesserer 5; 6, 102. 17
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„Diese Gegensatzformen in der Optik der Werthe sind beide nothwendig: es sind Arten zu sehen, denen man mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt das Christentum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht" (WA; 6, 5l)19.
Wie eine Krankheit bildet die Moral kein äußerliches Widerfahrnis, sondern ist, wo sie geschieht, dem Selbst als ein Bestandteil seines Daseins inhärent. Wenn das Ressentiment aus der Unfähigkeit des Selbst entspringt, die Anderen vorweggenommen zu interpretieren, dann ist es nicht einfach ablegbar, weil man im Interpretieren, wie gezeigt, anfangen können muß. Rationale Gründe reichen für die Überwindung der Moral nicht hin. Deshalb kann man auch nicht davon ausgehen, daß die Moral von den Sklaven aus niedrigen Beweggründen einfach erfunden worden wäre. Sie ist keine Ideologie, die man nur aufdecken müßte, um sie zu bekämpfen, und auch kein Vorurteil bestimmter Schichten, das durch Aufklärung behoben werden könnte, sondern eine Haltung des Selbst als Selbst. Im Gegenteil fiele man mit derartigen Versuchen ebenfalls in die Moral zurück, weil der Gedanke eines freien und verantwortlichen Willens für Nietzsche mit zu den Kriterien der Moral gehört. Die Vertreter der Sklavenmoral entwickelten ihn, um von den Vornehmen verlangen zu können, nicht aggressiv zu handeln, und um es sich als Verdienst anrechnen zu können, daß sie nicht so zu handeln fähig sind (GM 1,13; 5, 279). Diese Kritik am Begriff des freien Willens darf jedoch umgekehrt nicht als Behauptung eines Determinismus durch naturgegebene Eigenschaften verstanden werden. So meint Nietzsche vielmehr nur: „Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere, [...] ist gerade so widersinng als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere" (GM l, 13; 5, 279).
Die Betonung liegt auf der Bestimmtheit der jeweils vorhandenen potentiellen Kraft: Es ist, so Nietzsches Argument, nicht sinnvoll anzunehmen, daß sie anders reagiere, als sie kann, weil man dann voraussetzen müßte, daß sie anders sein könnte, als sie ist. Dabei bleibt die oben angezeigte Möglichkeit der Freiheit durchaus erhalten, weil nicht zugleich auch vorgegeben ist, wie man als Starker oder Schwacher reagiert. So wird sich in der Darlegung der Ethik zeigen, daß für Nietzsche aus Stärke nicht notwendig aggressives Verhalten folgt, da sie sich gerade in der Beherrschung solcher Reaktionen zeigt.
19
Vgl. auch 10,1 [2].
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3.2. Strukturmomente des Wollens
3.2. Strukturmomente des Wollens Die Frage nach der Willensfreiheit kann als Angelpunkt betrachtet werden, von dem aus wir unsere Überlegungen zu ergänzen haben. Nachdem wir die Funktion des Selbst im Handeln strukturell beschrieben haben, gilt es nun zu zeigen, wie der entsprechende Vollzug von Handlungen geschieht. Es gilt, nach dem bewegenden und die Bewegung leitenden Prinzip im Selbst zu fragen. Nominell liegt dieses Prinzip bei Nietzsche eben im Begriff des Willens. Da es jedoch nach der geschilderten Kritik alles andere als klar ist, wie er den Begriff versteht, müssen wir zunächst seine diesbezüglichen Bestimmungen nachvollziehen. Dies kann in zwei Schritten geschehen: Im ersten Schritt stellt sich die Frage nach dem, was der Wille ist, im zweiten die nach den Bedingungen, unter denen er sich vollzieht. Die für den ersten Schritt erforderlichen Argumente liegen in einem längeren Abschnitt gebündelt vor: „Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist [...]. Seien wir also einmal vorsichtiger, [...] sagen wir: in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem „weg" und „hin" selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir „Arme und Beine" in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir „wollen", sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willen anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken; - und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem „Wollen" abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando's. Das, was „Freiheit des Willens" genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: „ich bin frei, „er" muss gehorchen" - dies Bewußtsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte Werthschätzung Jetzt thut dies und nichts Anderes Noth", jene innere Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der will -, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht" (JGB 19; 5, 32). Wenden wir uns zunächst der Frage nach der Einheit des Willens zu. Folgt man diesen Worten, so besteht er aus einer Komplexion von Gefühlen, genauer: von mehreren Gefühlen und einer Intention. Er hat also weder eine substantielle Einheit noch ist er im Sinne eines abtrennbaren Seienden substantiell. Diese Bestimmung steht im Horizont der Nietzscheschen Kritik am Subjekt- sowie an jeglichem
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Substanzgedanken20. Auf sie muß hier nicht näher eingegangen werden, da sie für die Frage nach dem Willen wenig fruchtbar ist. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß mit der Zurückfuhrung auf eine Komplexion nicht nur die Einheit und Substantialität des Willens, sondern zuletzt auch seine Existenz bestritten wird. Nietzsche bestreitet für das Wollen den Status eines genuinen Phänomens. Was als Wille bezeichnet wird, ist vielmehr nichts anderes, d.h. nicht mehr als ein gewohnheitsmäßiges Zusammenspiel verschiedener Gefühle und einer Intention. Dies soll freilich nicht bedeuten, daß es sinnlos wäre, diesen Ausdruck zu verwenden. Wenn er schreibt: „Daß der Glaube an den Willen nothwendig ist, um zu „wollen" - ist Unsinn" (11, 26 [254]). so heißt dies, daß das Phänomen, das mit dem Begriff bezeichnet wird, an sich gar nicht geleugnet werden soll. Es bedeutet nur, daß die Meinung, dem Begriff entspräche eine eigene Entität, abzulehnen ist21. Mit einer Wendung aus einer vergleichbaren Argumentation könnte man deshalb auch sagen, daß durch den Begriff des Willens, insofern er eine Einheit meint, das ursprüngliche, komplexe Geschehen nur „verdoppelt" wird22. Allerdings zeigt die zitierte Stelle auch, daß für diese Komplexion nicht ohne weiteres ein anderer Begriff herangezogen werden muß. So genügt es Nietzsche, auf sein verändertes Verständnis mithilfe von Anführungszeichen zu verweisen. Was aber ist das Geschehen, das dem Wollen zugrundeliegt, genau? Blenden wir die Frage nach dem „commandirenden Gedanken" zunächst einmal ab, so gilt es zu verstehen, was Nietzsche mit dem Begriff der Gefühle meint. Er kann damit kein Empfinden oder auch Begehren meinen, in dem Sinn, daß das Selbst von den intendierten Zuständen emotiv berührt wird oder gar nach ihnen drängt. Dies wären zumindest willensähnliche Phänomene, so daß er die Frage nur verschoben und den Wollensvorgang nur mithilfe anderer Begriffe beschrieben hätte. Vielmehr wird jeder Anklang an ein Streben oder Ausgerichtet-Sein des Selbst durch die bloße Wahrnehmung und Vorstellung der Zustände ersetzt. Ein Ausdruck wie „Ich habe Durst" ist dann nicht als Verlangen eines Selbst nach einem Getränk zu paraphrasieren, sondern als Relation zwischen der Empfindung des Durstes, der Vorstellung des Trinkens und der Empfindung des Gegensatzes zwischen beiden23. In Nietzsches Konzeption liegt damit, allgemein gesprochen, der Versuch Beschreibungen, die eine Einheit implizieren, auf basalere, gleichsam atomische 20
2
Vgl. JOB 12; 5 26f. u. GD, Irrthümer 3; 6, 91.
'Zur hierin liegenden Schopenhauerkritik vgl. 9, 4[3lO]u. 13, 14 [121] sowie allgemein 13, 11 [96].
22
23
GM l, 13; 5, 279. Vgl. auch 10, 12 [30]. Vgl. 9,4 [309] u. 9, 5, [45].
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Wahrnehmungen zurückzuführen. Es ist seine Absicht, Phänomene ohne die Annahme eines Subjekts zu erklären24. Dabei muß hier offen bleiben, ob es ihm gelingt, ein plausibles Bild der Bewußtseins Vorgänge zu zeichnen. So könnte man sich bspw. fragen, ob er im zitierten „Gefühl von diesem „weg" und „hin selbst" nicht doch ein Streben anzunehmen hat, das dem atomistischen Verständnis einer Komplexion verschiedener Sinnesdata widerspricht. Wichtiger für unseren Zweck ist jedoch der Umstand, daß sich der Wille in der Zurückführung auf die Gefühle als Symptom des Eingelassen-Seins in die Relationen einer HandlungsweJt erweist. Nietzsches Analyse zeigt, daß das Wollen stets in einem Gefüge von Beziehungen und Handlungsmöglichkeiten vor sich geht. Es ist, wo es als eigenes Phänomen wahrgenommen wird, nichts anderes als eine habituelle Bewegung, ein zum „Mechanismus" gewordenes Verhalten (9, 3 [36]). In diesem Sinn muß auch der Hinweis auf das „begleitende Muskelgefühl" (s.o.) aufgenommen werden: Wo man handelt, bewegt sich auch der eigene Körper mit. Daß das Handeln trotzdem nicht primär als körperliches Tun verstanden wird, liegt daran, daß der Körper, zumindest dann, wenn man nicht krank oder müde ist und ihn als hemmendes Moment erfahrt, die Bedingung für das Handeln bildet und als solche unausdrücklich bleibt. Wenn man z.B. das Abendessen kocht, sagt man zwar: „Ich stand eine halbe Stunde am Herd", meint damit aber: „Ich stand beim Kochen eine halbe Stunde am Herd" und nicht: „Ich habe es geschafft, mich eine halbe Stunde aufrecht zu halten, den Kopf stabil auf den Topf zu richten und ihn gleichzeitig mit den Händen festzuhalten, um dadurch das Abendessen zu kochen". Es bleibt also unthematisch, daß man, wo man handeln will, allererst handeln können muß, bzw. je schon handeln kann. Als Zweites gilt es nun, den Begriff des kommandierenden Gedankens zu erklären. Er bezeichnet das Moment der Intentionalität im Willen und scheint diesbezüglich ohne weiteres verständlich zu sein: Daß in jedem Wollen ein Gedanke kommandiert, könnte so erläutert werden, daß ein Willensakt jeweils von einem Ziel geleitet wird, das dem Wollenden als erstrebenswert erscheint. Das Kommandieren wäre dann nur die Funktion, die der Gedanke in Bezug auf die Haltung und das Denken eines Wollenden im ganzen hat: Da diese Haltung immer mehr umfaßt, als den jeweils verbindlichen Gedanken, muß er, wo er intendiert wird, als ein dominierendes Moment in ihr erscheinen. In ähnlicher Weise hat bspw. Kant den Begriff des Imperativs bestimmt: So ist ein praktischer Grundsatz dann ein Imperativ für den Willen, wenn er eine objektive Regel der Vernunft enthält. Da ein Mensch nie ausschließlich der Vernunft nach handelt, bedeutet eine objektive Regel für ihn stets ein Sollen, gleichsam einen Anspruch der Vernunft, welcher nie vollständig einzulösen ist. Wäre er dagegen schlechterdings vernünftig, dann 24
Vgl. 10, 24 [2l].
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bedeutete die Regel keinen Imperativ für ihn, sondern wäre eben eine Regel, der er von Natur aus folgt (KpV A 36f). Wir können Nietzsches Überlegung jedoch nicht nach diesem Muster deuten, und zwar allein schon deshalb, weil er nicht die Beziehung zwischen Wollen und Denken, sondern ein Moment im Wollen selbst benennt. So kann das Kommandierende oder Imperativische in dem Gedanken nicht in der Beziehung auf das Denken im ganzen liegen, sondern ist ein Modus des Gedankens selbst: Eine Intention ist demnach an sich selber ein Befehl, eine Form, in der sich das Begehren direkt artikuliert. Man will etwas, wie Nietzsche sagt, indem man denkt: „Dies ist zu tun". Was dies heißt, kann wiederum in Abgrenzung zu Kant verdeutlicht werden. Eine Intention ist in seiner Terminologie ein praktischer Grundsatz, der den Willen in seiner Wirkung bestimmt (KpV A 35). Das Verhältnis zwischen Grundsatz und Wille denkt er dabei als ein Begründungsverhältnis im Schema der Kausalität: Der Wille ist ein Vermögen, das Handlungen bewirken kann, und benötigt, um sie zu bewirken, einen hinreichenden Grund (KpV A 29f.). Entscheidend ist hierbei, daß dieses Begründungsverhältnis auf das Zureichen des Grundes überprüft werden kann: Auch wo nur subjektive Grundsätze gelten, sind diese in der Form von Regeln darstellbar, da sie sich auf die Wahl der Mittel für das angestrebte Ziel beziehen. Auch subjektive, kontingente Gründe lassen so eine vernünftige oder wenigstens zweckrationale Betrachtung zu (KpV A 36). So spricht Kant von einem Widerstreit zwischen der Glückseligkeit und dem Gesetz der Sittlichkeit als möglichen Bestimmungsgründen und führt dazu aus: „Dieser Widerstreit ist [,..] praktisch, und würde, wäre nicht die Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüberschreibbar, selbst für den gemeinsten Menschen so vernehmlich, die Sittlichkeit gänzlich zu Grunde richten" (KpV A
Dies bedeutet, daß ein Grundsatz stets argumentativ erfaßt und umgewandelt werden kann, und zwar schon in intuitiver Weise im Vollzug des Wollens selbst. Genau diese Möglichkeit wird aber ausgeschlossen, wenn die Intention an sich als kommandierend aufzufassen ist. Sie ist dann einem Wollensvorgang jeweils immanent; ja sie ist als konsumtives Element der Wollensvorgang selbst. Dies bedeutet keineswegs, daß ein Intentionsgehalt nicht reflektiert werden könnte, denn dann könnte man ihn nicht als einen „Gedanken" fassen; es bedeutet vielmehr nur, daß die Reflexion den Vollzug des Wollens selber nicht bestimmt: Jede Änderung des Wollens wäre nur ein anderes Wollen, d.h. nur ein anderes „Etwas-wollen" (13, 11 [114]), das zu einem gänzlich neuen Akt gelangt. Es geht Nietzsche also darum, gegenüber der Vernunft die Unmittelbarkeit des Gedankens für das Selbst zu akzentuieren. Er betont die Anfangshaftigkeit des Wollens: Insofern überhaupt
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gewollt wird, gründet dies demnach in einem unhintergehbaren Vollzug des Selbst, das durch das Wollen seine jeweilige Position in einer Handlungswelt zum Ausdruck bringt. Auch diese Darstellung ist genealogisch, insofern sie den Ursprung eines Wollensvorgangs nachzuzeichnen sucht. Sie kann zudem auf das bisher Geschilderte bezogen werden: Durch die Identifizierung des Wollens mit seinen Gründen wird ebenfalls dem Anschein einer reflektierenden Einheit hinter den Vollzügen widersprochen. Von dem aus kann auch Nietzsches generelle Ablehnung der Teleologie erläutert werden. Würde man sie isoliert betrachten, so könnte es den Anschein haben, als ob die Leugnung des Bezugs auf Zwecke innerhalb des Handelns einen völligen Naturalismus nach sich zöge, welcher nur mehr Triebe oder ähnliche Impulse als das handlungsleitende Prinzip erkennt: „Wir schließen auch bei uns selber auf Ursprünge einer Handlung aus Zeichen: solche sind unsere der That voranlaufenden Affekte, Vorbilder, Zwecke usw. / Daß eine Handlung einem Zwecke gemäß sich entwickelt, ist oft der Fall: aber der Zweck ist dabei nicht Ursache, sondern Wirkung derselben Vorgänge, welche die eigentliche Handlung bedingten" (l l, 27 [34]). Tatsächlich scheint Nietzsche Zwecke oder Zweckvorstellungen als ein bloßes Epiphänomen zu erachten. Dennoch schließt die Überlegung an das oben Dargelegte an, indem sie es in Hinsicht auf die Frage nach der Ursache des Handelns diskutiert. Wie gesagt, kann ein objektives Prinzip nicht für eine Handlung des Selbst bestimmend sein, zumindest dann nicht, wenn es als ein objektives, d.h. eben als ein allgemeiner Zweck, verstanden wird. Daß Zwecke „Wirkungen" der Handlung sind, läßt sich in diesem Sinn als eine Form der Nachordnung verstehen: Sie ergeben sich, wo sie beschreibbar sind, aus dem Vollzug der Handlung oder auch aus ihrem Resultat, nicht jedoch aus ihrer Intention. Dadurch wird gerade nicht bestritten, daß eine Handlung an sich selbst zweckhaft erfolgt25. Freilich könnte man die Überlegung insofern als einen Widerspruch zu dem Gesagten sehen, als der kommandierende Gedanke hierdurch zu einem sekundären Moment, einem bloßen „Zeichen" der „eigentlichen Handlung" (s.o.) herabgestuft scheint. In der Tat spricht Nietzsche auch anderenorts so26. Dennoch läßt sich dieser Punkt gleichfalls auf die Frage nach der Ursache beziehen. So ist der kommandierende Gedanke ja an sich genommen keineswegs das bewegende Prinzip des Handelns: 25
Vgl. GD, Streifzüge 24; 6,127 / FW 354; 3, 590 /11, 26 [60] u. 13, 14 [144]. Dieser Punkt wird bei Djuric (1980) verfehlt, da er Nietzsche unterstellt, eine nihilistische Überwindung der „traditionellen metaphysischen Auffassung von Praxis" angestrebt zu haben (171). Zweckhaftigkeit ist aber, sowohl an sich als auch für Nietzsche, keine metaphysische Annahme, sondern eine Tatsache. Erst die Annahme objektiv vorgegebener Zwecke macht sie zur Metaphysik. 26
Vgl. 12, l [76] u. 12, 7 [1]; S. 248.
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Ein Gedanke kann als solcher nicht bewegen27 und darf es auch nach den Bedingungen der Kritik am freien Willen nicht. Sein „Voranlaufen" muß daher wie oben als eine Nachordnung in Hinsicht auf das Bewegungsprinzip verstanden werden. Ihr zufolge ist die Vorstellung des Zweckes dem Wollen oder Handeln inhärent und geht ihnen nicht als sie Begründendes voraus. Dabei kann auch dieses Argument positiv gewendet werden: Daß einer Handlung Zweckvorstellungen „voranlaufen", heißt eben, daß sie nicht ohne das Moment der Intentionalität geschieht28. Kommen wir nun zur dritten Willenskomponente, zum „Affekt des Commando's". Offensichtlich bezeichnet sie keinen weiteren Bestandteil, sondern einen Modus, in dem sich das Wollen vollzieht. Dabei heißt „Affekt", wenn man den Begriff ins Griechische zurückübersetzt, Pathos, d.h. Widerfahmis. Daß das Kommando ein Affekt ist, soll also nicht heißen, daß sich der Wollende als Kommandierender wahrnimmt oder fühlt, sondern daß er von dem Kommandieren eingenommen wird, daß es ihm widerfährt, zu kommandieren. Doch was trägt dieser Gedanke zum Verständnis des Wollens bei? Wir können uns ihm nähern, indem wir vom Moment des Kommandierens ausgehen. Ihm zufolge ist das Wollen eine mehrgliedrige Relation und schließt nicht nur den Bezug auf das jeweils Gewollte, sondern auch auf das Nicht-Gewollte ein. Etwas zu wollen setzt seine Unterscheidung gegenüber anderem sowie die Konzentration auf es selbst voraus. Allerdings gilt diese Mehrgliedrigkeit nicht nur angesichts der intendierten Sache, sondern analog auch angesichts des Wollens selbst: Der Wollende muß in sich unterscheiden, was er will und sich auf diesen einen der Impulse konzentrieren. Wo man sagt: „Ich will jetzt schlafen", darf man nicht zugleich auch anderes wollen, bspw. ausgehen oder weiterlesen, denn sonst wäre es nicht sinnvoll, dies zu sagen. Die Aussage gälte dann nur der Erwägung einer Möglichkeit oder einem Wunsch und wäre nicht der Ausdruck eines Wollens. Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß der Wille eine Reflexion auf seine Ziele in sich trägt, denn dies will Nietzsche, wie wir sahen, vermeiden. Vielmehr könnte man auch diese Überlegung genealogisch nennen, insofern sie die Bedingungen beschreibt, durch die ein Wollensvorgang allererst entsteht. Wenn das Wollen ein habituelles Verhalten bedeutet und wenn es zugleich nicht selbstverständlich ist, daß der Mensch eine bestimmte Weise des Verhaltens einnimmt, dann muß er sich diese Weise angeeignet haben. Dem Wollen muß, wie oben schon gesagt, ein Wollen-Können zugrundeliegen; es benötigt eine innere Stabilisierung, die die Ausgerichtetheit auf etwas sowohl im Denken als auch im Begehren konstituiert. Daß das Wollen als ein Pathos auftritt, läßt sich dann ohne weiteres verstehen, insofern man sagen kann, daß auch das Wollen eine Leistung der Synthese darstellt. Es muß als neue, 27 28
Vgl. 9, 6 [365]. So auch Gerhardt 1996,229ff.
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eigene Einheit schlechterdings anfangen können, weil es sonst nicht zu einem Wollensvorgang käme. Allerdings erhält der Begriff des Affekts dadurch eine Konnotation, die seiner bloß pathischen Bestimmung widerspricht: Zwar wird das Wollen nie im strengen Sinn verfugbar, wenn es ursprünglich anfangen können muß, dennoch bildet es, um 201 funktionieren, eine Hexis, d.h. einen mehr oder weniger stabilen Zustand aus. So erweist sich eine Hexis, wie dies Aristoteles beschreibt, eben durch die Sicherheit, mit der ein Handelnder den eigenen, widerstrebenden Empfindungen begegnen kann. Sie ist deshalb auch ein Teil der Tugend, genauer der ethischen Tugend, insofern diese darauf zielt, Empfindungen in angemessener Form zu haben29. Das Pathos des Wollens ist in diesem Sinne also niemals nur Geschehen, sondern formt sich im Geschehen so, daß sich eine Form des Ethos bilden kann. (Der Begriff des Ethos wird im folgenden Kapitel erörtert werden.) Dabei ist jedoch, wie schon gesagt, die Dominanz der pathischen Momente zu beachten: Was Nietzsche zeigen will, ist nicht, daß das Pathos in sich selbst zum Ethos wird und dann in ihm verschwindet, sondern, umgekehrt, daß die Befähigung des Wollens, auch wenn man sie als ethische erfährt, in einem Pathos möglich wurde und zuletzt ein Pathos bleibt. So wird die vorphilosophische Intuition, daß man über seinen Willen und die je gewollten Handlungen verfügt, nicht abgestritten; aufgewiesen wird vielmehr, daß man nicht deshalb über sie verfügt, weil man sie will, sondern weil man wollen kann. Von hier aus kann das Problem der Willensfreiheit wiederaufgenommen und in ausführlicherer Weise erläutert werden. Wie wir sahen, kann die Nietzschesche Kritik, im Gegensatz zur Kantischen, den Willen nicht in autonome und heteronome Formen unterscheiden: Autonomie im strengen Sinn - als Selbstidentität in einer praktischen Bestimmung - wird unmöglich, da Bestimmungen nur durch die Interpretation der Anderen, bzw. der Bestimmungen der Anderen, geschehen. Die Vornehmheit kann deshalb nicht grundsätzlich freier sein als die Moral, sondern nur in graduellem Sinn. Dennoch kann von einer Willensfreiheit ausgegangen werden, und zwar insofern man sie als das jeweils erscheinende freie Wollen oder Handeln denkt. Die Freiheit des Willens ist seine in sich erreichte Stabilität. Mit einem von Kant gebrauchten Ausdruck könnte man dies so beschreiben, daß man sagt, die Freiheit sei nur eine ratio cognoscendi, d.h. die Weise, in der der Wille erscheint, nicht aber seine ratio essendi, d.h. die Weise, in der er besteht. Bei Kant selbst lag ein umgekehrtes Verhältnis vor: Freiheit hatte dort den Status einer ratio essendi, die begründete, warum die moralische Bestimmung eines Willens, die nach Kant nur als ratio cognoscendi eines freien Willens denkbar ist, überhaupt geschieht (KpV A 5). In genetischer Beziehung heißt dies, daß für Nietzsche Freiheit nicht den Ursprung, sondern nur das Resultat des Handelns bildet; was im 29
Zur Hexis vgl. EN 1104 b 4f. Zur ethischen Tugend vgl. EN 1106 b 16-36.
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übrigen auch für die Konzeption des „souverainen Individuums" gilt, die er in der Zweiten Abhandlung entwirft. So ist dieses Individuum „das nur sich selbst gleiche, [..,] das autonome übersittliche Individuum (denn „autonom" und „sittlich" schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der -versprechen darf - und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewußtsein" (GM 2, 2; 5, 293).
Die Souverainität gründet gleichfalls nicht in einer wesensmäßig angelegten Freiheit, sie wird im Gegenteil gerade deshalb erst als Souverainität erfahren, weil sie als nicht-selbstverständliche Befähigung offensichtlich bleibt. Freiheit ist in diesem Sinn nicht anderes als das Bewußtsein, über eine solche Fähigkeit im Handeln zu verfügen30. Dies soll aber, umgekehrt, zugleich besagen, daß die Freiheit keineswegs als ein bloßes Epiphänomen betrachtet werden muß: Wenn durch die Fähigkeit ein Spielraum innerhalb des Handelns vorgegeben wird, dann liegt in dem Bewußtsein nicht nur eine Illusion. Man kann dann beschreiben, was ein freies Hände In ist31. So gesehen geht es auch an diesem Punkt nicht darum, die Bewußtseinsphänomene abzustreiten und die Rede über sie als sinnlos zu beenden. Überdies gewinnt der Nietzschesche Begriff des Willens gerade durch die Rückbindung des Wollens an eine Komplexion und an das Pathos des Kommandos Relevanz für den Begriff des Selbst. Wenn das Wollen eine Fähigkeit bedeutet, die das Selbst in jeweils eigener Form erreicht, dann ist das Wollen ein intrinsisches Moment des Selbst. Der Wille kann dann nicht als ein Vermögen allgemein in jedem Menschen in der gleichen Weise angenommen werden, sondern stellt das Selbst in seinem jeweils eigenen Sein heraus. Darin liegt eine handlungstheoretische Bestimmung, die im folgenden noch ausschlaggebend wird. Noch ein letzter Punkt ist auszuführen, nämlich die hier angesprochene Bezogenheit des Willens auf die Macht. Das Wollen setzt sowohl auf der Ebene des Kommandos ein dynamisches Moment voraus, als auch auf der Ebene des Selbst, insofern es die Befähigung des Selbstseins in sich tragen muß. Dabei wird die Macht insofern innerhalb des Wollens deutlich, als das Wollen stets als starkes oder schwaches Wollen spürbar ist. Der Wille bildet, wie Nietzsche einmal sagt, „das entscheidende Abzeichen der [...] Kraft" (FW 347; 3, 582), die einem Handelnden zu eigen ist. Wir können dies zum Anlaß nehmen, um den Begriff der Macht weiter zu explizieren. So wurde bisher nicht gezeigt, was es heißt, die Macht als eine Fähigkeit, als ein dispositionelles Können zu verstehen. Diese
30 31
Vgl. auch WS l; 2, 540/9, l [66] u. 11, 34 [250]. Vgl. auch Simon 1985, 120. Vgl. GM l, 7; 5, 266.
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Verwendungsweise läßt sich aber auch bei Nietzsche ausdrücklich belegen32. Dabei ist es der Macht als Fähigkeit zu eigen, daß sie nie in endgültiger Gestalt erscheint. Sie ist dem Begriff nach steigerbar und behält sich gleichsam höhere und niedrigere Grade vor. Wenn Nietzsche deshalb die Beziehung zwischen Lebewesen einen „Kampf von Macht-Complexen" nennt (GM 2, 11; 5, 313), so heißt dies, daß sich eine Macht nur in der Auseinandersetzung mit den Anderen und in dieser jeweils nur vorläufig bestimmt33. Allerdings ist diese Potentialität nicht aristotelisch bestimmt, im Sinn der Dynamis, die immer auch nicht wirken kann, sondern im Sinn eines „starken Möglichkeitsbegriffs"34, der die Aktualisierung der jeweils vorhandenen Macht enthält. Nietzsche sagt deshalb auch, daß Jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht" (JOB 22; 5, 37).
was bedeutet, daß es keine Macht gibt, die man nicht als wirkend denken müßte. Selbst wenn man in den Veränderungen seiner Macht erfährt, daß sie als Fähigkeit konstante Form behält, so steht doch jeweils nur die Macht zur Verfügung, die sich in Vollzügen zeigen und bewähren kann. Die Annahme ihrer Subsistenz als bloßes Vermögen oder bloße Disposition widerspricht dem Nietzscheschen Verständnis des Begriffs35. Trotz dieser Bezogenheit der Macht auf den Vollzug reicht ihr Begriff jedoch nicht hin, um das Phänomen der Handelns zu erklären. Die Macht gibt die Bestimmtheit ihrer Wirkungen nicht vor: „Bloße Machtverschiedenheiten können sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretiert" (12, 2 [148])36.
Macht zeigt sich also nur insofern als Befähigung zum Handeln, als sie durch ein Wollen im Bezug auf etwas ausgetragen wird. Wir können dies auf das oben dargelegte Problem beziehen: Die Macht als Fähigkeit des Selbstseins bedarf des Willens, damit aus ihr ein Handeln oder ein geführtes Leben wird. Umgekehrt folgt aus dem Gezeigten aber auch, daß ein selbsthaftes Leben nicht allein dadurch geführt wird, daß das Selbst es führen will. Der Wille enthält nur die Vollzugs32
Vgl. auch 12, 9 [91-2] u. 13, 11 [287]. Vgl. auch 11, 36 [22] u. 12, 9 [145]. 34 Krämer 1985, 39. Vgl. zu Aristoteles Met. 1047 a 21-25. 35 Überdies ist der Begriff des Vermögens an sich genommen unspezifisch und wird erst „als Vermögen zu einer möglichen Verfügung über andere" zum Defmiens von Macht (Gerhardt 1996, 12). Daß die Verfügung selbst allerdings nicht das ethische Ziel der Macht bildet, wurde schon angesprochen und wird sich auch im weiteren erweisen. 36 Vgl. auch 13, 11 [114], 33
3.3. Die Zirkulärst des Wollens
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bedingung fur die Macht und kann sie durch den bloßen Umstand des GewolltSeins nicht begründen oder auch nur kompensieren. Wo etwas gewollt werden soll, muß die Macht und Kraft zu wollen schlechterdings gegeben sein. Auch dies wird für die folgende Betrachtung relevant.
3.3. Die Zirkularität des Wollens Wir kommen nun zum zweiten Schritt in unserer Untersuchung des Begriffs des Willens. Wie angekündigt, stellt sich in ihm die Frage nach den Bedingungen, unter denen Wollen sich vollzieht: „Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, - und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen" (GM 3, 1; 5, 339). Diese Äußerung entspricht dem, was wir bisher von der Struktur des Willens zeigten: Da er immer nur als Etwas-Wollen möglich ist, braucht er einen Inhalt und kann sich als bloßes Wollen nicht vollziehen. Das Interesse Nietzsches gilt jedoch an diesem Punkt nicht der Struktur als solchen, sondern dem Bedürfnis, dem zufolge überhaupt gewollt wird oder besser: dem zufolge man sein Wollen will. Aus dieser Perspektive gilt der angestrebte Willensinhalt nicht als eigentliches Ziel des Willens, sondern nur als Mittel dafür, daß man wollen kann. Allerdings stellt sich dabei die Frage, ob es nicht paradox ist, ein Bedürfnis anzunehmen, das das eigene Wollen will. Wenn es das Wollen nur als Etwas-Wollen gibt, dann muß man etwas haben, das man will, um dem Bedürfnis zu genügen. Man kann also nicht den Willen selber wollen, sondern nur das Etwas, auf das hin das Wollen sich vollzieht. Außerdem muß man, um überhaupt zu wollen, je schon etwas wollen können, denn sonst gäbe es das Wollen nicht. Den Wille zu wollen setzt also voraus, daß man schon wollen kann, was bedeutet, daß es tautologisch ist zu sagen, daß man dieses Wollen zusätzlich auch will. Allerdings sind diese Einwände zu sehr an der Struktur der einzelnen Vollzüge orientiert: Wenn Nietzsche von der „Grundthatsache des menschlichen Willens" spricht, so heißt dies, daß er keinen einzelnen Vollzug des Willens, sondern ein dem Willen beigegebenes Gewollt-Sein darzulegen sucht, gleichsam ein Selbstempfinden, das der Wille im Vollzug des Etwas-Wollens hat. Er bezieht sich also auf die Fähigkeit des WollenKönnens, die der Mensch in ihrem Machtcharakter in sich spüren kann. Dabei muß er auch gar nicht sagen, daß zuerst die Wollensfähigkeit als Ziel bestünde und dann, als ein Mittel für sie, etwas in den Blick genommen wird, auf das sie sich
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3.3. Die Zirkulärst des Wollens
beziehen kann. Vielmehr bezieht das Wollen sich primär auf etwas, das ihm als ein Ziel erscheint, und erreicht nur in sekundärer Hinsicht auch das Ziel des Wollens überhaupt, für das das erste Ziel nur Mittel ist. Allerdings heißt dies zugleich, daß die Willensfähigkeit nie als solche greifbar wird, sondern nur in einem Wollensvorgang, im Vollzug erfahren werden kann. Das Wollen ist sich im Bezug auf Sachen gleichsam immer schon entrückt, er ergreift sich nur, indem es der Bewegung des Vollzuges unterliegt. Nietzsche schildert diese Grundbewegtheit mithilfe des Begriffs der Selbstüberwindung. So sagt im Zarathustra das Leben von sich selbst: „Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, - bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille" (Za II, Selbst-Ueberwindung; 4, 148).
Der Wille zeigt sich, auch nach diesen Worten, nur, indem er immer wieder etwas anderes erstrebt. Er kann nicht in schlichter Selbstpräsenz verharren. Wir können diesen Punkt auch im Kontrast zu Heideggers Deutung des Willensbegriffs erläutern. Daß der Wollende sich selbst im Wollen will, ist zunächst nicht mehr als eine Beschreibung, denn dadurch läßt sich das Wollen vom bloßen Streben unterscheiden: „Wollen ist Entschlossenheit zu sich, aber zu sich als zu dem, was das im Wollen als Gewelltes gesetzte will" (HN l, 51).
Im Wollen, so ließe sich dies paraphrasieren, liegt neben der Bestimmtheit der Intention auch eine Bestimmtheit im Wollenden selbst, denn sonst wäre das Wollen nur eine allgemeine Richtung auf etwas hin. Diese phänomenologische Beschreibung führt jedoch für Heidegger zugleich zu einer Einordnung Nietzsches in die Metaphysik: „Im Sich-selbst-wissen versammelt sich alles Wissen und dessen Wißbares. [...] Die Subjektivität des Subjekts ist als solche Versammlung co-agitatio [...]. Die co-agitatio aber ist in sich schon velle, wollen. Mit der Subjektität des Subjekts kommt als deren Wesen der Wille zum Vorschein. Die neuzeitliche Metaphysik denkt als die Metaphysik der Subjektität das Sein des Seienden im Sinne des Willens" (Heidegger 1980, 239).
Nimmt man die beiden Zitate - die Beschreibung und die philosophiegeschichtliche Einordnung zusammen -, so kann man auf der einen Seite nicht behaupten, daß Heidegger unrecht habe: Der Rückgang auf den Willen ist faktisch ein Rückgang in eine Subjektität im Sinn eines allgemein Zugrundeliegenden. So löst sich in
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Nietzsches Denken die Strukturiertheit eines Kosmos in elementare Kraftmomente auf. Dennoch ist der Übergang, den Heidegger zwischen der Subjektivität als der Cogitatio Descartes' und der Subjoktität des Willens sieht, nicht zwingend: Während die Subjektivität als Selbstgewißheit aufzufassen ist, meint die Subjektität des Willens, wie Nietzsche sie versteht, zunächst nichts anderes als die Fähigkeit der Macht, das Wollen-Können. Sie ist nicht durch das „Sich-selbst-wissen" definiert, sondern hat es nur als nachgeordnetes Moment. Das Wollen muß von daher nicht oder wenigstens nicht notwendigerweise im Horizont der Subjektphilosophie verstanden werden. Im Gegenteil hat sich bereits gezeigt und wird sich auch bei der Erörterung des Willens zur Macht erweisen, daß die Subjektität im Sinne Nietzsches ein Geschehen bildet, das nur zu begrenzter Verfügung über sich gelangt37. Diese Überlegung ist jedoch an einem Punkt zu korrigieren: Selbst wenn es richtig ist zu sagen, daß das Wollen immer nur als Etwas-Wollen vorkommt, weil dadurch der Eindruck überwunden wird, der Wille könne hinter seinen eigenen Vollzug zurück und ihn wie ein äußerliches Handlungsziel erstreben, so geht Nietzsche doch in dem Zitat von der realen Möglichkeit des Abgetrennt-Seins von den Zielen aus. Er spricht vom „horror vacui" des Willens (s.o.) und legt damit nahe, daß er um den Schwund von Zielen fürchten muß, d.h. daß der Wille sich zumindest potentiell als ohne Ziele seiend denken lassen kann. Dies erklärt sich jedoch daraus, daß man den Begriff des Zieles nicht nur strukturell verstehen darf: Das jeweils Gewollte ist nicht nur ein „Etwas", d.h. ein Objekt, das in der Position des Intentionsgehaltes steht, sondern immer auch ein Element in einer Welt, in der man Ziele haben kann. Es ist der Ausdruck einer Relevanzgewißheit, insofern man denken können muß, daß es sinnvoll ist, ein Einzelnes zu wollen: Sinnvoll zum einen, weil dem Wollen Taten folgen müssen, um es zu erfüllen - man muß, mit anderen Worten, handeln können, um zu wollen -, zum anderen, weil jedes einzelne Objekt mehr oder weniger ausdrücklich in ein Gefüge von Beziehungen eingebunden ist, in denen es zum Träger eines Sinngehaltes werden kann. Dabei ist die Welt, wie im vorigen Kapitel dargelegt, notwendig die Welt des Selbst, das sie auf ihren Sinn versteht. Von dem aus läßt sich folgende Betrachtung Nietzsches nachvollziehen: „Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Thier Mensch bisher keinen Sinn. [...] Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Thier, verneint an sich nicht das Leiden: er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. [...] Der Mensch war damit (mit dem asketischen Ideal - M.S.) gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des „Ohne-Sinns", er konnte nunmehr
37
Vgl. auch die klassische Kritik bei Müller-Lauter 1971,29ff. sowie Rosen 1987, 5f.
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3.3. Die Zirkularität des Wollens
Etwas wollen, - gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet" (GM 3, 28; 5, 411 f.). Daß der Wille keine Ziele findet, heißt demnach gerade nicht, daß die Struktur des Etwas-Wollens aufgehoben werden könnte; es heißt vielmehr, daß kein Ziel erkenntlich wird, das relevant genug ist, um gewollt zu werden (d.h. dauerhaft und mit dem starken Wunsch, es zu erreichen). Dabei müssen wir den von Nietzsche hier verwendeten Begriff des Sinns auf das Verhältnis zwischen Selbst und Welt beziehen: Daß das Selbst keinen Sinn in seinem Sein erkennt, heißt, daß es ihm nicht gelingt, eine Welt zu haben, in der es sich widerspiegeln kann. Die Welt schließt sich nicht um ihn, sondern besteht als bloße Sammlung seiner Widerfahrnisse und seines Leidens. Die „Rettung" durch den gefundenen Sinn darf dabei allerdings nicht so verstanden werden, als ob der Sinn allein wegen seines Nutzens angenommen würde. Wäre dies der Fall, dann läge in ihm eine pragmatische Fiktion, von der sich in bestimmter Form angeben lassen müßte, umwegen welchen Nutzens sie aufgenommen worden ist. Was Nietzsche hier als Sinn beschreibt, ist dagegen als ein Zusammenhang zu denken, den man nicht als solchen, zumindest nicht in der intentio recta, intendiert. Er hat primär die Funktion, Wollensziele zu ermöglichen und nicht selbst ein Ziel zu sein. Das Selbst bleibt deshalb frei zu sagen, „wohin, wozu, womit" es will und prägt von sich aus neue Handlungswelten aus, in denen sich die Fähigkeit des Wollens zur Entfaltung bringen kann. Gegenüber einer strategisch eingesetzten Fiktion ist der Sinn, mit anderen Worten, eine Matrix von Handlungsmöglichkeiten, die das Wollen nicht an ein Ziel kommen läßt und damit tendenziell befriedigt, sondern im Gegenteil stimuliert. Die hier zitierte Stelle wirft jedoch eine Frage auf. So muß es auf den ersten Blick verwundern, wenn gesagt wird, daß der Mensch erst mit dem asketischen Ideal - das nicht nur das Christentum, sondern jede „lebensfeindliche" Religion einschließt (GM 3, 11; 5, 363) und in dieser allgemeinen Hinsicht ein Aspekt der Moral in ihrer spezifischen Bedeutung ist (GM 3, 27; 5,410) - einen Sinn für seine Existenz gefunden habe: Schließlich zeigte sich die Widerspiegelung in einer Welt paradigmatisch ja gerade an der vornehmen Moral. In ihr wird die Vorgehensweise apollinischen Verstehens gleichsam auf die Praxis angewandt: „Sie (die vornehme Wertungsweise - M.S.) agirt und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen, ihr negativer Begriff „niedrig" „gemein" „schlecht" ist nur ein nachgebornes blasses Contrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff „wir Vornehmen, wir Guten, wie Schönen, wir Glücklichen!"" (GM l, 10; 5, 271).
3.3. Die Zirkularität des Wollens
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Die Sinnerfahrung bei den Vornehmen soll also gar nicht abgestritten werden; dennoch zeigt sich, daß sie nicht als Erfahrung eines Sinns verstehbar ist: Zwar war ihr Verhalten sinnvoll, aber es bezog sich nicht auf einen explizit herausgehobenen und als solchen angestrebten Sinn. Sie bewegte sich vielmehr in einem Sinngefüge, das sie instinktiv verstand, aber nicht zu objektivieren suchte. Dies gilt in der Tat erst für das asketische Ideal, denn es setzt das Leben „in Beziehung [...] zu einem ganz andersartigen Dasein, zu dem es sich gegensätzlich und ausschließend verhält" (GM 3, 11; 5, 362); zu einem Dasein also, daß ihm als ein äußeres und höheres gegenübersteht. Es schafft einen Sinn des Lebens nur, indem es ihn in etwas anderem als dem Leben sucht. Daß es den Menschen vor der Sinnlosigkeit gerettet hat, wie Nietzsche schreibt, gilt also nicht absolut, sondern nur in Hinsicht auf die Art von Sinn, die es verlangt. Seine Vertreter fanden keinen Sinn im Leben, weil sie keinen hinreichenden Sinn in ihrem eigenen Handeln finden konnten. Was hierin deutlich wird, ist eine Zirkelstruktur des Wollens, wie wir sie schon im vorigen Kapitel in der Widerspiegelung von Selbst und Welt beschrieben: Das Wollen richtet sich auf Teile einer Welt, die das Selbst deshalb wollen kann, weil es sich in dieser Welt bewegt. Ein Ziel kann immer nur von einem Selbst als Ziel erschlossen werden38. Auch wenn man dabei sagen muß, daß es nicht beliebig ist, was das Selbst als Ziel erklärt - denn sonst wäre seine Widerspiegelung ein reiner Solipsismus -, kann doch nichts an sich und objektiv als Ziel verstanden werden. Mit einem oben schon verwendeten Begriffspaar könnte dies auch so erläutert werden, daß man sagt, der Wille sei die ratio cognoscendi eines Selbst, das Selbst dagegen die ratio essendi eines Willens. Paradigmatisch ist dies, wie gesagt, in der vornehmen Moral, von der Nietzsche sagt, daß sie ausschließlich handelt, um sich zu bejahen, daß sie sich in ihren Zielen will·59. Damit können wir nun auch den eigentlichen Sinn der Rede, daß das Wollen selbst gewollt sei, klären: Weil die Handlungsfähigkeit, die man an sich erfährt und die man in den Zielen widerspiegelt, zugleich eine Wollensfähigkeit bedeutet, will man nicht nur sich, sondern sich als wollenden in diesen Zielen. Das gelungene Handeln zeigt zugleich, inwieweit man wollen kann. Zuletzt kann daraus auch die Frage nach den Bedingungen des Willens beantwortet werden: Der Wille wird im eigentlichen Sinn nur möglich durch die Widerspiegelung von Selbst und Welt. Nur in diesem Rahmen findet er die Ziele, welche relevant genug sind, daß er sie ergreift. Wir können diese Beziehung von Selbst und Welt nun auch in einem Begriff zusammenfassen, der in praktischer Beziehung treffend ist, und sagen, der Wille brauche eine Lebensform, in der er sich zur Geltung 38 39
Vgl. auch Za II, Tugendhafte; 4, 121. Vgl. in Hinsicht auf die Vornehmheit 9, 6 [175], in allgemeiner Hinsicht 9, 6 [343] u. 10, 7 [77].
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3.3. Die Zirkularität des Wollens
bringt. Dabei meint die Lebensform eben das konkrete Handeln eines Selbst in seiner Welt. Sie entspricht in dieser Hinsicht dem Begriff des Horizonts, der ebenfalls die Welt von ihrer Bestimmtheit durch das Selbst her faßte. Es bleibt freilich noch genauer zu erklären, was im asketischen Ideal geschieht. Auch in ihm liegt notwendigerweise ein Zirkel vor, da das Selbst als Prinzip des Wollens unhintergehbar ist. Allerdings wird der Zirkel nicht im positiven Sinn vollzogen, d.h. so, daß sich das Selbst als solches will. Die entworfene Gegenwelt ist vielmehr nur die Kompensation der Unerfülltheit, die es an sich erfährt. Dennoch könnte man behaupten, daß auch durch eine solche Widerspiegelung auf indirekte Weise eine Lebensform entsteht. Wie gezeigt, gibt das asketische Ideal dem Wollen eine Richtung vor und ermöglicht so das Wollen überhaupt. Es wirkt also in einer Weise positiv, die den Vertretern des Ideals selbst nicht ausdrücklich war (GM 3, 13; 5, 365f). Überdies verkörpert und entwickelt es von sich her Macht (GM 3, 23; 5, 395). Trotz dieser Wirkung kann es jedoch nicht die Immanenz der Lebensform der Vornehmheit erreichen; es bleibt eine Kompensation, die die Unerfülltheit nicht wirklich behebt. Der Priester kann, wie dies in Nietzsches physiologischer Betrachtungsweise heißt, nicht heilen; er ist nur ein Tröster und kein Arzt für die Erkrankung, die die Lebensfähigkeit ergreift (GM 3, 17; 5, 377). Außerdem verneint der Sinn des Ideales die Bedingungen des Lebens selbst, da er sich von leiblichen und praktischen Interessen abzuwenden sucht; er erweist sich als der Ausdruck eines „Willens zum Nichts" (GM 3, 28; 5, 412). Dies soll heißen, daß das Ideal, trotz dem es positive Handlungsweisen freisetzt, einen Punkt im Handeln intendiert, an dem man nicht mehr handeln muß, bzw. nicht mehr handeln wollen muß. Nietzsche hat dieses letzte Ziel im Zarathustra so beschrieben: „Müdigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will: die schuf alle Götter und Hinterwelten" (Za I, Hinterweiter; 4, 36).
Faßt man diese beiden Punkte nun zusammen, die Unfähigkeit zu handeln sowie den versteckten Nihilismus des Ideals, dann erweist sich, daß in ihm zuletzt ein negativer Zirkel aufgerichtet wird: Der Unfähigkeit, als nicht bestehender Lebensform, entspricht der Nihilismus als das Ziel, in dem das Handeln sich von allen Zielen löst. Sein Sinn ist, nicht mehr wollen zu müssen, d.h. keine Macht mehr aufwenden zu müssen, um dabei ihren Mangel zu verspüren. Das Selbst verneint sich also dadurch, daß es sich auf die von ihm entworfene Welt bezieht. Konkret folgt daraus, daß der Mangel an Erfulltheit, den wir auch mit einem Ausdruck Nietzsches „Willensschwäche"40 nennen können, durch die Aufstellung des Ideals 40
JOB 212; 5, 146. Vgl. auch FW 347; 3, 582f.
3.4. Hinfiihrung zu einem anderen Handeln
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nicht nur nicht behoben wird, sondern sich sogar vergrößert, da das HandelnKönnen immer weniger herausgefordert und entwickelt wird (GM 3, 21; 5, 391).
3.4. Hinfiihrung zu einem anderen Handeln Die Einsicht in die Zirkelhaftigkeit des Wollens, die der vorhergehende Abschnitt mit sich brachte, bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Vorgehensweise der Kritik. Wie gezeigt, begründete sich ihre Notwendigkeit für Nietzsche daraus, daß die Moral in der Gegenwart so dominant geworden war, daß sie als der einzig mögliche Ethiktyp erschien. Sie mußte deshalb durch Kritik auf die Bedingungen des Handelns überhaupt zurückbezogen werden, aus denen sich zugleich die Möglichkeit des anderen Ethiktyps, der Strebensethik, deutlich machen ließ. Allerdings erweist sich nun, daß diese zweite Möglichkeit nicht einfach mit der Moral koexistiert, denn die Widerspiegelung des Selbst in einer Welt, durch die sich eine Strebensethik allererst vollzieht, kann nicht durch eine bloße Entscheidung herbeigeführt werden. Zwar liegt, wie wir zeigten, das bewegende Prinzip des Handelns im Willen. Auch wenn das Handeln Macht voraussetzt, kommt die Macht nur dann in ihm zur Wirkung, wenn es etwas gibt, das sie auszutragen strebt. Vom Begriff der Lebensform aus könnte man dies so beschreiben, daß man sagt, eine Lebensform bestehe nur, wenn man sie führt. Doch selbst wenn dies richtig ist, bleibt der Wille stets an eine Lebensform gebunden, die er nicht begründet, sondern nur repräsentiert: Wollen kann man nach Nietzsche nur, was man schon ist. Dabei gilt der Primat des Selbst sowohl auf der Ebene der Intention, insofern man nur etwas wollen kann, das zur Welt gehört, in der man lebt, als auch auf der Ebene des Vermögens, insofern das Wollen seinem Wesen nach als ein Verhalten aufzufassen ist, in dem sich das Selbst als Selbst zur Geltung bringt. Konkret erwies sich dieser Umstand eben darin, daß die „Willensschwäche" als bestimmendes Charakteristikum der modernen Welt erschien: Nietzsche geht davon aus, daß die Widerspiegelung des Selbst in seiner Welt, die die Vornehmheit paradigmatisch zeigte, zumindest fraglich, wenn nicht gänzlich unterbrochen wurde. Die moderne Welt ist keine Handlungswelt, in der das Selbst in einem starken Sinn sich wollen kann. Dies bedeutet, daß der Ethiktyp der Strebensethik nicht nur nicht allgemein als möglich anzunehmen ist, sondern gerade auch zum Zeitpunkt und unter den Ausgangsbedingungen der Kritik. Er wurde nicht nur heuristisch am Modell der antiken Aristokratien entwickelt, vielmehr ist er wie sie in die Vergangenheit gerückt, wenigstens was das Bestehen übergreifender, gemeinschaftlicher Lebensformen anbelangt. Zwar gab es die Bewegung der Renaissance, doch mit der französischen Revolution ist den Aristokratien ihr tragender sozialer Grund endgültig entzogen worden (GM l, 16; 5, 287). So enden alle drei Abhandlungen der Schrift zur Genealogie mit der
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3.4. Hinfuhrung zu einem anderen Handeln
Frage, ob ein Ideal, wie es die Vornehmheit verkörpert, wieder möglich werden kann: Für die Erste Abhandlung war Napoleon „ein letzter Fingerzeig zum andren Wege", der die Vorrangstellung der Moral jedoch nicht wirklich untergraben konnte (ebd., 288); für die Zweite Abhandlung muß „in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist" (GM 2, 24; 5, 336) ein Stifter neuer Lebensformen kommen, für den der Name Zarathustra steht; und für die Dritte Abhandlung ist die moderne Wissenschaft in ihrem Streben nach der „Selbstverkleinerung des Menschen" nur eine Fortführung des asketischen Ideals, die folglich nicht aus ihrem Bann gelangt (GM 3, 25; 5, 404). Was dies für die Vorgehensweise der Kritik bedeutet, läßt sich wiederum durch den Vergleich mit Kant erläutern: So liegt für diesen die Aufgabe der Kritik nicht nur in der Exposition der Willensfreiheit, d.h. in ihrer begrifflichen Klärung, sondern zugleich in ihrer Deduktion, d.h. im Nachweis ihrer allgemeinen Möglichkeit (KpV A 80). Diese Doppelung gilt auch bei Nietzsche, insofern er die Strebensethik als den zweiten Ethiktyp nicht nur als systematischen Begriff, sondern auch als konkrete Lebensweise zeigt. Dennoch ist diese Deduktion für ihn beschränkt und an geschichtliche Bedingungen gebunden, so daß die Kritik an diesem Punkt direkt in Ethik übergeht: Nietzsche kann sich nicht mit dem Nachweis der Bedingungen begnügen, vielmehr muß er zeigen, wie es unter den Bedingungen zu einer Lebensform im Sinn der Strebensethik kommen kann. Erst die Hinleitung zum Handeln selbst erfüllt die Deduktion als Aufweis der Möglichkeit der vornehmen Moral. Doch bevor wir zeigen können, wie der Übergang in die Ethik geschieht, ist ein mögliches Mißverständnis abzuwehren. So könnte man den Bezug auf geschichtliche Bedingungen etwa dahingehend deuten, daß man im Untergang der antiken Welt einen Entwicklungsschritt erkennt, der auf höherer Ebene wieder aufzuheben wäre. Man könnte, mit anderen Worten, als Struktur in Nietzsches Denken eine wie auch immer geartete Geschichtsphilosophie vermuten, die in der Abfolge der Ethiktypen einen Fortschritt von Bewußtseinsstufen erkennt. Solche Strukturen, wie sie etwa bei Friedrich Schlegel vorzufinden sind, gelten jedoch für ihn nicht41. Um dies zu verdeutlichen, müssen wir noch einmal darauf blicken, wie Nietzsche die Entstehung der Moral beschreibt. Wie schon angedeutet, entspringt das asketische Ideal aus einer Erkrankung; seine Vertreter sind „Verstimmte, Deprimierte", die nur mehr ein „zerrüttetes Nervensystem" besitzen (GM 3, 21; 5, 391). An anderer Stelle spricht er, parallel zu der Passage aus dem Zarathustra, von einer „zur Epidemie gewordenen Müdigkeit und Schwere" und von einem „physiologischen Hemmungsgefühl" (GM 3, 17; 5, 378). Auf den ersten Blick scheinen dies medizinische und nicht philosophische Bestimmungen zu sein. Da Nietzsche jedoch keine weitere medizinische Erklärung gibt, kommt man nicht umhin, die Begriffe ih41
Vgl. Behler 1978, 85.
3.4. Hinfuhrung zu einem anderen Handeln
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rerseits auf Handlungsphänomene zurückzubeziehen42. Was dabei das Hemmungsgefühl und die Müdigkeit betrifft, so können sie als weitere Beschreibungen der Willensschwäche angesehen werden, so wie auch die Verstimmung und die Depression. Dasselbe gilt für die Zerrüttung des Nervensystems: Auch mit diesem Ausdruck wird auf eine Minderung des Könnens hingewiesen, durch das sich das Handeln anfangshaft in seiner Welt entfalten kann. Wenn Nietzsche sagt, daß das asketische Ideal zu „Gefühls-Ausschweifungen" geführt hat, denen die Zerrüttung folgt (GM 3, 20; 5, 388), so meint er damit die symbolischen Betätigungen, die der Kultus mit sich bringt, und die dem Einzelnen Gefühle der Erhebung geben. Durch sie wird zwar die Vorstellungskraft, aber eben nicht die Festigkeit des Willens stimuliert. Nietzsches Argument zielt so gesehen auf eine Art von seelischer Ökonomie: Wo das Selbst seine Kraft in imaginäre Welten und Erhebungen verlegt, konzentriert es sie nicht auf das Handeln in der Welt43. Das Entscheidende hierbei ist aber, daß man all diese Dysfunktionen nicht als ein Ergebnis von Entwicklungen bezeichnen kann. Ihnen liegt keine soziale oder geistige Entwicklung zugrunde, sondern nur eine Minderung der Fähigkeit zu handeln. Die Krankheit wird allein im Hinblick auf die handlungstheoretischen Strukturen, die wir bisher zeigten, deutlich und setzt gerade keine eigene Geschichtsphilosophie voraus. Verallgemeinert könnte dies auch so beschrieben werden, daß man sagt, daß sich das mißlungene Handeln zwar in der Zeit ereignet, aber an sich selbst nicht als Erfahrung mit der Zeit verstanden werden darf. Es ist für die Dysfunktionen äußerlich, daß sie dominant erst in der Moderne und nicht schon in der Antike selbst zutagetreten. Diese Deutung läßt sich auch mithilfe weiterer Aspekte untermauern, die die physiologische Betrachtung in sich schließt. So sagt Nietzsche anderenorts von der „Kränklichkeit" des modernen Menschen: „Sie entsteht jedes Mal, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang von einander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in's Blut vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch; die besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht, Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit" (JOB 208; 5, 138). Diese Stelle knüpft an das Motiv der Hemmung an, bezieht es jedoch nicht auf eine allgemeine Willensschwäche, sondern auf eine Vielheitserfahrung: Demnach ist das Handeln insofern erkrankt, als sich mehr Möglichkeiten in ihm finden, als koordiniert und bewältigt werden können. Was ihm fehlt, oder besser: wogegen es 42 43
Zur Nervenzerrüttung in der modernen Kunst, v.a. bei Wagner vgl. WA 5; 6,22f. Vgl. GD, Deutsche 4; 6, 106 u. 9, 10 [D74].
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3.4. Hinfuhrung zu einem anderen Handeln
ein mißlungenes Handeln darstellt, ist die Geschlossenheit der Widerspiegelung des Selbst, die Nietzsche hier unter anderem am Bild des Gleichgewichtes expliziert. Auch die aufgegriffenen rassenbiologischen Begriffe gelten letztlich also nur dem Schwund der einheitlichen Sinnerfahrung, wie sie durch das Apollinische ermöglicht wurde. Die „abgetrennten Rassen oder Stände" waren eben eine solche Welt, in der sich das Selbst unmittelbar in seinem Handeln widerspiegeln konnte. Dagegen gibt es in der Moderne nur mehr potentielle Lebensformen, deren Zahl das Selbst allein durch seinen Willen nicht auf eine einzige, für ihn verbindliche reduzieren kann. Doch selbst diese Erfahrung ist nicht notwendig eine Erfahrung mit der Zeit: Auch die Vielheit läßt sich an sich selbst beschreiben und muß nicht aus einer spezifischen Entwicklung abgeleitet werden. Daß dies richtig ist, zeigt sich zugleich an einem anderen Kontext, in dem Nietzsche schreibt: „Wenn er (Wagner - M.S.) des Glaubens an die Zukunft nicht entrathen kann, so heisst diess gerade nur so viel, dass er an den jetztigen Menschen Eigenschaften wahrnimmt, welche nicht zum unveränderlichen Charakter und Knochenbau des menschlichen Wesens gehören, sondern wandelbar, ja vergänglich sind, und dass gerade dieser Eigenschaften wegen [...] er selber der vorausgesendete Bote einer anderen Zeit sein müsse" (WB 11; 1,506).
Diese Stelle, der hier im einzelnen nicht weiter nachzugehen ist, zeigt ausdrücklich, inwiefern Nietzsche eine evolutionistische Betrachtung ausschließt. So besteht das menschliche Wesen nur zum einen aus veränderlichen, zum anderen jedoch aus unveränderlichen Eigenschaften. Es kann deshalb zwar sein, daß sich die Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Fortgangs der Geschichte ändern, dennoch verändert und entwickelt sich dabei nicht auch ihr Wesen selbst. Daß eine Möglichkeit vergangen ist, bedeutet also nur, daß sie in der Gegenwart des Hände his nicht oder wenigstens nicht selbstverständlich aufgenommen werden könnte: Kerneswegs muß sie als Stadium in einem übergreifenden und zielgerichteten Prozeß gesehen werden44. Doch was es heißt es nun, zu einer Lebensform im Handeln hinzufuhren, wenn immer diese nur in einem Zirkel zwischen Selbst und Welt, zwischen Wollen und Sein besteht? Auf den ersten Blick scheint es so, als könne der Zirkel nur im ganzen, mit all den in ihm enthaltenen Strukturmomenten, entstehen. So zumindest kann die folgende Stelle gedeutet werden: „Wir, denen die demokratische Bewegung [...] als Verfalls-, nämlich VerkleinerungsForm des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung und Werth-Emiedrigung: wohin
' Vgl. zum Primat der Gegenwart bei Nietzsche auch Figal 1994, 66f.
3.4. Hinfühning zu einem anderen Handeln
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müssen wir mit unsren Hoffnungen greifen? - Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Wertschätzungen zu geben [...]. Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten [...]: dazu wird irgendwann eine neue Art Philosophen und Befehlshabern nöthig sein" (JGB 203; 5, 126). Der Begriff der „Züchtung" läßt sich hierbei als Gewöhnung oder Umgewöhnung und d.h. als Anleitung zur Bildung eines Ethos lesen, was auch damit übereinstimmt, daß die Zucht durch einen Philosophen und Gesetzgeber, d.h. durch ethische Verhaltensregem, vorgenommen werden soll. Der physiologische Begriff ist also auch in diesem Fall handlungstheoretisch zu erschließen. Analog dazu kann aber auch die Form, die diese Überlegung trägt, ihre gleichsam prophetische Redeweise, handlungstheoretisch gedeutet werden. Demnach liegt im Denken der neuen Philosophen ein „ursprünglicher Anstoß", der neue, d.h. nicht von der Moral abhängige Wertvorstellungen erzeugt; jedoch nicht, wie noch bei Nietzsche selbst, unter der Bedingung, daß Moral das Handeln dominiert, sondern so, daß damit zugleich ein anderes Handeln möglich wird. Wie dies im einzelnen geschieht, hat Nietzsche nicht gesagt, so daß man in der Prophetic durchaus auch das Resultat einer übersteigerten Kritik der Gegenwart, als einer Zeit des Rückgangs und Verfalls, erkennen kann. Dennoch hat die Ankündigung darin ihre sachliche Berechtigung, daß die rationale Hinterfragung der Moral, ihre nur konzeptuelle und nicht auch praktische Überwindung, nicht hinreicht, um ein anderes Handeln zu begründen. Der bloße Wille kann die Vornehmheit noch nicht ersetzen und ist oft, wie Nietzsche festhält, nur ein Zeichen dafür, daß man selbst nicht vornehm ist45. Im Verweisen über sich hinaus auf andere Philosophen kann also vor allem der Versuch gesehen werden, die Unfähigkeit der Gegenwart nicht durch Nostalgie oder Utopien zu verklären. Zudem gilt für eine Lebensform, was wir im vorigen Kapitel anläßlich der Welt erläutert haben: Man kann eine Lebensform nicht als solche wollen, denn ein solcher Wille wäre leer; vielmehr muß man in ihr innestehen und dann etwas wollen, d.h. Ziele, die sie ihrerseits repräsentieren. Man muß sich, mit anderen Worten, in ihr auch vergessen können, indem man im Handeln aufgeht und auf die Bedingungen des Handelns selbst nicht reflektiert. Das Zirkelproblem kann also, so scheint es, gar nicht anders denn durch eine ursprüngliche Setzung überwunden werden. Für die Ethik Nietzsches würde dies jedoch bedeuten, daß sie auf die Lebensform, um die es ihr zu tun ist, nicht im eigentlichen Sinn hinführen, sondern sie nur 45
Vgl. JGB 204 u. 287; 5, 131 u. 233.
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3.4. Hinführung zu einem anderen Handeln
vorbereiten könnte. Sie hätte dann den Anstoß anderer Philosophen passiv zu erwarten und striche sich als Ethik, d.h. als ein praktisch relevantes Denken durch. Wir müssen dieser Konsequenz jedoch nicht folgen, und zwar deshalb, weil gerade die Erwartung eine Hinführung auf das angestrebte Handeln ist. Was dies heißen soll, wird deutlich, wenn wir genauer darauf achten, was durch die neuen Philosophen möglich werden soll. Daß sie, wie Nietzsche schreibt, „dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschen-Willen [...] lehren", meint ja nicht nur, daß sie eine Lebensform mit der ihr eigenen Immanenz erzeugen würden. Zwar geht es auch in dieser Formulierung um den Zirkel, den das Handeln bilden soll, indem der Mensch sich selbst, d.h. die eigene Zukunft, als ein Ziel erkennt und kein ihm äußerliches Ideal. Dennoch liegt die eigentliche Absicht darin zu betonen, daß die Zukunft für den Menschen nur insofern offensteht, als er sie ausdrücklich will: Sie ist „abhängig" von seinem Willen, weil sie keine allgemeine Fortentwicklung darstellt, der er von Natur aus unterliegt. Nietzsche öffnet den Zirkel also gleichsam, indem er als das Moment, durch das man erst in ihn hineingelangen kann, den Willen identifiziert. Freilich ist dabei von einer anderen Verwendung des Begriffs des Willens auszugehen: Nicht das Etwas-Wollen ist gemeint, das auf die Ziele ausgerichtet ist, in denen sich die Lebensform repräsentiert, sondern ein Wollen im Sinn des Gewillt- oder BereitSeins für etwas. Dies scheint auf den ersten Blick die willkürliche Einführung eines zusätzlichen Prinzips. Was man jedoch heraushebt, wenn man die Abhängigkeit der Ziele vom eigenen Willen denkt, ist das eingangs dargelegte Gewollt-Sein des Willens selbst. In ihm liegt die Bereitschaft, sich überhaupt in die Ausgerichtetheit auf Ziele zu begeben. Eine solche Bereitschaft ist zwar in jedem Willensvorgang vorauszusetzen. Wenn Nietzsche aber den Begriff des Willens gesperrt drucken läßt, so macht er deutlich, daß es ihm nicht nur um die indifferente Eigenschaft eines jeden möglichen Vollzuges geht, sondern um eine solche, in der der Wille und mit ihm die Selbsthaftigkeit des Willens ausdrücklich wird. An anderer Stelle wird dies darin deutlich, daß er sagt, es müsse jemand kommen, „der den Willen wieder frei macht" (GM 2, 24; 5, 336), der aufzeigt, wie es ist, im Wollen als Selbst zum Handeln zu stehen, im Gegensatz zum Nihilismus, als dem Wollen des Nicht-Wollens, in dem das Selbst zugleich die Loslösung von sich erstrebt. Die Funktion der zu erzeugenden Bereitschaft wäre demnach mit dem Platonischen Begriff der , der Umlenkung der Seele, zu vergleichen (Rep. 518 d): So wie es Platon darum ging, daß die Fähigkeit, das Seiende zu erkennen, nicht gelernt werden könne, sondern dispositionell vorhanden sei und nur auf das ihr entsprechende Objekt gelenkt werden müsse, so ist auch für Nietzsche der Wille vorhanden, aber von dem angemessenen Objekt, der Lebensform des Selbst, abgelenkt. Daß er wieder frei wird, heißt dann, daß er dem Primat des Selbst im Handeln folgen kann.
3.4. Hinfuhrung zu einem anderen Handeln
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Daß wir hier den Platonschen Begriff heranziehen, hat den Zweck zu unterstreichen, daß keineswegs eine Affirmation des Selbst als solchem beabsichtigt ist. Nicht nur wäre diese leer, sie würde auch unterschlagen, daß es um eine Umlenkung im Handeln zum Zweck eines anderen Handelns geht. So liegt der Sinn der Bereitschaft darin, sein Handeln und Leben unter dem Maßstab einer Strebensethik zu sehen, der es um das Gelingen des Lebens geht, und nicht um den bloßen Selbstbezug. Daß dies richtig ist, zeigt sich auch daran, daß Nietzsche in demselben Text, der die Bereitschaft zum eigenen Willen darlegt, ein instinktives Wissen mit ins Spiel bringt, das um die Möglichkeiten des Gelingens weiß. So heißt es von jemand, der ein Ungenügen an der Dominanz der moralischen Werte hat: „ Er fasst es [...] mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus dem Menschen zu züchten wäre, er weiss es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten Möglichkeiten ist" (JOB 203; 5, 127). Was die Bereitschaft zu einem anderen Handeln begleitet, ist demnach ein Wissen um die prinzipielle Offenheit von Handlungsmöglichkeiten. Wie bei der Platonischen Umlenkung ist das Gewissen dabei eine unabhängig von Belehrung bestehende Einsicht, die man einzig der Vertrautheit mit dem Handeln zuzuschreiben hat. Daß Nietzsche den Begriff des Gewissens einführt, mag vielleicht verwundern, ist jedoch keineswegs metaphorisch gemeint: Zwar wird er der moralischen Verwendung gleichsam entzogen und bezeichnet nicht, wie dies vorphilosophisch geschieht, das Wissen um die Moralkonformität des eigenen Handelns; dennoch enthält er ein Wissen um den Gehalt des strebensethisch Guten. Genauer liegt in ihm das Wissen, daß die moralische Beschränkung darauf, Andere von aggressivem Handeln abzuhalten, die Handlungsmöglichkeit des Menschen lahmt, oder allgemeiner ausgedrückt, daß das Handeln immer auch auf sein Gelingen hin betrachtet werden kann. Nietzsche löst den Gewissensbegriff damit aus dem moralischen Kontext, um ihn im Sinn der Strebensethik gegen die Moral fruchtbar zu machen46. Freilich ist damit immer noch nicht klar, inwieweit die Bereitschaft des Willens und das Gewissen tatsächlich eine zum Handeln hinleitende Funktion besitzen. Vielmehr scheinen sie erst Vorbedingungen zum Handeln zu sein, die zwar beste-
46
Vgl. auch FW 2; 3, 373 / FW 308; 3, 545 / JOB 205; 5, 132 u. GM 2, 2; 5, 294. Zur Kritik des moralischen Gewissensbegriffs vgl. 9, 5 [13] u. 9, 6 [300]. An dieser Stelle wäre auch ein Vergleich zum Gewissensbegriff bei Heidegger reizvoll, der das Gewissen analog in der Spannung von Selbst und Man situiert (SZ 274). Zur außermoralischen Verwendung des Begriffs bei Nietzsche vgl. auch Mohr 1977.
