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German Pages 237 [240] Year 1982
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
w DE
G
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herausgegeben von
Ernst Behler • Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel
Band 7
1982
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Interpretation als philosophisches Prinzip Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß
von
Johann Figl
1982
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Publiziert mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des „Fonds 600 Jahre Wiener Universität" der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien.
Anschriften
der
Herausgeber:
P r o f . D r . E r n s t Behler Comparative Literature G N - 3 2 University of W a s h i n g t o n Seattle, W a s h i n g t o n 9 8 1 9 5 , U . S . A . P r o f . D r . Mazzino Montinari via d'Annunzio 2 3 7 , 1 - 5 0 1 3 5 Florenz P r o f . D r . W o l f g a n g Müller-Lauter Klopstockstraße 2 7 , D - 1 0 0 0 Berlin 3 7 P r o f . D r . Heinz W e n z e l Harnackstraße 1 6 , D - 1 0 0 0 Berlin 3 3
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Figl, Johann: Interpretation als philosophisches Prinzip: Friedrich Nietzsches universale Theorie d. Auslegung im späten Nachlass / von Johann Figl. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1982. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 7) ISBN 3-11-008532-1 NE: G T
© Copyright 1982 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J . Trübner - Veit & Comp. Printed in Germany - Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Walter Pieper, Würzburg Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld dankbar zugeeignet
Vorwort Friedrich Nietzsches Ansätze zu einer Theorie der Interpretation fanden weder in systematischen Entwürfen der Hermeneutik noch in den historischen Darstellungen dieser philosophischen Disziplin die ihnen gebührende Würdigung. Die vorliegende Untersuchung möchte zur Überwindung der Diskrepanz zwischen der sachlichen Bedeutung des Auslegungsverständnisses dieses Denkers und dessen Rezeption beitragen. Die — gewiß nicht unproblematischen — Aussagen der späten Fragmente Nietzsches sollen dadurch in die hermeneutische Diskussion der Gegenwart eingebracht werden. Die Ausarbeitung und Veröffentlichung dieser Monographie wurden durch eine Reihe von Umständen begünstigt, wofür ich vielen Personen zu danken habe. In erster Linie danke ich Herrn Univ.-Professor Dr. Michael Benedikt, mit dem ich die Thematik der Untersuchung von Anfang an in zahlreichen Gesprächen erörtern konnte. Ebenso möchte ich den Herausgebern der „Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung", in besonderer Weise Herrn Univ.Professor Dr. Wolfgang Müller-Lauter, für die umgehende Aufnahme der Studie in diese Reihe, sowie dem Verlag für die vorzügliche Betreuung der Drucklegung danken. Für die Übernahme des Druckkostenzuschusses bin ich dem „Fonds 600 Jahre Wiener Universität" der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien und dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung zu großem Dank verpflichtet. Herr Univ .-Professor Dr. Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, der seit Jahren die Atheismusforschung durch zahlreiche Studien und Beiträge im Grenzbereich zwischen Philosophie und Theologie weitergeführt und vertieft hat, brachte meiner Beschäftigung mit diesem Forschungsgebiet, im besonderen auch der Auseinandersetzung mit dem Denken Nietzsches, stets wohlwollendes Interesse entgegen. Als Zeichen der Dankbarkeit für die vielfache Förderung, die mir in persönlicher und wissenschaftlicher Hinsicht zuteil wurde, widme ich ihm dieses Buch. Wien, den 26. Oktober 1981
Johann Figl
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Einleitung
VII 1
A) Zum Motivationshorizont der Themenstellung
1
B) Die gegenwärtige Forschungssituation
2
1. Zur Würdigung der Philosophie Nietzsches innerhalb der hermeneutischen Literatur 2. Die hermeneutische Thematik innerhalb der Nietzsdie-Literatur
2 5
C) Motive für die Eingrenzung der Arbeit auf den späten Nachlaß .
10
1. Die Rezeption hermeneu tischer Aspekte des frühen Werkes . 2. Die zentrale Bedeutung der Interpretationsthematik im Spätnachlaß 3 Die neue, manuskriptgetreue Textbasis des ,KGW' . . .
10
D) Probleme der Interpretation nachgelassener Fragmente (Methodische Vorfragen) 1. Die fragmentarische Gestalt des Nachlasses und die Schwierigkeiten sachgerechter Deutung 2. Das Fragment im Verhältnis zum Ganzen des Nachlasses . . a) Das Dilemma zwischen dissoziierender Fragmentarisierung und vereinheitlichenderSystematisierung 19; b) Die Einheit und Ganzheit der fragmentarischen Vielfalt 22; c) Konsequenzen für die Fragment-Interpretation 24;
13 14 17 17 19
3. Prinzipielle Interpretationsansätze hinsichtlich des Gesamtnachlasses
27
E) Leitbegriff der Hermeneutik und systematische Gliederung der Arbeit
28
1. Die heuristische Funktion der Vorbegriffe „Interpretation" bzw. „Hermeneutik" 2. Aufbau der Arbeit
28 31
IX
Inhaltsverzeichnis 1. Teil: Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche 1. Vorbemerkung 2. Zur systematischen Funktion von Titel- und Plänentwürfen
.
37 38
1. Kapitel: Ein hermeneu tischer Entwurf der Ontologie 1. Die Problemstellung vor dem Hintergrund der hermeneutisdien Ansätze Gadamers und Heideggers a) Sprachontologisdie Wendung der Hermeneutik 41; b) Die hermeneutische Grundlegung der Ontologie 42
41
2. Inhaltliche Analyse der Titelthematik a) Erstmalige Nennung der „Auslegung alles Geschehens" im Untertitel zum .Willen der Macht' 44; b) Die ontologische Ausweitung im Verständnis des „Willens zur Macht" 45; c) „Auslegung, nicht Erklärung" 47; d) Kritik der mechanistischen Welterklärung 49
44
3. Dimensionen der „neuen Auslegung" a) Die Auslegungsstruktur und Relativität menschlichen Erkennens 50; b) Die Neuheit der Auslegung 52; c) Der „täuschende Dämon" im Wesen der Dinge — eine nihilistische Ontologie als Alternative 54; d) Die „neue Auslegung" als Bestimmung des „Willens zur Macht" (Zusammenfassung) 55
50
2. Kapitel: Projekte der Hermeneutik spezifischer Seinsregionen
.
41
.
57
1. „Wille zur Macht" als einheitlicher Interpretationsansatz . . a) Die neue Auslegung der Gegenstandsbereiche der Philosophie bzw. einzelwissenschaftlicher Disziplinen 58; b) „Auslegung" als Thema eines geplanten Kapitels 59 2. Der Zusammenhang von Nihilismus und moralischer Interpretation (Sommer 1886 — Februar 1888) a) Nihilismus als Ende der moralischen Interpretation 60; b) Wahrheit und Schein angesichts des Nihilismus 63 3. Die Perspektive der Umwertung und die letzten Publikationsprojekte 4. Die sich durchhaltende Perspektive der Auslegung (Metareflexion zur Titelgebung)
58
60
63 64
2. Teil: Interpretieren als ontologisches Geschehen Vorbemerkung zur Problemstellung 3. Kapitel: Interpretation im Horizont einer pluralen Ontologie des Werdens
71 73
χ
Inhaltsverzeichnis
Α) Werden als Grundcharakter des Seins und des Auslegens . . . 1. Nietzsches Verwandlung des Seinsbegriffs a) Kritik am Begriff „Sein" 74; b) Unerkennbarkeit und Unbekanntheit des Seins 76; c) „Autonomie" des Seins 77 2. Sein als Werden a) Wechselseitige Bestimmung von Sein und Werden 78; b) Zeitlichkeit als Struktur des Seins 79 3. Wille zur Macht — das innerste Wesen des Seins . . . . 4. Interpretation als Prozeß des Werdens
73 74
B) Plurale Konstitution des „Subjekts" der Auslegung
81
.
.
.
.
1. Ontologische Singularität und/oder Pluralität des Machtwillens? a) Zur Konkretisierung der Problemstellung 81; b) Ein alternativer Lösungsansatz 83 2. Die Notwendigkeit von gegensätzlichen „Etwas" im Agieren der Macht 3. Machtquanten als Basis einer „Monadologie des Willens zur Macht" 4. Werden — die Seinsweise der Machtquanten 5. Die modifizierte Frage nach dem „Wer" der Interpretation . 6. Plurale Struktur des Willens zur Macht und Auslegung . . a) Gegensätzliche „Zentren" als Bedingung eines interpretativen Geschehens 92; b) Das Interpretieren des einen Willens zur Macht und die Interpretationen von vielen Machtzentren aus 93 4. Kapitel: Der Macht-Charakter der Interpretation
78
80 81
81
85 86 89 90 92
94
A) Charakteristische Aspekte des Machtwillens
94
1. „Macht" als Ziel und Inhalt des „Willens" 2. Steigerung und Machterweiterung a) Steigerung als Wesen der Macht 97; b) Machtwollen im Ohnmächtigen (Universalität der Macht) 99 3. Vereinfachende Organisation
95 97 101
B) Interpretation als Erscheinungsweise der Macht
102
1. Auslegung als Medium des Machtwillens 2. Macht als Kriterium der Interpretation
102 103
5. Kapitel: Der perspektivische und interpretative Charakter alles Geschehens A) Machtgeschehen als perspektivensetzender Prozeß
.
.
.
.
1. Wandel der Machtsphäre und Änderung des „perspektivischen Blicks"
105 105 105
XI
Inhaltsverzeichnis
2. Die „genaue" Wahrnehmung in der anorganischen Welt . a) Unterschiede zum Perspektivismus des Lebendigen 107; b) Vor formen des Perspektivismus 108 B) Pluralität — Ursprung der Perspektivität 1. Die „neue Auslegung" der organischen Wesen . . 2. Kampf als Entstehungsgrund der Perspektivität .
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C) Perspektivische Konstitution der „Objekt-Welt" . . . . 1. „Welt" — Inbegriff von spezifischer Aktion und Reaktion 2. Die Aufhebung des Unterschiedes von „scheinbarer" und „wahrer" Welt 3. Perspektivismus als Bedingung der Scheinbarkeit . 4. Die Unumgänglichkeit „subjektiven" Interpretierens für die Gegenstandskonstitution
115
3. Teil: Anthropologische Grundstrukturen der Interpretation Vorbemerkung 6. Kapitel: Pluralität der Interpretation aufgrund der Subjektkonstitution A) Eine Anthropologie „am Leitfaden des Leibes" . . . . 1. Der Leib als Synthese einer Vielheit von „lebenden Wesen" 2. Das Verbindungssystem der vorbewußten „Intelligenzen" 3. Vielheit und Einheit des Subjekts 4. Die relative Dauer subjektiver Einheit 5. Das plurale leibliche Geschehen als Interpretieren . B) Die Abhängigkeit des Bewußtseins von organisch-leiblichen Bedingungen 1. Die Bedeutung des Zusammenhangs für das Interpretationsproblem 2. Organische Vorbedingungen des Bewußtseins . . . . C) Die Vielheit der Triebe als Bedingung der Mannigfaltigkeit in der Welt- und Objektauslegung 1. „Bewußtwerdung" des Unbewußten in den Trieben . 2. Einheit und Vielheit der Triebe 3. Existenzbedingungen und Triebveränderungen 4. Perspektivität triebbedingten Erlebens 5. Die Weltauslegung als Symptom und Sublimierung des herrschenden Triebes 6. Pluralität und Mannigfaltigkeit menschlicher Auslegung .
121
XII
Inhaltsverzeichnis
7. Kapitel: Interpretation durch Vereinfachung, Selektion und Assimilation A) Vereinfachung innerhalb der leiblichen Vielheit 1. Vorbewußte Selektion 2. Die Vereinheitlichung menschlichen Interpretierens durch unbewußte und bewußte Strategien B) Die Selbstauslegung des Menschen durch vereinfachende Interpretation 1. „Subjekt"—eine Zurechtmachung durch das Subjekt. . . 2. Die „doppelte" Struktur menschlichen Bewußtseins . . . 3. Das Verhältnis zu sich selbst als Auslegungsgeschehen . . a) „Seele" als Ausdruck und Auslegung 146; b) Die Herausbildung eines Typus durch Auswahl aus einer Vielfalt 147 C) Logische Auslegung der Welt durch Assimilation 1. Die Frage nach den Hintergründen der Logik 2. Logische Identität als Resultat prälogischer Assimilation . . 3. Worte und Begriffe als „Zusammenfassungen" vorsprachlicher Sinneseindrücke a) Ein zweistufiges Modell der Genese von Begriffen 151; b) Die sinnlich-emotionale Basis des Begriffs 153 4. Assimilation als organische und geistige Grundfunktion . 5. Schematisierende Auslegung als Vorbedingung logischer Welterfassung 8. Kapitel: Semiotisches Verstehen A) Die Zeichensprache des Bewußtseins 1. Die semiotische Struktur des Denkens und der Logik . . . a) Der Gedanke als „vieldeutiges Zeichen" 159; b) Von der Vieldeutigkeit zur Eindeutigkeit durch selektive Auslegung 159; c) Der Verweisungsbezug der Zeichenhaftigkeit des Gedankens 161; d) Logik als Zeichensprache 162 2. Die semantische Tiefendimension des Denkens a) Der Gedanke als Kompromißbildung der Triebwelt 162; b) Gedankenverbindung als Triebgeschehen 163 B) Zeichen im Dienste der Verständigung und im Interesse der Naturbeherrschung 1. Zeichen als Ursprung der Verständigung zwischen Lebewesen . a) Die Sprache als Zeichensystem 165; b) Die gnoseologische Defizienz der Sprache 166; c) Konstituierung der linguistischen Zeichen-„Welt" 167; d) Zwischenmenschliche „Verständigung" anstatt Objekt-,,Verstehens" 168; e) Gleichheit der Zeichen als Bedingung des Überlebens 169
140 140 140 142 143 143 145 146
148 148 149 151 154 155 158 159 159
162
165 165
XIII
Inhaltsverzeichnis
2. Zeichen — Instrumente der Naturbeherrschung . . . . a) Wissenschaft als Symptomatologie 170; b) Die abkürzende „Beschreibung" der Wissenschaft 171; c) Vereinfachende Zeichen zur Beherrschung der vielfältigen Wirklichkeit 171 3. Die Restriktion des Erkenntnis- und Wahrheitsbezugs vor dem Hintergrund der Zeichenlehre in der traditionellen Hermeneutik und neueren Semiotik a) Signum et res — ein hermeneutisches Grundschema 174; b) Der semantisdie Aspekt des Zeichens und der Semiotik 175
170
174
4. Teil: Objektbezug und Wahrheitsanspruch der Interpretation Vorbemerkung 9. Kapitel: Erkenntnistheoretische des Subjekt-Objekt-Gegensatzes
181 und sprach kritische
Relativierung 182
1. Die Vorgängigkeit der Wirkung des Objekts im Verhältnis zur Erkenntnis des Subjekts a) Die Umkehrung von Ursache und Wirkung als Modell für die Neubestimmung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses 142; b) Die Zirkelstruktur des Objekt-Verstehens 183 2. Die Einordnung des Objekts in die Subjektssphäre . . . . 3. Ungegründetheit und Unbeweisbarkeit des „Subjekts" . . a) Sprachkritische Destruktion der Begriffe „Subjekt", „Objekt" und „Prädikat" 186; b) Das Denken des Subjekts als Gedachtwerden durch einen uns täuschenden „Gott" 188 10. Kapitel: Fälschende Interpretation „Wahrheit"
als Grundvoraussetzung
182
185 186
von
1. Die Relevanz der Wahrheitsfrage für die Hermeneutik . . 2. Die universale Dimension der „Falschheit" a) Die wahre Welt — eine falsche 193; b) Die Lüge als Grundcharakter des Lebens 196 3. Interpretation als notwendige Verfälschung 4. Motiv und Kriterium der Wahrheitssuche a) Nietzsches Fragen und Gegenfragen 200; b) Nützlichkeit — Kriterium der Wahrheit 201 5. Wille zur Wahrheit als interpretierender Wille zur Macht. . Zusammenfassende Perspektiven A) Das immanente Beziehungsgefüge der Interpretationstheorie Nietzsches 1. Die Frage nach übergeordneten Gesichtspunkten . . . .
192 192 193
197 200 202 205 205 205
XIV
Inhaltsverzeichnis
2. Der formal-methodische Grundansatz 3. Der material-inhaltliche Basis-Satz 4. Das wechselseitige Beziehungsverhältnis der interpretationstheoretischen Ausführungen
206 207 207
B) Die Universalität des Interpretationsverständnisses . . . . 1. Interpretation als Prinzip der Philosophie 2. Interpretation als universal-ontologisches Prinzip . . . .
208 208 209
C) Ansatzpunkte für eine Kritik
209
Literaturverzeichnis
213
Personenregister
219
Sachregister
221
Einleitung Α) Zum Motivationshorizont der Themenstellung Die Untersuchung einer spezifischen Thematik bei einem bestimmten Philosophen steht in einem zweifachen Interessenhorizont, in dem jeweils der eine oder der andere Aspekt die entscheidende Motivation bilden kann: entweder ist die Wahl der Problemstellung primär von der Sache als solcher oder im überwiegenden Ausmaß vom Interesse am Autor bestimmt, in dessen Schriften das betreffende Thema behandelt wird. Im ersteren Fall steht der thematische Gegenstand an sich im Mittelpunkt der Untersuchung, während die Ausführungen eines bestimmten Philosophen nur als spezifischer Beitrag dazu gewertet werden, im andern Fall hingegen geht es vor allem um das denkerische Anliegen des Philosophen selbst, und erst danach um die Frage, inwiefern sich die untersuchte spezielle Thematik in den Kontext seines Gesamtschaffens einfügt. Eine sowohl an der Sache als audi am denkerischen Anspruch einer bestimmten Philosophie interessierte Studie wird aber nicht daran umhin können, den inneren Zusammenhang beider Fragerichtungen zu beachten und sie nodh vor der spezifischen au tor- bzw. sachbezogenen Ausfaltung in ihrer ursprünglichen Einheit zu bedenken. Dies ist möglich, wenn das Sachproblem nicht unabhängig von seinen konkreten Artikulationsformen in Geschichte und Gegenwart gesehen wird, und wenn in umgekehrter Weise die verschiedenen Ansätze philosophischer Grundkonzeptionen im Hinblick auf die in Frage stehende Problematik gelesen werden. Dieser letztere Versuch muß zwar einerseits mit der Möglichkeit einer Fehlanzeige rechnen, da es nicht auszuschließen ist, daß ein bestimmter Denker diese oder jene Thematik — zumindest was seine expliziten Ausführungen betrifft — nicht oder nur peripher zur Sprache bringt; doch kann auch andererseits nicht jener Idealfall ausgeschlossen werden, in dem sich als Resultat der Untersuchung zeigt, daß sich die an das Werk eines Denkers „herangetragene" spezielle Sachfrage als fundamentale Thematik desselben erweist. Die Untersuchung des besonderen Problems vermag sich dann als Erörterung des Grundansatzes eines Philosophen zu erweisen, so daß zugleich das Interesse an eben dieser Sache die intensivere Auseinandersetzung mit der jeweiligen Philosophie motiviert. Die zuletzt angesprochene Möglichkeit einer Kongruenz zwischen dem am spezifischen Sachproblem und dem am Autor orientierten Interesse bot eine
2
Einleitung
Orientierung für die Behandlung der Interpretationsthematik bei Friedrich Nietzsche. In der Durchführung der vorliegenden Studie bewährte sich der genannte heuristische Ansatz, ja er wurde in unerwarteter Weise überboten: denn die Frage nach der Auslegung ist in Nietzsches spätem Nachlaß nicht nur ein zentrales Thema seiner philosophischen Reflexionen, sondern der Begriff „Interpretation" bildet ein fundamentales Prinzip seines Denkens, das als Inbegriff seiner späten Philosophie verstanden werden kann. Das einheitliche Interesse, das sich in der beschriebenen Problemkonstellation ausdrückt, steht seinerseits aber in einem jeweils verschiedenen philosophiegeschichtlichen Kontext, je nachdem, ob man von der Geschichte der Hetmeneutik her die Frage im Hinblick auf das Werk Nietzsches stellt, oder umgekehrt die bisherige Nietzsche-Literatur daraufhin befrägt, inwiefern sie das Problem der Interpretation bei Nietzsche berücksichtigt hat. Diese Forschungssituation, die in jeweils unterschiedlicher Weise die vorliegende Untersuchung motivierte, soll im folgenden Abschnitt der Einleitung (B) kurz dargestellt werden. In diesem Überblick geht es nicht nur darum, die wichtigsten thematisch einschlägigen Abhandlungen vor Augen zu stellen, sondern dadurch soll audi die Problemstellung der vorliegenden Untersuchung näher expliziert und zugleich gezeigt werden, daß diese selbst sowohl von der gegenwärtigen hermeneutischen Diskussion als auch vom heutigen Stand der Nietzsche-Forschung her als Desiderat bezeichnet werden kann. In den weiteren einleitenden Darlegungen ist die Eingrenzung der vorliegenden Arbeit auf den späten Nachlaß Nietzsches zu begründen (C) und auf methodische Fragen der Interpretation dieses Nachlasses einzugehen (D); schließlich wird der Leitbegriff von „Hermeneutik" bzw. „Interpretation" erörtert und ein kurzer Überblick über den Aufbau sowie die Gedankenentwicklung der Arbeit im ganzen gegeben (E).
B) Die gegenwärtige Forschungssituation 1. Zur Würdigung der Philosophie Nietzsches innerhalb der hermeneutischen Literatur Die gegenwärtige Situation hinsichtlich der Erforschung von Nietzsches Beitrag zu einer philosophischen Theorie der Interpretation ist von einer eigentümlichen Diskrepanz gekennzeichnet. Einerseits nämlich ist man sich durchaus der epochalen Bedeutung des Denkens Nietzsches für die Erörterung der hermeneutischen Grundprobleme bewußt, andererseits trifft gleichwohl das Urteil G. Boehms, eines Schülers und Mitarbeiters Gadamers zu, daß man in Friedrich Nietzsche einen, „für die Grundlegung der heutigen Hermeneutik,
Die gegenwärtige Forsciiungssituation
3
selten gewürdigten Denker" erblicken könne.1 Die ambivalente Situation spiegelt sich in den Urteilen bedeutender Theoretiker in der neueren Geschichte der Hermeneutik wider. So hat H.-G. Gadamer in einem Vortrag zu Beginn der sechziger Jahre die epochemachende Bedeutung Nietzsches am Begriff der Interpretation aufgezeigt. Dieser Begriff habe bei Nietzsche „eine hochreflektierte Bedeutung erlangt", denn „seit Nietzsche verknüpft sich mit diesem Begriff der Anspruch, daß Interpretation erst das Eigentliche, das über alles subjektive Meinen hinausgreift, in legitimer Erkenntnis- und Deutungsabsicht erfaßt". 2 Dieses Urteil hat Gadamer in einem Beitrag jüngeren Datums noch grundsätzlicher formuliert: In der Kritik Nietzsches an den Zeugnissen des menschlichen Selbstbewußtseins, und der daraus resultierenden radikalen Kulturkritik, die eine epochale Wandlung des menschlichen Selbst Verständnisses zur Folge hatte, da „die Moderne von dem alles durchdringenden Einfluß Nietzsches datiert", „erlangte der Begriff der Interpretation' eine weit tiefere und allgemeinere Bedeutung. Interpretation meint nun nicht nur die Auslegung der eigentlichen Meinung eines schwierigen Textes: Interpretation wird ein Ausdruck für das Zurückgehen hinter die offenkundigen Phänomene und Gegebenheiten" .3 Eine noch gründlichere Verwandlung des Interpretationsbegriffes konstatiert P. Ricoeur; nach seinem Urteil war es Nietzsche, „der der Philologie ihren Begriff der Deutung, Auslegung entlehnte, um ihn in die Philosophie einzuführen", und mit ihm sei sogar „die gesamte Philosophie Interpretation" geworden.4 Nach der zitierten Aussage Ricoeurs hat Nietzsche eine hermeneutische Wende der Philosophie vollzogen. Angesichts eines solchen Urteils sowie auch der Feststellungen Gadamers und Boehms überrascht es umso mehr, daß Nietzsches Denken für die hermeneutische Reflexion, die sich in der jüngsten Philosophiegeschichte vor allem im Anschluß an Gadamers Werk ,Wahrheit und Methode'5 vollzog, keine auffallende oder gar tragende Bedeutung erlangt hat. Dies trifft nicht allein für das genannte Buch Gadamers zu, das als „das
Ι G. BOEHM, Einführung, in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hrsg. von H.-G. Gadamer und G. Boehm, Frankfurt/M. 1978, 12. 2 H.-G. GADAMER, Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Kleine Schriften I. Philosophie, Hermeneutik, Tübingen 1967,139. 3 H.-G. GADAMER, Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt/M. 1976, 93. 4 P. RICOEUR, Die Interpretation, Frankfurt/M. 1974, 38, vgl. 74; zu einer solchen thetischen Feststellung gelangt auch schon M. MATTHIAE, Nietzsche und das Problem der Auslegung, Diss. phil. Heidelberg 1952, VI: „Alles Denken ist Nietzsche Auslegen"; zur philologischen Herkunft des InterpretationsbegrifEs vgl. K. REINHARDT, Nietzsche und die Geschichte, in: DERS., Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960, 297. S GADAMERS Werk ,Wahrheit und Methode' erschien in erster Auflage in Tübingen 1960; im folgenden wird stets nach der zweiten, um einen Anhang erweiterten Auflage (1965) zitiert; zur Diskussion um dieses Werk vgl. den Sammelband: Hermeneutik und Ideologiekritik, mit Beiträgen von K.-O. Apel u. a., Frankfurt/M. 1971.
Einleitung
4
klassische Grundbuch der modernen Hermeneutik"
( W . Schulz)6
angesehen
werden darf, sondern weithin auch f ü r die daran anschließenden Kontroversen um die Grundlagen hermeneutischer Reflexion, w i e sie ζ. B . 2wischen Habermas und G a d a m e r geführt w o r d e n sind. 7 I n der neueren Diskussion der Hermeneutik vollzog sich nämlich die Auseinandersetzung mit dem D e n k e n Nietzsches höchstens in selektiver W e i s e , und dann nur in geringem A u s m a ß . E i n ähnlicher Tatbestand findet sich in wichtigen Nachschlagewerken der philosophischen Hermeneutik sowie in historischen und systematischen Gesamrdarstellungen dieser Disziplin. I m besonderen sind hier J. Wachs
.Grundzüge
einer Geschichte der hermeneutisdien Theorie im 1 9 . Jahrhundert' zu nennen, in denen Nietzsche nur als Nachfolger der psychologischen Auslegungstheorie der Romantik b z w . als Schüler F r . W . Ritschis, der ausführlicher behandelt ist, erwähnt wird. 8 I m Unterschied zum „ H e r m e n e u t i k " - A r t i k e l v o n G .
Ebeling9
6
W. SCHULZ, Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers, in: Hermeneutik und Dialektik, hrsg. von R. Bubner u. a., Bd. I , Tübingen 1970, 306.
7
V g l . d i e B e i t r ä g e v o n J . HABERMAS u n d H . - G . GADAMER in d e m in A n m . 5 a n g e f ü h r t e n
Sammelband, 45 ff. und 120 ff., bzw. 57 ff. und 283 ff. 8 Vgl. J . WACH, Das Verstehen, Bd. 1, Tübingen 1926, 138, Anm. 3: den romantischen Theoretikern Fr. A. Wolf und Schleiermacher, dann Schopenhauer „ist der größte Psychologe des 19. Jahrhunderts gefolgt: Friedrich NIETZSCHE, der zur Theorie gerade des subjektiven Verstehens das Tiefste, in seinen Schriften zerstreut, gesagt hat"; FR. W. RITSCHL, der Lehrer und große Förderer Nietzsches, ist in Bd. 3, 273 ff. dargestellt; zur schicksalhaften Bedeutung Ritschis im Leben Nietzsches und für dessen Verhältnis zur Philologie als Student und kurz darauf als Professor vgl. R. BLUNCK, Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend, München/Basel 1953, 147 ff.; ferner NietzscheChronik, zusammengestellt von K. SCHLECHTA, München/Wien 1975, 25 ff.; die Hodischätzung Wolfs durch Nietzsche erwähnt E. BEHLER, Nietzsche und die Frühromantische Schule, in: Nietzsche-Studien 7 (1978) 78; vgl. aaO. 93 den Diskussionshinweis auf Nietzsches Verhältnis zu SCHLEIERMACHER; die Beziehung zu diesem Initiator der neueren philosophischen Hermeneutik wurde in einigen, in der Internationalen NietzscheBibliographie (siehe unten Anm. 13) angeführten Untersuchungen erörtert, jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt der Hermeneutik. Neben dem profunden Werk von Wach vgl. ferner den Überblick von F. SCHMIDT, Die Theorie der Geisteswissenschaften vom Altertum bis zur Gegenwart, München 1931, 108 ff. (Darstellung Nietzsches). In Untersuchungen über das wechselseitige Verhältnis zwischen Nietzsche und dem wohl bedeutendsten Theoretiker des geisteswissenschaftlichen Verstehens, nämlich DILTHEY, werden jeweils nur spezifische Aspekte dargestellt: vgl. J . KAMERBEEK, Dilthey versus Nietzsche, in: Studia philosophica 10 (1950) 52 ff., der besonders die Kritik Diltheys an Nietzsches subjektivistischer introspektiver Methode hervorhebt (53) und nochmals hinterfrägt (vgl. 6 0 f . , 70ff.); vgl. dazu die Antwort von G. MISCH, in: Die Sammlung 7 (1952) 378ff., siehe ferner W. MAUER, Diltheys Kritik an Nietzsche, in: Berliner Hefte 4 (1949) 458 ff.; vielfach wird Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtung .Uber Nutzen und Nachteil der Historie' als Vorläufer jener Problemstellung betrachtet, die dann bei Dilthey und Troeltsch ganz im Zentrum der Überlegungen zur geisteswissenschaftlichen, besonders der historischen Methodologie, steht: vgl. W. WINDELBAND, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 161976, 619, und unten Anm. 29. Siehe nun auch: J . FIGI,, Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung Diltheys, Heideggers und Gadamers, in: Nietzsche-Studien 10/11 1981/1982), bes. 412 ff. und 423 ff.
Die gegenwärtige Forschungssituation
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wird Nietzsche von Gadamer im ,Historischen Wörterbuch der Philosophie* nicht unter dem Begriff „Hermeneutik" berücksichtigt; er wird nur im Artikel „Interpretation" erwähnt.10 Auch aus der , B i b l i o g r a p h i e der Hermeneutik und ihrer Anwendungsbereiche' von N. Henrichs ist zu ersehen, daß Nietzsche in dieser philosophischen Disziplin praktisch unberücksichtigt geblieben ist.11 Zusammenfassend läßt sich nach dem bisher Dargelegten sagen, daß in der einschlägigen hermeneutischen Literatur Nietzsche weder in seiner historischen Stellung zu dieser Disziplin noch in systematischen Überlegungen in umfassender Weise gewürdigt wird. Dieser Tatbestand als solcher legt es nahe, Nietzsches Ansätze zu einer hermeneutischen Theorie eigens herauszustellen und in ihrem systematischen Zusammenhang zu erfassen, um dadurch sowohl seine Bedeutung innerhalb der Geschichte dieser Disziplin der Philosophie als audi seinen möglicherweise bedeutsamen Beitrag zu ihrer Systematik würdigen zu können.
2. Die hermeneutische Thematik innerhalb der Nietzsche-Literatur Eine ähnlich zwiespältige Situation wie im Bereich der hermeneutischen Literatur hinsichtlich des Beitrages Nietzsches zeigt sich in der Nietzsche-Literatur, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Hermeneutik betrachtet. So wird einerseits sowohl in neueren philosophischen Gesamtdarstellungen dieses Denkers als auch in spezielleren Studien diese Frage zwar ausdrücklich berücksichtigt und teils auch in einem größeren Umfang gewürdigt, doch ist andererseits das Fehlen einer eigenen Untersuchung darüber zu konstatieren. Die Internationale Nietzsche-Bibliographie12, einschließlich ihrer Ergänzungen in den .Nietzsche-Studien'13, verzeichnet keinen Titel zu diesem Thema. Der erwähnte Mangel erstaunt umso mehr, als in den grundlegenden Arbeiten von Jaspers, Heidegger und Fink die zentrale Bedeutung der InterpretationsVgl. G. EBELING, Art. Hermeneutik, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 3, 1959, 256, der die Nachwirkung Nietzsches (und Kierkegaards) darin erblickt, daß man nun weiß: „Es gibt kein voraussetzungsloses Verstehen." Die Tatsache, daß Nietzsche in dem Artikel .Hermeneutik', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1061 ff., nicht erwähnt wird, ist überraschend, da H.-G. GADAMER an anderen Stellen (siehe oben Anm. 2 und 3) dessen Bedeutung für das hermeneutische Problem hervorhebt; in dem von H. ANTON verfaßten Art. Interpretation wird Nietzsches Gebrauch des Begriffs .Interpretation' „als Ausdruck des Rüdegangs hinter das Selbstbewußtsein" verstanden (aaO. Bd. 4, 515). 11 Düsseldorf 1968; in dieser Bibliographie wird im Abschnitt .Philosophische Hermeneutik' (17-52) kein Titel zu Nietzsche angeführt. 12 H. W . REICHERT / K . SCHLECHTA, International Nietzsche Bibliography, Chapel-Hill 1968; diese Bibliographie verzeichnet 4566 Titel! 13 H. W . REICHERT, International Nietzsche Bibliography 1968 through 1971, in: NietzscheStudien 2 (1973) 320 ff., und die Fortführung für die Jahre 1972 bis 1973 im Band 4 (1975) 350 ff. 9
6
Einleitung
thematik ausdrücklich zur Sprache kommt. Jaspers,
der sein Nietzsche-Werk
erstmals 1 9 3 6 veröffentlichte u , widmete darin ein eigenes Kapitel der Weltauslegung dieses Denkers. 1 5 Unter anderen Gesichtspunkten spricht
Heidegger
in seinen Vorlesungen aus den Jahren 1 9 3 6 bis 1 9 4 0 bzw. in den Abhandlungen von 1 9 4 0 bis 1 9 4 6 , die erst 1 9 6 1 in zwei Bänden veröffentlicht wurden 1 6 , die hermeneutische Fragestellung an, nämlich vor allem unter den Aspekten des Schemabedürfnisses, der Horizontbildung, des Perspektivismus und der Verständigung. 17 Fink kommt im Zusammenhang der Erörterung des „Willens zur Madit" auf dessen Charakter als „Auslegung" zu sprechen 1 8 . Trotz der deutlichen Hervorhebung der hermeneutischen Problematik haben die genannten Werke keine intensivere Beschäftigung damit provoziert. Die forschungsgeschichtliche Situation wird audi nicht durch die wichtige und für die Thematik einschlägige, aber gleichwohl kaum bekannte Dissertation K. Löwiths verändert, deren Titel .Auslegung von Nietzsches Selbst-Interpretation und von Nietzsches Interpretationen' lautet. 1 9 In dieser unveröffentlicht N K. JASPERS, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/ Leipzig 1936. 15 AaO. 255-292. M. HEIDEGGER, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961; von den zahlreichen Untersuchungen zum Verhältnis Heidegger — Nietzsdie im Anschluß an diese Publikation vgl. K. LÖWITH, Heideggers Vorlesungen über Nietzsdie, in: DERS., Aufsätze und Vorträge 1930-1970, 84 ff.; G. ROHRMOSER, Anläßlidi Heideggers Nietzsche, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 6 (1964) 35-50; J. MÖLLER, Nietzsdie und die Metaphysik. Zu Heideggers Nietzscheinterpretation, in: Theol. Quartalschrift 142 (1962) 283 ff., F. LEIST, Heidegger und Nietzsdie, in: Philos. Jahrbuch 70 (1963) 363 ff.; siehe generell: E. HEFTRICH, Nietzsche im Denken Heideggers, in: Durchblicke (M. Heidegger zum 80. Geburtstag), Frankfurt/M. 1970, 331 ff. 17 Vgl. bes. aaO. Bd. I, 570 ff. und 577 ff. 18 E. FINK, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 21968, 160 f. 19 Die Dissertation LÖWITHS wurde 1923 an der Philosophischen Fakultät I der Universität München eingereicht; „gleichzeitig erschien eine hektographierte Zusammenfassung auf einem Doppelblatt von 4 S. 8° für die Bibliotheken", wie K. STICHWEH in der Gesamtbibliographie Karl Löwith, 466, mitteilt. (Diese Bibliographie ist in der 7. Auflage von K. LÖWITH, Von Hegel zu Nietzsche, Hamburg 1978, 465-495, enthalten). — Die Beziehung zu Heidegger stellt Löwith in einer Anmerkung zu Beginn seiner Dissertation heraus: „Hier sei ein für alle mal bemerkt, daß sich die methodischen Grundgedanken dieses Versuchs aus dem Studium der Vorlesungen (1919-22) Dr. M. Heideggers in Freiburg ergaben. (Ihm sei an dieser Stelle der Dank ausgesprochen für seine entscheidende philosophische Förderung; sie schließt in sich die persönliche und wissenschaftliche). Da seine Arbeiten noch nicht veröffentlicht sind, ist es unmöglich, im Einzelnen darauf zu verweisen" (5). Im Hinblick auf die spätere Kritik Löwiths an Heidegger mag es nicht uninteressant sein, zu beachten, daß der Klammerausdruck des hier zur Gänze wiedergegebenen Zitats in dem mir vorliegenden Manuskript-Exemplar der Universitätsbibliothek München überklebt ist. — Doch nun zum sachlichen Ansatz der Interpretation Löwiths: er erblickt den Grundkonflikt Nietzsches im „Zusammenstoß seiner philosophisdi-principiellen Tendenzen mit einer ihnen unangemessenen, wider-siiinigen, einzelwissensdiaftlidien & speciell naturwissenschaftlichen Denkweise" (3). Das Grundproblem bestehe in dem Gegenüber von vita: Veritas, Leben und Erkennen, sowie
Die gegenwärtige Forschungssituation
7
gebliebenen Arbeit geht es also vornehmlich um den Spezialfall der Selbstauslegung und sodann um die D e u t u n g v o n spezifischen, vor allem religiösen und moralischen Phänomenen, jedoch nicht u m Nietzsches hermeneutischen Grundansatz. D i e v o m Ansatz her bedeutsame Arbeit Löwiths macht deshalb eine Untersuchung der Interpretationstheorie Nietzsches nicht nur nicht überflüssig, sondern erfordert eine solche geradezu, insofern sich nämlich die Frage nach den allgemeinen Prämissen des Auslegens, die der Interpretation besonderer Auslegungen, w i e es die Moral, die Religion und — in einer noch komplexeren W e i s e — das Verständnis des eigenen Selbst sind, vorausgehen, nur i m Horizont eines umfassenderen Interpretationsbegriffes in prinzipieller und systematischer W e i s e beantworten läßt. D e r Forschungsstand wurde auch nicht wesentlich durch z w e i 1 9 7 3 b z w . 1 9 7 5 publizierte Artikel aus dem angelsächsischen Raum verändert. D e r Titel eines Aufsatzes lautet direkt ,Hermeneutic in Nietzsche' 2 0 ; in d e m anderen wird die Frage, warum einige Interpretationen besser als andere sind, aufgeworfen. 2 1 D e r erste befaßt sich mit der bekannten Aussage Nietzsches über die Auslegung eines Aphorismus aus der Vorrede zur ,Genealogie der Moral' 2 2 , also in anderen ungeklärten Alternativen (Sein und Werden, Bewußtes und Unbewußtes, Sein und Bedeuten usf.) (vgl. 1). In diesen theoretisch ausgeformten alternativen Kategorien „(entwickelt sich) die gesamte Interpretationsproblematik N(ietzsche)s" (12); dodi — so die These Löwiths — gelangt Nietzsche nicht zu einer Lösung dieses Dilemmas, bzw. kommen seine radikalen Tendenzen nicht zum Durchbruch (vgl. 12), da er aufgrund der geistesgeschichtlichen Lage in einer bloß reaktiven Weise der kritisierten naturwissenschaftlichen Auslegungsart verhaftet bleibe. Erst — und diese Feststellung ist im Hinblick auf unsere Arbeit bedeutsam — „im Willen zur Macht nähert sich N(ietzsche) einer wirklichen Uberwindung der naturalistischen Denkweise", und zwar durch die Überzeugung, es gebe keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen (7). Löwith selbst geht jedoch auf den späten Nachlaß nicht mehr unter dem leitenden Gesichtspunkt der Auslegungsproblematik ein, sondern er gibt selbst im vierten und letzten Kapitel seiner Dissertation eine Interpretation, und zwar die „Interpretation der Lehre von der ewigen Wiederkunft" (97 ff.), also jener Thematik, die in seiner bekannten Arbeit den Hauptgesichtspunkt der Nietzsche-Darstellung bildet: K. LÖWITH, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin 1935, Hamburg 3 1978. In den vorhergehenden Kapiteln setzt er sich, wie erwähnt, mit Nietzsches Selbstauslegung (Kap. 1 und 2) und mit Nietzsches Interpretationen moralischer und religiöser Phänomene (Kap. 3) auseinander. Löwith hat somit eindringlich auf die Auslegungsthematik hingewiesen, und zwar auch mit Bezug auf den späten Nachlaß, jedoch keine Darstellung von Nietzsches Theorie der Auslegung gegeben und dies auch nicht beabsichtigt. 20 Μ. A. BERTMAN, Hermeneutic in Nietzsche, in: The Journal of Value Inquiry 7 (1973) 254 ff. 21 CH. Η . SEIGFRIED, Why are some Interpretations better than others?, in: New Scholast 49 (1975) 140 ff. 22 In der Nr. 8 der Vorrede heißt es: „Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, daß er abgelesen ist, noch nicht .entziffert'; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen" (KGW VI/2, 267 [ = Kritische Gesamtausgabe, Werke, Abteilung 6, Band 2, Seite 267]); vgl. dazu Y. LEDURE, L'Aphorisme Nietzscheen comme composition du texte, in: Revue de Sciences philosophiques et theologiques 59 (1975) 428 f.
8
Einleitung
mit einer sehr speziellen und zudem nur auf eine äußerst sdimale Textbasis gestützten Problematik; der letztere Beitrag erstreckt sich über zahlreiche Aphorismen des ,Willens zur Macht' 2 3 — die Fülle des Nachlaßmaterials und der darin enthaltenen Notizen zu diesem Themenkreis konnte allerdings in dem begrenzten Umfang eines Zeitschriftenartikels nicht ausreichend behandelt werden. Gleichwohl ist es ein Verdienst der genannten Aufsätze, auf die Relevanz der Themen
„Hermeneutik"
und
„Interpretation"
innerhalb des
Werkes
Nietzsches aufmerksam gemacht zu haben. Schließlich ist noch auf die neuere Rezeption Nietzsches im französischen Sprachraum zu verweisen, die in zahlreichen Beiträgen hermeneutisch relevante Aspekte anspricht, jedoch — mit Ausnahme eines Beitrages von M. Foucault
—
nicht das Verständnis der Interpretation als Gesamtphänomen behandelt. 2 4 Vor dem Hintergrund der Literatur zur philosophischen Hermeneutik sowie der Arbeiten zu Nietzsche legt es sich nahe, den Beitrag Nietzsches zum Verständnis des Interpretierens zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung zu machen. Der Forschungsstand bildet jedoch nicht die letzte und eigentliche Motivation für die Untersuchung einer solchen Thematik. Vielmehr ist er Anstoß und zusätzliches Motiv zur Behandlung des Sachproblems, während in Einen Schlüssel zu Nietzsches Theorie der Interpretation findet SEIGFRIED (150) im Aphorismus 616 des .Willens zur Macht', in dem an die Aussagen, daß der „Werth der Welt in unserer Interpretation liegt ( . . . ) , daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt", von Nietzsche die generalisierende Feststellung angefügt wird: „-dies geht durch meine Schriften" (VIII 1,112: 2,108). Auf den darin angesprochenen Problemzusammenhang ist im Verlaufe der Arbeit noch einzugehen; vgl. bes. das 4. Kap.: Der Macht-Charakter der Interpretation, diese Arbeit S. 9 4 ff. 2+ Vgl. den Überblick von R. E. KÜNZLI, Nietzsche und die Semiologie: Neue Ansätze in der französischen Nietzsche-Interpretation, in: Nietzsche-Studien 4 (1975) 264 ff.; ebenso jenen von G. VATTIMO, Nietzsche heute?, in: Philosophische Rundschau 24 (1977) 67 ff., der sich vor allem mit den Werken der Schüler DERRIDAS B. PAUTRAT (Versions du soleil. Figures et systeme de Nietzsche, Paris 1971), J.-M. REY (L'Enjeu des signes. Lecture de Nietzsche, Paris 1971) und S. KOFMAN (Nietzsche et la metaphore, Paris 1972) befaßt; vgl. zu diesen Autoren die vorliegende Arbeit S. 20, siehe auch den kurzen Bericht über eine Nietzsche-Tagung 1973 in Löwen, die sich mit der neueren französischen Nietzsche-Rezeption auseinandersetzte: S. IJSSELING, Löwen, in: Nietzsche-Studien 4 (1975) 339 f.; zum Einfluß Nietzsches auf post-strukturalistische Tendenzen vgl. ferner G. SCHIWY, Kulturrevolution und ,Neue Philosophen', Reinbek 1978, 16, 72 f. und 75; A. GLUCKSMANN, Die Meisterdenker, Reinbek 1978, 249 ff. Wichtig für diese neue Entwicklung war G. DELEUZES Werk über Nietzsche (1962), das nun auch deutsch vorliegt (Nietzsche und die Philosophie, München 1976); die Interpretationsthematik wird darin oft angesprochen (vgl. 7 ff., 35 ff., 47., 85 ff., 212 f.); thematisch nahe ist weiters der Beitrag von J.-M. REY, Die Genealogie Nietzsches, in: Geschichte der Philosophie, hrsg. von F. Chätelet, Bd. VI, Frankfurt/M. 1975, 139 ff. (bes. der Abschnitt: Die Philologie und der Text, ebd.). Der Artikel von M. FOUCAULT, Nietzsche, Freud, Marx, in: Nietzsche ( = Cahiers de Royaumont, Philosophie No. VI), Paris 1967, 183 ff., befaßt sich direkt mit Themen, die die Techniken der Interpretation bei den genannten Denkern betreffen (vgl. 183).
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Die gegenwärtige Forschungssituation
9
diesem selbst der entscheidende Grund für die Ausführung einer solchen Arbeit liegt. Die „Sache", um die es hier geht, ist die im Denkern Nietzsches vollzogene Reflexion auf das Phänomen der Interpretation. Ihr konnmt eine so große sachliche Bedeutung zu, daß es sowohl wegen der wissenschaftlichen Erforschung des Werkes Nietzsches als auch um der Klärung der Voraussetzungen philosophischer Hermeneutik willen gerechtfertigt und geradezu erfordert ist, dieses Problem zum Thema einer eigenen Arbeit zu machen.25 Das beschriebene Anliegen versucht die vorliegende Arbeit im Hinblick auf einen — allerdings für die Interpretationsthematik besonders wichtigen — Teil der Aufzeichnungen Nietzsches zu realisieren, nämlich in bezug auf den späten Nachlaß. Die Ausarbeitung war von der Überzeugung geleitet, daß darin Fundamentales und — bezogen auf die neuere hermeneutische Diskussion — durchaus Weiterführendes zur „Sache" der Hermeneutik gesagt ist. Nietzsche hat zwar bekanntlich kein eigenes Werk über Fragen der philosophischen Hermeneutik publiziert und, soweit der Nachlaß erkennen läßt, ein solches audi nicht beabsichtigt; wenn seine Ausführungen aber dennoch für diese Disziplin der Philosophie als bedeutsam zu erachten sind, dann muß dies in einem anderen Tatbestand begründet sein, nämlich in dem Faktum, daß eine interpretative Denkweise, also eine Denkform, in der die Kategorie der Auslegung eine fundamentale Bedeutung hat, an wesentlichen Punkten seines Werkes präsent ist. Vielleicht darf man sogar noch weiter gehen und die Hypothese aufstellen, daß es innerhalb seines Denkens gar nicht nötig war, eine explizite hermeneutische Theorie auszuarbeiten, weil seine Philosophie als ganze eine Reflexion auf die Interpretation als Basis-Prozeß war und sich selbst als Auslegung verstand. Zumindest trifft diese Annahme, wie die vorliegende Arbeit zu zeigen bestrebt ist, für die Fragmente aus der Spätzeit zu.
25
Das Desiderat und die mögliche Bedeutung einer Erforschung des Interpretationsproblems bei Nietzsche spricht ζ. Β. M. F U N K E in einer Rezension an, wenn sie einerseits meint, daß für das neuere Nietzsche-Interesse von sprachphilosophischer Seite aus „die Zentrierung des Interpretationsbegriffs vielversprechend (scheint)", andererseits aber hinsichtlich des rezensierten Werkes von J . G R A N I E R (Le Probleme de la verite dans la philosophie de Nietzsche, Paris 1966) feststellt, die Versprechungen würden nicht eingelöst; im konkreten ist der Vorschlag Graniers (im zitierten Werk, 323) angesprochen, „den Begriff der Interpretation, des ,Seins als interpretierten' ins Zentrum der N(ietzsche)sehen Wahrheitsproblematik zu rücken" (In: Nietzsche-Studien 3 [ 1 9 7 4 ] 206). Es sei schon hier bemerkt, daß die vorliegende Arbeit den genannten ontologischen Aspekt des Interpretationsbegriffs Nietzsches im 1. Teil behandeln wird. Das Postulat einer Untersuchung des Interpretationsproblems ergibt sich schließlich auch aus der Tatsache, daß man hinsichtlich dieses Themas dasselbe Urteil fällen kann, welches A. M A T T H I A E (aaO. IV) mit Bezug auf die Thematik der „Mitteilung" ausspricht, nämlich daß sie „nicht minder wichtig ist als die großen und eigentlich bewegenden Fragen" der Philosophie Nietzsches.
10
Einleitung
C) Motive für die Eingrenzung der Arbeit auf den späten Nachlaß Das Desiderat einer systematischen Darstellung des Interpretationsverständ nisses Nietzsches möchte die vorliegende Arbeit teilweise erfüllen, und zwar durch die Untersuchung jener wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Aufzeichnungen, die zum Teil zuerst unter dem Titel ,Der Wille zur Macht' bekannt geworden sind. Es sind jene Aufzeichnungen, die im allgemeinen nach Abfassung der Teile I und II des ,Zarathustra' entstanden sind (1883—1889), und „die — vom literarischen Standpunkt aus — in keiner Beziehung zum Zarathustra stehen" ,26 Diese nachgelassenen Fragmente sind in den Abteilungen VII und VIII der von G. Colli und M. Montinari edierten Kritischen Gesamtausgabe nun erstmals in ihrer authentischen Gestalt zugänglich. Die Beschränkung auf den Nachlaß aus der Spätzeit legte sich, abgesehen von der Tatsache, daß eine Untersuchung des Gesamtwerkes den Umfang dieser Darstellung weit überschritten hätte,27 vor allem durch die im folgenden angeführten Gründe nahe.
1. Die Rezeption hermeneutischer Aspekte des frühen Werkes Fragen der Interpretation spielen nicht nur im Nachlaß der Achtzigerjahre eine Rolle, sondern auch in Schriften, die Nietzsche selbst veröffentlicht hat. Im besonderen ist hier aus der frühen Zeit die Unzeitgemäße Betrachtung ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben' zu nennen. Diese nämlich erwies sich, wie J. Hermand in seinem Werk Synthetisches Interpretieren' sagt, als „besonders wirkungsmächtig" .28 Die Feststellung trifft Hermand zunächst im Hinblick auf den literaturwissenschaftlichen Bereich, da Nietzsche vor allem 26 G . COLLI / M . MONTINARI, Votbemerkung der Herausgeber, in: K G W V I I 1, V . 27
Nach relativ umfangreichen Vorarbeiten bin ich zu dem Urteil gelangt, daß die über das Gesamtwerk Nietzsches hin sich erstreckende Auseinandersetzung mit hermeneutisdien Problemen, eingeschlossen solche Schriften, die bisher praktisch nicht untersucht worden sind, von einer so weittragenden Bedeutung ist, daß diese in einem eigenen Forschungsvorhaben dargestellt werden sollte. Besonders trifft dies audi für die religionsund christentumskritischen Implikationen der hermeneutischen Reflexionen zu. Darum beabsichtige ich in einer weiteren Studie das Problem der Interpretation in den anderen, hier nicht untersuchten Teilen zu behandeln, also das gesamte von Nietzsche selbst veröffentlichte Werk sowie die Nachlaßschriften und -fragmente aus der früheren Zeit seines Wirkens. In dieser Arbeit wird zugleich analysiert werden, in welcher Weise Nietzsche seinen generellen hermeneutischen Grundansatz bei der Interpretation der drei zentralen theologischen Themenkreise — des religiösen Gottesglaubens, der Bedeutung sowie des Selbstverständnisses Jesu, und des kirchlich-konfessionellen Wahrheitsanspruchs — konkretisiert (Modell einer destruktiven „Fundamental-Theologie"). 28 München 1968, 30; vgl. allgemein E. KUNNE-IBSCH, Die Stellung Nietzsches in der Entwicklung der modernen Literaturwissenschaft, Assen 1972.
Motive für die Eingrenzung der Arbeit auf den späten Nachlaß
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im Interesse einer antihistorischen und positivismuskritischen Betrachtungsweise in „neuidealistischen" Bestrebungen seit 1900 rezipiert worden sei; dodi die Bedeutung dieser ,Unzeitgemäßen Betrachtung' zeigt sich unzweifelhaft audi in ihrer Auswirkung auf die philosophische Reflexion über die historische Methodologie 2 9 sowie auf die hermeneutische Reflexion überhaupt. O. Pöggeler weist in seinem Überblick über die Entwicklung der neueren hermeneutischen Philosophie darauf hin, daß die Problemstellung dieser Schrift Nietzsches im Hintergrund der philosophischen Neubesinnung auf die Geschichtlichkeit des Menschen in Heideggers ,Sein und Zeit' stand. 30 Auch Gadamer bezieht sich mehrfach auf die historismuskritische Tendenz der zweiten ,Unzeitgemäßen Betrachtung'. 31 In ,Wahrheit und Methode' setzt er sich jedoch bei der Darlegung einer seiner zentralsten Thesen, nämlich im Zusammenhang der Klärung der „Horizontverschmelzung'' im Prozeß geschichtlichen Verstehens, von Nietzsches Beschreibung des historischen Bewußtseins in der genannten .Unzeitgemäßen Betrachtung' ab, da in ihr „nicht das historische Bewußtsein als solches, sondern die Selbstentfremdung, die ihm widerfährt, wenn es die Methodik der modernen historischen Wissenschaft für sein eigentliches Wesen hält", getroffen sei. 32 Dennoch ist in der Geschichtlichkeit einer der Grundgedanken Nietzsches zu erblicken. 33 Dies gilt auch angesichts der ähnlichen Beurteilung von Habermas, wenn er annimmt, daß von Nietzsche in seiner Kritik an der Verwissenschaftlichung der Historie der Objektivismus „noch nicht als ein falsches szientisti29 Nietzsches Polemik gegenüber dem Historismus wird oftmals hervorgehoben, ζ. B. von G. TER-NEDDEN, Über den Abstraktionsgewinn des historischen und ästhetischen Bewußtseins, in: Propädeutik der Literaturwissenschaft, hrsg. von D. Harth, München 1973, 258, und ebenso von W. SCHULZ: „Nietzsche (...) ist der erste, der die Gefahren des Historismus klar erkennt und radikal kritisiert" (Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1976, 575); es wird aber gleichzeitig auch die Maßlosigkeit seiner Kritik und die „in dieser Maßlosigkeit sich zeigende Tendenz, Geschichte überhaupt zu negieren", bemängelt (ebd.); der in der zweiten ,Unzeitgemäßen Betrachtung' eröffnete Kampf gegen die Objektivität habe vielfach zu subjektivistischem Ästhetizismus und Eklektizismus geführt, wie J. WACH festgestellt hat (Das Verstehen, aaO. Bd. 2, 12; Bd. 1, 236 Anm. 2). Unter den Arbeiten zur Geschichtsphilosophie Nietzsches vgl. G. HAEUPTNER, Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche. Versuch einer immanenten Kritik der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben', Stuttgart 1936; M. FLEISCHER, Die Zeitlichkeit des Menschen. Nietzsches Analyse in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, in: Weltaspekte der Philosophie, hrsg. von W. Beierwalters und W. Schräder, Amsterdam 1972, 67 ff.; K. BROSE, Geschichtsphilosophische Strukturen im Werk Nietzsches, Bern und Frankfurt/M. 1973. 30 O. PÖGGELER, Einführung, in: Hermeneutische Philosophie, München 1972, 24, vgl. 59; in Heideggers ,Sein und Zeit' vgl. bes. § 176; vgl. dazu meinen oben in Anm. 8 genannten Artikel, bes. 417 ff. 31 Vgl. H.-G. GADAMER, Kleine Schriften I, 6, 17, 103. 32 H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode, 289; vgl. ferner 286 f., 248 und 13; siehe auch J. FIGL, Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, aaO. 420 f. 33 Vgl. K. ULMER, Nietzsches Idee der Wahrheit und die Wahrheit der Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch 70 (1962/63) 307 und 310.
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Einleitung
sches Selbstverständnis durchschaut, sondern als die notwendige Implikation der Geschichtswissenschaft selber hingenommen (wird)." 34 Ferner wurde neuerdings aus dem Frühwerk die von Nietzsche selbst nicht veröffentlichte Schrift .Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn', die in der jüngsten Auseinandersetzung mit Nietzsche einen zentralen Stellenwert erhielt,35 audi auf die Interpretationstheorie bezogen.36 Auf die Bedeutung der in dieser Schrift enthaltenen Kategorie der „Interpretation" hatte schon J . Habermas im Zusammenhang mit Nietzsches Kritik der historischen Methodik hingewiesen.37 Auch in später publizierten Werken kommt die Auslegungsthematik ausdrücklich zur Sprache, wie z.B. im Aphorismus 8 des ersten Bandes von .Menschliches, Allzumenschliches'38, in dem Aphorismus 374 „Unser neues .Unendliches'" der .Fröhlichen Wissenschaft'39, oder im Zarathustra-Abschnitt ,Vom Lesen und Schreiben' (VI 1,44 ff.). Sodann ist auf die Postulate hinzuweisen, die Nietzsche hinsichtlich der Auslegung eines Aphorismus in der Vorrede zur .Genealogie der Moral' ausspricht.40 Schließlich muß man sich in Erinnerung rufen, daß Nietzsche als Philologe sich stets mit der Praxis der Interpretation auseinanderzusetzen hatte,41 was besonders für die ersten Publikationen Nietzsches zutrifft. Die Tatsache, daß einige hermeneutische Aspekte des frühen Werkes zumindest schon teilweise behandelt wurden, legt ein intensives Studium der Aufzeichnungen aus der Spätzeit nahe. In besonderer Weise gilt dies für den Nachlaß dieser Zeit. Denn im Unterschied zu den genannten Werken hat das Problem der Interpretation in ihm ein größeres Gewicht; ja, es hat hier eine solche Bedeutung erlangt, daß man darin eine Schlüsselthematik im Denken des späten Nietzsche erblicken kann. Damit ist ein weiterer Grund für die Konzentration auf den späten Nachlaß gegeben.
3·* J . HABERMAS, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1971, 358. 35 Vgl. J . SIMON, Grammatik und Wahrheit, in: Nietzsche-Studien 1 (1972) 24 ff., und bes. S. KOFMAN, Nietzsche et la metaphore, Paris 1972 (siehe dazu R. E . KÜNZLI, aaO. 275); ferner E . FINK, Nietzsches Philosophie, 32. Vgl. G . BOEHM, Einführung, 14 ff. J . HABERMAS, Erkenntnis und Interesse, 358. 38 Vgl. dazu P. HELLER, Von den ersten und letzten Dingen, Berlin/New York 1972, 129 f. 39 Darin heißt es u. a.: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal .unendlich' geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt." ( K G W V 2, 309). « Vgl. oben Anm. 22. 4 1 Vgl. E . HOWALD, Friedrich Nietzsche und die klassische Philologie, Gotha 1920; M. BINDSCHEDLER, Nietzsche und die poetische Lüge, Basel 1954, bes. Kapitel 1: Das philologische Ideal, 16 ff.; und neuerdings V. PÖSCHL, Nietzsche und die Klassische Philologie, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, Göttingen 1979, 141 ff.
Motive für die Eingrenzung der Arbeit auf den späten Nadilaß
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2. Die zentrale Bedeutung der Interpretationsthematik im Spätnachlaß Innerhalb der Masse der nachgelassenen Aufzeichnungen bilden die Notizen zur Auslegung, wie die folgende Darstellung erweisen wird, ein Thema, von dem her andere fundamentale Inhalte von Nietzsches philosophischen Reflexionen der Spätzeit, wie es der „Wille zur Macht", seine anthropologischen, bewußtseins- oder audi sprachkritischen Aussagen sind, in einheitlicher Weise gedeutet werden können. Von der hermeneutisch geprägten Denkfigur her erhalten die über den gesamten Nachlaß hin verteilten Ausführungen zu einzelnen philosophischen Problemen eine durchgehende Strukturierung: „Interpretation" ist hier zu einem Prinzip philosophischen Denkens geworden. Die spezifisch akzentuierte Ausprägung, die das Interpretationsproblem im späten Nadilaß erhält, unterscheidet diese Fragmente von früheren bzw. publizierten Schriften Nietzsches. Hinsichtlich dieser Thematik kann darum der Auffassung Schlechtas, daß „in ,Der Wille zur Macht' nichts Neues steht", nicht zugestimmt werden.42 Und erst recht gilt dies nicht, wie Schiedita selbst einschränkend konzediert, im Hinblick auf den ganzen Nadilaß,43 von dem ja ,Der Wille zur Macht' nur eine sehr willkürliche und nicht zuverlässige Auswahl enthält. Denn gerade im Hinblick auf die Interpretationsthematik trifft das Urteil K. Ulmers zu, daß die Bruchstücke im Nachlaß Nietzsches schon „wesentlich über die von ihm veröffentlichten Werke hinausgehen".44 Im besonderen gilt dies hinsichtlich der Tatsache, daß die Aufzeichnungen des Spätnachlasses im Unterschied zu früheren, die sich auf spezielle Interpretationsfragen (Geschichte, Lektüre, Religion) beziehen, für das Verstehens- und Auslegungsproblem im ganzen bedeutsam, also für eine philosophische Hermeneutik im eigentlichen Sinn des Wortes relevant sind. Audi dieses Faktum war ein Motiv K. SCHLECHTA, Philologischer Nachberidit, in: F. Nietzsche, Werke, hrsg. von K. Schlechte, 3. Bd., München 51966, 1403. « AaO. 1405; vgl. ferner DERS., Offener Brief an Karl Löwith, in: Der Fall Nietzsche, München 21959, 123; Löwith bezieht sich in seiner Kritik vor allem auf die Seiten des Nachlasses, in denen über die „Heraufkunft des Nihilismus" und die Kennzeichnung der heraklitisch-dionysischen Welt gesprochen wird, die etwas besagen, was Nietzsche in seinem Werk noch nirgends gesagt habe; ferner weist er darauf hin, daß die von Schiedita festgestellte „merkwürdige Monotonie in der Gesamtaussage" (Nachwort in der von diesem edierten Ausgabe, 1435) für die Gesamtaussage aller großen Denker zutreffe (Nietzsches .Vorspiel einer Philosophie der Zukunft', in: Aufsätze und Vorträge 1930-1970, Stuttgart 1971, 67 bzw. 65f.); ebenso R. PANNWITZ, Nietzsche-Philologie?, in: Merkur 11 (1957) 1079. 4 4 K. ULMER, Orientierung über Nietzsche, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13 (1959) 70; dieses Urteil trifft selbst in formaler Hinsicht für manche Aufzeichnungen zu, ζ. B. ist im Verhältnis zur veröffentlichten Fassung in Nr. 36 von Jenseits von Gut und Böse' der entsprechende „Nachlaßaphorismus geschlossener, strenger und zugleich großgearteter": E. HEFTRICH, Nietzsches Philosophie, Frankfurt/M. 1962, 69; vgl. dazu W . MÜLLER-LAUTER, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), 10. 42
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Zeichnungen. In noch gravierenderer Weise wirkte sich der kompilatorische Eindafür, die Gedanken Nietzsches zur Hermeneutik vom späten Nachlaß her zu entfalten. Es war also die Interpretationsthematik an sich, die die Konzentration auf die späten Aufzeichnungen motivierte, und nicht etwa die Annahme Heideggers, daß jenes, „was Nietzsche zeit seines SchaSens selbst veröffentlicht hat, immer Vordergrund (ist)", und „die eigentliche Philosophie als ,Nachlaß' zurückbleibt)", daß also die „Bereitstellung des eigentlichen .Werkes'" in den Jahren 1881—1889 erfolgte.··5 Doch auch wenn diese Vermutung nicht im generellen zutreffen sollte, so muß doch von der hier untersuchten speziellen Thematik her gesagt werden, daß es gute Gründe für die Auffassung von der herausragenden Bedeutung der späten Nachlaßaufzeichnungen innerhalb des Denkens Nietzsches gibt.46 3. Die neue, manuskriptgetreue Textbasis der ,KGW' Die Untersuchung beschränkt sich auf den späten Nachlaß Nietzsches, d. h. auf jene Aphorismen und Fragmente, die zum „Nachlaß der Achtzigerjahre" (Schlechta) gehören. Die Fragmente wurden in einer relativ willkürlichen Kompilation, die von den Herausgebern E. Förster - Nietzsche und P. Gast vorgenommen wurde, ursprünglich bekannt gemacht. Im besonderen gilt dies vom .Willen zur Macht', der zuerst 1901 erschien und damals 483 Aphorismen enthielt,47 aber auch von anderen Fragmenten der Spätzeit, wie sie in den Bänden XIII und XIV der von Nietzsches Schwester edierten Nachgelassenen Werke' unter dem Titel .Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit (1882/83— 1888)' erschienen.48 Denn in dieser Ausgabe ist das Material nach thematischen Gruppen, wie „Philosophie", „Moral", „Psychologie", usw., von den Herausgebern zusammengefaßt worden, wobei auf die chronologische Anordnung verzichtet wurde. Dies wurde von der Schwester Nietzsches auch mitgeteilt, jedoch mit der Begründung, daß „diese Unvollkommenheit kaum zu vermeiden (war), falls der vorliegende Stoff nicht in einer verwirrenden Form veröffentlicht werden sollte" 49 Gerade diese absichtlich vorgenommene Anordnung aber war eine verwirrende Wiedergabe der von Nietzsche noch nicht systematisierten Auf« M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 1, 17 und 18. 46 Vgl. W . MÜLLER-LAUTER, a a O . 5 .