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3.4. Hinfllhrung zu einem anderen Handeln
hen müssen, aber noch nicht begründen, wie gehandelt wird. Dennoch genügt es für Nietzsches Ethik, daß diese Vorbedingungen bestehen: Da sich das Handeln stets in einem Kontext anderer Handlungen vollzieht, und zwar so, daß es diese Handlungen notwendig interpretiert, stellt sich ihm stets, wenigstens in impliziter Form, die Frage, ob es moralisch reagieren will. Auch wenn die Ethik auf die Immanenz einer Lebensform zunächst verzichten muß, gibt so die Präsenz der Anderen die jeweilige Bestimmtheit für das Handeln vor. Das zu sich selbst bereit gewordene Handeln kann konkrete Handlungsziele finden, weil es sie angesichts der Anderen finden muß. Dies zeigt sich auch, wenn Nietzsche schreibt: „Bisher haben alle diese ausserordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen nennt, [...] ihre Aufgabe [...] darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes Geheimniss war: um eine neue Grosse des Menschen zu wissen. [...] Heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff der „Grosse"" (JOB 212; 5, 145ff.).
Nach diesen Worten gilt es, Vornehmheit bewußt als Gegenreaktion zu den erfahrenen Tendenzen der Moral einzusetzen. Allerdings erhält sie dadurch ein Strukturmoment, das nach Nietzsches anfänglicher Schilderung nur der Moral zu eigen war, nämlich das Ressentiment. Angesichts der Dominanz der Moral ist es sogar ebenfalls ein Ressentiment der Schwäche, da sie sich als ein von ihren Lebensformen losgelöstes Handeln fühlen muß. Sie entsteht nun also, wie auch die Moral, aus der Negation des Handelns Anderer und nicht mehr aus einer spontanen Selbstidentifikation. Daß sie in dieser Negation dennoch nicht dem moralischem Verhalten gleich wird, d.h. nicht nur ein anderes Ressentiment verkörpert - gleichsam eine Verdopplung des Ressentiments, ein Ressentiment gegen das Ressentiment -, wird dadurch begründet, daß sie es nicht zur Bestimmung ihres Handelns werden läßt. Es wird zu einem bloßen Mittel in der Herausbildung des eigenen Handelns zurückgestuft. Dieser Punkt zeigt jedoch zugleich, daß aus der Abgrenzung ein neuer Zirkel entstehen kann: Indem man sich vom Handeln der Moral abgrenzen will, erfährt man, daß man abgegrenzt sein kann. Man erfährt, sofern das Handeln denn gelingt, ein Können, das das Anders-sein-Wollen trägt. Die Umwendung auf ein jeweils anderes Handeln, als es der Moral entsprechen würde, bildet somit eine gleichsam minimale Lebensform, d.h. eine Lebensform, die im Vollzug - und nur im Vollzug - der Unterscheidung von den Anderen besteht. In ihr liegt der Ansatzpunkt für Nietzsches Ethik. Dies scheint freilich auf den ersten Blick ein in der Tat minimales, verschwindendes Ergebnis zu sein. Wenn es jedoch so ist, daß das Handeln allein durch die Präsenz der Anderen Bestimmtheit
3.4. Hinfuhrung zu einem anderen Handeln
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erhält, dann bildet auch eine solche, individuelle Umlenkung gehaltvolle Lebensformen aus. Sie kann in allen relevanten Teilaspekten zum Begriff des guten Lebens führen. Dies wird im folgenden zu belegen sein.
4. Grundlinien von Platons Ethik 4.1. Die Notwendigkeit des Guten für das Handeln In unserer Untersuchung der Nietzscheschen Ethik sind wir nunmehr an den Punkt gelangt, an dem auf das konkrete Handeln eingegangen werden kann, d.h. auf die Frage, welche Handlungsweisen angeraten sind und was im einzelnen ein gutes Leben konstituiert. Bevor wir uns jedoch tatsächlich diesem Punkt zuwenden, soll auf den Platonischen Begriff des Guten eingegangen werden. Dabei sind zwei Hinsichmahmen zu verfolgen, die Frage, wie das Gute strukturell ins Handeln eingebunden ist, sowie ebenfalls die Frage nach dem guten Leben. Dies bedeutet, daß wir die gnoseologische und ontologische Funktion des Guten, die vor allem in der Politeia angedeutet wird, sowie die komplexe Frage nach der Idee des Guten nicht behandeln werden. All dies würde unsere Betrachtung sprengen. Die Absicht dieser Überlegungen ist es vielmehr nur, eine typologische Gemeinsamkeit der beiden Konzeptionen hinsichtlich des Guten in der Ethik zu erweisen. Ihr Zweck ist heuristischer Natur, insofern sie uns helfen sollen, das systematische Gewicht von Nietzsches Ethik angemessen zu bewerten. Der Anspruch einer vollständigen Behandlung des Begriffs bei Platon wird also nicht gestellt. Die typologische Gemeinsamkeit zwischen Platons und Nietzsches Ethik ist im übrigen von Nietzsche selbst nicht eingesprochen worden, so daß sie allein aus der Plausibilität unseres Vergleichs und nicht aus direkten Belegen abzuleiten ist. Im Gegenteil hat Nietzsche die Existenz von Gemeinsamkeiten eher noch verschleiert, bspw. dadurch, daß er Platon den „Dogmatiker-Irrthum" vorwarf, von einem „Guten an sich" ausgegangen zu sein (JBG, Vor.; 5, 12). Er glaubte, in der Annahme der Ideen als einem an sich Seienden einen Begriffsrealismus diagnostizieren zu können, dem er seine Theorie der Interpretativität aller Kategorien entgegensetzte. So konnte er sein eigenes Denken gerade im Gegensatz zum vermeintlichen Dogmatismus Platons, als „umgedrehten Platonismus" (7, 7 [156]) definieren. Zwar finden sich trotz dessen positive Erwähnungen, doch liegt in ihnen der Versuch, Platon als Philosophen oder besser: als philosophische Persönlichkeit gegenüber seiner Philosophie - und gegenüber Sokrates als dem eigentlichen Rationalisten - zu retten. So versucht Nietzsche bspw., Platons Haltung als höherwertiger denn den neuzeitlichen Empirismus und Positivismus darzustellen:
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„Genau im Widerstreben gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war, - vielleicht unter Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren Triumph darin zu finden wussten, über diese Sinne Herr zu bleiben: [...] - den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte" (JOB 14; 5, 28).
Die sogenannte Ideenlehre wird auf diese Weise zum Zeichen eines geistigen Aristokratismus, der sich dem Unmittelbar-Naturhaften verweigert. In ihr offenbart sich ein Wille zur Macht, insofern sie die Fähigkeit bedeutet, eine Synthese der Erfahrung im Gegensatz zu dieser anzunehmen und für sich als verbindlich zu erklären1. Neben das Charakteristikum der Vornehmheit tritt deshalb auch die Deutung Platons als einer Künstlernatur2. Auch wenn man zugestehen muß, daß diese Versuche durchaus ihren Grund in Platons Denken haben, so z.B. in seiner Gegenüberstellung von Philosoph und Menge (Gorg. 500 c f.), so wird doch der epistemologische Gehalt seines Denkens auf eine bloße Lebenshaltung reduziert und in seinem sachlichen Anspruch vergleichgültigt. Dennoch widerspricht diese Nietzschesche Rezeption unserem Bemühen um eine Parallelisierung nicht, sie fordert sie im Gegenteil heraus: Würden wir allein sein Abgrenzungsstreben gegenüber der Tradition zum Maßstab unserer Deutung nehmen, so würde nicht mehr klar, inwieweit er seinerseits in einer Tradition der Behandlung des Begriffs des Guten steht. Zwar soll die Abgrenzung dabei auch nicht unterbewertet werden; anstelle aber nur als Abgrenzung zu erscheinen, läßt sie sich durch diesen Aufweis einer typologischen Zugehörigkeit als Entscheidung hinsichtlich von allgemeinen Fragestellungen verstehen. Sie erscheint als Variante und Zuspitzung innerhalb eines gemeinsamen Horizonts und nicht als schlechthinnige Loslösung von ihm. Wir beginnen mit der Stellung des Begriffs des Guten im Vollzug des Handelns. Dabei ist zunächst vom Gorgias auszugehen. Anlaß des dort geführten Gespräches ist die Frage, was das Wesen der Rhetorik sei. Die Definition, die hierzu von Gorgias gegeben wird, lautet, Rhetorik sei die Kunst zu überreden. Mit dieser Antwort gibt sich Sokrates jedoch noch nicht zufrieden, da die Überredung auch ein Teil von anderen Künsten ist, so z.B. von der Arithmetik, insofern sie didaktisch verfährt (Gorg. 454 a). Es gilt also, die Art der Überredung darzulegen. Zwei Arten sind hierbei zu unterscheiden: Die Überredung, welche Glauben ohne Wissen, d.h. ohne eigene Einsicht, in den Überredeten bewirkt, und die, welche ihnen zu einem Wissen verhilft (Gorg. 454 e). Als Kunst der Überredung bei Gerichtsprozessen und politischen Versammlungen ist die Rhetorik mit der ersten gleichzusetzen, wie von Gorgias bestätigt wird. Diese Definition bedeutet handlungs1
Vgl. MA I, 261; 2, 216f. / JOB 191; 5, 112 u. 11, 26 [355]. Bremer spricht daher von der „Ambivalenz von Nietzsches Antiplatonismus" (1979, 98). 2 Vgl. GT 14; l, 93 / M 544; 3, 314f. u. 12, 7 [2],
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4.1. Die Notwendigkeit des Guten für das Handeln
theoretisch, daß das Wesen einer Tätigkeit nicht durch den bloßen Vorgang, der in ihr geschieht, bezeichnet werden kann: Hinreichend zur Bestimmung ist vielmehr erst der Nachweis, wie sich dieser Vorgang zum jeweils betroffenen Gegenstand oder Sachgebiet verhält. Nur von dem aus läßt sich auch verstehen, warum Sokrates behauptet, die Rhetorik sei keine , sondern eine eine Übung in bestimmten Fertigkeiten (Gorg. 462 b f.), denn mit letzterem ist gemeint, daß sie keine wirkliche Sachkenntnis besitzt: Sie zielt, so Sokrates, auf die Seele der Menschen - wir können sagen: auf ihre Kompetenz in Fragen des Handelns und der Lebensführung -, nur, um sie zu dem Jeweils Angenehmsten" zu überreden und ohne sich um das zu kümmern, was das Beste für ihr Leben wäre (Gorg. 464 c f.). Für diese Unterscheidung muß er im übrigen noch gar nicht sagen, was das Beste sei: Vielmehr genügt das allgemeine Wissen darum, daß es angenehme Zustände gibt, die doch nicht wirklich gut sind (Gorg. 464 a). Gesteht man dieses zu, sowie den Umstand, daß die Rhetorik nicht danach fragt, ob das von ihr Erwirkte in der Tat das Beste für den Menschen sei, so folgt daraus unwillkürlich, daß sie nur als eine Art von Übung in bestimmten Tätigkeiten aufzufassen ist. Ihr Verhältnis zu den behandelten Sachen ist von sich her so, daß es ihr nicht um das Gute in ihnen geht. Von diesem Schluß ist der zweite Unterredner, Polos, freilich keineswegs überzeugt. Daß die Rhetorik nicht zu den Künsten gerechnet werden soll, erscheint ihm absurd angesichts der Tatsache, daß gute Redner die größte politische Macht in den Städten besäßen. Als Beweis für diese Macht, für dieses , nennt er ihre Fähigkeit, alles tun oder zumindest veranlassen zu können, was ihnen beliebt; nämlich die politischen Gegner umzubringen, zu berauben oder aus der Stadt zu weisen, wenn es ihnen angebracht erscheint (Gorg. 466 a-e). Diese Einschätzung ist handlungstheoretisch der von Gorgias analog, erweitert sie jedoch um eine Dimension: Während Gorgias das Wesen der Rhetorik durch den Vorgang, der in ihr geschieht, bestimmte, tritt nun als Kriterium der Erfolg, den dieser Vorgang zeitigt, seine Effizienz, hinzu. Dabei gilt als Maßstab des Erfolges wiederum nicht die bestmögliche Behandlung einer Sache, wie z.B. der der Herrschaft in der Stadt; stattdessen rückt der Redner selber in den Blick, insofern der Erfolg von ihm genutzt wird und er mithilfe der Rhetorik unbeschränkt über Andere verfügt. Dies bedeutet, daß Polos das Wesen und damit auch den Wert einer Tätigkeit durch das bestimmt sieht, was sie für den Tätigen erbringt: Steigert sie seine Handlungsmöglichkeiten in dem dargelegten Maß, so daß er mit ihr ein Mittel in der Hand hat, das es ihm erlaubt, jede Neigung zu erfüllen, so muß sie ein wahres Können, eine Kunst im eigentlichen Sinne sein. Sokrates stellt dem seine zunächst völlig kontraintuitiv wirkende These entgegen, die Redner hätten in Wahrheit gar keine Macht und täten auch nicht, was sie wollten. Vielmehr täten sie etwas, von dem sie nur dächten, daß es das sei, was sie wollten (ebd.). Methodisch heißt dies,
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daß er Polos' Einwand auf derselben Ebene zu entgegnen sucht; er stützt sich nicht mehr auf die Finalität, die im Begriff der Kunst vorausgesetzt wird, sondern, wie auch Polos, auf die Intention, unter der man eine Kunst vollzieht. Dies ist auch insofern nötig, als der Einwand keineswegs durch den bloßen Hinweis auf die mangelnde Sachkenntnis abzuwehren ist: Da es unmöglich ist zu sagen, daß man keinen Erfolg im Handeln haben wolle, und da die Redner, wie auch Sokrates nicht leugnen kann, Erfolg besitzen, liegt hierin ein tatsächliches Argument für den Wert der von ihnen vollzogenen Tätigkeit. Um dem Einwand zu begegnen, muß er deshalb zeigen können, daß eine Differenz besteht, zwischen dem, was die Redner eigentlich erreichen wollen und dem, was sie faktisch als Erreichenswertes sehen. Das zugespitzte Diktum, daß gerade sie keine Macht besäßen, heißt in diesem Sinn, daß sie nicht die Macht besitzen, die sie eigentlich als Ziel zugrundelegen müssen, wenn sie ihre Tätigkeit als eine Kunst verstehen. Sokrates versucht dies zu belegen, indem er sich in seiner Argumentation vom Bereich der Künste löst und auf allgemeiner Ebene fragt, was es heißt, in seinem Handeln eine Intention zu haben. Sein Ausgangspunkt ist dabei die Einsicht, daß man nicht immer die jeweils vollzogene Handlung will, sondern etwas, wofür sie nur ein Mittel ist, d.h. etwas, „um dessen willen" ( eveKa) man sie allererst vollzieht (Gorg. 467 c). Beispiel hierfür ist eine schmerzhafte medizinische Behandlung, der man sich nicht um ihrer selbst willen unterzieht, sondern umwillen der Gesundung, die ihr folgt. Dies entspricht der Struktur, die am Moment der Finalität erwiesen wurde: Nicht der bloße Vorgang, den man ausführt, ist für die Bedeutung einer Tätigkeit entscheidend, sondern das, was sie an der betroffenen Sache erwirkt. Es ist also schon von hier aus möglich zu behaupten, daß jemand nicht das tut, was er will, insofern man zwischen einem Vorgang und seinem Sachbezug unterscheiden kann. Nun muß aber, wie Sokrates weiter ausführt, jede Tätigkeit sowie jedes Vorkommnis im Bereich des Handelns entweder als gut oder als schlecht oder als weder gut noch schlecht bezeichnet werden (Gorg. 467 e). Auch dies ist zunächst nur eine strukturelle Einsicht, denn wie die Beispiele für das Gute zeigen - Weisheit, Gesundheit, Reichtum -, geht es einfach darum, daß man jede Sache als gut oder schlecht für sich bewerten kann. Was das Schlechte anbetrifft, so folgt nach dem Gesagten, daß man es zwar tun kann, daß man es jedoch nicht will. Vielmehr tut man Schlechtes nur, wenn man etwas Gutes will, für das es ein notwendiges Mittel ist, wie eben die Behandlung durch den Arzt, die zu etwas Gutem führt. Dasselbe gilt für die indifferenten Tätigkeiten, d.h. für die, die an sich weder gut noch schlecht sind, wie das Gehen oder Stehen: Man geht nicht einfach, sondern man geht dann, wenn man denkt, es sei nun angebracht, d.h. es sei gut, zu gehen. Entsprechend dazu bleibt man wieder stehen, wenn man dies für besser hält (Gorg. 468 b). Das Schlechte und das Indifferente werden beide also prinzipiell nur umwillen eines Guten getan. So kann Sokrates zu dem Schluß
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4. l. Die Notwendigkeit des Guten für das Handeln
gelangen, daß das Gute das ist, was man stets im Handeln will3. Dabei wird der Begriff zunächst in einem strikt relativen Sinn verstanden, als ein Intentionskorrelat, und wirft noch nicht die Frage auf, was das Gute an sich ist. Ebensowenig kommt die mögliche Stuftmg von Handlungszielen mit der Verwiesenheit auf ein Letztziel in Betracht, da sich Sokrates auf die Ebene des Vollzugs als der einen, jeweils ausgeführten Tätigkeit beschränkt. - Daß es hier zunächst nur um das Wollen ( ), bzw. das Begehren ( - Men. 77 c) im Handeln geht, und ist auch deshalb zu beachten, weil die Diskussion nicht mit der im Protagoras geführten verwechselt werden darf. Sokrates erklärt dort, niemand täte etwas Schlechtes, wenn er wisse oder glaube, daß es etwas Besseres gäbe, das er ebenfalls bewirken kann (Prot. 358 b f.). Die Frage nach den Intentionen hat dort also die Funktion, den zureichenden Grund für Handlungen zu bestimmen: Man handelt, dies meint Sokrates' Behauptung, nach dem, was man als das Gute oder, relativ betrachtet, Bessere erkennt. Diese Erklärung ist bekanntermaßen deshalb problematisch, weil man schlechte Handlungen dann mit der Unkenntnis des Guten erläutern muß, was all den Fällen widerspricht, in denen jemand gegen besseres Wissen schlechte Handlungen vollzieht. Wir müssen uns dieser Frage hier jedoch nicht widmen, denn die These, daß man immer nur das Gute will, wird von dieser Schwierigkeit nicht berührt. Dies zeigt sich bei Aristoteles, der mit der Unbeherrschtheit zwar ein zusätzliches Moment einführt, das das Handeln wider besseren Wissens erklären soll, dieses jedoch nicht als intendiert versteht, sondern als ein Pathos, das den Handelnden ergreift (EN 1145 b 21-31). Er unterscheidet also gleichfalls zwischen der Struktur des Wollens und dem jeweiligen Grund, aus dem eine Handlung geschieht. Doch was bringt dieser Nachweis, daß das Gute ein Strukturmoment des Wollens bildet, für die Frage, ob eine Tätigkeit jeweils dem Besten einer Sache nachzugehen habe? Faßt man das Gute so formal, wie Sokrates dies tut, dann scheint es ja, daß es gerade keiner Qualifikation durch einen Sachbezug bedarf. Gut wäre demnach alles, was ein Handelnder als für sich oder für sein Handeln gut bezeichnen kann. Damit aber hätte man ein wesentliches Element in dem Gedankengang verfehlt. Indem er nämlich von der Frage ausgeht, ob die je vollzogene Handlung gut oder schlecht oder indifferent ist, verdeutlicht er, daß man sich im Handeln stets in einem Feld von Sachbestimmungen hält: Was gewollt wird, darf gegenüber anderem nicht schlecht oder zumindest indifferent erscheinen. Dies bedeutet, daß man zwar immer noch all das als gut erachten könnte, was einem so erscheint, zumindest ist jedoch gezeigt, daß man in seinem Wollen eine Sachbestimmung trifft. Man muß wenigstens annehmen, das Gewollte sei an sich gut. Wollte man dies leugnen, dann müßte man den unwahrscheinlichen und kontraintuitiven Fall
Vgl. auch Gorg. 499 e f.
4.1. Die Notwendigkeit des Guten für das Handeln
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konstruieren, in denen man etwas will, obwohl es Dinge gibt, die einem selbst als besser erscheinen oder denen gegenüber es sogar als schlecht erscheint, was jedoch unplausibel ist. Und selbst wenn man mit Nietzsche betont, daß es immer nur ein bestimmtes Etwas-Wollen gibt, das sich in seinem Vollzug nicht zugleich auch reflektiert, so kann man doch schwerlich davon absehen, daß auch dieses Wollen in einem Feld von Möglichkeiten vor sich geht, in denen es sich, wenn auch unableitbar, für das Etwas erst entscheidet. Mithilfe dieses Arguments läßt sich nun die Behauptung Polos' widerlegen, der zufolge die Rhetorik eine Kunst sei, weil die Redner Macht ausüben könnten, wie sie wollten. Auch er hatte nämlich vorausgesetzt, daß die Macht als etwas Gutes von den Mächtigen verstanden wird (Gorg. 466 b). Deshalb muß er Sokrates nun auch zugestehen, daß man Andere nicht „einfach so" ( ) hinrichten lassen oder berauben würde, sondern nur dann, wenn es einem nützt und nicht etwa zu eigenem Schaden führt (Gorg. 468 c). Er muß also einen Zweck angeben, auf den hin man die Macht erstrebt. Dabei genügt schon ein zweckrationaler Standpunkt, um zu zeigen, daß man nicht nur die reine Möglichkeit der Machtausübung will. Ohne den Bezug auf etwas Gutes ist sie nur ein bloßer Vorgang, den man nicht als einen Akt sinnvollen Handelns denken kann4. Dies bleibt jedoch nicht ohne Einfluß auf das Verhältnis, das ein Handelnder in Hinsicht auf die eigene Tätigkeit einnimmt. So ist die Machtausübung, die Polos an den Rednern lobte, nicht nur allgemein als Herrschaft zu bestimmen, sondern muß spezifisch als Tyrannis angesehen werden, d.h. als eine nicht gesetzlich oder durch Bezug auf Zustimmung eingeschränkte Macht über Andere und deren Besitz (vgl. Gorg. 466 b). In ihr liegt die Möglichkeit eines direkten und jederzeit erreichbaren Verfügens über Andere, was von Polos eben dadurch ausgedrückt wird, daß er sagt, die Redner könnten all das veranlassen, was ihnen gut erscheint. Dieses Verfügen aber ist zugleich eine Selbstaffirmation des Einzelnen gegenüber denen, über die er verfügt: Sein Handeln wird nicht auf das sachlich Beste ausgerichtet, sondern reduziert sich auf den Zweck, in jedem Tun ihn selbst als dominierendes Prinzip zu zeigen. Dementgegen folgt aus dem von Sokrates geführten Nachweis, daß man nur umwillen eines Guten handeln könne, daß das Handeln niemals nur als bloße Selbstaffirmation verstanden wird. Man bezeichnet es nur dann als gut, d.h. als sinnvoll oder zweckgerecht, wenn man auf mehr als auf das jedesmalige Verfügen-Können blickt. Dies bedeutet allerdings, wie schon gesagt, nichts anderes, als daß man zumindest zweckrational denken können muß, indem man z.B. fragt, ob man durch das unbeschränkte Verletzten Anderer nicht später Schaden erleiden wird. So bliebe es zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs auch denkbar, daß man tatsächlich eine Herrschaft als Tyrann erstrebt: Gezeigt wird 4
Vgl. auch die reductio ad absurdum Gorg. 469 d ff.
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4.1. Die Notwendigkeit des Guten fur das Handeln
nur, daß man selbst dann versuchen müßte, die Tyrannis möglichst gut auszuüben und sich nicht auf die jedesmalige Gewaltausübung beschränken darf. Gerade dieser Punkt ist zu beachten, denn das Argument darf nicht so verstanden werden, als ob jede Intention eine ethische Ausrichtung hätte und auf ein gutes Handeln im Sinn der Tugend zielte. Zwar ist diese Ausrichtung in der Struktur der Intentionen angelegt, wie sich am Ende des Gorgias zeigt. Die Verlagerung der Frage nach dem Wesen der Rhetorik auf die nach dem Guten führt Sokrates dort auf die Überlegung, „wie man leben soll" (Gorg. 500 c). Gleichwohl wird diese konkrete Fassung des Begriffs des Guten durch die Strukturen selbst nicht vorgegeben, denn dies würde heißen, daß der Mensch von Natur aus danach strebte, tugendhaft zu leben. Platon aber hat dies verneint, denn während man das Gute dem Begriff nach stets als wirklich Gutes will, genügt es Vielen, nur gerecht und tugendhaft zu erscheinen, ohne daß es ihr Interesse wäre, in der Tat gerecht zu sein (Rep. 505 d f.). Daß man stets das Gute wolle, betrifft also nur seinen formalen Status als ein Intentionskorrelat. Dies ist aber nicht das einzige Mißverständnis, dem es zu begegnen gilt. So zeigt sich, daß Nietzsches Annahme, es ginge Platon um ein an sich Gutes im streng objektiven Sinn, gleichfalls auszuschließen ist: Was gut ist, ist nicht an sich gut, und muß dann in sekundärer Hinsicht auch von den Menschen angestrebt werden, sondern ist von vornherein in Bezug auf ihre Intentionen gut, als das, was sie für sich erstreben5. Was Platon zeigt, ist also nur, daß der Begriff des Guten nicht im Gut-Erscheinen aufgeht, da man nur dann meinen kann, gut zu handeln, wenn sich ein Gutes an sich innerhalb des Handelns deutlich machen läßt. Man muß eine Sachbestimmung treffen, um zu wollen, und trifft diese nicht in der Meinung, daß etwas nur gut erscheine und es nicht eigentlich sei. Es ist deshalb auch nötig, über die Relation hinaus nach der Idee des Guten selbst zu fragen. Allerdings läßt sich auch dieser Umstand auf die Intention zurückbeziehen, denn wenn es notwendig ist, im Wollen eine sachliche Bestimmung anzunehmen, dann wird die Frage nach dem wahren Guten gerade durch ein Selbstinteresse motiviert, insofern man sich über die Natur des Guten dann nicht täuschen will, weil man es für sich will6. Die objektive Bestimmung des Guten, die Platons Philosophie erstrebt, hebt seine Relativität also nicht auf, sondern wird umgekehrt von ihr fundiert. Dies gilt selbst für die gnoseologischen und ontologischen Funktionen, die die Politeia evoziert: Wenn das Gute dem Erkennbaren Erkennbarkeit verleiht, wie dort gesagt wird, und dem Seienden Sein, dann ist damit zugleich gesagt, daß D
Der Begriff des Guten ist deshalb auch durch den des Nützlichen, als dem, was dem Einzelnen nicht schadet oder ihn erhält, zu explizieren (Rep. 379 b u. 608 e). Vgl. auch Gadamer 5, 232-39. 6 Vgl. Men. 77 c f. sowie Rep. 505 d. Auch nach Wieland (1982, 269) liegt die teleologische Beziehung auf das Gute in der Intentionsstruktur des Handelns und nicht in einer objektiv-natürlichen Gegebenheit. Zu einem anderen Verständnis der antiken Ethik vgl. Tugendhat 1984, 55f.
4.2. Die Erm glichung des Guten: Ethos und Wissen
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es f r das Erkennen gut ist, da es erkennt, und f r das Seiende gut, da es ist (Rep. 509 b). Dem kann jedoch, wie gesagt, nicht weiter nachgegangen werden.
4.2. Die Erm glichung des Guten: Ethos und Wissen Nachdem nun verdeutlicht wurde, wie das Gute innerhalb des Handelns zur Geltung kommt, gilt es zu zeigen, wodurch das Handeln Gutes erwirkt. Wir werden uns f r diese Frage an der Politeia orientieren. Ihr Gespr ch wird von dem Vorschlag Sokrates' geleitet, in Gedanken eine Stadt zu gr nden, um an ihrer Einrichtung das Wesen der Gerechtigkeit zu zeigen. Dieser Vorschlag verdankt sich seiner eingestandenen Schwierigkeit, die Gerechtigkeit am Menschen selber zu erweisen (Rep. 368 e ff.). Da es ihm in erster Linie also nur um den Begriff der Tugend geht und nicht um die politische Verfassung, an der sie zur Erscheinung kommt, tritt die zu gr ndende Stadt nicht als Versammlung vieler Menschen in den Blick, sondern gleichfalls als ein Einzelnes, d.h. als „ganze Stadt" (ebd.), der wie einem Handelnden eine Tugend zuzusprechen ist. Auch auf der politischen Beschreibungsebene werden demnach handlungstheoretische Strukturen nachgezeichnet, was bedeutet, da wir sie gleichfalls in unserer Diskussion behandeln k nnen. Die grundlegende Bedingung des gemeinschaftlichen Lebens ist die Arbeitsteilung. So schlie t Sokrates, da alles reichlicher, sch ner und leichter gerate, wenn Einer nur eines verrichtet, seiner Natur gem und zum rechten Zeitpunkt, und sich dabei aller anderen T tigkeiten enth lt (Εκ δη τούτων πλείω τε έκαστα γίγνεται, κα! κάλλιον καΐ ρφον, όταν εΐς· ev κατά φύσιν και ev καιρώ, σχολήν των άλλων άγων, πράττη. - Rep. 370 c). Diese Bestimmung weist voraus auf die Definition der Gerechtigkeit, der zufolge es gerecht ist, wenn jeder das Seinige tut (Rep. 433 a), ist jedoch noch allgemeiner, da sie das Seinige nicht auf die besonderen Funktionen des Herrschens oder Beherrscht-Werdens in der Stadt bezieht. Vielmehr stehen die Berufe, die Sokrates nennt, n mlich die des Bauers, des Schusters oder des Webers, prinzipiell auf einer Stufe innerhalb der Stadt. Die Bestimmung gilt daher dem Handeln berhaupt. Da jeder nur Eines verrichten solle, begr ndet sich f r Sokrates durch die Spezifizit t einer jeden T tigkeit. Diese Spezifizit t liegt im έργον, das sie erbringt. Damit wird zun chst das Werk bezeichnet, das durch sie entsteht, so da man bspw. sagen kann, die T tigkeit des Bauers habe ein bestimmtes Wesen, weil sie auf ein bestimmtes Werk, die Bereitstellung von Nahrung, ausgerichtet sei (Rep. 369 e). Allerdings kann der Begriff auch prozessual, d.h. in Hinsicht auf die T tigkeiten selbst verwendet werden. Er bezeichnet sie dabei als besondere Verrichtung oder Leistung, wie z.B. hinsichtlich der Augen, deren Eigenart es ist, da man mit ihnen sieht: Dieser Vorgang l t sich nicht als Resultat der T tigkeit beschreiben, sondern ist
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4.2. Die Ermöglichung des Guten: Ethos und Wissen
das, was geschieht, wenn die Augen tätig sind (Rep. 352 e). Man könnte also, sieht man das Gemeinsame in diesen zwei Aspekten, sagen, das bestimmte Wesen einer Tätigkeit ergebe sich durch das, worauf sie zielhaft ausgerichtet ist. Für die Handelnden bedeutet dies, daß das Prinzip der Arbeitsteilung, d.h. ihre Beschränkung auf einen Beruf, aus dem abgeleitet werden kann, was sie verrichten sollen. Auch wenn Platon sagt, daß jeder „der Natur nach" nur für Eines geeignet wäre, so bedeutet dies nicht, daß er glaubte zeigen zu können, zu was ein jeder geboren sei. Vielmehr genügt es ihm zu konstatieren, daß die Menschen ungleich und deshalb notwendig für eine jeweils andere Tätigkeit geeignet sind (Rep. 370 b). Die Beschränkung auf bestimmte Tätigkeiten ist, mit anderen Worten, nicht substantialistisch zu verstehen, da sie sich nicht aus einer an sich feststellbaren Eigenschaft in einem Einzelnen ergibt, sondern funktional, denn für welche Tätigkeit ein Einzelner geeignet ist, zeigt sich nur darin, daß er dem von ihr Geforderten Genüge leisten kann. Dies gilt auch späterhin für höhere Tätigkeiten, wie z.B. bei der Auswahl der Herrschenden, die ihre Befähigung zu diesem Amt durch ihr Verhalten in bestimmten Situationen nachzuweisen haben (Rep. 413 c). Von dem aus zeigt sich auch, inwiefern die Argumentation an unsere Frage nach dem Guten anschließt: Das Ergon hat in einer Tätigkeit strukturell die Position des Guten, d.h. es ist das, weswegen man die Tätigkeit vollzieht. Allerdings bezeichnet es nicht nur das Intentionskorrelat in einer Handlung, sondern zugleich das konkret entstehende Werk, bzw. die konkret vollzogene Tätigkeit. Dies fuhrt auf die oben angezeigte Frage, wodurch das Gute im Handeln entsteht. Geht man von der gezeigten funktionalen Hinsicht aus, so ergibt sich, daß ein Handelnder, dem sein Werk gelingen soll, die Fähigkeit oder das Vermögen haben muß - die ' ? - es zu vollführen. Dabei ist ein Vermögen, wie es Platon definiert, keine Eigenschaft an einem Seienden, die an sich beschrieben werden könnte, sondern zeigt sich nur in den entsprechenden Vollzügen, die durch es entstehen. Sokrates sagt daher, daß man zur Bestimmung einer Dynamis nicht auf ihre Farbe oder Form, oder auf anderes Sichtbares blicken könne, sondern nur auf das Bewirkte, um von ihm her zu erkennen, was sie sei (477 c f.)7. Man hat den Begriff in dieser Hinsicht auch von dem der Ursache zu unterscheiden, denn eine Ursache ist von dem, was sie bewirkt, nicht wie das Vermögen, als der in ihm liegende Ermöglichungszusammenhang, sondern als ein anderes Seiendes unterschieden8. Im Bereich der Praxis eignet einer Dynamis, anders als in jenem der Natur, die Besonderheit, daß sie zwar hinreichend zur Erwirkung einer Sache ist, jedoch nicht notwendig. Während man, um ein Beispiel Platons anzuführen, ohne den Gesichts7
Diese Bestimmung der der ? / wäre. 8 Vgl. Phil. 27 a.
· als eines Könnens ist spezifischer als die im Sophisies verwendete (Soph. 248 c), die am ehesten mit „Möglichkeit" zu übersetzen
4.2. Die Ermöglichung des Guten: Ethos und Wissen
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sinn schlechterdings nicht sehen kann, kann man sehr wohl schustern, ohne eine wirkliche Befähigung dazu zu haben. Selbst wenn man dabei nicht mehr als einen schlechten Schuh vollbrächte, so vollbrächte man doch einen Schuh, der wie alle anderen Gegenstände dieser Art zumindest physisch existiert. Die Erwirkung einer Sache ohne ein entsprechendes, hinreichendes Vermögen, d.h. aus Zufall oder auch durch Glück, ist in der Praxis also niemals auszuschließen (Rep. 396 d). Daher muß Platon die Definition des Vermögens auch so fassen, daß er sagt, es sei etwas, mit dem etwas anderes ausschließlich oder doch in der bestmöglichen Form geschaffen werden könne (Rep. 352 e). Für die Praxis folgt daraus, daß man nicht deshalb nach dem jeweils angemessenen Vermögen sucht, weil ohne es das Ergon nicht geschaffen werden könnte, sondern weil es durch Bezug auf es am ehesten gelingt (Rep. 370 a f.)9. Dem Ergon kommt das Attribut des Guten so in doppelter Beziehung zu: Strukturell, insofern es, wie gesagt, die Position des Guten innehat, und modal, insofern es dem Handeln darum geht, daß es in möglichst guter Form erscheint. Entscheidend ist nun aber, daß man das modale Gut-Sein nicht als äusserliche Eigenschaft an einem davon unterschiedenen Substrat begreift: Indem ein Ergon jeweils neu ermöglicht werden muß, existiert es nicht einfachhin; vielmehr ist die Graduierbarkeit hinsichtlich des Besseren und Schlechteren als Bestandteil seines Wesens anzusehen. Die dynamische Natur des Könnens, das es erwirkt, überträgt sich damit auf es selbst, so daß jedes Werk und jede Tätigkeit notwendig auf gute oder schlechte Weise ist. Was dies bedeutet, läßt sich wiederum in Abgrenzung zu den natürlichen Entstehensweisen zeigen. So gibt es in der Natur zwar ebenfalls ein Besser oder Schlechter, doch das Bessere wird in den meisten Fällen als Normalfall angesehen, während man das Schlechtere als Abweichung davon, als Krankheit, Mißbildung u.a. versteht. Man sagt z.B. „Ich sehe gut", meint damit aber nur, daß man alles sehen kann, was zu sehen ist, während man Kurzsichtigkeit oder gar Blindheit als eine Minderung dieser gattungsmäßig zu erwartenden Fähigkeit versteht. Dagegen haben Tätigkeiten in der Praxis keinen inhärenten Maßstab, dem zufolge man bspw. von einem normal tapferen Handeln so wie von einem normalen Sehen sprechen könnte. Vielmehr wird ein solcher Maßstab, wenn er nötig ist, erst durch die Praxis selber aufgestellt; und selbst dann gilt die Erfüllung nicht als ein Normalfall, sondern als Verdienst (Rep. 414 a). Dies betrifft im übrigen auch Hergestelltes, denn was als normaler, guter Schuh zu gelten hat, wird, abgesehen von seiner völligen Untauglichkeit, erst durch seine Träger, d.h. durch die Mode oder durch besondere Verwendungszwecke, festgelegt. Verall9
Das Bedingungsverhältnis zwischen Vermögen und Tun ist also nicht logisch, in dem Sinn, daß nur durch das Vermögen oder immer dann, wenn das Vermögen gegeben ist, ein bestimmtes Tun erfolgt, sondern teleologisch, insofern das Tun möglichst gut erfolgen soll. Sollte es dagegen logisch sein, so müßte man Vlastos folgen und einen Fehlschluß diagnostizieren, denn aus dem Vermögen läßt sich in der Tat nicht mit Notwendigkeit auf ein entsprechendes Handeln schließen (Vlastos 1981, 130f).
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gemeinernd l t sich also sagen, da das gute Handeln als Gelingen und nicht nur als Reproduktion von Mustern anzusehen ist; schlechtes Handeln stellt zwar eine Minderung des W nschenswerten oder des Gewohnten dar, tr gt jedoch gegen ber einer Krankheit eine positive und nicht nur defizit r bestimmte Qualit t, insofern auch das schlechte Handeln eine M glichkeit bedeutet, unter der sich Handeln berhaupt vollzieht. Das Prinzip der Arbeitsteilung l t sich damit auch als Antwort auf diese praktische Bedingung sehen, denn wenn Sokrates erkl rt, da alles „reichlicher, sch ner und leichter" gerate, wenn sich jeder auf nur Eines konzentriere, dann geht es ihm eben um die Maximierung des Gelingens, das sich nicht von sich aus in der T tigkeit der Einzelnen ergibt. Dieser Versuch, das T tig-Sein auf das in ihm erstrebte Gute gleichsam zu fixieren, zeigt ein weiteres, konstitutives Element des Handelns auf, die Zeit. Sie wurde schon in der zuvor genannten Stelle angesprochen, in der Sokrates forderte, da jeder seine T tigkeit zur rechten Zeit und ohne anderen T tigkeiten nachzugehen, vorzunehmen habe. Der Kairos, der rechte Augenblick, bestimmt sich dabei jedoch nicht im Hinblick auf den T tigen, in dem Sinn etwa, da er die Zeit bezeichnete, die man sich in seinem Tagesablauf nehmen mu , um eine T tigkeit in angemessener Weise auszuf hren. Vielmehr liegt er im Ergon selbst begr ndet, insofern es einen eigenen Zeitpunkt oder eine eigene Zeitorganisation erfordert, in der es nur gelingt. Das zu Verrichtende, so Sokrates, warte eben nicht auf die Bereitschaft eines Handelnden, sondern wolle, da er sich nicht nur nebenbei mit ihm besch ftigt (Rep. 370 c). Dem entspricht, da Platon den Kairos zu den Bestimmungen des Guten als des Ma es oder Abgemessenen z hlt: Das im rechten Augenblick Geschehende ist das Gute, insofern es im Horizont der Zeit erscheint (Phil. 66 a). Daher wird es gleichfalls durch die Sache vorgegeben, die man anstrebt, und nicht durch den Umgang eines T tigen mit ihr. Dennoch f llt die Zeit auch in Hinblick auf den T tigen als solchen ins Gewicht. Dies zeigt sich, wenn von Sokrates die Forderung nach Arbeitsteilung dahingehend erweitert wird, da er sagt, man solle seine T tigkeiten m glichst δια βίου, das Leben lang, oder εκ παιδός, von Jugend auf, aus ben (Rep. 374 c). Das Verm gen eines Handelnden ist demnach nur dann ein hinreichender Grund zum Gelingen eines Ergons, wenn es in der Zeit in eine Form der Kontinuit t eingehen kann. Es mu als Verm gen selbst best ndig werden, um so die Best ndigkeit des guten Handelns zu gew hren. Dabei meint die Kontinuit t jedoch nicht einfach ein verl ngertes Bestehen. Sokrates dr ckt dies aus, indem er ber die Verwendung von Werkzeugen reflektiert: Ein Werkzeug, so erkl rt er, kann dem nicht n tzlich sein, der sich weder ein Wissen von dem Einzelnen erworben noch die hinreichende bung aufgewendet hat (οΰεΡ εστοα χρήσιμον τω μήτε την έταστήμην εκάστου λαβόντι μήτε την μελετην ίκανήν παρασχομένω - Rep. 374 d). Die Kontinuit t des Verm gens ist nach diesen Worten bung, d.h. ein Verhalten, welches sein Bestehen gegen ber
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der in jedem Augenblick gegebenen Diskontinuit t der Zeit erzwingt. Es ist, anders ausgedr ckt, diejenige Anwendung des Verm gens, der es im Vollzug zugleich um das Best ndig-Werden seiner geht10. Zusammen mit der bung gilt es, wie die angef hrte Stelle zeigt, sich ein Wissen von der jeweiligen Sache zu erwerben. Wissen aber ist in seinem eigentlichen Sinn ein Wissen von Ideen. Damit wird ein Thema angesprochen, das wir f r den Zweck unserer berlegung in mehrfacher Hinsicht einzugrenzen haben: Nicht nur sollen alle theoretischen Aspekte, wie die Begr ndung der Ideenlehre und die Dialektik, abgeblendet werden, auch die Frage nach der Form des Wissens, die in den Ideen vorliegt, wird hier nicht gestellt. Wir k nnen uns vielmehr mit dem Hinweis Platons begn gen, dem zufolge alle f r das Handeln relevanten Ideen im Gebrauch des entsprechenden Gegenstandes, bzw. im Vollzug der entsprechenden T tigkeit verstanden werden (Rep. 601 d). Es ist also von einem Wissen auszugehen, das durch die Erfahrung des Handelns selbst und nicht erst durch seine wissenschaftliche Betrachtung vorgegeben wird. Was uns jedoch prim r interessiert, ist die Frage, warum man ein Wissen braucht, um gut zu handeln. Sokrates verdeutlicht dies am Modell eines Herstellungsprozesses: „Pflegen wir nicht zu sagen, da der Hersteller jedes dieser Ger te diese verfertigt, indem er auf die Idee sieht, der eine, wenn er die Bettgestelle macht, der andere, wenn er die Tische herstellt, die wir benutzen, und ebenso alles andere? Denn die Idee selbst stellt doch keiner der Herstellenden her; wie sollte er auch?" (Οΰκοϋν και είώθαμεν λέγαν TL ό δημιουργός έκατέρου του σεκύου? προς την ΐδέαν βλέπων οϋτω ποιεί ό μεν τάς· κλίνα?, ό δε τα? τράπεζας-, αϊ? ήμεΐ? χρώμεθα, και ταλλα κατά ταύτα ; ου γαρ που την γε ίδέαν αυτήν δημιουργεί ουδείς των δημιουργών, πω? γαρ ; - Rep. 596 b f.). Das Wissen in einer T tigkeit ist also gleichbedeutend mit dem Wissen um die Idee des Ergons, das in ihr entsteht. Dies bedeutet freilich nicht, da die Ideen auf derselben Ebene wie das Ergon angesiedelt w ren. Platon dr ckt dies ohne den Bezug auf die ontologische Verschiedenheit von Sein und Werden einzig durch den Umstand aus, da die Ideen der Gegenst nde bei der Herstellung der Gegenst nde selber nicht geschaffen werden k nnen. Sie sind jedem Umgang mit den Gegenst nden uneinholbar vorgegeben. Dies kann man auch dadurch deutlich machen, da man Ideen mit einem Muster vergleicht: Selbst ein weitestm glich abstrahiertes Muster, das man bspw. von einem herzustellenden Tisch entwirft, erlangt seine Bedeutung nur dadurch, da es das Muster eines Tisches ist, d.h. einer im Entwurf bereits vorauszusetzenden Idee (Rep. 597 c). Man kann also auch 10
Vgl. auch Leg. 649 c.
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nicht sagen, da Ideen durch das Handeln „umgesetzt" oder „verwirklicht" w rden, denn eine Idee kommt nicht erst dann zur Geltung, wenn der Gegenstand verfertigt ist. Vielmehr ist dieser zu jedem Zeitpunkt seines Werdens und Vergehens auf sie bezogen. Daraus aber zeigt sich, da die Frage nach dem Wissen ebenfalls in Hinsicht auf die Zeit erl utert werden kann, und zwar in doppelter Beziehung: Das Wissen ist zum einen das Wissen der Ideen, die als pr sent in der Erfahrung mit den Gegenst nden anzunehmen sind; zum anderen eine Haltung, die best ndig auf Ideen ausgerichtet bleibt11. F r die Praxis ist vor allem letzteres entscheidend, denn der Handelnde mu im Vollzug auf die entsprechende Idee bezogen bleiben, wenn sein Tun gelingen soll. Wo bspw. die Idee des Tisches w hrend seiner Herstellung nicht ausdr cklich gegenw rtig bleibt, bekommt er ungleich lange Beine und ger t nicht stabil genug, um seine Funktion zu erf llen. Man sagt dann f r gew hnlich, man habe bei der Herstellung nicht „aufgepa t", was in Platons Terminologie bedeutet, da man die Idee als den zugrundeliegenden Strukturzusarnmenhang zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Blick verloren hat. Das Wissen w re also folgenlos, wenn es nur in der einmaligen Kenntnisnahme der Ideen best nde und nicht gleichzeitig eine Kontinuit t der Hinsicht auf sie bilden k nnte. Geht man solcherma en von einer Kontinuit tserm glichung als der Funktion des Wissens f r das Handeln aus, so l t sich auch die Philosophenherrschaft, die die Politeia vorschl gt, besser deuten. Dann n mlich reduziert sich das scheinbar Gewaltsame in diesem Entwurf, dem z.B. Hannah Arendt ein potentiell totalitaristisches, weil nicht am freien Handeln orientiertes Politikverst ndnis zugeschrieben hat. Ihr zufolge „wendet [...] der Philosophen-K nig die 'Ideen' auf den politischen Bereich mit der gleichen Kompetenz an, mit der der Handwerker Regeln und Ma st be benutzt; er stellt die Polis nicht anders her als der Bildhauer eine Statue"12. Diese Kritik bezieht sich im Besonderen auf die gesetzgeberische T tigkeit, die die Philosophen auszu ben haben. Sie erfolgt nach Platon als „Hineinbildung" der Ideen: „Sie sehen oft auf beides hin, auf das von Natur Gerechte, Sch ne und Besonnene und alles Derartige und auf das, was sie in die Menschen hineinbilden, und werden so durch Vermengung und Mischung das Mannhafte aus ihren Bestrebungen erzeugen" (πυκνά αν έκατέρωσ'άποβλεποιεν, προ? re το φύσει δίκαιον και καλόν και σώφρον και πάντα τα τοιαύτα, και προ? εκείνο αϋ δ ev τοις· άνθρωποι? εμποιοΐεν, 11 12
Vgl. auch Wieland 1982, 287-92. Arendt 1981, 222. Vergleichbar argumentiert schon Popper 1962, bspw. 149.
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ξυμμειγνύντες· re και κεραννύντε? εκ των επιτηδευμάτων το άνδρείκελον - Rep. 501 b). Diese Worte bekr ftigen jedoch, da Ideen keine Muster bilden, denen das Geschaffene am Ende hnlich sehen mu , so da es f r Platon nicht darum zu tun ist, sie bei der Verfassungsgebung einer Stadt „umzusetzen" oder in ihr zu „verwirklichen". Vielmehr ist die Stadt, nicht anders als ein hergestellter Tisch, ein konkretes und zuletzt auch einzigartiges Gebilde, d.h eine Gemeinschaft einzelner Menschen mit unterschiedlichen, politischen und privaten Zielen. Dies zeigt auch die Metapher der Mischung, die nur sinnvoll ist, wenn die beteiligten Momente an sich unterscheidbar sind. Da der Philosoph bei der Handlungsleitung auch auf die Idee der Tugend blickt und nicht nur auf das Tun der Menschen selbst, hei t also nur, da der Strukturzusammenhang der Tugend in ihr gegenw rtig bleiben soll: Das Wissen hilft ihm, sich bei der Verfassungsgebung immer wieder auf die Tugend zu beziehen. Die Verfassungsgebung selber kann jedoch nicht aus Ideen abgeleitet werden, sondern ist nach den gegebenen Bedingungen der Stadt, in Hinsicht auf die jeweils herrschenden Gesetze (τα ένθάδε νόμιμα - Rep. 484 d) vorzunehmen. Arendts Vorwurf, dem zufolge diese Handlungsebene durch die Philosophenherrschaft weggestrichen w rde, f llt somit dahin. Dieser Umstand lie e sich auch so erl utern, da man sagt: Der Philosoph herrscht zwar wegen seines Wissens, doch nicht durch das Wissen selbst. Er herrscht, weil er so geartet ist, da er sich seinerseits vom Wissen leiten l t, nicht jedoch, weil es das Wissen innerhalb des Handelns direkt anzuwenden gilt. Dies zeigt sich auch darin, wie Platon die Herrscherfunktion der Philosophen definiert: Weil sie die F higkeit besitzen, die Ideen als die nicht-verg nglichen Strukturen guten Handelns zu erkennen und diese Erkenntnis berdies bewahren k nnen, sind sie in besonderem Ma bef higt, die Ausrichtung des Handelns in der Stadt gegen ber den verschiedenen Bestrebungen der Menschen zu bewahren (Rep. 484 b f.). Wie bei Herstellungsprozessen hat das Wissen also auch an dieser Stelle eine zweifache Funktion f r die Erwirkung von Best ndigkeit: Es erfa t den Zusammenhang, der das Handeln kontinuierlich tragen soll, und es bleibt kontinuierlich in den Wissenden pr sent. Die Vorrangstellung des Wissens, die die Konzeption der Philosophenherrschaft dokumentiert, bringt die Frage mit sich, ob es nur mithilfe des ausdr cklichen Bezugs auf die Ideen des „Gerechten, Sch nen und Besonnenen" (s.o.) m glich ist, im Sinn der Tugend gut zu handeln. Mit Platon m te man entgegnen: Es ist m glich, aber nicht f r immer, da allein das Wissen die Best ndigkeit der Tugend im Vollzug der Handlungen gew hrt. Nur ein Wissen im strengen Sinn ist
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hinreichend, um auch tugendhaft zu bleiben13. Dies bedeutet, daß man nur als Philosoph oder doch zumindest nur unter der Leitung philosophischen Wissens ein kontinuierlich gutes Leben fuhren kann. Um diesen Umstand jedoch näher zu begründen, gilt es nunmehr, auf den Begriff des Ethos einzugehen. Auch er läßt sich im Hinblick auf die Zeit problematisieren. Die Politeia verwendet den Begriff des Ethos erstmals im Rahmen des Gedankenexperiments der Gründung einer Stadt. Sokrates gelangt dort zur Notwendigkeit, den Berufsstand des Kriegers oder Wächters einzuführen, der die Stadt gegen Feinde verteidigen soll. Dieser Berufsstand fordert, wie jede Tätigkeit, die nach dem Prinzip der Arbeitsteilung nur Bestimmten zuzuordnen ist, eine Dynamis, die hinreicht zu ihrem Gelingen, eine „geeignete Natur" ( - Rep. 374 e). Daß aber erst zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs, und nicht schon bei der Zuteilung der anderen Berufe, die Natur der Handelnden als Ethos bezeichnet wird (Rep. 375 c), hat durchaus seinen Grund: Erst mit den militärischen und damit auch politischen Anforderungen treten die Bedingungen hinzu, in denen das Handeln ethisch qualifizierbar wird. So werden hier zum ersten Mal auch Tugenden angesprochen, und zwar zuerst die Tapferkeit als Verhalten gegenüber Feinden, dann die Besonnenheit als Verhalten gegenüber Mitbürgern und schließlich die Weisheit, mit der Minimalanforderung, Freunde und Feinde zu unterscheiden14. Ethos und Tugend sind also miteinander verbunden, wenn auch nicht bedeutungsgleich: Während die Tugend bestimmte Zustände oder Vollzüge bezeichnet, verweist das Ethos auf die Haltungen oder auch die Temperamente in den Handelnden. Der Tendenz nach kann das Ethos deshalb eher als Vermögen, als Disposition zu den Vollzügen aufgefaßt werden, so z.B. wenn Platon die politischen Verfassungen der Städte aus den Ethosformen der Bürger, ihren , abzuleiten sucht (Rep. 544 d f.). Allerdings kann auch die Tugend, wenn man sie als Eigenschaft begreift, die Funktion eines Vermögens übernehmen. In diesem Sinn sagt Platon, daß die Augen ihre Leistung nur dann erbringen könnten, wenn sie ihre spezifische Tugend besitzen (Rep. 353 b f.). Die Begriffe Haltung oder Temperament zeigen allerdings noch nicht genügend, wie das Ethos selbst beschaffen ist. Ein erster Hinweis darauf liegt in der Verwendungsmöglichkeit, nach der Platon sagen kann, daß ein Mensch mehrere Ethosformen in der Seele trägt (ev re - Rep. 402 d). Ethos kann hier also nicht, wie dies häufig geschieht, mit „Charakter" wiedergegeben werden, denn dies unterstellt eine Einheits- und Persönlichkeitsstruktur, die nicht in dieser Verwendung liegt15. Ein weiterer Hinweis ist dem Umstand zu entnehmen, daß das Ethos zwar im Horizont von ethisch relevantem Handeln disku13
Vgl. Rep. 549 b sowie Gorg. 507 d f. Rep. 375 b f. u. 376 b. 15 Nach Schwartz 1951 ist die Übersetzung mit 'Charakter* für das klassische Griechentum anachronistisch (15f). Ebenso Reiner 1972, Sp. 812. 14
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tiert wird, an sich aber ein neutrales Vermögen meint. Es gleicht hierin dem Begriff der Tugend, der, wie angeführt, auch auf Dinge anzuwenden ist und dabei die in ihnen liegende Funktionstüchtigkeit benennt. So ist das Ethos, wie hier 16 deutlich wurde, Synonym zu ; eine Physis aber meint zunächst nicht mehr als eine Beschaffenheit oder Verfaßtheit der Seele ( oder ?)17. Letztlich wird mit dem Ethos also nur die Weise bezeichnet, in der ein Mensch, zu gewissen Teilen oder auch als ganzer, ist; erst in zweiter Linie prägt es sich als € € , als ein gutes Ethos, oder auch als schlechtes, als (Rep. 400 e f.) aus. Diese neutrale Verwendung geht auf die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks zurück18. So bezeichnete es einerseits den Wohnort, den gewohnten Aufenthalt von Tieren, Pflanzen oder Menschen - auch Platon verwendet es so (Leg. 865 e) -, andererseits die Sitten und Verhaltensweisen eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft. Diese Hinsicht kommt dem Wort vor allem in den Pluralformen zu; im Singular dagegen hat es den hier vorgefundenen Gehalt einer Weise zu sein. Dabei ist es jedoch nicht einmal auf Menschen zu beschränken, sondern kann auf Götter, ja sogar auf Tiere oder Dinge angewendet werden. Dies bezeugt z.B. Platons Vergleich der Krieger mit Hunden (Rep. 375 e). Im übrigen gilt die Neutralität auch für das Verständnis des Aspektes der Gewohnheit oder Gewöhnung, der dem Ethos durch seine Abkunft von eGog beigegeben ist19. Die Gewohnheit meint nicht notwendig eine sittlich strukturierte Lebensführung, sondern zunächst nur ein wiederholtes Tun. Durch diese Dimension des Ethos erklärt sich sein Verhalten in der Zeit. Zeit wird dabei in den beiden hier entwickelten Aspekten relevant, im Kairos als der Zeitigung des Guten und in der Forderung nach Kontinuität im Handelnden selbst. Hinsichtlich des ersteren ist die Funktion des Ethos bereits angedeutet worden: So müssen die Krieger, die die Stadt verteidigen sollen, sowohl tapfer gegenüber Feinden, als auch besonnen gegenüber ihren Mitbürgern sein. Sie müssen also zwei Vermögen besitzen, um das ihnen jeweils aufgetragene Ergon auszuüben. Wie ebenfalls schon dargelegt, gesellt sich diesen als ein weiteres das Vermögen hinzu, Freunde und Feinde voneinander zu unterscheiden, um die beiden anderen Vermögen in den verschiedenen Situationen richtig anwenden zu können. Platon nennt dieses Vermögen philosophisch im Sinn der Weisheitsliebe oder allgemeiner der Lernbegier (Rep. 376 b). Gemäß der Analogie von politischen und handlungstheoretischen Bestimmungen können wir dies mit der Forderung gleichsetzen, das gute und das schlechte Handeln voneinander zu unterscheiden. Was die Ethosformen der Besonnenheit und Tapferkeit betrifft, so sind diese demnach zwar Ver16
Vgl. auch die parallele Verwendung Rep. 492 a und e. Vgl. Rep. 591 b sowie Phil. I I d. 18 Vgl. Liddell/Scott. 19 Zur etymologischen Ableitung vgl. bereits EN 1103 a 17-19.
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mögen guten Handelns, doch in demselben Maß, in dem es sie es ermöglichen, begrenzen sie es auch, da sie nur das ermöglichen können, was ihnen entspricht, und nicht notwendig das, was im Kairos gefordert wird. Es bedarf daher des Wissens, das das Gute als solches erkennt und die anderen Vermögen gleichsam führt20. Damit aber schließen die Bedingungen des Ethos an die Konzeption des Guten an, so wie wir sie zu Anfang schilderten: Auch eine Dynamis zum guten Handeln ist an sich nicht hinreichend, um zu gewähren, daß das Handeln wirklich gut gerät. Was sie erst im vollen Sinn zu einer Dynamis des Guten werden läßt, ergibt sich durch den Hinblick auf die Sache des jeweils vollzogenen Handelns und auf den ihr eigenen Zeithorizont21. Wollte man dagegen sein bestehendes Ethos als genügend erklären, so läge dem eine ähnliche Weise der Selbstaffirmation zugrunde wie in der rhetorisch-sophistischen Reduktion des Guten auf Effizienz. Somit ist nun auch in einem ersten Schritt geklärt, warum es für Platon kein beständig gutes Handeta ohne Wissen geben kann: Erst das Wissen enthebt den Handelnden der Eingebundenheit in seine eigene Natur, die ihn das Gute letztlich nur aus Zufall und nicht aus einem wirklichen Bezug auf es erreichen läßt (Men. 99 d). Hinsichtlich der Forderung nach Kontinuität wird das Problem des Ethos im Übergang zwischen den verschiedenen Verfassungsformen diskutiert, d.h. in der idealtypischen Schilderung der Abfolge von aristokratischen, timokratischen, oligarchischen, demokratischen und schließlich tyrannischen Verfassungen des politischen Lebens. Wie schon gesagt, sieht Platon die Verfassungen als Ausdruck der jeweils zur Herrschaft kommenden Ethosformen in den Bürgern. Aufschlußreich für uns ist der Übergang von der Aristokratie, als der besten, weil schlechthin an der Tugend ausgerichteten Verfassung, zur nächstbesten, der Timokratie, in der nicht mehr das Wissen, sondern die Tapferkeit als oberste Tugend regiert: Dieser Übergang wird von Platon explizit als ein In-Bewegung-Geraten der Stadt verstanden (Rep. 545 d), d.h als Einbruch von Diskontinuität in die bestmögliche Ordnung, die dem Begriff nach kontinuierlich besteht22. Die Bewegung aber kann, nach Platon, einzig durch den herrschenden Teil entstehen - also politisch durch die Wächter, handlungstheoretisch durch das Wissen -, indem dieser in sich selbst uneinig wird; bliebe er dagegen einig, so könnte es keine Veränderungen in der Lebensführung geben (ebd.). Der Grund für diese Uneinigkeit liegt allerdings nicht im Gehalt des Wissens selbst, da dieses, als ein Wissen von Ideen, keinem methodologischen und inhaltlichen Wandel unterliegen kann. Vielmehr liegt er in einer 20
Vgl. auch Rep. 402 c. Auf politischer Ebene zeigt dies auch der Politikos. Weil die Naturen von Tapferkeit und Besonnenheit, wo sie sich auf ihre Eigenheit beschränken, den Kairos des angemessenen Handelns notwendig verfehlen, kann von sich aus keine den Bestand des Staates garantieren (Pol. 307 b-308 a). 22 Vgl. hierzu Rep. 445 e. 21
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naturgegebenen Korrumpierbarkeit, durch die Generationen kommen müssen, die sich nicht mehr so um die richtige Schulung bemühen, wie dies ihre philosophisch interessierten Väter taten (Rep. 546 d). Der Grund liegt also auf der Ebene des Ethos selbst, insofern die lernbegierige Natur, die zum Erwerb von Wissen antreibt und durch die das Wissen als kontinuierliches Verhalten überhaupt erst möglich werden kann, nicht mehr in den Herrschenden besteht. Angesichts dessen könnte freilich gegen die bisher verfolgte Deutung eingewendet werden, daß nicht das Wissen selbst Kontinuität im Handeln stiftet, sondern das Vermögen, das im Ethos liegt, so daß sich die Frage der Handlungsführung nicht zwischen Ethos und Wissen, sondern innerhalb des Ethos selbst entscheiden würde. Dies ist jedoch nur insofern richtig, als es eben eine Dynamis des Wissens geben muß. Da auch die Philosophie, wie jede Tätigkeit im weiteren Sinn der Arbeitsteilung, funktional begründet wird, ist man für Platon dann ein Philosoph, wenn man ein solches Wissen des Beständigen beständig halten kann (Rep. 487 a). Dennoch erhält diese Fähigkeit zum Wissen ihre Bestimmung nur daraus, daß sie Wissen möglich macht, so daß es zwar ihr Schwund ist, der den Anfangsgrund für die Veränderung bedeutet, für alle anderen Ethosformen aber der Verlust des Wissens, der durch diesen Schwund entsteht. Es wird also nicht die Funktion des Wissens für das Handeln abgestritten, sondern dargelegt, daß dieses sich nicht durch sich selbst im Handeln zur Entfaltung bringen kann. Der Verlust des Wissens bedeutet freilich nur den negativen Grund für die Entstehung einer timokratisch orientierten Lebensführung; positiv gesehen entsteht sie dadurch, daß ein Handelnder seinen kriegerischen Grundimpulsen freien Lauf gewährt. Damit aber installiert sich eine andere Lebensform, die ihrerseits auf einem Ethos ruht und in der kriegerischen Disziplin sowie der Hochschätzung der nicht am Gelderwerb ausgerichteten Berufe der aristokratischen durchaus ähnlich bleibt (Rep. 547 d). Freilich eignet ihr nicht deren schlechthinnige Stabilität, da der kriegerische Ruhm durch äußere Bedingungen sowie durch die politischen Verhältnisse eingeschränkt ist, und deshalb nicht immer als erstrebenswertes Handlungsziel erscheint. Es gibt also durchaus die Möglichkeit zu gutem Handeln, aber nicht mehr den Bezug zum Guten selbst. Somit kann aus dieser Verfassung die oligarchische entstehen, in welcher der Besitz als höherwertiger, weil zuverlässiger denn öffentliche Ehren angesehen wird. Dadurch wird nach der Weisheit auch die Tapferkeit als Kriterium des guten Handelns in den Hintergrund gedrängt (Rep. 553 a ff.). Allerdings instauriert sich auch in diesem Fall eine von einem Ethos angeführte Lebensform: Auch die oligarchische Verfassung stellt noch eine Form der Ordnung dar, insofern sie anfangs noch auf Sparsamkeit beruht und die nicht notwendigen Begehrlichkeiten unterdrückt (Rep. 558 c f.). Sie verliert die Tugend also nicht zur Gänze, sondern behält als Reduktionsform eines schlechthin tugendhaften Lebens die Besonnenheit in Hinsicht auf die Lust. Doch auch diese
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muß entfallen, wenn kein Gegengrund in der Form von Wissen oder Bildung in den Seelen angelegt ist, der sich gegen diese Lüste stemmt, was ein demokratisches Verhalten nach sich zieht, das allen, auch den nicht-notwendigen Begehrlichkeiten Freiraum geben will (Rep. 560 b f.)- Allerdings ist es auch dann noch denkbar, daß die Lüste sich in ein gewisses Gleichgewicht ( TL) begeben, wodurch eine ordnungshafte Lebensweise möglich wird. Obwohl der demokratisch gesinnte Mensch dem Hedonismus frönt und die Lust ununterschieden als das Gute setzt (Rep. 561 b f.), führt er durchaus „weder ein niedriges noch gesetzeswidriges Leben" (oirre aveXeuOepov oirre \ - Rep. 572 d); dieses entsteht vielmehr erst, wenn auch die letzte Scham getilgt ist (Rep. 573 b) und bestimmte Lüste zur Entfaltung kommen, die nicht nur nicht-notwendig, sondern ausdrücklich gesetzeswidrig sind (Rep. 571 b). Dann entsteht die Tyrannis, die eine Lebensweise ohne jede Ordnungshaftigkeit entläßt. Diese positive Einschätzung der Ethosformen in der timokratischen, oligarchischen und demokratischen Verfassung unterstreicht noch einmal, daß das Wissen keineswegs notwendig ist, um gut zu handeln. Zwar muß ein aristokratisches, vom Wissen angeleitetes Leben als vollkommen gutes Leben (reXetog ? - Rep. 427 e) gelten, doch dies heißt nicht, daß das Gute nur entstünde, wenn das Wissen beigegeben ist. Dem scheint allerdings zu widersprechen, daß es, Platon nach, nur eine Form der Tugend geben kann, die mit dem vollkommen guten Leben gleichzusetzen ist, während alle anderen Handlungsweisen und Verfassungen notwendig zur Schlechtigkeit gehören (Rep. 445 c). Demnach wären auch die drei hier nachgezeichneten grundsätzlich schlecht. Diese Qualifikation ist allerdings insoweit zu relativieren, als die Schlechtigkeit in sich gestuft ist und in den drei Formen nicht im absoluten Gegensatz zum Guten steht (Rep. 545 a). Keine ist also schon deshalb schlecht, weil sie das Ideal verfehlt, sondern nur insofern, als sie eine Differenz zwischen ihrem Ethos und dem wahren Guten offen läßt. Trotz dieser Positivität des Ethos bleibt jedoch als ein Ergebnis festzuhalten, daß ihm, ohne den Bezug auf die Idee der Tugend, eine Bewegungstendenz innewohnt, die zumindest potentiell zur Tyrannis als der völligen Enthemmung führt. Tyrannis ist dabei in ihrem Bewegungsmodus das Gegenbild zur Kontinuität, nämlich das freie Walten der verschiedenen Lüste und Begierden (Rep. 573 e)23. Die Bewegungslehre, die damit zum Gegenstand der Ethik wird, hat ein ontologisches, bzw. kosmologisches Fundament, das hier kurz erläutert werden muß. Es nimmt seinen Ausgang vom Begriff der Seele, die dem Kosmos wie dem Einzelmenschen als Prinzip des Lebens innewohnt. Diese Stellung als Prinzip des Lebens wird in den Nomoi eben mithilfe einer Lehre der Bewegungsformen expliziert: Da Bewegung stets durch etwas angestoßen werden muß, ist als Anfang und als erste 23
Vgl. auch Leg. 788 b f. u. 949 e f. sowie Nussbaum 1986,158ff.
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unter allen Weisen der Bewegung eine Selbstbewegung (ή αύτη έαυτήν κινούσα) anzusetzen, die Bewegung berhaupt erst generiert (Leg. 894 e ff.). Diese Selbstbewegung ist nichts anderes als Leben, so wie auch die Seele Leben ist (Leg. 895 c); woraus folgt, da die Seele und das Selbstbewegende als eines anzusehen sind. „Seele" ist nichts anderes als der Name, der der Selbstbewegung zugesprochen werden mu (Leg. 895 e f.). Hierbei ist nun entscheidend, da die Seele, als das selbstbewegende Prinzip des Lebens, nicht auf eine Weise der Bewegung festzulegen ist, sondern das Prinzip aller m glichen Bewegungen in sich enth lt. Sie ist also auch nicht auf die Tugend oder andere Ordnungshaftigkeit fixiert, sondern mu als „Ursache des Guten und des Schlechten, des Sch nen und des H lichen, des Gerechten und des Ungerechten und alles Entgegengesetzten" (Leg. 896 d) gelten. Deshalb ist sie auf das Gute, Sch ne und Gerechte eigens auszurichten, wenn sie sich in ihrem Sinn bewegen soll: Auch als Seele, die den Kosmos leitet, mu sie, wie ein Handelnder, den Nous hinzuziehen (προσλαμβάνε ι v), um das Ihrige „richtig und gl cklich" verrichten zu k nnen (Leg. 897 b). Es bedarf also auch auf dieser Ebene eines zus tzlichen Prinzips, das den Bezug zum Guten herzustellen hat24. Der Hinweis auf die Bewegungslehre ist insofern jedoch auch ethisch relevant, als von ihm her die Erziehungskonzeption der Politeia aufzuschl sseln ist Auf sie ist zum Abschlu ebenfalls kurz zu verweisen. So will Platon die Nachahmung des Schlechten durch die Kunst deshalb unterbinden, damit die Jugendlichen „nicht aus der Nachahmung das entsprechende Sein erhalten" (ίνα μη εκ της μιμήσεως του είναι άπολαύσωσιν - Rep. 395 c f.). Ontologisch gr ndet dies eben in dem Umstand, da die Seele, als Prinzip der Selbstbewegung, nicht von der Bewegung abzutrennen ist, die ein Lebender vollzieht; sie ist vielmehr die Bewegung selbst. Deshalb nimmt sie die Form all dessen an, mit dem er umgeht oder das er tut. Auf die Frage nach dem Ethos bertragen hei t dies, da das Ethos durch die Handlungen beeinflu t wird, die man vollzieht, bzw. da es allererst durch sie entsteht. Man hat ein Ethos nur durch und in der Bewegung des Handelns selbst25. Wir haben diese Bedingungen in der Diskussion der Verfassungsformen tendenziell mehr von ihrer negativen Seite her geschildert, n mlich als Grund f r die Bewegung weg von der Kontinuit t einer durch das Wissen angef hrten Lebensweise. Wie jedoch schon der Umstand zeigte, da das Wissen selbst auf einem Ethos ruht, kann sich das Ethos auch zu einer solchen Kontinuit t /zubewegen, d.h. kann von sich aus die Bewegungsform des guten Lebens bernehmen. Erziehung bleibt deshalb sowohl n tig als auch m glich, um die richtige Bewegung zu erhalten oder erst in Gang zu bringen. Dies greift, in ontologisch vertiefter Hinsicht, das 24
Dies zeigt auch Tim. 29 a u. 30 a f. Vgl. dagegen Kauffinann (1993, 186), der Spontaneit t und Vernunft der Seele quasi-kantisch identifiziert. 25 Vgl. Rep. 424 a u. 518df.
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4.3. Die Struktur des guten Lebens
Moment der Übung wieder auf, denn die Erziehung ist im Wesentlichen Wiederholung der geforderten Bewegungsform, solang bis diese mit dem Denken und Empfinden selbst verschmilzt (Rep. 378 d f.). Daß Platon dabei hinsichtlich der Jugendlichen den Akzent auf die bloße Übung und nicht auch auf die Belehrung legt (ebd.), verdankt sich also weniger dem Wunsch nach Beherrschung ihrer Seelen, als der Notwendigkeit, die Tugend mit der Selbstbewegung dieser Seelen zu verschmelzen. Es gilt, ein Ethos zu erzeugen, daß zu seiner Wirkung nicht gefordert werden muß26. Dabei bleibt die Konzeption im übrigen auch dem Prinzip der Arbeitsteilung treu, wenn auch auf sekundärer Ebene: Die Übung soll gleichsam nachholen, daß ein Handelnder seiner Natur nach für das Ergon schöner oder guter Handlungen geeignet ist. Sie versucht zwei Pole zusammenzuspannen, die freie Selbstbewegung des Ethos und ein der Sache nach Gutes, von dem zu wollen ist, daß man es von seinem Ethos her erstrebt.
4.3. Die Struktur des guten Lebens Der vorige Abschnitt hatte den Begriff des Guten nur formal, in seiner Stellung im Vollzug des Handelns, dargelegt; hier dagegen gilt es, ihn insoweit inhaltlich zu füllen, als gezeigt wird, was ein gutes Leben ist. Dabei werden wir uns zunächst weiter an die Politeia halten, die die Frage nach dem guten Leben unter dem Begriff der Tugend diskutiert. Danach soll zur Ergänzung auch die onto logische Beschreibungsweise aus dem Philebos herangezogen werden. In der Untersuchung zum Begriff des Ethos in der Politeia hatten wir bisher die Tugenden der Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit erwähnt. Nunmehr wird jedoch vor allem die Gerechtigkeit im Zentrum stehen. Dies erklärt sich durch die schon gestreifte Definition der Tugend, der zufolge sie dasjenige Vermögen eines Seienden bezeichnet, mit dem es die ihm eigene Tätigkeit bestmöglich leisten kann. Wenn dieses Seiende der Mensch ist und die angestrebte Tätigkeit das schlechthin gute Leben, dann ist zur Führung dieses Lebens eine Tugend nötig, die nicht, wie die Weisheit, nur auf Teile, sondern auf das ganze Leben zielt. Diese Tugend ist die Gerechtigkeit, woraus folgt, daß derjenige, der gerecht lebt, sein Leben in der für ihn bestmöglichen Weise führt, d.h. schlechterdings gut lebt (eii oder \ - Rep. 353 d f.). Die Gerechtigkeit wird deshalb nicht nur wegen der Ermöglichung des Guten, sondern selbst als Gutes angestrebt, als das größte Gut, wie Platon seinen Bruder Adeimatos sagen läßt (Rep. 366 e)27: Sie ist dasjenige Vermögen, dessen Vollzug das gute Leben ist. Um die Gerechtigkeit zu explizieren, gilt es jedoch, die Beschaffenheit der Seele darzulegen, insofern in ihr der Inbegriff der für das 26 27
Vgl. auch Leg. 643 b f. Vgl. zu dieser doppelten Funktion auch Rep. 358 a.
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Leben eines Menschen relevanten Kr fte liegt. Gerecht wird man, in Platons Terminologie, wenn die Seele sich gerecht verh lt. Diese Anforderung stellt Sokrates, zumindest seinen u erungen nach, vor ein nicht unbetr chtliches methodisches Problem, aus dem sich r ckwirkend auch die Parallelisierung zwischen Stadt und Einzelnem erkl rt. Da die Seele, analog zu den drei Einzeltugenden der Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit, drei Teile hat - einen denkenden (το λογιστι,κόν), einen willensartigen (το θυμοβιδές) und einen begehrenden (το emθυμητικόν)28 - und dennoch eine Seele bleibt, ist sich Sokrates nicht klar dar ber, was in diesen Teilen wirkt: Sind sie eigenst ndige Funktionen in der Seele oder wirkt die Seele jeweils „ganz" in ihnen allen (Rep. 436 a f.)? Diese Schwierigkeit ist selbstverst ndlich nicht empirischer, sondern begrifflicher Natur, insofern es darum geht, die Einheit des Begriffs der Seele mit der Vielheit der in ihr enthaltenen Momente zu vereinen. Zur L sung verweist er auf einen Weg, von dem er aber sagt, da er ihn in dieser Unterhaltung nicht beschreiten k nne (Rep. 435 d). Dem geschilderten Problem zufolge w re dies die Dialektik, mit deren Hilfe eine solche Weise der Bestimmung m glich wird29. F r uns ist diese L sung jedoch nicht entscheidend, da es uns weder um die Dialektik noch um die Seelenlehre im Besonderen geht. Im Gegenteil dient uns gerade die Beschreibungsweise, mit der Sokrates sich behilft. Er deutet n mlich die verschiedenen begrifflichen Momente in der Seele, ihre είδη, als Verhaltensweisen (ήθη - Rep. 435 e), oder auch als Praxis (Rep. 443 d), so da auch die Seelent tigkeit mit der Gerechtigkeit in einer Stadt vergleichbar wird. Sie kann also ebenfalls in handlungstheoretischen Begriffen nachgezeichnet werden. Dies erlaubt uns, unser diesbez gliches Interesse weiter zu verfolgen. Allerdings ist die Gerechtigkeit f r Sokrates auch in dieser Form nicht unmittelbar zu erkennen. Er n hert sich ihr deshalb mithilfe eines Ausschlu verfahrens an: Unter der Voraussetzung, da sich der Begriff einer guten Stadt durch die Existenz der Tugenden der Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit vollst ndig erl utern l t, untersucht er zun chst die drei erstgenannten, um so eine Tugend bestimmen zu k nnen, die zu ihnen noch hinzuzusetzen ist und die mit der Gerechtigkeit als der noch brigen identisch sein mu (Rep. 427 e f.). Im Gegensatz zu den gerade dargelegten Schwierigkeiten gr ndet dieses Verfahren jedoch weniger in einer mangelnden methodischen Zur stung Sokrates', als in der Sache selbst. Es ist deshalb hilfreich, seine wesentlichen Schritte mitzugehen. Dabei erlangen wir im brigen auch ein vertieftes Bild der anderen Tugenden. Die gew hlte handlungstheoretische Beschreibungsweise orientiert sich, allgemein gesehen, an zwei Fragen: Zum einen an der Frage nach dem Wie der Tugend (tos), d.h. nach dem von ihr geleisteten Vollzug, zum anderen an der nach dem 28
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Vgl. Rep. 439 d u. 441 a. Vgl. Phil. 16 c f. u. Phdr. 265 d ff. Eine entsprechende Bestimmung der Seele gibt Tim. 35 a.
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Wodurch ( ), d.h. nach dem Vemögen, welches den Vollzug bewirkt30. Sie beginnt mit der Untersuchung der Weisheit. Ihrem Wie zufolge äußert diese sich auf der Ebene der Stadt als Wohlberatenheit ( - Rep. 428 b). Die Wohlberatenheit ist jedoch kein Wissen über ein bestimmtes Sachgebiet, das in der Stadt nur vorkommt, sondern „über sie als ganze ( ), wie sie mit sich und mit den anderen Städten am besten umgeht" (Rep. 428 d). Der letzte Teil dieser Definition ist unproblematisch und entspricht dem bisher Gezeigten. Weisheit ist demnach ein Vermögen, durch das man um das Gute weiß. Dagegen ist der erste Teil nicht selbstverständlich, denn es ist nicht klar, inwiefern sich die Weisheit auf die Ganzheit eines Einzelnen bezieht. Das heißt, es ist nicht klar, wie hierbei der Begriff der Ganzheit aufzufassen ist. Auf den ersten Blick scheint eine gleichsam existentielle Deutung nahezuliegen. Insofern die Weisheit auf die Lebensführung zielt, ließe sich demnach sagen, daß sie grundsätzliche Lebensentscheidungen betrifft und deshalb je die Ganzheit eines Lebens in den Blick bekommen muß. Eine solche Deutung setzt jedoch einen Begriff des Individuums, dem diese Entscheidungen zuzuschreiben sind, voraus. Dagegen steht für Platon nicht die Individualität, sondern die Qualität des guten Lebens im Mittelpunkt, so daß er die Ganzheit nicht auf den jeweils Einzelnen bezieht. Parallel dazu ist eine holistische Deutung des Begriffes abzulehnen. Ihr zufolge könnte man sagen, daß bei jeder einzelnen Entscheidung oder Überlegung die Gesamtheit des betroffenen Lebens berücksichtigt wird. Dieser Gedanke ist aber schon von sich her unplausibel, da in den einzelnen Situationen niemals das gesamte Leben überblickt und einbezogen werden kann. Um zu einer angemessenen Deutung zu gelangen, ist daher zu sehen, wie Platon Weisheit auf der Ebene des Einzelnen definiert: Sie ist hier ein Wissen über das, was den einzelnen Seelenteilen sowie dem Ganzen, das sie bilden, zuträglich ist (Rep. 442 c). Die Ganzheit darf also weder existentiell noch holistisch verstanden werden, sondern kommt allein im Hinblick auf die innere Struktur der Seele in den Blick. So liegen die drei Seelenteile nicht nur einfach in ihr vor, sondern setzen sie zusammen, was bedeutet, daß die Seele gleichbedeutend mit der Relation der Teile zueinander ist. In der Ganzheit geht es Platon deshalb um das angemessene Verhältnis, d.h. um die Stellung, die ein Teil im Vergleich zu allen anderen haben darf. Damit ist die Funktion der Weisheit freilich noch nicht hinreichend beschrieben, was sich in der Frage nach ihrem Wodurch offenbart. Das Wodurch der Weisheit, als der Wohlberatenheit, liegt auf der Ebene der Stadt in den Herrschern, die philosophisch gebildet sind (Rep. 428 d). An dieser Bestimmung ist entscheidend, daß Platon keine inhaltliche Begründung der Weisheit gibt und sagt, welcher Form des Wissens sich die Wohlberatenheit verdankt. Vielmehr begründet er ihre 30
Vgl. als Beispiel Rep. 441 c f.
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Funktion für die Ganzheit einer Stadt eben damit, daß sie über diese Ganzheit herrschen kann. Sie ist, wie es auf der Ebene des Einzelnen heißt, das Vermögen, das für die gesamte Seele Vorsorge trage (Rep. 441 e). So gesehen zielt er also darauf, daß die Weisheit kein partielles Vermögen bedeutet; keine Tugend, deren Leistung man nach den ihr immanenten Kriterien beschreiben könnte, so wie man die Tugend der Augen allein durch das Sehen explizieren kann. Sie wird vielmehr Tugend durch die Fähigkeit, die Prinzipien des Ganzen erfassen zu können und auch die anderen Teile, das Wollensartige und die Triebe, auf ihre Ziele und Natur zu reflektieren. Etwas verkürzt gesprochen, ist sie das Symptom der Fähigkeit, nach der sich der Mensch in allen seinen Tätigkeiten auf das Gute hin verstehen kann. In ethischer Beziehung ist jedoch auch dies noch nicht genügend, denn wenn Platon sagt, daß dem Denkvermögen die Herrschaft gebühre ( apyeiv - ebd.), so liegt das Moment der Herrschaft dabei nicht allein im Wissen, was für alle anderen Teile gut ist, sondern auch in einer realen Dominanz über sie. Wie zuvor schon am Ideenwissen dargelegt, muß die Weisheit als ein Wissen selbst zur Geltung kommen, d.h. muß sie das Verhältnis, welches sie erfaßt, den einzelnen Teilen vorgeben können. Sie ist ein Wissen um die angemessene Herrschaft, das zur Herrschaft kommen muß. Dabei wird die Notwendigkeit der Herrschaft selber nicht begründet, was jedoch in Anbetracht der Unterschiedlichkeit der Seelenteile letztlich nicht erfolgen muß: Da sich die Teile, vor allem was Vernunft und Begierden anbelangt, direkt gegenstrebig zueinander stellen, wäre es nicht denkbar, daß sie sich jeweils im gleichen Maß entfalten können (Rep. 437 c). Wo nicht die Weisheit herrscht, herrscht notwendig ein anderer Teil über sie31. Damit ist Herrschaft derjenige Modus, in dem sich die Seelenteile zueinander verhalten und durch den sich entscheidet, welchen Zustand die Seele als Ganzes innehat. Hierdurch zeigt sich, inwiefern wir sagen konnten, daß Platon ein vertieftes Bild der Tugenden entwirft. Zwar beschreibt er sie im Rahmen von Vollzügen, doch sind diese nicht die Handlungen, in denen sie sich offenbaren, sondern die Funktionen eines Selbstverhälmisses, einer „ · " (443 d), die der Einzelne in sich vollfuhrt. Man ist also nicht deshalb weise, weil man sich ein Wissen über das menschliche Handeln oder über das Gute erworben hat, sondern weil man weiß, wie man an sich selbst gut lebt. Dabei ist das erstere nicht ausgeschlossen, wie die Definition der Wohlberatenheit ergab, nach der man sich im Handeln auch hi Hinsicht auf die Anderen richtig verhält, d.h. nach der man ein Wissen über die Bedingungen des Handelns selbst erlangt. Dennoch gehen diese Handlungen, bzw. dieses Handlungswissen ihrerseits von einem Selbstverhältnis aus32. Im übrigen 31
Vgl. Rep. 442 b f., 444 b u. 590 c. Das Selbstverhältnis ist für Platon auch der hinreichende Grund, um gute Handlungen zu vollziehen: Ist man gerecht, so handelt man auch gerecht, weil ein solches Handeln die bestehende Tugend auf-
32
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darf die schematische Beschreibungsweise, der zufolge die Seele ein Ganzes bildet, dessen Teile sich im Modus der Herrschaft zueinander verhalten, in Hinsicht auf den Einzelnen nicht allzu w rtlich verstanden werden, da sie sich vor allem der Analogie zum Modell der Stadt verdankt. In der Innenperspektive sind die Teile nicht als Entit ten oder Schichten, sondern als Verhaltensweisen mit jeweils verschiedenen Qualit ten oder Zielen unterschieden (Rep. 435 b f.). Auch wird direkt keine Herrschaft zwischen ihnen offenbar; vielmehr mu man sagen, da jeweils eine der Verhaltensweisen im Vergleich zu allen anderen dominiert und deshalb der Wirkung nach ber sie herrscht. Platons Forderung, nach der die Weisheit herrschen soll, hei t damit nur, da in jeder einzelnen Bet tigung, ob sie nun das Willensartige oder eine der verschiedenen Arten der Begierden involviert, die F higkeit zur berlegung als ein ausschlaggebendes Moment bestehen k nnen soll. Damit greift er im brigen auch ein Moment der Seelenlehre auf, das wir angesichts des Ethos schilderten; jenes n mlich, dem zufolge eine Seele mit ihrer jeweiligen Bewegung gleichzusetzen ist. In Hinsicht auf das Selbst l t sich dies konkreter so beschreiben, da man sagt, es werde stets durch das Verhalten charakterisiert, das in ihm dominiert. Man bleibt also nicht gerecht, wenn man in sich das zur Wirkung kommen l t, was dem Gerecht-Sein widerspricht. Hinter der Seele liegt kein Subjekt, das unber hrt von ihren Vollz gen bliebe. Diese weitergehende Frage kann hier allerdings nur angedeutet werden. Als zweite Tugend wkd die Tapferkeit erw hnt. Ihrem Wie zufolge ist sie, sowohl auf der Ebene der Stadt als auch auf der des Einzelnen, eine Dynamis, welche „stets die Meinung ber das, was man f rchten soll, aufrechterh lt" (δια -παντός σώσει την περί των δεινών δόξαν)33. Ihr Wodurch dagegen liegt, was die Stadt betrifft, in den Kriegern, was den Einzelnen betrifft, in dem willensartigen Verm gen. Dieses ist einerseits von den Begierden unterschieden, da es sich gegen diese wenden und mit der Vernunft zusammenstimmen kann (Rep. 440 a f.), andererseits auch von der Vernunft, da es zugleich in Menschen vorkommt, denen diese nicht zu eigen ist (Rep. 441 a). Dies bedeutet, da auch Tapferkeit aus einem Selbstverh ltnis abgleitet wird, da sie die Intentionen des Logistiken gegen die eigene Tendenz des Handelnden, von ihnen abzuweichen, beibehalten kann (Rep. 429 c f.). berdies erweist sich hierdurch, da die Herrschaft des Logistiken nicht oder wenigstens nicht nur als u ere Einwirkung eines Seelenteiles auf die anderen verstanden werden darf: Dem Vern nftigen steht nicht ein g nzlich Unvern nftiges entgegen, vielmehr ist es m glich, da die Seele seiner Herrschaft auch von sich selbst her folgt (Rep. 441 e). Diese Angleichung der Seelenteile tritt vor allem aber durch die dritte Tugend, die Besonnenheit, hervor. rechterh lt und mitkonstituiert (σώζη, τε και συναπεργάζηται - Rep. 443 e u. 442 e ff.). Zur Frage der logischen Notwendigkeit eines solchen Bedingungsverh ltnisses s. Fu note 9. 33 Rep. 429 b f. u. 442 c.
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Das Wie der Besonnenheit f hrt dabei wiederum auf das dialektische Problem der verschiedenen Momente in der Seele. So h lt sich Sokrates bei der Bestimmung zun chst an die, nach seinen Worten, gebr uchliche Definition, der zufolge die Besonnenheit „eine gewisse Ordnung" und „Enthaltung von gewissen L sten und Begierden" sei, sowie ein St rker-Sein als man selbst, d.h. eine Form der Selbstbeherrschung, von der er aber nicht wisse, wie sie m glich sei (κόσμος· πού τις [...] εστίν καΐ ηδονών τίνων και επιθυμιών εγκράτεια, ως φασι κρείττω δη αύτοΰ λέγοντες ουκ οΐδ' οντινα τρόπον - Rep. 430 e). Seine Aporie ist, wie zuvor schon, da die Rede von der Selbstbeherrschung mehrere Teile voraussetzt, die doch zu demselben Seienden geh ren, so da jemand, der st rker ist als er selbst, zugleich schw cher ist als er selbst, was den Satz vom Widerspruch verletzt. Er l st diese Aporie, indem er nicht verschiedene Teile, sondern Wertigkeiten in der Seele annimmt. Da man st rker sei als man selbst, hei t dann, da das Bessere der Seele das Schlechtere in ihr beherrsche, w hrend man im umgekehrten Fall schw cher w re als man selbst (Rep. 431 a f.). Diese Bestimmung ist jedoch nicht nur ein Notbehelf, sondern liegt dem Sinn des Begriffes letztlich n her als die blo formale Rede von den Teilen: Auch wenn das Wort als solches in der Tat nur eine formale Bedeutung hat, verwendet man es doch, wie Sokrates erkennt, im Sinne einer sittlich strukturierten Haltung. Formal gesehen, w re n mlich auch die Herrschaft des Schlechteren eine M glichkeit der Selbstbeherrschung. Was dagegen das Wodurch der Besonnenheit betrifft, so mu Sokrates erweisen, inwiefern in der vorgestellten Stadt in der Tat das Bessere ber das Schlechtere herrscht. Da in ihr jedoch die philosophisch Gebildeten herrschen, herrschen sowohl der Vernunft analoge, d.h. „einfache" und „m ige" L ste, als auch solche, die durch die Vernunft geleitet werden, w hrend die vielgestaltigen und ungehemmten L ste in den unteren, ungebildeten Schichten nicht zur Herrschaft kommen k nnen (Rep. 431 c). Die Stadt ist also, geht man von der Wertigkeit der Teile aus, dadurch besonnen, da die Vernunft und das ihr Gleichgeartete herrscht. Freilich gilt es, die Rede von einer Herrschaft der Teile untereinander auch insoweit zu modifizieren, als die Besonnenheit, zumindest dem Begriff nach, nicht im Vollzug der Herrschaft selbst bestehen kann. Ein Mensch kann nicht als besonnen bezeichnet werden, wenn er best ndig gegen seine eigenen Begierden k mpfen mu 34. Statt von Herrschaft als konkreter Einwirkung des Besseren auf das Schlechtere mu vielmehr resultativ von einem Beherrscht-Sein des Schlechteren ausgegangen werden k nnen. Besonnen ist demnach jemand, in dem das Bessere dominierend hervor-, bzw. das Schlechtere sich unterordnend zur cktritt, ohne da dies auf einem jedesmaligen Akt der berwindung des Schlechteren beruht. In politischen Begriffen eignet der Besonnenheit als Herrschaft so gesehen ein 34
Vgl. Leg. 644 b: Gut ist es, sich beherrschen zu k nnen.
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konsensuelles Element, da „ bereinstimmung" (ξυμφωνία) und „Einm tigkeit" (ομόνοια - Rep. 432 a) ber die Zuteilung der Herrschaft an die Besseren besteht. Dies aber legt es nahe, statt des Begriffs der Herrschaft den der Regierung zu verwenden, insofern mit ihm eine institutionell anerkannte Herrschaft bezeichnet wird. Auch in Hinsicht auf den Einzelnen w re dann nicht mehr von einer Selbstbeherrschung auszugehen, sondern spezifischer von einer Selbstregierung auf der Basis eines Einklangs (αρμονία - 431 e) zwischen allen Seelenteilen; wohingegen Selbstbeherrschung auch als Selbstgewalt verstanden werden k nnte, d.h. als ein Akt, der nicht ohne Zwang geschieht. Diese Unterscheidung, die im folgenden jedoch nicht streng terminologisch beibehalten werden soll, da sie an die Grenzen des Sprachgebrauchs st t, l t sich auch anhand des Nietzscheschen Kriteriums der Macht beschreiben: Die Selbstregierung w re demnach als ein Ausdruck gen gender Macht zu verstehen, in der etwas durch sich selbst zur Geltung kommt und das andere nur beihergehend, nicht jedoch prim r verdr ngt; Selbstgewalt dagegen als ein Ausdruck ungen gender Macht, die erst das andere verdr ngen mu , wenn sie zur Geltung kommen will. Gleichzeitig kann von hier aus das Verh ltnis zwischen Weisheit und Besonnenheit erl utert werden. W hrend die Vernunft das Verm gen ist, das herrschen kann und deshalb herrschen soll, ist die Besonnenheit dasjenige, durch welches sich die Seele gegen ber den Begierden so verh lt, da die Vernunft tats chlich herrschen kann (Rep. 442 c f.). Sie richtet die Seele allererst so ein, da sie sich von der Vernunft regieren l t35. Dieses Erm glichungsverh ltnis zeigte sich in allgemeinerer Beziehung schon im vorhergehenden Kapitel durch den Umstand, da das Wissen selbst auf einem Ethos ruht. Nach dieser Schilderung der drei partiellen Tugenden kann die Gerechtigkeit als Tugend der gesamten Seele nachgezeichnet werden. Wie bei der Besonnenheit bernimmt Sokrates die Beschreibung ihres Wies zun chst aus dem allgemeinen Vorverst ndnis. Diesem zufolge besteht Gerechtigkeit darin, „das Seinige zu tun und keine Vieltuerei zu betreiben" (το τα αύτοϋ ττράττειν κα' μη πολυπραγμονβΐν δικαιοσύνη εστί - Rep. 433 a). Da diese Bestimmung jedoch auch f r das gesuchte Selbstverh ltnis in der Seele gilt, begr ndet er mithilfe des zu Anfang dargelegten Ausschlu verfahrens. Demnach fehlt der Seele noch ein Verm gen, das den Einzeltugenden „insgesamt die M glichkeit gew hrt, zu entstehen und, wenn sie entstanden sind, sich zu erhalten, solange es selbst vorhanden ist" (ττάσιν εκείνοι? την δύναμιν παρεσχεν ώστ€ έγγενεσθαι., και εγγενομένοι? γε σωτηρίαν παρέχειν, εωσπερ αν ένή Rep. 433 a f.). j5
Vgl. hierzu Platons falsche Etymologie, der zufolge σωφροσύνη als Aufrechterhaltung (σωτηρία) der Vernunft (φρόνηση) verstanden werden kann (Kra. 411 e f.). Auf diese Etymologie greift auch Aristoteles zur ck (EN 1140 b 12f).
4.3. Die Struktur des guten Lebens
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Die Wiedergabe des griechischen Ausdrucks · mit dem der Möglichkeit und nicht, wie man erwarten könnte, mit dem des Vermögens, ergibt sich hierbei aus dem Umstand, daß letzterer eine Tautologie in Platons Text bedeuten würde: Da die Tugenden an sich genommen schon Vermögen sind, kann ihnen die Gerechtigkeit nicht ein Vermögen geben, zu entstehen, denn dies hieße, daß sie ein Vermögen zum Vermögen schüfe. So ist die Tapferkeit an sich schon das Vermögen, tapfer zu sein, und bedarf, sofern sie nur gegeben ist, keines zusätzlichen Grundes zur Erwirkung des ihr entsprechenden Vollzugs. Daß die Gerechtigkeit ein jedes das Seinige verrichten läßt, heißt also nur, daß sie die Tugenden in dem ihnen gebührenden Maß die ihnen eigenen Handlungsweisen verrichten läßt. Der Bezugspunkt für das Gebührende ergibt sich dabei aus der Qualifikation zum Herrschen. So obliegt es dem Vernünftigen zu herrschen, dem Willensartigen ihm zu folgen und den Begierden, beherrscht zu werden (Rep. 441 e f.). Ein Einzelner, bzw. eine Stadt ist folglich dann gerecht, wenn er wohlberaten ist im Sinn der Weisheit, das Gute als sein Handlungsziel beibehält im Sinn der Tapferkeit und sich ohne jedesmalige Gewaltanwendung selbst regiert im Sinn der Besonnenheit (Rep. 442 b ff.). Freilich wird durch diese Formulierung noch nicht klar, was die Gerechtigkeit als eigene Tugend ist. Im Gegenteil, geht man davon aus, daß die Bestimmung, das Seinige zu tun, den angemessenen Vollzug von Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit bedeutet, dann scheint es sogar, als stelle sie eine unzulässige Verdopplung dieser Tugenden dar: Es scheint, als hypostasiere man das Gefüge der partiellen Tugenden, wenn man ihre Dreiheit als Attribute einer vierten und sie übergreifenden versteht. Welche Funktion hat also die Gerechtigkeit, bzw. ihr Vermögen, dem als einzigem kein Wodurch im Sinne eines eigenen Seelenteils entspricht (Rep. 441 d)? Wir können uns dem nähern, wenn wir von der Frage Sokrates' ausgehen, was der Stadt vorzüglich dazu verhelfe, ihre Gutheit zu erlangen, die Gerechtigkeit oder eine der anderen Tugenden (Rep. 433 c f.). Dabei zeigt schon die Frage, daß nur der Gerechtigkeit dieses Vermögen zukommen kann: In seiner Ganzheit gut wird ein Einzelner, bzw. eine Stadt erst dadurch, daß jeder seiner Teile der ihm gebührenden Funktion in dieser Ganzheit nach entfaltet wird. Diese Einordnung oder Verhältnisbestimmung kann jedoch keiner der Teile von sich aus leisten: Zwar erwirken sie jeweils eine Form des guten Handelns und damit immer auch eine Gutheit des Ganzen selbst, doch sie erwirken diese Gutheit nur im Rahmen des Vermögens, das sie sind. Die Weisheit bspw. hat ein zwar ein Wissen um das Gute und überblickt die anderen Seelenteile. Überdies ist sie sich bewußt, daß ihr die Herrschaft im ganzen gebührt. Doch all dies geschieht im Modus des Logistikon, der nur eine Verhaltensweise neben anderen ist: Der Einzelne kann durch ihn gut handeln im Sinn der Weisheit, aber eben nur im Sinn der Weisheit und nicht in Beziehung auf die anderen Tugenden. Wie zuvor schon auf der Ebene des Ethos,
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4.3. Die Struktur des guten Lebens
zeigt sich damit auch auf der der Tugend, daß jedes einzelne Vermögen auf das ihm Entsprechende begrenzt bleibt und nicht die Vollständigkeit eines in jeder Hinsicht Guten gewährt. Auf die Frage nach dem guten Leben angewendet heißt dies: Dieses Leben ist nicht nur die Summe aller einzelnen Vermögen für das Gute, sondern fordert eine Haltung, der es um die Gutheit seiner Führung selber geht. Es bedarf einer Tugend, die nicht mehr partiell und in gewissem Sinn auch gegenständlich in bestimmten Seelenteilen angesiedelt ist, sondern übergreifend und damit ungegenständlich ihr Verhältnis im ganzen bestimmt. Auch auf dieser Ebene stellt sich also das Problem der Selbstaffimiation: Würde sich der Einzelne darauf beschränken, weise, tapfer und besonnen sein zu können, so beschränkte er sich auf das, was er ist und würde nicht mehr auf das Gute selbst bezogen sein. In Hinsicht darauf ist es jedoch erst dann gut, weise zu sein, wenn die Weisheit erforderlich wird, nicht jedoch, wenn diese dispositionell besteht. Damit ist nun auch der Verdacht der Hypostasierung widerlegt. Er konnte sowieso nur deshalb möglich werden, weil wir zunächst die Tugenden der Teile in der Ganzheit darzustellen suchten und erst dann die Tugend der Ganzheit selbst. Zwar bestand dafür auch ein sachlicher Grund, da zunächst geschildert werden sollte, daß die Einzeltugenden die Ganzheit inhaltlich erschöpfen, um dann die Gerechtigkeit als nicht mehr gegenständlich angelegte, sondern strukturelle Tugend zu beschreiben. Das Interesse am Guten bedingt es jedoch, daß die Gerechtigkeit nicht die vierte Tugend bildet, die erst hinzukommt, wenn die anderen gegeben sind. Vielmehr ist sie die erste, da es einem Einzelnen, zumindest idealiter, zunächst um das Gute selbst zu tun sein muß, von dem her alle Einzeltugenden erst ihren Platz erhalten: Er will gerecht sein, und ist dann notwendig weise, tapfer und besonnen36. Platons Redeweise, demzufolge die Gerechtigkeit den Tugenden die Möglichkeit gewährt, zu entstehen, ist im Licht dieser logischen Vorgängigkeit zu sehen. Wir können nunmehr auch die Forderung, daß die Weisheit herrschen solle, besser verstehen. Sie besagt nach dem hier Ausgeführten nicht, daß das Leben einzig dadurch schon gelänge, daß die Weisheit in jeder Handlung zur Geltung kommt. Vielmehr ist das Leben ihr insoweit vorgeordnet, als sie erst in ihm als dominierendes Moment zur Geltung kommen kann. Sie ist dominierend innerhalb eines Zusammenhangs, in den sie ihrerseits gehört und den sie durch ihr Tun nicht ausschöpft und bestimmt. So stellt sie zwar das Letztziel allen Handelns dar, jedoch nur insofern, als in ihr das letzte Ziel begründet liegt, das man in der intentio recto wollen kann: Man kann vernünftig sein wollen, während der Zusammenhang des guten Lebens stets nur als Ergebnis aller angemessen Vollzüge anzustreben ist. In diesem Sinn ist die Gerechtigkeit von allen Tugenden am meisten der Besonnenheit als einer Harmonie zwischen Teilen gleich, was Platon dadurch ausdrückt, 36
So auch Pfannkuche 1988, 217.
4.4. Nachtrag: Die Konzeption des Philebos
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daß er in der resümierenden Betrachtung der Gerechtigkeit noch einmal auf die Eigenschaften der Besonnenheit, wie Selbstregierung, Ordnung, Harmonie, sowie auf diese selbst zu sprechen kommt (Rep. 443 d f.). Dennoch ist auch die Besonnenheit insofern von ihr unterschieden, als sie die Harmonie nur aus der Perspektive der durch sie zur Freundschaft kommenden Teile beschreibt, d.h. nur aus der Perspektive des Verhältnisses zwischen ihnen (Rep. 442 c). Da man dieses Verhältnis aber bewirken kann, kann man auch Besonnenheit noch wollen. Die Gerechtigkeit dagegen beschreibt die Harmonie als einen Zustand der Seele, insofern sie als ganze, in allen ihren Teilen, auf das Gute ausgerichtet ist. Auch dieser Aspekt liegt in Platons Rede von der „Möglichkeit zu entstehen": Die Gerechtigkeit ist nicht die Besonnenheit im Sinne des Vollzugs der Selbstregierung, sondern der Grund dafür, daß Besonnenheit vollzogen werden kann37.
4.4. Nachtrag: Die Konzeption des Philebos Wie angekündigt, ist zum Abschluß als Ergänzung des Gesagten auf die Überlegungen im Philebos einzugehen. Dabei resultiert die Ergänzung, die er bringt, freilich nicht aus einer anderen Konzeption des guten Lebens, denn was diese anbelangt, stimmt er mit der Politeia überein. Vielmehr können wir in ihm eine andere Beschreibungsweise dieses Lebens finden, die uns hilft, das bisher Geschilderte sowohl zu bestätigen als auch in einem neuen Licht zu zeigen. Wir können uns deshalb mit einer weniger argumentativen als rhapsodischen Darstellung begnügen. Sie rechtfertigt sich im übrigen auch dadurch, daß hier Kategorien verwendet werden, die im Anschluß auch für das Verständnis Nietzsches einzusetzen sind. Der Ausgangspunkt für die andere Beschreibungsweise liegt, im Unterschied zur Politeia, nicht mehr in der Frage nach der Tugend, sondern in der nach dem Guten selbst (Phil. 11 b). Diese Frage wird zwar in der Politeia ebenfalls gestellt, jedoch nicht in dem geschilderten Zusammenhang des Handelns, sondern angesichts des Wissens, das der Philosophenherrscher sich erwerben muß. Die Idee des Guten gilt dabei als das „größte Lehrstück", das ihm aufgegeben ist, da alles, die Gerechtigkeit mit eingeschlossen, erst durch ihre Zutat etwas Gutes wird (Rep. 505 a). Die Politeia konzentriert sich so auch auf die bereits angedeuteten gnoseologischen und ontologischen Funktionen, welche der Idee zuzuschreiben sind. Diese sind zwar auch im Philebos präsent, dennoch bindet er die Untersuchung der Idee des Guten an die Schilderung des guten Lebens, dem er eine heuristische Funktion für ihre Einsicht zuerkennt (Phil. 61 a f.). Wir werden uns für unsere Überle37
Zum schwierigen Verhältnis zwischen Besonnenheit und Gerechtigkeit an dieser Stelle vgl. Krämer 1959,93f.
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4.4. Nachtrag: Die Konzeption des Philebos
gungen, wie zuvor, auf diese Dimension beschr nken, was bedeutet, da wir alle weitergehenden Fragen, vor allem solche, die auf das Verh ltnis zwischen Philebos und Politeia zielen, abzublenden haben. Die Frage nach dem Guten nimmt, im Philebos wie in der Politeia, ihren Ausgang von dem Widerstreit der Meinungen, im dem die einen die Vernunft, die anderen die Lust als das bestimmende Prinzip des Guten sehen. Dabei wird schon in der Politeia angedeutet, da keinem dieser beiden die bestimmende Funktion ausschlie lich zuzuschreiben ist38. Platon verdeutlicht dies anhand von vier Formalkriterien, denen das Gute entsprechen k nnen mu : Es mu erstens in sich vollendet sein (reXeov), zweitens gen gend (ικανον) - denn etwas Mangelhaftes ist nicht gut -, mu drittens diese beiden Eigenschaften in einem Ma besitzen, in dem es alles andere bertrifft, und ist viertens als ein Letztziel anzusehen, ber das hinaus nichts weiteres erstrebbar ist39. Setzt man nun Vernunft und Lust als jeweils alleinigen Gehalt des Begriffes, so ergibt sich ihrer beider Ungen gendheit: Ein lustvolles Leben ohne jegliche Vernunft h tte kein Bewu tsein seiner Lust und ist deshalb f r den Menschen eine in sich widerspr chliche Idee; w hrend ein Leben, das nur die Vernunft und keine Lust enthielte, dem Kriterium des Erstrebenswerten nicht entspricht (Phil. 21 c ff.). Das Gute mu demnach beide Momente in sich umschlie en. Aus diesem Grund f hrt Sokrates den f r alles Weitere entscheidenden Begriff der Mischung ein: Das gute Leben ist das „beide umfassende, durch beider Zusammenmischung gemeinsam gewordene" (ο συναμφότςρο? [...], εξ άμφοΐν συμμε ιχθείς1 κοινός yevouevog - Phil. 22 a). Die Mischung aber ist in zweifacher Bedeutung zu verstehen: Zum einen, wie hier dargestellt, summarisch, insofern das Gute keine f r die Lebensf hrung notwendigen Elemente ausschliessen darf. Deshalb nimmt Sokrates, hinsichtlich der Vernunft, nicht nur die Dialektik in das Gute auf, in der das Wissen der Ideen liegt (Phil. 58 a ff.), sondern jegliches empirische und handwerkliche Wissen, das der praktischen Bew ltigung des Lebens dient (Phil. 62 a ff). Ebenso d rfen die sogenannten reinen L ste (Phil. 62 e)40 sowie die notwendigen, die mit der Gesundheit und Besonnenheit verbunden sind (Phil. 63 e), zugelassen werden. Im Vergleich zur Politeia hei t dies, da zun chst auch Elemente aufgenommen werden, die nicht unter den Begriff der Tugend fallen41. Zum anderen aber ist die Mischung der Gerechtigkeit insofern analog, als sie strukturell zu qualifizieren ist. So fragt Sokrates nach der Aufz hlung aller aufgenommenen Momente, wie in der Politeia auch, was es ist, da deren Mischung gut erscheinen l t. Konkret fragt er dabei, was als das Wertvollste in der Mischung 38
Vgl. Rep. 505 c u. Phil. 11 d ff.. Phil. 20 d u. 60 c. 40 Vgl. zum Begriff der reinen L ste Phil. 51 c-53 a. 41 Vgl. den Kommentar Plato 1993, LXII.
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4.4. Nachtrag: Die Konzeption des Philebos
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gelten kann (ev τη συμμείξει τιμιώτατον), bzw. als das am meisten Urs chliche (μάλιστ' αίτιον) daf r, da sie als erstrebenswert erscheint (Phil. 64 c). Da die Mischung also, inhaltlich gesehen, all das umfa t, was das Gute nach dem vorgegebenen Kriterium des Gen genden umfassen mu , kann ihre Gutheit nicht durch etwas verursacht werden, das zu ihr hinzukommt, sondern nur durch ihre innere Struktur. Diese Struktur ergibt sich, wie schon in der Politeia, durch ein nichtgegenst ndliches Moment. So f hrt Sokrates hier aus: „da jede Mischung, welche und wie sie auch sei, wenn sie keinen Anteil erh lt am Ma und an der Natur des Ma vollen, notwendig das Hineingemischte wie auch zun chst sich selbst verdirbt" ( TL μέτρου και τη? συμμέτρου φύσίω? μη τυχούσα ήτισοϋν και όπωσοϋν σύγκρασι? πασά εξ ανάγκες· άττόλλυσι τα TC κεραννύμενα και πρώτην αυτήν - Phil. 64 d).
Die Ursache des Guten in der Mischung ist demnach das Ma und die Abgemessenheit, die in ihr herrscht. Auf den ersten Blick k nnte man hierbei versucht sein, den Begriff der Ma es rein formal zu deuten und zu sagen, er bezeichne die ben tigte Verh ltnism igkeit in dieser wie in jeder Mischung. Dagegen zeigte sich schon bei der Forderung, das Seinige zu tun, da diese nicht allein formal verstanden werden durfte, denn das Seinige ergab sich in konkreter Weise durch die Herrschaftsw rdigkeit, auf die hin jede Einzeltugend einzustufen war. Dementsprechend gilt es, auch in dem Begriff des Ma es die konkrete Hinsicht zu erkennen, der er sich verdankt. Dies kann aber nur geschehen, wenn wir die Prinzipienlehre mit hinzuziehen, welche dem Gespr ch an dieser Stelle zugrundeliegt. Nach dieser Lehre unterscheidet Platon vier Gattungen des Seienden, das Unbegrenzte (το άπειρον), die Grenze (το περά?), das sich aus beiden Zusammenmischende (εξ άμφοΐν τούτοιν ev τι συμμισγόμενον) und die Ursache dieser Vermischung (Phil. 23 c f.). Das Apeiron umfa t all die Ph nomene, deren Graduierbarkeit nicht an ein Ende kommen kann (Phil. 24 a f.). Ein Beispiel hierf r ist die Temperatur, die als solche, d.h unabh ngig von den Dingen, an denen sie vorkommt, als unbegrenzt steigerungsf hig gedacht werden mu . Im Rahmen des Lebens entspricht ihr die Lust, die ebenfalls von ihrem Wesen her nicht auf bestimmte Grade einzugrenzen ist (Phil. 27 e). Das Peras dagegen bezeichnet eine Begrenzung oder Bestimmtheit; es ist Zahl oder eben Ma (μέτρον - Phil. 25 a f.). Hieraus wird ersichtlich, warum eine rein formale Deutung des Begriffs des Ma es nicht gen gt, denn insofern die Begrenzung je Begrenzung innerhalb des Unbegrenzten ist, zeugt sie, auf der Ebene der Prinzipien, von einem Dualismus, welcher durch die blo e Rede von Verh ltnism igkeit nicht wiederzugeben ist. Gleichzeitig kann nun die erste der von Sokrates in dem Zitat angegebenen Bedingungen erl utert werden, das Vorhanden-Sein von Ma . Eine Mischung mu
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4.4. Nachtrag: Die Konzeption des Philebos
demnach, wenn sie gelingen soll, Begrenztheit in sich tragen. Dabei ist die Begrenztheit jedoch nicht, wie durch den Gegensatz zur Lust vermutet werden k nnte, einfach mit der Vernunft gleichzusetzen. Diese geh rt vielmehr zur Gattung der Ursache, insofern sie als ein ordnendes Prinzip verstanden wird, das zugleich der Seele als dem Prinzip des Lebens innewohnt (Phil. 30 b ff.). Sie ist dasjenige Moment, das das Verh ltnis zwischen Peras und Apeiron in einer Mischung allererst herstellt und bestimmt. Als Beispiel einer Mischung, als der dritten Gattung, kann demnach das gute Leben selbst herangezogen werden, insofern es mit der Lust ein Apeiron und mit der Vernunft eine nach dem Peras ordnende Ursache in sich tr gt (Phil. 27 d). Das gute Leben ist, mit anderen Worten, ein Leben, in dem sich die Vernunft an Ma und Begrenztheit orientiert und diese gegen ber der haltlosen Offenheit der Lust zur Geltung bringt. Nach ihrer ontologischen Verfa theit gilt es eine Mischung dabei zu bestimmen als „yeveaLv ei? ούσίαν εκ των μετά του πέρατος άπειργασμενην μέτρων" (als Werden zu einem Sein, das aus den Ma en, die dem Grenzhaften entsprechen, geschaffen wird - Phil. 26 d). In der Mischung wird das blo e Werden durch den Einflu des Begrenzten zu einem Sein. Es enth lt eine Form und Regularit t, wie sie auf der Ebene der Zeit z.B. die Jahreszeiten manifestieren, oder auf der Ebene des Lebendigen die Gesundheit (Phil. 26 b). Allerdings sind diese Ph nomene notwendig nur ein „gewordenes Sein" (Phil. 27 b), da der Charakter des Apeiron, wenn auch als „gebundener" (Phil. 27 d), in ihnen bestehen bleibt, hi diesem Sinn ist eine Mischung auch nicht schlechthin ma haft, sondern etwas Abgemessenes (έμμετρον) oder Ma volles (σύμμετρον - Phil. 26 a), d.h. etwas, von dem man sagen mu , da es das Ma nur in sich tr gt. Damit ist nun auch die zweite der von Sokrates angegebenen Bedingungen genannt, der zufolge einer Mischung die „Natur des Abgemessenen" zukommen mu : Sie mu eine Mischung im konkreten Sinn der Einf gung von Ma in das Unbegrenzte sein. Damit l t sich nun die Spezifizit t der Beschreibungsweise aus dem Philebos gegen ber der der Politeia zeigen. Indem sie das Gute mit dem Ma identifiziert und das gute Leben als Einmischung dieses Ma es in das Werden, bestimmt sie als Kriterium des Gelingens dieses Lebens den Grad der Seiendheit, den es erreicht. Zwar hei t ein gutes Leben zu f hren, ein gen gendes Leben zu f hren, das kein notwendiges Moment aus seiner Ganzheit ausschlie t. Gleichzeitig ist jedoch das Werden, das in einer solchen reinen Vielheit liegt, durch Begrenzungen auf eine Form der Seiendheit zu f hren. Der zu Anfang dargelegte summarische Mischungsbegriffmu deshalb als blo einleitend verstanden werden, als Gegenthese zum Versuch der Reduktion auf eines der Momente, Vernunft oder Lust. An sich jedoch ist eine Mischung, die kein Ma in sich tr gt, berhaupt keine Mischung, sondern eine blo e Zusammenf gung, die nur ein Werden hat und kern Sein (Phil.
4.4. Nachtrag: Die Konzeption des Philebos
127
64 e)42. Da das Gute als das Sein bezeichnet werden kann, hei t jedoch auch, da das Sein das Gute ist, d.h. ein Letztziel f r Handeln. Damit wird nach Platon berall dort, wo ein sachlich Gutes angestrebt wird, eine Form der Seiendheit gemeint. Diese Umkehrung ist sicherlich nicht ohne weiteres einleuchtend und bed rfte einer weitergehenden Begr ndung. Wir k nnen ihr jedoch im einzelnen nicht nachgehen, sondern m ssen uns auf einen Hinweis beschr nken. Dieser Hinweis betrifft das Verh ltnis zur Lust. Die Lust ist deshalb ein geeignetes Beispiel, weil sie als gut erfahren wird, und doch an sich kein Sein, sondern nur ein Werden bildet. Wenn man also als das Gute stets das Seiende will, dann mu sich beweisen lassen, da man auch die Lust umwegen einer Form der Seiendheit erstrebt. Sokrates zeigt dies, indem er sie als eine „R ckkehr in das Sein" beschreibt (Phil. 32 b): Sie wird als Gut erfahren, weil ihr ein Zustand des Mangels vorausgeht, eine „Aufl sung" des k rperlichen Gleichgewichtes oder ein Schmerz (Phil. 31 d f.). Er verdeutlicht dies am Durst: Der Lust des Trinkens geht der Schmerz des Durstes sowie die Austrocknung als Zerst rung einer k rperlichen Harmonie voraus. Die Lust des Trinkens ist also die Lust an der Wiedererlangung eines richtig gemischten K rpers, d.h. eines Seins. Freilich ist gerade wegen dieser Bindung an den Mangel das Sein, das in der Lust erfahren wird, nur vorl ufig und bleibt zuletzt dem Werden unterworfen: Es erscheint, gleichsam in einer perspektivischen Verzerrung, vollendeter, als es eigentlich ist43. Dies bedeutet, auf der einen Seite, da es durchaus nicht unm glich ist, Hedonist zu sein, insofern diese Verzerrung in der Natur k rperlicher Erfahrung liegt; auf der anderen Seite aber, da man auch als Hedonist meinen mu , etwas Seiendes zu erstreben. Zum Abschlu m ssen nunmehr die verbleibenden Bestimmungen des Guten aus dem Philebos erl utert werden. Nach der Identifizierung des Ma es mit dem Guten f hrt Sokrates fort: „Jetzt also ist uns das Verm gen des Guten wieder in die Natur des Sch nen entflohen. Denn es ergibt sich doch wohl, da Ma haltigkeit und Abgemessenheit berall zu Sch nheit und Tugend werden" (Νυν δη καταπέφευγεν ήμΐν ή του αγαθοί) δύναμις· ει? την του κάλου φύσιν. μετριότη? γαρ και συμμετρία κάλλος δήου καί αρετή πανοταχοϋ συμβαίνει γίγνεσθαι - Phil. 64 e).
Diese Stelle kann vom Begriff des Ma es her erl utert werden. So ist das Ma eine Begrenzung, die den Ph nomenen innewohnt, aber selbst nicht als ein Ph nomen erscheinen kann; es ist „gestaltlos" (ασχημάτιστο?)44 wie die Ideen. Deshalb l t sich nur denken, da das Ma existiert, es selbst jedoch ist nicht 42
Vgl. Gadamer 5, lOOff. Vgl. auch Phil. 47 b ff. sowie Rep. 584 e f. u. 585 d ff. 44 Phdr. 247 c. Vgl. auch Sym. 211 a f.
43
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4.4. Nachtrag: Die Konzeption des Philebos
anschaulich zu begreifen oder vorzustellen. Wo es anschaulich wird, erfaßt man Schönheit oder Tugend, denen es zugrundeliegt. Dieses Verhältnis läßt sich auch mit dem verwendeten Begriff der Dynamis in Einklang bringen: Das Maß „flüchtet" sich notwendig in die Schönheit, so wie eine Dynamis nur in ihrem Vollzug erweislich wird und erscheint. Zu Maß und Schönheit gesellt sich aber noch ein drittes Element hinzu, nämlich Wahrheit (ebd.). Dies läßt sich vom Begriff des Guten her erklären: Gutes kann nicht eingebildet oder scheinhaft sein, sondern wird notwendig als ein wahres Gutes angestrebt (Phil. 64 b). Entscheidend ist an dieser Überlegung jedoch, daß das Gute nicht in einer einzigen Idee begreifbar wird: Insofern das Maß notwendig als Schönheit erscheint und beides notwendig wahrhaft gegeben sein muß, gilt es, diese drei Momente als Eines (019 [...] ev) dialektisch zusammenzunehmen und als Gehalt der Idee des Guten anzuerkennen (Phil. 65 a). Ethisch gesehen bedeutet dies - und wie wir eingangs sagten, interessiert uns hierbei nicht die ideenlogische, sondern eben nur die ethische Dimension -, daß das gute Leben mit dem schönen Leben gleichzusetzen ist. Zwar besteht zwischen beiden insofern keine Wechselseitigkeit, als man, wie schon angesprochen, schön und tugendhaft erscheinen wollen kann, ohne es zu sein (Rep. 505 d). Wo man aber das gute Leben vorzustellen oder begreiflich zu machen sucht, stellt man sich unwillkürlich ein schönes Leben vor. Man muß beide Momente nicht nur als zusammengehörig, sondern als Einheit denken. Für das Schöne gelten daher gleichfalls die Kriterien des Vollendeten und Genügenden, die zuvor dem Guten im formalen Sinn zugeschrieben worden waren (Phil. 66 b). Mit dieser kurzen Darstellung der Begriffe und Problemstellungen des Philebos können wir die Beschäftigung mit Platons Ethik schließen und wieder zu Nietzsche übergehen. Die Parallelität seines Ansatzes zu dem Platons wird sich dabei nicht unmittelbar, sondern im Verlauf der Darstellung erweisen.
5. Nietzsches Ethik des guten Lebens 5.1. Grundlagen 5.1.1. Macht als Kriterium des Guten Mit den folgenden drei Kapiteln wird der Übergang von der Handlungstheorie zur Ethik im eigentlichen Sinn vollzogen. So gilt es zunächst, die geltungstheoretischen Bedingungen zu klären, unter denen Nietzsche überhaupt von einem Guten und von Werten sprechen kann. Zusätzlich dazu sind die Kriterien für die Bestimmung dieser Werte anzugeben. Das als erstes folgende Kapitel wird sich demnach einer metaethischen und axiologischen Betrachtungsweise widmen (4.1.). Im Anschluß daran müssen die Verhaltensweisen nachgezeichnet werden, die nach den Kriterien als gut zu werten sind. Dabei wird nicht nur die Ebene des Handelns, sondern gleichfalls der Begriff des guten Lebens anzusprechen sein. Das zweite Kapitel bezieht sich also auf die spezifisch praktischen Momente in der Ethik Nietzsches (4.2.). Schließlich ist sein Ansatz noch einmal auf den der Sollensethik zu beziehen, genauer auf die Frage nach den Pflichten gegenüber Anderen. Wie wir zeigten, leugnet er ihre rein vernünftige Natur, indem er sie als Ausdruck eines nicht gelungenen Selbstverhältnisses beschreibt. Dabei blieb jedoch bisher die Frage offen, ob mit dieser Reduktion das Problem, auf das die Sollensethik reagiert - der Anspruch Anderer, keinen Schaden zu erleiden - adäquat behandelt werden kann1. Wir müssen also fragen, ob die Ethik Nietzsches wirklich die Funktionen des moralisch Guten übernehmen will und wie sie sich gegenüber der Moral rechtzufertigen sucht. Das dritte Kapitel verfolgt damit eine moralphilosophische Betrachtungsweise im engeren Sinn des Worts (4.3.). Am Anfang steht somit die Frage nach der Möglichkeit, den Begriff des Guten affirmativ zu verwenden. Sie kann anhand der folgenden Notiz erläutert werden: „Daß der Werth der Welt in unserer Interpretation liegt (- daß vielleicht irgendwo noch andere Interpretationen möglich sind als bloß menschliche -) daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, das heißt im Willen zur Macht [...] erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und 1
Die Sollensethik wird hier vornehmlich in ihrer Funktion als Sozialmoral diskutiert. Daß auch Pflichten gegenüber sich selbst formulierbar sind, ist filr unseren Kontext weniger relevant.
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5.1.1. Macht als Kriteri um des Guten
Machterweiterung neue Perspektiven aufthut [...]- dies geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Thatbestand, sondern eine Ausdichtung [...] über einer mageren Summe von Beobachtungen [...] - es giebt keine „Wahrheit"" (12, 2 [108]). Das Problem des Guten und der Werte - wir werden die beiden Begriffe zunächst noch synonym verwenden und erst später unterscheiden - fuhrt, nach diesen Worten, zurück auf die Bedingungen der Nietzscheschen Interpretationsphilosophie: Auch Werte sind Perspektiven, in denen der Mensch die Phänomene in Beziehung auf sich selbst erschließt. Geltungstheoretisch ist deshalb von einem Wertrelativismus auszugehen2. Allerdings zeigt sich an dieser Stelle auch, daß das Wertproblem, wie der Perspektivismus überhaupt, keine bloß erkenntnistheoretische Fragestellung bildet, denn es geht bei ihm in letzter Hinsicht nicht darum zu entscheiden, ob die Wirklichkeit so ist, wie sie bewertet wird. Die Frage nach der Wahrheit der als gültig angenommenen Werte ist vielmehr von vornherein irrelevant, da der Mensch die Phänomene nur insoweit zu erkennen fähig ist, als sie ihn „etwas angehen", d.h. als er sie auf seine eigenen Verstehensbedingungen bezieht. Eine objektive Wahrheit jenseits seiner Perspektiven kann von ihm nicht eingesehen werden. Nietzsche drückt dies anderenorts auch so aus, daß er Wertbeziehungen mit einer „Optik" des Menschen vergleicht: So wie man Farben oder Formen nur insoweit sehen kann, als die physiologische Konstitution des Auges reicht, so können auch die Werte nur insoweit gelten, als sie Werte einer Lebensweise sind3. Sie können gar nicht wahr sein wollen, da sie erst durch die Bedingtheit ihres Trägers möglich werden. Daß Werte prinzipiell „falsch" sind, ist also nicht das eigentliche Resultat, das diese Überlegung mit sich bringt. Vielmehr liegt der Hauptgesichtspunkt darin, daß die Zuschreibung von Werten den Bedingungen des Lebens selber zuzurechnen ist: Das Gute, bzw. Schlechte ist für einen Menschen das, was seine Lebensweise fördert oder hemmt. Der Perspektivismus ist in diesem Sinn nicht negativ, als Verhinderung der Wahrheit, aufzufassen, sondern positiv, als Ermöglichung und Modus des Verstehens. Daraus aber folgt, daß dasselbe Argument, das für die Annahme des Wertrelativismus spricht, zugleich für die Möglichkeit von Werten zeugt: Es gibt nach dieser Überlegung keinen Grund, aus dem ein Mensch nicht festlegen sollte, was gut oder schlecht für ihn ist. Eine objektive Wahrheit ist nicht möglich und von daher auch nicht zu verlangen. Vom Relativismus auf die Unverbindlichkeit der Werte zu schließen wäre vielmehr, mit den Worten Nietzsches, eine „Kinderei", denn es bedeutete einen undifferenzierten Gebrauch der Vernunft, wenn nur das als verbindlich angenommen würde, was
2 3
Vgl. GD, Sokrates 2; 6, 68 sowie 9,4 [27] u. 13, 14 [184]). WA, Epilog; 6, 51 u. GD, Moral 5; 6, 86.
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
131
zweifelsfrei begründet werden kann4. Im übrigen darf es hier nicht als Einwand angesehen werden, daß Nietzsche von der Spezies des Menschen und nicht auch vom Individuum als dem, der jeweils handelt, spricht: Wie die Beschreibung zeigt, sind die Werte dem Vollzug des Lebens auch insofern inhärent, als sie sich mit seinen Modifikationen ebenfalls verändern müssen. Das Argument gilt also nicht nur für die Gattung, sondern auch für jeden Einzelnen in seinem Handeln oder Tun. Freilich scheint aus dieser Möglichkeit der Werte nicht zu folgen, daß es auch notwendig ist, sie anzunehmen. So kann es, zumindest prinzipiell, nicht ausgeschlossen werden, daß es jemand gibt, der sich in seinem Handeln oder Denken aller Wertungen enthält. Nietzsche aber sucht, im Gegenteil, mit dem Nachweis ihrer Möglichkeit in den Bedingungen des Lebens zugleich ihre Notwendigkeit zu belegen. Sie resultiert für ihn, wie die zitierte Stelle zeigt, aus dem Begriff der Macht. Daß das Leben auf dem Willen zur Macht beruht, heißt ja, nach dem in den vorigen Kapiteln Ausgeführten, daß man sich im Handeln als ein Selbst zu den Bedingungen des Handelns und den Anderen verhält. Ein Handelnder kann demnach auf ein Wissen um das Gute oder Schlechte nicht verzichten, weil er auf ein Wissen um das für ihn Gute oder Schlechte nicht verzichten kann. In den Werten stellt sich sein Verhältnis zum Kontext des Handelns dar. Nietzsche ist von daher auch bemüht herauszustreichen, daß der Wertrelativismus nicht zu einer Form des Skeptizismus führen darf. Unter Skepsis wäre dabei eine Haltung zu verstehen, die sich wegen des Relativismus jeder Wertfestlegung zu enthalten suchte, d.h. eine Epoche gegenüber jeder eindeutigen Zuschreibung des Guten übte. Diese Haltung wäre metatheoretisch als das Zeichen einer Willensschwäche zu verstehen, da der Handelnde durch sie in Distanz zu den Erfordernissen seines eigenen Handelns tritt5. In diesem Sinn sind Werte auch die Möglichkeit des Handelns oder Wollens überhaupt. (Allerdings verwendet Nietzsche den Begriff der Skepsis auch in positivem Sinn. Skepsis meint dann nicht die Epocho gegenüber dem notwendigen Verstehen des Guten, sondern gegenüber jeder Art von Weltanschauung, welche unbedingte Geltung oder Folgsamkeit verlangt6.) Dieser Nachweis der Notwendigkeit der Werte gilt jedoch nicht nur für die Ebene des Handelns, sondern auch für die der Ethik selbst. Nietzsche geht es nicht nur darum, daß man innerhalb des Handelns wissen muß, was das Gute oder Schlechte ist. Wäre dies der Fall, dann könnte er auch eine Form des Pluralismus vertreten, der die Verschiedenheit der jeweils angesetzten Werte selbst zur Norm 4
FW 345; 3, 579. Vgl. auch JOB 4; 5, 18 u. 11, 27 [68], Vgl. JOB 207-8; 5, 134-39 u. 11, 35 [43] sowie Za II, Erhabene; 4, ISOf. Die Verbindung von Willensschwäche und Wertsubjektivismus hat Max Scheler in Anknüpfung an den Nietzscheschen Ressentimentbegriff aufgenommen (Scheler 1955, 122f). 6 Vgl. AC 54; 6, 236 u. 13,11 [48]. 5
132
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
erklärt und unterstützt. Da er die Werte aber als den Ausdruck eines Grundvorgangs beschreibt, der an sich selbst auf sein Gelingen und Mißlingen hin erkenntlich ist, hat er gleichzeitig einen Standpunkt eingenommen, von dem aus eine eigene Form der Wertung möglich wird. Die Betrachtung des Entstehens der Werte ist also nicht nur deskriptiv-neutral, sondern ihrerseits evaluativ gemeint. Wie dies zu verstehen ist, hat Nietzsche in der Darstellung seines Ansatzes in der Schrift Zur Genealogie der Moral erklärt: „Etwas historische und philologische Schulung [...] verwandelte in Kürze mein Problem in das andre: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturtheile gut und böse? und welchen Werth haben sie selbst? [...] Sind sie ein Zeichen [...] von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens [...]?" (GM, Vor. 3; 5, 249f.)
Diese Stelle bezieht sich zwar zunächst nur auf die Moral im engen Sinn, gilt jedoch für jegliche Moral. Sie zeigt mit der „Fülle", bzw. der „Entartung des Lebens" den Wertgesichtspunkt an, auf den sich Nietzsches Ethik ihrerseits bezieht. Allerdings darf dies nicht so verstanden werden, als ob der Bezug auf die Bedingungen des Handelns einfach einen neuen Wert ergäbe, den man dann als Konkurrenz zu den bereits bekannten anzunehmen hätte. Nietzsche würde keineswegs behaupten, daß die „Fülle" auf derselben kategorialen Stufe steht wie der Wert des pflichtgemäßen Handelns in der Moral. Indem er nach dem Wert der Werte fragt, geht es ihm nicht nur um eine andere Bestimmung des Begriffs des Guten, sondern um die Bestimmung der Bedingungen, durch welche das jeweils als gut Verstandene erst zu etwas wahrhaft Gutem wird. Er stellt den Anspruch, einen fundierenden Standpunkt gegenüber Einzelwerten einzunehmen und sie auf ein Wertkriterium zu beziehen. Eine solche Vorgehensweise konnten wir zuvor auch bei Platon deutlich machen, der die Frage, ob Vernunft oder Lust das Gute seien, dadurch zu entscheiden sucht, daß er auf die Idee des Guten selber rekurriert. Sie liegt aber auch in der Logik der Kantischen Kritik, an die Nietzsche mit der Genealogie, wie wir zeigten, anzuknüpfen sucht. So stellt Kant den Anspruch zu erweisen, daß erst durch die Unterscheidung zwischen formalen und empirischen Bestimmungen des Willens geklärt werden könne, was ein moralisches Gesetz und damit was das an sich Gute ist (KpV A 112)7. Wir wollen diese drei Methoden der Fundierung hier jedoch nicht weiter miteinander vergleichen; wichtig ist nur zu erkennen, daß sich Nietzsche, trotz seines Überbietungsgestus, in eine Tradition der philosophischen Ethik stellt. 7
Mit Deleuze läßt sich sagen, daß Nietzsches Kritik, wie die Kants, eine „critique immanente" darstellt, die die Moral nicht von äußerlichen Gesichtspunkten wertet, sondern von den in ihr vorauszusetzenden (l 961, 104).
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
133
Wir können nunmehr von der Möglichkeit zu den Bestimmungen des Guten übergehen. Diese sind von Nietzsche freilich nie im Zusammenhang erläutert worden, sondern finden sich verstreut in seinen Werken. Die folgende, kurze Stelle, die in systematischer Beziehung die wohl am weitesten ausgearbeitete ist, soll deshalb zur allgemeinen Orientierung dienen: „Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht" (AC 2; 6, 170).
Von hier aus lassen sich vier Strukturmomente in der Nietzscheschen Bestimmung unterscheiden. Als erstes das Kriterium des Guten. Es ist, wie auch die vordem angeführten Stellen zeigten, Macht. Gut ist etwas demzufolge dann und nur dann, wenn es sich als Mittel zur Erhöhung von Macht begreifen läßt. Diese Bestimmung wird im folgenden ausfuhrlich zu erläutern sein. Das zweite Strukturmoment bilden die einzelnen Güter, d.h. die Handlungen, Zustände oder Werke, die nach den Kriterien als Ziel betrachtet werden können. Diese Unterscheidung zwischen dem Kriterium des Guten und den Gütern entspricht dem oben Ausgeführten: Nietzsches Ethik geht es, wenigstens in erster Linie, nicht darum, bestimmte Ziele darzulegen, sondern die Bedingungen, nach denen etwas überhaupt als Ziel bestimmbar ist. Dabei liegt in der Macht ein so weit formal gehaltener Gesichtspunkt, daß die Frage nach den Einzelgütem zunächst offen bleiben kann. Sie wird nur dadurch eingeschränkt, daß die Macht in einem bestimmten Modus zur Erscheinung kommen muß, wenn sie als ein Kriterium des Guten gelten können soll. Dies führt uns zum dritten Strukturmoment, eben den Modi des Guten. Kennzeichnend für diese ist, daß sie allesamt Erscheinungen der Macht „im Menschen" bilden. Im einzelnen sind diese zu bestimmen als ein Zustand, den man an sich selbst erfährt das „Gefühl der Macht" -, als ein Streben nach der Macht - der „Wille zur Macht" - und als Vollzug oder Sein - die „Macht selbst". Dies bedeutet, allgemein gesehen, daß die Macht nicht als eine äußerliche Handlung, d.h. nicht in Bezug auf andere Menschen oder auch auf Dinge aufzufassen ist. Vielmehr muß sie im Handeln und im Selbstverstehen ihres jeweiligen Trägers nachgewiesen werden. Das vierte und letzte Strukturmoment umfaßt die notwendigen Bedingungen des Guten, welche in der hier zitierten Stelle allerdings nicht angesprochen werden. Damit sind Bedingungen gemeint, die selber kein Kriterium bilden, d.h. nicht hinreichend für das Gute sind, die zu dem Kriterium aber hinzukommen müssen. Ihnen entsprechen die Momente des Instinktes und der Personalität. Was den Instinkt betrifft, so liegt in ihm die Bedingung, daß die Macht aus sich heraus erfolgt und nicht erzwungen werden muß. Die Personalität dagegen impliziert, daß das Gute stets nur durch und für einen Einzelnen geschieht. Diese Punkte sind im Anschluß gleichfalls näher zu behandeln.
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5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
Wir beginnen mit der Untersuchung des Begriffs der Macht als dem Kriterium des Guten. Dabei ist es hilfreich, zunächst von der Frage auszugehen, warum das Gute die Erhöhung und nicht etwa die Erhaltung oder den Besitz von Macht erfordert. Es wäre ja, zumindest prinzipiell, auch denkbar zu behaupten, das Kriterium des Guten liege darin, eine bestimmte Quantität an Macht zu haben, etwa im Sinne eines Ethos als eines dauerhaften Zustands. Zwar könnte man dagegen auf die dynamische Natur der Macht verweisen, der zufolge sie, wie in den vorigen Kapiteln dargelegt, das Prinzip der Selbstbewegung in sich schließt, und deshalb nicht latent, sondern nur in actu vorzustellen ist. Gleichwohl folgt auch aus diesem Umstand nicht, daß man sie auch erhöhen wollen muß, denn die dynamische Struktur muß nicht zugleich exponentiell ausgerichtet sein. In der angeführten Stelle heißt es dazu, nach den hier zitierten Sätzen: „Was ist schlecht ? - Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? - Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden wird" (ebd.).
Daß die Macht erhöht wird, ist, nach diesen Worten, gleichbedeutend damit, daß es ihr gelingt, einen Widerstand zu überwinden. Sie erhöht sich dadurch, daß sie ihre Wirkung über anderes oder Andere ausdehnt. Hierbei ist jedoch entscheidend, daß diese Wirkung nicht als akzidentielle Relation verstanden werden darf; in dem Sinn, daß es denkbar wäre, daß sich eine Macht nicht auf etwas ihr Entgegentretendes bezieht. Vielmehr ist Macht - zwar nicht ausschließlich, aber unterem anderem - gerade durch die Fähigkeit zur Bewältigung von Widerständen definiert. Dies wird deutlich, wenn man eine Konzeption vertreten wollte, in der diese Fähigkeit nicht als ein notwendiges Moment enthalten wäre. Dann nämlich könnte überhaupt nicht mehr von Macht gesprochen werden: Da sie, wie schon angesprochen, ein Vermögen darstellt und ein Vermögen nur durch die entsprechenden Vollzüge zu belegen oder zu bestirnmen ist, müßte man einen Vollzug angeben können, der nicht in der Wirkung auf ein von ihm Unterschiedenes besteht. Ein solcher Vollzug wäre jedoch nicht mehr sinnvoll als Vollzug von Macht beschreibbar, denn wo keine Unterscheidung vorliegt, es ist auch nicht nötig, daß man etwas überwindet oder seiner Herr zu werden sucht. Der Begriff der Macht setzt also immer eine Differenz zu einer Gegenmacht voraus8. Wenn Macht nun aber ihrem Wesen nach auf die Bewältigung von Widerständen ausgerichtet ist, dann ist ihr auch die Erhöhung wesentlich, die sie durch die Bewältigung erlangt. Es gibt die Macht dann nur als sich erhöhendes, bzw. als sich schwächendes Vermögen, wenn das andere nicht bewältigt werden kann. Als Kriterium des Guten Vgl. 12, 7 [2] / 12, 7 [18] /13, 11 [77] u. 13, 14 [81].
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
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kann sie folglich auch nur in der Form bezeichnet werden, in der sie die ihr eigene Funktion erfüllt. Es ist ausgeschlossen, daß man sie nur erhalten oder nur besitzen wollen kann9. Nachdem auf diese Weise deutlich wurde, was es heißt, daß sich die Macht in einem Einzelnen erhöht, gilt es nun zu zeigen, warum dieser Vorgang als das ausschlaggebende Kriterium des Guten angesehen werden kann. Dabei ist von folgender Betrachtung auszugehen: „Es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, - und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntnis suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. [...] Der Reichste an Lebensfülle [...] kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die fürchterliche That und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung; bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige und Hässliche gleichsam erlaubt, in Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften, welcher aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen im Stande ist" (FW 370; 3, 620).