Er wurde als Bd. X V der bei C. G. Naumann (Leipzig) erscheinenden „Großoktavausgabe" ediert; diesem entspricht der gleiche Band in der hier zitierten „Kleinoktavausgabe". 48 Leipzig 1903 und 1904. Zur Geschichte der Editionen vgl. generell H. J . METTE, Sachlicher Vorbericht zur Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches, in: Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 1, München 1933, X X X I ff. 49 Vorwort, in: Nietzsche's Werke, Bd. X I I I , X I I . 47
Motive für die Eingrenzung der Arbeit auf den späten Nachlaß
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griff in das vorliegende Nachlaßmaterial bei der Herausgabe des ,Willens zur Macht' aus. Denn er wurde mit der Überzeugung veröffentlicht, das Hauptwerk, soweit es im Nachlaß vorlag, herausgegeben zu haben; man berief sich dabei auf einen Plan Nietzsches vom 17. März 1887, der ein vierteiliges Werk mit dem Titel ,Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Wer the' vorgesehen hatte. Dieser Plan sei, so schreibt E. Förster - Nietzsche in ihrem Vorwort — „der einzige, nach welchem Nietzsche selbst begonnen hat, das Gedankenmaterial seines Hauptwerkes zu gliedern und einzuordnen."50 Die Hauptwerk-Idee leitete auch die zweite Herausgabe des ,Willens zur Macht', die 1906 51 nach demselben Plan erfolgte und mehr als doppelt soviele Aphorismen (insgesamt 1067) als die erste enthielt; sie wurde in der Großoktavausgabe 1911 (als Bde. XV und XVI) 5 2 ediert und gilt als die „kanonische" Ausgabe des ,Willens zur Macht'; sie bestimmte die folgende Rezeptionsgeschichte. Die Unzuverlässigkeit dieser ersten Ausgaben war an sich jedem, der die Nachberichte mit chronologischen Verzeichnissen und Manuskriptnachweisen beachtete 53 , schon im wesentlichen erkennbar. Jedoch nachgewiesen werden konnte sie nur an den Manuskripten selbst, wie es K. Schlechta in seinem „Philologischen Nachbericht" zu seiner Ausgabe von Nietzsches Werken gelang.51 Er konnte zurecht von einer „,Entmythologisierung' des ,Willens zur Macht'" sprechen.55 Doch das gesamte Ausmaß der Fehler und Fälschungen ist erst nach Vorliegen der neuen Gesamtausgabe sichtbar. Die Herausgeber G. Colli und M. Montinari haben klargestellt, daß die von P. Gast und E. Förster - Nietzsche zusammengestellte Kompilation ,Der Wille zur Macht' „editorisch unhaltbar und sachlich zutiefst fragwürdig ist"56, und dieser nur einer der Büchertitel ist — und zudem noch ein relativ später —, den Nietzsche für die während und nach der Komposition des ,Zarathustra' entstandenen Aufzeichnungen, also in so Vorwort, in: Nietzsche's Werke, Bd. XV, X; vgl. aaO. VI f. SI Veröffentlicht wurde sie von E. FÖRSTER-NIETZSCHE und PETER GAST, und zwar zuerst als Bde. IX und X der „Taschenausgabe". 52 Sie wurden von O. WEISS herausgegeben, vgl. dazu insgesamt den Kurzüberblick von K. SCHLECHTA, Philologischer Nachbericht, 1394. 53 Vgl. Nietzsche's Werke, 1901 ff., Bd. XIII, 365—382; Bd. XIV, 4 2 1 - 4 4 2 ; Bd. XV, 517 ff. 5+ Siehe Anm. 42, vgl. auch K. LÖWITH, der trotz seiner Kritik an Schlechtas Thesen (siehe Anm. 43) auf die Dringlichkeit einer quellenkritischen Ausgabe hinweist (Aufsätze und Vorträge, 68). 55 So lautet der Titel, unter dem SCHLECHTA einen Auszug aus dem philologischen Nachbericht' in den .Frankfurter Heften* (Jahrgang 12, 1957, 17 ff.) veröffentlicht hat. Zur Würdigung der Edition Schlechtas und ihrer aufklärenden und klärenden Funktion besonders im Rückblick auf die großteils willkürliche und mißbräuchliche Rezeption Nietzsches im Nationalsozialismus vgl. E. SALIN, Der Fall Nietzsche, in: Merkur 11 (1957), bes. 577 f. 56 Vorwort, in: KGW VIII 1, VI; vgl. G. COLLI / M. MONTINARI, Etat des textes de Nietzsche, in: Nietzsche, Paris 1967, 127 ff.
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der letzten großen Phase seines Schaffens, konzipiert hat.57 Ferner wurde darauf hingewiesen, daß Nietzsche den Titel ,Wille zur Macht' zuletzt aufgegeben und auf ein Werk mit diesem Titel endgültig Anfang September 1888 verzichtet hat.58 Und M. Montinari beschließt seine Auseinandersetzung mit dieser editorischen Frage mit dem Satz: „Was den ,Willen zur Macht' betrifft, so ist nach der philologischen Erschließung des Nachlasses von 1885 bis 1888 der Streit um das angebliche Hauptwerk gegenstandslos geworden: die Nietzsche-Forschung kann hier zur eigentlichen Tagesordnung übergehen." 59 Doch das Entscheidende liegt nicht in dem negativen Ergebnis der Widerlegung eines Hauptwerkes, sondern vielmehr in der positiven Tatsache, daß nun die nachgelassenen Fragmente in einer historisch-kritischen Edition vorliegen. Erst durch sie sind die Anordnung und vielfach auch der Wortlaut dieser späten Notizen in unverfälschter Weise zugänglich. Dadurch wurde für die Forschung eine neue Situation geschaffen, die als Appell verstanden werden kann, das philosophische Denken im Nadilaß auf dieser textkritisch soliden Basis zu untersuchen. Da die bisherigen Nietzsche-Interpretationen, jene wenigen Forscher ausgenommen, die direkt an den Originalmanuskripten arbeiten konnten, wie besonders E. Podach und F. Schlechte, nur auf der unzuverlässigen Textedition des „kanonischen" .Willens zur Macht' beruhten, ist von einer Deutung, die sich auf den authentischen Wortlaut und die ursprüngliche Reihenfolge der Fragmente und Titelentwürfe bezieht, auch die Möglichkeit zu erwarten, zumindest in Teilaspekten zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Diese Möglichkeit soll zwar keineswegs überschätzt werden, da die bisher vorliegende Textbasis umfassend genug war, um die zentralen Grundgedanken im wesentlichen zu erkennen. Doch allein die Tatsache, zum ersten Mal die von Nietzsche zurückgelassene Textstruktur kennenlernen zu können, ist ein wichtiger Grund, auf dieser Basis einen fundamentalen Gedanken Nietzsches, nämlich den der Interpretation, systematisch darzustellen. Die bisherigen Arbeiten über Nietzsches Nachlaß sind deshalb auch keineswegs generell „überholt", sondern behalten ihre Bedeutung, was die Gesamtinterpretation betrifft. Dennoch aber muß mit Modifikationen gerechnet werden, da es sich bei der Anordnung und Gestalt des Textes ja nicht bloß um ein „äußeres" Faktum handelt, das für das Verständnis der betreffenden Fragmente irrelevant wäre, sondern vielmehr um die notwendige Voraussetzung einer sachgemäßen Deutung. 57 Vgl. Vorwort, in: K G W V I I 1, V f. mit Anm. 2. 58 Vgl. Vorwort, in: K G W V I I I 1, X I ; und: V I I I 3, V; ferner M. MONTINARI, Nietzsches Nadilaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 2 , 1 , bes. 54 ff. 59 AaO. 58; das Urteil J. SCHMIDTS ist darum berechtigt: „Erstmals kann sich eine Nietzsche-Interpretation auf die originalen und unverfälschten Texte Nietzsches stützen" (Nietzsche: Werke — ein kritischer Zwischenbericht, in: Philosophische Rundschau 24 [1977] 60 f., vgl. 66.).
Probleme der Interpretation nachgelassener Fragmente
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D) Probleme der Interpretation nachgelassener Fragmente (Methodische Vorfragen) 1. Die fragmentarische Gestalt des Nachlasses und die Schwierigkeiten sachgerechter Deutung Jeder Nachlaß von Manuskripten, die der Autor als noch nicht für die Veröffentlichung reif ansah bzw. deren Publikation er nicht beabsichtigte, wirft prinzipielle hermeneutische Fragen auf. Denn es muß die für die Interpretation der betreffenden Manuskripte entscheidende Frage unbeantwortet bleiben, inwieweit darin die Auffassungen des Verfassers ihre authentische Gestalt gefunden haben, ob er und in welchem Ausmaß er seine Niederschriften bei einer Veröffentlichung geändert hätte, sei es durch Präzisierung, Überarbeitung, Streichung, durch Hinzufügungen, Systematisierung oder ähnliche Arbeitsschritte. Aus diesen Gründen kommt dem nachgelassenen Text ein Status der Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit zu, der unzweifelhaft eine Erschwernis seiner Auslegung bedeutet. Der Aspekt des Vorläufigen von nicht zur Veröffentlichung bestimmten Manuskripten trifft selbst für ausgearbeitete und in sich gedanklich sowie formal abgeschlossene Nachlaßschriften zu; umso mehr tritt er dort hervor, wo es sich nur um fragmentarische Aufzeichnungen, notizhafte Bemerkungen, um Titel- und Planentwürfe für noch nicht verfaßte Werke handelt, wie es bei Nietzsches spätem Nachlaß der Fall ist.60 Darüberhinaus ist die Intention des Autors audi deshalb schwierig zu erfassen, weil der inhaltliche Zusammenhang, die Einheitlichkeit im gedanklichen Aufbau und der Fortgang der einzelnen Überlegungen vom Autor nicht mehr zum Ausdrude gebracht worden ist. Der Interpret begegnet einer Fülle von einzelnen Aussagen, die sich gleichsam wie Steindien eines nicht zusammengesetzten Mosaiks ausnehmen, eines im Geiste konzipierten Bildes, dessen Gestalt dem Urheber der vielen Einzelteile vielleicht in groben Umrissen vor Augen gestanden sein mag, aber nicht in jenen Einzelheiten, die allein zu einem Gesamtbild sich zusammenfügen ließen. Nietzsches Nachlaß enthält in der Form, wie er von E. Förster - Nietzsche und P. Gast herausgegeben wurde, zwar fast nur ausgeformte Aphorismen, die in literarischer Hinsicht in sidi abgeschlossene Textstücke sind; vergleicht man jedoch diese Texte mit den tatsächlichen von Nietzsche zurückgelassenen Notizen, so zeigt sich, daß sich unter diesen nicht nur wohlgeformte Aphorismen 60 Diese späten Aufzeichnungen sind von abgeschlossenen Abhandlungen, wie sie zu einem Teil im frühen Nachlaß enthalten sind, zu unterscheiden; die KGW differenziert der unterschiedlichen Form entsprechend sachgemäß zwischen .Nachgelassenen Schriften' (vgl. KGW I I I 2) und .Nachgelassenen. Fragmenten' (außer jenen aus der Spätzeit vgl. ζ. B. die von 1869 bis 1874 in KGW I I I 3 und 4).
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finden, sondern ebenfalls eine große Anzahl von Aufzeichnungen, die weder eine gedankliche noch grammatikalische bzw. syntaktische Abgeschlossenheit aufweisen. Solche Notizen bestehen oft nur aus wenigen, nicht zu einem Satz gefügten W o r t e n , aus scheinbar zusammenhanglos aneinandergereihten Begriffen, oder unabgeschlossenen Sätzen, wie Teilsätzen, oder manchmal noch unentzifferten Satzteilen. Oft fehlen Satzzeichen oder Anführungszeichen, die insbesondere für die Deutung von Nietzsches Aussagen wichtig sind. 61 Diese Aufzeichnungen sind viel eher als Fragmente im Sinn unabgeschlossener Aussagen denn als Aphorismen zu verstehen. A m Maßstab der publizierten Aphorismen, in denen sich „hohe Rationalität mit hoher Ästhetik" verbindet, befindet sich im ,Willen zur Macht* „kaum ein Aphorismus" . 6 2 A m ehesten noch könnte man den Großteil der nachgelassenen Notizen Nietzsches als Fragmente rismen
von
Apho-
bezeichnen.
Während im Hinblick auf die Interpretation von Aphorismen jene Maßstäbe angelegt werden können, die Nietzsche selbst im Vorwort zur .Genealogie der Moral' formuliert hat, bzw. die in der bisherigen Diskussion über den „Aphorismus als philosophische F o r m " erarbeitet wurden, 6 3 sieht sich die Deutung von fragmenthaften Notizen vor andersgeartete und wohl auch größere Schwierigkeiten gestellt. Denn hier ist die vom Autor intendierte Aussage für eine Vgl. E. BLONDEL, Les Guillemets de Nietzsche: Philologie et Genealogie, in: Nietzsche aujourd'hui? Tom. 2, Paris 1973, 163 ff. 62 H. HÄNTZSCHEL-SCHLOTKE, Der Aphorismus als Stilform bei Nietzsche, Diss. phil. Heidelberg 1967, 139. Das Eigentümliche, nämlich Unabgeschlossene, Bruchstück- und Notizenhafte von Nietzsches Fragmenten wird gerade in jener Terminologie nicht erfaßt, die versucht, den Begriff „Aphorismus" in einem weiten Sinn zu verstehen, und ihn als einen Oberbegriff aufzufassen, der audi das Fragment umfaßt: siehe zu dieser Terminologie K. BESSER, Die Problematik der aphoristischen Form, Berlin 1935, 9 f., und — mit Bezug auf Aphorismussammlungen — 15 f.; in ähnlicher Weise subsumiert mit Bezug auf die Romantiker, vor allem Novalis, F. H. MAUTNER das Fragment unter dem Begriff „Aphorismus"; im Hinblick auf Nietzsche wird aber zutreffend festgestellt, daß dieses Fragmentverständnis nicht mehr ausreiche, sein aphoristisches Schaffen zu decken: Maxim(e)s, Sentences, Fragmente, Aphorismen, in: Der Aphorismus, hrsg. von G. Neumann, 404 und 406. Auch A. HÖFT zieht keine strenge Trennungslinie zwischen Aphorismus und Fragment, wie schon aus dem Titel seiner Schrift hervorgeht: Novalis als Künstler des Fragments. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Aphorismus, Berlin 1935. A. FABRI hingegen macht in seinem kurzen Beitrag: Fragment, Aphorismus, E s s a i . . . , in: Hochland 36 (1939), 514 f., diese wichtige Unterscheidung. Η. KRÜGER, Studien über den Aphorismus als philosophische Form, Frankfurt 1956; zu Nietzsches Postulaten siehe die in Anm. 22 angeführte Stelle. Für den philosophischen Aphorismus sind die Ausführungen zum „Aphorismus als literarische(r) Gattung" eine wertvolle Darlegung, da dieses Genus von seiner Geschichte und seinem Wesen her zuinnerst mit philosophisch relevanten Denkansprüchen verknüpft ist: vgl. dazu den gleichnamigen Aufsatz von F. Η. MAUTNER, der ebenfalls in dem in der vorhergehenden Anmerkung angeführten Sammelband (19—74) enthalten ist, sowie überhaupt die darin abgedruckten Beiträge, bes. auch die Einleitung des Herausgebers, 1 ff. Zu Nietzsche selbst siehe die Arbeit von B. GREINER, Friedrich Nietzsche: Versuch und Versuchung in seinen Aphorismen, München 1972. 61
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noch größere Willkür des Interpreten offen und die Gefahr der Fehlinterpretation sehr nahe. Darüberhinaus sind im Nachlaß Nietzsches nicht nur einzelne Texte fragmentarisch gebieben, sondern der Nadhlaß im ganzen scheint ohne erkennbaren thematischen Zusammenhang zu sein; er ist kein unvollendet gebliebenes „Werk", sondern enthält Pläne und Vorarbeiten für ein solches, die bisweilen sogar im Wider sprach zueinander stehen. Die Schwierigkeiten der Auslegung werden dadurch verschärft.64 Auf Grund des aufgewiesenen Tatbestandes ergibt sich das Postulat, die Kriterien der Interpretation mit besonderer Vorsicht zu klären. Denn hierbei handelt es sich um den Tatbestand eines „heiklen (vielleicht des heikelsten) philosophischen Nachlaß-Problems" ,65 Die Leitlinien für die Deutung sollen in zwei Schritten erarbeitet werden: erstens geht es um das Verständnis einzelner Fragmente und ihres Verhältnisses zum Ganzen des Nachlasses; zweitens um Aspekte, die bei der Deutung des Nachlasses, in seiner Gesamtheit genommen, zu beachten sind.
2. Das Fragment im Verhältnis zum Ganzen des Nachlasses a) Das Dilemma zwischen dissoziierender Fragmentarisierung und vereinheitlichender Systematisierung Nach der Erörterung der überwiegend fragmentarischen und nur partiell aphoristischen Struktur des Nachlasses bleibt die Frage, auf welche Weise die einzelnen Textfragmente und -stücke in den späten Nachlaß als ganzem einzufügen sind. Wie kann hier eine Zuordnung, die sich für jede Gesamtinterpretation als notwendig erweist, legitim vorgenommen werden? Es ist zu überlegen, ob überhaupt, und wenn ja, wodurch denn Einheit und Zusammenhang der einzelnen Fragmente gegeben sind. Die aufgeworfene Problematik scheint prinzipiell auf folgende beiden Arten einer Klärung näher gebracht werden zu können: entweder versucht man, die Einheit der verschiedenen Nachlaßstücke durch den Bezug auf ein nicht ausgeführtes Werk Nietzsches, dessen Struktur es zu erschließen gilt, „herzustellen", oder man begnügt sich mit dem vorliegenden Textmaterial, beläßt es in seiner M
Zu den Problemen der Nietzsche-Interpretation, vor allem bei der Lektüre des Nachlasses vgl. R. Roos, Regies pour une lecture philologique de Nietzsche, in: Nietzsche aujourd'hui, Tom. 2, 1973, bes. 292 ff.; R. L. HOWEY, Some difficulties about reading Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), bes. 386 f.; P. KÖSTER, Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation, in: Nietzsche-Studien 2 (1973), bes. 39 f., 59 f. Die gesamte Thematik ist in dem wegweisenden Beitrag von E. BISER, Das Desiderat einer Nietzsche-Hermeneutik, in: Nietzsche-Studien 9 (1980), 1 ff., behandelt. H. FRIEDRICH, Nachwort, zu: F. Nietzsche, Umwertung aller Werte, München 21977, 820.
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fragmentarischen Gestalt und verzichtet auf jede nachträgliche Systematisierung. Der erste Weg, bei dem ein postuliertes „Hauptwerk" gewissermaßen als einheit-stiftende „Idee" fungiert, wurde bei der Redaktion der ersten Ausgaben des ,Willens zur Macht' und vielfach auch in den darauf basierenden Interpretationen beschritten. Die fragmentarische Form des Nachlaßmaterials wird hierbei „von außen" her übersprungen; es wird bei manchen Herausgebern sogar ein Systemcharakter „im höchsten synthetischen Sinne" vorausgesetzt,66 oder gesagt, das nachgelassene „Werk" sei zwar nicht ein „formal abgeschlossenes" Werk, aber „innerlich geschlossen" ,67 Als eine weitere Variante zur Lösung dieses Problems wird die These vorgebracht, das Vermächtnis (!) Nietzsches sei „weder ein Werk noch ein Fragment im üblichen Sinne" ; 68 man postuliert eine Form, die zwischen den herkömmlichen literarischen Kategorien angesiedelt ist, um dem zwiespältigen Charakter des Spätnachlasses Nietzsches gerecht zu werden. In allen soeben aufgezählten Versuchen besteht jedoch die Gefahr, die tatsächliche literarische Form des Nachlasses aufgrund von Vorentscheidungen, die sich einem über die Textbasis hinausgehenden Interesse verdanken, zu übergehen. Von der entgegengesetzten Absicht scheint der andere Weg der Auslegung geleitet zu sein, bei dem die fragmentarische und aphoristische Gestalt der Notizen zur letzten und ausschließlichen Norm des Verständnisses gemacht wird. Dieser Weg ist im wesentlichen von den Kritikern der Idee eines Hauptwerkes vorbereitet worden, die aus dieser Einsicht auch die editorischen Konsequenzen zogen, wie es Schlechta 69 und Montinari70, aber auch schon Hof milier,71 der Mitarbeiter der ersten Edition des Nachlasses, getan haben. In einer schon befremdenden Radikalität ist der genannte Ansatz in neueren französischen Nietzsche-Interpretationen bis zur Gefahr einer totalen Auflösung nicht nur des Nachlasses, sondern auch von Werken, die Nietzsche selbst publiziert hat, in der praktischen Auslegung verwirklicht worden. Hier sind vor allem J. Derrida und seine Schüler S. Kofman, B. Pautrat und J.-M. Rey zu nennen.72 66
A. BAEUMLER, Zur Einführung, in: F. Nietzsche, Die Unschuld des Werdens, Bd. 1, Stuttgart 1956, XXIII. Ebensowenig reicht die Hypothese aus, Nietzsches Philosophie sei „ein System in Aphorismen", wie K. LÖWITH meint (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 3 1978, 15 ff.). Eine ähnlich lautende Formulierung hat schon F. SCHLEGEL in einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm verwendet: er spricht von einem „System von Fragmenten" (siehe die von O. Walzel besorgte Ausgabe dieser Briefe, Berlin 1890, 126, zit. nach F. N. MENNEMEIER, Fragment und Ironie beim jungen Friedrich Schlegel, in: Poetica 2 [1968] 349).
67 A . BAEUMLER, a a O . X X V .
F. WÜRZBACH, Das Vermächtnis Nietzsches, Salzburg/Leipzig 1940, XXXIV. Vgl. dessen .Philologischen Nachbericht', aaO., 1399. 70 Vgl. M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, bes. 56 ff. 71 J. HOFMILLER, Nietzsche, in: Süddeutsche Monatshefte 29 (1931), 73 ff. 72 Vgl. R. E. KÜNZLI, Nietzsche und die Semiologie, bes. 273. 68
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Derrida stellt nach dem Urteil Künzlis die Totalität von Nietzsches Schriften insgesamt durch die These in Frage, „daß vielleicht alle Texte Nietzsches nichts anderes als eine Reihe von isolierten, untereinander widersprüchlichen Fragmenten sind" Ρ Eine ähnliche, wenngleich auch bei weitem nicht so radikale These hat mehr als zwei Jahrzehnte früher im deutschen Sprachraum Heinz Krüger hinsichtlich der Bedeutung des Aphorismus bei Nietzsche vertreten. Er meint, der Aphorismus als Denk- und Sprachform bleibe überall sichtbar, „auch in den sogenannten (Zusammenhängenden Gedankenentwicklungen'".74 Aus diesem Grund ist er der Auffassung, daß die landläufige Meinung, Nietzsche „habe über den Aphorismus hinausgestrebt und versucht, das in zahllosen Beobachtungen gewonnene Material zu sichten, zusammenzustellen und zu ordnen, nur im primitiven Sinne richtig (ist) und ( . . . ) im höheren, philosophischen Sinne sogar von einer verhängnisvollen Falschheit. Denn in Wahrheit hat Nietzsche vom aphoristischen Denken sich nie gelöst und auch nicht lösen können, sondern im R i l len zur Macht' ( . . . ) den Aphorismus zum Aufbauprinzip erweitert." 75 Die beiden aufgezeigten, einander entgegengesetzten Ansätze zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Vielfalt der Fragmente und ihrer möglichen Einheit bleiben jedoch unbefriedigend. Im einen Fall, bei dem die Annahme eines noch zu vollendenden und als solches zu erschließenden Werkes leitend ist, kommt die tatsächlich vorgegebene Gestalt, der aphoristische und fragmentarische Charakter des späten Nachlasses, seine faktische Unabgeschlossenheit und in gewissem Sinn bleibende Unabschließbarkeit, nicht zum Tragen, sondern scheint von einem fiktiven Ganzen her relativiert zu werden; im anderen Fall hingegen wird die einzelne Aufzeichnung so sehr in ihrer Isoliertheit betont, daß die Annahme eines sie übergreifenden und sie mit anderen Notizen verbindenden Zusammenhangs, letztlich also eines Gesamtkonnexes, der eine Einheit der vielen Fragmente begründen könnte, prinzipiell negiert. Während der erste Weg philologisch unhaltbar ist und in seiner Haltlosigkeit durch die neueren Nachlaßeditionen aufgewiesen wurde, ist der zweite in hermeneutischer Hinsicht aporetisch. Und Derrida meint tatsächlich, daß sich Nietzsches Werke „einer hermeneutischen Interpretation entziehen"; 76 mit noch größerer Berechtigung müßte dies vom Nachlaß gesagt werden können! Die Möglichkeit, daß die Auslegung der späten Fragmente in eine Aporie mündet, sollte zwar nicht von vornherein als absurd zurückgewiesen werden, da sie vielleicht das 73 A a O . 286. 74 H . KRÜGER, Studien über den Aphorismus, 104. 75 A a O . 102; vgl. das Urteil HÄNTZSCHEL-SCHLOTKES, das hinsichtlich des .Willens zur Macht' zurückhaltender ist: in ihm sei Material f ü r ein Buch enthalten, „dessen Form und Stil noch nicht erkennbar sind" (Der Aphorismus, 140). 76 Nietzsche u n d die Semiologie (siehe Anm. 72), 285.
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einem aus Fragmenten bestehenden Nachlaß einzig angemessene „Ergebnis" der Interpretation sein kann; doch selbst eine solche Einsicht könnte nur am Ende des Auslegungsversuchs stehen, und nicht als leitende Prämisse an dessen Beginn. Die Frage nach der Einheit, dem Zusammenhang und der „Systematik" in Nietzsches Nachlaß würde ansonsten vorschnell abgeblockt, ohne das anstehende Sachproblem überhaupt in Angriff genommen zu haben. b) Die Einheit und Ganzheit der fragmentarischen Vielfalt Im Unterschied zu den beiden beschriebenen methodischen Ansätzen ist ein dritter denkbar, der weder die Fragmentarität noch die Möglichkeit einer diese übergreifenden Ganzheit ausschließt. Er wird dann befolgt, wenn der Nachlaß als solcher, d. h. ohne Bezug auf ein hypothetisches Hauptwerk, in seiner Totalität als umfassender Horizont der Auslegung der einzelnen Notizen verstanden wird. Dieser Ansatz entspricht im wesentlichen der systematischen Betrachtungsweise, wie sie Montinari als eine der beiden grundsätzlichen Interpretationsmöglichkeiten des Nachlasses vorschlägt.77 Doch unabhängig von diesem Bezug ist die Frage zu überlegen, ob die Annahme einer Ganzheit überhaupt legitimierbar ist, und zugleich zu bedenken, in welcher Weise der hier leitende Begriff des „Ganzen" zustandekommt. Erst nach Erörterung dieser Probleme kann weiters gefragt werden, welche Möglichkeiten sich daraus für die Interpretation der einzelnen Fragmente bzw. Aphorismen ergeben. Für die Annahme einer Ganzheit des Nachlasses sprechen literarische, chronologische, inhaltlich-thematische und strukturelle Aspekte. Zuerst ist auf die literarische Einheitlichkeit zu verweisen. Die damit gemeinte Einheit resultiert aus der offensichtlichen literarischen Unterschiedenheit zu anderen skripturalen Äußerungen Nietzsches, im besonderen auf der Differenz zu dem von ihm selbst veröffentlichten Werk. Die Intention eines Autors ist nämlich nicht allein an der Tatsache der Publikation zu erkennen, sondern in „negativer" Weise auch an der Entscheidung, etwas schriftlich Vorliegendes nicht zu veröffentlichen. Ein analoger Tatbestand ist auch dann gegeben, wenn der Autor durch den Tod oder, wie Nietzsche, durch den Ausbruch des Wahnsinns, verhindert wird, die Notizen im Hinblick auf eine Veröffentlichung umzuarbeiten. Durch das Faktum, daß Aufzeichnungen zum Nachlaß geworden sind, ist eine zumindest äußerliche Zusammengehörigkeit derselben gegeben. Ein ebenfalls dem ersten Anschein nach bloß „äußerlich" zu nennender Zusammenhang ist in der chronologischen Zusammengehörigkeit von Nachlaß77 Vgl. M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, bes. 38: „Wichtig ist dabei, daß man den Versuchscharakter dieser Aufzeichnungen, ihre Komplexität, vor allem ihre Komplexivität, ihre Gesamtheit nicht aus dem Auge verliert", vgl. Vorbemerkung, in: KGW VIII 1, VI.
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notizen zu sehen. Die Abfassung von Aufzeichnungen in demselben oder in unmittelbar aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten bedingt ein faktisches Aufeinanderbezogensein, selbst wenn, wie es bei Nietzsche oft der Fall ist, kein thematischer Zusammenhang zwischen unmittelbar nacheinander in einem Heft eingetragenen Notizen ersichtlich ist. Diese Hefte oder zusammengehörige Blätter in Mappen bilden ihrerseits eine chronologische Abfolge, die für das Verständnis der Gedankenentwicklung wohl nicht belanglos sein dürfte. Gerade weil die zeitliche Abfolge und Zuordnung von Aufzeichnungen für die Interpretation von tragender Bedeutung ist, wurde die KGW in chronologischer Reihenfolge angeordnet.78 Daß die äußere Anordnung nicht als eine bloß zufällige zu betrachten ist, dies zeigt der sachliche Zusammenhang der behandelten Themen, der sich allerdings meist erst nach einer eindringenden, mehrmaligen Lektüre erschließt. Der inhaltlich-thematische Zusammenhang der späten Aufzeichnungen läßt sich an einer Vielfalt von Problemsträngen aufweisen. Die gleichbleibenden Themen und ihre Variation berechtigen den Leser, sie in ihren gegenseitigen Verweisungsbezügen und wechselseitigem Zusammenhang zu betrachten. Der Nachlaß kann somit hinsichtlich eines bestimmten Themas, wie es ζ. B. die Frage der Interpretation ist, oder auch anderer Themen, als eine Ganzheit aufgefaßt werden, als ein viele einzelne „Teile" umgreifendes Textgefüge, das gewiß viel eher einem Gewebe von durcheinanderlaufenden, ungeordneten Fäden gleicht denn einem geordneten Muster. Dennoch kann Schlechtas Feststellung über die von Nietzsche publizierten Schriften in analoger Weise auch auf die Fragmente des Nachlasses bezogen werden: „Die bleibenden Themen Nietzsches bilden einen aufs innigste in sich zusammenhängenden Komplex — nicht ( . . . ) im Sinne einer systematischen Ordnung, sondern so, daß ziemlich gleichartig alles, nach allen Seiten hin, Verwandtem, audi wiederum Gleichgeartetem verhaftet erscheint."79 Es zeigt sich aber noch ein weiterer Aspekt einer inneren (und nicht bloß äußerlichen) wechselseitigen Bezogenheit der zahlreichen Notizen, nämlich ein Zusammenhang, der sich gewissermaßen quer durch die verschiedenen Themen hindurch verfolgen läßt: es ist eine strukturelle Zusammengehörigkeit. Sie tritt aber erst nach einer intensiveren Beschäftigung mit dem Nachlaß vor Augen. In der vorliegenden Arbeit konnte sie am Umgang Nietzsches mit dem Begriff der Interpretation aufgewiesen werden. Es stellte sich heraus, daß die Denkfigur der Auslegung die unterschiedlichsten Inhalte in einer formal gleichbleibenden Weise strukturiert. So werden ζ. B. Logik und Moral in jenem Ver78 Vgl. aaO. VII. 7» K. SCHLECHTA, Nachwort, 1438; zur zentralen Bedeutung der Frage nach der Einheit des Gesamtwerkes Nietzsches siehe K. ULMER, Orientierung über Nietzsche, in: Zeitschrift für philos. Forschung 12 (1958) 481, vgl. 485.
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stehensraster gedeutet, das ebenso für die Ontologie und die Antropologie zutrifft. Es ist bei den an sich weit auseinanderliegenden Themenkreisen dennoch eine gleichbleibende Struktur durch die Art und Weise, wie sie Nietzsche analysiert, gegeben. Im konkreten Fall konnte der Interpretationsprozeß als das alle zentralen Themen übergreifende Phänomen nachgewiesen werden. Die angeführten Gesichtspunkte erlauben es, bei der Interpretation des Nachlasses Nietzsches einen Gesamtzusammenhang der darin enthaltenen Aufzeichnungen anzunehmen. In entsprechender Weise kann von einer Systematik der inhaltlichen Ausführungen gesprochen werden. Und zwar gilt dies, auch wenn man den experimentierenden Charakter des Nietzscheschen Philosophierens in Betracht zieht. 80 Denn dieses „versucherische" Denken ist, wie A. Schmidt treffend feststellt, „zwar ( . . . ) nicht systematisch im traditionell — rationalistischen Sinn, deshalb aber keineswegs unorganisiert". 81 Dies läßt sich nach M. Montinari gerade von der Totalität des Nachlasses her begründen: „Das Einheitliche, wenn auch nicht Systematische im überkommenen Sinne, von Nietzsches Versuch erhellt aus der Gesamtheit des Nachlasses (.. ,)". 82 Darum bedeutet eine Feststellung, wie sie Haentzschel-Schlotke trifft, nämlich dai$ eine systematische Gedankenführung in diesen Aufzeichnungen „nicht erkennbar" sei,83 keineswegs zugleich auch, daß sie tatsächlich nicht vorhanden ist. Auch wäre es eine irreführende Annahme, zu meinen, bei Nietzsche erübrige sich ein System aufgrund seiner Denkform, „die in sich, im kleinen stimmig bleibt und auf einen übergreifenden Zusammenhang nicht angewiesen ist." 14 Vielmehr ist es eine der zentralen Aufgaben jeder eindringenden Interpretation, die den disparaten Notizen möglicherweise zugrundeliegende einheitliche und — in dem erwähnten Sinn verstanden — systematische Denkfigur ans Licht zu bringen. c) Konsequenzen für die
Fragment-Interpretation
Nachdem der Zusammenhang der Nachlaßfragmente auf verschiedenen Ebenen aufgezeigt worden ist, sind nun die Konsequenzen dieser Einsicht für das 80
Vgl. M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, 38; E. F. PODACH, Ein Blick in Notizbücher Nietzsches, Heidelberg 1963, 63. ΔΙ A. SCHMIDT, Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie, in: Zeugnisse, hrsg. von M. Horkheimer, Frankfurt/M. 1963, 123. 82 M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, 40. 83 H . HÄNTZSCHEL-SCHLOTKE, D e r Aphorismus, 139.
8·» AaO. 11; das Urteil K. ULMERS, daß die aphoristische Form der Darstellung nichts mit dem Versuchscharakter des Denkens Nietzsches zu tun. habe, ist auch bei der Frage nach dem Systemcharakter seiner Philosophie zu beachten; diese hätte die Annahme zur Folge, daß die Stilform des Aphorismus nicht notwendig den inneren (systematischen) Sachzusammenhang ausschließt (Orientierung über Nietzsche, in: Zeitschrift für philos. Forschung 13 [1959] 59): vgl. ebd. Anm. 1 den aufschlußreidien Hinweis auf Kants Unterscheidung von systematischem und fragmentarisch-aphoristischem Vortrag.
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Verständnis der einzelnen Fragmente zu bedenken. Die Tatsache, daß die „Textstücke" im Kontext der Gesamtheit des späten Nachlasses zu lesen sind, dürfte vor allem in folgenden vier Aspekten auf die Interpretation zurückwirken: in der Relativierung der einzelnen Aussage, in ihrer Intensivierung, in der Akzentuierung ihres Inhalts und in der sich daraus ergebenden Präzisierung der Bedeutung; schließlich in ihrer Unmittelbarkeit. — Relativierung·. Eine einzelne Aussage des Nachlasses kann nicht für sich allein herausgenommen werden, ohne ihren Zusammenhang mit anderen Notizen zu demselben oder verwandten Themen zu beachten. Dasselbe gilt von den Entwürfen von Titeln für geplante Bücher, von Kapitelüberschriften und Plänen für den Aufbau eines Werkes; wie verhängnisvoll sich die Verabsolutierung eines einzelnen Titels oder Planentwurfes für das Verständnis des Nachlasses auswirken kann, das zeigte die Erstedition des ,Willens zur Macht' in aller Deutlichkeit. Die Spannungen und Gegensätze, die zwischen den einzelnen Aussagen bestehen, können möglicherweise überhaupt nicht aufgelöst werden, jedenfalls aber nicht durch Nichtbeachtung oder willkürliche Abwertung von Aussagen, die im Widerspruch zu anderen stehen. Die Konsequenz daraus wird vielmehr eine Relativierung der jeweils problematisierten Aussage sein müssen; sie hat somit nur einen relativen Stellenwert im Verhältnis zu anderen Aussagen innerhalb des Gesamtnachlasses. — Intensivierung·. Das wiederholte Vorkommen einer These oder eines Themas hebt diese von anderen, nur selten erwähnten, ab; die ausführlichere Auseinandersetzung bzw. mehrmalige Behandlung bedeutet eine stärkere Hervorhebung, eine „Intensivierung" ihres Inhalts. — Akzentuierung und Präzisierung: Durch die Beachtung der Gesamtheit von Aussagen zu einem Thema ist es möglich, die Akzentuierungen, die es in der Behandlung durch Nietzsche erfährt, zu sehen. Dies gilt zunächst im Hinblick auf eine größere Anzahl von Notizen aus derselben Zeit zu ein und demselben Problem, die zu einer Differenzierung in inhaltlicher Hinsicht führen; diese synchron durchgeführten Akzentuierungen stehen aber ihrerseits des weiteren im Kontext diachron verlaufender Akzentverschiebungen. Entwicklungslinien können nach Vorliegen einer chronologischen Kennzeichnung und Anordnung von Nietzsches Notizheften in der ,KGW' ebenfalls festgestellt werden. Einen weiteren Vorteil für die Auslegung bilden die Wiederholungen und mannigfaltigen Ausgestaltungen eines Gedankens. Denn sie ermöglichen, das durchgehende Anliegen leichter zu erfassen; der zentrale Gedanke tritt in den jeweils neuen Ausdrucksweisen klarer hervor. Was E. Förster-Nietzsche im Vorwort zur ersten Auflage des .Willens zur Macht' richtig gesehen hat, ohne jedoch die editorischen Konsequenzen aus dieser Beobachtung zu ziehen, trifft tatsächlich zu: der Nachlaß „gewährt einen Einblick in Nietzsche's Geisteswerk-
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Einleitung
statt. Wir sehen gleichsam die Gedanken vor unseren Augen entstehen und können 2ugleich beobachten, wie unbefangen Nietzsche seine eigenen Gedanken prüft (.. ,)".85 Die Ausführlichkeit, mit der sie gelegentlich behandelt werden, würde Nietzsche im vollendeten Werk wohl vermieden haben — „aber gerade diese Ausführlichkeit erleichtert das Verständnis."86 — Unmittelbarkeit·. Es ist also trotz der Schwierigkeiten in Fragmenten auch ein für die Interpretation vorteilhafter Tatbestand zu erblicken. Der unmittelbare Charakter dieser Aufzeichnungen, der sich in der Spontaneität und Direktheit vieler Formulierungen widerspiegelt, wirkt sich positiv für die Möglichkeit des Verstehens aus. Es fehlt die nachträgliche, sekundäre, rationalisierende und systematisierende Überarbeitung.87 Gerade dadurch, daß es nicht zu jener Ausgewogenheit kommt, die Nietzsche vorschwebt, wenn er von Aphorismen spricht, die „rechtschaffen geprägt und ausgegossen" sind,88 ist der Sinn der Aussage förmlich „ungebrochen" zugänglich.89 Aus den genannten Gründen ist es nicht nur möglich, sondern auch erforderlich, gerade die unabgeschlossenen, oft nur stichworthaft angedeuteten Gedanken Nietzsches in der Deutung zu beachten. Auch Bemerkungen, die scheinbar nur beiläufig festgehalten worden sind und nebensächlich erscheinen, gewinnen dann oft eine ungeahnte Bedeutung. Schließlich erweisen sich Andeutungen oder Begriffe, die ohne textuellen Zusammenhang in einem Heft vorkommen und bei der Erstlektüre keinen einsichtigen Sinn für den Leser ergeben, von denen man zudem annehmen mag, daß sie einen Charakter „äußerster Vorläufigkeit" haben,90 nach Kenntnis von anderen Stellen im Nachlaß, in denen der betreffende Begriff ausführlich erörtert ist, als Hinweise auf Einsichten, die für Nietzsche schon eine solche Klarheit und Selbstverständlichkeit erreicht hatten, daß für ihn bei der Niederschrift ein Stichwort genügte. Im scheinbar Unverständlichen kann so bisweilen eine für Nietzsche schon relativ abgeschlossene und durchdachte Erkenntnis verborgen sein.91 85 Vorwort, in: Nietzsche's Werke, Bd. XV, Leipzig 1901, X V I . 86 Ebd. 87 Vgl. A. BAEUMLER, Zur Einführung (siehe oben Anm. 66), XXII f. 88 Vgl. die schon erwähnte Stelle in der Vorrede zur .Genealogie der Moral', KGW VI 2, 267. 89 Vgl. H. HÄNTZSCHEL-SCHLOTKE, Der Aphorismus, 140: „Fast alle Gedanken aus den früheren Werken sind hier wörtlich, explizit, unverstellt ausgesprochen (wie in den Nachlaß-Sammlungen überhaupt) und deshalb verfügbarer". 90 AaO. 139. 91 Es ist darum nur äußerlich geurteilt und sachlich nicht zutreffend, wenn R. MARGREITER, Ontologie und Gottesbegriffe bei Nietzsche, Meisenheim 1978, 116, schreibt, Nietzsche sei „kein systematischer und die Begriffe reinigender, klar darlegender und terminologisch durchhaltender Philosoph, sondern ein aphoristischer, impulsiver und oftmals ins Poetische, aber auch ins Pamphletische abgleitender Denker ( . . . ) , dessen .Sache' von der Art und Weise der Formulierung — soll eine sinnvolle Rekonstruktion seiner Philosophie möglich sein — getrennt werden muß". Anstatt eine solche (ohnehin kaum
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Die Befolgung der angeführten Kriterien, die die Beachtung des übergreifenden Zusammenhangs verlangen, könnte somit nicht nur ein differenziertes Bild der Einzelaussagen eines Fragments vermitteln, sondern den Nachlaß in seiner Gesamtheit den inneren Strukturen nach klarer hervortreten lassen.
3. Prinzipielle Interpretationsansätze hinsichtlich des Gesamtnachlasses Nachdem in einigen Aspekten die Deutung der einzelnen Fragmente innerhalb der Totalität des Nachlasses erörtert wurde, ist in einem weiteren Schritt nach den Interpretationsmöglichkeiten dieser Ganzheit als solcher zu fragen. Es ist die Gesamtheit der vorliegenden Aufzeichnungen in Betracht zu ziehen, und nicht bloß Teile daraus. Welche Wege können eingeschlagen werden, um die Ganzheit des Nachlasses trotz seiner Komplexität als Einheit zu verstehen? M. Montinari unterscheidet „zwei hauptsächliche Betrachtungsweisen von Nietzsches Manuskripten".92 Die eine ist mehr systematisch orientiert und nimmt „das Ganze der handschriftlichen Aufzeichnungen — abgesehen von ihrer Verwendung im Werk — als den werdenden, mehr oder minder einheitlichen Ausdruck von Nietzsches Denken" 93 Die andere Betrachtungsart ist eine „mehr genetisch ausgerichtete", die „sich an Nietzsches literarischen Absichten, d.h. an seinen Veröffentlichungsplänen (orientiert), wobei sie denjenigen einen Vorrang einräumt, die zur Ausführung gelangt sind."94 Für die vorliegende Arbeit ist eine primär systematisch orientierte Betrachtungsweise erforderlich, da sie ein Problem ausschließlich innerhalb der nachgelassenen Aufzeichnungen untersucht, ohne das Verhältnis zu Publikationen Nietzsches eigens herauszustellen. Der genetische Aspekt soll jedoch insofern berücksichtigt werden, als im ersten Teil der Arbeit die Genese der Veröffentlkhungsp/äwe Nietzsches, seine Titelentwürfe und Konzepte für Aufbau und Gliederung von beabsichtigten Werken, sowie eventuell dazugehörende Einleitungs- und Vorwortentwürfe die primäre Textbasis für die Untersuchung des Auslegungsproblems darstellen. Ferner meint Montinari in seinen methodologischen Überlegungen, daß sich in jeder Gesamtdeutung von Nietzsches Denken „die beiden Weisen des Vorgehens verbinden und einander ergänzen (sollten)".95 Diese Forderung führt aber zu Schwierigkeiten, da sie gewiß nicht durch eine Vermengung der methomögliche) Trennung zwischen „Form" und „Inhalt" anzustreben, ist es angemessener, die „Sache" aus dieser fragmentarischen Gestalt der Notizen zu erheben. 92 Vorbemerkung, in: KGW V I I I 1, VI. 93 Ebd. 9t Ebd. 95 Ebd.
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dischen Zugangsweisen erfüllt werden kann. Denn es würde dadurch sowohl die eine als auch die andere um ihren heuristischen Wert gebracht. In dieser Untersuchung wird die Schwierigkeit dadurch zu lösen versucht, daß, wie bereits angedeutet wurde, im ersten Teil die Auslegungsthematik an der genetischen Entwicklung der Veröffentlichungspläne (Titelentwürfe, Aufbau, Reihenfolge der Bücher, Konzepte für Einleitung bzw. Vorwort, Kapitelüberschriften) untersucht wird, in den drei folgenden Teilen hingegen durchgehend die systematische Betrachtungsweise der nachgelassenen Fragmente vorherrscht. Durch diese methodische Differenzierung ist es möglich, dem Postulat einer genetischen und zugleich systematischen Interpretation gerecht zu werden, ohne jedoch die beiden Ansätze in ein und demselben Darstellungszusammenhang zu vermischen. Die Legitimität einer gesonderten Untersuchung der Konzepte Nietzsches zu Titeln, Plänen und ähnlichen Texteinheiten ergibt sich zudem aus der spezifischen Funktion solcher „übergeordneter" Textformen, die nach der „Vorbemerkung" zum ersten Teil näher aufzuweisen ist. Abschließend zu den methodischen Überlegungen ist festzuhalten, daß alles, was hier fast ausschließlich in einer generalisierenden Form bezüglich der Interpretation von Nietzsches spätem Nachlaß gesagt worden ist, im Hinblick auf die Untersuchung eines speziellen Themas, im gegenständlichen Fall der „Interpretation", anzuwenden ist. Bei diesem zunächst nur als besonderes Einzelproblem erscheinenden Thematik mag sich zeigen, wie sehr eine isoliert festgehaltene Notiz, sei es in einem Fragment oder im Entwurf für einen Buchtitel, mit dem Nachlaß im ganzen in Zusammenhang steht, und wie umgekehrt von der Totalität der nachgelassenen Aufzeichnungen her die einzelne Niederschrift in ihrer Bedeutung besser verständlich wird.
E) Leithe griff der Hermeneutik
und systematische Gliederung der Arbeit
1. Die heuristische Funktion der Vorbegriffe „Interpretation" bzw. „Hermeneutik" Im Hinblick auf die Untersuchung von Nietzsches Verständnis der Interpretation und der darin implizierten Hermeneutik ist die ohne Zweifel wichtige Vorfrage zu klären, welcher Begriff von Interpretation bzw. Hermeneutik in der Untersuchung leitend sein solle. Da vom Umfang und Inhalt eines solchen Vorbegriffs die Heuristik der Lektüre mitkonstituiert wird, ist seine Bestimmung von weittragender Bedeutung. In einer der konkreten Darstellung noch vorgängigen Überlegung soll nun kurz bedacht werden, welcher Begriff von philosophischer Interpretation den bei Nietzsche antreffbaren Aussagen zu diesem Problemfeld gerecht werden könnte. Die Notwendigkeit einer solchen
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vorausgehenden Klärung ergibt sich ihrerseits aus hermeneutischen Erwägungen. Denn die die vorliegende Arbeit leitende Fragestellung ist in ihrer Abhängigkeit von der neueren hermeneutischen Diskussion und deren Problemformulierungen zu sehen. Somit ist schon immer ein durch die gegenwärtige Auseinandersetzung geprägter Begriff der Hermeneutik im Spiel, sei es in affirmativer oder kritisch-abhebender Weise. Die dadurch mitbestimmte Sache der Hermeneutik ist, wie immer man sie näherhin bestimmt, in einer zumindest strittigen Weise präsent. Der Begriff der philosophischen Hermeneutik in der jüngeren Philosophiegeschichte ist vornehmlich durch jene Richtungen in der Philosophie geprägt, die zu Recht als „Hermeneutische Philosophie" (O. Pöggeler)96 bezeichnet werden, und innerhalb derer der universale, sprachontologisch fundierte Verstehensbegriff, den Gadamer in .Wahrheit und Methode', dem „Grundbuch der modernen Hermeneutik" 97 entfaltet, eine Schlüsselstellung einnimmt. Nicht weniger bedeutsam ist das im Hintergrund dieses Entwurfes stehende Denken Af. Heideggers, das in mehrfacher Hinsicht zur Radikalisierung der hermeneutischen Fragestellung beigetragen hat. In besonderer Weise ist hier einerseits der Gesamtansatz der in ,Sein und Zeit' intendierten hermeneutischen Ontotogie zu nennen, andererseits die Bestimmung des Daseins als Verstehen sowie die daraus resultierenden Differenzierungen zwischen Verstehen und Auslegung, Aussage und Auslegung bzw. apophantischem und hermeneutischem Logos.98 Das Verständnis der Hermeneutik bei Gadamer und Heidegger führt zu einer äußerst weitreichenden Neubestimmung dieses Begriffs. Sie zeigt sich zunächst darin, daß er nun gewissermaßen für das Grundanliegen der Philosophie stehen kann, und daher für die Ausarbeitung der Ontologie sowie Anthropologie tragende Bedeutung erhält. Denn mit Hermeneutik ist nun nicht mehr das Verstehen von Sinngebilden gemeint, sondern „die Selbstauslebung und Selbstauslegung des Daseins". 99 Im Verhältnis zu einer ursprünglich weithin auf schriftliche Texte bezogenen Auslegungspraxis ist eine ungeahnte Ausweitung des Begriffs vollzogen. Es wurden darum in jüngster Zeit nicht nur Stimmen laut, die den Universalitätsanspruch der Hermeneutik zu hinterfragen beabsichtigten,100 sondern auch solche, die für eine „wieder eingeschränkte Herme96 Vgl. den Titel des in Anm. 30 zitierten, von O. PÖGGELER herausgegebenen Sammelbandes. 97 W. SCHULZ, aaO. (siehe oben Anm. 6), 306. 9 8 Vgl. die §§• 5 und 7 und §§ 31-33 in ,Sein und Zeit', ferner M. HEIDEGGER, Logik. Die Frage nach der Wahrheit ( = Gesamtausgabe, II. Abtig., Bd. 21), Frankfurt/M. 1976, 135 ff. 99 H.-G. GADAMER, Einführung, in: Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1976, 38; vgl. DERS., Das Erbe Hegels, in: Das Erbe Hegels, Frankfurt/M. 1979, 52. 100 J . HABERMAS, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1971, 120 g.
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Einleitung
neutik" plädierten. W. Kamiah schlägt vor, die hermeneutische Problemstellung wieder auf den Text einzuschränken.101 Ebenso versucht audi P. Ricoeur in neueren Publikationen, wenn auch mit einer von Kamiah unterschiedenen Motivation, aber gleichwohl mit einer gegenüber Gadamer kritischen Tendenz, das Textphänomen und überhaupt objektivierte Sinngebilde im hermeneu tischen Prozeß stärker in das Zentrum zu rücken.102 Tatsächlich wird mit der Frage nach dem Stellenwert der Objektivierung, einschließlich der schriftlichen Fixierung, eine Frage aufgeworfen, die Gadamer — auf Grund seiner ambivalenten Bestimmung des Fixiert- bzw. Objektiviertseins — nicht befriedigend zu lösen vermag.103 Es ist darum, nach der durch Gadamer vollzogenen Abkehr von Dilthey, dessen Geschichts-Hermeneutik er noch den Aporien des Historismus verhaftet sieht,104 gleichwohl zu bedenken, ob nicht dessen Bestimmung der Auslegung bzw. Interpretation als „kunstmäßige(s) Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen"105 wieder mehr beachtet werden sollte. Welcher Hermeneutik-Begriff soll nun aber als Leitkategorie für die Erfassung der Aussagen Nietzsches zur Auslegung dienen? Ist hier eher ein ontologisch-universalistischer, oder primär ein an objektivierten Sinngebilden orientierter angemessen? Diese Frage kann gewiß nicht im voraus zur Untersuchung endgültig entschieden werden, doch es können Gesichtspunkte genannt werden, die den Ausgangspunkt vom umfassenderen Hermeneutikbegriff nahelegen, ohne daß dies zugleich bedeuten soll, daß ein engerer — wie der textbezogene Begriff —, im Hinblick auf Nietzsche ausgeklammert werden müßte. Um der bei Nietzsche möglicherweise gegebenen Vielfalt von Aspekten in der Verwendung des Begriffs der Auslegung bzw. Interpretation — die wechselnde Terminologie ist in seinem Sprachgebrauch begründet — durch den 101 W. KAMLAH, Plädoyer für eine wieder eingeschränkte Hermeneutik, in: Propädeutik der Literaturwissenschaft, hrsg. von D . Harth, München 1973, 36 ff. 1 0 2 Vgl. P. RICOEUR, Qu'est-ce qu'un texte?, in: Hermeneutik und Dialektik, Bd. 2, Tübingen 1970, 181 ff.; DERS., Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen, in: Verstehende Soziologie, hrsg. von W . L. Bühl, München 1972, 252 ff.; DERS., Philosophische und theologische Hermeneutik, in: P. Ricoeur / E . Jüngel, Metapher, München 1974, 24 ff.; vgl. dazu O . F. BOLLNOW, Paul Ricoeur und die Probleme der Hermeneutik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976) 167 ff., 391 ff. 103 Vgl. J . FIGL, Text, Tradition und Interpretation. Schriftliche Objektivierung als hermeneutisches Problem in Hans-Georg Gadamers ,'Wahrheit und Methode', in: Kairos 20 (1978) 281 ff. 104 Wahrheit und Methode, 205 ff. 105 w . DILTHEY, Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, 319; vgl. dazu H . ANTON, Art. Interpretation, aaO. 515, der mit Bezug auf Gadamer (Wahrheit und Methode, 170), feststellt, daß in der neuzeitlichen Entwicklung des Interpretationsbegriffs, einschließlich von F. BACONS „interpretatio naturae" (Novum organon I, 1, 19, 28, 130, zit. ebd.), „die Auslegung von Texten das I(nterpretations)-Modell (liefert)"; zur Deutungsmethode Bacons vgl. M. BENEDIKT, Der philosophische Empirismus. Theorie, Wien 1977, bes. 81 ff.
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heuristischen Ansatz gerecht werden zu können, scheint folgende generelle Hypothese nützlich zu sein: der Begriff der „Interpretation" (und somit der darin implizierte Hermeneutikbegriff) ist von vornherein in einer möglichst großen inhaltlichen Weite zu denken; d.h. — negativ formuliert —, von seinem Umfang dürfte die Bedeutung, die in der ontologischen Bestimmung Heideggers und Gadamers erarbeitet wurde, keinesfalls a priori ausgeklammert werden. Es darf also nicht ausgeschlossen werden, daß sich bei Nietzsche ein Hermeneutikbegriff findet, der die Auslegung des Seins intendiert, und auch nicht jener Begriff des Verstehens, der als Existenzial, als Wesensbestimmung des Daseins schlechthin, gedeutet wird. Man kann und muß aber in der hypothetischen Überlegung noch weiter gehen, indem man die Möglichkeit miteinbezieht, daß vom Umfang des Auslegungsbegriffes Nietzsches her die genannten existenzialen und ontologischen Bestimmungen selbst nur als vorläufige und begrenzte erscheinen, ja, daß sie — wie im Hinblick auf die sprachontologische Fundierung des Universalitätsanspruchs der Hermeneutik durch Gadamer aufgrund von Nietzsches bekannter Sprachkritik, in der auch Sprache nur eine der möglichen Weltinterpretationen des Menschen ist, zu erwarten wäre — von einem umfassenderen Entwurf des Auslegens her relativiert und kritisiert werden. Festzuhalten ist, daß von vornherein ein universaler, d.h. nicht ein auf bestimmte Phänomene, wie menschliche Sinngebilde objektivierter Art (besonders Texte), beschränkter Begriff der Hermeneutik leitend sein soll. Zugleich bedeutet dies, daß es ein wesenhaft philosophischer, nicht einzelwissenschaftlicher Begriff des Interpretierens ist, der die Leitkategorie für die Analyse der Aussagen Nietzsches bildet. Andererseits aber soll mit der gegebenen Definition nicht jener hermeneu· tische Vollzug ausgeklammert werden, der sich auf die Gegenstandswelt menschlicher Sinnobjektivationen bezieht. Daß ein solcher bei Nietzsche zu erwarten ist, ergibt sich aus der Kritik an sprachlichen und logischen bzw. semiotischen Phänomenen, sodann — noch spezifischer — aus seiner intensiven Beschäftigung mit Fragen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Diese Themen sind darum ebenfalls zu berücksichtigen, und zwar wird dies in der vorliegenden Arbeit insofern geschehen, als sie in ihrer Relevanz für eine philosophische Theorie des Auslegungsgeschehens zu beachten sind.
2. Aufbau der Arbeit Dem Problem der „Auslegung" bzw. „Interpretation" begegnet man im späten Nachlaß in untereinander ζ. T. sehr verschiedenen Kontexten. Um den vielfältigen Aspekten der Auseinandersetzung mit dieser Thematik gerecht zu werden, ist es nötig, die erwähnte Pluralität innerhalb der Darstellung wenn
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Einleitung
möglich schon in deren Gliederung zu berücksichtigen. Andernfalls wäre eine Einengung der bei Nietzsche antreffbaren unterschiedlichen kontextuellen Bestimmungen des Auslegungsbegriffes zu befürchten. Zugleich bedarf es aber im Interesse der systematischen Darstellung einer Sichtung und gegenseitigen Zuordnung der differenten hermeneutisch relevanten Ausführungen, die einerseits den Unterschieden, und andererseits dem inneren Zusammenhang der variierenden Kontexte gerecht wird. Die vorliegende Untersuchung beabsichtigt diese differenzierende Systematik durch eine Gliederung zu erreichen, in der jeweils die mit dem Auslegungsbegriff verbundene Intention sowie dessen thematischer Kontext das primäre Kriterium für den Fortgang der Darstellung bildet. Eine erste, grundlegende Intention der Verwendung des Begriffs „Auslegung" ist an der Tatsache ersichtlich, daß Nietzsche seine späte Philosophie selbst als Auslegung versteht, wie es ζ. B. aus dem Untertitel zur erstmaligen Nennung des ,Willens zur Macht' hervorgeht, in dem von einer „neuen Auslegung" die Rede ist. Daher ist zunächst zu fragen, in welcher Weise denn der Zusammenhang zwischen dem Grundanliegen sowie „methodischen" Ausgangspunkt seiner Philosophie mit dem Auslegungsbegriff zu verstehen ist; von dem genannten Titel her kann Aufschluß über die für Nietzsche charakteristische Art, philosophische Fragen zur Sprache zu bringen, erwartet werden. Es ist zu zeigen, ob und in welcher Hinsicht sich seine Philosophie im ganzen als eine Auslegung, als Hermeneutik erweist; näherhin lautet die Frage, inwiefern sie ein neues, durch den Schlüsselbegriff „Wille zur Macht" vermitteltes Verständnis des Seins insgesamt sowie einzelner zentraler Bereiche des Daseins ermöglicht. Diese „neue Auslegung" in ihren wichtigsten Aspekten aufzuzeigen wird die Aufgabe des ersten Teiles sein. In diesem Teil bezieht sich die argumentative Darlegung, wie erwähnt, vorwiegend auf besonders charakteristische Texte, wie es die Pläne zu Titel, Aufbau, usw., sind. An diesen nämlich sind der Gesamtentwurf seiner Philosophie sowie deren innere Konturen gewissermaßen in einer von Nietzsche selbst konzipierten „Kurzfassung" ablesbar. Durch die Orientierung an der chronologischen Abfolge der Buchpläne Nietzsches, die aufgrund der neuen manuskriptgetreuen Edition von Colli und Montinari nun erstmals möglich ist, wird zugleich ein Überblick über die Genese und Entwicklung der Auslegungsthematik sowie über die wichtigsten Themen gegeben, die Nietzsche in seinen projektierten Werken zu behandeln beabsichtigte; ferner ist dadurch ein Einblick in die hauptsächlichen Phasen des späten Schaffens ermöglicht. Im zweiten, dem ontologischen Teil der Arbeit verändert sich die Zielrichtung des Verständnisses der Interpretation. Dieser Terminus dient nicht mehr primär dazu, um die Eigenart des Nietzscheschen Philosophierens zu charakterisieren, sondern vielmehr um den Grundcharakter des vermittels seiner Philo-
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sophie ausgelegten Seinsgeschehens zu bezeichnen: das Sein selbst interpretiert. Die Darstellung wird somit von der Auslegung des Seins zum Sein als auslegenden weiterschreiten. Die neue Dimension der Erörterung des Problems läßt sich an der gewandelten Verhältnisbestimmung zwischen Wille zur Macht und Auslegung explizieren: der Wille zur Macht, im ersten Teil die leitende Kategorie der Interpretation des Seins bzw. von Objektbereichen im Sinne eines genitivus objectivus, wird im zweiten Teil selbst als „Subjekt" der Auslegung (genitivus subjectivus) dargestellt werden. Die weiteren konkreten Ausführungen differenzieren dieses „Subjekt" des Auslegungsgeschehens in eine Vielzahl von antagonistischen „Subjekten" innerhalb einer pluralen Ontologie des Werdens. Durch die Resultate des zweiten Teils sind die notwendigen ontologischen Bedingungen geschaffen, um die Grundstrukturen des Verstehens im anthropologischen Bereich explizieren zu können, der im dritten Teil behandelt wird. Denn wie alles Sein ist auch das menschliche Subjekt, noch vorgängig zu seiner Einheit, eine Vielheit von vorbewußten „Subjekten". Diese Pluralität schlägt sich in der Vielfalt und Wandelbarkeit des Welt- und Objektverstehens nieder. Doch dieselbe Tatsache der ontologischen Vielheit erfordert einen anderen Aspekt menschlicher Auslegung, nämlich eine selektiv und assimilativ vereinfachende, letztlich zu einer Zeichenwelt führenden Strategie, da nur auf diese Weise die Überlebenschance angesichts der plural strukturierten Welt und Umwelt ermöglicht werden kann. Die Ausführungen über das subjektive Verstehen führen in ihrer Konsequenz zur Problemstellung des vierten Teils der Arbeit: zur Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Objektbezugs und überhaupt der Wahrheit von Interpretationen. Die Antwort Nietzsches wird den Subjekt-Objekt-Gegensatz als bloß sprachlich vermittelten von einem übergreifenden Horizont her relativieren, und im Auslegungsgeschehen die Grundvoraussetzung für jede „Wahrheit" erblicken. In einer nochmals verschärften Zuspitzung des Wahrheitsproblems wird schließlich im letzten Kapitel durch die Rückbeziehung der Universalität des trügerischen Geschehens auf die im ontologischen Teil ausgearbeitete Kennzeichnung des Seins als Auslegungsprozeß die These erörtert, inwiefern Auslegen notwendigerweise Täuschen ist. Die Korrespondenz dieser These mit Nietzsches utilitaristisch-pragmatischem Wahrheitsbegriff schließt gewissermaßen den Zirkel von Nietzsches Interpretationstheorie und vermag in indirekter Weise ihre innere Geschlossenheit zu zeigen. Ihre innere Konsistenz erweist die späte Philosophie Nietzsches als Auslegung im ontologischen sowie anthropologischen Bereich, und zwar dadurch, daß sie auf eine für sie charakteristische Weise, nämlich in interpretierender Form, die thematisierten „Phänomene" (Sein, Mensch) als aktiv interpretierende auszulegen vermag. Sie bestätigt so nochmals die durch die „neue Aus-
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legung" vermittelte Sicht des Grundes aller Dinge, nämlich daß dieser seinem innersten Wesen nach selbst ein auslegendes Geschehen „ist", da sich, in allem Sein ein Interpretieren vollzieht.
1. Teil: Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche
1. Vorbemerkung Bei der erstmaligen Nennung des ,Willen zur Macht' als Titel für ein geplantes Buch wählt Nietzsche den Untertitel ,Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens' (VIII3,349: 39, l). 1 Es wird Aufgabe des ersten Kapitels dieses ersten Teils der Arbeit sein, aufzuzeigen, daß es sich bei dieser Formulierung nicht um eine zufällige oder beliebige handelt, sondern daß hierin die für Nietzsche charakteristische Art, das Sein im ganzen zu bedenken, zum Ausdrude kommt; das Verständnis des Seins soll auf hermeneu tische Weise erschlossen, die Ontologie im Ansatz als Hermeneutik verstanden werden. Diese These wird nicht allein durch den Titelentwurf bestätigt, sondern vor allem durch Aufzeichnungen, die sich im Umkreis der erstmaligen Nennung dieses Titels befinden, und deren Bedeutung und Funktion erst aufgrund der manuskriptgetreuen Edition erkannt werden konnte. Im besonderen sind es einerseits Fragmente zur „Einleitung" bzw. zur „Vorrede" des unter dem erwähnten Titel geplanten Werkes, die wichtige Aufschlüsse darüber geben, was Nietzsche unter „neuer Auslegung" versteht; ferner sind Notizen heranzuziehen, in denen die „Auslegung" der „Erklärung" gegenübergestellt wird, woraus wiederum die genauere Bedeutung der ersteren erkennbar ist. Die genannten Titelformulierungen und Textstücke sind in ihrem Zusammenhang darzustellen, um die hermeneutische Fundierung der unter dem komplexen Begriff „Wille zur Macht" anvisierten Ontologie zu erhellen. Die aktuelle Bedeutung des Ansatzes Nietzsches soll in diesem Kapitel durch die Konfrontation mit den Tendenzen einer hermeneutischen Ontologie (M. Heidegger) bzw. einer ontologisdhen Hermeneutik (H.-G. Gadamer) verdeutlicht werden. Im zweiten Kapitel wird der generelle ontologische Ansatz auf die verschiedenen regionalen Bereiche des Seins hin differenziert, die mittels des neuen Auslegungsprinzips „Wille zur Macht" gedeutet werden sollen. Und zwar soll dies in dem Ausmaß geschehen, als die Frage der Interpretation in 1
In den Stellenangaben im laufenden Text wird ein Fragment des Nachlasses nach der Kritischen Gesamtausgabe von G. Colli und M. Montinari zitiert, und zwar in folgender Weise: Abteilung ( = römische Zahl), Band und Seite; sodann (nach dem Doppelpunkt) die Angabe des Fragments in der neuen Anordnung und Zählung: zuerst die Nummer des Heftes bzw. der Mappe, und schließlich die Nummer des Fragments in der neuen Zählung. Bei mehrmaliger Zitation desselben Fragments in unmittelbarer Aufeinanderfolge im Text wird nur die Seitenangabe wiederholt.
Auslegung des Seins und der Daseinsbeteiche
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den auf die erstmalige Nennung des Titels folgenden Plänen zum ,Willen zur Macht' ausdrücklich zur Sprache kommt. Das zweite Kapitel hat somit im Verhältnis zum vorhergehenden zugleich eine weiterführende, ergänzende und relativierende Funktion. Es ist ergänzend, weil auch die folgenden Titelentwürfe, deren Zusammenhang mit der Interpretationsfrage nicht mehr so unmittelbar wie bei dem „Auslegungs" -Untertitel zur Sprache kommt, untersucht werden, und zwar ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Auslegungsthematik. Dadurch erweisen sich die Ausführungen des zweiten Kapitels zugleich als relativierend, da der zuerst ausgearbeitete Untertitel des ,Willens zur Macht' auf die späteren bezogen wird, und überhaupt die zu den verschiedenen Titeln gehörenden Pläne in ihrem Wandel verfolgt werden. Durch die Konzentration auf Plan- und Titelentwürfe sowie dazugehörende Aufzeichnungen (Einleitung; Kapitelüberschriften) werden im ersten Teil der Arbeit, wie erwähnt, vor allem solche Nachlaßfragmente untersucht, die sich von der Masse der übrigen Aufzeichnungen durch ihre literarische „Form" — wenngleich dieser Ausdruck nicht im streng literaturwissenschaftlichen Sinn zu verstehen ist — abheben. Eine gesonderte Behandlung solcher Texte ist aber nicht nur wegen ihrer spezifischen Strukturierung berechtigt, sondern auch aufgrund der Funktion, die solche Konzepte innerhalb des Gesamtnachlasses der Spätzeit einnehmen. Ihre eigentümliche Funktion und möglicherweise tiefere Bedeutung soll nun, einleitend zum ersten Teil der Arbeit, dargelegt werden.