Das Thema der Macht ist an dieser Stelle insofern präsent, als Nietzsche die „Lebensrulle" auch mit „Mächtigkeit" identifiziert (vgl. ebd.). Desgleichen wird auch der Bezug auf Widerstände aufgenommen, allerdings nicht mehr in Hinsicht des Gehalts des Machtbegriffes selbst, sondern in Hinsicht der Bedingungen, denen der Mensch in seinem Dasein unterliegt. Die Widerständigkeit kann so konkreter mit dem „Bösen, Unsinnigen und Hässlichen" gleichgesetzt werden, das er erfährt und das als einen Grundzug seines Lebens Leiden mit sich bringt10. Je nach dem, ob seine Macht hinreicht oder nicht, kann er auf dieses Leiden allerdings in zweifacher Weise reagieren: Wenn er genügend Macht besitzt, kann er den Charakter des Lebens als solchen akzeptieren und muß nicht vor ihm fliehen, so wie es, im Gegensatz zu ihm, ein an Macht Verarmter tut. Er läßt das Widerständige bestehen, weil er es bewältigen kann, während es ein Schwächerer zu verdecken oder abzustellen sucht. Dabei ist entscheidend, wie man die Bewältigung des Widerständigen versteht: Wenn ihr Sinn gerade darin liegt, daß man ihm nicht ausweicht, dann kann sie nicht bedeuten, daß das Leiden gänzlich überwunden werden soll. Würde dies versucht, dann höbe sich die Unterscheidung zu den eskapistischen Verhaltensweisen eines Machtlosen auf. Das Leiden kann von daher nur insofern überwunden werden, als der Mächtige auf seiner Basis eine positive 9
Vgl. Gerhardt 1996, 264. Das Problem des Leidens hat Knodt ins Zentrum seiner Nietzscheinterpretation gestellt (1987, 182ff.)
10
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5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
Lebensweise auszuprägen fähig ist: Es verleiht ihm durch und für sich selber einen Sinn. Was dies im einzelnen bedeutet, wird sich später zeigen; wichtig ist zunächst, daß es damit in den Reaktionen auf das Leiden gleichfalls um ein Selbstverhältnis geht: Man hält das Leiden dann aus, wenn man sich als Leidenden erträgt. Dies zeigt sich in negativer Hinsicht auch am Eskapisten, der, nach Nietzsches Worten, nicht nur allgemein vom Leben, sondern wesentlich von sich erlöst zu werden sucht. Seine Ideale stellen eine implizite „Selbstflucht" oder „SelbstVerachtung" dar (12, 2 [101]). Wenden wir dies wiederum ins Positive, so ergibt sich als Funktion der Macht, daß sie es dem sie Besitzenden ermöglicht, sich trotz seiner Leiden zu bejahen. Wer machtvoll ist, hat in sich eine Fähigkeit, die ihn in der ihm eigenen Lebensweise hält11. Diese Einsicht ist im Rahmen unserer Überlegungen nicht neu, insofern wir die Macht bereits als Fähigkeit des Selbstseins definierten. Außerdem zeigte sich bereits am Beispiel der vornehmen Moral, inwiefern die Macht zur Fähigkeit der vorweggenommenen Interpretation verhilft. Dennoch geht es uns an diesem Punkt nicht mehr nur um die Strukturen, sondern um den Umstand, daß ein solches Selbstsein von dem Einzelnen als gut erfahren werden kann. Freilich liegt dies nicht einfach daran, daß es angenehm ist, Widerstände oder gar das Leiden zu bewältigen: Wenn das Leiden von den „Reichsten" nicht nur nicht verdrängt, sondern sogar aufgesucht wird, um dadurch die eigene Macht zu erweisen oder zu erfahren, dann läßt sich nicht sagen, daß die Mächtigkeit primär als Lust erfahren wird. Zwar wird sie von Lust begleitet, wie wir noch an späterer Stelle zeigen werden, doch man lebt nicht hedonistisch, wenn man sich an den Kriterien des Machtvollzugs orientiert. Vielmehr geht es dann um das Gelingen der Bewältigungen selbst. Mit den an Platon entwickelten Begriffen läßt sich also sagen, daß die Macht der Sache nach als gut verstanden wird und nicht umwillen einer in ihr möglichen SelbstafFirmation des Mächtigen an sich. Um diese sachliche Qualität begreiflich werden zu lassen, können wir die Macht mit der antiken Konzeption der Autarkie parallelisieren12. Diese bezeichnet einen Zustand des Selbstgenügens, in dem der Betreffende keiner anderen Menschen oder keiner äußerlichen Mittel mehr bedarf13. In seiner kontrastiven Bedeutung läßt sich der Begriff unmittelbar auf die obige Beschreibung übertragen, insofern Machtarmut gerade die Bedingung des Bedürfnisses nach einem anderen Zustand ist, etwa nach Ruhe oder nach Betäubung. Allerdings liegt in der Autarkie 11
Vgl. auch 10, 7 [145]. Obwohl Hannah Arendts MachtbegrifF aus politischen Verhältnissen abgeleitet und deshalb nicht auf den Nietzscheschen übertragbar ist, hat er ein Strukturmoment mit ihm gemein: Macht ist auch für Arendt primär nicht Stärke, die man an etwas auslassen muß, sondern eine „zeitweilige Übereinstimmung" von Kräften (1981, 195), d.h. ein innerer Zusammenhalt in einer Vielheit von Momenten. Entsprechend beschreibt Gerhardt Macht im Ausgang von Nietzsche als „organisatorischen Komplex" (Gerhardt 1996,263). 12 So bei Krämer 1985, 37f. Zur Konzeption der Autarkie in der Antike vgl. Krämer 1977, 258ff. 13 Vgl. Rep. 369 b u. Tim. 33 d.
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
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primär eine positive Bestimmung, insofern es darum geht, so zu sein, daß man keines anderen bedarf. Sie setzt ein sich genügen könnendes Wesen voraus, das in höchstem Maß einem Gott zu eigen ist14. In wahrhafter Vollendung erreicht man sie deshalb, wie dies Aristoteles beschreibt, nur in der Theorie, und zwar nicht nur deshalb, weil man diese ohne Hilfe Anderer vollzieht, sondern weil man in ihr, kraft der Göttlichkeit des Nous, im Leben selbst Unsterblichkeit erreicht15. Nietzsches Konzeption des selbstgenügenden Handelns oder Seins setzt eine solche Letztverwirklichung nicht mehr voraus. Ausgehend von der Struktur der vorweggenommenen Interpretation, muß sich die Autarkie gerade nicht von äußeren Bedingungen lösen, wie dies für Aristoteles der Fall ist16, sondern stellt sich erst in Auseinandersetzung mit ihnen her: „Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus" (12, 7 [39]).
Für die Struktur der Autarkie bedeutet dies, daß sie nicht resultativ und damit teleologisch aufzufassen ist, sondern prozessual, insofern sie allein im Vorgang der gelungenen Überwindungen beruht. Ihr sind die Widerstände konstitutiv beigegeben, so daß sie letztlich, paradoxerweise, als Bedingung ihrer Möglichkeit gewertet werden müssen: Man kann für Nietzsche nur deshalb autark sein, weil es Widerstände gibt, an denen man die Autarkie ausbilden kann17. Damit wird zugleich der normative Vorrang der Zeitenthobenheit, den sie bei Aristoteles besaß, durch die Geschichtlichkeit, bzw. Lebensgeschichtlichkeit der jeweils vollzogenen Überwindungen ersetzt. Autarkie entsteht in diesem Sinne aus und bildet sich an den eigenen Erlebnissen; sie ist selbst Erlebnis, d.h. Pathos im antiken Sinn. In gewisser Hinsicht ließe sich deshalb auch sagen, daß Nietzsches Konzeption des Selbstgenügens eine Antwort auf Voraussetzungen bildet, die weniger in der griechischen Antike als in der christlichen Anthropologie verankert sind. So versteht er die Bewältigung des Leidens durch die Macht auch als „Selbsterlösung" (12, 10 [168]), was bedeutet, daß der Mensch als solcher, und nicht erst, insofern er an Macht verarmt, erlösungsbedürftig ist18. Eine wesenhafte Autarkie ist dabei von vornherein unmöglich. Die Fähigkeit der Macht wäre dann gleichsam als antiki14
Vgl. Tim. 34 b u. 68 e. EN 1177 a 28-35 u. 1177 b 30-35. 16 Die ethischen Tugenden sind fiir Aristoteles den dianoetischen in Hinsicht auf die Autarkie unterlegen, weil sie im Handeln unter Beweis gestellt werden müssen und deshalb auf Bedingungen materieller oder physischer Natur angewiesen sind (EN 1178 a 25-33). 17 Vgl. Za II, Glückselige Inseln; 4, HOf. / JOB 225; 5, 161 / GD, Streifzuge 38; 6, 139f. u. 12, 10 [103]. lg Vgl. auch 11, 25 [451]. 15
138
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
sierende Kompensation des Wegfalls der christlichen Heilserwartung anzusehen. Wir wollen dieser Frage nach den geschichtlichen Voraussetzungen hier jedoch nicht weiter nachgehen, da sie für die systematische Betrachtung wenig fruchtbar ist. Von der Autarkie aus ist es nur ein Schritt, um zu erkennen, inwiefern die Macht als ein Kriterium des Guten gelten kann. So sind die Bestimmungen der Macht weitestgehend analog zu den Formalkriterien des Guten, auf die sich Platons Philebos beruft19. Nach Platon ist die Autarkie eine Eigenschaft des Guten, insofern das Gute als hinreichend ( ), d.h. als ein erfülltes Dasein und als Gegenteil des Mangelhaften, angesehen werden muß. Übertragen wir dies auf die Macht, so läßt sich sagen: Macht ist gut, weil sie dem Einzelnen eine Lebensform ermöglicht, in der er das ihm Entgegenstehende bewältigen kann und über die hinaus er deshalb keine weitere als gut begehren muß. In diesem Sinn entspricht sie auch dem zweiten der von Platon vorgezeichneten Kriterien, nach dem das Gute in sich selbst vollendet ( ) ist. Nietzsche zeigt dies unter anderen dadurch, daß er sagt, der von ihr Eingenommene erfahre in der Bewältigung von Widerständen „ein geistiges und sinnliches Vollendungs-Gefühl"20. Ein weiteres Kriterium wird offenbar, wenn er von den Selbstempfuidungen des tragischen Künstlers sagt: „Ist es nicht gerade der Zustand ohne Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt? - Dieser Zustand selbst ist eine hohe Wünschbarkeit; wer ihn kennt, ehrt ihn mit den höchsten Ehren" (GD, Streifzüge 24; 6, 127f.).
Der Begriff der Wünschbarkeit kann wörtlich dem Kriterium des Guten zugeordnet werden, dem zufolge es erwünscht (alperov), d.h. ein Ziel des Handelns ist. Allerdings ist hierbei zwischen einem solchen, evaluativen und einem strukturellen Erwünscht-Sein zu differenzieren: Wie ebenfalls gezeigt, geht es Platon bei dem Guten nicht nur darum, daß in ihm ein ausgezeichneter und damit erstrebenswerter Zustand vorliegt, sondern daß das Gute das ist, was man immer und notwendig will. Tatsächlich wird auch diese Dimension bei Nietzsche aufgenommen, wenn er den Willen zur Macht als Grundimpuls des Lebenden begreift: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht, und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein" (Za II, Selbst-Ueberwindung; 4, 147f).
19
Vgl. Phil. 20 d u. 60 c sowie 67 a für die ausdrückliche Gleichsetzung von Autarkie und Gutem. 11, 25 [451]. Vgl. auch 10, l [42]. Zum Ausdruck „Vollkommenheit" vgl. JGB 224; 5, 159 / 12, 9 [102] u. 13, 14 [129].
20
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
139
Auf die Beziehung zwischen dem in jeder Handlungsintention vorauszusetzenden Machtwillen und dem als herausgehobenes Ziel erscheinenden Zustand der „Mächtigkeit" (12, 10 [168]) wird noch an späterer Stelle einzugehen sein21. Was das vierte und letzte der Kriterien betrifft, nach dem das Gute die gezeigten anderen drei Kriterien im höchsten Maß verkörpert, so muß dieses angesichts der Macht entfallen, da sie wegen des notwendigen Bezugs auf die Erhöhung prinzipiell nicht als ein Endzustand betrachtet werden kann. Man kann also nicht sagen, die erlangte Mächtigkeit in einem Einzelnen sei schlechterdings hinreichend, vollendet und ein Letztziel für das Handeln, sondern nur, daß sie das in ihm und für ihn Hinreichende, Vollendete und Angestrebte ist22. Dies ist auch der Grund, warum es für Nietzsche Grade oder Stufungen des Guten gibt, die nicht nur die Grade der Verwirklichung und Anwendung im jeweiligen Handeln sind, sondern Grade seines Wesens: Es gibt kein an sich Gutes außerhalb der Stufen, die es jeweils in den Einzelnen erreicht, denn es gibt keine Macht an sich. Vielmehr schließt der Begriff des Guten, insofern er ihn vertritt, die jeweilige Veränderung zum Besseren oder Schlechteren ein. Dieser Punkt wirkt sich vor allem dann aus, wenn man darauf sieht, daß nicht jeder Mensch denselben Grad der Macht und damit auch des Guten innehaben kann: Wenn das Gute jeweils so ist, wie man es für sich zur Geltung bringen kann, dann muß man sagen, daß es für jeden auch ein anderes Gutes, d.h. eine andere Stufe seiner gibt. Die Autarkie als Mächtigkeit ist kein Wert für die, die sie nicht erreichen können. Nietzsches Ethik führt damit zu einer expliziten Nicht-Egalität der Menschen hinsichtlich ihres Werts, die an späterer Stelle noch konkreter darzustellen und auf ihre Legitimität zu untersuchen ist. Die Macht kann jedoch auch in anderer Hinsicht mit der Konzeption des Guten aus dem Philebos verbunden werden. Dabei ist an die Stelle anzuknüpfen, an der Sokrates, nach der Gleichsetzung des Guten mit dem Maß, erklärt: „Jetzt also ist uns das Vermögen des Guten wieder in die Natur des Schönen entflohen. Denn es ergibt sich doch wohl, daß Maßhaftigkeit und Abgemessenheit überall zu Schönheit und Tugend werden" (Phil. 64 e). Vom Begriff des Maßes ausgehend konnte diese Stelle vordem so erläutert werden: Das Maß ist die Begrenzung in den Phänomenen, die nicht an sich selbst erfahren und begriffen werden kann, sondern nur an dem, was sie begrenzt. Entsprechend dazu ist das Gute, insofern es ein Vermögen bildet, nur in den Vollzügen sichtbar, die durch es ermöglicht werden. Damit ist es der Sache nach mit dem Phänomen des Schönen gleichzusetzen: Das Schöne ist das Gute selbst, insofern es als ein Phänomen erscheint. Dieses Verhältnis kann auch auf die Konzeption der Macht übertragen werden, für die ja ausdrücklich die 21
Siehe S. 159f, zur Notwendigkeit der Selbstzuschreibung des Willens zur Macht in der Ethik. Finks Vorwurf der „Zweideutigkeit" angesichts der gezeigten Doppelung ist damit unbegründet (Fink 1986, 122f).
22
Dies zeigt bspw. GM, Vor. 6; 5, 253.
140
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
Bestimmung als Vermögen gilt. Demnach ist die Macht in Hinsicht auf sich selbst mit dem Maß vergleichbar, in Hinsicht ihres Phänomenaspektes mit dem Schönen. Nietzsche selbst zeigt eine solche Deutung des Begriffes an: „Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in's Sichtbare: Schönheit heisse ich solches Herabkommen" (Za II, Erhabene; 4, 152).
Notizen sprechen analog dazu von der Schönheit als dem „Schatten der Vollendung" (10, 13 [1]; S. 427), verbinden „Mächtigkeit" und „Pracht" (GM, Vor. 6; 5, 253)23 oder definieren: „Was ist Schönheit! Ausdruck des Siegreichen und Herrgewordenen" (12, 6 [26]).
Freilich ist der Begriff der Macht von dem des Maßes wie zuvor von dem der Autarkie durch seine ontologischen Prämissen unterschieden. Diese betreffen nicht nur die von Nietzsche vorgenommene Reduktion des Gegensatzes von Sein und Werden auf ein absolut gesetztes Werden, sondern vor allem das poietische Moment, das mit der Macht hervorgehoben wird. So ist das Maß ein Formpr'mzip, die Macht dagegen ein Formungsprinzip, das am Leitbild künstlerischer Tätigkeit verdeutlicht werden kann24. Sie bedeutet eine „produktive Gewalt" (10, 7 [108]), die hinter Maß und Formen noch zurückgeht, insofern sie diese allererst erzeugt. Mit der poietischen Betrachtungsweise aber geht notwendig eine Relativierung und Subjektivierung des Schönen ineins. Während Platon das Schöne als Idee und damit als eine Qualität der Dinge selbst bezeichnete, muß es von der Produktion her auf den Produzierenden zurückbezogen werden, durch und für den es das Schöne überhaupt nur gibt: „Nichts ist bedingter, sagen wir beschränkter, als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden unter den Füssen. Das „Schöne an sich" ist bloss ein Wort, nicht einmal ein Begriff. [...] Eine Gattung kann gar nicht anders als dergestalt zu sich allein Ja sagen. Ihr unterster Instinkt, der der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung, strahlt noch in solchen Sublimitäten aus" (GD, Streifzüge 19; 6, 123).
Auch das Schöne ist, nach diesen Worten, eine Perspektive, unter der der Mensch dem Dasein Wert verleiht25. Allerdings gilt damit für die Schönheit dasselbe 23
So auch 12, 5 [98]. Vgl. hierzu 10, 16 [32] u. 12, 2 [130]. Das Gute als das Fruchtbarmachende nennt WA 1; 6, 14. Ebenso Bremer 1975, 52ff. 25 Vgl. auch 12, 10 [l67]. 24
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
141
Argument, das wir zu Anfang für das Gute oder auch für Werte nachgezeichnet haben: Weil seine Relativität aus der Verwurzelung in den besonderen Seinsbedingungen des Menschen resultiert, ist es zugleich notwendig, da der Mensch sich nicht von diesen distanzieren kann. Nietzsche zieht aus der Subjektivierung also nicht den Schluß, daß das Schöne nicht als Handlungsziel in seine Ethik integrierbar sei. Überdies bedeutet seine Abkunft aus der Produktivität der Macht, daß ihm von ihr her, wie bei Platon, ontologische Bedeutung zuzuschreiben ist: Das Schöne ist nicht nur ein Urteil, das sich einer distanzierten Hinsicht auf die Welt verdankt, sondern als Empfindung der Reflex einer Eigenschaft im Sein des Menschen selbst. Wie auch die zitierte Stelle unterstreicht, ist das, was als schön beurteilt wird, zugleich etwas, das der Mensch an sich selbst zur Erscheinung bringen kann, was ihm an sich zur Lust gerät26. Beziehen wir diese Konzeption des Schönen auf die Tradition ästhetischen Denkens, so läßt sich sagen, daß Nietzsche an zwei Traditionslinien anknüpft und sie miteinander vereint. Zum einen an die Kantische, die das Kriterium des Ästhetischen aus der Form des Urteils, die ihm zukommt, abzuleiten sucht. Diese Urteilsform hat nicht das Ziel, die jeweilige Sache in dem, was sie ist, begrifflich zu bestimmen, sondern konstatiert das Gefallen, das mit ihr verbunden ist (KU B 4/A 4). Der dabei von Kant für die Bezeichnung des Prinzips in solchen Urteilsformen aufgenommene Begriff des Geschmacks wird von Nietzsche ebenfalls verwendet, so z.B. wenn es heißt: „Moral als Attitüde - geht uns heute wider den Geschmack" (JOB 216; 5, 152).
Dies bedeutet, daß ein Urteil über Handlungsweisen immer als ein Ausdruck subjektiver Hinsichtnahmen auf das Gute gelten muß27. Dabei wird von Nietzsche, wie von Kant, durchaus nicht angenommen, daß die Urteile deshalb auch beliebig seien; denn so wie Kant in ihrer Mitteilbarkeit den Grund für einen Gemeinsinn sah, durch den erwartet werden kann, daß auch andere so urteilen, wie man selbst (KU B 667 A 65), so richtet sich auch Nietzsche in der zitierten Stelle an ein „Wir", das mit ihm zu demselben Urteil kommt. Dennoch wird damit eben nur ein gemeinsames Gefallen ausgedrückt und nicht die Meinung, daß das Handeln auf eine dem Gefallen äußerliche Weise an sich selbst gelungen sei. Zum anderen aber knüpft Nietzsche an ein Denken an, wie es sich in der Ästhetik Hegels offenbart, die als Kriterium nicht die Empfindung gegenüber dem Schönen, sondern die Beschaffenheit des Schönen selbst bestimmt. Daß er dabei die ausdrückliche Beschränkung Hegels auf das Kunstschöne nicht übernimmt28, sondern es im Sinne 26
Vgl. zu dieser Doppelung auch 13, 14 [120]. Vgl. auch JOB 205; 5, 132. 28 Hegel Werke 13, 13f. 27
142
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
Platons ontologisiert, widerspricht der Parallelisierung nur bedingt, insofern die Ontologisierung eben am Modell der Kunst vollzogen wird. Wie sich in der Diskussion des Apollinischen ergab, kann sich Nietzsche das synthetische Moment in jeder Welterfahrung nur als eine künstlerische Tätigkeit erklären. Freilich stellt sich, wenn man Kants und Hegels Konzeptionen der Ästhetik, wie dies hier geschieht, zusammennimmt, die Frage, ob die erstere nicht die letztere unmöglich macht. Wenn die Schönheit nur durch ein Geschmacksurteil bestimmt ist, dann scheint es nicht plausibel, sie zugleich als eine Eigenschaft des Lebens selbst zu deuten. Gegen diesen Einwand können wir jedoch das zuvor Gesagte noch einmal betonen. Das Urteil ist nicht bloß ein Urteil, sondern wird von einer Lebensform, die sich in ihm zum Ausdruck bringt, fundiert: Nicht nur, weil sich sein Gehalt erst durch das Selbst bestimmt, sondern auch, weil der Sinn des Urteils „schön" der einer Bejahung (s.o.), eines Ausdrucks des Gelingens ist, der nur im Hinblick auf ein Selbst verstanden werden kann. Nietzsche kann also sagen, das Schöne sei nur unser Geschmack und doch zugleich behaupten, daß wir damit etwas über uns zur Ansicht brächten, d.h., entgegen Kant, eben ein Erkenntnisurteil fällten, das zumindest angesichts der eigenen Erfahrung Gültigkeit besitzt. Weil der Unterschied zwischen Ästhetik und Erkenntnis für ihn prinzipiell nicht mehr besteht, kann er sowohl die Erkenntnis auf ihre ästhetischen Verfahrensweisen als auch die Ästhetik auf ihren Erkenntniswert für den Menschen hin betrachten29. - Im übrigen ist dies auch der Grund, warum die Begriffe „Wert" und „gut" hier als synonym behandelt werden können. Daß man einer Sache Wert zuschreibt, ist gleichsam nur die subjektive Seite dessen, daß sie sich im Handeln selbst als förderlich und nützlich erweist, bzw. schon erwiesen hat. Ein Wert ist also nicht nur eine Wertvorstellung, sondern immer auch der Ausdruck eines Seins. Die Ontologisierung des Begriffs fuhrt zu weiteren Berührungspunkten mit der Platonschen Philosophie. So sind das Schöne und das Gute auch bei Nietzsche kointentional, da man, wie dies im Symposion geschildert wird, das Schöne nicht um seiner selbst, sondern umwillen des mit ihm verbundenen Guten liebt (Sym. 206 e f.). Nietzsche thematisiert dieses Verhältnis vor allem im Zusammenhang der Kunst. So bestreitet er, „dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l'art pour Fart [...] ist. [...] Was thut alle Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allem stärkt oder schwächt sie gewissen Werthschätzungen.... [...] Geht dessen (des Künstlers - M.S.) unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das Leben! auf eine Wünschbarkeit von Leben!" (GD, Streifzüge 24; 6,127).
29
Vgl. Figal 1994, 77.
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
143
Diese Betrachtung kann, wie auch die vordem angeführte Stelle zeigt, vom engeren Begriff der Kunst abgelöst und auf jedes Phänomen des Schönen angewendet werden. Dabei ist der Bezug des Schönen auf das Gute zweifach zu verstehen: Es ist zum einen der direkte Ausdruck des Besitzes von Macht, zum anderen eine Erscheinung, die, etwa im Sinn des Phaidros (Phdr. 254 b), an diesen Zustand „erinnert" und ihn im Betrachter selber stimuliert30. Daß jedoch, wie man nach dieser Stelle sagen darf, der Sinn des Schönen das Gute ist, bedeutet nicht, daß das ästhetische Kriterium des Schönen nur in diesem Sinn verwendet werden kann. Es ist vielmehr insofern von ihm unabhängig, als es möglich bleibt, eine Sache schön zu nennen, ohne mit ihr die Tendenz auf Machtenveiterung zu meinen. Diese Einschränkung ist ebenfalls bei Platon nachzuweisen, wenn er sagt, daß es vielen reicht, das Schöne nur zum Schein zu haben, während sie das Gute stets als wirkliches erstreben. Für Nietzsche zeigt sich dieses Phänomen vor allem im Umgang mit der Kunst: Wo die Kunst im Sinn des Part pour Tart und das Schöne als ein bloß ästhetisches Kriterium verstanden werden soll, liegt das Unvermögen vor, Schönheit im Handeln selbst herauszubilden. Es wird ein losgelöstes Reich des Schönen angenommen, in dem das Gute keine Rolle spielen muß31. Im übrigen gilt das, was hier für das Schöne ausgeführt wird, auch für seinen Gegensatzbegriff, das Häßliche. Auch das Häßliche kann als Ausdrucksform der Macht erachtet werden, insofern sich diese eben im Bewältigen der unangenehmen oder gar leidvollen Lebensphänomene zeigt. Auch das Häßliche ist jedoch seinerseits nicht notwendig mit der Macht verbunden, da es ebenfalls zur Kompensation des Mangels an der Fähigkeit zum Guten dienen kann: Man will dann die Verneinung dessen, was man selbst nicht zu erzeugen fähig ist32. Doch wie muß das Schöne dieser Konzeption nach an sich selbst beschaffen sein? Eine erste Antwort kann anhand der folgenden Notiz gegeben werden: „Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den „schönen Gefühlen", die er erregt [...]. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen [...]. Über das Chaos Herr werden das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden; Notwendigkeit werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden -: das ist hier die große Ambition" (13, 14 [6l])33.
30
12, 9 [102]. Vgl. auch GD, Streifzüge 8; 6, 116 u. Streifeüge 20; 6, 124. Vgl. 12, 10 [1681. 32 Vgl. 12, 9 [102] sowie die zusammenfassende Darstellung FW 370; 3, 621f. 33 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch WB 5; l, 457.
31
144
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
Auch diese Stelle ist näher an Platon, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn sie kann auf seine Kunstkritik im zehnten Buch der Politeia abgebildet werden. Dabei übernimmt Nietzsche freilich nicht die Kritik der künstlerischen Tätigkeit als solchen, da er diese, wie gezeigt, als Grundzug aller praktischen und denkerischen Tätigkeit versteht. Vielmehr übernimmt er die ontologische Unterscheidung, mit deren Hilfe Platon den Vorrang des Wissens vor der Kunst darzulegen sucht. So ist das Wissen, Politeia X zufolge, deshalb höher einzustufen, weil es dem Gebrauch der jeweiligen Sache abgewonnen wird. Es entspringt der Kenntnis von bestimmten, inneren Funktionen, die nur der erfährt, der mit dem Gewußten umzugehen pflegt. Dagegen wird die Kunst verworfen, weil sie nur die äußeren Erscheinungsweisen einer Sache aufzugreifen strebt: Sie spricht nur über Zustände und Dinge, oder zeigt nur, wie sie aussehen, ohne daß ihr Schöpfer selbst mit ihnen umgeht oder gar die Rezipienten dazu anzuleiten fähig ist34. In ethischer Beziehung heißt dies, daß ein Künstler sich nicht selbst darum bemüht, tugendhaft zu sein (Rep. 599 b). Diese Unterscheidung wird von Nietzsche nun auf den Bereich der ästhetischen Verhaltensweisen übertragen, insofern es in ihnen solche gibt, die äußerlich verbleiben, d.h. nur das suchen, was „gefällt", und solche, die auf einer inneren Gestaltung ruhen und bei denen, wie er einmal sagt, die „Erschaffung schöner Menschen" als primär verstanden wird35. Dies bedeutet, daß man sich gerade nicht auf den Phänomencharakter, der dem Schönen eignet, konzentrieren darf, wenn man ein schönes Leben fuhren will, denn dann würde man nur schön erscheinen. Vielmehr gilt es, eine Form im Leben auszuprägen, die den Phänomencharakter gleichsam unwillkürlich in sich trägt. Man darf, verkürzt gesagt, das schöne Leben nicht als schönes wollen oder fuhren. Doch was heißt es, Formen auszuprägen? Von den zitierten Worten ausgehend, denen zufolge man das Chaos in sich selbst bezwingen soll, könnte man zunächst vermuten, daß es mit dem Versuch der Selbstbeherrschung gleichzusetzen sei. Im Begriff der Selbstbeherrschung aber liegt eine Trennung zwischen zwei verschiedenen Aspekten, dem Beherrschenden und dem Beherrschten, und damit ein im Wesentlichen negativer Sinn. Platon betonte deshalb, wie wir zeigten, nicht die Herrschaft selbst, als er die Tugend der Besonnenheit erläuterte, sondern ein Moment des Einklangs zwischen den verschiedenen Aspekten, so daß angemessener von einer nicht mehr unter Zwang erreichten Selbstregierung, also einem positiven Zustand, auszugehen war. Auch Nietzsche denkt in diesem Sinn, wenn er die Formung als Erreichen von „Notwendigkeit" und „Gesetz" beschreibt, denn darin liegt keine Dominanz einzelner Teile über andere, sondern eine Stimmigkeit, die auf die Ganzheit eines Werkes oder, übertragen, eines Daseins auszudehnen ist36. Man 34 35 36
Rep. 600 c-602 b. 10, 7 [151]. Vgl. auch ebd. [133]. Vgl. hierzu auch FW 305; 3, 543.
5.1.1. Macht als Kriterium des Guten
145
muß Formen also im Vollzug des Handelns selbst zur Geltung bringen können, in dem Sinn, daß man sich in ihnen hält und sie nicht je erst herzustellen sucht. In ethischer Beziehung folgt daraus ein Ideal der Angemessenheit, insofern man das Leben führen soll, das man fuhren kann. Wir kommen darauf noch zurück. Der Primat des Vollzugs läßt sich aber noch in anderer Hinsicht untermauern, nämlich dann, wenn die Funktion des Selbst in seiner Lebensführung in den Blick genommen wird. Dadurch wird auf anderer Ebene bekräftigt, was schon hinsichtlich der Autarkie erläutert wurde. So geht es beim Schönen, wie beim Guten, zwar darum, es durch und für sich selber umzusetzen, dennoch wird das Leben nicht dadurch zu einem schönen Leben, daß es von dem Einzelnen als solches angesehen wird. Seine Schönheit muß vielmehr von sich aus im Zusammenhang der Lebensführung deutlich werden, in den seine Selbstwahrnehmung ihrerseits noch eingelassen ist. Dies zeigt sich, wenn Nietzsche, wiederum in Hinsicht eines künstlerischen Werkes, schreibt: „Man denkt bei dem Wagnerischen Kunstwerke weder an das Interessante, noch das Ergötzliche, noch an Wagner selbst, noch an die Kunst überhaupt: man fühlt allein das Notwendige" (WB 9; l, 495f).
Ein Werk angemessen zu verstehen, heißt demnach, es allein in seiner inneren Gestaltung, und nicht hinsichtlich von äußeren Interessen, zu verstehen. Auf die Lebensführung angewendet heißt dies, daß es bei der Formung um die Sache des geformten Lebens gehen muß und nicht um die Haltungen, in denen sich das Selbst als solches affirmiert. Dies darf freilich, wie in Platons Gorgias, an dem wir das Problem entwickelten, nicht moralisch mißverstanden werden, sondern gilt zunächst rein strukturell: Der Begriff des schönen Lebens wird nicht durch die Haltungen erschöpft, in denen sich ein Selbst auf den Gewinn, den es an seinem Leben hat - seinen Nutzen oder seine Lust - bezieht. Im Gegenteil, selbst wenn man nur solche Haltungen einnehmen wollte, müßte man zunächst so leben, daß man sie einnehmen kann. Dieser Punkt darf aber auch nicht mit den Ausführungen im vorhergehenden Abschnitt verwechselt werden: Dort ging es darum, daß man das schöne Leben nicht nur als ästhetisch Schönes verstehen darf, hier darum, daß man das Schöne nicht nur als ein lustvoll oder angenehm Erscheinendes genießt. Beides bedingt sich streng genommen nicht, da aus ersterem ein Ästhetizismus, aus letzterem ein Utilitarismus oder Hedonismus folgen kann. - Im übrigen bleibt nach dem Gesagten offen, welche Formen man im Leben auszuprägen hat. Legte die vorletzte Stelle mit der Betonung der Logik eine Art von klassischer Formhaftigkeit nahe, so zeigt die letzte, daß Notwendigkeit auch in einem so ausdrücklich unklassischen Sinn wie dem der Wagnerschen Kunst verwendet werden kann. Die Rede von den Formen unterliegt also gleichfalls dem genannten Angemessenheitsideal,
146
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
was bedeutet, daß nur der Grad der Geformtheit entstehen soll, der entstehen kann. Dies entspricht der Ableitung von Formen aus dem poietischen Prinzip der Macht, angesichts dessen der Gedanke eines abgeschlossenen Formzusammenhangs zwar eine grundsätzliche Tendenz bezeichnet, aber nicht im strengen Sinn teleologisch vorgegeben ist. Dieser Punkt wird jedoch bei der Frage nach dem guten Leben noch genauer darzulegen sein.
5.1.2. Personalitäl als notwendige Bedingung Nachdem wir im vorhergehenden Kapitel das Kriterium des Guten in der Doppelung von Macht und Schönheit nachgezeichnet haben, gilt es, die zu Anfang angesprochenen notwendigen Bedingungen des Guten zu entfalten. Die erste, der Instinkt, ist uns schon in der Frage nach der Vernunft begegnet. Er kommt hier jedoch nicht als ein Wissen, sondern als die bloße Form des Wissens oder Handelns in Betracht. Seine systematische Funktion ergibt sich unmittelbar aus dem zuletzt Gezeigten, dem zufolge in der Macht die Qualität eines schönen und autarken Lebens liegt, das man vollziehen können muß. Man muß in dem Vollzug, wie im ersten Kapitel dargelegt, schlechterdings anfangen können. Es ist deshalb als Bestätigung zu sehen, wenn Nietzsche auch in Hinsicht auf das Gute sagt: „Alles Gute ist Instinkt - und, folglich, leicht, nothwendig, frei. Die Mühsal ist ein Einwand" (GD, Irrthümer 2; 6, 90)37.
Freiheit und Notwendigkeit dürfen hierbei allerdings nicht nach dem Schema der Kausalität gedeutet werden. Vielmehr bezeichnen sie, wie auch die Rede von der Leichtigkeit belegt, Eigenschaften, die der Macht als dem Prinzip der Selbstbewegung zuzuschreiben sind. So muß das Selbstbewegte, dem Begriff nach, frei im Sinn der Unabhängigkeit vom Einfluß anderer Kräfte sein. In mehr ethischer Beziehung läßt sich dies auch so beschreiben, daß man sagt, Macht dürfe nicht mehr als Gewalt erscheinen, wenn sie zur Vollendung und Genügendheit gelangt38. Sie muß „ungewollt" (FW 382; 3, 637) erfolgen können, was nicht heißt, daß man nicht absichtsvoll mit ihr verfahren könnte, sondern daß man sich nicht mehr um sie bemühen müssen darf. Allerdings wird hierbei auch ersichtlich, inwiefern der Instinkt zwar eine notwendige Bedingung für das Gute, aber noch nicht das Kriterium des Guten bildet: Es ist die Ungewolltheit der Macht, um die es bei ihm geht, und nicht die Ungewolltheit selbst, denn diese kann in jedem Handeln, auch in
37 38
Vgl. auch EH, Klug; 6, 297. Vgl. GD, Vorwort; 6, 57 u. 12, 7 [3] sowie 13, 14 [l 17], zur Lust im Vollzug der Macht.
5.1.2. Personality als notwendige Bedingung
147
schlechtem, vorgefunden werden. Sie ist eine rein formale Qualität, aus der sich nicht der Wert der Handlungen ergibt. Damit kommen wir zur zweiten der notwendigen Bedingungen, der Personalität. Diese wird von Nietzsche überwiegend als ein Synonym zum Begriff der Individualität verwendet (FW 23; 3, 395), ihr jedoch, an manchen Stellen, wegen ihrer anderen Akzentuierung vorgezogen. Auch wir verwenden die Begriffe im folgenden als Synonyme und werden sie nur dann, wenn dies gegeben ist, ausdrücklich unterscheiden. Als Ausgangspunkt der Untersuchung sollen zwei polemisch zugespitzte Dikta gelten: Einerseits die antitheologische Bemerkung, der zufolge das Individuum „etwas Absolutes" (10, 24 [33]) sei, andererseits der an Hegel angelehnte Ausspruch, die Individuen seien die „wahren An- und Für-sich's" (FW 23; 3, 397). Versucht man diese Dikta zu erläutern, so ist es zunächst nötig, die emphatische Verwendung des Begriffs der Individualität von der Nietzscheschen Kritik am Subjektbegriff zu unterscheiden. Dessen Ursprung liegt für ihn in einer atomistischen Vorstellungsweise, d.h. in einer Vorstellung, es gebe substantielle, unteilbare Einheiten, zu denen auch die menschliche Seele gehört. Dementgegen sucht er die Personeneinheit eines Einzelnen als das veränderliche Resultat einer wesentlichen Vielheit zu beschreiben, so z.B. in der Rede von der Seele als einem „Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte"39. Ausschlaggebend hierfür ist das Argument, daß es genügt, eine synthetische Selbstorganisation der Vielheit anzunehmen, so daß keine wesensmäßig angelegte Einheit nötig ist, um das Ichgefühl des Menschen zu erklären40. Analog zu dieser dem Substanzgedanken geltenden Kritik versucht er, die These von der einheitsstiftenden Funktion des Selbstbewußtseins, die vor allem durch den Idealismus ausgebildet worden war, zu widerlegen. Das dabei entscheidende Argument liegt darin, daß das Selbstbewußtsein nicht die Ursache der Einheit sein kann, da es ebenfalls nur Resultat der Triebe ist41. Demnach fußt die Konzeption der Personalität und Individualität, die er zugrundelegt, nicht auf einer Leistung des Bewußtseins oder auf der Annahme einer unteilbaren Substanz. Er notiert vielmehr: „Jeder Mensch ist eine schöpferische Ursache des Geschehens, ein primum mobile mit einer originalen Bewegung" (10, 4 [138]).
Die Individualität des Menschen wird, nach diesen Worten, durch die Selbstbewegung der Lebendigkeit begründet, d.h. durch den Umstand, daß der Grundimpuls des Lebens in ihm nicht aus etwas anderem abgeleitet werden kann. Für diese Fähigkeit zur Selbstbewegung hat Nietzsche auch den Ausdruck Kraft, welcher 39
JOB 12; 5, 27. Vgl. auch 13, 14 [79] sowie die anders vorgehende Kritik in GD, Irrthümer 3; 6,90f. Vgl. 11, 40 [38] u. 12, 2 [91]. 41 Vgl. 11, 34 [46] u. 12, l [58]. 40
148
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
seinerseits mit dem des Triebes gleichzusetzen ist. Daher läßt sich Individualität auch als ein Geschehen von „lebendigen, treibenden Kräften" denken (FW 307; 3, 545). Freilich ergibt sich aus der Selbstbewegung zunächst nur die Eigenständigkeit der jeweils in Wirkung seienden Kraft, nicht jedoch, daß diese auch ein Selbst- und Ichgefuhl erzeugt, d.h. von einem Einzelnen als seine Kraft erfahren wird. Um dies zu begründen, verweist Nietzsche auf den „nothwendigen Perspektivismus, vermögen dessen jedes Kraftcentrum [...] von sich die ganze übrige Welt construirt d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet" (13, 14 [186]).
In der Kraft liegt demnach eine Richtungshaftigkeit, die bewirkt, daß man sie auch als von sich ausgehend erfährt. Sie vollzieht sich im Bezug des Einzelnen auf das, was ihm entgegensteht. Damit wird nun nachvollziehbar, warum Nietzsche meinen konnte, mit dieser Konzeption der Individualität dem substantialistischen Verständnis des Subjektbegriffes zu entgehen: Was der Kraft zufolge als ein Individuum erfahrbar wird, verdankt sich einzig der Besonderheit und der Zentrierung des Geschehens selbst und keinem in ihm ruhenden Substrat. Es bedeutet einen „Mittelpunkt" (WA, Zweite Ns.; 6, 48)42 und eine „innere Kraft" (12, 2 [175]), die sich von anderem letztlich nur durch seine Selbstlokalisierung, nicht jedoch durch seine Selbstidentifizierung unterscheidet. Freilich hat die Konzeption gerade darin ihre Grenzen, da sie keine Differenz zwischen menschlichen und physischen Kräften beibehält. Ob sie also in der Tat genügt, das Phänomen des Ichs zu deuten, kann mit Recht bezweifelt werden. In unserer Untersuchung können diese Fragen jedoch abgeblendet werden. Im Zentrum des Interesses stehen vielmehr die Konsequenzen für die Ethik. So kommen der Individualität von dieser Konzeption aus auch die Dimensionen zu, die wir angesichts der anderen Bedingung, dem Instinkt, erläutern konnten. Sie ist, in der gezeigten Doppelung, gleichzeitig notwendig und frei: „Was kann allein unsre Lehre sein? - Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst [...]. Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängnis, man gehört zum Ganzen, man ist im ganzen [...]. Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf [...], dies erst ist die grosse Befreiung" (GO, Irrthümer 8; 6, 96f.).
42
So auch 12, 9 [98].
5.1.2. Personalitäl als notwendige Bedingung
149
Wie gezeigt, darf die hier angesprochene Notwendigkeit nicht kausal, d.h. als Determination durch eine äußere Ursache verstanden werden: Auch wenn der Mensch „zum Ganzen gehört", so ist das Ganze doch für ihn kein Zwang, denn er ist keine für sich seiende Entität, die sich von diesem lösen und deshalb von ihm beeinflußt werden könnte. Als Selbstbewegung ist er vielmehr Teil des sich selbstbewegenden Ganzen selbst, d.h. er ist das Ganze, insofern es sich jeweils als Ganzes in seinen Teilen repräsentiert43. Er ist also gleichzeitig so frei, wie das Ganze selbst. Allerdings ist er nur von allen äußeren Einflüssen auf seine Lebensbewegtheit frei, nicht jedoch insoweit, als er über die Bewegtheit auch verfügt: Seine Personalität bleibt gegenüber allen anderen Kräften nur insofern eigenständig, als sie unausweichlich so ist, wie sie ist. In ethischer Beziehung heißt dies, daß ein Einzelner kein anderes Sein für sich erlangen wollen kann, als das, das er besitzt: Er wird durch sich selber frei und ist doch aus eben diesem Grund an sich gebunden44. Gleichzeitig bedeutet seine Selbstbewegtheit, daß er sich nicht vor sich selbst in etwas anderes, in Tätigkeiten oder Werke, flüchten kann: Jede Selbstflucht ist in ihrem Ursprung ein Vollzug der eigenen Kräfte, so daß, wie es einmal heißt, „alle Handlungen ganz sein eigen" sind (10, 24 [33])45. Gleichwohl heißt dies nicht, daß ein Charakter oder eine Lebensführung schlechthin unveränderbar und unablegbar wäre: Da die Kraft dem Wesen nach dynamisch ist, kann sie sich im Vollzug verändern, so daß Änderungen möglich bleiben, wenn sie aus dem Aus-sich-Sein der Kräfte selbst erfolgen. Dieser Punkt wird später noch ausführlicher behandelt werden. Aus diesen Überlegungen folgt aber auch, daß die Individualität nicht nur für den Einzelnen als solchen, sondern auch für jede seiner Handlungen behauptet werden muß. Da sie eben von der Kraft her zu bestimmen ist, erweist sie sich, wie diese, nur durch den Vollzug des Handelns selbst. Das Wesen eines Einzelnen ist letztlich also mit den Handlungen, die er vollzieht, identisch, so daß seine Eigenschaften auch auf diese übertragbar sind. Methodisch heißt dies, daß das Aus-sichSein auch auf der Ebene der Handlungen beschrieben werden muß. Nietzsche unternimmt dies durch die Reduktion aller dem Vollzug als solchem äußerlichen Elemente. Äußerlich oder besser: nachgeordnet ist, wie wir anhand der Willenstheorie erweisen konnten, die Zweckvorstellung oder Absicht, die der Handlung beigegeben ist, insofern aus ihr nicht der Vollzug der Handlung selbst abgeleitet werden kann. Diese Frage interessiert uns nunmehr in Beziehung auf das Gute, denn sie wird dann relevant, wenn man nach demjenigen Teil in einer Handlung fragt, von dem aus sich ihr Wert bestimmt. Wenn die Absicht einer Handlung in der dargelegten Hinsicht äußerlich verbleibt, dann folgt daraus, daß 43
Vgl. auch 12, 9 [30] u. [84]. Vgl. auch GD, Moral 6; 6, 87. 45 · 'Vgl. auch 11, 25 [l 64].
44
150
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
sie auch nicht als ein Bezugspunkt ihres Werts verwendet werden darf. Hierin liegt zugleich ein weiterer Aspekt der Nietzscheschen Moralkritik begründet, insofern er als ein Kriterium der Moral, wie schon gezeigt, die Zuschreibung von Handlungen auf einen freien Willen oder doch zumindest eine Absicht sieht. Da er diese leugnet, leugnet er auch, daß man Handlungen von einer guten oder bösen Absicht her bewerten kann. Vielmehr sind sie von dem her zu bewerten, was „nichtabsichtlich" in ihnen ist, d.h. vom eigentlich Vollzogenen aus46. Ein Hinweis darauf, wie dies zu verstehen ist, kann der folgenden Notiz entnommen werden: „Nach Absichten einen Menschen abschätzen! Das wäre als wenn man einen Künstler nicht nach seinem Bilde, sondern nach seiner Vision taxierte!" (l l, 25 [119]).
Bildet demnach das Nicht-Absichtliche den Bezugspunkt für die Wertung einer Handlung oder eines Individuums, so wird diese der Bewertung eines Kunstwerks gleich: So wie ein Kunstwerk weder durch das ihm Vorausgegangene (die Absichten des Künstlers) noch durch seine Wirkungen auf andere erschöpfend zu bestimmen ist, so ist auch der Grundvorgang des Handelns oder die Beschaffenheit des Individuums von allem Äußerlichen freizuhalten und allein auf sein intrinsisches Gelingen zu besehen47. Dies gilt auch für alle hedonistischen und utilitaristischen Bewertungsweisen. Was letztere betrifft, so geht Nietzsche von dem Argument aus, daß der Nutzen einer Handlung gar nicht objektiv bestimmbar ist: Was in seinen direkten Konsequenzen schadet, kann in seinen indirekten durchaus nutzvoll sein und umgekehrt. Wie die Absicht muß der eingetretene Nutzen der jeweils vollzogenen Handlung also nicht Entsprechung leisten, sondern wird durch äußere Kriterien, durch ihr Umfeld oder gar durch Folgehandlungen, bestimmt. Über was die Handlung aber von sich selbst her nicht verfügt, kann ihr nicht als Wert oder Unwert zugerechnet werden. Dasselbe Argument gilt auch für die Lust, denn sie bedeutet gleichfalls eine Wirkung, die in ihrer Art nicht dem Wert des sie Bewirkenden entsprechen muß48. - Damit zeigt sich auch im Rahmen des Begriffs der Individualität, daß das mächtige und schöne Leben als in sich gelungen anzustreben ist. Dennoch ist diese Argumentation nicht redundant, denn während wir uns oben am Kriterium des Guten orientierten, gilt das hier Gesagte, wie schon beim Instinkt, nur im Sinn neutraler, handlungstheoretischer Bestimmungen. Aus dem bisher Dargelegten zeigt sich freilich nur, was die Individualität des Menschen und der Handlungen in ihrer Konsequenz bedeutet, nicht jedoch, wie das Prinzip der Individualität an sich verstanden werden muß. Dies ist folgender Betrachtung zu entnehmen: 46
JOB 32; 5, 51. Vgl. auch 12, l [79] u. 10 [137]. Zur Moralkritik vgl. 12, 10 [46-7]. Vgl. auch 12, 5 [105] u. 9 [55] (zusammen mit 11, 26 [166]). 48 Vgl. FW 1; 3, 369f. / 11, 25 [128] / 12, 10 [50] u. 13, 14 [185].
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5. l.2. Personalität als notwendige Bedingung
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„Wer noch urtheilt „so müsste in diesem Falle Jeder handeln", ist noch nicht fünf Schritte weit in der Selbsterkenntniss gegangen: sonst würde er wissen, dass es weder gleiche Handlungen giebt, noch geben kann, - dass jede Handlung, die gethan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiederbringliche Art gethan wurde, und dass es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung stehen wird, - [...] dass unsere Meinungen von „gut", „edel", „gross" durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist" (FW 335; 3, 562f).
Diese Bestimmung des Begriffs des Individuellen stützt sich auf zwei Momente. Zunächst auf das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren: Wenn Nietzsche sagt, daß es keine gleiche Handlung „geben kann", so heißt dies, daß es prinzipiell nicht möglich ist, zwei in allen Eigenschaften gleiche und doch nicht identische Handlungen zu denken. Gleichheit aller Eigenschaften kann im Rahmen von empirischen Bedingungen, d.h. im Rahmen zeitlicher und räumlicher Bedingtheit, nur dann angenommen werden, wenn man von derselben Sache spricht. In der Bemerkung, Urteile wie „gut" und „edel" seien nicht im Handeln nachzuweisen, nimmt er dementgegen das Prinzip auf, dem zufolge man ein Individuum nicht definieren kann. Definieren oder wissen läßt sich nur das Allgemeine49. Entscheidend ist nun aber nicht der bloße Umstand, daß Nietzsche diese zwei Prinzipien aufnimmt, denn sie können letztlich als die analytischen Bedingungen des Begriffs der Individualität verstanden werden. Entscheidend ist vielmehr, daß, einhergehend mit ihnen, jede Möglichkeit allgemein bestimmbarer Momente in den Phänomenen abgestritten wird: Nach den Prämissen des von Nietzsche absolut gesetzten Werdens kann man etwas Einzelnes nur dann als Beispiel einer Gattung sehen, wenn man von seiner wesentlichen und primären Einzigartigkeit durch Schematisierung abstrahiert. Trotzdem er Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Einzelwesen nicht bestreitet, leugnet er damit die Subsistenz von allgemeinen Qualitäten, so daß die Individuen zugleich das Seiende schlechthin, das „an und für sich" Seiende sind50. Dies bedeutet, daß in der Unbestimmbarkeit des Individuellen nicht nur ein Moment in einer sonst bestimmten Welt vorzufinden ist, sondern ein Bezugspunkt, auf den hin jede einzelne Bestimmung relativiert werden kann: „Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in's Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr..." (FW 354; 3, 592f.),
Der Sinn der Konzeption liegt also gerade darin, ein Prinzip des Handelns aufzuweisen, dem gegenüber jede mögliche Bestimmung als Schematisierung aufzu49 50
Vgl auch 9, 7 [54]. Vgl. 9, 11 [156], [166] u. [178].
152
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
fassen ist. Das Individuelle soll nicht selbst Bestimmung innerhalb des Handelns werden - wodurch es auch aufgehoben und in eine allgemeine Form verwandelt würde -, sondern seinen Horizont bezeichnen, dergestalt, daß jede einzelne Bestimmung auf die Individualität als ihren eigentlichen Sinn bezogen werden muß51. Was dies heißt, kann in Anlehnung an ein Argument Friedrich Schlegels erläutert werden: „Das Individuum ist ein beständiges Werden, sobald also die Welt ein Individuum ist, ist sie unvollendet. Dieser Satz [...] ist außerordentlich wichtig für alles. [...] Wäre die Welt vollendet, so gäbe es dann nur ein Wissen derselben aber kein Handeln" (Schlegel 12, 42).
Daß die Individualität nicht einzuholen ist, bedeutet so die Möglichkeit des Handelns überhaupt. Der Einzelne erfahrt die Welt nicht nur als so und so bestimmte, sondern auch als Offenheit von Möglichkeiten. Nietzsches Argumentation ist demgegenüber spezifischer, zielt aber auf dasselbe Resultat. Sie läßt sich, parallel zu Schlegel, so paraphrasieren, daß man sagt: Nur wenn das Individuum grundlegend und zugleich ungreifbar ist, wird ein Handeln als Individuum möglich. Nur dann setzt sich das Handeln eines Einzelnen nicht in festen, allgemeinen Formen nieder, sondern bleibt auf den Horizont des Begriffes einer nur ihm eigenen Lebensmöglichkeit bezogen. An dieser Stelle sind jedoch noch nicht die praktischen Momente wichtig, sondern die Bedingungen der Wertzuschreibung. So muß auf die zweifache Bedeutung des Begriffs der Individualität verwiesen werden. Nietzsche schreibt bspw.: „Der Werth einer Handlung hängt davon ab, wer sie thut und ob sie aus seinem Grund oder aus seiner Oberfläche stammt: d.h. wie tief sie individuell ist" (l l, 27 [32]).
Zwar hat die Individualität durch die Fundierung in der Selbstbewegung ontologischen Charakter und kommt deshalb einem jeden Lebewesen zu; sie kann jedoch in einem Einzelnen noch an der „Oberfläche" bleiben, als ein Antrieb, der nicht in sein Wesen eindringt und ihn auch in praktischer Beziehung als ein Individuum bestimmt. Damit ist sie nur in allgemeiner Hinsicht als Prinzip des Seienden zu denken; auf den Einzelnen bezogen, als denjenigen, der sie verwirklicht, zeigt sie sich dagegen „unbegrenzt", d.h. in unendlich Steiger- und verminderbarer Form, so daß jeder daraufhin zu prüfen bleibt, inwieweit er Individuum ist. Diese Doppelung besteht bereits im Phänomen der Macht, mit dem die Individualität in ihrem Ursprung gleichzusetzen ist: Macht ist, als Wille zur Macht, die Grundtendenz des 51
Vgl. auch FW 8; 3, 380 u. FW 120; 3,477 sowie 10, 9 [48] u. 13, 14 [8].
5. l .2. Personalität als notwendige Bedingung
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Lebens und von daher allgemein, äußert sich jedoch in jedem Einzelnen in einem anderen Grad. Die Graduierbarkeit des Individuellen wird jedoch nicht nur, wie hier, in ethischer, sondern gleichfalls in geschichtlicher Beziehung relevant, genauer in Beziehung auf das Phänomen der Auflösung von Traditionen, das für die Entwicklung zur Moderne ausschlaggebend ist. Durch die Auflösung, so läßt sich schematisch sagen, steigert sich die Individualität und wird als solche überhaupt erst frei. Wenn diese Steigerung jedoch mit dem Begriff der Individualität verbunden ist und ihm nicht nur als äußere, d.h. soziale und politische Bedingung zukommt, dann hat er einen zumindest geschichtlich vermittelten Sinn. Wir müssen die Behandlung des Begriffs also noch um diese Dimension erweitern. Freilich beschränken wir uns dabei auf die für das Verständnis unumgänglichen Momente und blenden alle weitergehenden Aspekte ab. Zur Hinfuhrung ist auf folgende, längere Passage einzugehen, in der Nietzsche ein Schema der geschichtlichen Entwicklung darzulegen sucht: „Nun sehe man einmal ein aristokratisches Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine, sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der Züchtung an: Es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen, welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich durchsetzen müssen [...]. Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen zum Trotz, noch da ist, dass sie noch immer obsiegt hat: diese Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie gross. [...] Endlich aber entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach [...]. Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht [..], der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen Wendepunkten der Geschichte zeigt sich [...] ein herrliches vielfaches urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben [...], Dank den wild gegeneinander gewendeten, gleichsam explodirenden Egoismen [...]. Das „Individuum" steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung [...]. Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in's Individuum verlegt [...]: was werden jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese Zeit heraufkommen? [...] Die Mittelmässigen allein haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen [...]; „seid wie sie! werden mittelmässig!" heisst nunmehr die alleinige Moral [...]. Aber sie ist schwer zu predigen, [...] sie muss von Maass und Würde und Pflicht und Nächstenliebe reden, - sie wird Noth haben, die Ironie zu verbergen! - (JGB 262; 5, 214-17).
Für den Einzelnen bedeutet der Prozeß der Auflösung von Traditionszusammenhängen, diesen Worten nach, den Gewinn von Autonomie: Er löst sich von dem Anspruch, die von der Gemeinschaft vorgegebenen Tugenden weiterzuverfolgen
154
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
und kann nunmehr eigene Gesetze als verbindlich für sein Handeln übernehmen52. Allerdings wird dieser Vorgang nicht zugleich als ein Gewinn von Rationalität verstanden, in dem Sinn, daß die Autonomie darin bestünde, daß der Einzelne nach der Begründung für die Handlungsnormen fragte und nur das als gültig anerkennen wollte, was es vor sich selbst rechtfertigen kann. Vielmehr bedeutet sie, so wie Nietzsche sie beschreibt, in ihrem Ursprung überhaupt kein reflektierendes Verhalten, sondern fußt in dem naturgegebenen Impuls zum Egoismus. Dabei gilt es zu beachten, daß der hier verwendete Begriff des Egoismus nicht moralisch, sondern ontologisch aufzufassen ist: Er bezeichnet die notwendige Perspektivität und Selbstzentriertheit allen Kraftgeschehens und wird deshalb auch von Nietzsche als „die Eine Thatsache" (10, 7 [256]) in allem Denken oder Handeln eingeführt. Damit löst er sich zum einen von der Funktion eines Gegensatzbegriffs zu altruistischem Verhalten, da auch dieses, in der tieferen Bedeutung, egoistisch vor sich geht, und zum anderen von der Bindung an ein Ich, da man für ihn nicht, wie im Sinne der Moral, sagen kann, Egoismus sei das Streben eines Menschen, dem es nur um seine Lust oder seinen Nutzen geht. Er stellt vielmehr eine Grundtendenz des Lebens dar, die ihrerseits das Ich konstituiert. Für die Auflösung der Traditionszusammenhänge heißt dies aber, daß sie in ihrem Ursprung nicht als Resultat einer geistigen Entwicklung aufzufassen ist, sondern eben als natürlicher Prozeß: Sie geschieht nur durch die graduelle Steigerung und praktische Affirmation der prinzipiell vorhandenen Selbstigkeit der Kraft. Die entstehende Individualität ist deshalb weniger ein Vorgang innerhalb des Denkens oder Handelns, d.h. etwas, das der Mensch in irgendeiner Weise selbst bewirken könnte, sondern ein Geschehen, das in dieser Auflösung nur freigesetzt und zugelassen wird: Die Traditionsgemeinschaft unterdrückte sie, weil sie die äußere Gefahr dazu veranlaßt hatte, und hebt sich zugunsten ihrer auf, wenn dieser zureichende Grund zur Unterdrückung nicht mehr fortbesteht; ohne daß man dies den Einzelnen als ihr Werk zuschreiben könnte53. In dieser Konzeption liegt eine Neubestimmung der geschichtlichen Funktion der Rationalität. Diese kommt mit der von Nietzsche angesprochenen Entstehung der „Moral-Philosophen" ins Spiel. Wen er mit ihnen meint, wird im Hinweis auf die Ironie erkenntlich, die er als ein Attribut des ersten, explizit von der Vernunft ausgehenden Denkers, nämlich Sokrates, hervorgehoben hat (JGB 191; 5, 112). Entsprechend dazu nennt er mit den Worten Maß, Würde, Pflicht und Nächstenliebe summarisch die Leitbegriffe sowohl der antiken als auch der christlichdeontologischen Moral, d.h. die Leitbegriffe der philosophischen Moral schlechthin. Der Naturprozeß, in dem der Egoismus freigesetzt wird, ist also zugleich der Prozeß der Entstehung der Philosophie. Daß er die Philosophie jedoch gerade 52 53
Vgl. auch FW 117; 3, 475f. u. Za I, Tausend Ziele; 4, 75f. Vgl. auch 9, 6 [123].
5.l.2. Personalität als notwendige Bedingung
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nicht als Ausdruck eines neu erlangten geistigen Vermögens, sondern vielmehr als ein ängstliches Bemühen um die Vermittelmäßigung des Menschen darstellt, heißt, daß in der Rationalität die wirkliche Autonomie nicht zu sich selber kommen kann, sondern sich im Gegenteil verkennt: Die Philosophie bindet die gerade frei gewordene Individualität mit der Forderung nach der Befolgung allgemeiner Regeln wieder an den nur latenten Zustand, den sie in der substantiellen Sittlichkeit besaß. Anstatt das naturgemäße Wachsen der verschiedenen Egoismen so geschehen zu lassen, wie es aus sich selbst geschieht, sucht sie seine potentielle Steigerung dadurch zu unterbinden, daß sie es auf ein sozial verträgliches Niveau festzuschreiben strebt. Sie verkörpert letztlich also eine Form der Gegenaufklärung, da sich die eigentliche Aufklärung, die Loslösung von Traditionen, gerade im Naturimpuls des Egoismus offenbart54. Auch dieser Funkt ist im Rahmen unserer Überlegungen nicht neu, da wir schon in der Diskussion der Willenstheorie erweisen konnten, daß für Nietzsche die Autonomie nicht aus einer wesenhaften Freiheit, etwa der Vernunftnatur des Menschen, sondern aus einem erst herausgebildeten Können, einer zum Ethos gewordenen Disposition, entspringt. Damals aber zeigten wir dies nur in handlungstheoretischer Beziehung, hier dagegen wird erwiesen, wie sich Freiheit praktisch und geschichtlich zur Erscheinung bringt. Die Frage nach der Funktion der Rationalität führt uns zugleich an einen Punkt, an dem sich, wie schon eingangs angekündigt, Individualität und Personalität unterscheiden lassen, bzw. an dem eine Unterscheidung sichtbar wird, die sich in dieser Weise begrifflich fassen läßt. So notiert sich Nietzsche: „Der Individualism ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des „Willens zur Macht": hier scheint es dem Einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft (sei diese die des Staates oder der Kirche..) Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als Einzelner; er vertritt alle Einzelnen gegen die Gesammtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit jedem Einzelnen [...]. Der Socialism ist bloß ein Agitationsmittel des Individualisten: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesammtaktion organisiren muß" (12, 10 [82]).
Was Nietzsche hier Individualismus nennt, läßt sich, nach dem eben Ausgeführten, als begrenzter und gleichsam vermittelmäßigter Egoismus definieren. Es ist eine Haltung, der die rein quantitative Einzelheit des Menschen ausreicht und die diese nicht in eine Qualität, in ein individuelles Wesen, weiter auszubilden strebt. Deshalb ist sie auch mit kollektivistischen Gemeinschaftsbildungen vereinbar: Sie löst sich aus den Traditionszusammenhängen, jedoch nur, um in andere Zusammenhänge einzugehen, die zwar nicht auf einer vorgegebenen Tugend, dafür aber auf
' Vgl. FW 23; 3, 395-8 / FW 143; 3, 490f. u. JOB 32; 5, 50.
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5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
der Gleichheit aller Einzelnen beruhen. Demgegenüber kommt der Personalität, so wie sie hier verwendet wird, die Tendenz zur Unterscheidung von den Anderen zu; im Gegensatz zur Individualität, die sich als ein Allgemeinprinzip beschreiben läßt, bezeichnet sie das Sein des Einzelnen als solchem55. In dieser Hinsicht liegt auch in der Personalität, wie schon in der Macht, eine Dimension der NichtEgalität begründet. Sie resultiert jedoch aus einem unterschiedlichen Gesichtspunkt, denn während die Graduierungen der Macht als dem Kriterium des Guten eine Differenzierung zwischen Besserem und Schlechterem bedeuten, gelangt man von der Personalität zunächst nur zu einer Unterscheidung zwischen Selbstigkeit und Kollektivität. Wir werden erstere von daher eine vertikale Differenzierung nennen - insofern das Bessere zugleich das Höherwertigere ist -, letztere dagegen eine horizontale, da es in ihr nur um den Grad der Eigenständigkeit in Relation zu Anderen geht. Zwar könnte es als Widerspruch dazu erachtet werden, daß auch die Personalität als jeweils höher oder niedriger aufzufassen ist, dennoch ist selbst eine „tiefe" Personalität, wie sie vordem angesprochen wurde, an sich nicht hinreichend, um zu sagen, daß man ihrem Träger oder seinen Handlungsweisen einen höheren Rang als Anderen zuerkennen muß. Dazu braucht man auch ein inhaltliches Wertkriterium, wie es eben in der Macht begründet liegt56. Die Nicht-Egalität der Personalität heißt also nur, daß jemand nicht an Andere angeglichen werden kann. Daß die Personalität jedoch, nach Nietzsche, als notwendige Bedingung für das Gute, d.h. für den Machtvollzug im oben dargelegten Sinne, anzusehen ist, bedeutet nach dem hier Gezeigten, daß die Macht notwendig als Person verwirklicht werden muß. Man hat sie demnach, so wie man sie hat, nicht mit Anderen gemein. Dieser Umstand einer horizontalen Differenzierung ist dem Begriff der Macht jedoch, im Gegensatz zur vertikalen, nicht von sich aus inhärent, denn selbst wenn man sagen muß, daß man Autarkie und Schönheit jeweils in sich selbst zur Geltung bringt, so folgt doch aus diesem Umstand nicht, daß man sie nur in radikal persönlicher und unvergleichlicher Gestalt besitzen kann. Man könnte sich, auf ihrer Basis, auch ein gutes Leben denken, welches, wie bei Platon, zur Ermöglichung einer gesetzlich oder sittlich stimmigen Gemeinschaft führt. Dies aber wird von Nietzsche weggestrichen, insofern in intersubjektiver Hinsicht für ihn nur mehr eine Form der Freundschaft akzeptabel bleibt, die ebenfalls, wie noch zu zeigen sein wird, von der Personalität aus zu bestimmen ist. Die Einschränkung der Macht auf die Person muß demnach erst aus einem eigenen Argument erläutert werden.
55
Vgl. auch 11, 25 [287] / 11,40 [26] u. 12, 7 [6]; S. 280f. Vgl. GD, Streifzüge 33; 6, 13 If. Den Status der Bedingung zeigen auch FW 345; 3, 577f. u. GD, Streifzüge 35; 6, 133f. sowie 10, l [42].
56
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
157
Zu diesem Zweck ist auf ein weiteres Strukturmoment des Guten, seine Modi, einzugehen. Die Modi sind, wie dargelegt, die Erscheinungsformen der Macht als dem Kriterium des Guten. Macht wird demnach, in den Worten Nietzsches, erfahren als „Gefühl der Macht", als „Willen zur Macht" und als „Macht selbst". Wir interpretierten dies als Selbstverstehen des Einzelnen, als intentionales Streben und als Vollzug. Bei unserer Diskussion der Macht haben wir von diesen Modi allerdings nur letzteren behandelt, insofern wir die Autarkie in der Bewältigung des Widerständigen sowie die innere Gestaltung eines schönen Lebens in ihrer jeweiligen Qualität, also eben als Vollzug beschrieben haben. Von den beiden ersten aus gesehen folgt jedoch, daß man Macht nicht nur als ein tatsächliches Vermögen haben, sondern den Besitz auch in sich wissen oder als ein Handlungsziel erstreben soll. Dabei gilt es freilich zu beachten, daß das Machtgefühl und der Wille zur Macht nicht ihrerseits als Bedingungen des Guten mißverstanden werden dürfen. So könnte man versucht sein, die Betonung von Gefühl und Willen daraus abzuleiten, daß man sie als die Bedingungen der Zurechnung des Guten zu seinem Träger sieht. Eine Handlung wäre demnach dann als gut zu werten, wenn der Handelnde von ihr durch seine Selbstempfindung weiß und sie auch ausdrücklich will. Wie wir jedoch zeigten, ist sowohl die begleitende Empfindung als auch die Absicht dem Vollzug als solchem äußerlich, so daß sich für Nietzsche das Problem der Zurechnung nicht stellt. Dem Kriterium des Guten kann allein durch die Vollzüge Genüge geleistet werden. Daß Gefühl und Wille Modi des Guten sind, heißt demnach, daß sie gleichberechtigt neben den Vollzügen stehen und als Modi des Guten selbst zu gelten haben. Man muß also sagen, daß das Gute unter anderem darin liegt, daß man sich mächtig fühlt und Macht erstrebt. Um zu verstehen, was dies bedeutet und warum es uns bei unserer Frage nach der Personalität zur Lösung dienen kann, ist auf die im folgenden zitierte Überlegung einzugehen, die allerdings nicht mehr die Macht, sondern die Vornehmheit zum Thema hat. Dennoch lenkt uns diese nicht von unserer Frage ab, denn sie ist ein Gut, d.h. ein Zustand, in dem sich die Macht verkörpert. Überdies ist ihr, allein dem Wortsinn nach, die vertikale Nicht-Egalität des Machtbegriffes inhärent, so daß sich an ihr in besonderer Weise deutlich machen läßt, warum dieser auch in horizontaler Richtung zu differenzieren ist. Dabei wird freilich erst im folgenden Kapitel, bei der Schilderung des Handelns, konkreter auf sie einzugehen sein; vorerst soll sie unerläutert bleiben und allein als Ausdruck für die Mächtigkeit in einem Einzelnen verwendet werden: „Was ist vornehm? Was bedeutet uns heute noch das Wort „vornehm"? Woran verräth sich, woran erkennt man, unter diesem schweren verhängten Himmel der Pöbelherrschaft [...] den vornehmen Menschen? Es sind nicht die Handlungen, die ihn beweisen, - Handlungen sind immer vieldeutig, immer unergründlich -; es sind auch die „Werke"
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5.1.2. PersonaJität als notwendige Bedingung
nicht. Man findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von Solchen, welche durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen hin sie treibt: aber gerade dies Bedürfhiss nach dem Vornehmen ist von Grund aus verschieden von den Bedüfhissen der vornehmen Seele selbst [...]. Es sind nicht die Werke, es ist der Glaube [...]: irgend eine Grundgewissheit, welche die vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt. - Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. -" (JGB 287; 5, 232f.).