2. Zur systematischen Funktion von Titel- und Planentwürfen Die Entwürfe für Titel von nicht publizierten Schriften und die Pläne für deren Aufbau haben in den letzten Jahren von Nietzsches bewußtem geistigen Arbeiten eine äußerst mannigfaltige Entwicklung durchgemacht. Ein anschauliches Bild davon vermittelte schon E. Podacbs Buch ,Ein Blick in Notizbücher Nietzsches', das sich auf die Titelentwürfe und Inhaltsangaben konzentriert.2 Das Studium dieser Entwürfe in der Kritischen Gesamtausgabe, in der die Titel erstmals nach ihrem ursprünglichen Ort im Manuskript unter den anderen Aufzeichnungen publiziert sind, verstärkt den Eindruck, daß sich hier ein höchst interessanter, aber verwirrender Aspekt von Nietzsches Arbeitsweise zeigt.3 Für die Lektüre erweist sich zunächst die Tatsache als erschwerend, daß sich oft innerhalb eines kurzen Zeitraums in demselben Notizheft sehr verschiedene Titelentwürfe finden. Der genannte Sachverhalt wirft mannigfache Probleme E. PODACH, Ein Blidc in Notizbücher Nietzsches, Heidelberg 1963. 3 AaO. 51. 2
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der Interpretation auf, weil zahlreiche Titel weder zu publizierten Schriften noch zu abgeschlossenen nachgelassenen Abhandlungen gehören. Damit stellt sich um so brennender das Problem der Zuordnung der Titel. Eng damit verbunden ist die Frage nach ihrer Funktion im Hinblick auf die ebenfalls notizhaft gebliebenen Aufzeichnungen, zwischen denen sie sich finden. Eine grundlegende Funktion der Titelentwürfe kann wohl darin gesehen werden, eine Reihe von Aufzeichnungen unter einem einheitlichen thematischen Gesichtspunkt zusammenzufassen.4 Neben diesem resümierenden Aspekt im Hinblick auf schon vorliegende Notizen ist aber gewiß noch ein antizipierendes Moment in diesen Titelentwürfen zu beachten, insofern sie das Konzept eines noch zu vollendenden Werkes gleichsam vorwegnehmen. Diese Absicht ist aber nicht primär negativ zu beurteilen, da „diese Titel keineswegs leere Hülsen" sind, sondern sowohl in ihrer resümierenden als auch in ihrer antizipierenden Eigenschaft „die jeweiligen, möglichen literarischen Intentionen Nietzsches (verdeutlichen)".5 Ferner lassen sich die Titel- und Planentwürfe „als Indikator für den Stand und den Charakter von Nietzsches Arbeiten ( . . . ) betrachten".6 Sie sollten Nietzsche „den letzten Zugang zu den ihn beschäftigenden Gedanken öffnen, das Abgrenzen und Ordnen des angesammelten Materials ermöglichen, der Darstellung das angesteuerte Ziel setzen" ? Ein solcher Titel schließt, wie K. Schlechta sagt, die einzelnen Aphorismen wie „Einzelorganismen zu einem Organismenverband" zusammen.8 Und durch „jeden dieser Titel (werden) frühere Aufzeichnungen unter ein bestimmtes Licht gestellt" (M. Montinari)? Ihre Funktion zeigt sich über die literarisch wichtigen Aufschlüsse hinausgehend auch in ihrer sachlichen Bedeutung. Denn von einem Titelentwurf her ergibt sich die Möglichkeit, die zahlreichen Aufzeichnungen unter einem spezifischen inhaltlichen Aspekt zu lesen. Gewiß wäre es methodisch unzulässig, einen der zahlreichen Titel bzw. Pläne zu einem Werk zu verabsolutieren und als den schlechthin bestimmenden zu betrachten, wie es die Herausgeber der klassischen ,Willen zur Macht' -Kompilation offensichtlich taten. Hier würde die Vielheit der Titelentwürfe Nietzsches eliminiert und zugleich auch deren chronologische Entwicklung übergangen. Beachtet man jedoch die zeitliche Zuordnung der Titelentwürfe, so scheint es heuristisch legitim zu sein, diese im Zusammenhang mit den Aufzeichnungen aus derselben Zeit bzw. in demselben oder in benachbarten Heften zu interpretieren. Die Titel sind dann nicht mehr 4 V g l . G . COLLI / M . MONTINARI, V o r b e m e r k u n g , i n : V I I 1, V .
5 AaO. VI.
6 E . PODACH, a a O . 1 0 .
7 AaO. 63. 8 K. SCHLECHTA, Philologischer Nachbericht, Bd. 3, 1400. 9 M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, 43.
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereidie
als isolierte Notizen, die wie versteinerte Blöcke innerhalb des Flusses der übrigen Aufzeichnungen stehen, zu betrachten, sondern sie bekunden ebenso wie diese den jeweiligen Entwicklungsstand der Reflexionen Nietzsches und stehen in einem kontinuierlichen Schaffenszusammenhang. Ihr thematischer Gehalt ist darum im Kontext der Aussagen der sie umgebenden Notizen zu verstehen. Ein solcher Interpretationsversuch soll im folgenden bezüglich der erstmaligen Nennung des ,Willens zur Macht' als Haupttitel mit dem Untertitel ,Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens' gemacht werden, und zwar im Hinblick auf das Sachproblem, ob der ontologische Schlüsselbegriff tatsächlich als Auslegung verstanden ist. Den Horizont für die Fragestellung bildet die neuere hermeneutische Diskussion, in der sich die ontologische und die hermeneutische Thematik überschneiden; sie ist darum auch zunächst darzustellen.
1. Kapitel: Ein hermeneutischer Entwurf der Ontologie 1. Die Problemstellung vor dem Hintergrund der hermeneutischen Ansätze Gadamers und Heideggers a) Sprachontologische Wendung der Hermeneutik Die neuere Diskussion über die Grundlagen einer philosophischen Hermeneutik, die im Anschluß an Gadamers Buch ,Wahrheit und Methode' geführt wurde, war nicht zuletzt durch den Universalitätsanspruch sowie die damit verbundenen ontologischen Implikationen verursacht.10 Gadamer beabsichtigte, wie aus der programmatischen Überschrift zum dritten Teil seines Hauptwerkes hervorgeht, eine „ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache".11 Der Primat der Sprachlichkeit innerhalb des hermeneutischen Phänomens ergab sich aus der Einsicht in die sprachliche Struktur der Erfahrung von jeglichem Seienden, die pointiert in der These zusammengefaßt wird: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache."12 Der Umfang der Hermeneutik erstredete sich infolgedessen auf Seinserfahrung schlechthin, auf das Sein im ganzen.13 Die ontologische Dimension sprengte nicht nur einen auf die Geisteswissenschaften begrenzten Begriff der Hermeneutik auf, der im Horizont der vom ontologisch bestimmten Sprachphänomen ausgehenden Reflexionen Gadamers als Begrenzung erscheinen mußte, sondern durch sie wurde die Hermeneutik selbst als „ein universaler Aspekt der Philosophie" ausgewiesen.14 Mit der angeführten Begriffsbestimmung wird sich jede weitere Beschäftigung mit der Hermeneutik als philosophischem Problem auseinandersetzen müssen, wenn sie nicht der Gefahr erliegen will, die Weite und Radikalität eines schon erarbeiteten Entwurfes der philosophischen Hermeneutik zu unterbieten. Wird aber die Herausforderung, die Gadamers Konzept für ein weiterführendes Durchdenken der Aufgabe einer philosophischen Hermeneutik stellt, ernst genommen, dann wird auch die Frage legitim zu stellen sein, ob nicht vielleicht ein noch umfassenderer Begriff der Hermeneutik denkbar ist. Denn, Vgl. J. HABERMAS, Der Universalitätsansprudi der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, 120 fi. 11 Wahrheit und Methode, 361. 12 AaO. 450. 13 Vgl. aaO. 452. i+ AaO. 451.
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereidie
so könnte man einwenden, wieso sollte die Sprachlichkeit den Horizont der Seinserkenntnis, die sprachphilosophische Reflexion die Möglichkeiten der ontologischen Erfahrung begrenzen und somit der Begriff der Hermeneutik vom sprachlichen Phänomen her bestimmt werden? Bildet die sprachlich verfaßte Welt nicht nur einen „Bezirk" innerhalb des Seins, und müßte sich nicht ein wahrhaft ontologisch fundierter Begriff der Hermeneutik auf das Sein im ganzen erstrecken? Denn gerade der Satz: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache", widerstreitet, wie H. Braun meint, „der mit ihm gemeinten Universalität, insofern er gerade eine Einschränkung der ontologischen Reichweite der Sprache ausspricht".15 Im Hintergrund dieser Anfrage steht ein HermeneutikVerständnis, das von Anfang an umfassender als jenes ist, das sich auf die Sprache als letzten Horizont der Welterfahrung bezieht. Ein solches, im echten Sinn des Wortes universal-ontologisches Konzept von Auslegung ist im Frühwerk M. Heideggers anzutreffen. b) Die hermeneutische
Grundlegung
der
Ontologie
In den einleitenden Paragraphen von „Sein und Zeit' stellt Heidegger mit relativ großer Ausführlichkeit auch die Methode seiner Untersuchung der Seinsfrage dar. Die Behandlungsart der Frage nach dem Sinn des Seins ist demnach die phänomenologische, wobei zunächst der „Ausdrude Phänomenologie' primär einen Methodenbegriff (bedeutet)", das will sagen, daß er „nicht das sachhaltige Was (...), sondern das Wie" der Gegenstände der philosophischen Forschung charakterisiert.16 Doch dieser formale Vorbegriff der Phänomenologie muß, wie Heidegger sagt, mit Rücksicht auf den phänomenologischen „entformalisiert" werden,17 und zwar von dem her, was in einem ausgezeichneten Sinn „Phänomen" genannt werden muß, das solches ist, „was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört", — und solches ist „nicht dieses oder jenes Seiende, sondern ( . . . ) das Sein des Seienden".18 Als Folgerung daraus ergibt sich, daß „Ontologie nur als Phänomenologie möglich (ist)" ,19 wie auch umgekehrt, daß die Phänomenologie — sachhaltig genommen — „die Wissenschaft vom Sein des Seienden — Ontologie (ist)".20 Aus der phänomenologiH. BRAUN, Zum Verhältnis von Hermeneutik und Ontologie, in: Hermeneutik und Dialektik, Bd. 2, 217. 1 6 Sein und Zeit, 27, vgl. 34: „Das Wort (seil. .Phänomenologie', J. F.) gibt nur Aufschluß über das Wie der Aufweisung und Behandlungsart dessen, was in dieser Wissenschaft abgehandelt werden soll". 17 AaO. 35. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 AaO. 37.
Ein hermeneutischer Entwurf der Ontologie
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sehen Art der Untersuchung wie Analyse des Daseins, bei dem die konkrete Ausarbeitung der Ontologie als Fundamentalontologie ihren Ausgangspunkt zu nehmen hat,21 resultiert eine für den Hermeneutikbegriff weittragende Einsicht, nämlich daß „der methodische Sinn der phänomenologischen Deskription Auslegung (ist)".22 Und zwar ist sie dies in einer dreifachen Hinsicht, was jeweils einen anderen Begriff der Hermeneutik voraussetzt. Im Zusammenhang der hier verfolgten Problemstellung genügt es, auf den zweiten von Heidegger genannten Hermeneutikbegriff einzugehen; doch soll audi der erste kurz erwähnt werden, da er zur Präzisierung des zweiten dient; der dritte, in dem er „den, philosophisch verstanden, primären Sinn einer Analytik der Existenzialität des Daseins sieht",23 gründet im ontologischen Vorrang des Daseins vor allem Seienden „als Seiendes in der Möglichkeit der Existenz" ,24 Dieser kann im Hintergrund der folgenden Darstellung bleiben.25 Der erste ist impliziert in der Aussage, daß „Phänomenologie des Daseins Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes (ist), wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet" .26 Da es aber in dieser Analytik des Daseins um die „Freilegung des Horizontes für eine Interpretation des Sinnes von Sein überhaupt" geht,27 also eine Auslegung des Seins als solchem vorbereitet werden, und nicht bloß das verstehende Dasein im Mittelpunkt der Überlegungen bleiben soll, ergibt sich ein noch weiterer Begriff der Hermeneutik, der für die Ausarbeitung der Ontologie in ihrem ganzen Umfang äußerst relevant ist. Denn insofern als „durch die Aufdeckung des Sinnes von Sein und der Grundstrukturen des Daseins überhaupt der Horizont herausgestellt wird für jede weitere ontologische Erforschung des nicht daseinsmäßigen Seienden, wird diese Hermeneutik zugleich ,Hermeneutik' im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen jeder ontologischen Untersuchung" .28 Dieser Begriff der Hermeneutik vermag den Horizont für das Verständnis des Auslegungsbegriffes Nietzsches abzugeben. Denn in ihm ist die Möglichkeit einer Hermeneutik impliziert, die das Ganze des Seins zum „Inhalt" ihrer Auslegung macht, durch die also die Ontologie auf dem Wege der Interpretation gewonnen wird. Hermeneutik ist auch bei Heidegger wesentlich Interpretation des Sinnes von Sein, Auslegung des Seins im ganzen. Hermeneutik ist, wie C. F. Gethmann in seiner ausführlichen Studie hervorhebt, „nicht nur irgendein methodisches Attribut für die ontologische Aufgabe", sondern bei ihr handelt es sich „um den methodologischen Grund21 Vgl. aaO. 15 fi. 22 AaO. 37. 23 AaO. 38. 24 AaO. 37. 25 Vgl. dazu C. F. GETHMANN, Verstehen und Auslegung, Bonn 1974, 114 fi., bes. 117 und 122, sowie 357 f., Anm. 260. 26 Sein und Zeit, 37. 27 AaO. 15. 28 AaO. 37.
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begriff der Ontologie schlechthin" Ρ Zur Abhebung der Verwendung des Wortes „Hermeneutik" vor und nach Heidegger faßt Gethmann die Bedeutung des Begriffes in dem Satz zusammen: „die Aufgabenstellung der Hermeneutik ist 30 eine ontologische" . Aus den bisherigen Ausführungen hat sich implizit ergeben, daß Heidegger den Hermeneutikbegrifi nicht primär von der Sprache, sondern vom Sein her bzw. auf es hin entfaltet.31 Doch hier kommt es nicht auf die Differenz zwischen Heidegger und Gadamer an, sondern es geht um die Erarbeitung eines Verständniskonzeptes für den Auslegungsbegriff bei Nietzsche. Gerade in der ontologischen Begriffsbestimmung ist eine sachliche Nähe zu Nietzsche erreicht: auch seine unter dem Grundbegriff ,Willen zur Macht' entfaltete Ontologie läßt sich als „Auslegung" verstehen und ist explizit von ihm so verstanden worden; d.h. umgekehrt, daß Nietzsche der „Auslegung" eine eminent ontologische Funktion zugewiesen hat. Diese These soll in diesem Kapitel der Untersuchung entfaltet werden. Als primärer Bezugspunkt dient dabei wie erwähnt die erstmalige Nennung des ,Willens zur Macht' als Titel eines geplanten Werkes, das den Untertitel ,Versuch einer neuen Auslegung allen Geschehens' haben sollte.
2. Inhaltliche Analyse der Titelthematik a) Erstmalige Nennung der „Auslegung ,Willen zur Macht'
alles Geschehens"
im Untertitel
zum
Während der Arbeit an den vier Teilen des ,Zarathustra' von Ende 1882 bis Anfang 1885 hat Nietzsche eine Reihe von Büchertiteln in seine Notizhefte eingetragen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit diesem poetischen Werk selbst standen, sondern deren Funktion offensichtlich darin lag, die damals entstandenen Aufzeichnungen gleichsam zusammenzufassen.32 Zu den am meisten genannten gehören ζ. Β. ,Moral für Moralisten'33 und .Philosophie der Zukunft'.34 Im Sommer des Jahres 1885 findet sich gleich zu Beginn eines Notizheftes erstmals35 der Titel: 29 C . F . GETHMANN, a a O . 1 1 7 .
30 AaO. 116. 31 V g l . d a z u auch GETHMANN, a a O . 3 5 7 , A n m . 2 6 0 , d e r g e g e n ü b e r A P E L m e i n t , d a ß
der
Begriff „Hermeneutik" nicht „die Aufgabe einer Sprachhermeneutik" bezeichne; aus diesem Urteil geht hervor, daß eine nur iprac&ontologische Bestimmung des Hermeneutikverständnisses ungenügend wäre. 3 2 Vgl. Anm. 4 zu diesem Teil. 33 Vgl. ζ. Β. V I I 1, 313: 7,201; aaO. 702: 24,27; V I I 2,5: 25,2. 34 V g l . V I I
1,497:
14,1;
VII
2,70:
25,238;
u. ö.;
weitere
Stellen
führen
COLLI
und
MONTINARI, a a O . V I , A n m . 2 , a n .
35 Vgl. M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, 4 1 ; Nietzsche nennt den Titel im folgenden öfters, z.B. V I I 3,361: 40,2; V I I I 1,15: 1,35.
Ein hermeneutischer Entwurf der Ontologie
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D e r W i l l e zur Macht. Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens. ( V I I 3 , 3 4 9 : 39,1)
Von woher dieser Titel? Ist er ein plötzlicher genialer Einfall ohne Zusammenhang mit vorhergehenden Überlegungen Nietzsches? Warum spricht der — für die Interpretationsproblematik so entscheidende — Untertitel von einer „Auslegung", und zwar von einer „neuen", die zudem nicht nur von diesem oder jenem Phänomen, sondern von allem schlechthin ausgesagt wird? Um die genannten Fragen und zudem den Begriff der Auslegung und dessen Zusammenhang mit der universalen Ontologie, die im Ausdruck „alles Geschehen" angesprochen ist, zu klären, soll die Titelthematik zunächst in ihrer Genese untersucht werden. b) Die ontologische Ausweitung im Verständnis des „Willens zur Macht" Die semantisch feststellbare Entwicklung des Ausdrucks „Wille zur Macht" in den letzten Jahren vor einer erstmaligen Verwendung als Titel eines geplanten Werkes gibt Hinweise darauf, daß es sich bei der von Nietzsche intendierten Auslegung um eine das Sein im ganzen betreffende handelt. Das erste Mal verwendet Nietzsche die Wendung „Wille zur Macht" in einem Sentenzenbuch; der Kontext lautet hier: „Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht" (VII1,191: 5,1). Im zweiten Teil des ,Zarithustra' findet sich im Kapitel ,Von der Selbst-Überwindung' — 1883 verfaßt — die fast gleichlautende Formulierung: „Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern (...) Wille zur Macht!" (VI 1,145). In den zitierten Aufzeichnungen ist der Machtwille eng mit dem Lebensbegriff verbunden. Einer der Grundaspekte dieser Charakterisierung des Willens zur Macht ist sein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Leben, der so stark ist, daß — wie M. Montinari annimmt — gesagt werden kann, der Wille zur Macht „ist das Leben selber"; er ist „ganz einfach eine andere Art .Leben' zu sagen, ,Leben' zu bezeichnen" ,36 Zugleich aber muß in den Aussagen Nietzsches die offensichtliche Kritik am Verständnis des Lebens als einer letzten Wirkkraft beachtet werden. Zwar ist überall, wo Leben ist, auch Wille, doch ist es nicht ein Wille zum Leben, sondern eben ein solcher zur Macht. Das will besagen, 36
AaO. 37; zu demselben Ergebnis gelangt K. LÖWITH, der meint, daß die Grundbegriffe Nietzsches, einschließlich des „Willens zur Macht", „nur auf dem Hintergrund der Lebendigkeit des Lebens zu verstehen sind" (in: Aufsätze und Vorträge, 97, vgl. 95). Diese Thesen treffen nur zu, wenn zudem Nietzsches Satz bedacht wird: „(...) das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur Macht, — es ist ganz willkürlich zu behaupten, daß Alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten" (VIII 3,93: 14,121).
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daß das Leben selbst von einer es umgreifenden und dirigierenden Macht beherrscht wird, in dessen Dienst es steht. Die umfassendere Kraft ist das Wollen von Macht. Aufgrund der im Vergleich zum Leben fundamentaleren Bedeutung der Macht kann der letztere Begriff nicht auf das Leben allein beschränkt werden. Die das Leben transzendierende Weite des Machtbegriffs deutet sich in jenen Aussagen an, in denen der Ausdrude zur Deutung des Anorganischen herangezogen wird: „— daß der Wille zur Macht es ist, der auch die unorganische Welt führt", heißt es in einer Notiz aus dem Frühjahr 1885 (VII 3,224: 34,247). Durch die Ausweitung auf das Anorganische wird der Lebensbegriff selbst verändert, und die Konsequenz aus der Aussage über den auch außerhalb des Lebendigen regierenden Machtwillen lautet: „daß es keine unorganische Welt giebt" (ebd.). Die Anwendung des Terminus auf den Bereich des Nichtorganischen geht auch aus weiteren Notizen hervor, die aus dem der Erwähnung als Titel unmittelbar vorangehenden Zeitraum stammen. So werden die Naturgesetze als Machtverhältnisse verstanden (VII 3,353: 39,13); ebenso die chemischen Gesetze (VII 3,283: 36,18). Der komplexe Ausdruck „Wille zur Macht" dient zur Interpretation der physikalisch erfaßbaren Wirklichkeit: „Der siegreiche Begriff ,Kraft', mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ,Wille zur Macht*" (VII3,287: 36,31). Der Wille zur Macht ist also nicht mehr auf Organisches beschränkt, sondern umgekehrt: das Leben wird zu einer der vielen Formen des Machtwillens; es ist im Verhältnis zu ihm als der grundlegenderen Gegebenheit etwas Spezielles. Pointiert bringt Nietzsche diesen Sachverhalt in einer Bemerkung zur These Darwins zum Ausdruck: „NB: ,Der Kampf um's Dasein' — das bezeichnet einen Ausnahmezustand. Die Regel ist vielmehr der Kampf um Macht (...)" (VII 3,212: 34,208). Das menschliche Leben kann darum als eine Folgeerscheinung des entwicklungsgeschichtlich vorangehenden „Willens zur Macht" verstanden werden: „Die Urwald-Vegetation ,Mensch' erscheint immer, wo der Kampf um die Macht am längsten geführt worden ist" (VII3,297: 36,58). Der Machtwille wird also in den genannten Aufzeichnungen, die insgesamt aus den Monaten Juni und Juli 1885 stammen, nicht allein vom Leben, sondern von allen physikalischen und chemischen Erscheinungen ausgesagt. Es ist darum nur noch ein kleiner Schritt nötig, um die Welt im ganzen mit diesem Begriff zu deuten, wie es Nietzsche in einem ausgeformten Aphorismus aus denselben Monaten auch tatsächlich tut. In dem von der „klassischen" Ausgabe des .Willens zur Macht' her bekannten Schlußaphorismus (Nr. 1067) heißt es: „Diese Welt
ist der Wille zur Macht — und nichts außerdem!"
(VII 3,339:
38,12). „Wille zur Macht" ist mithin zur umfassenden Bestimmung von Welt
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geworden. Die Universalität und Radikalität hat in dem zitierten Aphorismus einen äußerst prägnanten Ausdruck gefunden. Die Lösung für alle Rätsel meint Nietzsche mit diesen Worten ausgesprochen zu haben. Von der inhaltlichen Entwicklung des „Willens zur Macht" her ist es plausibel, wenn Nietzsche diese Formulierung zu Beginn des unmittelbar auf jenes Heft, dem die letzten Zitate entnommen sind, folgenden Notizheftes als Titel eines geplanten Buches anführt; zugleich wird auch verstehbar, daß in dessen Untertitel von einer Auslegung alles Geschehens gesprochen wird. Der „Wille zur Macht" wird nämlich von allen Bereichen des Seins ausgesagt; er ist nicht beschränkt auf einzelne Seiende, sondern hat eine universalontologische Bedeutung. Alles, was ist, wird durch ihn bestimmt, ist von ihm durchdrungen und beherrscht; nicht nur das organisch Daseiende oder das menschliche Leben, wie der Begriff „Wille" nahelegen könnte, sondern ebenso das nichtorganisch Seiende. In diesem Begriff ist somit ein Verständnis des Seins im ganzen enthalten; er steht für einen neuen Ansatz in der ontologischen Problemstellung. Mit diesem Ergebnis im Hinblick auf das Verständnis des erwähnten Untertitels, das aus der genetischen Vorgeschichte des Haupttitels resultiert, konnte der universalontologische Aspekt ansatzhaft geklärt werden, jener Aspekt, der in der Formulierung „Auslegung alles Geschehens" gemeint ist. Indirekt geht daraus auch hervor, daß sich der Ausdruck „Auslegung" auf das Sein im ganzen bezieht, es in dem geplanten Buch somit um die Ausarbeitung eines universalontologischen Entwurfes gehen sollte. Doch es bedarf nun erst einer Erklärung der Wahl des Terminus „Auslegung". Warum wählt Nietzsche für sein neues, unter dem Oberbegriff „Wille zur Macht" global umschriebenes Seinsverständnis, den in semantischer Hinsicht dem Bereich der Hermeneutik zugehörenden Begriff „Auslegung"? c) „Auslegung, nicht Erklärung"
Einen wertvollen Aufschluß über die mögliche Motivation, warum Nietzsche den Ausdruck „Auslegung" zur Kennzeichnung seiner ontologischen Grundstellung wählt, vermag die Notiz „Auslegung, nicht Erklärung" zu geben, da sie sich oftmals während der Zeit findet, in der Nietzsche von einer „neuen Auslegung" im Untertitel zum ,Willen zur Macht' spricht. Da sie gelegentlich auch unter einer anderen Titelaufzeichnung, wie z.B. ,Der Spiegel. Eine Gelegenheit zur Selbstbespiegelung für Europäer' (VII 3,427: 41,1) oder Jenseits von Gut und Böse' (VIII1, 90: 2,70) steht, ist zuerst zu klären, ob sie dennoch zur Deutung derjenigen „Auslegung" herangezogen werden darf, die sich auf den .Willen zur Macht' bezieht.
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereidie
Für die primäre Zuordnung der genannten Formel zum ,Willen zur Macht' sprechen folgende drei Tatbestände: 1) Die zum Titel ,Der Spiegel' gehörende Notiz lautet „Welt-Auslegung, nicht Welt-Erklärung" (VII 3,427: 41,1); sie enthält somit jenen Ausdruck, der eine spätere Modifikation des betreffenden Untertitels darstellt. Das neue Buch sollte nämlich den Titel tragen: ,Der Wille zur Macht. Versuch einer neuen Welt-Auslegung' (VIII 1,92: 2,73). 2) Eben dieser zuletzt erwähnte Titel, der sich in einer Aufzeichnung mit der Überschrift „Die Titel von 10 neuen Büchern·. (Frühling 1886)" befindet, ist hier zugleich mit dem Titel Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft' genannt, woraus ersichtlich ist, daß die Auslegung als Titelthematik parallel bzw. zusätzlich zum Jenseits'-Motiv beibehalten wurde. Dieser Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, daß Nietzsche zu diesem Zeitpunkt das Druckmanuskript für Jenseits von Gut und Böse' bereits abgeschlossen hatte und auf der Suche nach einem Verleger war.37 3) Schließlich spricht für die Annahme, daß mit der Veröffentlichung des genannten Werkes die Auslegungsthematik für Nietzsche nicht abgeschlossen war, eine Rubrik von 53 numerierten Stichworten, die er im Frühjahr 1887 anlegte, und die ein „Verzeichnis von eventuell brauchbaren Aufzeichnungen" darstellte.38 Und hier heißt es unter der Nummer 30: „Auslegung, nicht Erklärung" (VIII1,207: 5,50), und dieselbe Formulierung wird in einem mit der genannten Nummer bezeichneten Fragment wiederholt (vgl. V I I I 1 , 1 0 2 : 2,86). Die angeführten Motive sprechen für die Annahme, daß Nietzsche die genannte Formulierung unabhängig und auch nach der Fertigstellung und Publikation des Werkes Jenseits von Gut und Böse' beschäftigte. Es ist daher legitim, sie im Hinblick auf den nicht veröffentlichten Nachlaß dieser späten Zeit zu interpretieren. Da sie genau in jenem Zeitraum vorkommt, in dem der Untertitel ,Versuch einer neuen Auslegung' am häufigsten auftritt, kann diese Titelformulierung im Zusammenhang mit der Formel „Auslegung, nicht Erklärung" gelesen werden. Was besagt aber die letztere Entgegensetzung für die Deutung des Ausdrucks „neue Auslegung" ?
37 Vgl. M. MONTINARI, aaO. 43; und C. P. JANZ, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2, München/Wien 1978, 438. Die Frage, warum Nietzsche im Nachlaß den Titel Jenseits von Gut und Böse' anführt, obwohl er dieses Werk abgeschlossen vor sich liegen hatte, ist nicht ganz zu klären; vielleicht handelt es sich um den Plan einer Fortsetzung desselben, wie M . MONTINARI vermutet (siehe den Kommentar in: KSA 14 [ = Kritische Studienausgabe, Bd. 14], 735). Hierfür würde sprechen, daß im Fragment 2 (82) zum Titel der erwähnten Schrift die Notiz: „Zweiter und letzter Theil" hinzugefügt ist (VIII 1, 98). 38 Vgl. G. COLLI / M . MONTINARI, Vorbemerkung, in: KGW VIII 1, X.
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d) Kritik der mechanistischen
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Welterklärung
Die isoliert auftretende Notiz, in der die Auslegung der Erklärung als Alternative und Gegensatz gegenübergestellt wird, kann in dem Augenblick als tendenziöse Formel erkannt werden, sobald man sie im Kontext benachbarter fragmentarischer Notizen liest. So heißt es in einem umfangreichen Fragment, „daß Beschreiben und nicht Erklären, daß die dynamische Welt-Auslegung ( . . . ) in Kurzem über die Physiker Gewalt haben wird" (VII 3,288 f.: 36,34). Nietzsche ist von der Überzeugung durchdrungen, daß die naturwissenschaftliche Art des Erklärens einer anderen Art der Welterkenntnis weichen wird, nämlich einer beschreibenden und interpretierenden — und dies nimmt er gerade auch von der naturwissenschaftlichen Methodologie an.39 In ähnlicher Weise urteilt Nietzsche über die morphologische Darstellungsform: durch sie werde „nicht erklärt, aber ein ungeheurer Thatbestand beschrieben" (VII 3,286: 36,28). Die Entgegensetzung der Erklärung zur Beschreibung weicht später jener zur Auslegung: das Widerstandsgefühl, das sich in der mechanischen Kraft äußert, wird mit Druck und Stoß „nur sinnfällig ausgelegt, nicht erklärt" (VIII 1,90: 2,69). Eine gemeinsame Tendenz der zitierten Aufzeichnungen besteht in der Kritik am naturwissenschaftlichen Selbstverständnis. Nietzsche faßt es generell mit dem Ausdruck „Erklärung" zusammen und stellt ihm als Alternative das Prinzip der „Auslegung" gegenüber. Mit diesem methodischen Zugang meint er die von der Naturwissenschaft untersuchten Gegebenheiten angemessener erfassen zu können. Doch Nietzsche stellt der zu seiner Zeit herrschenden naturwissenschaftlichen Methodologie nicht nur einen alternativen Ansatz gegenüber, sondern er meint mit diesem zugleich das entscheidende Charakteristikum der kritisierten Position gefunden zu haben: die Erklärung selbst wird — entgegen dem Selbstverständnis der exakten Wissenschaften — als Auslegung gekennzeichnet. Auch in den Fällen, wo man meint, die Phänomene der Natur wissenschaftlich erklärt zu haben, ist nach dem Urteil Nietzsches im Grunde nur eine Interpretation gegeben. Das mechanistische Verständnis der Wirklichkeit ist selbst eine Auslegung und als solche unter die „Welt-Ausdeutungen" einzuordnen ( V I I 3 , 2 8 8 : 36,34). Mit dem Auslegungsbegriff, der der Erklärung gegenübergestellt wird, wird somit eine doppelte Intention verfolgt. Einerseits soll der naturwissenschaftlichen Erklärung eine alternative Erkenntnisweise entgegengesetzt werden, und andererseits wird durch ihn der naturwissenschaftliche Standpunkt selbst als ein solcher der Auslegung enthüllt. In der Aufdeckung des interpretativen Charakters der kritisierten Methodologie ist primär das kritische Anliegen der anaVgl. VIII 1,90: 2,70, hier ist der Formel „Auslegung, nicht Erklärung" die Bemerkung angefügt: „Zur Methoden-Lehre".
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lysierten Formel zu erkennen; mit der als Alternative verstandenen Auslegung hingegen ist zwar auch eine elementare Kritik des faktenorientierten Wissenschaftsbegriffs gegeben, doch ist darin zugleich ein positives Anliegen enthalten, insofern die alternative Interpretation eine „neue Auslegung" zu sein beansprucht. Insgesamt ist somit in der Auseinandersetzung mit der naturwissenschaftlichen Welt-Erklärung die Kategorie der „Auslegung" zur dominanten geworden. Sie hat eine zentrale Bedeutung sowohl für die Kritik eines positivistischen Wissenschafts- und Weltverständnisses, als auch für die Artikulation der eigenen Position angesichts der kritisierten. „Auslegung" ist somit zu einem möglichen Grundbegriff einer alternativen, einer „neuen" Weltdeutung geworden. Es ist von hier aus denkbar, ihn als Kennzeichnung des philosophischen Grundanliegens zu wählen. Nietzsche beschränkt sich nämlich bei der Übernahme dieses Ausdrucks in den Titel eines geplanten Werkes nicht auf das Verständnis von Phänomenen der Natur, sondern er bezieht ihn auf das Geschehen im ganzen; dadurch gewinnt er eine ontologische Relevanz.
3. Dimensionen der „neuen Auslegung" Eine Reihe von weiteren Anhaltspunkten zur Klärung der Frage, warum Nietzsche von einer „neuen Auslegung" spricht und worin er diese wesentlich erblickt, sind in Fragmenten im Umkreis des so lautenden Untertitels zu finden, im besonderen in den Konzepten zu einer „Vorrede" bzw. zu einer „Einleitung" . Diese beiden Fragmente sind vor allem deshalb bedeutsam, weil sie in jenem Heft enthalten sind, dessen erste Eintragung der Titelentwurf bildet, in dem erstmals vom „Willen zur Macht" als „neuer Auslegung alles Geschehens" die Rede ist; sie können darum zur Interpretation dieser Titelformulierung herangezogen werden. Nach M. Montinari gehören die geplante „Vorrede" und „Einleitung" auch zu der mit diesem Titel versehenen Schrift.40 In Orientierung an diesen wichtigen Fragmenten, aber auch unter Berücksichtigung von ihnen benachbarten Notizen, soll im folgenden einerseits die bisher verfolgte Frage, weshalb Nietzsche von einer „Auslegung" spricht, weiterverfolgt und andererseits geklärt werden, warum es sich hierbei um eine neue Auslegung handelt. a) Die Auslegungsstruktur und Relativität menschlichen Erkennens Die konzipierte „Vorrede" beginnt mit einer Aussage über das menschliche „Erkenntnis" der Natur zu; „die gesammte physische Causalität ist hundertfältig welches zuletzt nur ein Auslegen nach uns und unseren Bedürfnissen ist — steht Vgl. M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, 41; vgl. ferner in KSA 14, 728 den Hinweis zu 39 (1).