Daß Handlungen und Werke immer auch als Ausdruck eines Mangels angesehen werden können, zeigte sich uns schon beim Phänomen der Schönheit, das sowohl den Ausdruck von gelungener Selbstgestaltung als auch die Kompensation des Unvermögens einer solchen bedeuten kann. Doch so richtig diese Einsicht allgemein auch sein mag, sie begründet nicht, warum die Vornehmheit, wie hier gesagt, nicht auch in anderen Formen als in einem unveräußerlichen Glauben aufzufinden ist. So ist sie ja in ihrem Ursprung ein historisches Phänomen, das als solches stets in Traditionszusammenhänge eingelassen war, die dem Einzelnen bestimmte Tugenden und damit auch bestimmte Handlungsweisen als verbindlich vorgegeben haben. Sie konnte sich demnach in der Erfüllung dieses Vorgegebenen 2;eigen, so z.B. in der Tapferkeit im Krieg und im Umgang mit den Anderen. Zwar könnte man dagegen auf die genannte Tatsache verweisen, der zufolge eben diese Lebensformen weggefallen sind. Der Rückgang auf die „Grundgewißheit" stellte so gesehen eine Verinnerlichung der Betrachtung dar und verdankte sich dem konstatierten Umstand, daß die Vornehmheit nicht mehr unmittelbar in äußeren Erscheinungsformen ruht. Dennoch erklärt auch dies die Stelle streng genommen nicht, denn daß es keine vornehmen Lebensformen gibt, heißt ja nicht, daß es überhaupt kein vornehmes Handeln geben kann. Wie wir zu Ende unserer Diskussion der Willensproblematik zeigten, kann man in der Auseinandersetzung mit der dominant gewordenen Moral Vornehmheit wenigstens erproben. Außerdem höbe sich die Ethik Nietzsches auf, wenn vornehme Handlungen per se nicht möglich wären. Wir müssen die Stelle deshalb anders verstehen: So wird nicht nur in ihr gefragt, was Vornehmheit als solche ist, sondern auch, wodurch ihre Existenz im Handeln nachgewiesen werden kann. Diese beiden Fragen sind insofern unterschieden, als die erste sich darauf beschränken kann, den Begriff der Vornehmheit zu geben, ohne zu entscheiden, ob und wie ein Einzelner ihn in seinen Handlungen erfüllt, während die zweite einen hinreichenden Grund angeben muß, aus dem eben die Erfüllung folgt. Liest man die Stelle so, dann muß man nicht sagen, daß es unmöglich wäre darzulegen, was vornehmes Handeln ist, sondern nur, daß das Handeln selbst nicht hinreicht, um zu sagen, ob ein Einzelner tatsächlich vornehm ist. In diesem Fall muß eine Selbstzuschreibung durch den Glauben nachzuweisen sein. Damit läßt sich diese Überlegung doch auf den Wegfall der historischen
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
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Aristokratien beziehen: Weil es keine allgemeine Lebensform mehr gibt, in der die Vornehmheit beruht, sondern nur das individuelle Handeln, muß man jeweils neu bestimmen, ob ein Einzelner tatsächlich vornehm handelt oder dies nur meint, bzw. vorzutäuschen sucht. Dabei ist es aufschlußreich zu sehen, wie Nietzsche diese Selbstzuschreibung definiert. Er gibt mit der Ehrfurcht vor sich selbst zwar eine inhaltliche Bestimmung, diese bezeichnet aber keine Eigenschaft, sondern ein Verhalten zu sich selbst. Die Vornehmheit wird also nicht als Qualität des Vornehm-Seins, d.h. überhaupt als Sein, beschrieben, sondern als Verstehen. Stellt man überdies in Rechnung, daß die Vornehmheit in ihrem herkömmlichen Sinn darin besteht, Ehrfurcht im Umgang mit sich zu erheischen, dann erweist sich die Bestimmung sogar als zirkulär: Sie erläutert Vornehmheit durch die Überzeugung, das der Vornehmheit Entsprechende zu verdienen. Freilich ist die Zirkularität hierbei kein Fehler der Bestimmung, insofern eben nicht die Definition des Begriffs der Vornehmheit verlangt wird, sondern der Nachweis ihrer Möglichkeit unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie nicht in einer gemeinsam ausgetragenen Lebensform beruht. In dieser Hinsicht muß die Zirkularität, umgekehrt, als Hinweis auf die einzig noch verbliebene Möglichkeit ihres Gegebenseins erachtet werden. Ein Einzelner ist nur dann vornehm, wenn er sich in allem, was er tut, vornehm fühlen kann und nur das für sich erstrebt, was diesem Grundgefühl entspricht57. Nietzsche vermeidet so auch die Gefahr, ein gleichsam transhistorisches Vornehm-Sein zu konstruieren, das die Substantialität eines Traditionszusammenhangs durch die Hypostasierung des Begriffs wieder einzuholen strebt. Daraus läßt sich zunächst erklären, inwiefern die Selbstempfindung und der Wille eigenständige Modi des Guten und nicht nur Bedingung für es sind: Sie bezeichnen eine Form, in der ein Einzelner das Gute hat, wenn er es nicht in einer Lebensform mit Anderen gemeinsam haben kann. Das Kriterium des Guten ist auf diese Weise selbstbezüglich zu verwenden, insofern man sagen muß, daß das Leben eines Menschen - nicht ausschließlich, aber doch in einem seiner wesentlichen Teile - gut ist, wenn er sich als gut empfindet und das Gute für sich will. Dies belegt auch Nietzsche, wenn er schreibt: „Es giebt einen Instinkt für den Rang, welcher, mehr als Alles, schon das Anzeichen eines hohen Ranges ist" (JOB 263; 5, 217). Von dem aus stellt sich die Frage, wie sich die drei Modi innerhalb des guten Lebens zueinander verhalten. Wie gezeigt, braucht der Vollzug die Zuschreibung nicht, um gut zu sein, während umgekehrt die Zuschreibung in der gezeigten Form schon hinreicht, um gut zu sein. Es scheint also, als könne man das gute Leben 57
Vgl. auch 13, 14 [205]. Zur Verinnerlichung der Vornehmheit vgl. auch FW 337; 3, 564f. / Za III, Alte Tafeln 12; 4, 254f. / GM l, 16; 5,285f. u. 10, 7 [101].
160
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
auch durch einen der Aspekte, ohne den Besitz der jeweils anderen, erlangen. Diese Folgerung ist allerdings unangemessen, da man das Leben dann in einzelne Aspekte unterteilen können müßte. So ist es zwar denkbar, daß sich jemand als vornehm identifiziert, ohne auch die Fähigkeit zur Autarkie und Schönheit zu besitzen, oder daß jemand diese Fähigkeit besitzt, ohne sie auch zu erstreben, doch wenn er dies tut, so führt er kein gutes Leben. Dieses bildet eine Ganzheit, die allein als Ganzheit gut wird, und nicht dadurch, daß man sich auf eine Fähigkeit in ihr beschrankt. Die analytischen Bedingungen des Guten dürfen also nicht mit seiner Vollgestalt im Leben verwechselt werden. Nunmehr läßt sich aber auch begründen, inwiefern das Gute auf die Personalität als notwendige Bedingung angewiesen ist: Die Selbstzuschreibung wird nicht nur von einem Einzelnen vollzogen, sie gilt auch jeweils nur für ihn. Wo dies nicht geschieht, sondern ein gemeinsamer Besitz, etwa in einer Freundschaft, das Kriterium bildet, orientierte man sich wiederum an einem äußerlichen Handeln, was nach dem Gezeigten nicht genügend wäre. Dies soll nicht heißen, daß die Freundschaft nicht zur Vornehmheit gehörte, denn sie ist gerade ihre Form der Intersubjektivität; dennoch ist kein Bezug auf Andere genügend, um die Vornehmheit des Selbst zu garantieren. Im übrigen ist dies auch der Grund, warum Nietzsche den Begriff der Vornehmheit gelegentlich als Synonym zu dem der Individualität gebraucht und damit nahelegt, die vertikale Differenzierung hinsichtlich des Besseren und Schlechteren sei letztlich nur eine horizontale Differenzierung hinsichtlich der Fähigkeit, nicht mit den Anderen gleich zu sein. Als Beispiel kann die schon zitierte Stelle dienen, wo es heißt: „Heute gehört das Vomehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können [...] zum Begriff „Grosse"" (JOB 212; 5, 147). Nach diesen Worten scheint die Vornehmheit nur die Explikation des Begriffs der Personalität58. Gleichwohl deutet der Begriff der Größe daraufhin, daß die sachliche Bestimmung der Person das Gute selber ist, das von dem bloß formal gefaßten Selbstsein als das eigentliche Wertkriterium abgehoben werden muß59. Was wir bisher noch nicht erwähnten, war die Frage, wie die Selbstzuschreibung ihrerseits entsteht. Wenn Nietzsche, in der angeführten Stelle, den Glauben an die eigene Vornehmheit als etwas bezeichnet, „das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt", dann scheint er die Selbstbezüglichkeit letztlich doch zu substantialisieren, insofern dann zu folgen scheint, daß es 58
So auch 12, 10 [59]. Vgl. dagegen auch 13, 11 [141]. Dies muß gegen Ottmann (1987, 280) eingewendet werden, der die Vornehmheit in einer Radikalisierung des Autonomiegedankens begründet sieht, und auch gegen Stegmaier, der die Vornehmheit als „moralische Stärke in der moralischen Vereinzelung" definiert (1994, 22). 39
5.l.2. Personality als notwendige Bedingung
161
eben Menschen gibt, die schlechthin vornehm sind. Dem entspricht auch die zitierte Bezeichnung des Ranggefühls als eines „Instinktes" oder die bekanntere Formel vom „Pathos der Distanz"60. Für die Ethik würde dies bedeuten, daß die Vornehmheit jeglicher Bemühung, sie zu erlangen, gänzlich unverfügbar wäre. Um diesen Eindruck abzuwehren, gilt es, zwischen zwei Aspekten des Gegeben-Seins der Selbstzuschreibung zu differenzieren. Zum einen geht es Nietzsche darum, die Empfindung und den Willen zur Vornehmheit vom bloßen Wunsch nach Vornehmheit zu unterscheiden, denn sie sind nur dann Kriterien des Guten selbst, wenn sie als eine Grundtendenz im Einzelnen bestehen. Daher müssen sie insofern unverfugbar sein, als man sagen muß, daß sie, wo sie gegeben sind, aus sich heraus, als Glaube, Pathos und Instinkt gegeben sind. Allerdings kann diese Art des Vorkommens, und das ist der zweite der Aspekte, durchaus als eine Eigenschaft verstanden werden, zu der der Einzelne in ein erwirkendes oder doch zumindest unterstützendes Verhältnis treten kann. Dies ergibt sich aus der Kontextualität des Handelns, in der er notwendig auf etwas trifft, gegenüber dem er den Instinkt für Ehrfurcht zur Entfaltung bringen kann: „Die Feinheit, Güte und Höhe einer Seele wird gefährlich auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber geht, das ersten Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität vor zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird" (JGB 263; 5, 217).
Selbst wenn Nietzsche hierin wiederum von einer in der Seele vorgegebenen Eigenschaft zu sprechen scheint, so ist diese doch etwas, das durch die Begegnungen mit Höherrangigem „auf die Probe gestellt" wird und sich dabei jeweils neu zu bewahrheiten hat. Dies resultiert aus den Bedingungen des Selbstverstehens überhaupt: Im strengen Sinne vorgegeben kann immer nur die Vornehmheit der Anderen sein, weil man, um sie zu bestimmen, Menschen oder Handlungen objektivieren sowie einer typisierenden Betrachtung unterziehen muß. Da man sich selbst jedoch nicht objektivieren kann, ist der eigene Rang in seinem Selbstbeweis notwendig immer nur im Werden. Man kann also zwar sagen, was ein vornehmer Mensch ist, indem man auf Beispiele für ihn zeigt, wie es aber ist, selbst ein solcher Mensch zu sein, läßt sich gar nicht anders, denn in der jeweiligen Bewährung an sich selbst erfahren. So notiert sich Nietzsche, anderenorts, auch einmal: „nicht den Affekt der Distance verlieren!" (10, 7 [106]), was gerade zeigt, daß das potentiell Gegebene im Handeln erst zur Geltung kommen muß, um wirklich zu bestehen. Daß diese Notiz dem zunächst Zitierten widerspricht, dem zufolge sich der
60
JGB 257; 5, 205 u. GM l, 2; 5,259. Vgl. auch FW 55; 3, 417f.
162
5.1.2. Personalität als notwendige Bedingung
Glaube gerade nicht verlieren läßt, kann nach den zwei hier unterschiedenen Aspekten des Gegebenseins erläutert werden. Doch es gibt noch einen anderen Punkt, der bisher offen blieb, und der die vertikale Differenzierung anbelangt. So beschrieben wir sie bisher stets als Stufung hinsichtlich des Besseren und Schlechteren, was eben heißt, daß wir uns in ihrer Hinsicht am Begriff des Guten orientierten. Dies trifft jedoch insofern nicht den ganzen Umfang der Nietzscheschen Terminologie, als er das Bessere stets auch das Höherwertigere nennt. Dem Begriff des Guten sind deshalb die der „Größe" oder „Höhe" gleichzuordnen, was vor allem in den beiden letzten hier zitierten Stellen deutlich wurde. Auch der dabei angesprochene Begriff des „Rangs" gehört zu diesem Feld von Ausdrucksweisen. Ihnen allen ist zu eigen, daß sie das Gute unter dem Gesichtspunkt seiner Überlegenheit über Schlechteres beschreiben. Gut zu sein, heißt so im Wesentlichen, überlegen zu sein. Diese Überlegenheit gilt aber nicht nur auf der Ebene der allgemeinen Handlungswertung, denn wenn wir uns das Zitat ins Gedächtnis rufen, nach dem Nietzsche sagte, „Es giebt einen Instinkt für den Rang, welcher, mehr als Alles, schon das Anzeichen eines hohen Ranges ist" (s.o.),
so wird hier ersichtlich, daß man die Rangunterscheidung auch von sich aus wollen muß. Die Überlegenheit wird damit in die Selbstzuschreibung aufgenommen: Man muß sich in der Vornehmheit zugleich als höherstehend identifizieren können61. Freilich bleibt auf den ersten Blick noch dunkel, in Bezug worauf die Überlegenheit besteht. So ist jede Machtausübung über Andere im Sinn der tatsächlichen, persönlichen oder politischen Herrschaft auszuschließen. Zwar könnte man auf die Struktur der Autarkie verweisen und die Überlegenheit auf die ihr innewohnende Bewältigung von Widerstehendem beziehen. Doch diese Erklärung ist ungenügend, insofern die Autarkie nicht deshalb ein Kriterium des guten Lebens bildet, weil in ihr Widerstände überwunden werden, sondern weil es zu einem guten Leben gehört, daß Widerstände überwunden werden können. Die Überlegenheit ist daher nur ein Mittel und nicht selbst das entscheidende ethische Ziel. Von der Autarkie aus muß man sogar sagen, daß die emphatische Beschränkung auf sie dieses Ziel verfehlte: Wo Überlegenheit erst hergestellt werden muß, wird das Handeln primär unter der Bedingung seiner Unerfülltheit gesehen. Das bisher Dargelegte reicht somit nicht hin, um diesen Punkt in unser Verständnis von Nietzsches Ethik zu integrieren. Wir werden jedoch eine angemessene Erklärung finden, wenn wir auf die einzelnen Bestimmungen des guten
61
Vgl. auch 11, 26 [93] u. 12, l [6].
5.2. l. Die Morphologie der Vornehmheit
163
Handelns, bzw. guten Lebens eingehen. Wie zu Anfang angekündigt, bilden sie das Thema des nun folgenden Kapitels.
5.2. Handlungsweisen 5.2.1. Die Morphologie der Vornehmheit Unsere Untersuchung konzentriert sich nunmehr auf Nietzsches Beschreibung des Handelns in seiner konkreten Gestalt. Sie fragt zunächst nach den einzelnen Handlungsweisen, die von seiner Ethik vorgegeben werden, und danach nach der Struktur des guten Lebens selbst. Was die ersteren betrifft, wird sich die Vornehmheit als zugrundeliegende Tendenz erweisen. Dies bedeutet, daß die Handlungen aus einem Selbstverhältnis abgeleitet werden sollen: Sie sind in Hinsicht auf den Handelnden nicht einfach nur Vollzüge, sondern stellen zugleich eine allgemeine Haltung oder Zielausrichtung in ihm dar. Es ist also ein Repräsentationsverhältnis anzunehmen, wie wir es ethisch neutral am Verhältnis zwischen einer Kraft und ihren Äußerungen zeigten. Daraus ergibt sich auch das Ziel dieses ersten Teiles der Betrachtung: Es geht in ihm weniger um die vollständige Erfassung der verschiedenen Handlungsweisen, die von Nietzsche angegeben werden angesichts des Aphorismenstils in seinen Schriften wäre diese auch nur schwerlich zu erreichen -, als vielmehr um den Nachweis, daß sich das Verschiedene in der Tat auf eine solche einheitliche Haltung rückbeziehen läßt. Die Betrachtung soll also belegen, daß sich Nietzsches Ethik, wo man sie in eigentlicher Hinsicht praktisch nennen kann, nicht in einzelnen Bestimmungen erschöpft, sondern mit der Konzeption der Vornehmheit die Möglichkeit eröffnet, alle relevanten Elemente einer individuellen Lebensführung systematisch zu durchdringen. Wir haben das Folgende deshalb in zwölf Punkte untergliedert, was zwar den Nachteil einer gewissen Schematisierung der Betrachtung mit sich führt, gleichzeitig aber ihren inneren Zusammenhang betont. Daß dabei bestimmte Punkte nicht so detailliert behandelt werden können, wie sie dies im einzelnen verdienten, kann ebenfalls durch die Erfassung des Gesamtzusammenhangs aufgewogen werden. Als Ausgangspunkt dient uns das neunte Buch aus Jenseits von Gut und Böse, das den Titel „was ist vornehm?" trägt. Es führt, wenn auch in der bei Nietzsche üblichen losen Ordnung, die Mehrzahl der hier zu erwähnenden Handlungsweisen auf und bestimmt sie in ihrem einheitlichen Sinn. An seinem Anfang steht eine Definition der Vornehmheit selbst. Danach entspricht ihr Jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus „Mensch", die fortgesetzte „Selbst-
164
5.2. l. Die Morphologie der Vornehmheit
Überwindung des Menschen" um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen" (JOB 257; 5, 205). Diese Definition entspricht dem bisher Dargelegten. Die Vornehmheit ist demnach ein Verhalten, in dem sich ein Selbst nicht in seinen je gegebenen Dispositionen oder Fähigkeiten affirmiert, sondern diese auf ein Ziel hin auszubilden sucht. Es sucht, das Gute, als ein mächtiges und schönes Dasein, zu erreichen und überwindet dazu, was diesem in ihm selbst entgegensteht. Wie in der Ethik Platons wird so auf die Differenz zwischen dem, was der Einzelne an sich, und dem, was das Gute der Sache nach ist, verwiesen62. Zwar gilt, um auch dies noch einmal zu betonen, auch an diesem Punkt, daß man die Vornehmheit jeweils für sich erstrebt, doch als das Ziel des Handelns muß dabei das Vornehm-Sein als solches gelten. An dieser Stelle tritt jedoch zugleich ein anderer Punkt hervor. Faßt man die Vornehmheit als Selbstüberwindung und die Selbstüberwindung als Herausbildung eines guten Lebens, dann wird deutlich, daß mit ihr nichts anderes bezeichnet wird, als eine Haltung, der es um das Gute geht. Vornehmheit als Selbstüberwindung meint nicht nur beiläufig, sondern dem Wesen nach ein Verhältnis des Einzelnen zum an sich Guten. Sie tritt damit in die systematische Funktion, die in der antiken Strebensethik dem Begriff der Tugend als dem Begriff des sittlich oder individuell gelungenen Handelns vorbehalten war. Damit stellt sich gleichzeitig die Frage, wie sich der Begriff der Selbstüberwindung zu dem der Tugend verhält. Beziehen wir uns wiederum auf Platon, so könnte auf den ersten Blick ein Gegensatz zwischen einer teleologischen und einer ateleologischen Betrachtung angenommen werden. So geht es Platon im Vollzug der Tugend um die Ordnungshaftigkeit und Einheit eines Lebens (Rep. 443 d) oder, wie zuletzt bei ihm beschrieben, um dessen Werden zum Sein. Nietzsche dagegen evoziert mit der Rede von den „immer höheren" Zuständen des Menschen eine schlechthinnige Steigerungsfähigkeit, die es nicht mehr zuläßt, daß sich Wesensmöglichkeiten zu einer letztzielhaften Einheit oder Ordnung zusammenschließen. Er nimmt demzufolge auch nicht an, so wie Platon in Bezug auf die Vernunft, daß es im Menschen etwas gäbe, das als etwas Göttliches beschrieben werden kann und gegenüber allem anderen in ihm zur Herrschaft kommen soll (Rep. 589 d). Doch so richtig diese Gegenüberstellung ist, sie verschleiert auch ein gemeinsames Strukturmoment. Wenn Nietzsche nämlich in der Erhöhung die „Herausbildung von Zuständen" annimmt, so läßt sich gerade nicht mehr sagen, daß sich alle Fähigkeiten permanent in Steigerung befänden. Vielmehr 62
So auch Georg Simmel in seiner Abhandlung zu Schopenhauer und Nietzsche von 1907: „Es ist das Wesen der Sophistik, den objektiven Sinn und Wert des Tuns und Seins durch dessen Wert für das Subjekt zu ersetzen. Für Nietzsche hat umgekehrt das Subjekt nur dann eine Bedeutung, wenn es objektiv wertvoll ist [...]. Freilich wird hier unter der Objektivität, von der unser Wert stammt, nicht das greifbare Werk, nicht das aus seinen Erfolgen bewiesene Tun verstanden, sondern das Sein, die in jedem sich darstellende Qualität des Typus Mensch" (10,381)
5.2. l. Die Morphologie der Vornehmheit
165
nehmen sie dann in der Steigerung konkrete und zumindest nicht schlechthin übergangshafte Formen ein. Anders wäre auch die ethische Betrachtung überhaupt nicht auf das Handeln zu beziehen. Man kann den Unterschied seiner Konzeption zu der von Platon deshalb präziser so bestimmen, daß man sagt, er habe den Ordnungsgedanken nicht aufgehoben, sondern nur weiter formalisiert und von vorgegebenen theologischen, kosmologischen oder politischen Ordnungsstrukturen gelöst. Wie wir schon zeigten, legt er ein Ideal der Angemessenheit zugrunde, dem zufolge nur die Formen entstehen sollen, die entstehen können. Er nimmt also den Primat der Einheit und des Seins, der im Platonschen Maß- und Ordnungsgedanken lag, zurück, und versteht das Maß, bzw. die Ordnung nur mehr als die je erreichte Stimmigkeit. Die ateleologische Steigerungsfähigkeit kann damit als eine Steigerung innerhalb der Ordnungshaftigkeit verstanden werden. Ihr kommt eine Art von Teleologie zu, wie wir sie zuvor, am Begriff der plastischen Kraft, beschreiben konnten, und die sich als Tendenz zur Stimmigkeit bezeichnen läßt. Die zitierte Stelle dient uns aber auch zur Lösung der am Ende des vorigen Kapitels offen gebliebenen Frage zur Axiologie. So zeigt sich nun, inwiefern das Gute stets die Überlegenheit über etwas einschließt und als Größe oder als das Höhere erscheint: In der Herausbildung der Vornehmheit ist der Einzelne über das erhaben, was er ohne diese Bildung ist63. Auch dieser Punkt kann auf den Wegfall der aristokratischen Lebensformen bezogen werden: Weil es nach diesem Wegfall keine Handlungswelt mehr gibt, in der bestimmte Handlungsweisen unmittelbar als gut erkenntlich wären, muß man jeweils begründen können, warum eine Handlung als gut anzusehen ist. Diese Begründung setzt jedoch einen Vergleichsmaßstab voraus, da sich das Gute nur in der Funktion des Besseren, d.h. des über andere Handlungsweisen Überlegenen als solches begründen läßt. So läßt sich, um ein Beispiel heranzuziehen, die Eigenschaft der Großzügigkeit nicht mehr durch den Rekurs auf das, was für einen vornehmen Menschen üblich ist oder von ihm erwartet werden, als gut begründen. Ebensowenig ist es möglich, auf eine überhistorische Wertigkeit dieser Haltung zu verweisen, denn damit rekurrierte man auf eine unbestimmbare und letztlich haltlose Evidenz. Vielmehr gilt es, neben der nominellen Unterschiedenheit zur Eigenschaft des Geizes, darzulegen, daß man in Bezug auf dieselben Umstände auch anders handeln könnte - kleinlich, habgierig usw. - und daß dieses andere Handeln einen weniger autarken Zustand zum Ausdruck brächte. Es gilt, mit anderen Worten, auf einen Kontext zurückzugehen, in dem verschiedene und im Vergleich zu der auszuzeichnenden Handlungsweise unterlegene Möglichkeiten gegeben sind. Die Überlegenheit ist somit dasjenige Kriterium, nach dem man Handlungen ohne den Bezug auf feste Handlungsmuster oder zeitlos gegebene Werte als besser denn andere qualifizieren und in der Folge 63
Vgl. auch 11, 25 [350].
166
5.2. l. Die Morphologie der Vornehmheit
auch ausprägen kann: Sie ersetzt den Wegfall selbstevidenter Verbindlichkeit durch die Evidenz der Relationen innerhalb der je bekannten Handlungswelt64. Dies wird im folgenden noch weiter deutlich werden. Ihr Verhältnis zur Autarkie läßt sich dagegen so beschreiben, daß man sagt: Während die Autarkie das Kriterium des Guten ist, bildet sie das Kriterium für den Nachweis und die Erlangung der Autarkie. Faßt man den Begriff der Überlegenheit so, dann wird zugleich erklärbar, was Nietzsche an der oben angeführten Stelle mit der Rede von der „Erhöhung des Typus „Mensch"" im Auge hat. Auf den ersten Blick könnte es ja scheinen, als meine er die Erhöhung vorgegebener Gattungseigenschaften und setze damit eine bestimmte Anthropologie oder Kulturphilosophie voraus. Dem zitierten Text läßt sich jedoch keine so geartete Lehre entnehmen, vielmehr sind die Bestimmungen, die er enthält, wie gezeigt allein durch Relationen innerhalb der Handlungswelt zu erklären und gehören deshalb von ihrer systematischen Ausrichtung her zur praktischen Philosophie. Der Begriff des Typus muß also nicht auf eine Gattung mit bestimmten Merkmalen bezogen werden. Wir können ihn vielmehr seiner ursprünglichen Bedeutung nach als Umriß verstehen und in dieser Form auf eine Überlegung von Aristoteles zur Methode eben der praktischen Philosophie beziehen. Weil das Objekt dieser Philosophie, das Handeln, keine Generalisierung seiner einzelnen Fälle erlaubt, sondern nur die Erfassung von Tendenzen, ist demnach auch nur eine umrißhafte, d.h. wahrscheinliche Bestimmung möglich. Mit den Worten Aristoteles' wäre der „Typus Mensch" dann nur die Weise, in der sich der Mensch „im großen und ganzen" (u>g em ) verhält65. Dies benötigt keine Wesensbestimmung im Sinn der Anthropologie. Ein Beispiel für das Gesagte bilden unter anderem die Verhaltensweisen, die wir als den Ersten Punkt verzeichnen können. Nietzsche schreibt, im Rahmen seiner Schilderung der aristokratischen Herrenmoral: „Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegentheil [...] gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie. [...] Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche [...]; ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke" (JOB 260; 5, 209).
Geht man von dem aus, was der Vornehme, diesen Worten nach, verachtet, so ergibt sich als ein Gegensatz und damit als erste Weise guten Handelns Tapferkeit und Mut. Freilich werden diese selber nicht erwähnt, denn Nietzsche sagt nur, was für ihn kein gutes Handeln ist. In positivem Sinn beschränkt er sich darauf, das Gute als Erhebung über das Verachtenswerte zu beschreiben. Es gilt also nicht M 65
Vgl. EH, Weisel; 6, 266. EN 1094 b 13-22. Zur typologischen Vorgehensweise bei Nietzsche vgl. JOB 260; 5,208.
5.2.l. Die Morphologie der Vornehmheit
167
deshalb tapfer zu sein, weil die Tapferkeit an sich ein Gut ist, sondern weil sie es erlaubt, sich über unterlegene und damit unschöne Reaktionen zu erheben. Ihr Wert liegt darin, daß sich die Vornehmheit als allgemeine Haltung in ihr repräsentiert. Praktisch folgt daraus, daß die Tapferkeit nur dann angebracht ist, wenn der Widerstand, den sie bekämpft, dem Ziel der Vornehmheit entspricht66. Eine solche Subordination der Tapferkeit unter die Tugend findet sich auch in der Ethik Platons, wenn er sie als Aufrechterhaltung dessen, was man furchten soll, beschreibt (Rep. 429 c): Auch in diesem Fall ist man nicht tapfer, nur um ein guter und ruhmvoller Krieger zu sein, sondern um die Tugend insgesamt im Handeln zu bewahren. Im übrigen läßt sich die Funktion der Tapferkeit auch vom Begriff der Freiheit aus beschreiben, den die hier zitierte Stelle gleichfalls nur ex negative nennt. Die Tapferkeit ist auch der Freiheit im Sinn der Autarkie subordiniert, da man im tapferen Handeln noch nicht auf die Autarkie als solche, sondern auf die Überwindung eines Widerstandes ausgerichtet ist. Man handelt wegen Anderen oder anderem, und noch nicht wegen seiner selbst67. Den zweiten und den dritten Punkt können wir dem Fortgang der zitierten Stelle entnehmen. So wird nach Nietzsche überdies verachtet „der Sich-Erniedrigende, [...], der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner: - es ist ein Grundglaube aller Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist" (ebd.). Das zunächst Genannte läßt sich auch unter dem Begriff des Parasitären subsumieren: Es bezieht sich auf die Haltung eines Menschen, der sich gegenüber Anderen erniedrigt, wenn er dadurch etwas von ihnen erhalten kann. Dabei zeigt sich die Vornehmheit aber nicht nur darin, daß die Selbsterniedrigung bei dem Versuch, etwas zu erhalten, abgelehnt wird, sondern das Nehmen oder Nehmen-Wollen überhaupt. Der Vornehme ist, Nietzsche nach, bestrebt, nichts annehmen zu müssen, was er nicht durch eigene Tat vergelten kann, und zwar nicht deshalb, weil er nicht von Anderen abhängig werden will - dies wäre eine Furcht um Freiheit, die selbst schon ein Zeichen der Unfreiheit wäre -, sondern weil es der Idee des autarken Lebens widerspricht, mehr zu wollen, als man von sich aus haben kann68. Er gibt also lieber, als er nimmt, jedoch nicht aus einem altruistischen Motiv, sondern weil sich durch das Geben-Können die Genügendheit des eigenen Lebens zeigt. So leistet er das moralkonforme Handeln aus einem ausdrücklich nicht moralischen Motiv69. Dies gilt auch für den zweitgenannten Punkt, das Lügnerische, denn auch bei ihm geht es für Nietzsche nicht darum, daß man nicht lügen soll, sondern daß 66 67 681
69
Vgl. Za III, Alte Tafeln; 4, 262 u. 13, 14 [165]. Vgl. Za l, Drei Verwandlungen; 4,30f. u. JOB 25; 5, 42f. Vgl. 9, 6 [191] u. 10, 7 [147]. Vgl. JOB 265; 5, 220f.
168
5.2.1. Die Morphologie der Vornehmheit
man nicht lügen müssen soll: Wer der eigenen Überlegenheit bewußt ist, muß sich nicht strategisch gegenüber anderen verhalten, d.h. sich verstellen, sie zu täuschen suchen usw. Er kann es sich leisten, keine Hinterabsicht zu besitzen, da er sich nicht von der Meinung der Anderen abhängig weiß70. Der vierte Punkt schließt insofern an die Ablehnung des Parasitären an, als er die Ablehnung jeder utilitaristischen Motivation des Handelns thematisiert. Dabei soll hier unter den Begriff des Utilitarismus nicht nur das Denken „an die enge Nützlichkeit" (ebd.), d.h. der Utilitarismus im eigentlichen Sinn des Wortes, eingeordnet werden, sondern jede Haltung, die auf einen Nutzen und Gewinn im Handeln zielt, wie der Hedonismus und das Streben nach Emanzipation: „Ein letzter Grundunterschied: das Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für das Glück [...] gehört ebenso nothwendig zur Sklaven-Moral und -Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht, in der Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und Werthungsweise ist" (ebd., 212).
Das utilitaristische Moment im Freiheitsstreben liegt darin, daß es ihm nicht um ein gutes und autarkes Leben geht, sondern um das bloße Wegdrängen all dessen, was die eigenen Bedürfhisse beschränkt. Ihm gegenüber ist der Vornehme durch Ehrfurcht hinsichtlich von Werken oder Traditionen ausgezeichnet: Er identifiziert sich mit allem, in dem sich ein gelungenes Dasein manifestiert, ohne primär auf seinen Nutzen oder Vorteil aus zu sein71. Fragt man nun angesichts dieses Verhaltens nach dem leitenden Antrieb, bzw. der Motivation, so läßt sich klarerweise nicht auf die Erwartung einer Lust oder eines Nutzens rekurrieren. Der Antrieb muß vielmehr in der Verfassung des jeweiligen Selbst, das die Vornehmheit in sich auszubilden strebt, begründet liegen. Wir können diese Verfassung nach der an Platon entwickelten Deutung des Begriffs ein Ethos nennen, d.h. eine Weise zu sein, die das Vermögen zu bestimmten Handlungen umfaßt. Wie Platon jedoch für das Ethos dargestellt hat, ist es sowohl Ermöglichung als Grenze für das Handeln, denn es befähigt nur zu den bestimmten Handlungsweisen, die ihm entsprechen, und kann nicht das in jeder Hinsicht Erforderliche leisten. Überdies ist es nicht schlechterdings verfügbar, da es der grundsätzlichen Disposition des Einzelnen entspringt. Daraus ergibt sich, daß das vornehme Handeln nicht nur auf der Ebene allgemeiner Zielbestimmungen in einem Gegensatz zum Utilitarismus steht, sondern auch auf der Ebene des tatsächlichen Handelns: Es ist nicht auszuschließen, daß es da, wo es ausschließlich seinen vorgegebenen oder durch Gewöhnung ausgebildeten Dispositionen folgt, in einen Zustand gerät, der ihm nicht nur keinen 70
Vgl. auch JOB 261; 5, 212ff. Die beiden Bestimmungen finden sich auch in Aristoteles Beschreibung der Hochsinnigkeit ( 1124 b l Off. u. 28f). 71 Vgl. auch 10, 7 [156] u. 12,10 [114].
5.2.1. Die Morphologie der Vornehmheit
169
Nutzen, sondern sogar Schaden erbringt. Nietzsche hat dies immer wieder mit dramatischer Akzentuierung dargelegt, etwa wenn es im Zarathustra heißt, daß man den eigenen „Untergang" wollen solle (Za I, Vor. 4; 4, 17), oder daß „die höhere Natur die unvernünftigere" sei72. Gleichwohl darf dies nicht so verstanden werden, als ob nun der Untergang oder die Mißachtung jeder Zweckrationalität als das eigentliche Ziel des Handelns gälte; vielmehr sind diese nur der mögliche Begleitumstand eines auf die Vornehmheit ausgerichteten Lebens. Die Vornehmheit ist, anders ausgedrückt, nicht die Negation des Utilitarismus, denn dies würde bedeuten, daß es, um ihn zu überwinden, nötig wäre, gegen jede Nützlichkeit zu handeln, sondern der Versuch seiner Vergleichgültigung. Im Rahmen dieser Diskussion gilt es freilich, Nietzsches Einschätzung des Hedonismus differenzierter darzustellen. So hat die Lust als solche durchaus Anteil am Kriterium des Guten. Dies wird deutlich, wenn er schreibt: „Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine DifferenzBewußtheit" (13, 14 [121]).
Lust entspringt, nach diesen Worten, als begleitende Empfindung während des Vollzugs von Macht. Zumindest in dieser Hinsicht läßt sich also nicht ohne weiteres entscheiden, warum sie nicht auch als etwas Erstrebenswertes gelten können soll. Wenn Nietzsche den Hedonismus als ethische Lehre ablehnt, so liegt dies folgerichtig nicht in der Natur der Lust als solchen, sondern in den Konsequenzen, die entstehen, wenn man sie als das primäre Handlungsziel versteht. Die erste dieser Konsequenzen, der zufolge man als Hedonist ein utilitaristisches Verhältnis zum Handeln einnimmt, haben wir im Vorhergehenden gezeigt. Es gibt jedoch auch spezifischere Konsequenzen. Wie schon in der zitierten Stelle angedeutet wird, ist die Lust, wenn sie an die Macht gebunden ist, zugleich an die Bewältigung von Widerständen gebunden: Sie entsteht aus der Empfindung der Machtsteigerung in Relation auf das Bewältigte. Daraus folgt, daß man Lust gar nicht an sich erstreben kann, da man sie nur vermittels der jeweils vollzogenen Bewältigung erfahrt. Man muß zunächst etwas bewältigen wollen, d.h., allgemein gesprochen, handeln wollen, um dann im Gelingen dieser Absicht ein Gefühl der Lust in sich auslösen zu können. Dies läßt den Hedonismus insofern problematisch werden, als die Lust zwar einen Teil des Guten, jedoch kein konkretes Handlungsziel bedeuten kann. Nietzsches Position nähert sich hier dem sogenannten Intentionsobjektivismus an, der eben davon ausgeht, daß nur gegenständlich oder we-
72
FW 3; 3, 374f. Vgl. auch GM l, 10; 5, 273 / GD, Streifeüge 44; 6, 146 u. 9, 3 [2].
170
5.2. l. Die Morphologie der Vornehmheit
nigstens konkret Bestimmtes, und nicht auch Empfindungen, zum Ziel von Intentionen werden können73. Freilich ergibt sich hieraus noch kein endgültiger Einwand gegen den Hedonismus, denn die Lust ist als Symptom der Macht keine vereinzelte Empfindung, die man sich mit wechselnden Objekten jeweils neu verschaffen müßte, sondern eine inhärierende Bestimmung des Handelns überhaupt. Damit ist sie auch nicht schlechthin unverfugbar, da der Einzelne sehr wohl die in ihm vorhandene Macht erproben wollen kann. Für Nietzsche bliebe also noch ein Hedonismus denkbar, der die Macht als Mittel einsetzt, um durch sie das Ziel der Lust zu erreichen. Der eigentliche Einwand gegen eine solche Lehre resultiert von daher auch aus einem anderen Strukturmoment. Es liegt in der Bedingung, daß die Überwindung eines Widerstands mit dem Gefühl der Hemmung und damit der Unlust verbunden ist. Dieses Gefühl bedeutet jedoch keinen Gegensatz zur Lust, obwohl es oberflächlich so erfahren wird, sondern ihren Stimulus, da der Machtvollzug gerade dadurch in Gang gehalten wird, daß er keine Befriedigung finden kann. Lust ist also prinzipiell nicht zu erfahren ohne ein jeweils vorangegangenes Unlustgefuhl, was bedeutet, daß man sie nicht erlangen wollen darf, wenn man nicht auch diese Unlust akzeptiert74. Wo dagegen ein Hedonismus vertreten wird, der allein die Lust als Handlungsziel begreift, herrscht der Wunsch, das Gegenspiel von Lust und Unlust zugunsten ersterer abzustellen oder zumindest zugunsten ersterer zu finalisieren. Der Vertreter einer solchen Lehre will letztlich nicht machtvoll handeln müssen, um sich Lust im Widerspiel zur Unlust zu verschaffen75. Damit ergibt sich in praxi die Situation, daß man, um die Lust als Teil des Guten erstreben zu können, ihr Gegenteil als ebenfalls erstrebenswert verstehen muß. Ein solch ergänzter Hedonismus liegt z.B. in Nietzsches später Deutung des Tragischen: „Der Schmerz ist nur bedingt als eine Folge des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, folglich zur Überwältigung, zum Widerstand, zum Krieg, zur Zerstörung). Es wird ein höchster Zustand der Daseins-Bejahung concipirt, in dem sogar der [...] Schmerz als Mittel zur Steigerung ewig einbegriffen ist: der tragischdionysische Zustand" (13, 14 [24])76.
Allerdings fällt es schwer, den Sinn des Dionysischen und Tragischen in der Ermöglichung einer Form des Hedonismus angelegt zu sehen. Wenn die Lust als Epiphänomen an die Macht gebunden ist, so ist sie ihr zwar kointentional, macht 73
Vgl. Za III, Alte Tafeln; 4, 250 / 10, 7 [260] u. 13, 14 [121]. Vgl. zum Intentionsobjektivismus die zusammenfassende Darstellung bei Krämer 1992, 134f. 74 Vgl. auch 12, 7 [18] /13, 11 [75-77] u. 13, 14 [173-74]. 75 Vgl. FW 12; 3, 383f. u. 13, 11 [l 12]. 76 Vgl. auch GD, Alte 4; 6, 159 /12, 2 [106] u. 13, 18 [16].
5.2.1. Die Morphologie der Vornehmheit
171
jedoch nicht das Wesen dessen aus, was man erstrebt. Der hier genannte „Wille zur Lust" ist also zuletzt nichts anderes als ein Wille zur Macht, d.h. ein Wille zur Erfahrung der im Handeln ausgetragenen Macht. Damit wird der hier skizzierte Hedonismus nur als Randaspekt in der Beziehung auf das Gute relevant und geht in einer allgemeinen, nicht nur durch das Streben nach Lust zu bestimmenden Haltung der „Bejahung" auf. Dennoch hat er für Nietzsche eine ethische Funktion in Hinsicht auf die Frage, wie man mit dem Phänomen der Lust - oder besser: dem Verlangen nach Lust - im Handeln umzugehen hat. Man soll, so läßt sich nach dem Dargelegten sehr verkürzt erklären, nicht nur Lust erreichen wollen, wenn man handeln können will77. Die vornehme Ehrfurcht angesichts der Ausdrucksweisen des gelungenen Daseins führt uns auf die Punkte fünf und sechs. So ist Vornehmheit, zum einen, auch durch die Empfindung für das Schöne ausgezeichnet. Dabei meint der Begriff des Schönen, wie zuvor erläutert wurde, die Sichtbarwerdung von Macht. Dies zeigt sich, wenn Nietzsche als Kriterium nennt „die Sorgfalt im Äußerlichesten, [...] in Wort, Kleid, Haltung, insofern diese [...] abgrenzt, fern hält, vor Verwechslung schützt" (11,35 [76]).
Der Vornehme sucht also schöne Umgangsformen, insofern in ihnen nicht das Streben zu gefallen, sondern das Bemühen um die Form des eigenen Lebens, um die Autarkie zum Ausdruck kommt. Nietzsche betont in dieser Hinsicht auch die „Kraft und Energie hinter dem Formenwesen" (11, 25 [178]), d.h. die Kraft, die nötig ist, um das Leben überhaupt in eine Form zu zwingen. Davon ausgehend ist zum anderen die Fähigkeit des Vornehmen zur Selbstdisziplinierung anzuführen: Er muß alle gegensätzlichen Impulse überwinden können, wenn sein Handeln auf das Schöne, respektive auf das Gute ausgerichtet bleiben soll78. Punkt sieben knüpft an das Formempfinden des Vornehmen an. Nietzsche schreibt: „Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletztliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch's Leben rollte: Die Feinheit seiner Scham will es so. [...] Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt" (JOB 41; 5, 58).
77
Vgl. 9, 9 [2] als Beispiel hierfür. Vgl. JOB 260; 5, 210 / GD, Deutsche 6; 6, 108f. / AC 57; 6, 243 u. 10, 7 [101]. Vgl. als Kontrast auch JOB 264; 5, 219.
78
172
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Gegenüber der gewöhnlichen Bedeutung wird der Begriff der Scham hier umgekehrt verwendet: Nicht schämt sich der Vornehme für eine Schwäche, sondern für ein Können, und zwar deshalb, weil er es als eine strikt persönliche Befähigung versteht. Auf konkreter Ebene wird so die Definition des Individuums als eines Unbestimmbaren aufgenommen. Entsprechend dazu wird das eigene Können, wo es sich Anderen mitzuteilen sucht, verallgemeinert und in seinem Wert herabgesetzt. Damit wird noch einmal deutlich, inwieweit die Vornehmheit zunächst als Selbstverhältnis und nicht als ein Handeln aufzufassen ist: Ihre Überlegenheit beruht, nach diesem Punkt, darin, daß sie sich vor Anderen gerade nicht darzustellen strebt79. Zwar folgt daraus keineswegs, daß man allein schon dann als überlegen gelten könnte, wenn man sich zurückzuhalten sucht, doch es folgt zumindest, daß man es dann nicht ist, wenn man sich in seinem Handeln jederzeit zugleich in allgemeiner Form verständlich machen und zur Anerkennung bringen will. Als ein Mittel der hier angezeigten Scham gilt es, wie zitiert, Masken auszubilden. Dabei darf der Begriff der Maske nicht nur als eine bewußt gewählte Weise der Verstellung gedeutet werden. Auch wenn dies einer der in ihm enthaltenen Aspekte ist, wird doch erkenntlich, daß der Vornehme gegenüber Anderen unwillkürlich eine Maske trägt: Er erscheint notwendig anders, als er an sich selber ist. Die Formen der gemeinschaftlichen Rede und des Umgangs sind von Natur aus so, daß sich das Persönliche in ihnen nicht zur Sprache bringen läßt80. In diesem Sinn rät Nietzsche dem Vornehmen auch Höflichkeit an, als eine Art des Umgangs, die sich nur in solchen allgemeinen Formen hält und deshalb hilft, ihn zu maskieren81. Hierdurch wird im übrigen auch unterstrichen, was wir schon bei der Schilderung des Prinzips der Individualität darlegen konnten: Es geht Nietzsche nicht um einen substantiellen Begriff des persönlichen Seins, in dem Sinn, daß das Selbst einen privilegierten Zugang zu seinem Innenleben hat und es bewußt und planvoll vor den Anderen verbirgt. Vielmehr erkennt es sich in seiner Personalität gerade in der Inadäquatheit der gemeinschaftlichen Rede, d.h. es erkennt sich daran, daß es sich in ihr nicht darstellen läßt. Was es als Individuum an sich ist, kann und muß ihm dabei selbst verschlossen bleiben. Nietzsche begnügt sich so gesehen mit einem negativen Begriff der Individualität - oder einem Horizontbegriff, wie wir an früherer Stelle sagten -, insofern es für ihn hinreicht, daß sich ein Einzelner von den gebräuchlichen Bestimmungen der Rede nicht getroffen fühlen muß.
79
Vgl. auch JOB 270-71; 5, 225f. u. 9, 4 [71]. Vgl. FW 354; 3, 590ff. / JOB 268; 5, 221 f. u. JOB 278; 5, 229. Auch dieser Punkt könnte mit Heidegger verglichen werden, genauer mit seiner Konzeption des Geredes als der „durchschnittlichen Verständlichkeit" (SZ 168). Vgl. auch Hamacher 1986,333. 81 Vgl. JOB 284; 5,23 If. 80
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Die so verstandene Forderung nach Scham steht auch in Verbindung mit dem Begriff des Schauspielers, den Nietzsche in kritischer Intention verwendet: „Wie? Ein grosser Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler des eignen Ideals" (JOB 97; 5, 90).
Weil Größe als Vermögen eines Einzelnen, d.h. als individuelle Eigenschaft, als solche gar nicht wahrgenommen werden kann, ist das, was als Größe wahrgenommen wird, notwendigerweise kein Vermögen des Einzelnen selbst: Es ist nur ein vorgefaßtes Schema, das der allgemeinen Meinung über das, was Größe ist, entspringt. Allerdings darf auch das Schauspielertum nicht nur voluntaristisch gedeutet werden, z.B. als Heuchelei oder Demagogie: Auf einer tieferen Ebene umfaßt es jedes Hände In, das sich von der Wirkung auf die Anderen aus, d.h. von dem, was allgemein als Wirkung zu erwarten ist, bestimmt. Es umfaßt, mit anderen Worten, jedes Hände In, das nicht umwillen seiner selbst, sondern unter dem und für den Blick der Anderen geschieht82. Außerdem muß man auch dann notwendig zum Schauspieler werden, wenn man es nicht mehr versteht, eigene Lebensformen auszuprägen. Dieser Aspekt wird vor allem in der Kritik an Wagner, aber auch am Historismus relevant: Beider Verhalten ist für Nietzsche dadurch gekennzeichnet, daß es das Fehlen eines eigenen Stils durch effektvolle Gesten oder durch die spielerische Übernahme anderer Stile kompensiert. Weil man nichts besitzt, das man zurückhalten könnte, geht das Handeln im Erzeugen von Wirkungen auf33. Auf diese kritischen Aspekte kann hier allerdings nicht weiter eingegangen werden. Der achte Punkt betrifft die Scham, die man gegenüber Anderen übt: „Wen nennst du schlecht? - Den, er immer beschämen will." „Was ist dir das Menschlichste? - Jemandem Scham ersparen" (FW 273-74; 3, 519).
Scham ist, nach diesen Worten, nur in Hinsicht auf die eigene Befähigung zu üben; Andere dagegen müssen sich erniedrigt fühlen, wenn man ihnen Grund zur Scham verleiht. Hierin liegt ein moralkritischer Aspekt, denn wenn man grundsätzlich niemanden zur Scham veranlassen soll, dann soll man auch niemanden für eine Tat, die er beging, beschuldigen. Nietzsches Diktum schließt dann auch den Respekt vor den Vergehungen der Anderen ein. Diese moralkritische Richtung wird dadurch noch verstärkt, daß ein solcher Respekt selbst als das „Menschlichste", d.h. selbst als ein ethisch ausgezeichnetes Verhalten gilt. Die Vornehmheit steht 82
Vgl. auch FW 236; 3, 513 u. 9, 6 [192]. Vgl. FW 356; 3, 595ff. / JGB 223; 5, 157 u. WA 7; 6, 27f. Daß sich die gesamte Problematik des Nihilismus vom Begriff des Schauspielers aus erläutern läßt, zeigt Jünger (1949, 141ff.). 83
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also ihrem Anspruch nach nicht einfach im Gegensatz zur Sollensmoral, sondern fuhrt auf eine Haltung, die man als Moral des Moralgebrauches bezeichnen könnte: Sie subordiniert die Anwendung oder Durchsetzung moralischer Regeln der durch diese Regeln verletzten Autarkie84. Statt Moral schlicht zu negieren, zeigt sie eine Form des Lebens auf, die sie als höher denn die moralische versteht. Hiermit aber tritt nun auch die moralphilosophische Dimension der Vornehmheit hervor. Sie wird in den vier letzten Punkten weiter nachzuzeichnen sein. Der erste dieser Punkte, Punkt neun im ganzen, bekräftigt die Subordination der Moral in Hinsicht auf das Selbst; er enthält die Forderung, daß man sich für keine seiner Taten, d.h. nicht einmal für seine schlimmen Taten schämen soll. Genauer geht es in ihm um den Wert der Reue oder des Gewissens: „Gegen die Reue. Ich liebe diese Art Feigheit gegen die eigene That nicht; man soll sich selbst nicht im Stich lassen, unter dem Ansturz unerwarterter Schande und Bedrängniß. Ein extremer Stolz ist da eher am Platz. Zuletzt was hilft es! Keine That wird dadurch, daß sie bereut wird, ungethan" (12, 10 [108]).
Selbstverständlich dient der an sich triviale Hinweis darauf, daß man seine Taten nicht ungeschehen machen kann, nicht dazu zu begründen, daß man keine Reue empfinden soll. Ebensowenig meint Nietzsche, daß man nicht erwarten müßte, gestraft zu werden, d.h. daß die Bestrafung eines Vergehens illegitim wäre. Vielmehr hat er auch hier das Selbstverhältnis eines Vornehmen im Blick: Es ist unvornehm, seine Taten zu bereuen, weil man sich damit der Meinung Anderer unterstellt. Wenn man schuldig für etwas ist, soll man die Verurteilung hinnehmen, ohne sich dabei in seinem persönlichen Wert herabgesetzt zu fühlen85. Nietzsche stellt also auch in Bezug auf die Reue Autarkie über die Forderungen der Moral nach sozialkonformem Handeln. Ihnen kommt nur eine funktionale, nicht jedoch eine ethische, d.h. dem Kriterium des Guten entsprechende Stellung zu: Zwar folgt man - oder besser: unterliegt man - ihnen notgedrungen, doch machen sie deshalb noch nicht den Begriff des guten Lebens aus. Freilich ist auf diesen Punkt, wie auf alle mit ihm zusammenhängenden, in der Diskussion der moralphilosophischen Fragen noch genauer einzugehen. Zunächst gilt es nur, die Konzeption der Vornehmheit als solche nachzuvollziehen. Punkt zehn zieht aus dem Primat der Autarkie eine Konsequenz, die wir in partieller Hinsicht schon bei dem Primat des Gebens vor dem Nehmen schildern konnten. So sucht Nietzsche aufzuzeigen, daß die Autarkie sozialkonformes Handeln durchaus nicht notwendig ausschließt, sondern im Gegenteil gerade als sein
84 85
Vgl. auch FW 292; 3, 532f. Vgl. auch GD, Sprüche 10; 6, 60 / EH, Klug 1; 6,278 /11, 25 [259] u. 11, 26 [179].
5.2.1. Die Morphologie der Vornehmheit
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Grund erscheinen kann86. Pflichtgemäßes oder auch altruistisches Handeln wird dann nicht aus Pflicht geleistet, sondern eben zur Bezeugung der Autarkie: „Auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluß von Macht erzeugt" (JGB 260; 5, 209f.).
Das moralgemäße Handeln kann so als ein Supererogat in die Konzeption der Vornehmheit aufgenommen werden. Es bleibt dabei dasselbe Handeln, d.h. derselbe Vollzug, verändert jedoch seine Motivation und seinen Sinn87. Erwähnenswert ist dieser Punkt, nach der bereits erfolgten Diskussion des Gebens, jedoch deshalb, weil er uns auf die für Nietzsche wichtige Kritik des Mitleids führt. Zusammenfassend läßt sich hierzu sagen, daß sich die Kritik nicht gegen die Regung als solche wendet, in dem Sinn, daß sie eine Art von Stoizismus fordern würde, der zufolge sich ein autarker Mensch jeden Mitgefühls mit Anderen enthalten sollte88. Vielmehr gilt sie dem Versuch, das Mitleid aus der Stellung eines Supererogats, das man spontan und situativ erbringt, herauszulösen und als an sich werthaft auszuzeichnen. Die Argumentation ähnelt hierbei der bei der Bestimmung des Verhältnisses von Lust und Hedonismus: Was als Einzelregung durchaus erstrebenswert sein kann, darf nicht über dies hinaus als dominantes Ziel des Handelns angesehen werden. Wo Nietzsche also gegen das Mitleid polemisiert, polemisiert er gegen eine bestimmte ethische Lehre und nicht gegen die Empfindung, die ein Einzelner erfahrt. Vor diesem Hintergrund müssen seine zahlreichen Einwände gegen das Mitleid verstanden werden, von denen hier allerdings nur einige Übersichtshaft zu erwähnen sind. Eine Gruppe von Einwänden bezieht sich auf die Aporie, in die nach Nietzsche der Versuch gelangen muß, das Mitleid als moralisch werthaftes Verhalten darzutun. Demnach ist das Mitleid, erstens, als Verstehen Anderer gar nicht möglich, da man die persönliche Dimension des je erfahrenen Leidens nicht versteht89; es ist, zweitens, nur ein physiologischer Affekt, der moralisch indifferent bleibt90; es verdoppelt, drittens, nur das Leiden und führt an sich nicht dazu, es zu beheben91; und es wird, viertens, von den Leidenden gefordert, so daß seine
86
Auch Grau unterstreicht, daß Nietzsche „einer Vornehmheit den Vorzug gibt, welche nicht nur weit über der Anpreisung von Gewalt und Herrschaft steht, sondern sich oft gegen die Elemente wendet, welche eine derartige Haltung tragen und ihre Vertreter bewegen" (1996, 136). Allerdings schränkt er dies auf das Konzept der Vornehmheit ein, während er im Begriff des Willens zur Macht eine Dimension der Herrschaft entwickelt sieht (133ff.). Zur Deutung Graus siehe auch S. 203, Fußnote 145. 87 Vgl. auch JGB 293; 5, 236 u. 9, 3 [86]. 88 Anders Nussbaum 1993, 854f. Vgl. auch Ottmann 1987,209. 89 Vgl. EH, Weise 4; 6, 270 u. 9, 2 [52]. 90 Vgl. 9, 2 [41] / 9, 3 [22] u. 10, 7 [9]. 91 Vgl. 9, 2 [35] u. 7 [285].
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5.2. l. Die Morphologie der Vornehmheit
Hochschätzung ihrerseits aus egoistischen Motiven folgt92. In einer anderen Gruppe von Einwänden geht Nietzsche von der Macht als dem Kriterium gelungenen Handelns aus. Aus dieser Perspektive liegt im Mitleid ein versteckter Hedonismus, der das Gegenspiel von Lust und Unlust nicht als dem Handeln zugehörig akzeptiert93. Überdies liegt in ihm die Gefahr des Verlustes der Autarkie: „Eben unser „eigener Weg" ist eine zu harte und anspruchsvolle Sache und zu ferne von der Liebe und Dankbarkeit der Anderen, - wir entlaufen ihm gar nicht ungerne [...] und flüchten uns unter das Gewissen der Anderen" (FW 338; 3, 567).
Auch hier zielt Nietzsches Argument gegen das Mitleid auf seine Einsetzung als dominantes Handlungsziel. Es geht ihm um den Fall, in dem das Mitleid gleichsam dazu mißbraucht wird, von der Notwendigkeit der Führung des eigenen Lebens abzulenken. Die Mitleidskritik führt zu Punkt elf, der die Freundschaft zum Thema hat: „Du wirst auch helfen wollen: aber nur Denen, deren Noth du ganz verstehst, weil sie mit dir Ein Leid und Eine Hoffnung haben - deinen Freunden: und nur auf die Weise, wie du dir selber hilfst: - ich will sie muthiger, aushaltender, einfacher, fröhlicher machen! Ich will sie Das lehren, was jetzt so Wenige verstehen [...] - die Mitfreude!'' (ebd., 568).
Mitleid wird also nur gegenüber Freunden zu einem Bestandteil der Nietzscheschen Ethik: Erstens, weil man nur bei Menschen, mit denen man gemeinsame Ziele teilt, wissen kann, woran sie leiden, und zweitens, weil das Mitleid bei den Freunden nicht das bloße Leiden zum Thema hat, sondern die Ausrichtung auf die Autarkie, die man durch das Helfen in ihnen bestärkt (und die man dadurch auch in Hinsicht auf sich selber nicht verliert). In der Freundschaft liegt somit, wie schon angedeutet, die intersubjektive Dimension der Vornehmheit: Sie verschließt sich keineswegs vor jeder Form der Gemeinschaft, sondern öffnet sich zu einem Umgang, in dem ihr Selbstverhälmis sowohl beibehalten als durch Andere widergespiegelt wird. So ist Freundschaft die bestimmte Weise, in der ein Einzelner mit Anderen gemeinsam autark sein wollen kann94. An dieser Stelle wäre es reizvoll, die Verbindungen zur Konzeption der Freundschaft in der klassischen Antike nachzuzeichnen, deren wichtigste darin beruht, daß die Freundschaft in ihrer Idealgestalt als abhängig von der Befähigung zum Guten verstanden wird. Wenn Freundschaft nämlich als Zuneigung zum Anderen um seiner selbst willen zu 92
Vgl. FW 2l; 3, 391ff. u. AC 7; 6, 173. Zur gleichen Konklusion kommt Nietzsche in 9, 3 [126]. Vgl. FW 338; 3, 566f. u. JOB 225; 5, 160f. 94 Vgl. auch JOB 265; 5,220 / GD, Streifzüge 25; 6,128 / 9, 6 [191] / 9, 7 [70] u. 9, 11 [1]. 93
5.2.l. Die Morphologie der Vornehmheit
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bezeichnen ist, so Aristoteles in seiner systematischen Beschreibung, dann kann man sie nur empfinden, wenn man ihn als dieser Neigung wert, d.h. als tugendhaft, versteht. Wo sein Handeln keine solche intrinsische Qualität besitzt, kann man nur aus utilitaristischen Motiven, aus Nutzen oder Lust, die Freundschaft zu ihm suchen95. Allerdings ergibt sich bei Nietzsche dadurch eine Verschiebung gegenüber der Antike, daß für ihn die Freundschaft eine Gegenposition zum Verhaftetsein in anderen, z.B. in politischen Gemeinschaften ist. Zwar bedeutete sie auch in der klassischen Konzeption primär die Beziehung Einzelner zueinander96, gleichwohl schloß sie für die Einzelnen die Partizipation an anderen Handlungsebenen, wie eben der des politischen Lebens, nicht notwendig aus. Nietzsche aber geht es in der Vornehmheit gerade um den Ausschluß dieser weitergehenden Partizipation, so daß das in der Freundschaft mögliche gemeinschaftliche Handeln auf diese eine Ebene beschränkt bleibt oder wenigstens nicht mit derselben positiven Wertigkeit über sie hinaus vollzogen werden kann. Freundschaft erhält die exklusive Stellung, nicht nur die angemessenste, sondern auch die einzige Form der Intersubjektivität für die Vornehmheit zu sein. Deshalb betont Nietzsche in seiner Beschreibung auch weniger die Verbundenheit der Freunde durch eine gemeinsame Vorstellung des Guten, als vielmehr ihre unaufhebbare Eigenständigkeit, die stets nur zu einer spannungsvollen Gemeinsamkeit führen kann. Er betont, mit anderen Worten, weniger den Vollzug der Freundschaft als ihren Ursprung aus der Autarkie. In letzter Konsequenz bedeutet dies, daß man für Nietzsche nur dadurch zum Freund wird, daß man die Fähigkeit zur Wahrung der Distanz besitzt, d.h. die Fähigkeit, sich gerade nicht auf die Gemeinsamkeit einer Zielvorstellung zu fixieren97. Der letzte Punkt, Punkt zwölf, betrifft ein besonderes Supererogat der Vornehmheit, das Vermögen zur Gerechtigkeit: „Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht nur kalt, massvoll, fremd, gleichgültig: Gerecht-sein ist immer ein positives Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung [...] die hohe, klare, ebeso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden [...]. Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist [...] der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive; es ist eben für ihn durchaus nicht nöthig, in der Art, wie es der reaktive Mensch thut, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen" (GM 2, 11; 5, 31 Of). 95
EN 1157 a 16-20. Bei Nietzsche vgl. FW 14; 3, 387 u. Za I, Nächstenliebe; 4, 78. Vgl. EN1158alOf. 97 Vgl. Zarathustras Forderung, im Freund „noch den Feind zu ehren" (Za I, Freund; 4, 71). In der Tat entspricht die Beziehung des Vornehmen zu seinen Freunden der zu seinen Feinden, da er ebenfalls nur die als Feinde und nicht etwa nur als Gegner anerkennt, die sich der Vornehmheit als würdig erweisen (vgl. FW 13; 3, 385 / Za II; Alte Tafeln; 4,262 u. GM l, 10; 5, 273). %
178
5.2.l. Die Morphologie der Vornehmheit
Der Begriff der Gerechtigkeit ist, nach diesen Worten, nicht im Sinn einer Norm oder eines sozialen und politischen Verhältnisses zu sehen, sondern als Vollzug des Richtens selbst, in dem Normen und Verhältnisse jeweils erst entstehen. Dies entspricht den Prinzipien der Nietzscheschen Interpretationsphilosophie, der zufolge kein Verhältnis denkbar ist, das nicht durch eine Syntheseleistung geschaffen würde. Mit ihr fällt die Möglichkeit und auch das Ideal einer absoluten Gerechtigkeit dahin, da jede Synthese perspektivisch und deshalb relativ verfahrt. Sie kann sich, gemessen an diesem Anspruch, sogar stets nur um den Preis der Ungerechtigkeit vollziehen. Was Nietzsche mit den emphatisch verwendeten Begriffen der Gerechtigkeit und Objektivität darzulegen sucht, ist deshalb ein Verhalten innerhalb der jeweils vollzogenen Synthesen, bzw. innerhalb der jeweils eingenommenen Perspektiven: Es bezeichnet den Versuch, über die notwendige Selbstbezogenheit der eigenen Verstehensform hinaus auch andere Verstehensformen anzuerkennen. Statt einer Normstruktur, auf die sich das Denken berufen könnte, bleibt damit nur die jeweilige Denkanstrengung, die das Fremde oder Andere einzubeziehen sucht98. Freilich heißt dies nicht, daß die Idee einer objektiv begründeten Gerechtigkeit nur durch die Summiemng und pauschale Anerkennung aller fremden Perspektiven ersetzt worden sei. Dies widerspräche ihrem Begriff, denn es höbe die Verhältnismäßigkeit, die im Begriff der Gerechtigkeit liegt, in letzter Hinsicht auf. Wie Nietzsche in den angeführten Worten unterstreicht, besteht Gerechtigkeit gerade nicht darin, daß man das Unterschiedliche als solches nur beläßt. Vielmehr basiert sie darauf, daß der Richtende einen ihm eigenen Maßstab explizit bewahrt". Gerechtigkeit ist demnach die Zusammenspannung der Beschränktheit dieses eigenen Maßstabs mit dem Anspruch, Anderes nach diesem Maßstab angemessen zu verstehen. In dieser Struktur ist unschwer die Tendenz zur Selbstüberwindung wiederzuerkennen, was auch verdeutlicht, warum die Gerechtigkeit nach Nietzsche nur durch Vornehmheit verwirklicht werden kann: Nur in der Mächtigkeit liegt das Vermögen, von den eigenen spontanen Reaktionen und Einstellungen abzusehen und einen höheren Gesichtspunkt auf das Handeln einzunehmen100. Vereinfacht ließe sich dies so beschreiben, daß man sagt: Nur wer seiner selbst gewiß ist, wird von Anderen niemals so betroffen, daß er sie allein nach seiner Betroffenheit bewerten könnte. Gerechtigkeit besteht aber auch deshalb nicht in einer pauschalen Anerkennung, weil der Nietzschesche Gerechtigkeitsbegriff, ausgehend von der Fähigkeit zur Autarkie, auf der Ungleichheit zwischen den Einzelnen beruht. Gerechtigkeit
98
Vgl. auch HL 6; l, 286f. / GM 3, 12; S, 365 / 9, l [18] / 9, 6 [234] / 9, 12 [75] u. 11, 26 [149]. Vgl. auch Kaulbach 1980, 211. 99 Vgl. Za I, Biss der Natter; 4, 88 u. 9, 6 [416]. 100 Vgl. MAI, Vor. 6; 2,20 u. 11,25 [484].
5.2.2. Das Leben als Selbst
179
zu üben, heißt demnach, das Ungleiche ungleich zu behandeln101. Auch in dieser Hinsicht ist die Vornehmheit als zugrundeliegendes Vermögen unumgänglich, denn nur wer an sich selbst erfahren hat und weiß, was das Höhere ist, kann es im Umgang mit den Anderen wiedererkennen, bzw. kann erkennen, inwiefern es nicht gegeben ist. Das Gegenbild zu diesem Wertbewußtsein ist die Toleranz der demokratischen Gesellschaft und der ihr entsprechenden historisierenden Wissenschaft: Da sie von vornherein nichts als höher denn anderes empfindet, unterstellt sie jegliches dem Zugriff der Neugier oder der verallgemeinernden Methode. Sie verhält sich gleichgültig gegenüber seiner möglichen Eigenheit und damit gerade nicht gerecht102. Auch dieser Punkt könnte, wie die zuvor erwähnten, ausführlicher erörtert werden. Die Gerechtigkeit, die Freundschaft oder etwa auch das Mitleid könnten durchaus selbst zu Schlüsselbegriffen einer Untersuchung von Nietzsches Ethik werden. In unserer Betrachtung hatten sie freilich, wie zu Anfang des Kapitels dargelegt, nur den Status eines Exempels, an dem sich die systematische Homogeneität von Nietzsches Konzeption der Vornehmheit erweist. Im Rahmen dieses systematischen Interesses gilt es nun, der Betrachtung einige Bemerkungen zur Konzeption des guten Lebens zur Seite zu stellen.
5.2.2. Das Leben als Selbst Die folgende Betrachtung fragt nach der Struktur des guten Lebens. Sie wird sich dieser Frage mithilfe der kategorialen Mittel, die die Analyse der entsprechenden Platonschen Bestimmungen ergab, anzunähern suchen. Das gute Leben ist Platon zufolge eine Ganzheit im doppelten Sinn, zum einen als Summe aller für die Lebensführung notwendigen Elemente, zum anderen als ein angemessenes Verhältnis dieser Elemente zueinander. Daß sich diese Doppelung auf Nietzsches Denken übertragen läßt, zeigt der folgende Text, der zugleich als Einleitung betrachtet werden kann: „Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits -. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel: - man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. [...] Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend" (JOB 284; 5, 231 f.).
101 102
Vgl. GD, Streifzüge 48; 6, 150 sowie Leg. 757 c f. Vgl. JOB 263; 5, 218.
180
5.2.2. Das Leben als Selbst
Der erste Aspekt der Ganzheit, die Aufiiahme aller notwendigen Elemente, kann hier auf das Ausnützen der Affekte bezogen werden, der zweite Aspekt, die Verhältnissetzung, auf die Forderung, „Herr seiner vier Tugenden" zu bleiben. Wir wenden uns zunächst dem erstgenannten zu. Dabei soll die Frage, wie ein solch kontrollierter Umgang mit Affekten möglich ist, d.h. wie es möglich ist, ein Verhalten willkürlich zu haben, dessen Definition gerade darin liegt, unwillkürlich zu geschehen, zu Anfang abgeblendet werden, da sie zum Schluß auf allgemeinerer Ebene aufzugreifen ist. Sie führt nämlich zur Frage, wie Nietzsche überhaupt ethische Selbstgestaltung angesichts der stets von ihm betonten inneren Notwendigkeit des Kraftgeschehens für möglich hält. Wichtig ist hier also nur die Forderung nach dem nutzvollen Gebrauch der Affekte. Allgemein gesehen liegt darin eine Gegenposition sowohl zur klassischen Antike, die mit der Besonnenheit die Dämpfung der zu heftigen, bzw. die Bevorzugung der gemäßigten Affekte zur Tugend erklärte, als auch zur christlichen Abwertung der Affekte überhaupt. Nietzsche betont also nicht nur, gegenüber letzterer, daß die Affekte nichts an sich Minderwertiges bedeuten, sondern auch, gegenüber ersterer, daß sie gerade wegen ihrer Unbeherrschbarkeit frei zu entfalten sind. Als Grund für diese Gegenposition könnte, zumindest auf den ersten Blick, die Verstärkung der Motivation gesehen werden: Die Ausbildung der Affekte hätte dementsprechend den Zweck, den Einzelnen gleichsam unwillkürlich zur Führung eines guten Lebens zu bewegen. In der Tat wird dadurch die Funktion der Affektlehre wenigstens prinzipiell erfaßt. Sie kann allerdings mit dem Begriff der Motivation nicht angemessen beschrieben werden. Im Allgemeinen bezeichnet dieser den hinreichenden Grund, bei Entscheidungssituationen im Handeln das Geforderte oder Tunliche zu wählen. Dafür aber setzt er eine teleologische Beschränkung auf bestimmte Affekte voraus, so wie dies im Erziehungsgedanken Platons der Fall ist, dem zufolge die Heranwachsenden von Jugend an bestimmte Empfindungen ausbilden sollen. Nietzsche aber spricht in der zitierten Stelle ausdrücklich davon, daß man auch die Dummheit der Affekte ausnützen soll, d.h. diejenige Eigenschaft an ihnen, die nicht oder nur teilweise mit einem ethisch qualifizierten Handeln zusammenstimmt. Daß man die Affekte ausnützen soll, heißt also, daß Affekte überhaupt zum Vollzug des Guten gehören, daß es an sich gut ist, Affekten zu folgen, und zwar unabhängig davon, welches ihr bestimmtes Wesen ist. Der Grund für dieses Fehlen einschränkender Kriterien zeigte sich implizit schon bei der Diskussion des Hedonismus: Als Epiphänomen der Macht sind die Affekte dem Vollzug der Macht notwendig inhärent. Affekte auszunützen heißt demnach, Macht zur Entfaltung zu bringen: „Das schönste leiblich mächtigste Raubthier hat die stärksten Affekte: sein Haß und seine Gier in dieser Stärke werden für seine Gesundheit nöthig sein, und wenn befriedigt, diese so prachtvoll entwickeln. [...] Alle großen Menschen waren durch die Stärke
5.2.2. Das Leben als Selbst
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ihrer Affekte groß. [...] Große Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung. Gewiß sind sie oft Anlaß, daß man zu Grunde geht - aber dies ist kein Argument gegen ihre nützlichen Wirkungen im Großen" (9, 11 [73]).
Auch wenn diese Stelle eingangs biologistisch zu argumentieren scheint und nahelegt, daß man die Affekte aus einer Art von seelischer und körperlicher Hygiene ausleben soll, so machen doch die Folgesätze klar, daß der dabei zugrundegelegte Begriff der Gesundheit als ein philosophischer Begriff verwendet wird, zur Bezeichnung der inneren Koordination und Fülle der Handlungsdispositionen in einem Menschen. Das Ziel der Affektausnutzung liegt demnach also nicht in der Motivation zu einem bestimmten Handeln, sondern in der Motiviertheit als solchen, d.h. in der Entfaltung des Kraftcharakters, der die Basis alles Lebens bildet. Man soll Affekte haben, weil es überhaupt nötig ist, Macht zu haben, aus der man handeln kann. Allerdings darf man diese Bestimmung nicht instrumentell verstehen, in dem Sinn, daß man in den Affekten eine Disposition ausbilden sollte, die im Handeln gleichsam abgerufen werden könnte. Wie gerade der Schlußsatz unterstreicht, sind die Affekte weder als ein Instrument verfügbar noch vom Handlungsprozeß als solchem ablösbar, sondern wirken in ihn hinein, bzw. in ihm mit. Wenn es also gut ist, Affekte zu haben, dann nur, weil es überhaupt gut ist, daß die in ihnen liegende Spannung herrscht. Dies läßt sich auch aus der Verwendung des Kriteriums des Guten erläutern: Macht ist etwas Wünschenswertes, nicht weil man sie zu etwas, bspw. zur Herrschaft über Andere, ausnutzen kann, sondern weil sie eine intrinsische Qualität in der Ermöglichung des Selbstseins besitzt. Auf fundamentaler Ebene herrscht damit ein Primat der Bewegtheit vor der Ruhe, der Dynamik vor der Abgemessenheit, des Umstandes, daß überhaupt etwas geschieht, vor dem Umstand, daß das Tunliche geschieht. Es ist, so läßt sich die Affektlehre auch paraphrasieren, angesichts der Möglichkeit der Verringerung von Aktivität angeraten, daß stets die größtmögliche Aktivität besteht. Allerdings heißt dies nicht, daß sich die Funktion der Kategorien von Autarkie und Schönheit in der Bewertung des Handelns erübrigen würde, ja daß die Möglichkeit der Bewertung überhaupt aufgehoben wäre. Genauer ließe sich das Verhältnis zwischen dem Handlungsziel der Autarkie und der prinzipiell unbegrenzten und unqualifizierten Bewegtheit so beschreiben, daß man sagt: Gerade wenn die Macht stark genug angewachsen ist, hat sie die Möglichkeit, sich zu beherrschen und zur Selbstmächtigkeit zu werden. Beherrschung muß nicht eine Gegenreaktion auf die Macht im Sinne ihrer Dämpfung sein, sondern ist, zumindest idealiter, ihr Resultat103. Die Forderung nach Besonnenheit gilt Nietzsche dementgegen als ein Zeichen, daß die Macht nicht ausreicht, um das, was in den Affekten frei geworden 103
Vgl. 9, 6 [58] / 9, 6 [204] / 11,27 [12] /12, 9 [139] u. 13, 11 [353].
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5.2.2. Das Leben als Selbst
ist, zurückzubinden. Sie ist also, zugespitzt, gerade ein Zeichen dafür, daß zuwenig starke und für eine solche Bindung geeignete Affekte bestehen104. Wollte man eine historische Parallele ziehen, so könnte man sagen, daß er Platons Diagnose des Unbegrenztheitscharakters der Lust ausdrücklich bestätigt, aber ihre Wertung verkehrt. Er übernimmt die Position eines Kallikles im Gorgias oder eines Protarchos im Philebos, die die Lust gerade deshalb als erstrebenswert bezeichnen, weil sie nicht eingrenzbar ist105. Allerdings übernimmt er auch die Einsicht Platons, daß aus der Lust allein keine qualitative Bestimmung des Guten möglich wird und deshalb ihre Wirkung eingeschränkt oder zumindest gelenkt werden muß. Auf sekundärer Ebene gesteht er der Besonnenheit so durchaus einen positiven Status zu. Dennoch wird der ihr entsprechende Effekt eben nicht in der Dominanz eines Peras über das Apeiron gesucht, sondern in der Steigerung der Lust als einem Epiphänomen der Macht, so daß die Möglichkeit ihrer angemessenen Anwendung in ihr selbst gefunden werden soll. Die Beherrschung der Affekte soll immanent, durch das mit ihr verbundene Machtpotential gelingen. Wir können nun zum zweiten Teil des eingangs angeführten Aphorismus übergehen, der Forderung, Herr seiner vier Tugenden zu bleiben. Nietzsche spielt damit an die vier sogenannten Kardinaltugenden an und nennt Mut, Einsicht, Mitgefühl und Einsamkeit. Was das Mitgefühl betrifft, so nimmt dieses die vakant gewordene Stelle der Besonnenheit ein und läßt sich auf das Mitgefühl mit allem Großen (JGB 225; 5, 161) oder mit den Freunden, d.h. auf die schon zitierte Mitfreude beziehen. Die Einsamkeit dagegen nimmt den Platz der Gerechtigkeit ein, da sich das gute Leben für Nietzsche gerade nicht durch sozialkonformes, d.h. den Gesetzen oder Sitten entsprechendes Handelns definiert106. Allerdings ist unschwer zu erkennen, daß Nietzsche die Bestimmung Platons, der zufolge die Gerechtigkeit diejenige Tugend ist, durch die alle Seelenteile ihre angemessene Funktion erfüllen, eben in der Forderung, Herr seiner Tugenden zu bleiben, aufnimmt. Er spaltet die Gerechtigkeit also in ihre soziale und in ihre das gute Leben betreffende Funktion, wobei die erstere, zumindest insofern sie eine Tugend ist, entfällt und die letztere mit der Struktur des Lebens selbst identisch wird. Doch bevor wir diesem Punkt nachgehen können, müssen wir fragen, was die hier genannte Tugend der Einsicht bedeutet und warum man auch ihrer Herr werden muß. Der Ausdruck Einsicht ist untypisch für Nietzsche; er verwendet ihn nicht, wenn er die praktische Vernunft im Handeln bezeichnet, für die er zumeist die Begriffe von Weisheit, Geist oder auch Geschmack gebraucht. Es kann hierbei also nicht um das spezifische Handlungswissen gehen. Überdies wäre es auch widersinnig, gerade seine Beherrschung zu fordern, da seine Leistung darin 104
Vgl. FW 294; 3, 534f. / JGB 200; 5, 120f. / GD, Moral 2; 6, 83 u. 13, 14 [102]. Gorg. 491 e u. Phil. 27 e. 106 1 < Vgl. auch JGB 25; 5,42f. u. JGB 44; 5, 61 ff. 105
5.2.2. Das Üben als Selbst
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besteht, das dem Handeln Angemessene zu erkennen, was bedeutet, daß es seinerseits zur Beherrschung der Tugenden notwendig ist. Vielmehr scheint Nietzsche hier eine ausdrücklich philosophische Einsicht im Blick zu haben. Legt man den allgemeinen Kontext der zitierten Stelle, die Schrift Jenseits von Gut und Böse zugrunde, so ist die ihn beherrschende Einsicht die, durch die der freie Geist entsteht, d.h. die Einsicht, „dass alles Dogmatismen in der Philosophie, so feierlich, so end- und letztgültig es sich auch gebärdet hat, doch nur eine edle Kinderei und Anfangerei gewesen sein möge"
(JOB, Vor.; 5, 11).
Unter Dogmatik sind dabei alle metaphysischen und moralischen Prinzipien zu nennen, die sich nunmehr als bedingt und abhängig von uneingestandenen Voraussetzungen erweisen lassen. Geht man hiervon aus, dann kann folgende Stelle zur Erläuterung unserer Frage dienen: „Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister [...] mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben! [...] Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, - sorgen wir dafür, dass sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend" (JOB 227; 5, 162f.).
Die hier genannte Tugend der Redlichkeit kann als der ethische Aspekt der Einsicht in das Ende des Dogmatismus erachtet werden: Sie ist die Tugend, durch die sich der freie Geist über die Bindung an die nun als unfundiert erscheinenden Prinzipien erhebt. Sie birgt jedoch, wie jede Bestrebung nach Loslösung und Autonomie, die Gefahr des Rückfalls in eine neue Dogmatik in sich: Entweder weil man sich als Vertreter der gewonnenen Einsicht darstellen will und sie deshalb ihrerseits in der Art eines Lehrgebäudes vertritt („Eitelkeit", „Putz und Prunk"), oder weil man bei der Geste der Aufdeckung und Befreiung stehen bleibt, obwohl diese ihren eigentlichen Sinn verlor („Grenze"), oder weil man sie schließlich selbst nicht mehr auf ihre Voraussetzungen befragt („Dummheit"). Damit wird ersichtlich, warum man Herr auch der freigeisterischen Einsicht bleiben muß: Man muß ihre eigene Anwendung und Behauptung kontrollieren können, um sie als solche, d.h. als freie, überhaupt erst zu bewahren. Besonders ins Gewicht fällt dabei die letztgenannte Gefahr der Nicht-Befragung ihrer Voraussetzungen. Wenn Nietzsche sagt, daß die Tugend ihrerseits zur Dummheit werde, so weist er darauf hin, daß sich Redlichkeit selbst noch moralisch verstehen könnte, gleichsam als Metamoral und Metamethode der durchschauten moralischen und metaphysischen
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5.2.2. Das Leben als Selbst
Postulate. Sie geriete dann in die paradoxe Situation, die Moral aus Moral zu kritisieren und ihre Prämissen nur auf höherer Ebene zu perpetuieren. Sie wäre als Redlichkeit noch derselben Forderung nach Wahrhaftigkeit, nach methodischer Prüfung aller Annahmen verpflichtet, wie das Denken der Metaphysik, das sich diesen Forderungen verpflichtet fühlt und Wahrheit und methodische Gewißheit als letzte Werte nicht hinterfragt107. Wir haben dieses Problem auf prinzipieller Ebene bereits im ersten Kapitel diskutiert. Demnach ließe sich die Gefahr des freien Geistes auch darin begründet sehen, daß er die Überwindung der dogmatischen Tradition allem an den Kriterien eines Adäquationsbegriffs der Wahrheit mißt und in erster Linie nur die Unwahrheit der Dogmen konstatiert. Es gilt jedoch, von der Wahrheit als einem Letztziel frei zu werden und die Unwahrheit, bzw. Unbegründbarkeit des Welt- und Selbstverstehens annehmen zu können. Inwieweit Nietzsche dabei sachlich einen anderen, hermeneutischen Wahrheitsbegriff zugrundelegt, auch wenn er ihn begrifflich nicht als solchen faßt, haben wir ebenfalls bei dieser Gelegenheit gezeigt. So können wir uns hier mit diesen wenigen Hinweisen begnügen. Damit kann nun auf die eigentliche Frage eingegangen werden, was es heißt, daß die Tugenden im ganzen zu beherrschen sind. Nietzsche schreibt dazu an anderer Stelle: „Man muss sich selbst seine Proben geben, dafür dass man zur Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist [...]. Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebtestes, - jede Person ist ein Gefängnis, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben [...]. Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben [...]. Nicht an seiner eigenen Loslösung hängen bleiben [...]. Nicht an unsern eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgend einer Einzelheit an uns werden [...]. Man muss wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit" (JGB 41; 5, 58f).
Auch hierin wird unmittelbar die Parallele zu Platons Bestimmung der Struktur des guten Lebens offenbar: Das Leben wird nur dadurch gut, daß es als Ganzheit gut wird, und nicht dadurch, daß der Einzelne sich auf einen seiner Teile konzentriert und ihm allein zur Dominanz verhilft. Dabei zeigt sich auch die zu Anfang angesprochene Formalisierung. So gibt Nietzsche die Idee der Ganzheit zwar nicht auf, bindet sie jedoch nicht mehr an ein Verhältnis und an den Gedanken einer Hierarchie der menschlichen Vermögen. Er bezieht sich dementsprechend auch nicht mehr auf eine allgemeine Seelenlehre, wie sie noch den Ausgangspunkt der Erwägungen der Politeia bildete, sondern beschreibt die jeweils persönliche Lebens107
Vgl. auch FW 380; 3, 633 / JGB 214; 5, 151 u. JGB 230; 5, 168f. Zur Entwicklung des Begriffs der Redlichkeit in Nietzsches Werk vgl. Brusotti 1997, 628ff., vor allem 673f. für den hier zitierten Text.
5.2.2. Das Leben als Selbst
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weise in ihrem Bezug zur Welt: Zu Angehörigen oder Freunden, zum Land, in dem man aufwächst, zum erlernten Beruf, zu den Traditionen, die man hinter sich zu lassen sucht usw. Was die Ganzheit eines guten Lebens ausmacht, ergibt sich damit einzig aus den Kontingenten inneren und äußeren Bedingungen eines Selbst. Freilich darf dies nicht so verstanden werden, als ob damit auch die Überlegung Nietzsches Kontingent und kasuistisch werden müßte. So streicht er die Prinzipienebene, die Platon mit der Seelenlehre eingenommen hatte, nicht einfach weg, sondern setzt ihr das Prinzip der Spezifizität des Kraftvollzugs entgegen, das zwar die Annahme allgemeiner Eigenschaften innerhalb des Seienden abstreitet, aber gleichwohl a/5 Prinzip verstanden werden muß. Die Individualität, die bei ihm ins Zentrum rückt, hat damit ihrerseits fundierende Funktion. Wir betonen diesen Punkt, der unseren früheren Bemerkungen zur Individualität entspricht, deshalb, weil es wichtig ist, die systematische Gewichtigkeit der Selbstigkeit in Nietzsches Konzeption nicht zu verkennen: So wie bei Platon eine Teleologie im Dasein des Gemischten anzunehmen war, ein notwendiges Werden zum Sein - da das, was gemischt existiert, aufgrund der Instabilität dieses Verhältnisses auf Abgemessenheit hin einzurichten ist -, so gibt es eine Teleologie des Selbst in Hinsicht aufsein Leben. Das Selbst ist nicht nur in jedem Lebensvollzug als dessen Grund gegeben, es drängt auch danach, angemessen in den einzelnen Vollzügen zu erscheinen. Die Forderung sich zu bewahren, heißt deshalb nicht nur, anderes und Andere abzuwehren. Es heißt zugleich, das Selbst so zur Geltung kommen zu lassen, wie es sich in den Vollzügen zur Geltung zu bringen sucht. Das gute Leben ist als das gute Leben des jeweiligen Selbst definiert. Gehen wir jedoch solchermaßen vom Begriff des Selbst aus, dann stellt sich die Frage, wie der Begriff der Ganzheit aufzufassen ist. Die zwei Bedeutungen, die er bei Platon hatte, sind für Nietzsche beide auszuschließen. So fällt zum einen der summarische Ganzheitsbegriff im Sinn der Vereinigung aller für die Lebensführung notwendigen Elemente weg. Zwar verweist Nietzsche gelegentlich darauf, daß Seele und Körper nur zusammen ein gutes Lebens ergeben, doch diese Verweise sind zu unspezifisch, um den Wegfall der Seelenlehre zu ersetzen108. Unter dem Primat der Individualität ist es schlechterdings unmöglich anzugeben, was für die Lebensführung eines Einzelnen notwendig ist. Zum anderen fällt aber auch der Begriff der Ganzheit im Sinn eines umfassenden und angemessenen Verhältnisses weg, und zwar eben deshalb, weil die Elemente nicht bestimmbar sind, die in ein Verhältnis treten könnten. Die Stimmigkeit, die Nietzsche annimmt - anderenorts spricht er auch von der „Zufriedenheit mit sich"109 -, hat zwar einen Ordnungscharakter, kann aber nicht auf ein bestimmtes Ordnungsprinzip hin beschrieben werden. 108 109
Vgl. bspw. 9, 6 [322]. FW 290; 3, 531. Vgl. auch FW 303; 3, 54If.
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5.2.2. Das Leben als Selbst
Um uns Nietzsches Rede von der Ganzheit anzunähern, können wir zunächst der Frage nachgehen, was es heißt, sich zu bewahren. Offensichtlich ist damit kein positives Ziel gemeint, so wie bei Platon, der beschrieb, wie die Seele zu ordnen sei, um der Vernunft als dem Teil, der in ihr herrschen soll, seine Funktion zu ermöglichen. Vielmehr bezeichnet es eine bloße Abwehr, ein negatives Tun: Die Fixierung auf einzelne Momente oder Tugenden ist aufzuheben, um dadurch dem Selbst die Gelegenheit zu eröffnen, sich in seiner Ganzheit zu erweisen. Das heißt, daß man die Ganzheit selber nicht erwirkt, sondern nur verhindert, daß sie nicht von sich aus besteht. Die Ganzheit, so könnte man also provisorisch sagen, ist das, was man ist, wenn man sich nicht auf Einzelnes in sich fixiert. Zwar leuchtet dies praktisch unmittelbar ein: Das Leben ist mehr als die Ziele, die es sich gibt, es ist der Ort oder auch Vollzug der Zielsetzung selbst. Dennoch bleibt auch jetzt noch offen, inwiefern konkret von einer Ganzheit auszugehen ist. Weshalb bezieht man sich auf das Ganze seines Seins, wenn man sich von Freunden oder von der Liebe zu seinem Vaterland löst? Zur weiteren Erläuterung kann die folgende Stelle herangezogen werden: „Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stösst es von dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum damals, aus du noch ein Anderer warst - du bist immer ein Anderer -, dir ebenso nothwendig wie alle deine jetztigen „Wahrheiten" [...] Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, - es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen" (FW 307; 3, 544f).
Gegen diese Überlegung könnte zunächst eingewendet werden, daß der Hinweis auf die kontinuierliche Veränderung der Identität des Selbst widerspricht, da sich diese ja nicht selbst verändert, sondern eine Form ausmacht, an der sich die Veränderung dann allererst erweisen lassen kann. Doch es ist gar nicht Nietzsches Absicht, das Selbst in eine diskontinuierliche Abfolge von Momenten gleichsam zu zerlegen. Worauf er hinweist, ist vielmehr das Problem der zeitlichen Konkretion: Wo immer man versucht, seine Identität in einer vollständigen Bestimmung aufzugreifen, stößt man auf ein Geschehen von „lebendigen Kräften", deren momentane Konstellation prinzipiell nicht als endgültig aufzufassen ist. Was dem Selbst als seine jeweilige Identität erscheint, ist dem Wesen nach nichts Festes und wird nur deshalb nicht als unfest offenbar, weil der Versuch des Selbstverstehens in es eingelassen ist und nicht all das erfassen kann, was es nicht mehr oder noch nicht ist110. Die Ganzheit, die Nietzsche meint, ist also nicht in Bezug auf eine wie 110
Vgl. FW 317; 3, 549.
5.2.2. Das Leben als Selbst
187
auch immer geartete Idee der Gesamtheit zu beziehen. Von der Zeit aus gesehen, ist das Ganze des Selbst vielmehr gerade seine Offenheit, d.h. der Umstand, daß das Selbst mehr Möglichkeiten in sich faßt, als es in den verschiedenen Augenblicken wissen kann. Man wird also nur insofern ganz, wenn man sich von Einzelnem löst, als man dadurch die Hemmung anderer Möglichkeiten aufhebt und das Selbst das sein läßt, was es zu sein tendiert. Auch die Ganzheit ist deshalb ein negativer Begriff, gleichsam die Bezeichnung eines Freiraums, der sich im Verlauf der Zeit jeweils auf neue Weise füllt"1. Im Gegensatz zu unserer ersten Formulierung läßt sich deshalb jetzt präziser sagen, daß es nicht darum geht, das zu bewahren, was man ist, sondern das, was man sein kann oder besser: werden kann112. Dabei darf es allerdings nicht so scheinen, als wäre Nietzsche so weit gegangen wie Heidegger und hätte den Seinscharakter des Menschen selbst als Möglichkeit definiert"3. Ohne genauer darauf einzugehen, wie dies bei Heidegger geschieht, läßt sich doch sagen, daß der Begriff der Kraft, insofern eine Kraft nur von ihren Vollzügen aus erkennbar ist, Bestimmtheit impliziert. Nietzsche spricht deshalb auch davon, daß das Selbst ein jeweils anderes wird, was heißt, daß es ein anderes wirkliches wird. Angesichts des Umstands, daß die Selbstbewahrung nur ein negatives Tun ist, könnte jetzt freilich der Eindruck entstehen, als gäbe es gar keine Möglichkeit, im emphatischen Sinn ein gutes Leben fuhren zu wollen. Es scheint, als müsse man sich auf gelegentliche Korrekturen beschränken, die dann zum Tragen kämen, wenn man sich im Handeln zu sehr auf eine bestimmte Sache konzentriert. Dies ist aber nicht der Fall, da das Selbst stets in einem Kontext handelt und in diesem nur dadurch zur Geltung kommt, daß es sich gegenüber anderem oder Anderen bewahrt. Die Selbstbewahrung ist in dieser Hinsicht nur ein zugespitzter Ausdruck für den Umstand, daß man überhaupt ein Leben führt; sie ist keine Ausnahme, sondern die Regel des Handelns selbst. Nietzsche kann deshalb nachdrücklich von der Möglichkeit der Selbstschaffüng, d.h. von der Möglichkeit, das Leben positiv als Ausdruck seiner zu gestalten, sprechen114. Was dies in concrete heißt, kann deutlich werden, wenn man seine Analyse der Persönlichkeit Goethes nachvollzieht: „Goethe [...]: ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein ///«att/kommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. - Er trug dessen
111
Vgl. Stegmaier 1987, 211 u. Koecke 1994, I28ff.. Daß das gute Leben im Offenhalten von Möglichkeiten besteht, hat Seel (1995, 175f.) betont. 113 Vgl. SZ 143f.: „Die Möglichkeit als Existenzial [...] ist die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins". 114 Vgl. M 548; 3, 319 u. 10, 7 [253]. 112
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5.2.2. Das Leben als Selbst
stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale [...]. Er nahm die Historic, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität; [...] er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich... Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war" (GD, Streifzüge 49; 6, 151).
Daß Nietzsche die Rede von der Selbstschaffung in gesperrter Weise setzen läßt, zeigt, daß man sie nicht als Erzeugung oder Schöpfung mißverstehen darf, denn es wäre absurd, eine freie Verfügung des Selbst über seine Identität anzunehmen. Das Schaffen meint vielmehr, daß überhaupt eine Aktivität auf sich verwendet wurde, daß das eingenommene Sein eine Überwindung nötig machte, die nicht selbstverständlich war. Dabei wird auch deutlich, daß ein vorgegebener Kontext anzunehmen ist, in dem das Selbst die Notwendigkeit, auf sich zu wirken, allererst erhält. Die Selbstschaffung wäre ortlos, wenn sie nicht von etwas Vorgegebenem ihren Ausgang nehmen könnte. Im Fall Goethes war dies, nach Nietzsche, seine Verhaftung im achtzehnten Jahrhundert, seine Prägung durch eine bestimmte geistige Tradition. Fragt man nun, wodurch die Selbstschaffung geleistet wurde, so ergibt sich dieselbe Vorgehensweise wie in der oben zitierten Stelle, nämlich die Forderung, Proben seines Könnens abzulegen. Auch Goethe wählte dementsprechend Tätigkeiten, in denen es nicht nur um die bestimmte Tätigkeit als solche, sondern zugleich um den Vollzug der gewünschten Lebensweise ging, d.h. er wählte Tätigkeiten, mithilfe derer diese Lebensweise einzuüben war. Mit diesem Konzept des Erprobens nimmt Nietzsche die zentrale Einsicht der antiken Ethoslehre auf: Die menschlichen Handlungsdispositionen sind nicht im Sinn unveränderlicher Wesenszüge festgelegt, sie formen sich vielmehr im Prozeß des Handelns um. Dabei gibt es zwar Grenzen der Veränderbarkeit, da die Tätigkeiten selbst durch das je gegebene Können ermöglicht sind und nicht schlechthin frei gewählt und ausgeführt werden können. Dennoch läßt sich nicht sagen, daß das Können sie beschränkt, da es, umgekehrt, gerade als die Basis anzusehen ist, an der sich die Veränderung vollzieht. Nietzsche kann also, wie Platon, sagen, daß keine Tätigkeit für das Selbst indifferent ist, sondern daß eine jede es in der Weise dessen prägt, was in ihr geschieht115. Freilich ist auch hier der Hintergrund der Machtlehre zu 115
Vgl. 9, 2 [66] / 9, 11 [212] u. 10, 7 [120]. Spaemann hat diesen Punkt ausgehend vom aristotelischen Praxisbegriff betont. Einzelne Handlungsweisen sind demnach keine Mittel, die zur Erreichung des gelungenen Lebens im Sinn eines von ihnen unterschiedenen Handlungszieles fuhren, sondern „Teile des Gelungenen" selbst (Spaemann 1998, 40). So stellt sich das gute Leben nur in einem „Wechselverhältnis von Ganzem und Teilen" her (39).
5.2.2. Das Leben als Selbst
189
beachten: Gewohnheit, auf der der griechische Ethosbegriff etymologisch beruht, hat für Nietzsche nicht die Bedeutung eines sich wiederholenden Vollzugs, sondern enthält ein asymetrisches Moment, insofern sich jedes Handeln als Überwindung von etwas vollzieht. Der Begriff des Probens meint deshalb das jedesmalige Erproben angesichts eines Widerstands. In diesem Sinn spricht Nietzsche weniger von Gewohnheit als vielmehr von Übung oder auch von einem Lernen und betont damit das je vollzogene Aneignungsverfahren116. Wo das Zwangsmoment in der Aneignung betont werden soll, spricht er, wie schon einmal angedeutet wurde, auch von Züchtung oder Zucht117. Zwar schließt dies nicht aus, daß man ein selbstgewisses Können in etwas erlangt, doch erlangt man es eben in der Überwindung und damit in prinzipiell dynamischer Form. Damit wird nun auch verständlich, was es heißt, wenn Nietzsche immer wieder auf die Notwendigkeit in allen Kraftvollzügen verweist. Er sagt explizit: „Nichts gegen die Notwendigkeit wollenl Es hieße Kraft vergeuden und unserem Ideal entziehen, über dies die Enttäuschung statt des Erfolgs wollen" (9, 7 [71]).
Der Hinweis auf die Notwendigkeit meint also gerade nicht die Unmöglichkeit jeglicher Ethik, sondern leitet zu einem eigenen Typus, einer Ethik des Ethos im Sinn eingeübter Dispositionen, hin. Die Einsicht in die Notwendigkeit hat dabei eine doppelte Funktion: Zum einen verweist sie auf die Basis, von der aus die Veränderungen überhaupt erst vorzunehmen sind118. Zum anderen hilft sie, die Enttäuschung zu verhindern, die aus unrealistischen Idealen folgt und dient so dazu, daß man überhaupt einer Ethik nachgeht und nicht vielmehr jegliche verwirft119. In diesem Sinn liegt in dem Verweis auf die Notwendigkeit eine moralkritische Wendung, die vorbereitend für die Setzung eines angemessenen Ideals die Sinnlosigkeit der Annahme eines freien Willens sowie eines absolut gesetzten Sollens zeigen will. Wollte man dies noch einmal auf Platon beziehen, so könnte man von einer Subjekt!vierung bei Nietzsche sprechen. Wie wir zeigten, problematisierte Platon den Begriff des Ethos hinsichtlich der Erfordernisse des Kairos und der Dauerhaftigkeit des Handelns. Von der Selbstbewegung aus ließ es sich für ihn nicht garantieren, daß das Ethos stets der hinreichende Grund zu gutem Handeln ist. Auch für Nietzsche gilt diese Differenz zwischen dem Ethos als Disposition und seiner Anwendung im Handeln. Das heißt, daß auch er das Problem des Kairos und der Dauerhaftigkeit aufgenommen haben könnte. Was sich für ihn ändert, ist jedoch, daß er das gute Handeln nicht als das situativ oder sittlich 116
Vgl. M 540; 3, 309 / Za III, Geist der Schwere 2; 4, 244 / JOB 231; 5, 170 u. 9, l [101]. Vgl. JOB 188; 5, 108f. 118 Vgl. 9,4 [104] / 9, 11 [258] u. 13, 15 [98]. 119' ' Vgl. auch Za IV, Höherer Mensch 13; 4,363. 117
190
5.2.2. Das Leben als Selbst
Erforderliche expliziert, sondern als die Herausbildung von Zuständen am Handelnden selbst. Für ihn gilt es das Ethos deshalb nicht an ein Ziel zu binden, das der vernünftigen Betrachtung zugänglich ist, sondern das Ziel als Widerspiegelung des Ethos selbst allererst zu entdecken. Die Bindung wird dadurch zum sekundären Phänomen, da erst bestimmt werden muß, an was sich das Ethos binden kann. Wenn Nietzsche daher wiederholt die Reduktion des Sollens auf den bedingten Willen eines Einzelnen betont, so geht es gerade nicht um dessen bloße Selbstaffirmation, sondern um das hermeneutische Problem, zu verstehen, was das für ihn Gute ist. Es geht, wie oben schon gesagt, darum, das gute Lebens als gutes Leben des Selbst allererst zu ermöglichen120. Die oben angesprochene Selbstschaffung Goethes ist im übrigen auch ein gutes Beispiel, um abschließend zu erläutern, wie das Selbst sich hat, wenn es sich schaffen will. So besteht die Erprobung ja in der sachlichen Auseinandersetzung mit einem Tätigkeitsbereich; sie trägt, zumindest in primärer Hinsicht, mehr den Charakter eines Sich-Verlierens und führt nur indirekt zum Selbst zurück121. Verallgemeinert ließe sich dies so beschreiben, daß man sagt, das Selbst, das sich schaffen wolle, dürfe sich gerade nicht sich selbst zum Ziel vorgeben, wenn es nicht die Freiheit der Entwicklung unterbinden will. Nietzsche hat dies ebenfalls, und zwar in Hinsicht seiner selbst betont: „An dieser Stelle ist nicht mehr zu umgehn die eigentliche Antwort auf die Frage, wie man wird, was man ist, zu geben. Und damit berühre ich das Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung - der Selbstsucht... Angenommen nämlich, dass die Aufgabe, die Bestimung, das Schicksal der Aufgabe über ein durchschnittliches Maass bedeutend hinausliegt, so würde keine Gefahr grosser als sich selbst mit dieser Aufgabe zu Gesicht zu bekommen. Dass man wird, was man ist, setzt voraus, dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist" (EH, Klug 9; 6, 293).
Wir können diese Überlegung von ihrem Schicksalspathos lösen und auf unsere strukturelle Frage beziehen: Auch wenn man sich in dem erproben wollen kann, was man sich vornimmt zu sein, kann man die tatsächliche Entwicklung, die dabei geschieht, doch nicht objektiv erkennen oder gar in ihrem Dasein nachzuweisen 120
Vgl. AC 11; 6, 177 / 9,4 [153] / 9, 6 [125] / 10, 7 [1] u. 11, 34 [161]. Unsere negativistische Deutung der Selbstschaffung ist von der Wilhelm Schmids zu unterscheiden, die in Anlehnung an Foucault emphatisch von der „Selbstformungstätigkeit" in Rahmen der Lebenskunst spricht (1991, 265 et passim). Dabei wird auch das angebliche Vorbild Nietzsches falsch eingeschätzt, denn seiner Ethik wird die Anleitung zur „Selbstformung des Subjekts" (193) zugeschrieben. Auf diese Weise wird erkenntlich, daß jede Konzeption der Lebenskunst, die von einer positiven Einwirkung des Selbst auf sich ausgeht, uneingestanden im Bannkreis der Subjektphilosophie verbleibt. Dies könnte auch bei Nehamas nachgewiesen werden (vgl. 1985, 191) sowie bei Zukkert(1976, 78). 121
5.3. Ethischer Dualismus
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suchen. Würde man dies versuchen, so unterläge man ihr nicht mehr und hätte die eigene Bestrebung ad absurdum geführt. Die Selbstschaffung kann sich der Erreichung ihres Zieles letztlich also nie gewiß sein, woraus allerdings nicht folgt, daß das jeweilige Tun indifferent wäre: Es ist zwar nicht das hinreichende, aber doch zumindest das notwendige Mittel, um ein Ethos umzuformen oder zu erweitem122. Im übrigen darf auch nicht angenommen werden, daß diese Weise, sich zu verlieren, dem Gedanken der Autarkie als einem genügenden oder vollendeten Dasein widerspricht: Indem sich das Selbst im Verlust von Gewohnheiten der Entwicklung von Möglichkeiten hingibt, erreicht es gerade die Fülle eines sich genügen könnenden Seins.
5.3. Ethischer Dualismus Die Ethik Nietzsches ist zum Abschluß auch in moralphilosophischer Perspektive zu diskutieren. Diese Diskussion setzt zunächst auf der Ebene des Handelns an und fragt, ob der von ihr entwickelte Begriff des Guten auch die Leistung des moralisch Guten übernimmt. Genauer ausgedrückt, bedeutet dies zu fragen, ob sie dem Anspruch auf Respekt und Unversehrtheit, den der Andere oder die Gemeinschaft stellt, Genüge tragen kann. Um den Stellenwert dieser Frage zu verdeutlichen, können wir an unsere Schilderung der Vornehmheit anknüpfen. Wie gezeigt, ist diese für Nietzsche in einer Supererogation durchaus auch zu sozialkonformem Handeln fähig. In diesem Sinn kann er vom Vertreter einer Strebensethik sagen: „Der „gute Mensch", aus Stärke, aus Machtfülle, als herrschender Typus, der sich eine Existenz ausgewählt hat, die ihn der Nöthigung enthebt, aggressive und defensive Affekte zu haben" (13, 14 [218]). Als Antwort auf die hier gestellte Frage läßt sich also zunächst sagen, daß die Strebensethik nicht notwendig dazu fuhrt, den Anspruch, den der Andere stellt, zu verletzen. Dabei zeigt allerdings der Hinweis darauf, daß die Supererogation in einer bestimmten Form der Existenz erfolgt, daß sie auf spezifische Bedingungen angewiesen ist, die nicht verallgemeinert werden können. Sie geschieht entweder nur in Einzelfällen oder in besonderen, individuellen Lebensformen, in denen sich das Problem des Schadens Anderer überhaupt nicht stellt. In diesen Fällen wird die Moral entbehrlich, weil die Notwendigkeit ihrer Anwendung geschwunden ist und niemand den Anspruch auf Unversehrtheit stellen muß. Dasselbe gilt für das Verhalten zwischen Freunden oder in einer Gruppe, in der zu erwarten ist, daß jeder 122
Vgl. auch JOB 249; 5, 192 u. JOB 256; 5, 202.
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5.3. Ethischer Dualismus
dem Anderen helfen will, denn auch dort kann es, zumindest dem Ideal nach, gar nicht zu Fällen aggressiven Handelns kommen123. Die Ethik der Autarkie negiert die Moral also nicht, in dem Sinn, daß ein autarker Mensch meinen dürfte, lügen, stehlen oder morden zu dürfen, sie kann ihre Funktion aber auch nicht ersetzen, da nicht angenommen werden kann, daß jeder in autarker Weise lebt. Nietzsches hat dieses Problem, wie die zitierte Stelle wenigstens in impliziter Form erkennen läßt und wie wir auch im folgenden belegen werden, durchaus selbst gesehen. Die für die Einschätzung seiner Ethik entscheidende Frage ist nun, wie sie auf das Problem reagiert. In praktischer Hinsicht liegt seine Lösung, folgt man den entsprechenden Bemerkungen, im Recht, das die Funktion der Moral auf nicht-moralische Weise erfüllt: Da Moral ihrer Wirkung nach nichts anderes ist, als die Forderung nach sozialkonformem Handeln, kann ihre Funktion auch von der Institution des Rechts übernommen werden. Dabei ist vorauszusetzen, daß sich das Recht seinerseits von der Moral disjungieren läßt: Dem Recht, das die Zwangsbefugnis des Staates oder der Gemeinschaft enthält, gelingt es, die Zufügung von Schaden einzudämmen, ohne dabei die für die Moral typische Kategorie des Bösen einzusetzen. Wie wir ebenfalls schon in der Schilderung der Vornehmheit angedeutet haben, versucht Nietzsche deshalb, einen streng funktionalistischen Rechtsbegriff zu entwickeln124: „Das Verbrechen gehört unter den Begriff: „Aufstand wider die gesellschaftliche Ordnung". Man „bestraft" einen Aufständischen nicht: man unterdrückt ihn. [...] Man soll den Begriff der Strafe reduziren auf den Begriff: Niederwerfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaaßregeln gegen den Niedergeworfenen [...]. Aber man soll nicht Verachtung durch die Strafe ausdrücken: ein Verbrecher ist jedenfalls ein Mensch, der sein Leben, seine Ehre, seine Freiheit risquirt - ein Mann des Muths" (12, 10 [50]).
Ein solches Rechtsverständnis wie das hier skizzierte würde den Primat des individuell geführten Lebens insofern beachten, als es die Gesetzesübertreter zwar bestraft, mit dieser Strafe aber keine Einwirkung auf ihr Gewissen oder gar ihr Handeln machen will, im Sinn des Anspruchs, sie zu verbessern. Die Verurteilung würde rein extemalistisch erfolgen, als Verfahren, dem man den Betreffenden unterwirft, ohne daß dazu die Erforschung seiner inneren Beweggründe maßgeblich wäre125. Nietzsche vertritt deshalb auch die These, daß es nicht der Konzeption des freien Willens, d.h. der Verantwortlichkeit, bedürfe, um strafen zu können. Vielmehr kann die Strafe, wie in den sogenannten vormoralischen Zeiten, nur wegen der begangenen Handlung oder besser: wegen der Wirkung der begangenen 123
Dies zeigen auch FW 13; 3, 384 / 9, 6 [203] / 9, 6 [205] /10, 7 [180] u. 13, 11 [273]. Vgl. auch Kerger 1988, 163ff. 125 Vgl. auch Za I, Bleicher Verbrecher; 4,44 u. 10, 7 [109]. 124
5.3. Ethischer Dualismus
193
Handlung vollzogen werden126. Angesichts dieser Lösung könnte vielleicht eingewendet werden, daß es unmöglich sei, den Übergang von der Autarkie zur Etablierung eines Rechtsverhältnisses zu begründen. Nach dem bisher Gezeigten scheint ein solcher Versuch der Personalität als Bedingung des autarken Lebens zu widersprechen. Ein Einwand dieser Art würde jedoch die geschichtliche Situierung des Handelns verkennen. Wie wir ebenfalls zeigten, sind Gemeinschaften für Nietzsche sowohl zeitlich als genetisch früher denn die ihrer selbst gewisse Individualität. Die autarken Menschen müssen sich also nicht erst in Rechtsverhältnisse versetzen, sondern finden sich jeweils schon in ihnen vor. Der Zwang zur Sozialkonformität muß so nicht eigens begründet oder hervorgebracht werden, sondern geht von vornherein in die Konstitution der Autarkie mit ein. Deshalb ist es prinzipiell nicht auszuschließen, daß ein Rechtssystem nach der Idee der Autarkie eingerichtet wird. Freilich zeigt die Thematisierung des Rechts an dieser Stelle, daß die Aporien einer Ethik der Autarkie zwar praktisch behoben werden könnten, dabei allerdings zugleich eine Einschränkung ihrer Geltung hinzunehmen ist. So wird unweigerlich erkennbar, daß die Trennung von Recht und Moral in der oben angedeuteten Weise nicht durchweg gelingen kann und daß das Recht notwendigerweise Elemente aufzunehmen hat, die der Moral im Nietzscheschen Sinn entsprechen. Um dies zu belegen, gilt es, von der Genealogie des Rechtsbegriffs auszugehen, die Nietzsche in der Schrift Zur Genealogie der Moral versucht. Das Recht entspringt demnach aus „dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist als es überhaupt „Rechtssubjekte" giebt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch [...] zurückweist" (GM 2, 4; 5, 298).
Nietzsche versucht also, vom Tauschverhältnis aus den Begriff des Rechts auf das Recht zurückzuleiten, das sich ein Gläubiger an einem Anderen erwirkt. Die Position des Gläubigers kann dabei auch von der Gemeinschaft eingenommen werden, die dem Einzelnen Schutz gewährt und ihn so im weiten Sinn zu ihrem Schuldner macht. Verallgemeinert heißt dies, daß er den Begriff des Rechts als Vorrecht expliziert, genauer als das Vorrecht, das sich jemand gegenüber einem Anderen erwirkt127. Recht ist deshalb immer auch der Ausdruck eines Machtverhältnisses oder besser: ist ein Machtverhältnis gegenüber dem, an dem man die Rechte besitzt128. Damit wird deutlich, daß in Nietzsches Genealogie ein Punkt von vornherein nicht in den Blick kommt, nämlich der, daß man das Recht auch als Anspruch 126
Vgl. JOB 32; 5, 50 / 10, 7 [216] /12, l [l 14] u. 12, 7 [59]. Vgl. JOB 202; 5, 125 u. AC 57; 6, 243. 1281 · Vgl. WS 22; 2, 555f. 127
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5.3. Ethischer Dualismus
auf Gewährung einer Sache denken kann, bspw. auf die Nutzung einer Weide, und nicht nur als Vorrecht im Sinn der Zwangsbefugnis dessen, der die Weide zur Verfügung stellt und dafür eine Gegenleistung verlangen kann. So sind auch die Mitglieder einer Gemeinschaft nicht notwendig nur Schuldner in Bezug auf den von ihr erfahrenen Schutz, sie können auch den Anspruch stellen, geschützt zu werden. Gerade in Bezug auf diese Seite kommt dem Begriff des Rechts dann auch eine moralische oder wenigstens der Moral analoge Seite zu. Daß Nietzsche dies zumindest implizit erkennt, zeigt sich, wenn er im Blick auf die historischen Aristokratien schreibt: „Hier wollen wir Eins am wenigsten leugnen: wer jene „Guten" (die Vornehmen M.S.) nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als böse Feinde kennen [...] - sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde [...] beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raubthiere. [...] Sie treten in die Unschuld des Raubthier-Gewissens zurück" (GM l, ll;5,274f.).
Wo sich die Aristokraten also nicht inter pares, d.h. in den zwischen ihnen gebildeten Rechtsverhältnissen, bewegen, liegt quasi ein Naturzustand vor, in dem für alle Anderen keinerlei Sicherheit hinsichtlich der eigenen Versehrtheit herrscht129. So wird ein Punkt ersichtlich, an dem der Sinn der Rechtsverhältnisse nicht mehr nur im Vorrecht eines Mächtigeren liegt, sondern auch im Schutz derer, welche dieses Vorrecht an sich erleiden. Zwar könnte man im Sinn des oben Gesagten hierauf entgegnen, daß diese Dimension eine abgeleitete sei und Rechtsverhältnisse für Nietzsche eben nicht durch Verträge oder durch moralische Erwägungen, sondern durch Eroberungen entstehen. In der Tat besitzt die Denkfigur eines Naturzustands hi seinem Denken keine systematische Funktion, da es ihm nicht darauf ankommt, Rechtsverhältnisse durch allgemeine, auf der Vernunft basierende Gründe zu legitimieren130. Wir kommen darauf noch zurück. Auch wenn seine Beschreibung also eine Art von Naturzustand evoziert, geschieht dies nicht, um das konstituierende Prinzip der Macht einzuschränken. Doch selbst wenn man dies zugesteht, kann man sagen, daß die Befriedung, die durch diesen Übergang erbracht wird, zugleich dem möglichen Anspruch auf Frieden genügt: Es erscheint nicht zwingend, die Forderung nach gerechten Verhältnissen als fremdes Element aus dem Rechtsbegriff zu lösen und zu behaupten, daß das Recht jederzeit nur als ein Ausdruck von Macht verstanden werden muß. Moral ist aber noch in anderer Hinsicht mit dem Recht verbunden, und zwar als ein konstitutives Moment von Gemeinschaftlichkeit. Die Perspektiven des individuellen, an seinem Gelingen interessierten Lebens und der Gemeinschaft, die an 129 130
Vgl. auch JOB 257; 5, 205f. u. 10, 16 [32]. Vgl. GM 2, 17; 5,324f. sowie Ottmann 1987, 226ff.
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ihrem Bestand und ihrer Sicherheit interessiert ist, sind nicht miteinander zu identifizieren: „An den höchsten und stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den Einzelnen weit über den Durchschnitt und Niederung des Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich [...] zerbricht [...]. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden; Alles was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten Furcht macht, heisst [...] böse" (JGB 201; 5, 122f).
Auf den ersten Blick scheint diese Schilderung die moralische Kategorie des Bösen nur umkehren zu wollen, indem sie der Gemeinschaft ihrerseits einen Willen zum Schädigen der Einzelnen unterstellt: Der nach Autarkie Strebende, so heißt es, wird von ihr deshalb geächtet, weil sie ihren Zusammenhalt nicht ohne die Eingliederung und Eindämmung der Individualität erreicht. Gemeinschaften wären demzufolge nichts anderes als utilitaristisch vorgehende Unterdrückungsmechanismen, denen der an sich freie, überlegene Mensch unterworfen wird. Gleichwohl legt Nietzsche hierbei kein intentionalistisches Verständnis zugrunde, denn was die Gemeinschaft an dem Einzelnen tut, wird weder als bewußte Strategie geplant, noch ist es etwas, dessen sie sich einfach enthalten könnte: Insofern der freie Einzelne in seinem Handeln prinzipiell nicht mehr in Rücksicht auf die Gemeinschaft handelt, ist diese nicht unberechtigt, sich vor seinem Tun zu fürchten. Es ist eine zwar relative, aber dennoch notwendige Perspektive, wenn er der Gemeinschaft als böse erscheint. Entbehrlich wäre sie nur, wenn sich jedes Mitglied der Gemeinschaft insgeheim ebenfalls als frei empfinden würde, d.h. wenn es wissen könnte, daß es über den Freien nur zu herrschen versucht. Da sich die meisten aber gar nicht anders denn als Mitglied der Gemeinschaft verstehen, muß ihnen der Zwang zur Konformität als gleichsam natürlich erscheinen. Überdies setzt gerade Nietzsches Rechtsidee eine solche Perspektive voraus: Auch wenn die Gemeinschaft im Verbrecher nur einen Aufstand gegen ihre Ordnung bekämpft und keinen an sich bösen Menschen, verhält sie sich dabei doch als Gemeinschaft gegenüber ihm. Auch als Aufstand muß seine Tat als Bedrohung des „Selbstgefühls des Gemeinde" verstanden werden. Zugespitzt heißt dies, daß die extemalistische Rechtsanwendung nicht nur so verfährt wie die Moral, sondern auch dazu führt, daß sich die Einzelnen so verstehen wie in der Moral. Der Unterschied zwischen einer funktionalen Strafe, die nur den Erhalt der Gemeinschaft sichern soll, und einer Strafe, die gegenüber dem Bestraften eine innere Konformität erzwingt, wird dadurch marginal. Auch wenn sich Rechtssysteme genealogisch auf Machtverhältnisse zurück-
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5.3. Ethischer Dualismus
fuhren lassen, muß somit ein der Moral gleichzusetzendes Verhalten in ihnen entstehen. Damit zeigt sich, daß Nietzsche systematisch eine Form des Dualismus anzunehmen hat: Zwar weist er die Möglichkeit von Lebensformen nach, die nach den ihnen eigenen Kriterien auch als höherrangig aufzufassen sind, kann aber keine universale Geltung für sie fordern, da sie das Problem des sozialkonformen Handelns unbewältigt lassen131. Es kann nicht sinnvoll davon ausgegangen werden, daß sich ein jeder an der Ethik der Autarkie orientiert. Auf der Ebene der Terminologie bedeutet dies, daß der emphatische Immoralismus einer Ethik des guten Lebens letztlich immer auch als Amoralismus oder gar Unmoralismus bezeichnet werden muß: Er vergleichgültigt die Moral nicht schlechterdings, sondern bleibt an ihren Kriterien meßbar132. Dies führt unweigerlich zur Frage, warum überhaupt ein solcher Dualismus anzunehmen ist, d.h. warum überhaupt neben der Moral auch eine Konzeption des guten Lebens entwickelt werden muß. Wie läßt sich diese legitimieren, wenn sie keine genügenden Regeln des Handelns enthält, sondern in einer für sie zentralen Frage aporetisch bleibt? Zumindest auf den ersten Blick scheint für sie auch keine praktische Notwendigkeit nachweisbar zu sein, so wie sie für die Moral in der Erfahrung des Schadens oder der Ansprüche Anderer besteht. Geht man von dem bisher Dargelegten aus, so könnte man zunächst versucht sein zu behaupten, daß eine Ethik der Autarkie dadurch begründet sei, daß sie einem Kriterium des Guten entspricht. Sie bedeutet keine beliebige, dezisionistisch vorgetragene Selbstabgrenzung gegenüber Anderen, sondern eine in sich qualifizierte ethische Position. Gleichwohl kann dieses Argument nicht das entscheidende sein, denn es könnte von einem Vertreter der Sozialmoral bestritten werden, daß man das Gute so verstehen kann, wie die Strebensethik dies tut, nämlich als einen im Einzelnen herausgebildeten Zustand. Damit wäre die Frage, wie weit jemand der Autarkie fähig ist, irrelevant, da als ethisch im strengen Sinn nur die Frage nach der Sozialkonformität von Handlungen gälte. Gegenüber einem solchen Einwand könnte man die Notwendigkeit der Autarkie dann entweder nur dogmatisch oder nur zirkulär behaupten. Um dem zu entgehen, muß Nietzsche einen äußeren Grund angeben können, aus dem sich die Notwendigkeit und Legitimität einer solchen Ethik neben der Moral ergibt. Den Ansatzpunkt dafür legt die folgende Stelle dar:
131
Vgl. auch FW 76; 3, 432 u. 12, 9 [139], zur Vornehmheit als einer „Cultur der Ausnahme". Dies unterscheidet Nietzsches Ethik auch von der Guyaus, der Pflichten aus dem Wollen selbst abzuleiten sucht (1988, 96ff). Vgl. auch Marti 1993,300 zum Verhältnis Nietzsches zur Politik. 132 Vgl. MAI, Vor. 1; 2, 15 /GM, Vor. 3; 5,249 /GM l, 16; 5, 288 u. 12, 9 [154].
5.3. Ethischer Dualismus
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„Die Meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus" (12, 10 [l 11]).
Die hier genannten „Stücke und Einzelheiten" des Menschen sind die einzelnen Exemplare des Gattungswesens Mensch. Sie bezeichnen die Weise, in der man sich zumeist auf den Menschen bezieht, nicht nur wenn man von Individuen spricht, sondern auch, wenn man den Mensch als zugehörig zu bestimmten Gruppen, als Bürger, als Vertreter eines Volkes usw. sieht. In diesen Fällen werden einzelne Exemplare nach bestimmten Merkmalen zusammengefaßt. Die Einzelheit des Menschen bildet überdies die Grundlage der Moral, insofern es ihr darum geht, gegenüber Anderen nicht aggressiv zu handeln, sondern sie in ihrer Einzelheit als unversehrlich zu erachten. Dabei will Nietzsche nicht behaupten, daß es falsch sei, so zu sprechen, denn auch er bezieht sich, wie gesehen, emphatisch auf die Individualität. Vielmehr gilt es zu zeigen, daß aus dieser Hinsicht nicht verstanden werden kann, was der Mensch als solcher ist. Dies erschließt sich nur, wenn man ihn als singuläres Wesen denkt und die Einzelnen als Aspekte oder Möglichkeiten in einem einheitlichen Bild vereinigt sieht133. Ein solches Bild darf freilich nicht mit dem Begriff der Gattung verwechselt werden: Während dieser nur das Gemeinsame in allen Einzelnen erfaßt, das unterscheidende Kriterium, durch das das Lebewesen Mensch von anderen abzugrenzen ist, geht es hier um eine konkrete, auch die möglichen Entwicklungen erfassende Bestimmung, die nicht nur zeigt, was der Mensch als solcher ist, sondern gleichfalls, was er kann, „wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen" (ebd.) ist. Zu diesem Zweck sind Gattungseigenschaften gerade nicht hilfreich, da sich das einheitliche Bild nur aus der typologischen Betrachtung der im Handeln vorfindbaren Fähigkeit ergibt. Ein Wertkriterium wie das der Macht ist also notwendig, um den Menschen in seinem Zustand als Mensch zu verstehen. Selbst wenn ein Vertreter der Sollensethik auch dann noch sagen könnte, daß es ihm in Hinsicht auf die Einzelnen nur darauf ankommt, sie vor dem aggressiven Einfluß Anderer zu bewahren, so daß ihr jeweiliger Zustand ethisch gesehen für ihn irrelevant ist, könnte er doch schwer bestreiten, daß es sinnvoll ist, nach der Beschaffenheit des Menschen als solchen zu fragen. Sobald dies aber zugestanden wird, ist es auch möglich, nach dem Zustand in den Einzelnen zu fragen, da sich das Bild des Menschen überhaupt nur aus den Einzelnen zusammensetzt. Zwar bliebe auch dann noch offen, ob die Macht derjenige Begriff ist, der das Kriterium seinem Inhalt nach bestimmt. Dennoch steht sie, umgekehrt, auch nicht in willkürlicher Beziehung zu ihm: Wo man kein fest umrissenes Wesen des Menschen voraussetzt - und wir werden im folgenden bestätigen, daß Nietzsche dies nicht tut -, sondern eben fragt, „wie weit bisher die 133
Vgl. auch 11, 25 [342],
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5.3, Ethischer Dualismus
Menschheit vorwärts gekommen" ist, bleibt als ein möglicher Bestimmungsgrund allein die Tatsache, daß der Mensch Fähigkeiten hat und diese in begrenzterer oder umfassenderer Weise entfalten kann. Macht ist aber nichts anderes als der Ausdruck für ein Können, das im Lebensvollzug erfahren werden kann. Freilich folgt aus dem Gesagten zunächst nur die Notwendigkeit einer Qualifizierung, die als solche zwar evaluativ vorzunehmen ist, dennoch aber nicht zu einer Ethik führen muß. Um also zu belegen, daß man sich auch im Handeln an ihr orientieren sollte, bedarf es zusätzlicher Argumente. Insgesamt lassen sich dabei drei Argumente in Nietzsches Texten rekonstruieren. Das erste kann als ein hermeneutisches bezeichnet werden: „Im Grunde sind mir alle jene Moralen zuwider, welche sagen: „Thue diess nicht! Entsage! Ueberwinde dich!" - ich bin dagegen jenen Moralen gut, welche mich antreiben, Etwas zu thun und wieder zu thun [...] und an gar Nichts zu denken als: diess gut zu thun, so gut als es eben mir allein möglich ist! Wer so lebt, von dem fällt fortwährend Eins um das Andere ab, was nicht zu einem solchen Leben gehört [...] „Unser Thun soll bestimmen, was wir lassen: indem wir thun, lassen wir" [...]. Aber ich will nicht mit offenen Augen meine Verarmung anstreben, ich mag alle negativen Tugenden nicht" (FW 304; 3, 542f.).
Nach diesen Worten ist diejenige Handlungsweise vorzuziehen, die sich an einer positiven Qualität, d.h. an einem Wissen um das Gute, orientiert. Dabei liegt dieser Vorzug nicht in der Frage der Motivation, denn daß man einem positiven Bild des Handelns lieber folgt als bloßen Verboten, ist zwar richtig, aber auch trivial. Entscheidend ist vielmehr, daß ein solches Wissen Ziele vorgibt, die man überhaupt erst wollen kann. Es bezeichnet eine Welt, in der sich das Selbst widerspiegeln kann. Die Pflichtethik ist dem gegenüber unterlegen, nicht weil sie nur verbietet, sondern weil sie die Produktivität des Sinnverstehens unterbricht. So schildert Nietzsche als ihre Konsequenz die „Verarmung", was eben nicht bedeutet, daß man seine aggressiven Triebe nicht ausleben darf, sondern daß man an der Entfaltung von Möglichkeiten der Selbst- und Welthabe gehindert wird. In dieser Hinsicht läßt sich also zeigen, daß die Strebensethik für den Handelnden, insofern er sich in seinem Handeln Ziele geben muß, nicht nur als möglicher, sondern sogar als geeigneterer Ethiktyp erscheint. Das zweite Argument kann selbst als moralisch bezeichnet werden: „Moral ist heute in Europa Heerdenthier-Moral: - also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche „Möglichkeit", gegen ein solches „Sollte" wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hart-
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nackig und unerbittlich „ich bin die Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral!"" (JOB 202; 5, 124).
Daß andere und höhere Moralen möglich sein „sollten", scheint auf den ersten Blick insofern selbst ein moralisches Argument zu sein, als es die Ablehnung anderer Moralen als verwerflich oder böse charakterisiert. Nietzsches Gedanke unterscheidet sich von einer solchen Schuldzuweisung jedoch in einem wesentlichen Punkt: Er setzt keinen Konsens über die Anerkennung höherer Moralen voraus, sondern rechnet eben mit der Ablehnung von Seiten der Sozialmoral. Es geht ihm also nicht um einen Weltmaßstab, der allgemein verbindlich vorgegeben werden müßte, sondern um die Selbstreflexion der Moral auf der Ebene metaethischer Betrachtung. Auf dieser Ebene muß er nicht im strengen Sinn behaupten, daß es unmoralisch sei, die Möglichkeit anderer Moralen nicht anzuerkennen, sondern nur, daß diese Weigerung selbst nicht mehr moralisch gerechtfertigt werden kann. Es gibt, so ließe sich das Argument auch formulieren, keinen Grund, der den Vertretern einer Ethik des guten Lebens verbieten könnte, eine solche Ethik als für sich verbindlich anzunehmen. Auf die Ebene der Moral bezogen heißt dies, daß sie in ihrem universalen Geltungsanspruch selbst Unterdrückungscharakter annimmt und zur „Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen" (JGB 228; 5, 165) gerät. Sie wird also nach dem Maßstab ihrer eigenen Kriterien aporetisch134. Dies ist im übrigen auch der Grund für Nietzsches oft wiederholte Forderung, man müsse die Starken vor den Schwachen schützen, denn er setzt dabei voraus, daß sich die Vertreter eines autarken Lebens notwendig in der Minderheit befinden und deshalb vor der Mehrheit der auf Konformität Bedachten geschützt werden müssten135. Das dritte und letzte Argument läßt sich als anthropologisch bezeichnen. In seinem Rahmen kommt auch der Begriff des Übermenschen ins Spiel, von dem aus wir das Argument erläutern wollen. Dazu ist zunächst die programmatische Formel Zarathustras zu interpretieren: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, - ein Seil über einem Abgrunde. / [...] Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist" (Za I, Vor. 4; 4, 16f).
Diesen Worten nach besitzt der Mensch an sich kein festes Wesen, sondern hat, was ihm von Natur aus zukommt, nur insofern er sich als Tier vom Tierhaften unterscheidet. Nietzsche nennt ihn deshalb anderenorts auch das „nicht festgestellte Tier", d.h. das Tier, das seine Naturgebundenheit verloren hat und sich
134 135
Vgl. auch 11, 25 [343]. Vgl. GD, Streifzüge 14; 6, 120 / 12, 9 [44] u. 13, 14 [123].
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5.3. Ethischer Dualismus
seine Welt und Ziele durch sich selber geben muß136. Dies hat jedoch eine praktische Konsequenz: Wenn der Mensch kein Wesen hat, dann ist er, was er ist, nur durch die Tätigkeiten, die er ausübt, und durch die Ziele, die er sich setzt. Er erhält sein Wesen gerade nicht durch die Betrachtung seiner selbst, sondern dadurch, daß er sich als Brücke auf etwas hin versteht. Dementsprechend heißt es im Zarathustra auch: „Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel. / Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch - sie selber noch?-" (Za I, Tausend Ziele; 4, 76).
Die hier zugrundeliegende Struktur gleicht der Bestimmung der Praxis bei Platon, der zufolge eine Tätigkeit nicht aus sich selbst, sondern nur aus dem in ihr erstrebten Werk bestimmbar wird. So wäre es nicht falsch zu sagen, daß Nietzsche seine anthropologische These durch eine Fundamentalisierung der Praxisstruktur erhält. Von dem aus gilt es nun jedoch zu fragen, warum der Mensch, nach den zitierten Worten, eine Brücke gerade zum Übermenschen bilden soll. Man kommt einer Antwort näher, wenn man sieht, daß der Begriff im Zarathustra gar nicht im konkreten Sinn eines höheren Wesens ausgearbeitet wird, sondern eine bloße Chiffre für ein im hohem Maß gelungenes Dasein bleibt: „So fremd seid ihr (ihr Guten und Gerechten - M.S.) dem Grossen mit eurer Seele, dass euch der Übermensch furchtbar sein würde in seiner Güte! [...] / Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete! das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr würdet meinen Übermenschen - Teufel heissen!" (Za II, Menschen-Klugheit; 4, 1851).
Diese chiffrenartige Verwendungsweise137 entspricht dem unterminologischen Gebrauch, den Nietzsche anderenorts von diesem Ausdruck macht. Er fungiert als ein bloßer Relationsbegriff, der auf das Göttliche, aber auch auf den Begriff des Genies angewendet werden kann und all das bezeichnet, was höher als das Menschliche ist138. Im Zarathustra kommt dagegen eine ethische Funktion zum Tragen: Der Übermensch ist die Idealgestalt eines Daseins, das sich nicht nach den Kriterien der Moral versteht, d.h. eines Daseins, das in einem hohen Grad der Autarkie über jeden Zwang zur Konformität erhaben ist.
136
JOB 62; 5, 81 u. 11, 25 [428]. Vgl. auch FW 143; 3,491 u. GM 3, 13; 5, 367. Vgl. auch Za I, Nächstenliebe; 4, 78 u. Za, I, Kind u. Ehe; 4, 92. 138 Vgl. 7, 11 [1]; S. 354 / M 27; 3, 38 / M 548; 3, 318 u. FW 143; 3,490. 137
5.3. Ethischer Dualismus
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Doch warum soll sich der Mensch ein solch unbestimmtes und zudem auch unerreichbares Ziel vorgeben? Denn unerreichbar ist das Übermenschliche allein durch seinen Begriff. Die Antwort liegt darin, daß man sich den Übermenschen gerade deshalb als ein Ziel vorgeben soll, weil er unbestimmt und unerreichbar ist139. Es geht bei ihm nicht um einen Zustand, den man erreichen können sollte, sondern um ein Ziel, dessen Funktion darin liegt, daß es als Ziel vorgegeben wird. Das heißt, es geht darum, daß der Mensch zu solchen Zielen überhaupt fähig ist. Daß diese Erklärung richtig ist, zeigt sich am Gegenbild zum Übermenschen, an der Schilderung des letzten Menschen, der gleichsam die Schwundstufe aller Fähigkeit zur Selbstüberwindung bildet. Nietzsche kritisiert an ihm nicht nur seine Kollektivität und seinen Hedonismus, sondern eben die Bestrebung, das Wesen des Menschen in einem Glückszustand zu sich selbst, d.h. zu einer Form der Ruhe gebracht zu haben: „Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stem mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann" (Za I, Vorrede 5; 4, 19).
Was nach Nietzsche unbedingt verhindert werden muß, ist also die Möglichkeit von Menschen, die das Ziel des gelungenen Daseins nicht mehr nötig zu haben glauben, die ihr Dasein in der bloßen Subsistenz als vollendet sehen140. Ihr gegenüber erlaubt die Konzeption des Übermenschen, die Möglichkeit eines höheren Daseins vorzugeben, das nicht wiederum in eine Form der Immanenz einzubinden ist: In ihr liegt eine Ausgespanntheit im Sinn der Praxisstruktur, die im Vollzug des Lebens selbst nicht einzuholen ist, sondern umgekehrt den Vollzug erst strukturiert141. Auch der Begriff des letzten Menschen erschließt sich also aus der Bestimmung des menschlichen Wesens durch seine Ziele: Wo sich der Mensch nicht das Gelingen seines Daseins als Lebensziel setzt, bleibt er gegenüber diesem Ziel nicht etwa nur indifferent, sondern ausdrücklich unter ihm zurück. Wenn er, verkürzt gesagt, kein gutes Leben führen will, führt er ein schlechtes und entwickelt sich in entgegengesetzter Tendenz142. Dies gilt auch im Fall der Moral, die nach Nietzsches Diagnose in der Gegenwart dominiert: „Wir sehen heute Nichts, das grosser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht, in's Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäs-
139
So auch Jaspers 1936, 140. Vgl. auch 10, 7 [21] u. 12, 10 [17]. 141 Deshalb läßt sich auch nicht sagen, daß sich der Mensch in diesem Ziel zur Vollendung bringt (Pieper 1988, 55f.) 142 Vgl. auch 9, 12 [7], 140
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5.3. Ethischer Dualismus sigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere - der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer „besser"..." (GM l, 12; 5, 278).
Die Moral reduziert das menschliche Wesen auf eine stabile sozialkonforme Haltung, die ihm nicht etwa von Natur aus zukommt, sondern durch die entsprechende Übung, d.h. eben durch die Reduktion seiner Dispositionen. Gegen diese handlungstheoretische Deutung des Übermenschen als einer blossen Chiffre für die Offenheit von Handlungsmöglichkeiten könnte man auf seine religiöse Komponente verweisen. Tatsächlich liegt in ihm auch der Versuch einer Wiederbegründung des Strebens nach Transzendentem durch dessen Verankerung im Menschen selbst und unter dem ausdrücklichen Beibehalten der Säkularisierung. Der Übermensch ist die Leitfigur einer untheologischen Religiosität, der es primär um das Transzendenzverhalten geht und nicht um das Transzendente, auf das hin sie ausgerichtet ist143. Damit aber liegt der eigentliche Bezugspunkt dieser religiösen Dimension eben in der Schaffung eines Selbstverhaltens und läßt sich konkret nur mithilfe der Praxisstruktur erklären. Ebensowenig kann es einen Einwand gegen unsere Deutung liefern, daß Nietzsche den Begriff im Spätwerk konkreter als Bezeichnung für alle „Glücksfälle des grossen Gelingens" faßt und mit Napoleon sogar ein Beispiel für diese nennt144. Hier scheint zwar eine evolutionistische Perspektive hinzuzutreten, in der der Übermensch real erreichbar wird. Dennoch geht es auch in diesem Fall darum, daß die „Glücksfälle" als Beispiel einer Möglichkeit dienen können, die der Einzelne in seinem eigenen Handeln anerkennen soll. Es geht, so Nietzsche, darum festzustellen, was man Buchten soll, wollen soll" (AC 3; 6, 170), d.h. was überhaupt als Ziel im Handeln dient. Doch was folgt nun aus diesen drei Argumenten - dem hermeneutischen, dem moralischen und dem anthropologischen - für den Dualismus der zwei Ethiktypen? Offensichtlich ist trotz der Kohärenz dieser Gründe nicht anzunehmen, daß ein Vertreter der Sozialmoral sie als für sich verbindlich akzeptiert, denn für seinen Anspruch, eine universale und kategorische Form der Moral zu vertreten, ist schon die bloße Hypothese einer anderen Moral als Widerspruch zu erachten. Dies zeigt auch die folgende Stelle, in der Nietzsche zunächst einen „moralistischen Pedanten und Kleinigkeitskrämer" sprechen läßt: „Jede unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann wendet, [...] ist [...] eine Verführung und Schädigung der Höheren, Selteneren, Bevorrechteten. Man muss die Moralen zwingen, sich zu allererst von der Rangordnung zu beugen, man muss ihnen ihre Anmaassung in's Gewissen schieben, - bis sie endlich mit einander darüber in's Klare kommen, das es unmoralisch ist zu sagen: „was dem Einen recht 143 144
Vgl. Za II, Glückselige Inseln; 4, 109. AC 4; 6, 171. Vgl. auch FW 382; 3, 637 /GM l, 16; 5,287f. u. 12, 10 [17].