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im Verhältnis zum Range, den der Mensch in der Ordnung aller Wesen einnimmt" (VII3,354: 39,14). Das Erkenntnisvermögen des Menschen wird in einer zweifachen Hinsicht bestimmt: einerseits wird es als Auslegung charakterisiert, und zwar in Abhängigkeit von der Bedürfnisstruktur und somit von prärationalen Faktoren; andererseits wird es bezogen auf den Standort des Menschen im Vergleich zu anderen „Wesen". Die Relativität der menschlichen Erkenntnis ergibt sich somit von zwei Seiten her: sie ist im Menschen selbst durch Momente mitbestimmt, die die Autonomie des Erkenntnisvorganges von einem triebbedingten Auslegungsgeschehen her unterlaufen; und diese anthropologische Bedingtheit steht ihrerseits innerhalb eines den Menschen überschreitenden Bezugsfeldes, die eine nochmalige Bedingtheit der Anthropozentrik zur Folge hat. Die letztere Begründung der Relativität des Begreifens ist im Verhältnis zur ersteren, immanent-anthropologischen als die umfassendere anzusehen, da sie dem Menschen und seiner Erkenntnis einen relativen Ort innerhalb der Ordnung des Ganzen zuweist. Nietzsche erläutert diese Rangordnung unmittelbar anschließend am Beispiel des Klavierspielens. Der Finger des Klavierspielers wird von dem, was mit ihm erreicht werden soll, „nichts als medianische Vorgänge spüren und diese logisch combiniren" (ebd.) Das „Wissen" des Fingers und seine mechanisch-logische Kombinationsweise sind also sehr verschieden von dem mit ihm beabsichtigten Zweck. Solche Unterschiede gibt es in analoger Weise audi innerhalb der Welt des Menschen, denn unter ihnen „üben die Niederen ihre Kräfte, ohne Ahnung, wozu sie im Großen Ganzen dienen" (ebd.). Am Beispiel des Klavierspielens, das verschiedene „Wissens"-Ebenen innerhalb des menschlichen Tuns veranschaulicht, und an der Rangordnung unter Menschen, die sich am Nicht-Wissen der „Niederen" zeigt, wird ein Faktum deutlich, das für das Verständnis der Wirklichkeit grundsätzlich von Bedeutung ist: sie kann überhaupt nur von einem bestimmten Blickwinkel aus gedeutet werden, jeweils bezogen auf das sie interpretierende Wesen. Diese Relativität trifft auch für die „Erkenntnis" der Natur zu; „die gesammte physische Causalität ist hundertfältig ausdeutbar, je nachdem ein Mensch oder andere Wesen sie ausdeuten" (ebd.). Mit dieser, den ersten Abschnitt der „Vorrede" abschließenden Aussage ist der im Einleitungssatz zum Ausdruck gebrachte Gedanke von der auslegenden Struktur des menschlichen Erkennens und dessen Bedingtheit durch den Rang im Verhältnis zu anderen Wesen zu einem vorläufigen Abschluß gebracht, indem am Schluß nochmals die zu Beginn ausgesprochene Behauptung thesenhaft formuliert wird. Es zeigte sich darin, daß die menschliche Deutung der Natur nur eine unter vielen und darum notwendig relativ ist. Der zweite Abschnitt der „Vorrede" führt den Grundgedanken des ersten auf einer neuen Ebene weiter. Von der dargelegten These einer vielfachen Ausdeutbarkeit der Natur ergibt sich die Möglichkeit einer grundsätzlichen Hinter-
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche
fragung des Verhältnisses zwischen Natur und Moralität. Die Ansicht, daß „die menschliche Art von Güte oder Gerechtigkeit oder Weisheit nachweisbar aus der Natur" sei, gilt nach Nietzsche für „gröbere Arten Mensch"; „feinere geistigere Menschen" hingegen lehnen diese Nachweisbarkeit ab, da ihr Begriff von Güte und Gerechtigkeit gewachsen ist (aaO. 354 f.). Der höhere Standpunkt des Menschen in seinem Verhältnis zur Moral ergibt sich aus der Anerkennung der Relativität des menschlichen Wissens um die Natur; er hat seine „Rangordnung besser begriffen", und „je weiter unsere Kenntniß wächst, um so mehr empfindet sich der Mensch in seinem Winkel" (aaO. 355). b) Die Neuheit der Auslegung — Der amoralische Charakter Die Ablehnung eines nachweisbaren Zusammenhangs zwischen den moralischen Eigenschaften des Menschen und der Natur, die aus der Anerkennung der Partikularität menschlicher Erkenntnis folgt, zieht aber aus denselben Gründen auch die entsprechende weitere Konsequenz nach sich, nach der es unerlaubt ist, unsere moralischen Wertschätzungen in die Dinge hinein zu tragen. Dies tun wir, wenn wir ζ. B. von Naturgesetzen reden. Nietzsche geht es um eine entschiedene Alternative zu einem solchen Naturverständnis „moralischer" Art. Er schreibt: „Es möchte nützlich sein, einmal den Versuch einer völlig verschiedenen Ausdeutungsweise zu machen: damit durch einen erbitterten Widerspruch begriffen werde, wie sehr unbewußt unser moralischer Kanon (Vorzug von Wahrheit, Gesetz, Vernünftigkeit usw.) in unserer ganzen sogenannten Wissenschaft regirt" (VII 3,355: 39,14). In den zitierten programmatischen Ausführungen ist eine weitere wichtige Antwort auf die Frage gegeben, was Nietzsche unter dem „Versuch einer neuen Auslegung" versteht. Sie ist eine anti-wissenschaftliche, weil sie die moralischen Prämissen der Naturerkenntnis hinterfrägt, und sie ist eine notwendig amoralische, weil sie die ethischen Wertungen nicht mehr in die Wirklichkeit hineinprojiziert. Die im Fragment „Zur Vorrede" implizierte Konsequenz wird in dem unmittelbar anschließenden Konzept „Zur Einleitung" ausdrücklich formuliert und auf die Moral insgesamt ausgeweitet, wenn es heißt: „Nun bringe ich eine neue Auslegung, eine unmoralische', im Verhältniß zu der unsere bisherige Moral als Spezialfall erscheint" ( V I I 3 , 3 5 6 : 39,15). — Der atheistische
Charakter
Die Destruktion der Moral ist mit der Kritik am Gottesverständnis, zumindest insofern es moralische Implikate enthält, sachlich eng verbunden. Nietzsche hält nämlich in einer eigentümlichen Nachdrücklichkeit am Zusam-
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menhang zwischen moralischer und religiöser Thematik fest. Im Gegensatz zur Auffassung der „Oberflächlichen" — gemeint ist vor allem Schopenhauer — ist die Moral vom Gottesbegriff abhängig, und mit dessen Zuendegehen fällt auch die Moral weg; die „moralische Auslegung ist zugleich mit der religiösen Auslegung hinfällig geworden"; Nietzsche möchte darum der Frage nachgehen, „in wiefern mit ,Gott' audi die bisherige Moral weggefallen ist: sie hielten sich gegenseitig" (VII 3,356: 39,15). Dem wechselseitigen Begründungsverhältnis zwischen Moral und Gottesbegriff entspricht darum ein gemeinsames Zuendegehen. So hat die Ablehnung der Moral und ihrer Begründung in der Natur sowie die Destruktion der moralischen Naturauslegung auch die Ablehnung des Gottesglaubens zur Folge. „Der Atheismus ist die Folge" der durch diese Einsicht erreichten „Erhöhung des Menschen", heißt es ausdrücklich im Fragment der Vorrede (VII3, 355: 39,14). Da die amoralische Auslegung zur Negation Gottes, zumindest insofern dieser moralisch verstanden wird und zur Begründung der Moral dient,41 führt, vermag Nietzsche seine neue Auslegung in einer „religiösen" Terminologie, in der Sprache des Volkes zu formulieren. Die unmoralische Auslegung, „im Verhältniß zu der unsere bisherige Moral als Spezialfall erscheint", kann — „populär geredet" — auch in dem Satz zusammengefaßt werden: „Gott ist widerlegt, der Teufel nidit" (VII3,365: 39,15). Mit dieser Aussage ist eine weitere Präzisierung der von Nietzsche intendierten Auslegung gegeben. Sie besagt, daß die unmoralische Deutung der Wirklichkeit im wesentlichen auch eine atheistische ist, wobei der Akzent auf der Negation eines moralischen Gottesverständnisses liegt. Sowohl der amoralische als auch der atheistische Aspekt der neuen Auslegung machen deren negativen und desillusionierenden Charakter deutlich. Insoweit sie aber nur als Kritik der herkömmlichen Weltdeutungen religiöser oder ethischer Art verstanden wird, ist sie selbst kein eigenständiger, positiver Entwurf einer Auslegung alles Seins. Darum stellt sich gerade nach der Darlegung der genannten Aspekte der Interpretation Nietzsches die Frage, ob sie — über die bloß kritische Destruktion hinaus — tatsächlich eine neue Auslegung zu bringen vermag. Worin besteht die Neuheit seiner Weltauslegung in inhaltlicher, in sachlicher Hinsicht? Wie versteht er den Grund der Dinge, auf welche Weise deutet er das Gesamtgeschehen alles Seins? Diese Dimension seiner Überlegungen, in der das fundamentale Anliegen seines Neuansatzes zur Sprache kommt, ist in einem weiteren Schritt der Interpretation der „Vorrede" und der „Einleitung" sowie weiterer Fragmente desselben Heftes herauszustellen.
41 In diesem Zusammenhang (VII 3,354) findet sich die Aussage: „die Widerlegung tes, eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt".
Got-
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche
c) Der „täuschende Dämon" im Wesen der Dinge — eine nihilistische Ontologie als Alternative Die Frage nach dem Eigentlichen der Weltauslegung Nietzsches könnte man im Anschluß an die oben zitierte Formulierung, daß Gott widerlegt sei, aber der Teufel nicht, auch mit der Gegenfrage zum Ausdruck bringen, was es denn heiße, daß der Teufel nicht widerlegt sei? Wofür steht dieser der religiösen Sprache entlehnte Ausdrude „Teufel" ? Eine Reihe von Notizen im Umkreis der zitierten Aussage legen die Auffassung nahe, daß mit dem Begriff des Diabolischen der Grundzug des Trügerischen, ja Betrügerischen in allen Dingen bezeichnet werden soll. Zugleich ist aus den benachbarten Fragmenten zu erkennen, daß Nietzsche mit dieser Deutung des Grundes der Wirklichkeit einen im Gegensatz zu Descartes' Argumentation stehenden Gedanken verfolgt. In dem der „Vorrede" unmittelbar vorangehenden Fragment lesen wir: „Ausgangspunkt. Ironie gegen Descartes: gesetzt es gäbe im Grunde der Dinge etwas Betrügerisches, aus dem wir stammten, was hülfe es, de omnibus dubitare! Es könnte das schönste Mittel sein, sich zu betrügen. Überdies: ist es möglich?" (VII3,354: 39,13). In dieser ironischen Anfrage an Descartes zeigt sich die Struktur von Nietzsches eigenem Ansatz, der hier noch in der Gestalt einer hypothetischen „Setzung" vorgetragen wird, und erweist sich so als heuristische Alternative, in der die von Descartes abgewehrte Möglichkeit eines täuschenden Dämons als realistische Annahme erscheint. Nietzsche wählt als Ausgangspunkt seiner Weltauslegung eine Position, von der aus die Annahme Descartes', die zur Gewißheit des Wissens führte, 42 selbst dem Zweifel und — was vielleicht noch charakteristischer für Nietzsches Art der Hinterfragung ist — der Ironie ausgesetzt ist. In Verfolgung des gewählten Ansatzes gelangt Nietzsche zu einer bis zum Letzten gehenden Destruktion jeglicher Gewißheit und Wahrheit, jedes Gedankens der Güte und Schönheit, jedes Göttlichen, das moralisch gedacht wird, und jeder Moral. Die radikale Umkehrung, die sein Ausgangspunkt impliziert, wird in der Fortsetzung des Satzes „Gott ist widerlegt, aber der Teufel nicht", der sich nicht nur in der „Einleitung", sondern auch in der „Vorrede" findet, in einer pointierten Weise zum Ausdruck gebracht: „(...) und alle göttlichen Funktionen gehören mit hinein in sein [seil, des Teufels, J. F.] Wesen: das Umgekehrte gieng nicht!" (VII3,355: 39,14). Das Göttliche wird somit auf einen diabolischen Grund zurückgeführt, in dem es seinen Ort und Ursprung habe. Nietzsche kann darum auch seinem Erstaunen über diese Verkehrung des wahren Sachverhaltes in folgender Art Ausdruck verleihen: „Die Vergöttlichung des Teufels — wie geschah diese himmlische Illusion!", und in demselben Fragment findet sich 42
Vgl. R. DESCARTES, Meditationes de prima philosophia, hrsg. von L. Gäbe, Hamburg 21977, bes. 38 f. (cap. 1, nr. 12) und 42 f. (cap. 2, nr. 3).
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die Bemerkung: „Die Masken des Teufels" (VII 3 , 3 5 2 : 3 9 , 8 ) . Das Göttliche erscheint hier als eine Metamorphose des Teuflischen, die als Illusion durchschaut wird, deren maskenhafter Charakter also aufgedeckt zu werden vermag. Jede positive Auffassung der Realität wird der Kritik unterworfen, oder, wie man angemessener Nietzsches Haltung erfassen kann, zu einem Gegenstand der Verwunderung über diese Gegensätzlichkeiten: „Der Glaube an die Güte Gerechtigkeit und Wahrheit im Grunde der Dinge hat etwas Haarsträubendes" (ebd.). Die gemeinsame Sinnrichtung der genannten Notizen besteht in der Aufdeckung des trügerischen Grundes alles Seins, an dem auch der Mensch partizipiert. Denn die diabolische Wirklichkeit, der „Teufel", täuscht und schafft täuschende Intellekte (vgl. VII 3 , 3 5 5 : 3 9 , 1 4 ) . Wenn alles an diesem trügerischen Daseinsgrund Anteil hat, dann ist es erklärbar, warum Güte, Gerechtigkeit, Schönheit, Wahrheit usw. nur als Masken des Dämonischen gedeutet werden. Es werden alle Werte, nicht nur die ethischen im engeren Sinn des Wortes, hinterfragt und auf ihren „wahren" Ursprungsort bezogen. In dieser letzten Dimension der Wirklichkeit aber fehlt nach Nietzsches Deutung jeglicher Wert, jede Wahrheit, da sie ihrem Wesen nach täuschend und zerstörend ist. Alles, was den Menschen in den bisherigen Weltauslegungen, seien sie moralischer, religiöser, wissenschaftlicher oder philosophischer Art gewesen, als sinnvoll erschienen ist, ist nach der neuen Auslegung Nietzsches bloß als Maske eines trügerischen Weltgrundes zu deuten. Aufgrund der Destruktion aller bisherigen Auslegungen, aller herkömmlichen Sinnverständnisse ist Nietzsches Weltdeutung schließlich als nihilistische zu bezeichnen und wird von ihm selbst so genannt. In seinem „Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens" geht es, wie er in dem zu diesem Titel gehörenden Vorwort in gleichlautender Formulierung dazu sagt, um „die Sinnlosigkeit alles Geschehens" ( V I I 3 , 3 5 6 : 39,15). Durch seine neue Sicht soll „die eigentlich große Angst" des Zeitalters sichtbar werden, nämlich das Zurückschrecken vor der Tatsache, daß „die Welt keinen Sinn mehr (hat)" (ebd.). Wegen dieses wichtigen Aspektes kann die Vorrede, die bisher im wesentlichen interpretiert wurde, als „Vorrede über die drohende .Sinnlosigkeit'" gelesen werden, wie Nietzsche selbst bei der zweiten Erwähnung der „neuen Auslegung" im Untertitel zum ,Willen zur Macht' sagt ( V I I 3 , 3 6 1 : 4 0 , 2 ) .
d) Die „neue Auslegung" als Bestimmung des „Willens zur Macht" (Zusammenfassung) Im ersten Punkt der Analyse des besprochenen Titels wurde von der Genese des Begriffs „Wille zur Macht" her die ontologische Dimension des Auslegungsbegriffs, insofern er sich auf „alles Geschehen" erstreckt, zu erhellen
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereidie
versucht. In den folgenden Ausführungen ist versucht worden, Hinweise zu finden, die es plausibel zu machen vermögen, warum Nietzsche überhaupt von einer „Auslegung" redet, und schließlich auch, wieso sie eine „neue" genannt wird, und worin ihre Neuheit besteht (Amoralität, Atheismus, Nihilismus). In einem letzten Punkt der Explikation des genannten Titels soll in Umkehrung der bisherigen Fragerichtung bedacht werden, inwiefern denn diese neue Auslegung tatsächlich in dem Ausdruck „Wille zur Macht" erfaßt wird. Im Hinblick auf die konkreteren Aspekte der Auslegung lautet die Frage, inwiefern der amoralische, atheistische und schließlich trügerische und sinnlose Weltgrund mit dem Phänomen des Machtwillens in Zusammenhang steht. Das zu untersuchende Wechselverhältnis stellt Nietzsche selbst in dem Heft, in dem sich der bisher erörterte Titelentwurf befindet, ausdrücklich heraus. Der antikartesianische Grundgedanke vom Trügerischen im Wesen der Dinge wird in folgende Thesen ausgefaltet: der Wille zur Wahrheit ist ebenso wie die Absicht, sich nicht betrügen zu wollen, oder der Wille zur Überzeugung und zum Festwerden, „als Form des Willens zur Macht" zu verstehen (VII3,354: 39,13). Dasselbe gilt auch vom Willen zur Gerechtigkeit und zur Schönheit, sogar vom Willen zum Helfen; auch hier gilt der Satz: „alles Wille zur Macht" (ebd.). Mit dieser „Formel" ist also gemeint, daß im Grunde alles am täuschenden Wesen der Dinge Anteil hat. „Wille zur Macht" ist darum gewissermaßen eine Kurzformel für alle jene Aspekte, die Nietzsches neue Auslegung kennzeichnen — sie ist daher auch zugleich eine Charakterisierung ihres Inhalts. Was „Wille zur Macht" als Auslegung eigentlich heißt, dies kann am Fehlen von Wahrheit, Gewißheit, Moral, Sinn und allen anderen „positiven" Inhalten eines Weltverständnisses erkannt werden.
2. Kapitel: Projekte der Hermeneutik spezifischer Seinsregionen Nachdem schon bei der erstmaligen Nennung des ,Willens zur Macht' als Titel eines geplanten Werkes die Auslegung sowohl im Untertitel als auch im Konzept der „Vorrede" bzw. der „Einleitung" thematisch geworden war, ist zu erwarten, daß sich das Problem der Interpretation auch in den Inhaltsplänen findet, die für den .Willen zur Macht' sowie für Bücher, die mit einem anderen Titel geplant waren, von Nietzsche in verschiedenen Modifikationen und in mehreren Konzepten entworfen wurden. Im folgenden sollen daher diese Pläne und die in ihnen angegebenen Buch- und Kapitelüberschriften im Hinblick auf die Interpretationsproblematik untersucht werden. 43 Für diese Vorgangsweise waren jene methodologischen Erwägungen ausschlaggebend, die schon die Konzentration auf die Titelgebung an sich nahelegten. Durch die genaueren Angaben über den Inhalt eines geplanten Buches sowie durch dessen Gliederung kann die jeweils im Titel zum Ausdrude gebrachte Gesamttendenz nach verschiedenen Aspekten hin bzw. in unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit untersucht werden. Durch den mehrteiligen Plan wird gewissermaßen die hinter der einheitlichen Titel- und Grundthematik stehende Vielfalt sichtbar. In bezug auf den .Willen zur Macht' bedeutet dies, daß die mit ihm gegebene Auslegung in einzelnen Bereichen konkretisiert werden sollte. Es ist somit anzunehmen, daß die Auslegung spezifisdher Bereiche des Daseins angestrebt und dadurch der ontologische Grundansatz präzisiert wird. Spezifische Bereiche des Daseinsverständnisses sind ja schon in der bisher umrissenen Gesamtdeutung zur Sprache gekommen, namentlich die mit der Moral, dem Nihilismus und der Wahrheitsfrage zusammenhängenden Probleme. In der Analyse der Publikationsprojekte Nietzsches aus den Jahren 1885 bis 1888 sollen noch weitere zentrale Themen unter dem Aspekt der Auslegung geklärt werden. Die Darstellung geht, beginnend mit dem Inhaltsplan zu dem bisher analysierten Titel, in chronologischer Folge vor.
Eine Gesamtdarstellung der Entwicklung der Publikationspläne gibt M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, 38 ff.
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche
1. „Wille zur Macht" als einheitlicher Interpretationsansatz a) Die neue Auslegung der Gegenstandsbereiche wissenschaftlicher Disziplinen
der Philosophie
bzw.
einzel-
Aufschlußreich für die Absicht, die einzelnen Daseinsbereiche von einem systematischen Entwurf her zu durchdringen, ist folgende Disposition: Der W i l l e zur Macht. Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens. (Vorrede über die drohende Sinnlosigkeit'. Problem des Pessimismus.) Logik. Physik. Moral. Kunst. Politik. (VII3,361: 40,2). Diese Disposition, die „einen systematischen, sehr allgemeinen Charakter (hat), in einer Art, wie Nietzsche nie seine Bücher geschrieben hat",44 ist wegen der stidhwortartigen Aufzählung der verschiedenen Wirklichkeitsbereiche interessant. M. Heidegger erblickt darin „die üblichen Disziplinen der Philosophie; es fehlt nur, und das nicht zufällig, die spekulative Theologie".45 Auch wenn es nicht ohne weiteres möglich ist, den Zusammenhang mit der Schulphilosophie streng aufzuweisen, so ist doch das eine gewiß, daß Nietzsche sich bestimmten Bereichen des menschlichen und außermenschlichen Daseins in einer Art und Weise zuwendet, die von herkömmlichen wissenschaftlichen Disziplinen her verstehbar ist. Und zwar versucht er dies unter dem übergeordneten Aspekt der Auslegung. Die einzelnen Bereiche sollten offensichtlich durch das Leitwort „Wille zur Macht" neu gedeutet werden. Sehr weit voneinander entfernte Gebiete, wie Kunst und Physik, Logik und Politik, sollten von einem einheitlichen, hermeneutisch verstandenen Grundansatz ausgehend behandelt werden. Für die universale Bedeutsamkeit des von Nietzsche vorgeschlagenen Auslegungsprinzips sprechen weitere Aufzeichnungen in demselben und im unmittelbar vorhergehenden Notizheft. Wir finden hier ein Fragment mit dem Vermerk „Zum Plan.", dessen Inhalt die Reduktion von Intellekt, Wille und Empfindungen auf den Willen zur Macht ist; als Mittelglieder in dieser stufenweisen Rückführung fungieren die Triebe und deren Existenzbedingungen; die Triebe M . MONTINARI, aaO. 4 2 ; vgl. PODACHS ähnlich lautendes Urteil: Ein Blick in Notizbücher Nietzsches, 53. 45 M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 1, 42; die theologische Problematik ist nicht vollständig ausgeklammert, wenn man bedenkt, daß die Moral nach Nietzsche auf dem Gottesgedanken beruht; sie dürfte somit innerhalb der moralischen Thematik angesiedelt sein.
Projekte der Hermeneutik spezifischer Seinsregionen
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aber sind „reduzirbar auf den Willen zur Macht", der „das letzte Factum (ist), zu dem wir hinunterkommen" (VII 3,393: 40,61). Nach Nietzsches Plänen ist somit die Gesamtheit menschlichen Lebens sowie des Seins im ganzen auf den „Willen zur Macht" als letzter zugrundeliegender „Tatsache" zurückzuführen, und zwar sollte dies durch eine Interpretation der einzelnen Daseinsbereiche geschehen. Aufgrund der Bedeutung, die die Auslegungsthematik für die Behandlung der Gegenstandsbereiche hatte, die Inhalt der geplanten Publikationen sein sollten, ist es nicht verwunderlich, wenn die Auslegung selbst schon in den Konzepten thematisch wurde; Nietzsche sieht sogar ein eigenes Kapitel über die Auslegung vor. b) „Auslegung" als Thema eines geplanten Kapitels Zu der Zeit, in der Nietzsche den bisher analysierten Titel mit dem „Auslegungs"-Untertitel konzipierte, hatte er unter den Themen der einzelnen Kapitel eines geplanten Buches auch ein solches über die Auslegung vorgesehen. So heißt es im Herbst 1885, einige Monate nach der erstmaligen Nennung des genannten Titels: Die Capitel. Von der Auslegung. Von der Rangordnung. Die Wege zum Heiligen. (...) (VII3,445: 44,1). Es läßt sich nicht eindeutig feststellen, zu welchem Titelentwurf diese Kapitelaufzählung gehören soll, da in dem Notizheft, in dem sie sich findet, kein Titel genannt wird. 46 Es muß auch offen bleiben, in welchem sachlichen Kontext diese Überschrift verwendet wird, nämlich ob sie primär polemisch verstanden wird, wofür die Tatsache sprechen würde, daß in. demselben Fragment von den „christlich-moralischen Auslegungen" Pascals gesprochen wird, oder ob Nietzsche darin gewissermaßen eine eigenständige Theorie der Auslegung auszuarbeiten beabsichtigte. Im Zusammenhang der hier zu erörternden Problematik ist vor allem das Faktum zu beachten, daß die Auslegungsthematik für Nietzsche innerhalb der späten Fragmente eine so große Explizitheit erlangt hatte, daß er sie in einem eigenen Kapitel zur Sprache zu bringen beabsichtigte. Für den hohen Grad der Ausdrücklichkeit sowie Bedeutung dieses Themas spricht ein weiteres Fragment aus einem kurz darauf folgenden Heft mit Aufzeichnungen vom Herbst 1885 bis Frühjahr 1886:
« Nach MONTINARIS Kommentar (KSA 14, 729) gehört diese Kapitelaufstellung zu dem vorhin (siehe S. 58) erörterten Plan des Fragments 40 (2).
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche
Capitel über die A u s l e g u n g die V e r d i n g l i c h u n g das N a c h l e b e n untergegangener Ideale (ζ. B. Sclavensinn bei Augustin) (VIII 1,23: 1,65). Audi hier läßt sich die isolierte Notiz keinem bestimmten Titelentwurf zuordnen. Gleichwohl aber ist zu beachten, daß in demselben Heft der Untertitel ,Versuch einer neuen Auslegung' notiert ist (aaO. 15: 1,35). Audi wenn kein direkter Zusammenhang nachzuweisen ist, ist es doch auffällig, daß in beiden zitierten Aufzeichnungen das Kapitel über die Auslegung an erster Stelle genannt wird; es ist denkbar, daß Nietzsche darin unmittelbar an die Thematik des Untertitels, der ebenfalls von „Auslegung" spricht, anschließen wollte.47 Doch auch hier muß offen bleiben, wie der Ausdruck „Auslegung" näherhin verstanden ist. Die beim vorhin zitierten Fragment festgestellte Ambivalenz scheint sich zu wiederholen. Denn man könnte den Begriff der Auslegung in der Sinnlinie der unmittelbar danach genannten Themen, die an Hegel erinnernde Ausdrudesweise „Verdinglichung"48 und das „Nachleben", verstehen, was ohne Zweifel eine Kritik von seiten Nietzsches implizierte; oder man könnte umgekehrt den Auslegungsbegriff in kritischer Abhebung von den folgenden Begriffen bestimmen. In jedem der beiden angesprochenen Fälle ist jedoch die Interpretation zu einer Grundproblematik der Nietzschesdien Überlegungen im erwähnten Zeitraum geworden. Dieses Faktum an sich ist Grund für die Annahme, daß die Auslegung auch bei den in der folgenden Zeit entworfenen Plänen eine Rolle spielen wird.
2. Der Zusammenhang von Nihilismus und moralischer Interpretation (Sommer 1886 — Februar 1888) a) Nihilismus als Ende der moralischen
Interpretation
Die wirkungsgeschichtlich bedeutsame Edition des ,Willens zur Macht' hatte nicht den Untertitel ,Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens', wie die chronologisch frühesten Formulierungen, sondern ,Versuch einer Umwertung aller Werte'. Die ersten Herausgeber P. Gast und E. Förster-Nietzsche be47 In dieser Annahme fühle ich mich durch den inzwischen erschienenen Kommentar von M. MONTINARI bestärkt, wo das Fragment 1 (65) als „vermutlich zu WM, Plan 1 (35)" zugehörig betrachtet wird: KSA 14, 732. 48
Vgl. G. ROHRMOSER, Subjektivität und Verdinglichung. Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel, Gütersloh 1961. Nietzsche spricht in demselben Fragment 1(65) vom Willen als einer „falsche(n) Verdinglichung" (VIII 1,22).
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zogen sich dabei auf den Titelentwurf und Plan vom 17. März 1887.49 Nach Mitteilung von M. Montinari ist jedoch der vollständige Titel — „allerdings mit größter Wahrscheinlichkeit" — nur zu vermuten, da das betreffende Blatt am oberen Rand abgeschnitten ist.50 Die Gliederung in vier Teile ist aber zur Gänze ersichtlich. Es waren vorgesehen: Erstes Buch. Der europäische Nihilismus. Zweites Buch. Kritik der höchsten Werthe. Drittes Buch. Princip einer neuen Werthsetzung. Viertes Buch. Zucht und Züchtung. (VIII 1,326:
7,64).
Im Grunde dieselbe Gliederung und derselbe Untertitel sind schon ein Jahr früher, in einem mit „Sils-Maria, Sommer 1886" datierten Plan anzutreffen (VIII1,107: 2,100). „Von diesem Zeitpunkt an ist man", wie M. Montinari in seinen textkritischen Untersuchungen sagt, „berechtigt, von einem in vier Bücher geplanten Werk zu sprechen", das Nietzsche als .Wille zur Macht' mit dem „Umwertungs"-Untertitel publizieren wollte.51 Aus den beiden Plänen ist zu ersehen, daß der Nihilismus im ersten Buch behandelt werden sollte. Der enge Zusammenhang der Nihilismusproblematik mit dem Thema der Auslegung ist in konzentrierter Weise für dieses geplante erste Buch nachweisbar, da es über die bloße Titelformulierung der vier Teile hinausgehend einen sehr detaillierten „Plan des ersten Buches" sowie der folgenden Bücher gibt (VIII1,127 ff.: 2,131), und zudem sogar das Fragment einer kleineren Abhandlung mit dem Titel JDer europäische Nihilismus', datiert auf den 10. Juni 1887, existiert (VIII1,215ff.: 5,71). In beiden Entwürfen ist die These näher erläutert, die in den Plänen von 1886 und 1887 kurz skizziert wird, nämlich daß der Nihilismus eine notwendige Konsequenz der bisherigen Wertschätzungen ist, oder anders formuliert: „Jede rein moralische Werthsetzung ( . . . ) endet mit Nihilismus" (VIII 1,326: 7,64). Eine enge Beziehung zur Frage der Auslegung ist nun dadurch gegeben, daß die moralische Wertsetzung als Interpretation, und zwar als die schlechthin bestimmende, zu verstehen ist: „Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei", heißt es im Fragment über den „Europäischen 49 Vgl. E. FÖRSTER-NIETZSCHE, Vorwort; in: Der Wille zur Macht (Nietzsche's Werke, Bd. XV), Leipzig 1901, X I I . SO M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, 46. 5i AaO. 45.
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche
Nihilismus" (VIII 1,216: 5,71). Und in dem erwähnten Plan zum ersten Buch, das ebenfalls über den Nihilismus handeln sollte, lesen wir: „Gut und böse sind nur Interpretationen, und durchaus kein Thatbestand, kein An sich. Man kann hinter den Ursprung dieser Art Interpretation kommen; man kann den Versuch machen, damit sich von der eingewurzelten Nöthigung, moralisch zu interpretiren, langsam zu befreien" (VIII1,130: 2,131). Mit einer Reflexion in der beschriebenen Art ist die im folgenden, zweiten Buch gestellte Aufgabe der „Kritik der höchsten Werthe", sowie die des dritten Buches, die Umwertung, vorbereitet. Das Entscheidende aber, worauf es im Hinblick auf die Auslegungsthematik ankommt, ist die Einsicht, daß Nihilismus innerhalb des unter dem Titel ,Wille zur Macht' geplanten Werkes ein Resultat einer Art des Interpretierens ist, nämlich der moralischen Deutung und Wertung. Die nihilistische Situation schildert Nietzsche in Entsprechung zu diesem Sachverhalt als das Fehlen einer neuen Form der Auslegung, wie aus dem Fragment, das der Abhandlung über den „Europäischen Nihilismus" vorangeht, zu ersehen ist: Nihilismus: Untergang einer Gesammtwerthung (nämlich der moralischen) es fehlen die neuen interpretativen Kräfte. (VIII 1,214: 5,70). Die bisher beschriebene Sicht des Nihilismus und seines Zusammenhangs mit dem Ende der moralischen bzw. mit dem Fehlen einer neuen Auslegung scheint auch im Hintergrund des äußerst wichtigen viergliedrigen Plans, der den Bezugspunkt für die von Nietzsche selbst vorgenommene Zuordnung von 300 numerierten Fragmenten bildet,52 zu stehen, da er zu Beginn des ersten Buches den „Nihilismus, vollkommen zu Ende gedacht", darzustellen beabsichtigte (VIII2,455: 12,2). Schließlich bildet der Nihilismus den Hauptgesichtspunkt für die ersten drei Teile eines ebenfalls vier Teile vorsehenden Plans eines Werkes, die nun lauten: ,Von der Heraufkunft des Nihilismus', ,Von der Nothwendigkeit des Nihilismus' und ,Von der Selbstüberwindung des Nihilismus' (VIII3,5: 13,4). Das Nihilismus-Motiv ist in der Phase des Schaffens Nietzsches zum thematisch bestimmenden Leitgedanken geworden, in der er sein auf vier Teile angelegtes Werk mit dem Titel ,Der Wille zur Macht' geplant hatte. Auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lassen sich Heraufkunft, die Notwendigkeit und wohl auch die Selbstüberwindung (als Umformung der überkommenen „interpretativen Kräfte" des Nihilismus), als Prozeß des Zuendegehens und der Überwindung einer (nämlich der moralischen) Auslegung verstehen. 52 Diese Rubrizierung bildet „die einzige, einigermaßen geordnete und übersichtliche Sammlung von Aufzeichnungen zum Willen zur Macht" ( G . COLLI / M . MONTINARI, Vorbemerkung, in: KGW VIII 2, VI, vgl. M. MONTINARI, Nietzsches Nachlaß, 47 ff.).