5.3. Ethischer Dualismus
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ist, ist dem Ändern billig". - Also mein moralistischer Pedant und bonhomme: verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnt? Aber man soll nicht zu viel Recht haben, wenn man die Lacher auf seiner Seite haben will; ein Kömchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack" (JOB 221; 5, 156).
Der Pedant vertritt inhaltlich zwar eine Position, die mit Nietzsches Ethik identisch ist, insofern er Autarkie als höherrangiger denn sozialkonformes Handeln bestimmt. Er postuliert die Höherrangigkeit jedoch im Rahmen einer allgemeinen Rangordnung, nach der die Vertreter der Sozialmoral die einer Ethik des autarken Lebens auch als höherrangig anerkennen müßten. Daß Nietzsche dies als Pedanterie verspottet, heißt also, daß für ihn die Höherrangigkeit zwar anzunehmen, aber nicht in dieser allgemeinen Form zu legitimieren ist. Es ist sowohl unmöglich, daß sich jeder als Vertreter eines höheren Ranges glaubt, als auch, daß jemand, der dies nicht tut, Andere als solche anerkennt145. Nach dem Dargelegten heißt dies jedoch gerade nicht, daß er glaubt, auf Gründe für die Übernahme einer solchen Ethik verzichten zu müssen. Es lassen sich sehr wohl Gründe für die Haltung der Autarkie angeben, auch ohne daß dabei vorausgesetzt werden müßte, daß ein Anderer sie als einleuchtend oder gar als für sich verbindlich akzeptiert146. Die Autarkie ist zwar nicht verallgemeinerungsiahig, bleibt jedoch der Argumentation zugänglich und muß sich nicht nur, wie oben angedeutet wurde, dogmatisch oder zirkulär behaupten. Gleichwohl kann sie als Ethik ein dezisionistisches Moment nicht verleugnen, insofern die Entscheidung, welche Argumente ein Einzelner als plausibel gelten lassen will, selbst nicht mehr argumentativ einholbar ist. Die Tatsache, daß jemand einer Ethik der Autarkie folgt - und nicht diese Ethik selbst -, bleibt somit in letzter Hinsicht darauf angewiesen, daß sie ihm als die ihm angei * 147 messenere erscheint . Freilich klingt diese Formulierung allzu negativ. Daß die Autarkie nicht allgemein begründet werden kann, ist für Nietzsche durchaus keine Einschränkung ihrer Relevanz. Im Gegenteil muß man sagen, daß der Autarkie die Nicht-Anerkennung von Seiten der Vertreter der Moral nicht nur widerfährt, sondern daß sie diese auch von sich aus will. Autarkie, als Bildung eines höheren Zustands, ist gerade 145
Die Deutung Graus, der zufolge Nietzsche in den Werken nach dem Zarathustra „zusehends und zunehmend auf einen zunächst auch, zuletzt fast ausschließlich auf die Überwindung anderer gerichteten Willen zur Macht verfällt" (Grau 1984, 332) ist demnach zu relativieren. Der Sinngehalt eines autarken Lebens muß nicht mit einem „absoluten Anspruch" (28) gegenüber Anderen vertreten werden, sondern erhält seine Verbindlichkeit schon durch den Bezug auf das jeweilige Selbst. 146 Vgl. zu dieser Argumentationsstruktur 10, 7 [24]. 147 Vgl. die platonisierende Redeweise Za III, Alte Tafeln 21; 4, 263 sowie AC 57; 6, 242. Dies unterscheidet Nietzsche auch von der sophistischen Position. Es geht ihm nicht um ein Naturrecht im Sinn einer Legitimation der Stärkeren, wie sie Kallikles vertritt (Gorg. 483 d). Macht läßt sich nicht im eigentlichen Sinn legitimieren; sie geschieht. Vgl. Kloch-Kornitz 1963, 595ff. u. Ottmann 1987, 226f.
204
5.3. Ethischer Dualismus
dadurch gekennzeichnet, daß man sie umwillen ihrer selbst erstrebt. Das jeweils individuelle gute Leben kann sich also gar nicht allgemein begründen und darf sich auch nicht allgemein begründen wollen, weil es sonst seinem eigenen Anspruch nicht genügt. Die Autarkie hätte sich verfehlt, wenn sie eines Konsenses mit Anderen bedürfte, um ihrer Lebensweise nachzugehen148. Der ethische Dualismus Nietzsches hat von daher eine asymetrische Gestalt. Zwar rechnet er im Hinsicht auf die Problemstellungen der Praxis mit einer Komplementär-ität, der zufolge beide Ethiktypen gleichermaßen möglich und auf die eine oder andere Art legitimierbar sind. So liegt in der Moral der berechtigte Anspruch, keinen Schaden zu erleiden sowie ein konsumtives Element von Gemeinschaft überhaupt. Im Gegensatz dazu liegt in der Autarkie ein irreduzibles Interesse an der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten sowie ein Interesse des Selbst an der Herausbildung höherer Zustände in sich. Der Intention nach herrscht zwischen den beiden Ethiktypen jedoch ein Antagonismus, da jeder für sich beansprucht, ein genügendes Leitbild des Handelns zu sein149. Zwar muß vor allem die Strebensethik ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch die Moral zugestehen. Da sie aber in praxi nicht notwendig in die Sphäre Anderer hineinreicht, um ihnen zu schaden, d.h. da sie gerade nicht zu aggressivem Handeln Anlaß gibt, stellt dieses einen Grenzfall dar, den sie auch nur als solchen anerkennen muß. Die Moral bleibt so ein äußerliches Mittel, das der Behebung von möglichen Kollisionen mit der Gemeinschaft dient, aber im Normalfall keine Orientierungsfunktion besitzt. Umgekehrt kann aber auch die Sozialmoral die Autarkie nur zulassen, wenn dies auf sekundärer und untergeordneter Ebene geschieht und zuvor ihren grundsätzlichen Erfordernissen Genüge geleistet ist, d.h. gleichsam nur in einem Freiraum, in dem die Ansprüche Anderer von vornherein unberührt sind. Seiner immanenten Intention nach subordiniert also jeder Ethiktyp den anderen und hält seine Geltung auf bestimmte Anwendungsfälle begrenzt.
148 149
Vgl. GD, Streifzüge 37; 6, 138 / 12, 9 [158] u. 12, 10 [63-4]. Vgl. GM l, 16; 5,285f / GD, Moral 3; 6, 84 / 9, 11 [99] /10, 7 [1] u. 12, 2 [133].
6. Selbstverständnisse 6.1. Der Begriff des Willens zur Macht: Zurückübersetzung in die Natur Das Schlußkapitel unserer Untersuchung bricht insofern aus der Folge der bisherigen Kapitel aus, als sein Thema keine direkte handlungstheoretische Funktion besitzt: Es beschäftigt sich mit den Konzeptionen des Willens zur Macht (5.1.) und der Ewigen Wiederkehr (5.2.), die einen theoretischen oder wenigstens gedanklichen Inhalt besitzen und nicht, wie bspw. der Instinkt, auf den Handlungsvollzug als solchen wirken können. Dennoch wird sich zeigen, daß sie ihren Platz, wenn nicht in der Handlungstheorie, so doch in der Ethik haben, insofern das Weltverständnis, das in ihnen erarbeitet wird, in direkter Beziehung zum Selbstverständnis des Einzelnen steht. Die systematische Erörterung von Nietzsches Ethik wäre also inkomplett, wenn sie nicht auch diese gedankliche Seite aufgreifen würde. Wir beginnen demnach mit der Konzeption des Willens zur Macht. Diese wurde durch die vorhergehenden Untersuchungen, wie man vielleicht glauben könnte, keineswegs bereits geklärt, denn was wir bisher von den Begriffen des Willens und der Macht sowohl an sich als auch in ihrer Verbindung zum Willen zur Macht erläuterten, war auf das Handeln bezogen und betraf nicht ihren Status als Prinzip. In einer ersten Annäherung zeigt sich dieser in den Anfangs- und Schlußsätzen eines längeren Nachlaßtextes: „Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird [...]- wollt ihr einen Namen für diese Welt? [...] - Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem!" (l l, 38 [12]).
Es gilt demnach, den Willen zur Macht als Prinzip aller denkbaren Phänomene oder Gegenstände - man könnte auch sagen: alles Seienden - zu verstehen. Aus ihm ergibt sich eine Form des Monismus, insofern die Prinzipienfunktion, die er ausübt, nicht in pluraler Weise eine für jeden Gegenstandsbereich oder jede Art von Seiendem verschiedene ist - in dem Sinn etwa, in dem eine Idee bei Platon die Idee einer bestimmten Sache ist -, sondern so, daß jedes Einzelne „nichts außerdem" ist und auf einen einheitlichen Grund bezogen werden muß. Auch wenn an dieser Stelle noch nicht deutlich ist, wie diese Kohärenz alles Einzelnen
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6.1. Der Begriff des Willens zur Macht: Zuriickübersetzung in die Natur
verstanden werden muß, so zeigt sich doch, daß sie im Widerspruch zur Annahme eines Humanums, d.h. einer spezifischen Eigenschaft des Menschen steht, denn auch der Mensch ist, vom Willen zur Macht her gesehen, „nichts außerdem". Dabei stellt sich jedoch methodisch das Problem, daß die Willenshaftigkeit, die der Begriff enthält, gar nicht anders, denn als ein spezifisch menschliches Vermögen, ja als ein intentionaler Akt verstanden werden kann. Dasselbe gilt auch für die Macht, die man ursprünglich nur in Handlungszusammenhängen erfährt. So ergibt sich aus den zitierten Worten die Forderung, der zufolge sich der Mensch mithilfe eines Prinzips, das sich nur von spezifisch menschlichen Bedingungen aus erschließt, in eine Kohärenz des gesamten, also auch nicht-menschlichen Seienden einreihen soll. Wie dies möglich ist, läßt sich an einem Aphorismus zeigen, der den Grundgedanken vor allem in methodischer Beziehung expliziert: „Gesetzt, dass nichts Anderes als real „gegeben" ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen „Realität" hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe - denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander -: ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder „materielle") Welt zu verstehen? [...] AJs eine Art von Triebleben, im dem noch sämmtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulierung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind, - als eine Vorform des Lebens? [...]. Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als -wirkend anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das - und im Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Causalität selbst -, so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen. (JBG 36; 5, 54t). Es empfiehlt sich, den Gedankengang in seinen Einzelschritten nachzugehen. Daß die Realität des Menschen in seinen Trieben liegt, läßt sich nach den Prämissen von Nietzsches Interpretationsphilosophie verstehen: Bestimmbar wird etwas nur dadurch, daß es zum Gegenstand einer Synthesebildung wird. Eine Synthese liegt aber nicht in neutraler Form, sondern nur in Beziehung auf ein Selbst, das sich in ihr versteht, vor. Diese Relation wird hier mit der Betonung der bestimmenden Funktion der Triebe konkretisiert. Daß das Denken - oder das, was man als Denken bezeichnet - an sich jedoch nur ein „Verhalten der Triebe zueinander" sei, könnte freilich auf den ersten Blick als Naturalisierung mißverstanden werden. Wie die Gleichsetzung mit den „Begierden" oder „Leidenschaften" aber anzeigt, geht es nicht um die biologische Natur des Menschen, sondern um einen Aspekt seines intentionalen Verhaltens, genauer um die Partikularität und begrenzte
6.1. Der Begriff des Willens zur Macht: Zurilckübersetzung in die Natur
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Perspektivität jedes intentionalen Bezugs. Die Funktion des Denkens wird also keinesfalls auf eine Naturtatsache reduziert. Konkret heißt dies, nach Nietzsche, daß wir dann meinen, bewußt zu denken, wenn unsere Perspektiven so in ein ausgeglichenes Verhältnis treten, daß sie nicht mehr in ihrer Beschränktheit und in der mit ihnen verbundenen unbeherrschbaren Impulshaftigkeit erscheinen1. Dies setzt voraus, daß die Funktion des Denkens schon in ihnen vorliegen muß, wenn überhaupt der Eindruck, denken zu können, entstehen soll. Allerdings darf diese These nicht nur nicht als Naturalisierung, sie darf gleichfalls nicht als Skeptizismus aufgefaßt werden, denn aus ihr folgt nicht, daß jede Möglichkeit der sachlichen Erkenntnis abgestritten werden soll. Vielmehr kann die materielle, physikalische Welt gerade durch den Hinblick auf die eigene Triebnatur verstanden werden. Damit verkehrt Nietzsche, wie auch schon an anderer Stelle dargelegt, die in ihr liegende Beschränkung in ihr positives Gegenteil, d.h. in die Möglichkeit des Zugangs auf die Phänomene2. Diese Verkehrung bildet die grundlegende methodische Prämisse seiner Theorie des Willens zur Macht. Damit wird jetzt auch die oben dargelegte Doppelung in seiner Konzeption verständlich: Es ist notwendig das anthropomorph bestimmte Denken, das das nichtanthropomorphe Seiende erschließt. Die Vorgehensweise dieses Erschließens ist freilich die der Interpretation: Es darf nicht den Anspruch objektiver Geltung stellen und gegebene andere Interpretationen als im strengen Sinn falsch erweisen wollen. So kann Nietzsche in dem obigen Zitat auch nur behaupten, daß sein Zugang „ausreicht", d.h. daß kein anderer, direkter oder doch direkterer, gefunden werden kann. In dieser Hinsicht läßt sich das Erkennen als ein analogisches Verfahren sehen, in dem die Übertragung auf das zu Erkennende als solche offensichtlich, d.h. hypothetisch gültig bleibt. Die Methode der Analogie wird an verschiedenen anderen Stellen explizit genannt3. Der Erkenntnisgewinn in dieser analogischen Betrachtung liegt, was eben die physikalische Welt betrifft, in einer Neubestimmung des Begriffs der Kausalität. Der Mensch, so Nietzsche, kommt nur deshalb zur Idee der Ursächlichkeit, weil er semen Willen als ein wirkendes Moment erfahrt. Von ihm aus gilt es, als Ursache in allem Seienden einen Willen anzunehmen und zu prüfen, inwieweit es sich aus ihm erklären lassen kann. Damit verändert sich der Begriff des Kausalen selbst. Was der Mensch in seinem Wollen eigentlich erfährt, ist zunächst nichts anderes als der Umstand, daß er will, d.h. daß sein Wollen aus sich selbst heraus geschieht. Der Begriff der Kausalität ist daher in erster Linie durch Selbstbewegung zu er1
Vgl. FW 333; 3, 558f. u. GM 3, 12; 5, 365. Vgl. bspw. 9, 14 [8] u. 12, 2 [154]. 3 Vgl. 9, 11 [75] / 10, 21 [6] / 11, 36 [31] u. 12, l [89]. Die Forschungsliteratur hat dieses Thema nicht immer ins Zentrum gestellt. In den grundlegenden Darstellungen z.B. bei Müller Lauter und Abel wird der Wille zur Macht direkt als ontologisches Allgemeinprinzip diskutiert (Müller-Lauter 1974, 32 u. Abel 1984, 82ff.) Vgl. dagegen Stegmaier 1992, 309ff. 2
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6. l. Der Begriff des Willens zur Macht: Zurückübersetzung in die Natur
klären. Dementgegen ist in der Mechanik die begründungstheoretische Prämisse tragend, daß Bewegung durch ein vom Bewegten unterschiedenes Prinzip verursacht werden muß: Bewegung ist für sie Bewegt-Sein und bedarf eines Grunds, der nicht in dem Bewegten liegen kann. In Nietzsches Sicht verdoppelt sie somit das im Willen ursprünglich erfahrene Phänomen der Bewegung4. Der Primat der Selbstbewegung gilt für ihn jedoch nicht nur in phänomenaler, sondern gerade auch in begründungstheoretischer Sicht. So führt die mechanistische Naturbetrachtung in letzter Konsequenz zur Frage nach dem Ursprung allen Werdens, d.h. zur Frage nach dem Ursprung der Bewegung überhaupt, die sie nur als Wirkung einer selbst nicht mehr bewegten Ursache erklären kann. Damit aber widerspricht sie der Bedingung, daß man alles Seiende nur als in Bewegung Seiendes, d.h. nur als Werden denken kann, da sie ja voraussetzt, daß es Unbewegtes gibt. Die Selbstbewegung, die im Willen offenbar wird, ist von dem her auch als die Bedingung für die Möglichkeit der immerwährenden Veränderung im Seienden zu verstehen5. Auf die Plausibilität und Herkunft dieser Argumente soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß Nietzsche mit ihnen dem Primat der Mathematik in der wissenschaftlichen Naturbetrachtung widerspricht. Um zu verstehen, woher die Bewegung kommt, muß man die Qualität der Bewegtheit selbst verstehen und darf sich nicht auf die bloße Quantifizierung beschränken: „"Mechanistische Auffassung": will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität: die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären" (12, 2 [76]).
Freilich ist gerade bei dieser Annahme von „Qualitäten" die Maßgeblichkeit der analogischen Methode zu beachten: Was die innere Eigenschaft oder das Wesen der Kraft ist, erfährt man nur in der Spontaneität des Willens, d.h. nur in einer ihrer Erscheinungen6. Es gibt keine direkte Einsicht ohne die Orientierung am eigenen Willen, was sich im übrigen auch daran zeigt, daß Nietzsche sogar das Anorganische auf den Willen zur Macht bezieht. Dies ist möglich durch den Rückschluß aus dem Umstand, daß sich auch das Anorganische verändert, und kann auf keinen Fall als unmittelbare Erkenntnis verstanden werden7. Besonders gut zeigt sich dieser methodische Vorbehalt an dem Punkt, an dem Nietzsche die Wirkungsart von Kräften durch ihren Willenscharakter erklärt: 4
Vgl. auch 12, 2 [105] u. 13, 14 [98]. Vgl. 11, 35 [15] /12, 2 [157] u. 13, 14 [79]. 6 Vgl. 12, 2 [159]. 7 Vgl. 9, 11 [70] u. 12, l [30]. 5
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„"Anziehen" und „Abstoßen" in rein mechanischem Sinne ist eine vollständige Fiktion: ein Wort. Wir können uns ohne eine Absicht ein Anziehen nicht denken. - Den Willen sich einer Sache zu bemächtigen oder gegen ihre Macht sich zu wehren und sie zurückzustoßen - das „verstehen wir": das wäre eine Interpretation, die wir brauchen könnten" (12, 2 [83]).
Die Veränderung im Seienden bliebe demnach unverständlich, wenn man sie nicht unter einer solchen, expliziten Deutungsperspektive aufzufassen suchte. Nur nach dem Modell der Handlung, d.h. nur als willenshaft vollzogenes Tun, wird die Wirkung von Kräften aufeinander denkbar; ein anderer Begriff von Wirkung ist, nach Nietzsche, nicht plausibel zu vertreten8. Der Wille zur Macht ist aber nicht nur mit dem Moment des Willens zur Erklärung von Veränderungen relevant. So läßt sich die Wirkung von Kräften aufeinander auch als „ein Übergreifen von Macht über andere Macht" (13, 14 [81]) beschreiben, bzw. als eine „Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das Schwächere Herr" (11, 36 [18]). Von der ersten Formulierung her liegt nahe, dieses Schema, trotz der Nietzscheschen Polemik, nach dem Vorbild der Mechanik aufzufassen: Veränderungen, könnte man dann meinen, sind ein „Übergreifen", weil es etwas gibt, das sie an etwas anderem bewirkt. Das Übergreifen wäre dann nur eine metaphorische Umschreibung für die zeitliche und logische Abfolge zwischen Ursache und Wirkung. Dem widerspricht jedoch, daß man den Übergriff, nach der zweiten Formulierung, zugleich als ein „Verhältnis" aufzufassen hat: Vor dem Hintergrund der Selbstbewegung kann dies nur bedeuten, daß von einer wechselseitigen Beziehung in den beiden Polen auszugehen ist. Es gibt demnach keinen Pol, der nur erleidet oder nur bewirkt: So ist in gewisser Hinsicht auch das Schwächere die Ursache für die Veränderung, da es sich, von seiner Perspektive her gesehen, unterwerfen läßt, während umgekehrt das Stärkere die eigene Position immer auch als Wirkung zugespielt erhält, da es, wiederum von semer Perspektive her gesehen, erst durch das Verhältnis zu dem Schwächeren als Stärkeres erscheint. Dies könnte man auch so beschreiben, daß man sagt: Die Veränderung an einer Sache ist nicht einfach nur die Wirkung einer anderen Sache, sondern eigentlich ein Wirkzusammenhang, der sich aus der Beschaffenheit der in ihn Eingebundenen erklärt. Es wird demnach durch das Stärker- oder Schwächer-Sein der einbezogenen Momente überhaupt erst vorgegeben, wer die Position der Ursache einnehmen darf, bzw. wer die Position des Trägers einer Wirkung einzunehmen hat. Statt der logischen und zeitlichen Geschehensfolge setzt man damit den Akzent auf die Eigenschaft der Sachen selbst. Daß mit einer solchen Konzeption tatsächlich ein Aspekt der Phänomene aufgegriffen wird, zeigt 1
Vgl. auch 11, 34 [247] u. 13, 14 [82].
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sich daran, wie man für gewöhnlich von Veränderungen spricht. So wird die Wirkung einer schlecht verdauten Mahlzeit auf den Magen effektiv als Machtverhältnis angesehen: Zwar sagt man: „Nach dem Essen wurde es mir schlecht" und setzt die Mahlzeit damit als die äußere Ursache für die Veränderung in sich; zugleich jedoch meint man „Ich habe dieses Essen nicht vertragen" und beschreibt so das Verhältnis zwischen einer Kraft, die etwas nicht bewältigt, und einer Sache, die bewältigt werden muß. Dieselbe Redeweise zeigt sich auch bei Materiellem, wenn man beispielsweise sagt: „Der Baum ist umgerissen worden", was nicht nur heißt, daß der Wind in übermäßiger Weise auf ihn einwirkt hat, sondern zugleich meint: „Er hielt dem Wind nicht länger stand". Wie zu Anfang angedeutet, hat die Konzeption des Willens zur Macht aber nicht nur eine naturphilosophische Funktion, sondern formuliert zugleich ein Weltverständnis. Was dies heißt, läßt sich verdeutlichen, wenn Nietzsche schreibt: ,J)er völlig gleiche Verlauf aber die höhere Ausdeutung des Verlaufs!! Die mechanische Einerleiheit der Kraft, aber die Steigerung des Machtgefühls! „Das zweite Mal" aber es giebt kein „zweites Mal"" (12, l [119]).
Vor allem in den letzten Worten zeigt sich, daß es Nietzsche um die Individualität der jeweiligen Geschehensfolgen geht. Die Mechanik übergeht dies, da sie sich in ihrer Deutung des Geschehens ausschließlich am Prinzip der Gleichheit von Ursache und Wirkung orientiert: Sie betrachtet Kräfte nicht als augenblicklich ausgeübte, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Regelmäßigkeit. Dem entspricht ein weiterer Aspekt: Wird die Wirksamkeit der Kräfte nach Gesetzen ausgedeutet, ist es letztlich nicht entscheidend, woran diese Wirksamkeit erfolgt. Für die mechanische Berechnung der Geschwindigkeit, Beschleunigung etc. bedeutet das jeweils betroffene Objekt nur den Träger einer Wirkung und kommt nicht als solches in Betracht. Sie verhält sich deshalb auch in Hinblick auf die Individualitat der Dinge oder Lebewesen, die in ein Geschehen eingebunden sind, indifferent. Nietzsche aber kehrt dies um, indem er die Veränderungen, wie zuvor erwiesen, aus den Sachen selber herzuleiten sucht. Veränderungen lassen sich demnach als „Steigerung des Machtgefühls" erklären, die ein jeweils Stärkeres im Übergriff erfährt: Sie sind ihrem Wesen nach nichts anderes als ein Machtzuwachs in etwas oder jemand. Dabei ist das „Machtgefühl" auf keinen Fall nur der Reflex eines äußeren Geschehens; vielmehr muß man sagen, daß es gar kein äußeres Geschehen gibt, das nicht von den Machtverhälmissen der je betroffenen Objekte her verstanden werden kann. Daraus läßt sich nun auch Nietzsches Ansatz klären: Er bezieht sich, negativ gesprochen, auf die Einsicht, daß man ein Geschehen nicht von den Momenten her begreifen muß, nach denen es mit anderen identisch ist. Man muß es, mit anderen Worten, nicht nur als den Einzelfall einer übergreifenden Gesetz-
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lichkeit verstehen. Positiv gesprochen heißt dies, daß die Möglichkeit eröffiiet werden soll, ein Geschehen in radikaler Individualität zu denken. Dabei meint der Ausdruck radikal, daß die Individualität des Geschehens und der am Geschehen Beteiligten aufeinander abzubilden sind. So sind Individuen, einerseits, keine Substanzen, die sich durch den Wechsel ihrer Widerfahrnisse konstant erhalten, sondern ändern sich mit jedem Augenblick; andererseits ist auch die Augenblicklichkeit immer nur für Einzelnes entscheidend, als die Weise seines Daseins und nicht als ein chronometrisch vorgenommener Schnitt durch die Gesamtheit des Geschehens. Die Individualität, die damit in den Blick rückt, bedeutet aber, wie wir im vorigen Kapitel zeigten, immer auch die Möglichkeit des Anders-Seins zu Anderen und läßt eine nicht-egalitaristische Haltung entstehen. Nietzsche hat seine Deutung deshalb in zweifacher Hinsicht als höher denn die mechanistische gesehen: Nicht nur, weil sie als Theorie höhere Erklärungskapazität besitzt, sondern auch, weil sie die Möglichkeit des Höheren im Seienden versteht. Sie ist als Theorie ein Zeichen von Vornehmheit9. In dieser Hinsicht kann sie dann auch auf das Selbstverständnis eines Einzelnen bezogen werden: Sie macht die Phänomene in einer Sinnstrukur verständlich und läßt sie dadurch als eine Welt, d.h. als ein Bezugsgefüge für ein sich in ihm verstehendes Selbst, erscheinen. Allerdings darf dieser Bezug, wie zu Anfang dargelegt, nicht handlungstheoretisch verstanden werden, denn es läßt sich schlechterdings kein Einfluß der Konzeption auf das Handeln denken: Nicht nur, weil sie auch in ihrer Sinndimension einen theoretischen Gehalt besitzt, sondern vor allem, weil sie ihrerseits vom Handeln her erschlossen wird. Um zu verstehen, was der Wille zur Macht als Prinzip ist, muß man ja verstehen, was es heißt, nach ihm zu handeln, und kann deshalb von seiner Ausdehnung auf die Welt im ganzen keine weitergehenden Postulate oder Ziele entnehmen. Der Wille zur Macht, als Prinzip genommen, begründet die Ethik also auch nicht, sondern entspricht ihr; er deutet die Welt nur mithilfe derselben Sinnelemente wie sie die Ethik auf ihrer Ebene benutzt. So könnte man die Konzeption plausibel finden, ohne jemals einer Ethik der Autarkie zu folgen und umgekehrt der Ethik folgen, ohne sich für die Konzeption zu interessieren. Allerdings macht es die Entsprechung zwischen beiden auch nicht von vornherein unplausibel, sie im Rahmen der Ethik zu diskutieren, denn es kann für den Einzelnen nicht völlig irrelevant sein, wie er die Welt versteht: Dem Interesse, ein gutes Leben zu führen, kann ein Interesse an der vertieften Einsicht in die Phänomene folgen. Überdies ist es nicht auszuschließen, daß ein unangemessenes oder oberflächliches Weltverständnis in indirekter Weise auch auf das Handeln wirkt. So
9
Vgl. JOB 22; 5, 37 u. GM 2, 12; 5, 315f. Zum historischen Hintergrund dieses Ansatzes vgl. Brusotti 1992, 82 und Gerhardt 1988, HOff.
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ergibt sich zumindest eine systematische Notwendigkeit, das Weltverständnis von der Ethik her zu klären und als Moment in ihre Untersuchung aufzunehmen. Nachdem somit die methodischen Bedingungen der Konzeption erläutert wurden, läßt sich auch die zu Anfang dargestellte Kohärenz, die einen Sonderstatus des Humanen angesichts des allgemeinen Charakters des Willens zur Macht im Seienden negiert, besser verstehen. Dabei ist von folgenden Gedanken auszugehen: „Den Menschen [...] zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden, machen, dass der Mensch rurderhin vor dem Menschen steht, [...] taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: „du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!"" (JOB 230; 5, 167). Daß das hier skizzierte Projekt der Zurückübersetzung auf der Konzeption des Willens zur Macht beruht, läßt sich durch Verweis auf andere Stellen zeigen10. Es orientiert sich am Vorbild der historisch-kritischen Philologie: Demnach gilt es, die Natürlichkeit des Menschen als einen Ursprungstext hervorzuheben, der durch Überlieferung verdorben worden ist. Der metaphysische Dualismus von Mensch und Natur wird so zugunsten eines ihn umgreifenden Naturbegriffes aufgelöst. Nietzsche nennt dies auch das Projekt der „Vernatürlichung" des Menschen11. Ihm entspricht die „Entmenschlichung" der Natur, d.h. die Loslösung des Naturverständnisses nicht nur von teleologischen, sondern von jeglichen ordnungshaften Strukturen12. Sein Projekt ist also streng genommen zweifach und geht auf das Natürliche im Menschen und in der Natur zurück. Damit wird zunächst klar, wie die Formel vom homo natura nicht zu verstehen ist. Da Nietzsche durch die Kohärenzannahme auch den Begriff der Materie, als des physikalisch Meß- und Erklärbaren, auf ein umfassenderes und nur noch analogisch zu bestimmendes Prinzip bezieht, wäre ein reduktiver Materialismus schlechterdings nicht formulierbar. Nicht nur bezeichnet er sich deshalb als den „strengsten Gegner alles Materialismus" (GM 3, 16; 5, 377), er spottet auch über das „Ungeschick der Naturalisten" (JGB 12; 5, 27), die das Phänomen des Geistigen immer nur zu leugnen, aber nie zurückzuübersetzen wissen.
'°Vgl. 12, 2 [131]. Vgl. 9, 11 [211]. Vgl. außerdem die Rede von der „Thierwerdung" des Menschen JGB 101; 5, 91 sowie GM 3, 25; 5,404, bzw. die Rede vom „entmenschten Menschen" 9, 2 [45]. 12 Vgl. FW 109; 3, 467ff. u. 9, 11 [197]. 11
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Damit ist allerdings noch nicht gesagt, wie man eine solche Rückübersetzung konkret aufzufassen hat. Wir können dies anhand einer anderen Stelle verdeutlichen, die einen für das weitere wichtigen Begriff einführt: „Es besteht kein nothwendiges Verhältniß zwischen Geist und Materie, als ob sie irgendwie die Darstellungsformen erschöpften und allein repräsentirten. Bewegungen sind Symptome, Gedanken sind ebenfalls Symptome: die Begierden sind uns nachweisbar hinter beidem, und die Grundbegierde ist der Wille zur Macht" (12, l [59]). Der Gegensatz von Mensch und Natur, von Geist und Materie wird also nicht als solcher aufgehoben und auf letztere reduziert. Er wird vielmehr beibehalten, aber als Darstellung auf ein von beiden unterschiedenes Prinzip bezogen13. Für das Menschliche als solches heißt dies, daß es in zweifacher Weise verstanden muß: Da der Willen zur Macht nur in seinen „Darstellungsformen" erscheint, kann es sich, als eine dieser Formen, gar nicht anders denn als das So-und-soErscheinende, d.h. als Menschliches, verstehen; da es aber nur eine Darstellungsform ist, muß es zugleich zur Einsicht kommen, auf einem an sich selbst nicht menschlichen Grund zu ruhen. Die Rückübersetzung ist also in concreto so vorzustellen, daß ein Phänomenbereich wie der des Menschlichen als eine Ausdrucksform und damit als ein Mittel betrachtet wird, das auf einen in ihm selbst nicht offenbaren Sinn zu beziehen ist. Sie bedeutet, methodisch gesehen, einen Akt des Verstehens und resultiert nicht aus den Ergebnissen empirischer Naturwissenschaft14. Freilich ist der Sinn der Konzeption dadurch eher noch dunkler geworden, denn die Vorstellung eines Grunds, von dem aus der Mensch nur Darstellungsform wäre, scheint nicht ausweisbar zu sein oder bestenfalls auf den Ansatz Schopenhauers zurückzuführen, dessen Überwindung durch Nietzsche wir bereits an früherer Stelle zeigten. Es gilt jedoch zu sehen, daß eine solche Vorstellung notwendig rekonstruktiv erfolgt, insofern es nicht möglich ist, einen Grund anzunehmen, der auch unabhängig von der Selbstdarstellung in Materie oder Geist besteht. Die Einsicht in den Willen zur Macht setzt vielmehr das Phänomen des Menschlichen als das primär Erscheinende voraus, um dann von ihm aus auf einen selbst nicht erscheinenden Grund zu schließen (wie dies im einzelnen erfolgen kann, wird unten deutlich werden). Dies bedeutet, daß man Nietzsches Redeweise an
13
Vgl. auch 12, l [28] u. 12, l [58]. Zwar hat sich Nietzsche ausfuhrlich mit den Einsichten der modernen Evolutionsbiologie auseinandergesetzt, wie sein Verhältnis zu Darwin zeigt (vgl. Ottmann 1987, 265f). Das Projekt der Rückübersetzung ist jedoch insofern von der Naturwissenschaft unterschieden, als es die Verwurzelung des Menschen in der Natur nicht zu beweisen, sondern begrifflich zu klären versucht. 14
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bestimmten Stellen gleichsam umzukehren hat, um sie angemessen zu verstehen. Wenn er nämlich schreibt: „Der Wille zur Macht interpretirt: bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation; er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten" (12, 2 [148]),
so scheint es, als bestünde der Wille zur Macht als eigenständiges und an sich erfahrbares Geschehen, das die Bildung alles anderen erst bewirkt. Er ist aber nur in dem jeweils Bestehenden, insofern man es nicht ohne einen immanenten Bildungsvorgang als bestehend denken kann. Dies soll heißen, er bezeichnet die vorauszusetzende Dynamik innerhalb gegebener Srrukturzusamrnenhänge, die erläutert, warum die Zusammenhänge überhaupt entstehen und vergehen15. Im übrigen gilt dies selbst für die Formel, der zufolge er „das innerste Wesen des Seins" (13, 14 [80]) umfaßt: Das „Innerste" des Seienden ist er nämlich nur insofern, als er die grundsätzliche Dynamik meint, die in einem jeden, unabhängig von den je erscheinenden Strukturen, anzunehmen ist; und sein „Wesen" ist er nur, weil man die erscheinenden Strukturen niemals selbst als ein definitives Wesen denken kann. Von dem aus könnte man den Sinn der Konzeption auch darin begründet sehen, daß sie die Kontingenz des Humanen expliziert. Darstellungen im Sinne der Kunst sind ja immer nur mögliche Darstellungen; wären sie dies nicht, dann wären sie das Dargestellte selbst. Wenn folglich das Leben den einzigen Ausdruck des Willens zur Macht bedeutete, dann bedeutete es den Willen zur Macht schlechthin. Da dieser aber als dynamisches Prinzip von allen Phänomenen unterschieden werden soll, muß die erfahrene Welt und mit ihr das Menschliche kontingent, d.h. veränderbar und ohne Bezug auf ein substantielles Wesen sein. Dem entspricht es auch, wenn Nietzsche sagt, das Phänomen des Lebens sei nur ein „Einzelfall", weil es eben nur einen „Ausdruck von Wachsthumsformen der Macht" (12, 9 [13]) bedeute. Allerdings läßt sich in dieser Perspektive nur der negative Sinn der Konzeption erfahren. Daß ihm ein positiver Sinn hinzuzutreten hat, ergibt sich allein schon daraus, daß die bloße Einsicht in die Kontingenz auch durch die empirische Naturwissenschaft, etwa in Form der Evolutionsbiologie, erlangt werden könnte. Es bedürfte nicht der spezifischen Zugangsform des Verstehens, das die Kontingenz im Rahmen einer Rückübersetzung erkennt. Auf den positiven Sinn der Konzeption fuhrt uns jedoch die folgende Stelle hin: „Ich habe für mich entdeckt, dass die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst,
15
Vgl. auch GM 2, 12; 5, 314.
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fortschliesst, - ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass ich weiterträumen muss, um nicht zu Grunde zu gehen [...]. Was ist mir jetzt „Schein"! Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, - was weiss ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur Eradicate seines Scheines! [...] Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, [...] dass unter allen diesen Träumenden auch ich, der „Erkennende", meinen Tanz tanze" (FW 54; 3, 416f).
Diese Stelle vereinigt die beiden hier entscheidenden Momente von Natur und Kunst: Die Kohärenz des Menschen zur Natur und die Seinsweise der Natur als Kunst, von der aus auch dem menschlichen Sein, in allen seinen Tätigkeiten, nur der Charakter einer Darstellung zukommt. Sie faßt sie zusammen in der Beschreibung einer Erfahrung, genauer in der Beschreibung einer ästhetischen Erfahrung16. Daß diese Erfahrung, den zitierten Worten nach, der des Träumens analog ist, heißt jedoch nicht nur, nach ihrer negativen Seite, daß auf die Annahme eines wesenhaft Seienden verzichtet werden muß. Positiv gesehen ist vielmehr die Selbstzweckhaftigkeit des Ästhetischen bestimmend: So ist das „Wirken" des Lebens kein Herstellungsprozeß, der in einem Werk zu seinem Ende kommen könnte, sondern bedeutet den Vollzug des Lebens selbst; es ist ein Darstellungsund Ausdrucksgeschehen, das nicht nur etwas darstellen oder ausdrücken will, sondern in letzter Hinsicht umwillen des Geschehens selbst vollzogen wird. Sich in die Natur zurückzuübersetzen heißt deshalb für den Menschen, sich in ein Geschehen zurückgestellt zu denken, dessen Finalität weder im Menschlichen liegt noch durch das Menschliche bestimmt werden kann. Der Mensch ist nicht das Ziel und der Sinn der Natur, sondern eine der Möglichkeiten, in denen sie sich zum Ausdruck bringt, analog zu einem Kunstwerk, dessen Sinn nicht darin liegt, bestimmte Figuren oder Personen darzustellen, sondern das in den Figuren seine Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, ein Bild zu malen usw. zur Entfaltung bringt. Auf den Willen zur Macht bezogen heißt dies, daß jede denkbare Handlung Macht erlangen will, unabhängig davon, ob sie sie sich als Ziel vorgibt oder nicht. Jede Handlung ist in letzter Hinsicht nur ein Mittel für den Zweck, der im Willen zur Macht begründet liegt. In Nietzsches Worten ist dies die „Selbstverspottung" des Lebens (s.o.), insofern es seine Ziele nicht als wahrhaft und sinnvoll behaupten kann, sondern sie stets angesichts des einen, immergleichen Ziels relativiert. Auch diese ästhetische Erfahrung kann offensichtlich nicht unmittelbar, sondern nur durch eine rekonstruktive Deutung erfolgen. So läßt sich unmittelbar nur verstehen, daß mit den eigenen Intentionen immer auch Ziele angestrebt werden, 16
Der Begriff ästhetische Erfahrung meint hier nicht eine distanzierte Hinsicht im Kantischen Sinne, sondern die „Durchsichtigkeit eines Darstellungszusammenhanges" (Figal 1994, 84), in dem man sich zugleich selbst bewegt.
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6. l. Der Begriff des Willens zur Macht: Zurücktibersetzung in die Natur
die nicht ausdrücklich in ihnen sind, oder daß sich nicht immer begründen läßt, warum und woher man bestimmte Intentionen hat, während der Bezug der Intentionen auf „die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins" (s.o.), nur dadurch möglich wird, daß man erkennt, daß kein bestimmter, anderer Grund für sie angegeben werden kann als der des Lebens überhaupt17. Wichtiger ist aber noch zu sehen, daß auch diese Auffassung des Willens zur Macht praktisch folgenlos bleibt. Wie Nietzsche darlegt, wacht er auf, um einzusehen, daß er „weiterträumen" muß, was eben heißt, daß sich der ästhetische Charakter nur im Verstehen zu erkennen gibt und die Ebene des Handelns nicht berührt. Das Handeln kann nicht auf die Geltung seiner Zwecke verzichten, wenn es überhaupt ernsthaft vollzogen werden soll, d.h. es ist unter ästhetischen Kriterien gerade nicht zu vollziehen. Dieser Punkt läßt sich auch im Hinblick auf den Naturbegriff beleuchten. Wenn Natur als Kunst verstanden wird, dann besteht die Naturhaftigkeit des homo natura gerade darin, daß sich die Natur - im Sinn des Willens zur Macht - als menschlich darstellt. Der Mensch ist dann am meisten Natur, wenn er eben Mensch ist und die ihm zukommenden Intentionen verfolgt. Konkret zeigt sich dies, wenn Nietzsche angesichts der stoischen Forderung, nach der Natur zu leben, spottet: „"Gemäss der Natur" wollt ihr leben! Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! [...] Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ „gemäss der Natur leben" bedeute im Grunde soviel als „gemäss dem Leben leben" - wie könntet ihr's denn nichtV (JGB 9; 5, 22).
Es gibt demnach keinen natürlichen Zustand hinter den Verstehensweisen, die das Leben zur Erscheinung bringt, d.h. es gibt keine Möglichkeit, natürlicher zu sein, als man jeweils schon ist. Der Unterschied zwischen Mensch und Natur im Sinn von zwei unterschiedlichen Bereichen fällt schlechterdings dahin18. Für die Ethik 17
Vgl. 11, 35 [68]. Diese Erkenntnis darf im übrigen nicht so verstanden werden, als ob ein Standpunktjenseits der Intentionalität eingenommen werden sollte. Ein solcher Versuch wäre mit der Philosophie Jacques Derridas gleichzusetzen, insofern diese bemüht ist, einen Punkt ausfindig zu machen, der jeder „volonto de dire", also jeder selbstgewissen Intention uneinholbar vorgegeben ist (1970, 112). Ohne auf Derrida näher eingehen zu wollen, können wir sagen, daß es Nietzsche hier nicht um die Negation von Intentionen, sondern um ihren unverfügbaren Grund zu tun ist, d.h. darum, daß Intentionen auf anderen, ihnen selbst nicht einsichtigen Intentionen ruhen. 18 Vgl. auch 7, 7 [155] u. JGB 188; 5 109f. Damit wird im übrigen auch das Problem hinfällig, das Müller-Lauter in Nietzsches Konzeption feststellen zu können glaubte, nämlich „wie der Wille zur Macht beides zugleich sein kann: Absolutsetzung seiner jeweiligen Perspektive und deren NichtAbsolutsetzung" (1971, 115). Die Absolutsetzung einer Handlungsintention ist als solche eine Ausdrucksform der in ihr wirkenden und sie damit zugleich immer auch relativierenden Natur. Der Ver-
6.2. Die Konzeption der Ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
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heißt dies, daß aus der Einsicht in die Naturhaftigkeit keine Kriterien für das Handeln folgen; die Ethik der Autarkie bleibt streng genommen davon unberührt, ob sich der Mensch als homo natura versteht oder nicht, d.h. ob er sich in seinem Selbstverständnis zugleich in die Natur zurückübersetzt oder nicht. Freilich ist ein in dieser Richtung ausgebildetes Selbstverständnis nur in handlungstheoretischer, nicht jedoch in ethischer Beziehung irrelevant, denn es kann, wie die Konzeption des Willens zur Macht im allgemeinen, als ein Ausdruck der Vornehmheit verstanden werden. Andeutungsweise wird dies in Nietzsches Rede von der Selbstverspottung offenbar; klarer in dem vorhergehenden Zitat, das forderte, „die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne" im Bild des Menschen über sich zu dominieren. Die Zurückübersetzung des homo natura vermeidet die Selbstaffirmation des Menschen in einem Sonderstatus gegenüber der Natur, sie verzichtet auf die Annahme einer in ihm vollendeten Finalität und in einer von ihm beherrschten, herausgehobenen Fähigkeit. Sie ist, mit anderen Worten, das vornehmere Bild des Menschen über sich, da sie nicht mehr vorspiegeln will, als er ist. Zwar ergibt sich aus der Unmöglichkeit, anders als die Natur zu sein, streng genommen, daß auch die Selbstunterscheidung des Menschen von der Natur natürlich ist und naturgegebenen Instinkten folgt. Tatsächlich spricht Nietzsche gelegentlich so19. Dennoch wird die Forderung nach der Zuriickübersetzung dadurch nicht relativiert, denn ihr Ziel ist es ja gerade nicht, den Menschen natürlicher zu machen, sondern ihm seine Natürlichkeit zu erkennen zu geben. Sie beabsichtigt eine Veränderung allein auf der Ebene des Selbstverständnisses. Nur wenn sie vorgeben würde, daß es mit ihrer Hilfe auch gelänge, natürlicher zu sein, könnte ihr ein Selbstwiderspruch nachgewiesen werden.
6.2. Die Konzeption der ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer Den Abschluß unserer Untersuchung bildet der Gedanke der ewigen Wiederkunft. Für Nietzsche ist er, wie schon einmal angedeutet20, „die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen" (12, 5 [71]). Damit kommt ihm derselbe methodische Status wie der Konzeption des Willens zur Macht zu: Er kann nicht direkt bewiesen, sondern nur erschlossen werden, und stellt doch den Anspruch, die Beschaffenheit der Welt im Rahmen seiner Möglichkeiten hinreichend zu erklären. Die Bedingungen, aus denen er erschließbar ist, sind dabei zwei:
such, diese Natürlichkeit einzuholen - „die Nicht-Absolutsetzung" -, rührt also zu keiner wesentlich anderen Weise zu sein (vgl. auch 160). 19 Vgl. 7, 5 [36]. 20 Siehe S. 48.
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6.2. Die Konzeption der Ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
„Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts ,,Unendliches"[...]! Folglich ist die Zahl der Lagen Veränderungen Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar ungeheuer groß und praktisch „unermeßlich", aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich. Wohl aber ist die Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich, d.h. die Kraft ist ewig gleich und ewig thätig: - bis diesen Augenblick ist schon eine Unendlichkeit abgelaufen, d.h. alle möglichen Entwicklungen müssen schon dagewesen sein. Folglich muß die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung sein" (9, 11 [202]).
Gehen wir zunächst auf die zweite der Bedingungen, die Unendlichkeit der Zeit, ein. Der Ausgangspunkt für diese Annahme ist die Evidenz, daß in jedem Augenblick Veränderung geschieht. Von dieser Evidenz aus folgert Nietzsche, daß es prinzipiell kein Sein, d.h. keinen Stillstand der Bewegung in Vergangenheit und Zukunft, geben kann. Er stützt sich dabei auf das schon gestreifte Argument, daß Bewegung nicht mehr denkbar wäre, wenn die Dinge oder Lebewesen auch die Möglichkeit besäßen, nicht bewegt zu sein. Wenn es demnach jedoch nur das Werden gibt, dann muß, wie Nietzsche fortfahrt, bis zum gegenwärtigen Moment bereits eine Unendlichkeit verflossen sein, bzw. muß von ihm aus eine weitere Unendlichkeit verfließen können, denn sonst wäre wiederum ein Stillstand anzunehmen. Auf den ersten Blick mag es verwundern, daß dabei von zwei Unendlichkeiten oder auch zwei Ewigkeiten21 gesprochen wird, denn dies scheint dem Begriff des Unendlichen zu widersprechen. Der Punkt erklärt sich aber dadurch, daß hier nicht die Unendlichkeit als Qualität, d.h. als ein Gegensatz zur Zeit, gemeint ist, sondern als der „Ablauf dieser selbst, als ihre schlechthin unausschöpfliche Quantität. Wann immer deshalb ein bestimmter Augenblick als gegenwärtig angesehen wird, muß er eine je unendliche Vergangenheit und Zukunft haben, d.h. muß die Zeit von ihm aus in den beiden Richtungen als unausschöpflich angesehen werden. Was die Methode der Begründung anbelangt, so zeigt dies, daß nicht nur der Gedanke der ewigen Wiederkunft eine Hypothese darstellt, sondern auch die Bedingung, aus der er entspringt: Nach Nietzsche ruht die „einzige Gewißheit" (13, 14 [188]) dieser Argumentation auf dem Umstand, daß die Zeitlichkeit in jedem Augenblick als Horizont der Erfahrung erscheint, während die Unendlichkeit der Zeit im ganzen nur aus dem erschlossen werden kann. An sich läßt sie sich nicht erweisen. Dies gilt aber auch für die erstgenannte Bedingung, die Begrenztheit der Kraft. Sie ist für den Gedanken unentbehrlich, weil es zwingend auszuschließen ist, daß sich in der Unendlichkeit der Zeit immer wieder andere Entwicklungen ergeben. Dann nämlich wäre die Annahme einer Wiederkunft - und a fortiori einer ewigen Wiederkunft - eine bloße Vermutung und gerade keine begründete Hypothese. Im 21
Vgl. Za III, Gesicht 2; 4, 199.
6.2. Die Konzeption der Ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
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Wesentlichen stützt sich Nietzsche hier auf zwei Argumente. Zunächst auf die analytische Bestimmung, der zufolge der Gedanke einer nicht in sich begrenzten Kraft dem Begriff der Kraft als solchem widerspricht und von daher gar nicht sinnvoll gedacht werden kann22. Für dieses Argument ist ausschlaggebend, daß die Kräfte, wie wir zeigten, nur in ihren Wirkungen erscheinen, so daß wir auch sagen können, eine Kraft sei deshalb in sich selbst begrenzt, weil sie nicht anders wirken könnte, als sie eben wirkt. Eine hypothetische Begründung ist dies aber, weil sich durch die Wirkungen gerade nicht erweisen lassen kann, was es heißt, daß eine Kraft in sich begrenzt ist: Keine Wirkung zeigt als kontingentes Ereignis, daß es notwendig ist, wie sie geschieht. Das zweite Argument wird in der vorhergehenden Stelle angedeutet und verfährt methodisch als reductio ad absurdum. Es ist vom ersten Argument insofern unterschieden, als es nicht die Unbestimmtheit in den Kräften selber abzustreiten sucht, sondern die Idee, daß es in den Kräften ein Vermögen geben könnte, das es ihnen möglich macht, hinsichtlich ihrer Wirkung unbestimmt zu sein. So notiert er, daß der Kraft, wenn sie sich in der Unendlichkeit der Zeit nicht wiederholen sollte, ein Vermögen zugeschrieben werden müßte, das zu immer wieder anderen und neuen Wirkungsweisen führt, gleichsam eine im „Wesen der Kraft gelegene Absichtlichkeit" (9, 11 [245]) oder ein „Belieben" (9, 11 [225]), das die Wiederholungen vermeidet. Da dies jedoch unmöglich ist, muß man Kräfte als in sich bestimmte denken, die, wie oben schon gesagt, nicht anders wirken können, als sie tatsächlich tun. Der hypothetische Charakter der Begründung tritt in diesem Argument sogar noch deutlicher hervor, da es die Bestimmtheit in den Kräften nur erweist, indem es die Voraussetzung bestreitet, die man machen müßte, wenn man die Bestimmtheit nicht annehmen will. Wie aber ist die ewige Wiederkehr in der Folge dieser Bedingungen konkret zu verstehen? Um dies zu erläutern, ist zunächst von Nietzsches Überlegung auszugehen, nach der die Kräfte nicht die Fähigkeit besitzen können, ihre Wiederholung zu vermeiden: „Die alte Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele [...] zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als eine Absicht zu denken. Auf diesen Einfaü - daß also die Welt absichtlich einem Ziele ausweiche und sogar das Hineingerathen in einen Kreislauf künstlich zu verhüten wisse - müssen alle die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdekretiren möchten" (l l, 36 [15]).
22
Vgl. auch 9, 11 [292] / 9, 11 [305] / 9, 11 [345] u. 13, 14 [188]. Mit Bezug auf naturwissenschaftliche Argumentationsmuster 9, 11 [213] u. 12, 5 [54].
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6.2. Die Konzeption der Ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
Daß alles wiederkehrt, darf folglich nicht als Ziel der Welt verstanden werden; vielmehr muß man sagen, daß die Wiederkunft ihr einfach nur geschieht23. Obwohl Nietzsche also von einem „Kreislauf spricht, setzt er keine innere Tendenz im Seienden voraus, nach der es diesen bilden will; keine vorgegebene Entwicklung, die den Kreis notwendig mit sich bringt: Er entsteht nur, weil er nicht vermieden werden kann. Damit läßt sich zugespitzt behaupten, daß der Gedanke der ewigen Wiederkunft gerade kein zyklisches Weltbild restituiert, sondern jegliche an sich bestehende Ordnungshaftigkeit der Welt verneint24. Er bestätigt die Kontingenz der Welt, indem er die Möglichkeit durchstreicht, daß sie sich zu einem anderen, geordneteren Zustand hinentwickeln könnte. Allerdings darf der Gedanke nicht allein als eine Negation anderer Weltvorstellungen aufgefaßt werden, denn als solche bliebe er an die Betrachtungsweise dessen gebunden, was er verneint. So schreibt Nietzsche bspw., daß man angesichts der Welt nicht einmal von Zufall sprechen dürfe, da die Konzeption des Zufalls nur dann, wenn auch Zwecke möglich wären, verwendbar ist (FW 109; 3, 468). Dasselbe gilt für einen falsch verstandenen Begriff des Nihilismus, denn das Geschehen der Wiederkunft darf gleichfalls nicht als wertlos oder sinnlos angesehen werden; vielmehr gilt es, sich ihm gegenüber jeglicher Bewertung zu enthalten. Diese Enthaltung oder Epoche ist einem Nihilismus gleichzusetzen, der „das Nichts (das „Sinnlose")" ah solches zu denken versucht (vgl. 12, 5 [7l])25. Daß Nietzsche das Sinnlose dabei in Anführungszeichen setzt, verdeutlicht, daß er es gerade nicht aus dem Gegensatz zur Erwartung von Sinn verstanden haben will. Doch wie ist die Wiederkunft einzelner Momente vorzustellen? Offensichtlich nicht als isolierte Wiederkunft der einzelnen Momente, wie man denken könnte, wenn man nur der Rede von der Welt als Chaos (9, 11 [225]) oder auch vom „großen Würfelspiel des Daseins" (13, 14 [188]) folgt. Wäre dies der Fall, dann könnten manche der Momente öfter wiederkehren als die anderen, so daß der Gedanke nicht für jeden Augenblick im gleichen Maße zwingend wäre. Vielmehr ist anzunehmen: „Wenn dieser augenblickliche Zustand da war, dann auch der, der ihn gebar und dessen Vorzustand zurück - daraus ergiebt sich, daß er auch ein zweites drittes usw. Mal schon da war - ebenso daß er ein zweites drittes Mal da sein wird - unzählige Male, vorwärts und rückwärts. D. h. es bewegt sich alles Werden in der Wiederholung einer bestimmten Zahl vollkommen gleicher Zustände" (9, 11 [245]).
23
Vgl. auch 9, 11 [157]. Die Modernität der Konzeption der Wiederkehr hat Löwith besonders betont. Wir kommen darauf noch zurück. 25 Vgl. auch 13, 11 [72]. 24
6.2. Die Konzeption der Ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
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Rekonstruieren wir die hierin nicht genannten Zwischenschritte, so ergibt sich folgendes Argument: Die Zustände der Kraft sind miteinander verbunden; sie „gebären" sich, was freilich nicht kausal verstanden werden muß, sondern bereits aus der Bestimmtheit der einzelnen Kräfte folgt: Wenn eine Kraft nur in bestimmter Weise wirken kann, dann kann nicht Beliebiges aus ihrer Wirkung entstehen. Wenn die Zustände jedoch verbunden sind, muß die Reihe aller Zustände, d.h. die Welt im ganzen wiederkehren, und zwar gleichfalls ewig, bei gegebener Unendlichkeit der Zeit. Somit ist gewiß, daß jeder Augenblick, und mit ihm alle anderen, unendlich wiederkehren muß. Allerdings ergibt sich hierbei das Problem, daß man die Kohärenz der Kräfte ebensowenig direkt begründen kann wie die Bestimmtheit der Kräfte selbst. So wie Nietzsche nämlich, ausgehend vom Willen zur Macht als einer schöpferischen Kraft, das Leben als ein kontingentes Phänomen bezeichnete, so muß man auch die gegenseitige Bedingung, das „Gebären", letztlich als ein Kontingenzverhältnis denken. Es gibt, wenn die kausale Wirkung aufeinander ausgeschlossen werden soll, keinen Grund, aus dem man sagen kann, daß das, was aus dem gegenwärtigen Augenblick folgt, das ist, was schon einmal folgte, als es diesen gab. Aus dem Ausschluß der Beliebigkeit folgt an sich betrachtet keine Determination. Doch selbst wenn eine Kohärenz der Kräfte möglich wäre, ergibt sich noch ein weiteres Problem, und zwar durch die logische Bedingung, der zufolge es unmöglich ist, zwei identische und nur raum-zeitlich unterschiedene Dinge vorzustellen: Entweder muß man dann sagen, daß sie schlechterdings identisch, oder, daß sie nur vergleichbar, d.h. eben nicht im eigentlichen Sinn identisch seien. Damit ist es unmöglich, daß die Welt, so wie sie je erfahren wird, wiederkehren kann, denn wenn sie als dieselbe wiederkehrte, wäre sie eben dieselbe Welt. Was wiederkehren kann, ist vielmehr, wie auch Nietzsche konstatiert, nur die „Gesammtlage" der Kraft, während alles Einzelne auf neue und somit auch individuelle Weise aus ihr entsteht (vgl. 9, 11 [202]). Wenn er deshalb von einem „Kreislauf (9, 11 [225]) oder, stärker noch, von „absolut identischen Reihen" spricht, so bezieht sich dies nur auf die „Combinationen" oder „Kraftcentren" (13, 14 [188]) und gilt nicht für die Einzeldinge selbst, die nicht wiederkehren können. Was dies heißt, kann man sich einem Beispiel verdeutlichen: Wenn im Sinn der Wiederkunft anzunehmen ist, daß derselbe Apfel immer wieder von demselben Baum fällt, so heißt dies gerade nicht, daß man sagen kann, es handle sich um denselben Apfel an demselben Baum. Vielmehr stellt man sich notwendig zwei verschiedene, weil verschieden hervorgebrachte Äpfel und Bäume vor. Analog dazu muß man auch sagen, daß es sich bei einem Menschen streng genommen gar nicht um denselben Menschen handeln kann, wenn man ihn als wiederkehrend denkt. Zwar kehrt jemand wieder, der so ist, wie man selbst, doch dieser Wiederkehrende ist eben nicht man selbst. Er ist vielleicht derselbe Mensch, aber nicht dieselbe Person. Wir berührten das
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6.2, Die Konzeption der Ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
hierin liegende Prinzip, das traditionsgemäß als Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen bezeichnet wird, schon bei der Frage nach der Individualität. An diesem Punkt gilt es freilich, genau zu unterscheiden: Dieses Argument meint nicht, daß es unmöglich wäre, daß immer wieder das Gleiche wiederkehrt. Es ist keine Widerlegung des Geschehens der Wiederkehr in seiner Realität als physikalisches Ereignis. Im Gegenteil zielt dieser Gedanke auf etwas Grundlegenderes, denn aus ihm folgt, daß, selbst wenn es möglich wäre, daß dasselbe wiederkehrt, man es nicht als dasselbe denken kann. Die Wiederkehr ist also nicht naturwissenschaftlich unmöglich, sondern logisch. Dennoch darf nicht vorschnell von einer Widerlegung des Gedankens ausgegangen werden, und zwar allein schon deshalb, weil Nietzsche diesen Umstand, wie wir zeigen, selbst diskutiert. Man muß also in Rechnung stellen, daß es möglich ist, den Gedanken trotz dieser Aporie als sinnvoll zu verstehen. Allerdings müssen wir dann unsere bisherige Deutung in einem grundsätzlichen Sinn verändern. Dies wird im folgenden versucht. - Zuvor ist eine allgemeine Bemerkung zur Beweisbarkeit des Arguments zu machen. Daß wir dieses Problem nicht eingehender diskutieren, sondern uns auf das wenige, was bisher gezeigt wurde, beschränken, liegt nicht nur an der Komplexität der einzelnen Begründungsschritte, sondern auch daran, daß eine umfangreiche Forschungsliteratur zu diesem Problem vorliegt. Vor allem der Arbeit Günter Abels könnte inhaltlich nichts Neues beigefügt werden26. Überdies können die Versuche zur naturwissenschaftlichen Begründung, auch wenn sie nicht unplausibel sind, den Einwand, der in der logischen Unmöglichkeit zur Geltung kommt, nicht aufwiegen. Mit Eugen Fink muß man den Gedanken daher als paradox bezeichnen (1986, 103)27. Daran ändert auch die Überlegung Abels nichts, der zeigen möchte, daß die Wiederkehr durch das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren nicht zwingend auszuschließen ist: Sein Hinweis darauf, daß das Prinzip nur synchron, in der jeweils erfahrenen Welt, Geltung habe, und nicht auch dann, wenn „diese Welt im ganzen" wiederkehrt, ist ebensowenig schlagend, wie der Hinweis darauf, daß man, um das Prinzip zu formulieren, bereits eine Verschiedenheit denken können muß und es deshalb keine schlechthinnige Geltung habe (1984, 223). Auch wenn dies nämlich richtig wäre, genügt es sich fragen, was es heißt, daß man selbst wiederkehren würde: Entweder kommt man dann als mit sich Identischer wieder, was bedeutet, daß man zuvor gar nicht verschwunden gewesen sein kann, oder man kommt nur als Gleicher wieder, was bedeutet, daß es ein Anderer ist, der an die Stelle der eigenen Existenz tritt. Das heißt, man verfehlt entweder die Bedingung des Ablaufs der Zeit oder man verfehlt die Pointe, daß man in diesem Ablauf 26
Vgl. Abel 1984, bes. 381-438 sowie Müller-Lauter 1971, 164-188. Die genannten Autoren nehmen auch ausführlichen Bezug auf ältere Beweisversuche. Wissenschaftshistorisch aufschlußreich ist D'Iorio 1995. 27 Vgl. auch die ausführliche Diskussion bei Magnus 1978,98ff.
6.2. Die Konzeption der Ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
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wiederkehren soll. Es führt also kein Weg daran vorbei, dem Gedanken eine andere Wendung zu geben, so wie dies bereits Fink und andere versuchten28. Als Ausgangspunkt für die weitere Diskussion kann uns eine der maßgeblichen Formulierungen des Gedankens im veröffentlichten Werk dienen: „Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge - und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht - und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!" - Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: „du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!" Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?" würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?" (FW 341; 3, 570).
Auf den ersten Blick scheint diese Stelle die bisherige Deutung eher zu wiederholen als zu erweitern, denn auch sie beschreibt die Wiederkunft als ein Ereignis in der Zeit, durch das derselbe Zustand wieder zu erwarten ist. Würden wir es dabei allerdings belassen, so hätten wir übersehen, daß die Rede über die Wiederkunft einem Dämon, genauer einem vorgestellten Dämon, in den Mund gelegt wird. Mit diesem Rollenspiel knüpft Nietzsche explizit an die Figur des Sokrates und an dessen Rede von seinen göttlichen Eingebungen an; was im übrigen allein schon daraus resultiert, daß der Aphorismus in der Anordnung der Fröhlichen Wissenschaft direkt auf eine Stelle folgt, in der er sich mit Sokrates auseinandersetzt. Auf das Thema dieser Auseinandersetzung sowie auf die Frage nach der Göttlichkeit des Wiederkunftsgedankens werden wir jedoch erst später eingehen. Zunächst ist es nur wichtig zu erkennen, daß sich durch die Hinzuziehung des Dämonischen der 28
Fink löst die Paradoxie, indem er das Wiederkehrende als „gleich für den Wiederkunftsgedanken" (1986, 104), d.h. als nur gleich vorgestellt, versteht. Diese Lösung ähnelt zwar der hier im Fortgang entwickelten, weicht aber insofern von ihr ab, als der Zweck des Gedankens in der Bereitung einer Form der „Weltoffenheit" (93) gesehen wird. Für Dier liegt in der Paradoxie die Möglichkeit, die „nurlogische" Deutung der Welt zu überwinden (1998, 180) und den Schein der Selbstidentität des Ichs zu durchbrechen (170). Er rückt den Gedanken so ausdrücklich in die Nähe zum Buddhismus (vgl. 180), was mit Nietzsches Denken aber nicht mehr vereinbart werden kann.
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6.2. Die Konzeption der Ewigen Wiederkehr: Der göttliche Zuschauer
Status des Gedankens entscheidend modifiziert. Folgen wir der Platonischen Apologie, so erscheint es als eine Stimme, die Sokrates immer wieder in bestimmten Augenblicken, in denen er sich anschickt, etwas zu tun, in seinem Inneren hört. Dabei sagt ihm die Stimme nie, was er tun soll, sondern rät ihm immer nur von seiner Absicht ab (Apol. 31 d). Das Dämonische wird demnach wie ein Gebot oder doch zumindest wie ein Rat erfahren, ohne daß sich sagen ließe, es verkünde eine Wahrheit oder gebe direkt göttliche Befehle wieder. Vielmehr erscheint es erst im Hinblick auf die Ziele und Bedingungen der eigenen Lebensführung als ein Hinweis, dem zu folgen unumgänglich ist. So erläutert Sokrates in seinem Rückblick, daß es ihm nur deshalb möglich war, für Gerechtigkeit zu streiten, weil er dies im Rahmen des persönlichen und nicht des öffentlichen Lebens tat. In letzterem gibt es, nach seinen Worten, zuviel widerrechtliche Bestrebungen, so daß man sich Feinde machen und notwendig um sein Leben bangen muß (Apol. 31 e). Er beruft sich also nicht allein auf die Göttlichkeit der Stimme, um seine Enthaltung gegenüber öffentlichen Ämtern zu begründen; im Gegenteil bezeichnet er sie nur als einen Anstoß, das zu wählen, das sich auch an sich als das für ihn Richtige erwies. Dies bedeutet, daß man das Dämonische interpretieren oder besser: anwenden können muß, um die in ihm enthaltene Wahrheit zu verstehen. Diesem Schema folgt nun auch die Rede des von Nietzsche vorgestellten Dämons. Sie ist, erstens, eine innere Stimme, d.h. ein Gedanke, der in einem ausgezeichneten Moment der Einsamkeit in einem Einzelnen entsteht. Zweitens verkündet sie die Wiederkunft in Hinsicht auf das individuell geführte Leben, insofern sie dieses als ein wiederkehren-müssendes beschreibt. Zwar hat sie dabei einzuschließen, daß das Seiende im ganzen wiederkehrt - da das individuelle Dasein als mit ihm verbundenes anders gar nicht wiederkehren könnte -, doch ist diese allgemeine Wiederkehr nur deshalb ausschlaggebend, weil in ihr das jeweils eigene Leben wiederkehrt. Der Anspruch des Gedankens gilt in diesem Sinn nicht auch für Andere, sondern nur für den, der ihn auf sich anwenden kann; er hat sich vorzustellen, daß der Dämon wie bei Sokrates persönlich zu ihm spricht. Drittens aber wird die Rede als verbindlich angesehen, und zwar eben deshalb, weil man sie persönlich, d.h. in Beziehung auf sich selbst versteht. Ihre Gültigkeit besteht nicht darin, daß man zeigen kann, inwiefern tatsächlich alles wiederkehrt, sondern im Bezug auf die eigene Existenz, von der man sich zu fragen hat, ob man sie so erlebt, daß sie wiederkehren könnte. Damit aber wird nun deutlich, worin der Unterschied zu unserer bisherigen Deutung liegt: Bisher hatten wir den Gedanken an die Wiederkunft vom Geschehen des Wiederkommens her gedeutet und vorausgesetzt, daß man sich bei ihm denkt, daß man tatsächlich wiederkehren kann. Dabei mußte seine Verbindlichkeit bezweifelt werden, weil sich eine solche Wiederkehr letztlich gar nicht denken läßt. Nunmehr aber zeigt sich, daß es wichtig ist, die Wiederkehr der eigenen Existenz als möglich anzunehmen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Deutungen entspricht
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einem zweifachen Sinn des Begriffs der Hypothese: Im ersten Fall bezeichnet diese den Gedanken an die Möglichkeit eines Ereignisses, im zweiten Fall den möglichen Gedanken an ein Ereignis. Gleichwohl stehen diese beiden Hinsichtnahmen nicht als Gegensatz zueinander: Wäre der Gedanke an die Wiederkunft nur möglich im Sinn der Widerspruchsfreiheit, ohne seine Verwirklichung zumindest zuzulassen, so könnte man ihn nicht in der Weise als für sich bestimmend ansehen, wie dies hier geschildert wird. Die von Nietzsche angeführten Reaktionen, die Zerknirschung auf der einen und das Triumphgefuhl auf der anderen Seite, zeigen ja, daß man den Gedanken nicht allein als Phantasie erachten soll, sondern als Aussage über das eigene Sein. Er behält, auch in der jetzt beschriebenen Perspektive, seine Stellung als wissenschaftlichste Hypothese über die Entwicklung alles Seienden in der Zeit. Es gilt deshalb, beide Hinsichtnahmen miteinander zu verbinden: Der Gedanke muß, zumindest seiner Intention nach, nicht nur insofern möglich sein, als man sich vorstellen kann, wie es wäre, wiederzukehren, sondern auch insofern, als es möglich ist, daß tatsächlich alles wiederkehrt. Dabei ist das letztere dem ersteren jedoch in spezifischer Weise subordiniert. Wir können dies auch so verdeutlichen, daß wir den Unterschied zwischen den beiden Verwendungsweisen des Begriffs der Hypothese als den Unterschied zwischen einer objektivierenden und selbstbezüglichen Verwendung sehen: Während man bei ersterer denkt, daß man wiederkehrt, und dabei an das Geschehen der Wiederkehr als solches denkt, weiß man bei letzterer, daß man nur denkt, wiederkehren, d.h. man denkt, daß man denkt, wiederzukehren. Diese Selbstbezüglichkeit ist jedoch genau genommen zweifach: Zum einen denkt man, daß man denkt, wiederkehren, und zum anderen denkt man, wiederzukehren, um dann wieder zu denken, daß man wiederkehrt. Wie der Dämon ausdrücklich sagt, muß ja auch der Gedanke an die Wiederkunft und damit er selber wiederkehren29. In der Möglichkeit der Wiederkehr geht es letztlich also auch nicht darum, daß man als derselbe Mensch, d.h. als dasselbe raum-zeitlich individuierte Lebewesen, wiederkehrt. Vielmehr will man diese Möglichkeit, weil man immer wieder denken können will, daß man wiederkehrt, d.h. man will die Möglichkeit nur wegen der bestimmten Denkstruktur, in der man sie erfaßt. Damit wird die Selbstbezüglichkeit ihrerseits als ewig wiederkehrende verstanden; sie bestimmt nicht nur den Gedanken an die Wiederkunft, sondern auch das Ziel des Wiederkommens selbst. Wenn dies jedoch der Fall ist, dann können wir sagen, daß es zwar nötig ist, die Wiederkehr als Wiederkehr desselben Seienden zu denken, daß es jedoch in der Tat nicht nötig ist, sie als solche beweisen. Da es letztlich darum geht, daß ein Mensch nur wiederkehrt, um an die Wiederkehr zu denken, 29
Vgl. hierzu auch die Vorstudien zu diesem Aphorismus 9, 11 [148] u. [206].