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b) Wahrheit
und Schein angesichts des
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Nihilismus
In einem unmittelbar auf den zuletzt genannten Plan folgenden Entwurf rückt ein anderes Motiv an die erste Stelle in der Reihung der Bücher bzw. Kapitel; zudem ist auch die vierteilige Gliederung nicht mehr beibehalten, sondern es ist ein Buch mit 8 bis 12 Kapitel vorgesehen.53 Einer der wichtigsten unter diesen Plänen mit neuer Anordnung 54 nennt zu Beginn „die wahre und die scheinbare Welt" als Thema, während das vorletzte Kapitel vom Nihilismus und das letzte vom „Willen zur Macht" handeln sollte (VIII3,147: 14,169). Das Problem des Nihilismus sollte also am Ende, das der Wahrheit hingegen am Beginn des Werkes behandelt werden. Diese Einordnung der Wahrheitsfrage im Gesamtaufbau behielt Nietzsche auch in dem letzten Plan zu einem Werk mit dem Titel JDer Wille zur Macht' bei (August 1888), der wiederum die von früher bekannte und audi in der Zwischenzeit nicht vollständig aufgegebene55 viergliedrige Unterteilung hat. Das erste Buch ist mit der Frage überschrieben: „,was ist Wahrheit?'"; die „Geschichte des europäischen Nihilismus" wird innerhalb des dritten Buches genannt (VIII3,338 f.: 18,17). In der soeben geschilderten Phase der Entwicklung der Inhaltspläne sind die Orte der Nennung des Nihilismus- bzw. des Wahrheitsproblems innerhalb des Aufbaus im Vergleich zu der Anordnung in der vorausgehenden Phase verändert: die Frage nach der Wahrheit wird in der letzten Fassung am Anfang behandelt; die des Nihilismus hingegen hat sich vom ersten ins dritte Buch verlagert. Ebenso wie bei der Nihilismusthematik ist auch bei der Wahrheitsfrage ein enger Zusammenhang mit dem Verständnis der Interpretation zu vermuten, da die Frage nach der Wahrheit nach Nietzsche wohl nicht ohne Beachtung der nihilistischen Situation beantwortbar ist; schon allein über diese Vermittlung ist ein Bezug zu einer Auslegung, nämlich zu jener, die im Nihilismus endet, gegeben. Doch auch von der Sache her ist ein Zusammenhang anzunehmen; denn bei jeder Interpretation ist die Frage nach ihrer Wahrheit mitzubedenken.56
3. Die Perspektive der Umwertung und die letzten Publikationsprojekte Die letzten Monate von Nietzsches bewußtem geistigen Schaffen sind von einer großen Veränderung in den Veröffentlichungsplänen gekennzeichnet. Nach M. Montinaris Analyse entschließt sich Nietzsche Ende August 1888 „für die 53 V g l . M . MONTINARI, a a O . 5 0 .
5* Die Bedeutung dieses Plans ergibt sich daraus, daß Nietzsche in ihm die Aufzeichnungen eines umfangreichen Folioheftes (beginnend mit dem Datum vom 25. März 1888) klassifizierte, vgl. dazu M. MONTINARI, aaO. 51. 55 Vgl. z.B. VIII 3,112: 14,136. 56 Vgl. dazu das letzte Kap. dieser Arbeit.
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Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche
Veröffentlichung von all dem, was er fertig vor sich liegen hatte" ; 57 eine Reihe von Titelentwürfen deutet auf einen „Auszug" seiner Philosophie hin. Was den ,Willen zur Macht' betrifft, so verzichtete Nietzsche zu diesem Zeitpunkt auf die Veröffentlichung eines so betitelten Werkes. Von nun an kann als Hauptwerk die .Umwertung aller Werte' gelten, die — wie der ,Wille zur Macht' — auf vier Bücher geplant war, deren erstes ,Der Antichrist' lautete. Schließlich wurde ,Der Antichrist' zum Haupttitel, und ,Umwertung aller Werte' dessen Untertitel; Ende Dezember, einige Tage vor Ausbruch des Wahnsinns, strich Nietzsche auf den Drudefahnen diesen Untertitel durch und wählte anstatt dessen den dann auch publizierten: nämlich ,Fluch auf das Christentum'. Die in den vorangehenden Jahren entworfenen Titel, einschließlich der wohl wichtigsten, wie ,Wille zur Macht' und ,Umwertung aller Werte', sind somit zugleich mit den dazugehörigen Plänen bezüglich des Inhalts und der Anordnung der Kapitel Nachlaß geblieben.
4. Die sich durchhaltende Perspektive der Auslegung (Metareflexion zur Titelgebung) Abschließend zu dem Überblick über die hauptsächlichen Phasen der Buchpläne und -anordnungen ist die Frage nochmals aufzunehmen, ob sich die Auslegungsproblematik, die sich in einem der frühen Titel des späten Nachlasses als zentrale Perspektive erwiesen hat, auch noch dort in jener fundamentalen Bedeutung nachweisen läßt, wo sie nicht mehr ausdrücklich genannt wird. Um diese Frage zu klären, ist die Art der Titelkonzeptionen von Nietzsche nochmals in einer Art Metareflexion zu durchdenken. Nietzsches Wahl eines Titels mag zunächst den Anschein erwecken, sie sei eine spontane und keinesfalls primär sachoriertierte Entscheidung. Die „Willkür der Titelgebung" meint F. Podach 58 am Untertitel der ,Götzendämmerung' illustrieren zu können, den Nietzsche noch nach Fertigstellung des Druckmanuskriptes geändert hat; anstatt ,Müßiggang eines Psychologen' heißt es in der publizierten Schrift: ,Wie man mit dem Hammer philosophiert'. Podachs Urteil über diese Änderung lautet: „Ein größerer Gegensatz als zwischen einem psychologisch meditierenden Müßiggänger und einem den Hammer schwingenden philosophischen Berserker ist schwer vorstellbar"·.59 Zwar ist Podach hinsichtlich vieler Titel- und Planskizzen der Meinung, daß sie den „Wert von Protokollen" besitzen, doch gelte das „nicht für Entwürfe, die den Zweck hatten, angesammelte Aphorismen auf einen schönen und im Titel zugkräftigen Nenner 57 M. MONTINARI, aaO. 54; zu der folgenden hier referierten Entwicklung vgl. ebd. 55 ff. 58 F. PODACH, Ein Blick in Notizbücher Nietzsches, 61, vgl. audi 51 f. 59 AaO. 61.
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zu bringen" -60 In ähnlicher Weise urteilt Schlechta, wenn er von „attraktive(n) ,Titel(n)'" in Nietzsches Nachlaß spricht, und — unter Hinweis auf die erwähnte Änderung des Untertitels zur ,Götzendämmerung' — zum Schluß gelangt, daß „der Name dabei gar nicht so wichtig (ist)". 61 Die zahlreichen Titelentwürfe und Planskizzen lassen sich jedoch audi auf eine andere Weise verstehen, die der Sache von Nietzsches spätem Denken angemessener zu sein scheint. Wenn sie, wie einleitend zu diesem Teil herausgestellt wurde,62 als Versuche aufgefaßt werden, die gemeinsame Grundintention der in den verschiedenen Aphorismusfragmenten verstreuten Aussagen zum Ausdruck zu bringen, dann ist audi ihre Verschiedenheit zu relativieren. Denn die Vielfalt der Titel bringt dann nur unter einem jeweils unterschiedlichen Gesichtspunkt eine die vorliegenden Notizen insgesamt kennzeichnende Tendenz „auf den Begriff"; in den neuen, wechselnden Entwürfen kommt somit unter jeweils anderem Aspekt das Grundanliegen Nietzsches zum Vorschein. Im Hinblick auf die das Denken Nietzsches bewegende Sache betrachtet stehen sie darum in einem inneren Zusammenhang. Aufgrund der Funktion, die die Titelentwürfe innerhalb des späten Schaffens Nietzsches haben, ist es darum dem Anliegen dieses Denkers angemessener, sie in ihrer sachgemäßen Einheit zu betrachten.63 Einen solchen Versuch hat auch M. Heidegger in seinem Nietzsche-Werk vorgelegt, in dem er die Titel ,Ewige Wiederkehr', ,Wille zur Macht' und ,Umwertung' als „drei Leitworte" interpretiert, „unter denen das Ganze des geplanten Hauptwerkes mit je verschiedener Lagerung steht" j 64 es geht ihm um die Einheit und das Einheitliche der in diesen Titeln und den dazugehörigen Plänen ausgesprochenen philosophischen Lehre. 65 Auch wenn die Hauptwerk-Idee, die Heidegger in seinen Überlegungen voraussetzt, als solche nach Kenntnis des authentischen Nadilaßmaterials nicht 60 AaO. 10. K. SCHLECHTA, Philologischer Nadiberidit, 1400. 6 2 Vgl. oben S. 39 f.; siehe J . SALAQUARDA, Der Antichrist, in: Nietzsche-Studien 2 (1973), 92, der hervorhebt, das Nietzsche viel Sorgfalt bei der Formulierung von Buch- und Abschnittstitel verwendet habe, und das dies auch angemessen bei der Lektüre zu beachten sei; und Nietzsche selbst warnt: „man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels" [seil. .Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte'; J . F . ] ( V I I I 2,432: 11,411).
Vgl. dazu K. ULMER, Orientierung über Nietzsche 13 (1959) 72, der drei Phasen in der Titelentwicklung unterscheidet (Ewige Wiederkehr des Gleichen, Wille zur Macht, Umwertung aller Werte), sie zugleich aber in ihrer Einheit bedenkt: „Das Verbindende dieser drei Gedanken zeigt sich äußerlich darin, daß zwar einer jeweils an der Spitze steht und die Führung hat, die anderen beiden aber mindestens im Untertitel auftreten. Darin zeigt sich, daß es sich nicht um einen immer neuen Gedankenkreis handelt, sondern nur um die Verlagerung des Schwergewichtes in demselben." 6 4 M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 1, 25. 65 AaO. 26 fi.
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mehr haltbar ist, so ist doch Heideggers Postulat einer Einheitlichkeit des die Vielfalt der Fragmente durchziehenden denkerischen Grundanliegens für die Interpretation der Titel zu späten PublikationsProjekten Nietzsches wegweisend. Denn bei der Variation der Titelentwürfe ist ebensowenig wie bei der inhaltlichen Disparatheit der übrigen Notizen von vornherein die Einheit 66 in der Sachaussage auszuschließen. Diese Hypothese vermag sich aber nicht nur hinsichtlich der Gesamtaussage des Spätnachlasses Nietzsches als fruchtbar zu erweisen, wie es in Heideggers Deutung der Fall ist, sondern sie hat ihre Bedeutung auch für die Untersuchung einer speziellen Thematik in diesen Aufzeichnungen, wie es die Auslegungsfrage ist. Betrachtet man die Titelentwicklung unter diesem Aspekt, so zeigt sich zwar, daß die Auslegung nur bei den ersten Erwähnungen des ,Willens zur Macht' im Untertitel genannt ist; nach etwa einem Jahr wird die Formulierung .Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens' von dem Untertitel .Versuch einer Umwertung aller Werte' abgelöst. Doch muß diese Änderung nicht so verstanden werden, als wäre für Nietzsche auch die mit einer neuen Auslegung intendierte Absicht überholt. Schon an der äußeren Gestalt der Formulierung — in beiden Fällen handelt es sich um einen „alles" betreffenden „Versuch" — ist nämlich ein Anschluß an den früheren Untertitel festzustellen. In dieser audi im Hinblick auf weitere Titelentwürfe konstatierbaren Paralellität 67 scheint die „Umwertung aller Werte" nun die Stelle der „neuen Auslegung alles Geschehens" einzunehmen. Diese strukturelle Analogie läßt sich inhaltlich nachweisen. Bei der Interpretation der „Vorrede" stellte sich nämlich heraus, daß Nietzsches „neue Auslegung" im Verhältnis zur bisherigen Moral eine „unmoralische" ist,68 d. h. doch zugleich, daß in ihr eine Umwertung herkömmlicher Wertvorstellungen vorgenommen wird, daß also die neue Auslegung eine neue Wertsetzung ist. Aufgrund dieses Faktums ist es nicht unberechtigt, in der Umwertung eine Form der Auslegung — und umgekehrt — zu erblicken. Auf die Titelproblematik bezogen bedeutet dies aber, daß die Veränderung in der Formulierung nur scheinbar eine willkürliche ist; vielmehr muß gesagt werden, daß für Nietzsche in der weiteren Entwicklung ein neuer Gesichtspunkt in den Vordergrund trat — nämlich der der Umwertung —, wodurch jedoch keineswegs der frühere explizit formulierte Gedanke der Auslegung eliminiert, sondern der Sache nach, wenn auch in einer neuen Akzentuierung, bewahrt worden ist — selbst wenn dies nicht mehr im Titel ausdrücklich ablesbar ist. «6 Vgl. oben S. 22 f. Vgl. den geplanten Untertitel zu Jenseits von Gut und Böse', der lautete: .Versuch einer Überwindung der Moral' (VIII 1,27: 1,82); nach K. JASPERS, Nietzsche, 260 besagen die beiden Titel .Umwertung aller Werte' und .Versuch einer neuen Auslegung' im Grunde das gleiche, da nach Nietzsche Auslegung selbst schon Wertung ist. 68 Vgl. oben S. 52.
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Der aufgezeigte sachimmanente Zusammenhang ergibt sich ebenfalls aus einer weiteren, eher indirekt vorgehenden Überlegung, nämlich wenn man die beiden verschiedenen Untertitel in ihrem Verhältnis zum Haupttitel betrachtet: es wurde schon oben aufgezeigt, daß die „neue Auslegung" genau das erfaßt, was „Wille zur Macht" meint;69 ähnliches kann vom Untertitel der „Umwertung" angenommen werden, umso mehr als dieser in der letzten Zeit zum Haupttitel wurde. Die „Umwertung" sollte ebenso wie die „neue Auslegung" das mit dem „Willen zur Macht" Gemeinte zum Ausdruck bringen. Auch aus diesem Grund darf gefolgert werden, daß das Anliegen einer „neuen Auslegung" im Projekt der „Umwertung" fortgeführt wird, selbst wenn diese nicht mehr explizit thematisiert ist. Diese Folgerung läßt sich in ihrer Berechtigung vom ersten Buch der ,Umwertung' her, dem ^Antichristen', erhärten. Denn im ^Antichristen' ist ohne Zweifel eine im Verhältnis zu den herkömmlichen Wertungen des Christentums und der Gestalt Jesu radikal „neue Auslegung" zu erblicken, die sich mit aller Deutlichkeit auch schon an den entsprechenden Nachlaß-Aufzeichnungen nachweisen läßt.70 Die aufgezeigten Gesichtspunkte legen den Schluß nahe, die Einheit des Sachanliegens Nietzsches in der Vielfalt seiner Publikationsprojekte und den entsprechenden Titelformulierungen und Kapitelanordnungen zumindest als heuristischen Ansatzpunkt zu wählen. Diese Vermutung erweist sich nach den erwähnten faktisch nachweisbaren Zusammenhängen gerade hinsichtlich der Auslegungsthematik als eine berechtigte Annahme. Es ist die Aufgabe der Interpretation, die sich nicht mehr primär auf die Titel, sondern auf alle nachgelassenen Notizen bezieht, die Auslegungsthematik als eine das gesamte Denken des späten Nietzsche durchziehende Problematik aufzuweisen. Daß diese Aufgabe nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, sondern sich vielmehr im Hinblick auf den ontologischen Grundansatz Nietzsches als auch an seiner Deutung zentraler Bereiche des Daseins als erfolgreich erweisen kann, dafür sprechen die bisher analysierten Titel und Pläne, die gleichsam als Kurzfassung und präzise Zusammenfassung seiner in den mannigfaltigen Aufzeichnungen verstreuten Überlegungen aufgefaßt werden dürfen, und die zeigen, daß die Auslegung in vielfältigen Kontexten zur Sprache kommen sollte.
69 Vgl, oben S . 5 5 f . 70 Vgl. dazu E. BENZ, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirdie, Leiden 1956, der sich in der Darstellung der Gestalt Jesu (17 fi.) auch stark auf Nachlaßaufzeichnungen stützt.
2. Teil: Interpretieren als ontologisches Geschehen
Vorbemerkung zur Problemstellung Die im zweiten Teil der Arbeit durchzuführende Aufgabe läßt sich am besten in Abhebung von den die Darstellung des ersten Teiles leitenden Aspekten des Interpretationsgeschehens erhellen. Dort ging es um eine Auslegung des Seins bzw. der Bereiche des Seienden. Die Interpretation bezieht sich auf etwas, auf ein Anderes, das zum „Objekt" der Auslegung wird. Sicherlich ist dieser Begriff im Hinblick auf das Sein nicht in seinem wörtlichen Sinn zu verstehen, da gerade nach Nietzsche das Sein im ganzen, wie es im „Willen zur Macht" zur Sprache gebracht wird, nicht objektivierend mißverstanden werden darf. Aber in grammatikalischer Hinsicht handelt es sich bei der Formulierung „Interpretation des Seins" um einen genitivus objectivus, d. h., das Sein ist „Objekt" der Interpretation. Im Spätwerk Nietzsches ist diese Formulierung aber auch im Sinne eines genitivus subjectivus zu verstehen, insofern das Sein selbst „Subjekt" des Vorganges des Interpretierens ist. Dies ist eine für den ersten Anschein befremdende Annahme. Denn, würde es nicht eine radikale Wende, ja einen Umsturz jeglicher herkömmlicher Theorie der Interpretation bedeuten, wenn gesagt wird: „das Sein selbst interpretiert" ? Würde das nicht bedeuten, daß alles, was bisher als „Subjekt" des Auslegungsgeschehens gegolten hat, von einem es übergreifenden und alles (auch das „Objekt") bestimmenden Geschehen gleichsam unterfangen ist, und somit von einem „anderen" Prozeß abhängig ist, und zwar einem solchen, der von allem Seienden (das Nichtorganische eingeschlossen) ausgesagt wird? Die angeschnittenen Fragen skizzieren in etwa den Problemhorizont, den Nietzsches These eröffnet, die er in dem Satz zum Ausdruck bringt: „Der Wille zur Macht interpretirt" (VIII 1,137: 2,148). Wenn der „Wille zur Macht" das Sein im ganzen charakterisiert, dann vollzieht sich im Sein insgesamt ein Interpretationsgeschehen. Dies ergibt sich als erste Schlußfolgerung aus dem zitierten Satz vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen über den „Willen zur Macht". Mit diesem „Schluß" ist aber eher ein Problem, ja eine Kette von Problemen, angezeigt denn gelöst. Die damit aufgeworfenen Fragen sind nun näher zu erörtern. Doch noch bevor auf einzelne Grundaspekte der Interpretation als Seinsereignis einzugehen ist, soll der generelle Ansatz genannt werden, der die folgenden Überlegungen leitet. Grundsätzlich wird in der Darstellung versucht werden, vom Seinsverständnis her, das in der Formel „Wille zur Macht" zum Ausdruck gebracht wird, den
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Interpretieren als ontologisdies Geschehen
Interpretationsvorgang zu analysieren. Denn dessen Klärung ist in angemessener Weise nur möglich, wenn das die Interpretation leitende Grundphänomen, der Wille zur Macht, selbst in seinen konkreten Wesenszügen bestimmt wird. Nur wenn der Wille zur Macht seiner ontologisdien Struktur nach bekannt ist, kann nämlich verdeutlicht werden, wie dessen Interpretieren aufzufassen ist, da anzunehmen ist, daß die Art und Weise der Auslegung vom interpretierenden „Subjekt" abhängig ist. Die Analyse des Willens zur Macht — als Inbegriff der Ontologie Nietzsches verstanden — soll im Hinblick auf das (ontologisdie) Auslegungsgesdiehen unter folgenden Aspekten vorgenommen werden. Die erste Frage konzentriert sich auf das dem Interpretieren zugrundeliegende Geschehen, sie untersudit die Konstitution des Willens zur Macht als des auslegenden „Subjekts"; es ist die Frage nach dem „Wer" der Auslegung zu beantworten (plurale Ontologie des Werdens); die nächste zielt auf die Art und Weise, auf die innere Qualität, auf das „Wie" des Auslegungsgeschehens (Machtcharakter), und die letzte schließlich bedenkt die Konsequenzen aus der ontologischen Konstitution und Qualifikation der Interpretation für das „Objekt"-Verständnis, für das „Was" der Interpretation (Perspektivität). Es sei hier schon ausdrücklich bemerkt, daß es sich bei den Themen der drei folgenden Kapitel um Aspekte eines einzigen Geschehens handelt, das nur um der Darstellung willen nach seinen drei fundamentalen Erscheinungsweisen hin unterschieden wird; das ontologisdie Interpretieren selbst nämlich vollzieht sich im Ineinander des „subjektiven", „qualitativen" sowie „objektiven" Moments der Auslegung.
3. Kapitel: Interpretation im Horizont einer pluralen Ontologie des Werdens Die erste und grundlegende Erörterung hat der Frage zu gelten, in welchem Sinn vom Sein in dem Ausdrude „Wille zur Macht" gesprochen wird, wenn von diesem ausgesagt wird, daß er interpretiert. Ist „Sein" ein Auslegungsgeschehen? Um das zu klären, ist zuerst zu überlegen, welcher Art der SeinsbegriflE sein müßte, der ein Auslegen als ontologisches Geschehen denkmöglich erscheinen läßt. Da im Interpretieren der Gedanke der Änderung und Veränderung impliziert ist, könnte man dem Sein, in einem statischen Sinn verstanden, wohl kaum den Prozeß des Auslegens zusprechen. Vielmehr zielt Nietzsche auf die Überwindung einer am Gedanken der Vorhandenheit orientierten Ontologie ab. Diese Tendenz und ihr Resultat, das gewandelte Verständnis des Seins als Werden, soll im ersten Unterabschnitt dieses Kapitels dargestellt werden (A). Wenn nun das Wesen des Seins als Werden bestimmt wird, und zwar in kritischer Abhebung von dem als fest-gestellt gedachten Seienden, dann stellt sich aber die weitere Frage, ob dadurch nicht das einem Interpretationsgeschehen zugrundeliegende Substrat, das „Subjekt" des Auslegens, aufgelöst wird in einem permanenten Wandel des Werdens. Welchen Sinn kann dann noch die Rede von einer Interpretation haben, die doch immer auch die Frage nach dem „Wer" der Auslegung impliziert? Ist die Frage nach dem Subjekt der Auslegung mit dem Hinweis auf den alles in gleicher Weise durchdringenden „anonymen" Prozeß des Werdens — auf der Basis eben desselben ontologischen Ansatzes — nicht absurd? Dieser Fragestellung, deren Erörterung zu einem Verständnis des Seins als plural strukturiertem Geschehen führt, ist im zweiten Unterabschnitt nachzugehen (B).
A) Werden als Grundcharakter des Seins und des Auslegens Der oben zitierte Satz, daß es der Wille zur Macht sei, der interpretiert, besagt, daß dem Interpretieren als ontologischem Geschehen eine Charakteristik eignet, die konkret mit dem Ausdrude „Wille zur Macht" umschrieben wird. Dieser komplexe Begriff ist ohne Zweifel, wie aus den Ausführungen des ersten Teils der vorliegenden Arbeit ersichtlich ist, ein Schlüsselbegriff der Ontologie
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Nietzsches. Das Sein wird dadurch in einer spezifischen Weise auf seinen Grundzug hin ausgelegt. Doch ist mit dieser Auslegung nur ein erster Umriß dessen gegeben, was Nietzsche unter Sein versteht. Die Berufung auf den Willen zur Macht als Grundwort der Philosophie Nietzsches unterliegt zudem audi der Gefahr, das damit gemeinte Seins-Phänomen eher zu verdecken denn zu erhellen. Die Selbstverständlichkeit des zur Formel geronnenen Zentralbegriffs ist darum durch eine Reflexion auf die Sache selbst, auf das Sein in seinem Grundcharakter, zu unterlaufen. Es gilt, das ontologische Konzept Nietzsches zu erhellen, und zwar zunächst ohne ausdrückliche Berufung auf die Kennzeichnung als Wille zur Macht. Die im Mittelpunkt der Überlegung stehende Fragerichtung ist dabei der Bezug zwischen Seinsbegriff und Auslegungsverständnis. Daher ist das Seinsverständnis im folgenden in der Weise zu thematisieren, daß es als Ermöglichungsbedingung eines universalontologischen Interpretierens vor Augen gestellt wird. Es soll Nietzsches Gedankengang bis zu jenem Ort seiner Ontologie verfolgt werden, von dem aus sich der „Übergang" zur Interpretationsthematik als mögliche und konsequente Fortführung der ontologischen Position erweist. Das ontologische Konzept Nietzsches wird daher nicht um seiner selbst willen dargestellt, sondern im Hinblick auf die These, daß es im wesentlichen Fundament für einen universalen Auslegungsbegriff ist. Gleichwohl bedarf es einer eingehenden Analyse des Seinsverständnisses Nietzsches als solchem, da aufgrund des genannten Zusammenhangs erst von ihm her der Interpretationsbegriff voll erfaßbar wird. Ein besonderes Gewicht ist dabei auf die Erörterung der Frage nach der Bedeutung und dem Stellenwert des Begriffs „Sein" zu legen, da diesen Nietzsche bekanntlich einer heftigen Kritik unterzogen hat. Eine genauere Charakterisierung der Tendenzen und der Grenzen dieser Kritik wird daher am Beginn dieser Ausführungen stehen. Von Nietzsches Seinskritik ausgehend ist die durch sie mitheraufgeführte Verwandlung der Ontologie angemessener zu würdigen, und somit jene Position besser zu verstehen, in der durch das Seinsverständnis ein ontologisches Auslegungsverständnis vorbereitet wird.
1. Nietzsches Verwandlung des Seinsbegriffs a) Kritik am Begriff „Sein" Der Begriff des „Seins" wird von Nietzsche keineswegs in einem einheitlichen Sinn gebraucht, sondern bei ihm ist jeweils der Bezug zu seinem Gegenbegriff mitzubedenken. Es gibt unterschiedliche Begriffe, die nach Nietzsche einen Gegensatz zum Sein ausdrücken, wie vor allem „Nichts", „Schein" und „Werden". In einer Aufzeichnung aus dem Frühjahr 1884 notiert Nietzsche:
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„Aus dem Gegensatz zum .Nichts' ist der Begriff Sein gebildet" (VII2,60: 25,185). Einige Monate später schreibt er: „Das große Problem, ob es ein Sein giebt — von den Eleaten; und was Alles Schein ist" (VII2,163: 26,64). Schließlich spricht er in einer sehr späten Aufzeichnung (November 1887 — März 1888) klar den Gegensatz des Werdens zum Sein aus, wenn er „ein Quantum Macht" als „ein Werden" beschreibt, „insofern nichts darin den Charakter des ,Seins' hat" (VIII2,278: 11,73), und im unmittelbar vorausgehenden Fragment vom Werden sagt, daß es „keinen Zielzustand" habe und „nicht in ein ,Sein"' münde (VIII 2,277: 11,72). Von den genannten Gegensätzen zum Seinsbegriff wird der letztere, das „Werden", zu Nietzsches eigenem ontologischen Grundbegriff, während die beiden anderen den eigentlichen Charakter des herkömmlichen Seinsverständnisses benennen: „die seiende Welt (ist) ein Schein" (VIII2,277: 11,72), der letztlich „nichts" entspricht. Nietzsches Einwände gründen in der Überzeugung, daß „Sein" ein illusorischer Begriff ist, da ihm keine Realität zukommt. „Sein" ist „unbeweisbar, weil es kein ,Sein' giebt", schreibt er in einem Fragment aus dem Frühjahr 1884 (VII2,60: 25,185). Aus demselben Jahr stammt die isoliert stehende Notiz: „Man muß das Sein leugnen" (VII2,143: 25,513). Die Leugnung des „Seins" ist aber nur möglich, wenn es in seiner Ungegründetheit erkannt wird. Für Nietzsche ergibt sich die Einsicht in das Illusorische des Seinsbegriffs aus dessen Rüdebeziehung auf die Bedingungen, denen er seine Entstehung und Beibehaltung verdankt. Es ist zu fragen, „wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen)" (VIII2,277: 11,72). Grund dafür sind die Erhaltungsbedingungen des Lebendigen: „daß wir in unserem Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die ,wahre' Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine seiende ist" (VIII2,17: 9,38). Die Annahme von „seienden" identischen Dingen ist die Voraussetzung der Logik 1 , ja „der Glaube an das ,Sein' ist die Grundlage aller Wissenschaft, wie alles Lebens" (VII2,234: 26,328); „,das Seiende' gehört zu unserer Optik" (VIII2,46: 9,89). Die Optik erweist sich als notwendig für das Lebewesen, und ist als solche auch nicht ohne weiteres hinterfragbar. In besonders illustrativer Weise erhellt Nietzsche die Problematik des Seinsbegriffs am Erkenntnisproblem. Die Frage nach dem Verhältnis des Erkennens zum Sein könne nicht entschieden werden, wenn nicht vorher geklärt ist, was Sein ist. In kritischer Wendung gegen Descartes heißt es daher: „Zuletzt müßte man immer schon wissen, was ,sein' ist, um ein sum aus dem cogito herauszuziehn (...)" (VII3,372: 40,23; vgl. VIII1,102: 2,87). Doch gerade dies wissen wir nicht! Eine Kritik
ι Vgl. dazu im dritten Teil, S. 149.
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des Erkenntnisvermögens erscheint von dem genannten Gesichtspunkt aus unsinnig. Es bleibt also problematisch, wie und ob überhaupt von einem, dem menschlichen Bewußtsein vorgängigen Sein gesprochen werden kann. Die radikale Infragestellung des Seinsbegriiis durch Nietzsche scheint alle Möglichkeiten „ontologischer" Rede zu verbauen. Gleichwohl zeigen sich bei Nietzsche auch Ansätze zu einem affirmativ-konstruktiven Gebrauch des Wortes „Sein". Mit einer solchen Aussage bezüglich des Seins ist nicht die Auffassung gemeint, daß inhaltlich genau bestimmte Urteile gefällt würden.2 Vielmehr geht es um das Anliegen, das Sein als solches überhaupt zur Sprache zu bringen, anstatt es bloß zu negieren. Eine Aussage in diesem Sinn ist auch dann gegeben, wenn die Unbekanntheit des Seins vorausgesetzt wird. b) XJnerkenttbarkeit und Onbekanntheit
des Seins
Im erwähnten, gegen Descartes gewendeten Zitat ist dieses Nichtwissen bezüglich des Seins impliziert. In dieselbe Richtung zielt audi die pointierte These: „Je erkennbarer etwas ist, um so ferner vom Sein, um so mehr Begriff" (VII2,165: 26,70). Sein und Erkennen werden hier — in Umkehrung der traditionellen Adäquationstheorie der Wahrheit — einander in einer negativ wachsenden Proportionalität gegenüberstehend gesehen. Sein wird in paradoxer Weise durch die wachsende Erkenntnis nicht auch besser erkannt, sondern das Erkennen führt vom Sein weg, hin zur Abstraktion des Begriffs. Doch in unserem Zusammenhang geht es weniger um Nietzsches Kritik am herkömmlichen Erkenntnisbegrifi,3 sondern um den Nachweis, daß für Nietzsche der Begriff des Seins nicht vollständig hinfällig geworden ist, daß er bei der FormuEs ist damit zu rechnen, daß sich die „Ontologie" Nietzsches als Gegen-Ontologie erweist: siehe dazu J . B . LÖTZ, Entwurf einer Ontologie bei Friedrich Nietzsche, in: DERS., Der Mensch im Sein, Freiburg/Basel/Wien 1967, 179 f.; vgl. ferner die einschlägige Studie von W . FACH, Untersuchungen zur Seinstheorie Friedrich Nietzsches, Diss. phil. Freiburg 1949, in der er ebenfalls die Problematik erörtert, ob man die Seinsfrage bei Nietzsche untersuchen könne, da er diese nie ausdrücklich in den Vordergrund gerückt habe; daher lasse sich die Absicht seiner Untersuchungen dahin verdeutlichen, „daß es sich darum handeln wird, das von Nietzsche in seinem Denken hinsichtlich der Seinsfrage Ungesagte herauszuarbeiten" (1); denn „in jeder philosophischen Problematik ist, ausdrücklich oder nicht, in irgend einer Weise über die Frage nach dem Sein entschieden" (ebd.). Die in solchen Sätzen anklingende Orientierung an Heideggers Intention, ebenfalls die un-gesagte Grundstellung Nietzsches innerhalb des abendländischen Seinsgeschickes herauszustellen, die erst durch die später (1961) veröffentlichten Nietzschebände in ihrer ganzen Tragweite bekannt wurde, erklärt sich aus der Tatsache, daß der Verf. zentrale Problemklärungen „einer Seminarübung bei Herrn Prof. Heidegger (verdankt), an der er im Sommer 1944 teilnehmen durfte" (104 Anm. 5, vgl. 106 Anm. 62). 3 Vgl. dazu generell R. H. GRIMM, Nietzsche's Theory of Knowledge, Berlin/New York 1977.