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muß man gar nicht zeigen, wie der Wiederkehrende in Hinsicht auf die ihm vorangegangene Existenz aufzufassen ist30. Dem entspricht im übrigen, daß Nietzsche in dem hier zitierten Aphorismus das Leben unter dem Gesichtspunkt seiner „Lust", seiner „Gedanken" und seiner „Seufzer" schildert, d.h. unter dem Gesichtspunkt, daß man sich je zu ihm verhält. Der Akzent der Wiederkehr liegt damit nicht auf dem faktischen Leben selbst, sondern auf der Weise, in der man das Leben versteht. Gegen diesen Schluß könnte freilich eingewendet werden, daß das Denken nicht von seinem jeweiligen Träger abzutrennen ist und daher gleichfalls wie ein objektiv erfolgendes Geschehen in der Zeit angesehen werden muß. Allerdings wird sofort offenbar, inwiefern ein solcher Einwand die hier nachgezeichnete Struktur verfehlt. Zwar ist es richtig, daß die Selbstbezüglichkeit immer nur von einem Einzelnen erfaßt wird; doch der Einzelne denkt mit ihr eben nicht das Wiederkommen seiner raum-zeitlichen Existenz. Wäre dies der Fall, dann müßte er ja eine zweifache Selbstbezüglichkeit denken, nämlich die des gegenwärtig vollzogenen Denkens und die des Denkens zu dem Zeitpunkt, an dem er als solcher wiederkehrt. Die Struktur kann aber stets nur eine sein, in dem Sinn, daß sie als dieselbe jetzt und in der Wiederkehr gedacht wird. Dies bedeutet, daß man sie aus der Gegenwart des Denkens nur in die Wiederkehr projeziert und nicht als an sich wiedergekehrte vorzustellen sucht. Zum Abschluß dieser Ausführungen gilt es, den zeitlichen Sinn des Gedankens der ewigen Wiederkunft darzulegen. Bisher ging es uns ja nur um das Wiederkehrende selbst, um die Welt und den einzelnen Menschen. In der Wiederkehr liegt jedoch zugleich eine besondere Hinsicht auf die Zeit. Wir können diese allgemein darin verorten, daß durch die Wiederkehr die „Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins" (12, 7 [54]) erfolgt, daß, mit anderen Worten, unter der ausdrücklichen Bedingung der Zeit Zeitlosigkeit denkbar wird31. Nach der zuletzt erstellten Deutung müssen wir dies durch das Denken an die Möglichkeit der Wiederkehr erklären, d.h. durch die Selbstbezüglichkeit in dem Gedanken, und nicht durch eine objektivierende Hinsicht auf das Geschehen. Die Zeitlosigkeit darf also nicht daraus entwickelt werden, daß das Gegenwärtige durch die Wiederkunft wieder präsent wird, sondern daraus, daß es durch das Denken an die Wiederkunft an sich schon den Charakter der Zeitlosigkeit erhält. Dies bedeutet, um es anders auszudrücken, daß die Zeitlosigkeit nicht erst durch die Hinsicht auf ein zukünftiges Ereignis möglich werden darf - bzw. dadurch, daß die Gegenwart als Wiederkehr eines vergangenen Zustands anzusehen ist -, sondern in der Gegenwart des Denkens selbst erreichbar werden muß. Wie dies geschehen kann, zeigt ebenfalls 30
Vgl.auch9.il [203]. Für Löwith liegt in diesem ontologischen Primat des Zeitlichen ein Aspekt der Modernität des Wiederkehrgedankens (1987, 256). 31
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die Rede, die dem Dämon zugeschrieben wird. So denkt man die Wiederkunft in ihrer Dimension der Selbstbezüglichkeit als Wiederkunft des Lebens, wie man es jetzt, im Moment des Denkens, führt, d.h. man denkt den Augenblick, in dem man an sie denkt, als wiederkehrend. Dies bedeutet, daß zunächst, in einem ersten Schritt, ein Augenblick als Augenblick hervorgehoben wird. Dabei ist vorauszusetzen, daß man diesen nicht als zeitliches Ereignis versteht, sondern als Moment, der sich in der Zeit von dieser unterscheidet. Freilich ist keineswegs auf Anhieb klar, wie diese Unterscheidung möglich wird. Geht man nämlich von der Zeit aus, so scheint ein Augenblick nur der Durchgangspunkt für ihre allumfassende Vergänglichkeit zu sein. In dieser Hinsicht könnte man ihn eben nicht als zeitenthoben sehen. Nietzsche aber definiert den Augenblick nicht im Ausgang von der objektiv verlaufenden Zeit, d.h. er versteht ihn nicht als Punkt auf einer Linie, die aus der Vergangenheit durch ihn hindurch in die Zukunft verläuft. Vielmehr besteht er als Punkt des Zeitverstehens selbst, von dem aus die Linien von Vergangenheit und Zukunft erst als solche unterscheidbar werden. Er besteht, nach einem Bild des Zarathustra, als ein Torweg, von dem die Gassen der Vergangenheit und Zukunft abgehen, und zwar so, daß sie in zwei Richtungen abgehen, rückwärts und vorwärts: „Siehe diesen Thorweg! [...] / Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus - das ist eine andre Ewigkeit. / Sie widersprechen sich, diese Wege [...] - und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen" (Za III, Gesicht 2; 4, 199f.).
Der Augenblick ist also zeitlos, insofern er der Punkt ist, von dem sich im Denken die Zeit als Ablauf erst verständlich machen läßt. Im einem zweiten Schritt ist nun die so verstandene Augenblicklichkeit als wiederkehrend vorzustellen. Allerdings könnte man sich dabei fragen, ob es nicht genügt, sich nur auf diese, d.h. auf die in ihr entstehende Zeitlosigkeit zu stützen, um das Werden einer Welt des Seins anzunähern. Da diese Zeitlosigkeit aber nur dadurch entsteht, daß sich in ihr die Zeit in ihre Dimensionen unterscheidet, führt sie stets den Gegensatz zur Zeit mit sich. Wir können dies an einer Episode des Zarathustra verdeutlichen. Ihr Thema ist das Streben nach Erlösung von der Vergangenheit, d.h. das Streben, den bedrückenden Gedanken an Erlittenes oder einfach nur an Unvollkommenes, Mißlungenes zu überwinden. Diese Überwindung setzt voraus, daß der Mensch das Vergangene, so wie es geschehen ist, wollen kann, d.h. daß er einen Sinn in ihm erkennen kann. Das Problem des Augenblicks wird dabei insofern berührt, als es darum geht, das Vergangene in der Gegenwart, in der es als bedrückend angesehen wird, in das eigene Wollen oder Sinnverstehen zu integrieren: Es muß im gegebenen Augenblick als zu wollendes erachtet werden
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können32. Gerade dadurch tritt jedoch die wechselseitige Bezogenheit von Zeit und Augenblick hervor: „Wollen befreit: aber wie heisst Das, was auch den Befreier noch in Ketten schlägt? / „Es war": also heisst des Willens Zähneknirschen [...]. / Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde, - das ist des Willens einsamste Trübsal" (Za II, Erlösung; 4, 179f.).
Der Augenblick löst sich von daher nie aus der Unterscheidung zum Vergangenen; die in ihm versuchte Integration in einen Willen und in einen Sinn kann nicht verbergen, daß ihr das zu Integrierende uneinholbar vorgegeben ist. Analog dazu kann er auch die Vergänglichkeit - in Zarathustras Worten: die „Begierde der Zeit" - nicht überwinden, da sich das Geschehene stets bereichert und in neuer Form bewältigt werden muß. Seine Selbstbehauptung als Augenblick ist also nachträglich und vorläufig zugleich. Diese Bedingung führt Zarathustra unweigerlich zur Einsicht in die Wiederkehr: Er erschrickt, indem er einsieht, daß der Augenblick sich nur durch seine Wiederkehr mit der Zeit versöhnen lassen kann (ebd., 181). Wie aber läßt sich diese Versöhnung konkret verstehen? Offensichtlich muß, wenn alles wiederkehrt, auch die wechselseitige Bezogenheit des Augenblicks zur Zeit wiederkehren: Dies bedeutet, daß man sich denselben Augenblick im Verhältnis zu derselben Vergangenheit und Zukunft als wiederkehrend vorzustellen hat. Damit scheint auf den ersten Blick wenig gewonnen zu sein. Dennoch verändert sich das Verhältnis durch den Gedanken an seine Wiederholung. Ohne den Gedanken einer Wiederkehr ist die Vergangenheit ein einmaliges Ereignis, das sich in absolutem Gegensatz zum Augenblick befindet. Absolut deshalb, weil es keine Alternative zu der jeweiligen Vergangenheit, die einem Dasein zugehört, gibt. Im Licht der Wiederkehr bleibt sie dagegen zwar Vergangenheit, d.h. etwas für den Augenblick strukturell nicht Einzuholendes, wird jedoch zugleich zur Zukunft, da der Gegensatz zu ihr selbst wiederkehren muß. Weil damit aber die Vergangenheit in der Zukunft wieder Vergangenheit werden wird, kann man insofern „zurück wollen", als man will, daß man eine bestimmte Zukunft wieder als seine Vergangenheit erfährt. Sie ist nicht mehr nur Vergangenheit, sondern kann im Umweg über ihre Zukünftigkeit mit der Gegenwart ausgesöhnt werden: So wie man sich in der Zukunft zu seiner Vergangenheit verhalten will, so kann man sich übertragen auch schon in der Gegenwart zu seiner Vergangenheit stellen. Freilich könnte man dagegen einzuwenden suchen, daß ja auch der Augenblick mehrmalig, d.h. als ein immer wieder neuer Augenblick wiederkommen muß, so daß der absolute Gegensatz in jeder Wiederkehr bestehen bliebe. Allerdings entspräche dies dem objek!
Vgl. auch 9, 11 [161] /12, 7 [51]; S. 214 u. 13,11 [72].
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tivierenden Verständnis, das wir oben ausgeschlossen haben: So geht es nicht darum, daß der Augenblick als zeitliches Ereignis wiederkehrt und sich dann wieder auf eine Vergangenheit bezieht, vielmehr geht es um die selbstbezügliche Struktur eines Gedankens, der sich in der Augenblicklichkeit seiner Erfassung als wiederkehrend denkt. Der Augenblick wird also nicht datiert, sondern bezeichnet deiktisch das jeweilige Jetzt und kann deshalb widerspruchslos als derselbe in den Wiederkünften angesehen werden. Das heißt, er wird als beständig präsent gedacht, während die Vergangenheit immer wieder neu vor ihm erscheint und sich deshalb zugleich zur Zukunft relativiert. Wie aber entsteht hieraus die Annäherung an das Sein? Durch den Schritt einer Generalisierung, indem man sich nicht mehr am Verhältnis eines bestimmten Augenblicks zu einer bestimmten Vergangenheit orientiert, sondern dieses Verhältnis auf jedes Ereignis überträgt. Indem man so die Allgegenwärtigkeit eines Augenblicks, der sich auf eine Vergangenheit bezieht, denkt, wird die Vergangenheit als Dimension ablaufender Zeit zur bloßen Bedingung, unter der die Augenblicklichkeit immer wieder erscheint, und tritt nicht als solche hervor. Dies zeigt auch das Lied, in dem die Tiere Zarathustras die Wiederkunft beschreiben: „Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Sein. [...] / In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit" (Za III, Genesende 2; 4, 272f.).
Die Annäherung an eine Welt des Seins liegt also darin, daß man das Geschehen der Zeit in jedem Punkt von der Zeitlosigkeit des Augenblicks aus versteht. Freilich ist der Sinn des Gedankens damit noch nicht erschöpft. Wenn der Gedanke selbstbezüglich zu verstehen ist, dann liegt seine Relevanz nicht nur in einer zeitphilosophischen Bestimmung, sondern auch im Bezug auf den, der ihn erfaßt. Folgen wir zunächst dem Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft, so wird er als Frage an sich selbst verstanden, d.h. als Frage, ob man sein Leben, so wie man es im einzelnen erlebt, „noch einmal und noch unzählige Male" erleben wollte. Auf diese Frage sind, nach Nietzsches Schilderung, nur zwei Reaktionen möglich, die der Bejahung und der Verneinung. Man sagt also entweder, daß man sein Leben tatsächlich wieder so erleben wollte, oder daß man es auf keinen Fall wieder so erleben wollte, wie es ist, bzw. war. Der Grund für diesen Zwang, eindeutig zu reagieren, liegt in der Bezogenheit des Gedankens auf den Augenblick. Fragt man nämlich, ob man das Leben, so wie man es jetzt erfährt, wiederhaben wollte, so ist es nicht möglich, sich der Frage zu entziehen und bspw. zu sagen, daß man warten wolle, bis sich zeigt, ob man glücklich leben wird oder gelebt hat, um erst dann eine Antwort zu geben. Wenn alles wiederkehrt, muß ja auch die Ungewißheit wiederkehren, wie man lebt, so daß man dennoch augenblicklich eine Antwort
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geben muß und sagen, ob man das Leben auch in seiner Ungewißheit wiederhaben will. In dieser Entscheidungshaftigkeit der Reaktion auf den Gedanken liegt eine im eigentlichen Sinn des Wortes - kritische Funktion. So läßt er eine kategoriale Differenz zum Vorschein treten, zwischen den Haltungen, die das Dasein in jedem Augenblick als das bejahen können, was es ist, und all denen, die ihm gegenüber eine Verbesserung erstreben oder es gar völlig überwinden wollen. Unter diese Haltungen zählt Nietzsche alle Erlösungsreligionen, aber auch alle politischen Utopien33. Doch was bedeutet der Gedanke positiv? Um dies zu verstehen, können wir darauf blicken, was Zarathustras Tiere stellvertretend für ihn sagen, wenn sie ihm deutlich machen wollen, wie er die Wiederkehr verstehen sollte: „"Nun sterbe und schwinde ich, würdest du sprechen, und im Nu bin ich ein Nichts. [...] / - ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, - / - dass ich wieder das Wort spreche vom grossen Erden- und Menschen-Mittage, dass ich wieder den Menschen den Übermenschen künde. / Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Loos -, als Verkündiger gehe ich zu Grunde!" (Za II, Genesende 2; 4, 276).
Nach der doppelten Struktur der Selbstbezüglichkeit bedeutet dies, daß Zarathustra will, daß sein Dasein immer wiederkehrt, weil er immer wieder lehren können will, daß alles Dasein wiederkehrt. Die Wiederkehr ist für ihn vor allem die Wiederkehr des Gedankens an die Wiederkehr. Wichtiger als dieser Umstand ist für unsere Frage jedoch sein anderes Lebensprojekt, die Verkündigung des Übermenschen. In den Seiten vor diesem Zitat zeigte Zarathustra, daß er an dem Gedanken leidet, weil in einer Wiederkehr auch der „kleine Mensch" (ebd., 274) wiederkehren muß, d.h. weil sie impliziert, daß er immer wieder gegen die Bedingungen der menschlichen Existenz ankämpfen und das Streben nach dem Übermenschen in ihr instaurieren muß. Er verstand die Wiederkehr also im objektivierenden Sinn, insofern er in ihr die Wiederkunft eines absoluten Gegensatzes zwischen seinem Wollen und dem nicht von ihm Gewollten sah. Erst die Rede der Tiere hebt die Absolutheit auf und führt auf ein verändertes Wollen hin. Sagt man nämlich, daß man will, daß alles wiederkehrt, dann will man auch die Gegensätzlichkeit, d.h. man will nicht nur sein eigenes Wollen, sondern auch das Nicht-Gewollte, das ihm uneinholbar bleibt. Dies bedeutet, daß man in der Wiederkehr auch das wollen kann, was man eigentlich nicht will, und zwar nicht als etwas nur Erlittenes, sondern als etwas, gegenüber dem man überhaupt erst will: Man will das, an dem man leidet, als 33
Vgl. 10, 21 [6] u. 12, 7 [51]; S. 216f.
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Ermöglichung des eigenen Wollens, des eigenen Lebensprojektes, und versteht es dadurch als Bedingung für, und nicht nur als Gegensatz zu sich. Für Zarathustra heißt dies, daß er gerade das Dasein des kleinen Menschen braucht, um gegenüber diesem der Verkünder des Übermenschen zu sein. Damit erlischt sein Leiden an ihm nicht, doch es wird nicht mehr als etwas angesehen, von dem er wollte, daß es eigentlich nicht sei. Er bejaht es wie eine Situation, die er als solche nicht bewirkt, in die er sich aber dennoch willentlich geraten läßt; so wie bspw. ein Sportler einen Wettkampf will, dessen Geschehnisse er im Verlauf nicht mehr beherrscht und den er immer auch verlieren kann. Wir können diese Konsequenz der Wiederkunft auch so beschreiben, daß wir sagen: Die Handlungsintentionen, die man hat, werden, wenn man sie als wiederkehrend denkt, nicht mehr als ein absolutes Ziel gesehen, denn es ist nicht ausschlaggebend, daß man das in ihnen Angestrebte wirklich auch erreicht und sein Leben so beherrscht, wie dies ihrem Sinn entsprechen würde. Vielmehr gilt das Wollen, das Verfolgen dieser Intentionen, als ein schon an sich, durch den Vollzugscharakter, der ihm innewohnt, erfülltes Tun. Man denkt das Leben im Bezug auf Widerstände als ein selbstzweckhaft ausgeführtes Tun. In dieser Hinsicht führt die Wiederkehr auf dasselbe Selbst- und Weltverständnis, das wir an der Konzeption des Willens zur Macht entwickeln konnten. Als Leitbild für den Gedanken nennt Nietzsche deshalb auch hier die Erfahrung der Kunst: „Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! [...] Erst am Ende wird dann die Lehre von der Wiederholung alles Dagewesenen vorgetragen, nachdem die Tendenz zuerst eingepflanzt ist, etwas zu schaffen, welches unter dem Sonnenschein dieser Lehre hundertfach kräftiger gedeihen kann!" (9, 11 [165]).
Allerdings ist auch hier zu betonen, daß der Gedanke keine direkte Auswirkung auf das Handeln hat: Nicht nur deshalb nicht, weil man nicht nach ästhetischen Kriterien handeln kann, sondern auch deshalb, weil die Lebensgestaltung, die hier gefordert wird, ihre konkreten Ziele nicht aus dem Gedanken an das Wiederkehren selbst, sondern erst aus der Ethik empfängt: Um zu wissen, inwiefern das Leben wiederkehrenswert ist, muß man wissen, inwiefern es gelingt, und dies setzt eine Ethik des guten Lebens voraus. Weil die Pointe des Gedankens gerade darin liegt, daß alles wiederkehren muß, kann ihm keine Maßgabe für das jeweilige Handeln entnommen werden. Dem widerspricht es auch nicht, wenn Nietzsche sagt, man solle, bezüglich des Lebens, „vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch" haben: Zwar kann dieser Wunsch in zweiter Linie durchaus zu einem anderen Handeln fuhren, an sich genommen stellt er jedoch eine Form des Selbstver-
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ständnisses, das sich in retrospektiver oder synoptischer Weise auf das Handeln oder Dasein im ganzen bezieht, dar34. Dieser Bezug auf das Dasein im ganzen führt uns jedoch auf zu Anfang unerläutert gebliebene Dimension des Göttlichen zurück. Der Ansatzpunkt, um sie zu verstehen, liegt in der Bejahungshaltung, die die Wiederkehr im Hinblick auf das Dasein im ganzen verlangt. So schließt die eingangs von uns dargelegte Kohärenz der Kräfte ein, daß man das Seiende in schlechthin jedem seiner Teile akzeptieren können muß, da kein Teil von dem Zusammenhang des Ganzen abzutrennen ist35. Man darf also, umgekehrt gesprochen, nichts in ihm verwerfen, da man dann das Seiende im ganzen mit verwirft. Auf der bisher in den Blick genommenen Ebene, der der Ethik, folgte daraus, daß der „Standpunkt der Wünschbarkeit", d.h. der Wunsch, dem zufolge eine Sache nicht so sein soll, wie sie ist, überwunden werden muß: Der Einzelne hat sich und alles Seiende schlechthin zu bejahen. Aber wie ist eine solche allumfassende Bejahung möglich? Geht man von dem Umstand aus, daß die Bejahung selbst eine Haltung in der Welt bedeutet, und daß sie zumindest implizit gegen alle Haltungen gerichtet ist, die nicht bejahen, dann wird deutlich, daß sie selber eine Form der Wünschbarkeit enthält: Sie wünscht, in Hinsicht auf die Wiederkehr, nicht mehr zu wünschen, sondern nur noch zu bejahen. Damit hat sie die Wünschbarkeit als Denkstruktur bestätigt, da sie wünscht, daß ein Teil des Daseins - eben das Wünschen - nicht so sei, wie er ist36. Zwar könnte man hiergegen anzuführen suchen, daß der Wunsch, sich der Wünschbarkeit von nun an zu enthalten, auf einer Reflexionsebene bewege, die nicht mit der der anderen Wünschbarkeiten gleichzusetzen sei. Sobald er sich jedoch als Wunsch artikuliert, stellt er keine bloß logische Operation dar, sondern wie die anderen ein Verhältnis zur Welt. Von dem her wird ersichtlich, daß man gar nicht schlechterdings bejahen kann: Zwar kann man alles bejahen wollen, doch indem man diese Absicht faßt, lehnt man die Wünschbarkeit als solche ab und bejaht nicht mehr das Ganze, wie es ist. Man widerspricht sich im Grunde selbst37. Allerdings gilt dies in der Tat nur für die immanente Ebene des Verhaltens zur Welt. Ihr gegenüber ist durchaus ein höherer Standpunkt möglich, und zwar in einem anderen Sinn, als dies gerade erwogen wurde. Wenn die Wünschbarkeit, als faktisches Verhalten, selbst einen 34
Kaulbach hat den Gedanken eben so gedeutet, daß die „Re-aktion" auf den in der Wiederkehr bejahten Nihilismus zu einem gesteigerten Sinnschaffen antreibt (1980, 179). Der Gedanke gilt ihm als „Werkzeug des Schaffenden" (122). Damit hat er ihn jedoch ganz von seiner Wirkung her verstanden, d.h. von dem her, was in sekundärer Hinsicht aus ihm folgen kann. Was er jedoch für das Selbst, so wie es je schon ist und sich als wiederkehrend vorzustellen hat, bedeutet, bleibt dadurch unbedacht. 35 Vgl. auch 12, 7 [38]. 36 Vgl. FW 276; 3, 521 u. 12, 7 [62]. Daß gerade die Betonung des Wollens und Bejahens der Wiederkehr mit der Immanenz antiker Weltbilder bricht, zeigt Löwith (1987,255f). 37 Auf diesen Umstand verweist auch Bartuschat 1964,170f.
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Teil des Ganzen bildet, d.h. wenn sie selbst „mit in den Charakter des Gangs der Dinge" gehört (12, 7 [62])38, dann muß sie unweigerlich, allein durch ihre Existenz, das Seiende bejahen. Von einer grundsätzlicheren Ebene der Betrachtung aus gesehen wäre also zu behaupten, daß man gar nicht gegen den Charakter alles Seienden wirken kann, weil man eben selbst zu ihm gehört. Ein analoges Argument zeigte sich schon angesichts der Forderung nach der Zurückübersetzung in die Natur, wo zu klären war, ob der Mensch nicht notwendig immer Natur ist und sich deshalb gar nicht explizit in sie zurückstellen kann. Damit läßt sich nun zugleich der Schritt hin zur Bestimmung des Moments der Göttlichkeit vollziehen. So ist die Forderung der schlechthinnigen Bejahung letztlich einem Standpunkt gleichzusetzen, unter dem ein Gott die Welt betrachten müßte: Er allein könnte das Geschehen in der allumfassenden Bejahbarkeit erkennen, die der Mensch in seinem je begrenzten Weltverhältnis nicht erreicht. Umgekehrt gesprochen heißt dies, daß der Mensch, indem er sich darum bemüht, von seiner Perspektive abzusehen, an eine Grenze kommt, die nur durch die Hinsicht eines Gottes auf die Welt und auf sein eigenes Sein überwunden werden könnte. Er kommt dazu, sich einen Gott „als Zuschauer" zu denken, der das Widerspiel der Perspektiven schlechthin als Geschehen sehen kann, d.h. als Geschehen, in dem die Intentionen, die ein Einzelner besitzt, nur Elemente wären und nicht Absichten, durch die er handelt und die Geltung für ihn haben müssen39. So läßt sich nun der Ausruf in dem Text aus der Fröhlichen Wissenschaß verstehen, in dem der von dem Dämon Angesprochene ihm entgegnet: „Du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres": Der Einzelne erkennt in der Forderung, seine ewige Wiederkehr zu erwägen, eine göttliche Hinsicht aufsein Leben. Freilich ist damit erst ein Aspekt der Rede von Göttlichem, bzw. von einem Gott erfaßt. So könnte die Aporie der Bejahung streng genommen auch anders als durch die Vorstellung eines göttlichen Zuschauers überwunden werden, etwa dadurch, daß man auf die Unverfugbarkeit des Weltgeschehens mithilfe negativer Formulierungen verweist. Der Anspruch, die Gesamtheit alles Seienden affirmativ zu umgreifen, muß nicht dadurch eingelöst werden, daß ein anderes, höheres Wesen auf eine solch umfassende Weise bejaht. Dies unterscheidet Nietzsche bspw. von Kant, für den die Idee eines höheren Wesens als zumindest regulative Idee notwendig war, um die Vollständigkeit der Bedingungen des Weltverständnisses zu klären. Sie erhielt ihre Funktion durch die Erfordernis, der Verstandeserkennt-
38
Vgl. auch 9, 10 [B37] u. 13, 14 [31]. Vgl. GM 2, 7; 5, 305. Dies bedeutet, daß wir an diesem Punkt keine Lösung versuchen, wie sie Ottmann vorgeschlagen hat, nämlich eine Kehre zu einem „liebenden, erotischen, sich der Welt öffnenden Willen" (1987, 377). Die Frage, wie es möglich ist, sich als schlechthin immanenten „Teil" der Welt (378) zu denken, wird in seinem Ansatz nicht bedacht. Vergleichbar zu Ottmann ist die Deutung Marions (1996, 62f.). 39
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nis „die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen"40, während sie bei Nietzsche als ein zusätzliches Moment zu der in der Wiederkehr gerade bestätigten Kontingenz und Alogizität der Welt hinzukommt. Es bleibt daher bis jetzt noch unklar, was das Selbstverständnis eines Einzelnen dazu nötigt, sich in der Bejahung seines Daseins gerade auf einen Gott zu beziehen. Überdies ist noch zu zeigen, inwieweit Nietzsche, unter den Bedingungen seiner Interpretationsphilosophie, überhaupt von Göttlichem sprechen kann. Wäre es die bloße Chiffre für ein höheres, d.h. nicht eingegrenztes, schlechthin souveraines Dasein oder Denken, so wäre es zwar unproblematisch zu verstehen, würde aber gleichzeitig irrelevant und könnte als bloß rhetorisches Beiwerk vernachlässigt werden41. Um in diesen zwei Punkten weiterzukommen, ist auf eine Stelle einzugehen, die die Vorstellung eines Gottes direkt auf den Wiederkehrgedanken bezieht. In ihr stellt Nietzsche als ein Ideal dar „das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dieses Schauspiel nöthig hat - und nöthig macht: weil er immer wieder sich nöthig hat - und nöthig macht - Wie? Und dies wäre nicht - circulus vitiosus deus?" (JOB 56; 5, 74f.)
Klammern wir die beiden mit „weil" eingeleiteten Teilsätze am Ende des Textes zunächst einmal aus, so bekräftigt diese Passage das bisher Gesagte. Die Welt wird auch hier einem Schauspiel gleichgesetzt, das man immer wieder sehen will, d.h. sie wird in jedem ihrer Augenblicke als Erfahrung angesehen, die wiederkehren soll. Da es jedoch im Begriff des Schauspiels liegt, daß es für jemand aufgeführt wird, der es sieht, wird ein Gott als Zuschauer für sie gedacht. Dabei ist entscheidend, daß der Gott als der gedacht wird, der „gerade dies Schauspiel nötig hat", was bedeutet, daß man seine Vorstellung als Folge des bestimmten Weltverständnisses gewinnt: Nicht ist die Welt ein Schauspiel, weil ein Gott sie ansieht, viel40
KrV B 672/A 644. Zur Gottesidee vgl. B 607/A 579. Als rhetorisch versteht Magreiter Nietzsches Rede von Göttlichem (1991, 63). Er setzt jedoch voraus, daß jeder ernsthafte Bezug auf dieses Thema in einer traditionell-dogmatischen Weise „theistisch" (64) erfolgen müßte, so daß er notwendig zu dieser negativen Einschätzung kommt. Dagegen betont Müller-Lauter die „eigentümliche Religiosität" im Gedanken der Wiederkehr (1971, 151). Da jedoch auch er vom Gegensatz zum Theismus ausgeht, sieht er in ihm nur mehr eine Haltung, „die im verzückten Jasagen das Leben heiligt" und statt eines Gottes im eigentlichen Sinn „die Gottwerdung des Menschen vorzubereiten" sucht (ebd.). Durch diese Deutung wird die Welterfahrung Nietzsches freilich hypostasiert, da sie außer der „Intensität" der Bejahung (141) keinen sachlichen Grund für die Gottesvorstellung enthält. - Im folgenden wird gezeigt, wie diese beiden Konsequenzen Magreiters und Müller-Lauters vermieden werden können.
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mehr muß ein Gott sie ansehen, weil sie ein Schauspiel ist, dessen Sinn in letzter Hinsicht der ist, von einem Gott betrachtet zu werden. Die Welt muß einen Gott haben, für den sie besteht und in dem die ästhetische Erfahrung, nach deren Vorbild sie zu deuten ist, ihren eigentlichen Ort erhält: In ihm vollendet sich das Weltverständnis, das dem Menschen in der Begrenztheit seiner Intentionen, die für ihn als Handelnden Geltung und Objektivität besitzen müssen, nur aspekthaft und rekonstruktiv erreichbar ist42. Die Rede von einem Gott setzt also nicht mit dem theologischen Bezug auf eine Offenbarung oder Tradition ein, sondern wird zunächst durch eine philosophische Deutungsperspektive motiviert. Dies wird sich auch im weiteren erweisen. Dennoch verkörpert der Gott in den zitierten Worten mehr als den bloßen Träger einer Perspektive, denn gleichzeitig ist er der, der das Schauspiel „nöthig macht"; er ist, folgt man einer Nachlaßnotiz, „deus" im Sinn der „treibenden Kraft", die das Geschehen der Welt bewegt (12, 7 [62]). Die Dringlichkeit der Klärung der beiden oben angesprochenen Punkte, der Fragen nach der Notwendigkeit und nach der Möglichkeit der Rede von Göttlichem, ist damit offensichtlich nicht geringer geworden. Sie ergibt sich jedoch gerade aus dem Verständnis der beiden ausgeklammerten Teilsätze nach dem Doppelpunkt, der Begründung „weil er immer wieder sich nöthig hat - und nöthig macht". Dabei besteht die eigentliche Aufgabe der Interpretation darin, die Bezugsperson dieser Sätze, d.h. die Bedeutung des Personalpronomens „er" richtig zu bestimmen. Nicht nur syntaktisch, sondern auch dem Sinn des Textes nach könnte es sowohl für den angerufenen Gott als auch für den idealen Menschen stehen. Zwar wird sich die zweite Lesart, der Bezug auf den idealen Menschen, als die eindeutig plausiblere erweisen, dennoch müssen wir auch die erste diskutieren, da es keineswegs selbstverständlich ist, worin am Ende ihre Begrenztheit liegt. Wir beginnen deshalb mit der ersten Möglichkeit. Bezieht man das Personalpronomen somit auf den angerufenen Gott, so ergeben sich jedoch wiederum zwei Möglichkeiten des Verständnisses, von denen die eine zwar relativ leicht abzuweisen ist, aber gerade dadurch zur Erläuterung des Gottesbegriffes dient. Ihr zufolge schließt die Begründung an den unmittelbar vorausgehenden Teilsatz an, in dem gesagt wird, daß der Gott, der im Schauspiel der Welt bejaht wird, derjenige ist, der es auch nötig macht, d.h. bewegt. Nietzsches Text ließe sich dann folgendermaßen paraphrasieren: Der Gott hält das Schauspiel der Welt beständig in Gang, um beständig sein Zuschauer sein zu können („weil er sich nöthig hat") und um beständig als Zuschauer angerufen werden zu können („weil er sich nöthig macht"). Versteht man das Sich-nötig-Haben dabei in einem starken, existentiellen Sinn, könnte man auch sagen, daß er das Schauspiel der Welt in Gang hält, weil er nur als ihr Zuschauer Gott sein kann. Diese 42
Vgl. GM 2, 16; 5, 323 u. 9, 11 [285].
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Interpretation ließe sich mit der am Schluß des Textes hervorgehobenen Zirkelstruktur vereinen, insofern es einen Gott dann eben dadurch gäbe, daß er sich mit der Welt seine eigene Existenzbedingung schafft. Der Gott wäre dann zwar nicht als causa sui in ihrer eigentlichen Bedeutung zu verstehen, aber immerhin als ein sich durch sich selbst perpetuierendes Prinzip. Offensichtlich kann eine solche Konzeption aber nicht mit Nietzsches Denken in Einklang gebracht werden; nicht nur deshalb nicht, weil sie inhaltlich der von ihm abgelehnten Denkfigur der causa sui verbunden bliebe43, sondern weil sie methodisch nicht von der affirmativen Rede über das Wesen eines Gottes, wie es der Theologie oder einer ihr nahen Form der Metaphysik zu eigen ist, unterschieden wäre. Nietzsche würde dann mit den Aussagen über einen Gott eine gleichsam spekulative Ebene der Betrachtung erreichen, ohne diesen Schritt von seinen Geltungsbedingungen her ausweisen zu können. Er würde, wie schon angedeutet, das im Kantischen Sinn kritische Niveau seiner Interpretationsphilosophie verfehlen. Die Begründung darf von daher, wenn sie als Aussage über den Gott plausibel gemacht werden soll, nicht nur auf den letzten Teil des Anrufs bezogen werden, sondern muß die ganze Redesituation, in der ein Mensch die wiederkehrende Welt mit ihrem göttlichen Zuschauer bejaht, betreffen. Man müßte Nietzsches Worte also so paraphrasieren, daß man sagt: Der ideale Mensch will das Schauspiel der Welt mimer wieder haben und dazu den Gott, für den es ist und der es in Bewegung hält, weil sich die Vorstellung eines Gottes immer wieder aufdrängt - „sich nöthig hat" - und weil immer wieder ein Gott angerufen werden muß - „sich nöthig macht". Statt über das Wesen eines Gottes würde dann über die Vorstellung eines Gottes gesprochen. Auch dies entspräche der Zirkelstruktur, insofern es bedeutete, daß ein Gott deshalb angerufen wird, weil sich der Mensch genötigt sieht, ihn anzurufen. Wie gesagt, ist diese Deutung keineswegs unplausibel. Sie kann in Anlehnung an die Struktur des Wiederkehrgedankens erläutert werden. So denkt man, nach dem oben Dargelegten, an die Wiederkehr nicht wie an ein beliebiges Ereignis in der Zeit, sondern man denkt an die Wiederkehr, weil man denkt, wiederkehren zu können, um wieder an die Wiederkehr zu denken. Ebenso ließe sich sagen, daß man die Vorstellung eines Gottes braucht, um jemand zu haben, der angerufen werden kann. Auch der Anruf des Gottes unterläge damit einer Form der Selbstbezüglichkeit; er würde vollzogen, weil der Mensch ihn immer wieder vollziehen will. Doch woraus entsteht dieser Wille? Worin liegen die Bedingungen, die eine Gottesvorstellung gleichsam unausweichlich für den Menschen, zumindest den idealen Menschen, machen? Angesichts dieser Frage zeigt sich eine Argumentationsstruktur, die schon anderenorts in Nietzsches Denken, etwa bei der Frage nach 43
Zur Kritik der causa sui vgl. JOB 21; 5,35.
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dem Guten, ersichtlich wurde44. Daß es keine allgemeinen Gründe für die Gottesvorstellung gibt, heißt demnach gerade nicht, daß sie sinnlos wäre, sondern bedeutet, daß ihr Sinn darin besteht, dem Selbst als Ausdrucksform zu dienen. Dies könnte man sogar noch steigern und betonen, daß sie um so mehr ein Ausdruck des Selbst und in dieser Hinsicht wünschenswert ist, um so weniger sie sich in allgemeiner Form begründen lassen kann. In analoger Weise zeigt sich dieser Umstand unter anderen im übernächsten Aphorismus der Sammlung, in dem Nietzsche fragt: „Hat man wohl beachtet, in wiefern zu einem eigentlich religiösen Leben (und sowohl zu seiner mikroskopischen Lieblings-Arbeit der Selbstprüfung, als zu jener zarten Gelassenheit, welche sich „Gebet" nennt, und eine beständige Bereitschaft für das „Kommen Gottes" ist) der äussere Müssiggang oder Halb-Müssiggang noth thut [...]? Und dass folglich die moderne, [...] auf sich stolze, dumm-stolze Arbeitsamkeit, mehr als alles Übrige, gerade zum „Unglauben" erzieht und vorbereitet?" (JGB 58; 5, 75),
Die „beständige Bereitschaft" für einen Gott ist demnach eine Haltung, die in einem Vermögen des Einzelnen beruht. Dies bedeutet, daß Nietzsche zwar die Tatsache der Historisierung der Religionen aufgreift und die Idee einer durch Traditionen oder gar durch Gründe legitimierten Verbindlichkeit bestreitet, damit aber gerade den Kern der echten Religiosität freizulegen glaubt45. Die echte Religiosität hat ihren Gott nicht als begründeten, vorgegebenen Glaubensartikel, zu dem sie sich in sekundärer Hinsicht auch verhält, sondern ist nichts anderes als die „Bereitschaft" für ihn46. Ihr Antrieb begründet sich in einem Verstehensprozeß des Selbst. Auf die Wiederkehr bezogen folgt daraus, daß, wer die Wiederkehr bejaht, damit zugleich offen wird für einen Gott, der ihr Schauspiel überblickt. Sie ist als Gedanke zu explizieren, der das Selbst nach der Historisierung der Religionen noch einmal in eine der Religion gleiche „Bereitschaft" versetzt. Nun ist diese Deutung zwar durchaus konsistent und entspricht dem Nietzscheschen Gottesverständnis, sie bleibt jedoch, wie schon gesagt, in einer Hinsicht auch begrenzt. Daß die Gottesvorstellung auf eine Haltung des Selbst und damit auf keine äußeren Gründe zurückzuführen ist, schließt nicht nur nicht aus, daß es innere Gründe gibt, die zu solch einer Vorstellung führen, es fordert sie sogar, 44
Siehe S. 130. Mit dieser Struktur erklärt sich auch der berühmte Ausruf aus dem Antichrist: „Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott!" (AC 19; 6, 185). Götter sind nicht, sie werden „geschaffen" (ebd.), was eben heißt, daß sie dadurch verbindlich werden, daß man sich auf sie bezieht. 46 In diesem Sinn ist Nietzsches Gottesverständnis auch von christlichen Theologen positiv aufgenommen worden, als Anstoß zur Schaffung eines ursprünglichen Verhältnisses zu Gott. Vgl. Jüngel 1972,294 u. Bucher 1986, 288ff. Biser spricht von einer „Selbstkritik des gläubigen Denkens" (1962, 306). 45
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wenn immer man nicht annehmen will, daß diese gänzlich unmotiviert entsteht. Diese Gründe werden aber nicht benannt, wenn man die beiden Teilsätze am Ende, wie gesehen, als Aussagen über den Gott versteht. So wird durch diese Deutung nur einer der beiden vorgegebenen Punkte geklärt, der Punkt nämlich, der nach der Möglichkeit der Rede von Göttlichem fragt. Die Frage, warum ein Selbst von sich aus auch die Notwendigkeit fühlt, eine solche Vorstellung zu haben, kann dagegen immer noch nicht beantwortet werden. Zwar könnte man einwenden, daß es keineswegs offensichtlich ist, daß Nietzsches Text diese Antwort geben wollte oder gar geben sollte und daß es folglich nicht unmöglich ist, ihn in der hier entwickelten Weise zu verstehen. Bezieht man die beiden Teilsätze jedoch nicht auf den Gott, sondern auf den idealen Menschen, dann zeigt sich, daß der Text eine Begründung, wie sie hier eingeklagt wird, in der Tat gibt. Die daraus folgende Deutung entspricht ihm also in höherem Maß, da sie das ihm eigene Problembewußtsein auszuschöpfen strebt. Die Aufgabe, die sich damit stellt, ist die folgende: Es gilt, in den beiden Teilsätzen: „weil er immer wieder sich nöthig hat - und nöthig macht" eine Aussage über die Haltung eines Selbst zu erkennen, die zum Anrufen eines Gottes fuhrt, genauer zum Anrufen eines Gottes, der der Zuschauer und Beweger des Wiederkehrgeschehens ist. Dabei ergibt sich durch die Absetzung mittels eines Bindestrichs die Hervorhebung des letztgenannten Aspektes, der Bewegung, d.h., mit Nietzsches Worten, des Umstands, daß der Gott das Weltschauspiel „nöthig macht". Die Bejahung geht „im Grunde", so der Text, auf den, der als verborgener Antrieb in allem Geschehen wirkt. Verbindet man dies mit Wiederkehrgedanken, so könnte in einem ersten Anlauf vermutet werden, daß der Einzelne in dem Gott die wiederholte Möglichkeit seiner Existenz bejaht. Daß er sich nötig hat, hieße dann, daß er den Grund seines Daseins einzuholen bestrebt sein muß. Eine solche Deutung würde jedoch dem Umstand entgegenstehen, daß der hier geschilderte ideale Mensch der „übermüthigste lebendigste und weltbejahendste" ist und den Gott von daher nicht aus einem Mangel anrufen wollen kann. Auch das Sich-nötigHaben, das ihm zugeschrieben wird, darf nicht als eine prinzipielle Unerfülltheit angesehen werden, sondern ist als ein im Kern positives Phänomen zu explizieren. Dies zeigt sich auf der Ebene des Textes allein schon dadurch, daß es durch ein Sich-nötig-Mac/ze« ergänzt wird und die Unerfülltheit damit als eine Leistung des Einzelnen selbst gedeutet werden muß. Daß die Unerfiilltheit ein Vermögen ist, zeigt der Text in der Bemerkung an, daß der ideale Mensch „unersättlich da capo" rufe. Er kann sein Leben also nie so vollständig und endgültig bejahen, wie es durch den Wunsch der Wiederkehr bejaht werden soll: Der Wunsch gehört selbst in das Leben und kann es nicht in seiner Totalität überblicken. Dieser Punkte zeigte sich schon früher, ist hier jedoch auf das Selbstverständnis eines Einzelnen zu übertragen: Dieser „hat sich nötig",
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weil er die Fülle seines Lebens - seine „Lebendigkeit" oder seinen „Übermut" niemals selbstevident erfahren oder gar über sie verfügen kann. Er leidet also insofern einen Mangel an sich selbst, als ihm die Totalität seines Daseins in letzter Hinsicht stets entgleitet oder nur geschieht. Wie sich am Ende unserer Diskussion des guten Lebens zeigte, hat er sein autarkes Selbst gerade dadurch, daß er sich in Tätigkeiten und Erfahrungen verlieren kann, ohne sich auf einen festen Begriff seiner selbst beschränken zu müssen. Sein Selbstverständnis ist damit gleichsam nie auf der Höhe seines eigenen Seins und kann auch durch die Projektion in eine mögliche Wiederkehr nicht mit dem gegenwärtigen Leben in Übereinstimmung gebracht werden. Gleichwohl geht es Nietzsche hierbei nicht um die Erfahrung eines Mangels, sondern darum, daß das Hinter-sich-Zurückbleiben des Selbstverständnisses gleichzeitig der Index eines Überflusses ist: Das Selbst „macht sich nötig" und strebt damit von sich her über die Grenze einer definitiven Verständigung hinaus; es gibt sich seine Fülle an Möglichkeiten von sich heraus vor47. Dem Aufbau des Textes nach liegt darin zugleich die Begründung für den Anruf eines Gottes. Nietzsches Gedanke muß also folgendermaßen nachgezeichnet werden: Der ideale Mensch wünscht seine Wiederkehr und ruft einen Gott als Zuschauer und heimlichen Beweger an, weil er in der Fülle seines Selbst notwendig hinter sich zurückbleibt. Dies kann offensichtlich nur dann eine Begründung sein, wenn man voraussetzt, daß nur ein sich in dieser Weise erfahrendes Selbst dazu kommt, sein Dasein nach dem Vorbild ästhetischer Erfahrung als ein Schauspiel anzusehen, dessen Sinn und Ursache in einem Gott begründet liegt. Nur ein Selbst, das eine Fülle von Möglichkeiten in sich erfahrt, kann sich vorstellen, das ein verborgener Antrieb in seinem Denken und Handeln wirkt, bzw. daß sein Denken und Handeln unter der Perspektive eines göttlichen Zuschauers verstanden werden kann. Der Gott wird von ihm als die treibende Kraft in dem, bzw. als Sinnhorizont für das Geschehen, das sein eigenes Sein für ihn bedeutet, gedacht. Allerdings wird der Gott nicht deshalb angerufen, um eine Ursache für dieses Geschehen denken zu können, d.h. um das Geschehen in der einen oder anderen Weise erklären zu können. Wäre dies der Fall, dann könnte Nietzsche nicht, wie er dies am Ende des Textes tut, von einer Zirkelstruktur ausgehen. Dieser Struktur nach ist der Gott kein Prinzip, das von sich her als Ursache einsichtig wäre, sondern der, der „gerade dies Schauspiel nöthig hat": Er ist der Gott,/«/· dieses eine Geschehen und kann nur im Ausgang von ihm vorgestellt werden. Wir haben darauf oben schon verwiesen. Er kann also auch nur deshalb überhaupt als Ursache gedacht werden, weil das Selbst von sich her eine Fülle des Geschehens erzeugt, zu der 47
Diese Struktur der Selbstverständigung fuhrt freilich nicht auf ein „mystisches Erlebnis", wie Salaquarda es als Grundlage des Wiederkunftsgedankens dargelegt hat (1989, 335). Die Welt- und Selbstentrücktheit, die im Begriff der Mystik liegt, widerspricht dem Umstand, daß es sich hier gerade um Erfahrungen mit der Welt und mit sich selbst handelt.
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eine Ursache zu denken möglich ist. So hilft er, ein Geschehen zu deuten, von dem her er seinerseits in seiner Funktion erst verständlich wird. Wollte man dies auf eine einfache Formel bringen, so könnte man sagen, daß das Selbst zunächst eine Dimension in sich erfahrt, die es als nicht von sich bewirkte versteht, und diese Dimension dann auf einen Gott bezieht, der sie ihm gewährt. Es geht nicht von einem gegebenen Gottesverständnis aus, sondern hat den Gott in einem Zirkel des Selbstverstehens, das sich Figuren und Weltbezüge erschließt, in denen es sich wiederspiegelt und bewegt48. Der Gott ist, mit anderen Worten, ein Ausdruck des Selbstverständnisses in der ihm eigenen Unverfügbarkeit. Diese Deutung des Nietzscheschen Textes läßt sich unschwer auf die zuvor entwickelte beziehen, in dem die Teilsätze als Aussage über den Gott erläutert wurden: Das Anrufen eines Gottes als Figur der Selbstverständigung ist gerade der Fall eines sich nicht allgemeinverbindlich begründenden Bezugs, d.h. einer „beständigen Bereitschaft", die nicht von einer Tradition oder Offenbarung ausgeht, sondern auf einer inneren Haltung fußt. Sie bleibt damit als zirkuläre Auslegung den Prämissen der Interpretationsphilosophie treu. So zeigt sich am Ende noch einmal in aller Deutlichkeit, daß wir mit der Rede von Göttlichem keineswegs von einer philosophischen zu einer genuin theologischen Argumentationsform übergegangen sind. Ebensowenig haben wir im übrigen den Rahmen einer Untersuchung der Ethik verlassen, denn auch der Anruf eines Gottes gehört zu den Formen des Selbstverständnisses, die für ein gutes Leben zumindest nicht irrelevant sind. Der letztgenannte Punkt betrifft jedoch nicht nur die Frage nach dem systematischen Ort, der Nietzsches Gedanke zuzuweisen ist. Vielmehr bezeugt sich in unserer Deutung für ein weiteres Mal die Kohärenz der ethischen Kategorien und Argumentationen, die in seinem Werk erkenntlich sind. Es ist deshalb nicht unangebracht, zum Abschluß dieses Kapitels, das zugleich den Abschluß unserer Untersuchung bildet, an die verschiedenen Aspekte zu erinnern, unter denen sich das Selbst als ein bestimmendes Prinzip erwies. Im ersten Kapitel zeigte sich das Selbst im Ausgang vom Begriff der Welt, auf den uns seinerseits die Einsicht in den Synthesecharakter von Denken und Erkennen führte. Eine Welt war demnach als Zusammenhang beschreibbar, den das verstehende Selbst in Bezug auf sich erschließt. Das zweite Kapitel kam durch handlungstheoretische Betrachtungen zur Einsicht in seine Funktion. Handlungen sind demzufolge als Ausdrucksformen auf ein Selbst zurückzuführen, was auch für 48
Exemplarisch zeigt dies auch Nietzsches emphatischer Bezug auf Dionysos am Ende von Jenseits von Gut und Böse (JOB 295; 5, 237f). Dionysos wird dort als „Genie des Herzens", d.h. als Genie des eigenen Herzens apostrophiert. Diese Stelle müßte allerdings ausführlicher interpretiert werden, als dies hier möglich ist. Zu Nietzsches Dionysos vgl. Reinhardt 1966, 335ff. Dennoch dürfte hier klar geworden sein, inwiefern sowohl die Relativierung der Gottesvorstellung bei Magreiter als auch ihre Immanentisierung bei Müller-Lauter vermieden werden kann.
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die Kritik der moralischen Werte gilt, die Moraltypen durch ihren Bezug auf das sich in ihnen ausdrückende Selbst bestimmt. Dabei wurde auch der Weltbegriff wieder relevant: Wo sich das Selbst nicht so auf eine Welt hin versteht, daß diese ihm Ziele seines Handelns gibt, schwindet die Möglichkeit, überhaupt Ziele zu haben, d.h. überhaupt etwas wollen zu können. So resultiert für Nietzsche der moderne Nihilismus und die Weltflucht aus einem Mangel an Selbsthaftigkeit im Handeln. Im vierten Kapitel wurde das Selbst zunächst in Bezug auf das Kriterium des Guten, die Macht, relevant, insofern in dieser die Fähigkeit zu einem autarken Selbstsein liegt. Die dem Kriterium entsprechenden Vollzüge erwiesen sich als Versuche der Selbstüberwindung, d.h als Versuche der Herausbildung höherer Vermögensstufen in einem Selbst. Was dagegen den Begriff des guten Lebens anbelangt, so zeigte sich das Selbst insofern als für ihn bestimmend, als das Leben jeweils nur von seiner Ganzheit her gelingen kann. Die Ganzheit ist für Nietzsche aber keine Ordnung verschiedener Tugenden, wie des bei Platon der Fall gewesen war, sondern die Offenheit des Selbst in seinen Möglichkeiten. Das gute Leben darf sich demnach nicht von bestimmten Werten oder Fähigkeiten her verstehen, sondern muß hinsichtlich jedes der ihm enthaltenen Aspekte als das gute Leben des jeweiligen Selbst verstanden werden können. Das fünfte und letzte Kapitel schloß den Bogen mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr und seiner Frage nach der Betrachtung des Daseins im ganzen, bzw. in der Zeit. Das Selbst war hierbei nicht nur durch die Frage nach dem göttlichen Zuschauer, sondern auch durch die Struktur des Gedankens involviert. Die Welt des Werdens muß in jedem ihrer Augenblicke als erfüllt gedacht werden, d.h. sie muß in jedem Augenblick, den das Selbst als einen gegenwärtigen identifiziert, als der Wiederkehr wert vorgestellt werden. Freilich erwies sich bei jeder dieser Diskussionen, daß die Selbsthaftigkeit nicht als ein Prinzip verstanden werden darf, von dem in deduktiver Weise ausgegangen werden könnte. Vielmehr bezeugte sich seine Funktion jeweils im Ausgang von einem bestimmten Phänomenbereich und im Hinblick auf bestimmte, begrifflich gefaßte Zusammenhänge. Die Kohärenz von Nietzsches Denken ist deshalb keine, die in einem Prinzipienmonismus begründet läge, sondern stellt sich angesichts unterschiedlicher Fragestellungen allererst her. So war es möglich, eine systematische Rekonstruktion von seiner Ethik zu leisten, ohne ihr dabei die Gestalt eines ethischen Systems zu verleihen.
Siglenverzeichnis Friedrich Nietzsche wird zitiert nach: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/Berlin/ New York 2 1988. Bei Nietzsches zusammenhängenden Werken wird zusätzlich zum Titel auch die jeweilige Kapitelzählung oder -Überschrift angegeben. Bei längeren Überschriften wird diese vereinfacht (Bsp.: Götzen-Dämmerung, Die „Vernunft" in der Philosophie 3 = GD, Vernunft 3). Beim Nachlaß wird nach der Zählung der einzelnen Stellen zitiert und nur bei längeren Abschnitten auch die Seitenzahl angeführt. Auf die Verwendung eines Kürzels für die Kennzeichnung der Kritischen Studienausgabe ist allgemein verzichtet worden. So wird nur der jeweilige Band angegeben, was bei Werken mit Titelangabe durch die erste Zahl nach dem Semikolon und bei Nachlaßstellen durch die erste Zahl des Zitatnachweises geschieht.
a) Nietzsches Schriften GT GMD ST PHG WL HL WB MA WS M FW Za JGB GM WA GD
= Die Geburt der Tragödie = Das griechische Musikdrama = Sokrates und die Tragödie = Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen = Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne = Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben = Richard Wagner in Bayreuth = Menschliches, Allzumenschliches = Der Wanderer und sein Schatten = Morgenröthe = Fröhliche Wissenschaft = Also sprach Zarathustra = Jenseits von Gut und Böse = Zur Genealogie die Moral = Der Fall Wagner = Götzen-Dämmerung
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EH AC
Siglenverzeichnis
= Ecce Homo = Der Antichrist
b) Platans Dialoge Apol. Gorg. Krat. Leg. Men. Farm. Phil. Pol. Prot. Rep. Soph. Sym. Tim.
= Apologie = Gorgias = Kratylos = Nomoi = Menon =Parmenides = Philebos = Politikos = Protagoras = Politeia = Sophistes = Symposion = Timaios
c) Andere Schriften EN = Nikomachische Ethik KrV = Kritik der reinen Vernunft KpV = Kritik der praktischen Vernunft KU = Kritik der Urteilskraft WWV = Die Welt als Wille und Vorstellung SZ = Sein und Zeit HN = Martin Heidegger: Nietzsche
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Personenregister Abel, Günter 26, 66, 207,222
Fink, Eugen 139, 222f.
Apollo 15, 18
Fink-Eitel, Hinrich 9
Arendt, Hannah 106f., 136
Foot, Philippa 6
Aristoteles 11, 12, 54, 76, 78, 98, 120, 137, 166,
Foucault,Michelll,59, 190
168, 177 Metaphysik 78
Gadamer, Hans-Georg 52, 55, 64, 100, 127
Nikomachische Ethik 54, 76, 98, 120, 137,
Gerhardt, Volker 8f, 26, 40, 53, 75, 78, 135f,
166, 168, 177
211
Goethe, Johann Wolfgang von 187f., 190 Balmer, Hans Peter 7
Golomb, Jacob 63
Bartuschat, Wolfgang 232
Grau, Gerd-Günther 175, 203
Hehler, Ernst 86
Guyau, Jean-Marie 196
Berkowitz, Peter 9 Biser, Eugen 237
Habermas, Jürgen 2-6, 29
Bittner, Rüdiger 50
Hadot, Pierre 11
Bremer, Dieter 95, 140
Hamacher, Werner 172
Brusotti, Marco 11,211
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 4, 46, 56, 141f.,
Bucher, Rainer 237 Bueb, Bernhard 8
147
Heidegger, Martin 7, 11, 24, 35-38, 43, 45, 55, 80f.,91, 172, 187
Darwin, Charles Robert 213
Sein und Zeit 35-38, 43, 91, 172, 187
Deleuze, Gilles 132
Holzwege 80
Derrida, Jacques 216
Nietzsche 24, 42, 80
Dier, Oliver 223
Heimsoeth, Heinz 7
Dionysos 15, 18,240
Hesse, Heidrun 9
D'Iorio, Paolo 222
Himmelmann, Beatrix 9
Djuric, Mihailo 74
Hoffe, Otfried 64 Hofmann, Johann Nepomuk 26
Euripides 15 Jaspers, Karl 7, 9,201 Figal, Günter 23, 32, 35, 52, 64, 88, 142,215
Jüngel, Eberhard 237
Figl, Johann 26
Jünger, Friedrich Georg 173
252
Personenregister
Kant, Immanuel 8-10, 24-25, 33, 35, 48, 58f, 63, 67, 72f, 76, 86, 113, 132, 141f., 215,
Pfannkuche, Walter 122 Platon (außer Kapitel 4) 2, 12, 15, 17, 24, 30,
233, 236
90, 132, 136, 138, 140-45, 156, 164f, 167f.,
Kritik der reinen Vernunft 24f, 33, 58, 233
179f, 182, 184ff, 188ff, 203,205, 241
Kritik der praktischen Vernunft 59, 63, 67,
Apologie 15, 224
72f. 76, 86, 132
Gorgias 145, 182,203
Kritik der Urteilskraft 141
Politeia 2, 30, 90, 136, 144, 164, 167
Kauffmann, Clemens 113
Parmenides 30
Kaufmann, Walter 9f.
Timaios 136f.
Kaulbach, Friedrich 7f, 21, 178,232
Philebos 138f, 182
Kerger, Henry 192
Nomoi 182
Kloch-Kornitz, Peter von 203
Pieper, Annemarie 201
Knodt, Reinhard 135
Popper, Karl R. 106
Koecke, Christian 187 Kouba, Pavel 30
Reiner, Hans 108
Krämer, Hans 3f, 7, 9, 61, 78, 123, 136, 170
Reinhardt, Karl 240 Reuber, Rudolf 11
Lenk, Hans 24
Riedel, Manfred 37
Liddell, H.G. /Scott, R. 109
Rorty, Richard 11
Löwith, Karl 220, 226, 232
Rosen, Stanley 81
Lukäcs, Georg 6 Salaquarda, Jörg 58, 239 Mackie, John Leslie 2
Schacht, Richard 37
Magnus, Bernd 222
Schatzki, Theodore R. 12
Magreiter, Reinhard 234, 240
Scheler, Max 131
Marti, Urs 196
Schlegel, Friedrich 86, 152
Marton, Scarlett 233
Schmid,Wilhelmll, 190
Mclntyrc, Alasdair 4-6
Schopenhauer, Arthur 20-24, 28, 33ff„ 46, 71,
Mohr, Jürgen 91 Müller-Lauter, Wolfgang 81, 207,216, 222, 234, 240
213
Schrift, Alan D. 63 Schwartz, Eduard 108 Seel, Martin 5, 7,9, 187
Napoleon Bonaparte 86, 202
Simmel, Georg 164
Nehamas, Alexander l Of, 29, 31, 40, 190
Simon, Josef 29, 77
Nussbaum, Martha C. 12, 112, 175
Sloterdijk, Peter 11 Sokrates (außer Kapitel 4), 14-18, 47, 139, 154,
Olson, Robert G. 2 Ottmann, Henning 9, 160, 175, 194, 203, 213, 233
223f. Spaemann, Robert 188 Stegmaier, Robert 29, 37, 59, 160, 187, 207
Personenregister Taylor, Charles 5-7
Wagner, Richard 42, 145, 173
Tongeren, Paul van 9
Wieland, Wolfgang 100, 106
Tugendhat, Ernst 6, 9, 100
Williams, Bernard 2 Wischke.Mirkoll
Ulmer, Karl 7
Wisser, Richard 11
Vaihinger, Hans 7, 40
Zuckert, Catherine 190
Vlastos, Gregory 103
253
Sachregister Ästhetik l If, 141f.,215f.,235 Affekt 180ff.
Deuten s. Sinn
Allgemeinverbindlichkeit 2, 10 Analogie 207
dionysisch 15, 18ff, 26-33, 41-51, 54, 170
Dialektik 115, 124 Dualismus 196, 202ff.
Anfang, Anfangshaftigkeit 52ff, 73 Angemessenheit 145, 165
Egalität 139, 156f,211
Anorganisches 208
Egoismus 154f.
Anschauung 20f, 27f.
Einbildungskraft 24f.
Anthropologie s. Mensch
Einsamkeit 182
Antike 6f, 12, 85, 136f, 154, 177, 180
Epos 18f, 42
Apeiron 125f.
Ergon 101-105
apollinisch 18-26, 29, 32f, 41ff, 46,49
Erziehung 113f
Aristokratie 61 f., 110
Ethos 76, 108-114, 168, 189ff.
asketisches Ideal 82ff.
Eudaimonismus 61
Aufklärung 155 Augenblick 30, 227ff.
Fiktion 19, 38, 44,49
Autarkie 136ff, 162-167, 174-177, 191-196,
Form 18-27, 144f, 171
203f. Autonomie 7ff„ 63, 67, 154f
Freiheit 7ff, 65f, 69, 76f, 146, 189 freier Geist 183 Freundschaft 160, 176f.
Begründung 2, 6, 16 Bejahung 7, 229-234, 238
Ganzheit 116, 121f., 126, 179, 184-187
Besonnenheit 111, 115-124, 180ff.
Genealogie 59, 132, 193
Bewandtnis 35
Gerechtigkeit 101, 114, 120-124, 177-182 Geschichte 86f
causa sui 236
Geschmack 141
Christentum 10, 82, 137f, 154, 186
Gewissen 91
Daimonion 16, 54, 223f.
Gott, göttlich 15, 232-240 Größe 160, 162
Dasein (bei Heidegger) 35ff.
gut 1-6, 60f, 95-104, 110, 112, 121-146, 149,
Deduktion (bei Kant) 86
156-176,189, 191, 196
Demokratie 11 Of, 179
gut und schlecht 61f, 97f, 112, 131, 162
Determinismus 69, 221
gut und böse 61 f., 192
Sachregister
255
gutes Leben 121-128, 159f, 174, 179-191,
Leben 17f., 80, 83f, 112f., 214ff., 221
201-204
Lebensform 84ff, 88-92, 136, 142, 173, 196
Begriff des Guten l f.
Lebenskunst 11
Idee des Guten 123, 128
Leib 56 Logik 23f, 50
häßlich 143
Lüge 167f.
Hedonismus 61, 112, 127, 150, 168-171
Lust U l f , 124-127, 169ff.
Hermeneutik 43ff., 52, 63, 198
Lyrik 19
Heteronomie 63, 67 Historismus 51, 173 Horizont 37f, 49, 84 Hypothese 225
Macht 7-10, 53f., 65, 77f, 96, 99, 133-143, 146, 156f, 169ff., 180f, 193f, 197f, 209f. Maske 172 Maß 125-128, 139f.
Ich 37
Materialismus 63,212
Idee 95, 105ff., 140,205
Mathematik 208
regulative Idee 233
Mechanik 208ff.
Immoralismus 11, 196 Imperativ 72f. hypothetischer Imperativ 10
Mensch 4, 7, 12, 88, 166, 197-200, 206, 212217
Methode 48
Individuum 10f., 147-155, 160, 172, 185,210f.
Mischung 124ff.
Instinkt 16, 18, 47, 54ff., 146, 161
Mitleid 175f.
Intention 72ff., 97-102,215f, 231
Moderne, 85-88, 153
Intentionsobjektivismus 169
Möglichkeit 67, 78, 187
Interpretation 26, 29-32, 43, 49, 63-68, 130,
Monismus 205,241
206f, 234, 236
Moral If, 7-10, 58-64, 68f, 76, 82, 85f, 89ff., 167, 173ff, 191-204
Juden 61, 65
Begriff der Moral 60 Herrenmoral 6, 60f, 166
Kairos 104, 109, 189
Sklavenmoral 60ff., 69
Kausalität 73, 207
Moral als Sozialmoral 9, 129, 196, 199,
Klugheit 55
202ff
Können 3, 7, 77, 103
Motivation 180f, 198
Kontingenz214, 220f.
Musik 18ff, 27, 42
Kraft 53, 65f., 147ff., 154,208ff., 218f., 221
Mut 182
plastische Kraft 22
Mythos 19f, 26f, 38, 41, 49
Kritik 6, 58f., 68, 132 Kultur 7, 23
Natur57,211ff.,215ff.
Kunst 21f.,43f, 113, 141-144,214ff., 231
Naturalismus 15, 63,206,212 Naturwissenschaft 213f, 222
Lachen 32f.
Naturzustand 194
256
Sachregister
Nihilismus 32, 84, 220
Seele 112-123, 126
Notwendigkeit 146, 189
Sein 23, 27, 30, 126f., 226, 229 Selbst 37-40, 43, 47, 50-57, 62ff., 67ff, 74, 77f,
Oligarchie 11 Off.
82ff, 136, 145, 164, 185-191, 237-241
Ordnung 11 Iff., 164f, 185,212,220
Begriff des Selbst 37 Selbstsein 37, 53f, 65, 68, 77f, 136, 160, 181
Pathos 75f, 98, 137,161 Peras 125f. Personalität 147, 155f, 160, 172
Selbstaffirmation 9, 99, 110, 122, 136, 145, 164, 190,217
Perspektivismus l Of., 39, 130, 140, 154, 178,
Selbstanwendung 31
206f. Philosophenherrschaft 107
Selbstbeherrschung 10, 119f, 145, 181
Phronesis 54f.
Selbstbewegung 54, 66, 112ff., 118, 147-152,
Plastik 18
Selbstbestimmung 8f, 67 207ff.
Platonismus 94f.
Selbstbewußtsein 147
Pluralismus 131
Selbsterlösung 137
Positivismus 94
Selbstschaffung 10, 187f., 190f.
Pragmatismus 37, 40
Selbstüberwindung 10, 80, 164, 177,201
Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren
Selbstverhältnis 117f, 136, 163, 172-176
151,222
Selbstverlust 51 Selbstverständnis 61, 67f., 217, 231 f., 238ff.
Rang 161f,203
Selbstwiderspruch 10, 217
Rationalismus 17f, 47-52, 94 Rationalität 154f.
Selbstzurücknahme 11
Recht 192-195 Redlichkeit 183 Rekonstruktion 63, 213, 215, 235
Selbstzuschreibung 139, 158-162 Selbstzweck 215,231 Sinn 35ff., 43ff, 49-53, 56, 82f, 136
Renaissance 85
Sinnlosigkeit 44,220 Sinnverstehen 36, 44, 50-53, 198 Skeptizismus 131,207 Sokratismus 16
Repräsentationsverhältnis 65ff, 163
Solipsismus 83
Ressentiment 62,92 Reue 174
Sollensethik 62ff, 129
Revolution, französische 85
Sozialkonformität 174, 182, 191 ff, 196, 202f.
Rhetorik 95-99,234
Strebensethik61ff, 191, 196,204
Scham 172f.
Subjekt 46, 70ff, 80f, 118, 147f, 190 Subjektivierung 140f, 189
Relativismus 130f, 141 Religion 230, 237
Schauspieler 173
Souverainität 77
Schein 19, 29
Sublimierung 10 Supererogation 191
Schönheit 127f, 139-145, 160, 171
Syllogistik 17
257
Sachregister Symbol 15,43
Vielheit 87f, 147
Synthese 23-27, 30-34, 46, 50, 52
Vollendung 123, 137-140, 146 Vollkommenheit 138
Tapferkeit 108-111, 114f, 118, 121f., 166f. Techne 95-99
Vornehmheit 60ff, 66ff, 82-86, 89, 92, 157179,211,217
Teleologie 3, 18, 22, 74, 165, 185,212 Timokratie 11 Off.
Wahrheit 26-32, 43-46, 54, 128, 130, 184
Toleranz 9, 179
Wahrnehmung 24f, 29f.
Tradition 153-159, 168, 185, 235ff.,240
Weisheit 16, 18, 20, 22, 47f, 54f, 108f, 114-
Tragödie 14f.,41f.
122
Trieb 206
Welt 33^0, 43-51,54, 81-89
Tugend lOOf, 107-128, 158, 164, 180-184
Weltverständnis 21 Off, 231,233ff.
Typologie 11, 166, 197
Werden 28ff, 126f, 151,208,218
Tyrannis 99f, l lOff.
Wert 32, 130-132,142 Wiederkehr, ewige 48, 217-240
Überlegenheit 162, 165-168
Wille, Wollen 5, 69-85, 89f., 97-100, 207ff.,
Übermensch 6f, 199-202, 230f.
230f.
Übung 104, 114, 189, 202
Wille bei Schopenhauer 20ff, 28
Umlenkung der Seele (
) 90ff.
Wille zur Macht 12, 23, 131, 138, 157, 171,
Umwertung 58
205-217,231
Unbeherrschtheit 98
Willensfreiheit 69, 76, 150, 189, 192
Universalität 196
Willensschwäche 84f, 87, 131
Ursache 74, 102, 125f, 207-210,239
Wissenschaft 17,48ff., 86
Urteil 141 f.
Wohlberatenheit 115f.
Urteilskraft 16, 54, 56 Utilitarismus 17, 145, 150, 168f., 177
Zeit 87f, 104ff., 108ff, 137, 187, 218, 226-229 Ziel 54, 79-84, 89ff., 97f, 122, 124, 127, 133,
Verantwortung 9, 192
138f., 162ff., I69f, 175ff, 184, 186, 190,
Vergessen 46f.
198, 200ff.,215,220,231
Vermögen 73, 77£, I02ff, 108ff, 120£, 134, 139, 178,219,238 Vernunft 16-20, 54f., 58f, 72f, 117-120, 124, 126
Zirkel 83f, 88ff., 159,236, 239f. Zufall 220 Zurückübersetzung 212ff, 217,233 Zweck 4,40, 74f., 99,216, 220
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