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Interpretieren im Horizont einer pluralen Ontologie des Werdens
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lierung seiner eigenen Wahrheitsauffassung weiterhin eine Funktion behält. Es darf nicht übersehen werden, wie der Kernbegriff der Metaphysik dazu dient, um eine ihr gerade entgegengesetzte Auffassung hinsichtlich des Verhältnisses von Sein und Erkennen zum Ausdrude zu bringen. Eine ähnliche Auffassung spiegelt sich auch in der Aussage, daß „wir unsere Erhaltungs-Bedingungen projicirt (haben) als Prädikate des Seins überhaupt" (VIII 2,17: 9,38). Doch gerade die menschlichen Projektionen gelte es im Verhältnis zum Sein zu restringieren, da diese verstellen und verdecken. Für Nietzsche gilt nämlich, „daß alle ,Wünschbarkeit' keinen Sinn hat in Bezug auf den Gesammtcharakter des Seins" (VIII2,279: 11,74). c) „ Autonomie"
des Seins
Die Eigenständigkeit des Seins, wie es Nietzsche in den genannten Zusammenhängen auslegt, ist zumindest darin angenommen, daß es gegenüber den Projektionen und Interpretationen als ein selbständiger Bereich abgehoben wird. Es ist eine Realität, die nicht von den menschlichen Wünschen und Konstruktionen erreicht wird. Eine Wirklichkeit solcher Art setzen z.B. Notizen voraus, in denen gesagt wird, daß die „Winkelpersektive des Bewußtseins" nicht Aussagen über „Subjekt" und „Objekt" erlaube, „mit denen die Realität berührt würde!" (VIII2,299: 11,120). Die mit „Realität" gemeinte Gegebenheit hat eine Eigenständigkeit gegenüber dem menschlichen Erkennen; sie ist gewissermaßen als „unabhängige" der Perspektive des Bewußtseins vorgegeben. Dieser für Nietzsches Denken überraschende Aspekt — und es ist nur ein Aspekt 4 — wird in einer Formulierung aus dem Jahr 1884 ausgesprochen: „Welche Wohlthat, daß so vieles in der Natur zählbar und berechenbar ist — kurz daß unser fälschender beschränkter Menschen-Verstand nicht alle Gesetze vorgeschrieben hat - - (VII2,288: 27, 55). Die Annahme einer dem menschlichen Verständnis vorgängigen Eigengesetzlichkeit der Natur und Autonomie des Seins bedeutet jedoch keinesfalls eine Rückkehr zu einem „objektivistischen" Begriff des Seins und der Natur, in dem diese dem Menschen als unwandelbare Entitäten gegenüberstehen. Die Kritik 4 Dennoch wäre es nicht zutreffend, in solchen Aussagen nur „naiv-realistische Korrektive" zu den „unzweifelhaft vorherrschenden, teilweise extrem subjektivistischen Formulierungen Nietzsches" zu sehen, wie es A. SCHMIDT tut (Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie, in: Zeugnisse [Th. W. Adorno zum 60. Geburtstag], hrsg. von M. Horkheimer, Frankfurt/M. 1963, 128), da in solchen Aussagen nicht Nietzsches Kritik an einem fixierten und schon gar nicht jene an einem naiven Seinsbegriff zurückgenommen wird; ebenso aber handelt es sich umgekehrt auch nicht um eine „restlose Liquidation des Dingbegriffs" (aaO. 126), sondern es ist viel eher mit E. FINKS Deutung von einer „negative(n) Ontologie des Dinges" zu sprechen (Nietzsches Philosophie, Stuttgart 21968, 160).
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Interpretieren als ontologisdies Geschehen
am „Seienden" als festgestellter, im Interesse des Überlebens fixierter Fiktion wird nicht zurückgenommen, sondern beibehalten, um vor diesem Hintergrund zu einer neuen „Vision" des Seins zu gelangen; zu einer Sicht, in der das Sein nicht mehr primär als „seiend", sondern als werdend gedacht wird.
2. Sein als Werden a) Wechselseitige
Bestimmung von Sein und Werden
Eine aufschlußreiche Bestimmung des Seinsbegriffs gibt Nietzsche in einer Aufzeichnung mit der Überschrift „Sein und Werden" aus dem Herbst 1887 (VIII 2,33: 9,63). Hier wird der Begriff „Sein" mit dem Begriff „Leben" bzw. mit verwandten Ausdrücken, einschließlich des Wortes „Werden", umschrieben, und in Abhängigkeit davon werden auch die Gegensätze zum Sein neu bestimmt. Wir lesen hier: „Sein" als Verallgemeinerung des Begriffs ,Leben' (athmen) ,beseelt sein' .wollen, wirken' .werden' Gegensatz ist: ,unbeseelt sein', ,nicht-werdend'; ,«z'c£/-wollend'. Das Gegenteil zum Sein wird hier generell in der Negation von Grundcharakteristika des Lebens im Sinne Nietzsches, wie ζ. B. „Werden" und „Wollen", gesehen, und nicht als „Scheinbares" oder „Nicht-seiende(s)" bestimmt, wie Nietzsche ausdrücklich an dieser Stelle sagt. An den negierenden Gegenbegriffen läßt sich ebenso wie an der positiven Bestimmung der Seinsvorstellung ersehen, daß dessen Grundcharakter im Leben bzw. Werden beruht. Nach der Aussage des obigen Zitats wird somit die Differenz zwischen „Sein" und „Werden" von selten des Werdens (des Lebens) her relativiert. Bei Nietzsche findet sich aber auch der umgekehrte Weg der Überwindung der Differenz zwischen Werden und Sein, nämlich vom Sein ausgehend. Es ist die ontologisch äußerst bedeutsame Aussage: „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht" (VIII 1,320: 7,54). Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß Nietzsche „doch immer um ein Ineinsdenken dieser Gegensatzbegriffe [sc. von Sein und Werden, J. F.] ringt", wie E. Fink herausstellt.5 5 E. FINK, aaO. 167; in ähnlicher Weise hat M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 2, 287, Nietzsches Grundstellung mit Bezug auf diese Stelle interpretiert: „Nietzsche unterscheidet zwar das Sein als das Bestandhafte, Feste, Verfestigte und Starre gegen das Werden. Aber das Sein gehört doch in den Willen zur Macht, der sich aus einem Beständigen den Bestand sichern muß, einzig zwar, damit er sich übersteigen, d.h. werden kann". Als Konsequenz ergibt sich daraus, daß „Sein und Werden nur scheinbar in den Gegensatz (treten)" (aaO. 288); vgl. ferner die Bestimmung des Verhältnisses der beiden Leitgedanken „Wille zur Macht" und „Ewige Wiederkehr des Gleichen" durch den Grundgedanken, „daß das Werdende ist, indem es seiend wird und werdend ist im Schaffen"
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Das Erstaunliche an diesem Wort Nietzsches, zu dem es ähnlich lautende Aussagen gibt,6 ist, daß Werden als Sein bestimmt wird; könnte man dies nicht als Versuch verstehen, die herkömmliche Ontologie des Seienden durch eine Seinslehre des Werdens zu überwinden? Dann träfe die Vermutung Finks zu, daß „Nietzsche gleichsam in einer Situation der Wende (steht), wo er einerseits das Seins-Verstehen der metaphysischen Tradition, die Kategorien, verwirft und andererseits doch schon eine neue Grundauffassung von ,Sein' hat derart, daß es nicht mehr als Gegensatz zum Werden verstanden werden muß, daß es das Werden in sich hat, daß das Sein Zeit hat oder die Zeit das Sein hat".7 b) Zeitlichkeit als Struktur des Seins Für die von Fink vorgebrachte Deutung sprechen tatsächlich viele von Nietzsches ontologisch relevanten Aussagen, besonders audi was das Urteil über Veränderung, Werden und Zeitlichkeit betrifft. In einem Aphorismus aus dem Sommer 1885 lesen wir: „.Veränderung' gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit" (VII 3,259: 35,55). Das Werden ist ein universelles Geschehen, von dem nichts ausgenommen ist: „Wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch" (VII3,162: 34,73). Die eingangs aufgeworfene Frage, ob bei Nietzsche angesichts seiner unleugbaren Kritik am Seinsbegriff von einem ontologischen Entwurf gesprochen werden kann, ist nach den bisherigen Ausführungen im wesentlichen bejahend zu beantworten.8 Die Einschränkung, die aber zu machen ist, bezieht sich auf den Charakter seiner „Ontologie": sie ist eine solche des Werdens, die das Sein als Werden bestimmt. Im Verhältnis zu dem von Nietzsche kritisierten Seinsbegriff kann darum die bei ihm antreffbare Bestimmung des Seins nur in einem modifizierten Sinn als ontologisch bezeichnet werden. Gerade darin aber bestätigt sich, daß es Nietzsche um eine Bestimmung des Seins im ganzen, um den Grundcharakter jedes Seienden geht — es wird wesentlich als Werdendes ausgelegt. (aaO. Bd. 1, 465); siehe dazu F.LEIST, Heidegger und Nietzsche, in: Philosophisches
Jahrbuch 7 0 (1963), bes. 381 ff. 6
Vgl. ζ. B. die Notiz: „Die Philosophie, so wie ich sie allein noch gelten lasse, als die allgemeinste Form der Historie, als Versuch das Heraklitische Werden irgendwie zu beschreiben und in Zeichen abzukürzen (in eine Art von scheinbarem Sein gleichsam zu übersetzen und zu mumisiren)" (VII 3,286: 36,27).
7 E . FINK, aaO. 167. 8
Vgl. dazu außer der Gesamtdeutung HEIDEGGERS vor allem J. GRANIER, Le Probleme de la verite dans la philosophic de Nietzsche, Paris 1966, bes. 303 ff.; siehe audi G. VATTIMO, Nietzsche et la philosophie comme exercice ontologique, in: Nietzsche, Paris 1967, 203 ff.; W. FACH, Untersuchungen zur Seinstheorie Nietzsches, bes. 37 ff.; über die genannten Studien hinausgehend hat L. GIESZ, Nietzsche. Existenzialismus und Wille zur Macht, Stuttgart 1950, auch Nietzsches These „Sein ist Auslegen" erörtert (80 ff.).
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Wenn Sein als Werden und dieses Werden in Analogie zum Leben verstanden wird, dann ist die Annahme, das Sein als Interpretieren zu verstehen, prinzipiell denkmöglich geworden. Im Prozeß des Interpretierens nämlich ist stets Veränderung impliziert, ein Wechsel, wie er auch in einem Verständnis des Seins als Werden angenommen wird, der jedoch von einem statischen Seinsverständnis ausgeschlossen bliebe. Um das Interpretieren des Seins konkreter aufweisen zu können, ist noch ein weiterer Schritt der Analyse notwendig. Denn vom Sein wird das Auslegen nur insofern ausgesagt, als es Wille zur Macht ist; dieser ist es, der interpretiert. E s bedarf daher einer ausdrücklichen Herausarbeitung der Beziehung zwischen Wille zur Macht und dem Verständnis des Seins als Werden.
3. Wille zur Macht — das innerste Wesen des Seins Ist Wille zur Macht als eine genuin ontologisdie Aussage zu verstehen, und ist dementsprechend dessen Interpretieren als Seinsprozeß aufzufassen? Eine für die Klärung dieser Fragen sehr aufschlußreiche Charakterisierung des Willens zur Macht findet sich in einem Fragment aus dem Frühjahr 1888, in dem Nietzsche schreibt: „Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachsthum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen und Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Cardinal-Thatsachen ansetzen?" ( V I I I 3 , 5 2 : 1 4 , 8 0 ) . Lust und Unlust werden hier im Horizont des Willens zur Macht bestimmt. Im Zusammenhang unserer Problemstellung geht es nicht um die nähere Bestimmung von Lust oder Unlust, sondern um die ontologisdie Relevanz des Willens zur Macht. Diese ist in den zitierten Einleitungssätzen insofern ausgesprochen, als sie implizieren, daß das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist. Diese These gilt es festzuhalten, da sie zeigt, daß Wesen im ontologischen Sinn verstanden ist, als Wesen des Seienden. Mit Martin Heidegger kann der Satz, der vom „innerste(n) Wesen des Seins" spricht, dahingehend interpretiert werden, daß „der Wille zur Macht der Grundcharakter des Seienden als eines solchen (ist)". 9 Und Heidegger fährt fort: „Das Wesen des Willens zur Macht läßt sich daher nur im Blick auf das Seiende als solches, d.h. metaphysisch, erfragen und denken. Die Wahrheit dieses Entwurfes des Seienden auf das Sein im Sinne des Willens zur Macht hat metaphysischen Charakter" , 10 Wenn nun der Wille zur Macht das Wesen des Seienden bestimmt, und das Sein des Seienden als Werden ausgelegt wird, wie in den vorangegangenen Ausführungen deutlich wurde, dann bestimmt der Wille zur Macht, insofern 9 M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 2, 264. 10 Ebd.
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er eben das Sein in seinem Wesen ausdrückt, den Prozeß des Werdens bzw. ist umgekehrt in seinem Grundzug durch das Werden geformt. „Wille zur Macht" ist dann derjenige Begriff, der Sein und Werden zusammenbindet; er ist gleichsam eine Kurzformel ihrer wechselseitigen Definition, die zu dem aufgewiesenen neuen ontologischen Ansatz geführt hat. Die neue Auffassung des Seins kann daher auch mit „Wille zur Macht" umschrieben werden, da Nietzsche mit diesem Begriff das Wesen des Seienden zu erfassen meint.
4. Interpretation als Prozeß des Werdens Von der bisher dargelegten ontologischen Position her ist es nur noch ein gedanklicher Schritt, um die innere, sachbegründete Verbindung zwischen Nietzsches neuer Ontologie und seinem Interpretationsverständnis ausdrücklich zu machen. Denn das vom Wechsel und von der Veränderung durchdrungene Sein weist immanent jene „Struktur" auf, die für den Interpretationsprozeß charakteristisch ist. Ausdrücklich hebt Nietzsche den werdenden Grundcharakter des Auslegens, und zwar insofern dies eine Form des Willens zur Macht, also ontologisch definiert ist, in einer wichtigen Notiz hervor: Man darf nicht fragen: ,wer interpretirt denn?' sondern das Interpretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein ,Sein', sondern als ein P r o z e ß , ein W e r d e n ) als ein Affekt. (VIII 1,138: 2,151) Die Daseinsweise des Interpretierens wird als Prozeß und Werden bestimmt. Da Werden aber „kein Subjekt, sondern ein Thun" ist (VIII 1,321: 7,54), ist auch die Frage nach einem „Wer" von der Sache her unangebracht. Mit der zitierten Aussage, in der der Charakter des Auslegens in Abhebung vom Seinsbegriff umschrieben wird, ist jene Auffassung vom Sein zurückgewiesen, die seiner prozeßhaften Erscheinungsweise nicht gerecht wird. Denn nur vom letzteren her ist in angemessener Weise der Begriff der Interpretation bei Nietzsche zu erfassen: nämlich als prozeßhaftes Geschehen.
B) Flurale Konstitution des „Subjekts" der Auslegung 1. Ontologische Singularität und/oder Pluralität des Machtwillens? a) Zur Konkretisierung der Problemstellung Die Frage nach einem „Subjekt", nach dem „Wer" der Interpretation ist vom Verständnis der Auslegung her zurückzuweisen, wie es Nietzsche in den beiden zuletzt zitierten Fragmenten tatsächlich tut. Da in diesem Zusammen-
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hang die Interpretation als Gegensatz zum „Sein", nämlich als Werden beschrieben wird, ist diese Kritik nicht verwunderlich, da die Ablehnung des traditionellen Seinsbegriffs auch die Kritik an der Vorstellung eines als „seiend" gedachten Subjekts („Wer") zur Folge hat. Von Nietzsches negativer Ontologie des Dinges her wird nämlich jedes durch Fixierung festgestellte und wandellose Seiende gleichsam in dem Fluß des Werdens aufgelöst.11 Diese Annahme bringt aber für die Theorie des Verstehens grundsätzliche Probleme mit sich. Die gravierendste Schwierigkeit ist dabei nicht einmal in der Konsequenz, die sich aus der Destruktion objektivierter Gegenstände des Verstehens ergibt, zu erblicken, sondern in der Auflösung der mit sich selbst identischen personhaften Subjekten zu sehen, von denen die Aktivität des Interpretierens ausgeht. Die radikale Infragestellung der Ontologie des Seienden und einer substantiellen Einheit betrifft nämlich auch den subjektiven „Pol" im Auslegungsgeschehen, der selbst kein „fixes" Zentrum mehr darzustellen vermag. Ist aber damit das Problem des „Subjekts", d. h. einer hinter der Interpretation stehenden „Instanz" erledigt? Oder ist die Frage nicht vielmehr audi dann weiterbestehend, wenn die Antwort lautet, das Letzte sei das Werden? Müßte hier nicht die Frage (und dementsprechend audi die Antwort) noch differenzierter sein, und nach spezifischen „Zentren" innerhalb des Werdens, innerhalb des „Willens zur Macht" gesucht werden, die eine Verschiedenheit und Pluralität von Interpretationen zur Folge haben? Gerade die erwähnte, in gleicher Weise den Seinsbegriff und das „Wer" betreffende Negation könnte als Hinweis darauf dienen, daß — ebensowenig wie die Seinsproblematik als solche negiert wird — die Annahme eines Subjekts bzw. subjekt-analoger „Zentren" nicht vollständig abgewiesen wird. Darum bedarf es eines Neubedenkens der dem Interpretationsgeschehen zugrundeliegenden „Einheiten". Nietzsche war sich der Schwierigkeit, ja des Dilemmas der gestellten Aufgabe bewußt. Einerseits nämlidi erlaubt seine Auslegung des Seins als Werden nicht die Anerkenntnis von kleinen Zentren, die den agierenden Mittelpunkt des Interpretierens darstellen; andererseits aber wird in seiner neuen Auslegung alles Geschehens dieses selbst als Interpretieren aufgefaßt, womit implizit ein „Interpretierendes" und ein „Interpretiertes" (wie immer man diese beiden Pole näherhin charakterisieren mag) vorausgesetzt, und somit die Frage nach einem dem Interpretieren zugrundeliegenden „Agens" aufgeworfen ist. Nietzsche kann daher bei der Verneinung der Frage nach einem „Wer" nicht stehenbleiben. Die Antwort, die von Nietzsches ontologischem Entwurf her denkbar ist, soll im folgenden zu geben versucht werden.
Ii Vgl. E. FINK, Nietzsches Philosophie, 163.
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b) Ein alternativer Lösungsansatz Einen interessanten Ansatz für die Lösung des hier behandelten Problems gibt die Deutung des Willens zur Macht, die Müller - Lauter in seinem Buch über die Gegensatzphilosophie Nietzsches vornimmt. Sie soll aufgrund ihrer Bedeutung für die folgende Thematik in ihrem Grundanliegen kurz umrissen werden. In seinem Buch über Nietzsches Philosophie der Gegensätze12 denkt Müller Lauter den „Willen zur Macht" im Horizont der „Grundbemühung des Philosophierens Nietzsches", die er darin erblickt, „den Gegensatzcharakter des Daseins als Faktizität, ja als Letztgegebenheit (die sich in ihrer Konkretion freilich immer wieder entzieht, wenn man sie in den Griff zu bekommen sucht) zu akzeptieren".13 In Entsprechung zu diesem die Weltwirklichkeit fundamental bestimmenden Gegeneinander einer Vielfalt von Kräften geht auch „der" Wille zur Macht auf eine Pluralität von zugrundeliegenden Willen zur Macht zurück. Die Wirklichkeit, auf die Nietzsches Philosophieren sich letztlich bezieht, ist darum „die in Gegensätzen auf einander bezogene und in solcher Beziehung die eine Welt bildende Vielheit von Willen zur Macht" ,14 Willen zur Macht im Singular ist demnach nur als „gemeinsame Qualität" des „quantitativ (machtmäßig) Verschiedenen", keineswegs aber etwas „an sich" und „vor" den quantitativen Besonderungen Bestehendes.15 Würde der Wille zur Macht jedoch in dieser Weise ausgelegt, so hieße das, „Nietzsche im Sinne einer Metaphysik mißverstehen".16 Als Beispiel einer Interpretation dieser Art zieht Müller - Lauter die Deutung M. Heideggers heran, in der der Wille zur Macht als „das Sich-Ermächtigen der Macht zur eigenen Übermächtigung" ausgelegt wird.17 In dieser Deutung ist der Wille zur Macht also „nicht auf andere Machtquanten, auf andere Willen zur Macht gerichtet, sondern er entfaltet sich in seiner Einzigkeit in sich selbst" .18 Damit habe Heidegger den Willen zur Macht zu einem metaphysischen Prinzip gemacht, was er jedoch gerade nicht sei.19 Ausdrücklich lehnt Müller - Lauter die Aussage Heideggers ab, nach der der Wille zur Macht „immer Wesenswille", „nie Wollen eines Einzelnen, Wirklichen" sei.20 Müller - Lauters Position und die mit ihr verbundene Kritik an Heideggers Deutung des Willens zur Macht ist nun äußerst bedeutsam für das Verständnis Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971. 13 AaO. 16. " AaO. 3 0 , vgl. 3 3 . is Ebd. 16 Ebd. 17 M . HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 2 , 3 6 , zit. bei MÜLLER-LAUTER, aaO. 3 1 .
12
W . MÜLLER-LAUTER,
IS W . MÜLLER-LAUTER, a a O . 3 1 .
ι» Ebd., vgl. aaO. 29. 20 AaO. 30.
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der oben zitierten Aussage, daß „der Wille zur Macht interpretiert". Denn auch hier sei es ein Mißverständnis, zu meinen, „der Wille zur Macht (ob als ein Machtwille verstanden oder als der Wille zur Macht im Sinne eines ens metaphysicum mißdeutet) sei ein Subjekt, von dem das Interpretieren prädiziert werden könne, das seinerseits die vorgängige Voraussetzung für Prozesse bilde." 21 Und in konsequenter Weiterführung seiner These von der Pluralität der Willen zur Macht kann Müller - Lauter im Hinblick auf das Interpretieren sagen, „daß sich Machtwillen als ständig wechselnde Interpretationen gegenüberstehen" , 22 An dieser Folgerung zeigt sich, wie sehr die Deutung des Willens zur Macht sich auf das Verständnis seines Interpretierens auswirkt: beide werden als plurale Phänomene ausgelegt. Die Frage nach dem Wesen und der Art des hier zu untersuchenden Interpretationsprozesses führt also tatsächlich zurück zu derjenigen nach dem Wesen des Willens zur Macht. Das eigentliche Sachproblem, das durch die bisherige Darstellung des Ansatzes von Müller - Lauter und der expliziten Kritik an dem Heideggers vor Augen gestellt werden sollte, liegt in der alternativen Entgegensetzung zwischen einer pluralen, antimetaphysischen und der singularisch-metaphysischen Bestimmung des Willens zur Macht. Hier stellt sich die Frage, ob die plurale Konstitution des Machtwillens in notwendiger Weise die singulare Deutung, nach der er das Wesen des Seienden zum Ausdruck bringt, ausschließt. MüllerLauter wendet sich gegen die letztere Auffassung, wenn er, wie aufgezeigt wurde, die Interpretation Heideggers, daß „Wille zur Macht immer Wesenswille (ist)", ablehnt; jene These also, die nach Heidegger eine Konsequenz aus der Einsicht ist, daß er „das Sein und Wesen des Seienden (betrifft), dieses selbst (ist)". 23 Gegen eine ontologisdhe Deutung, sei es jene Heideggers oder der traditionellen Metaphysik, richtet sich Müller - Lauter, wie er pointiert im Sdilußsatz seines zitierten Aufsatzes sagt: „Nietzsches Philosophieren schließt die Frage nach dem Grund des Seienden im Sinne überlieferter Metaphysik als eine für das wirkliche Geschehen relevante Frage aus"; eben darum gebe es nicht „den Willen zur Macht" oder „das Grundgeschehnis" ,24 Ausgehend von der aufgezeigten Entgegensetzung zwischen einer pluralistischen und singularen Deutung des Willens zur Macht beabsichtigt die vorliegende Untersuchung, wie in der Einleitung zu diesem Teil schon gesagt wurde, die Pluralität als notwendige und konstitutive Realisierungsweise des mit „Willen zur Macht" bezeichneten einzigen Grundgeschehens darzustellen, welches darum wesenhaft als in sich differenziertes zu denken ist 2 5 . Die Be21 22 23 24 25
W. MÜLLER-LAUTER, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, aaO. 43. Ebd. M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 1, 73. W. MÜLLER-LAUTER, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, 60. Damit soll aber keine unsachgemäße „Vermittlung" der beiden einander entgegenstehenden Deutungsansätze von Heidegger und Müller-Lauter im Sinne einer Annäherung
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rechtigung dieser Auffassung ergibt sich aus der genaueren Kennzeichnung der pluralen „Willenspunkte". Ihre Annahme ist nämlich gerade nicht als Gegensatz zum Willen zur Macht im singularisch-ontologischen Sinn erfordert, sondern, wie die folgende Darstellung zeigen wird, aufgrund des Wesens des Willens zur Macht selbst; dieses nämlich verlangt die Konzeption einer in sich plural aufgefächerten Seinsweise von einander entgegengeriditeten „Machtwillen" .
2. Die Notwendigkeit von gegensätzlichen „Etwas" im Agieren der Macht Die Notwendigkeit einer Pluralität von Ansatzpunkten innerhalb des Willens zur Macht widerspricht nicht der fundamentalen Einheitskonzeption des Begriffs. Sehr deutlich kommt dieses wechselseitige Verhältnis von Einheit und Vielfalt in einer Aufzeichnung zum Ausdruck, die eine „Kritik des Begriffs ,Ursache'" beabsichtigt, und zu der Nietzsche die Überschrift hinzugefügt hat: „Wille zur Macht principiell" (VIII 3,66: 14,98). In der Notiz geht es demnach um eine grundsätzliche Reflexion auf den Charakter des mit diesem Begriff bezeichneten Geschehens: Ich brauche den A u s g a n g s p u n k t ,Wille zur Macht' als Ursprung der Bewegung (...). Ich brauche Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der Wille um sich greift... In dieser Aufzeichnung, die übrigens nicht in die klassische Ausgabe des »Willens zur Macht' aufgenommen wurde,26 zeigt sich, daß Nietzsche ein Zweifaches „braucht": Zunächst den einen Ausgangspunkt „Wille zur Macht", sodann — in Parallelität dazu formuliert — eine Mehrzahl von „Centren". Bezieht man diese Aussagen wechselseitig aufeinander, so ergibt sich eine plurale Konstitution des Willens zur Macht. versucht werden, wie sie den Überlegungen W. Weischedels zugrundeliegt, wenn er meint, „bei genauerer Betrachtung" zeige sich, „daß die beiden widersprechenden Positionen einander näher sind, als es auf den ersten Blick erscheint" (Der Wille und die Willen. Zur Auseinandersetzung Wolfgang Müller-Lauters mit Martin Heidegger, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 27 [1973], 75). Vielmehr bleibt die Aufgabe gestellt, im Gespräch mit diesen Denkern Nietzsche selbst zu verstehen, und darin die Sache, um die es geht. Im konkreten Fall ist es die Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Pluralität. Zur Klärung dieser Problemstellung und zu ihrer Lösung haben die genannten Interpretationen Wesentliches beigetragen. Unter den über Nietzsche hinausgehenden Beiträgen zur Sachproblematik einer Philosophie des Gegensatzes ist in erster Linie auf R . G U A R D I N I S Werk J3er Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten' (Mainz 1925) hinzuweisen; vgl. dazu die einschlägige Arbeit von K. WUCHERER-HULDENFELD, Die Gegensatzphilosophie Romano Guardinis in ihren Grundlagen und Folgerungen, Wien 1968. 26 Vgl. .Der Wille zur Macht*, Nr. 551.
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Entsprechendes läßt sich im Hinblick auf das Interpretieren „des" Willens zur Macht aussagen. Daß dieses nicht im Gegensatz zu einer Pluralität von „Ansatzpunkten" steht, sondern sie vielmehr erfordert, das geht aus der Fortführung des schon mehrfach zitierten Satzes „Der Wille zur Macht interpretiert" in unzweideutiger Weise hervor. Diese Aussagen Nietzsches können, da sie sich unmittelbar daran anschließen, eine wichtige Orientierung bieten. Die Fortsetzung des Fragments lautet: (...) er [sc. der Wille zur Macht, J. F.] grenzt ab, bestimmt Grade, Maditversdiiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt. (VIII 1, 137 f.: 2,148) Es zeigt sich also eine Vielfalt von „Etwas", die erst die Bedingung für die Empfindung von unterschiedlichen Machtgraden bilden. Gegensätzlichkeit ist also erforderlich, damit sich die Machtverschiedenheiten gegenseitig als Hindernisse erfahren. Eine Kontrarietät ist aber nur aufgrund der Pluralität jener punktuellen „Etwas" gegeben, die gegeneinander um Macht kämpfen. Es ist also festzuhalten, daß das Interpretieren des Willens zur Macht nur im Zusammenhang mit einer Mehrzahl von Machtzentren, den „wachsen-wollenden Etwas", zu denken ist, da erst die Pluralität eine Konstatierung der Differenzen an Macht ermöglicht. Denn das Machtstreben und Wachstum des Willens zur Macht ist nicht ein Ausbreiten in einen leeren Raum hinein, in dem sich die Macht ungehindert entfalten könnte, sondern „alles Sich-ausbreiten, Einverleiben, Wachsen ist ein Anstreben gegen Widerstehendes" ( V I I I 2 , 2 9 4 : 11, I I I ) . 2 7 Nietzsche veranschaulicht diesen Sachverhalt am Streben des Protoplasmas, das ja nur eine niedere Organisation besitzt, und gerade deshalb sehr geeignet ist, die ursprüngliche Art der Erweiterung des Machtbereichs eines Lebewesens vor Augen zu stellen: Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, — dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma, wenn es Pseudopodien ausschickt und um sich tastet. (VIII 2, 88: 9,151)
3. Machtquanten als Basis einer „Monadologie des Willens zur Macht" Die bisherigen Überlegungen haben deutlich werden lassen, daß die Pluralität von der inneren Struktur des Willens zur Macht her erfordert ist. Aufgrund dieses Sachverhaltes ist es nicht verwunderlich, wenn Nietzsche die 27 Vgl. auch V I I I 1, 310: 7,18.
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postulierten „Zentren" in einer Terminologie erfaßt, die als solche schon den konstitutiven Zusammenhang mit dem fundamentalen Machtwillen zum Ausdruck bringt. Nietzsche spricht von „herrschaftlichen Centren" und „Herrschafts-Gebilde(n)" (VIII 2,278: 11,73), sowie von „Kraft-Puncte(n)", die „das Vorstadium der Herrschafts-Gebilde" (VIII 1,90: 2,69) darstellen, weiters vom „Kraftcentrum" im Plural und von „Kraft-Quanta" (VIII3,53: 14,81). An diesen Ausdrücken ist ebenso wie in der Rede von einem „Quantum Macht" der machtmäßige Charakter dieser Zentren und „complexe(n) Gebilde" (VIII2,278: 11,73) ersichtlich. Der Begriff des „Machtquantums" hat, wie W. Müller - Lauter28 und im Anschluß an ihn neuerdings R. H. Grimm29 gezeigt haben, eine zentrale Bedeutung für die Beschreibung des von Nietzsche mit Willen zur Macht bezeichneten Geschehens. Und Nietzsche spricht auch direkt von einem „Quantum ,Wille zur Macht'"; er charakterisiert diese Quanten allein von ihrem Wirken her: „Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet"; das Wesen solcher „dynamischen Quanten", wie er sie in demselben Textstück auch bezeichnet, „besteht in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten, in ihrem .Wirken' auf dieselben" (VIII3,50 f.: 14,79). Von der Pluralität des Wirkens her ergibt sich eine monadisch strukturierte Welt, gewissermaßen eine „Monadologie des Willens zur Macht" .30 Denn von jedem Lebewesen, von jedem „Punkt" aus entsteht eine „Welt", die nur ihm eigen ist. Hinsichtlich des Lebendigen sagt Nietzsche diese Konsequenz auch direkt aus, wenn er schreibt: Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre Begierden, ihre Gewohnheiten in den Erfahrungen außer sich heraus setzen als ihre A u ß e n w e l t (VII3,223: 34,247). Das „Innere" wird gewissermaßen als Äußeres projiziert, die Innenwelt als Außenwelt „gesetzt". Damit konstatiert Nietzsche eine Grundmöglichkeit und Wesenseigenschaft des Organischen. Doch beschränkt sich diese Möglichkeit nicht auf das Lebendige, sondern sie ist prinzipiell überall dort gegeben, wo der Wille zur Macht herrscht, und d. h. im Sein im ganzen. Man hat daher mit berechtigten Gründen Nietzsches Willenspunkte mit den „points metaphysics" bei Leibniz verglichen,31 und sie mit der Leibnizschen Monadologie in Beziehung gesetzt.32 Sogar Nietzsche selbst spricht von „Monaden" und gesteht, nachdem Nietzsche, 2 1 ff. Nietzsche's Theory of Knowledge, bes. 1 6 9 ff., mit Anm. 3 , 1 2 , 1 5 , 3 6 , 3 8 , und 4 2 des 8 . Kap. 30 Vgl. E. HEINTEL, Philosophie und organischer Prozeß, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), 69. 31 Vgl. W . MÜLLER-LAUTER, Nietzsche, 3 2 . 32 Vgl. E. HEINTEL, Philosophie und organischer Prozeß, 93 f., der auf den schon von K . HILDEBRANDT herausgestellten Bezug zwischen der Leibnizschen Monadologie und 28
29
Vgl. W . Vgl. R.
MÜLLER-LAUTER,
H . GRIMM,
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er in demselben Textstück einige Zeilen vorher betont hat, daß es keine Atome bzw. Monaden gibt, eine relative Redeweise hinsichtlich derselben zu ( V I I I 2 , 278:
11,73).
An der bloß relativen Bedeutung der Monaden zeigt sich auch die Grenze des Vergleichs mit Leibniz. Denn im besonderen ist damit ausgesagt, daß es keine „konstanten", keine „absoluten" Zentren sind. 33 Nicht an fixe LetzteinNietzsches Perspektivenlehre hinweist (Über Deutung und Einordnung von Nietzsches .System', in: Kant-Studien 41 [1936], 291 f.); sehr ausführlich wurde die „Monadologie" der „Kraftzentren" Nietzsches in einer Dissertation bearbeitet, für die Hildebrandt Berichterstatter war: K. ENGELKE, Die metaphysischen Grundlagen in Nietzsches Werk, Kiel 1940, bes. 101 ff., und — ausdrüddich zur „Interpretation" — 132 Q. In einer jüngst veröffentlichten Abhandlung wird dieser Aspekt ebenfalls eingehend behandelt, und zwar von F. KAULBACH, Nietzsche und der monadologische Gedanke, in: NietzscheStudien 8 (1979), 127 ff. Dieser Artikel hebt vor allem die mit Leibniz übereinstimmenden bzw. mit seinem Denken verwandten Gedankengänge hervor (vgl. ζ. B. 135 f., 137 f., 145, 147 f., 151); der Autor ist sich aber der „freilich auch gravierenden Unterschiede zu Leibniz, dem Metaphysiker" bewußt (155), und er weist zum Sdiluß seiner Untersuchung auf die entscheidende Differenz Nietzsches zur „theologischen Verankerung der Welt bei Leibniz" hin (156), ohne jedoch diese Unterschiede näher zu behandeln. Die Verschiedenheit des „monadologischen" Konzepts beider Denker dürfte aber nicht übergangen werden, wie MÜLLER-LAUTER in seinem Nietzsche-Buch ζ. B. hinsichtlich der Tatsache bemerkt, daß die „Monaden" bei Nietzsche weder „fensterlos" noch „Entelediien" seien (aaO. 32). Diese Differenzen wirken sich gerade audi im Verständnis der Auslegung aus, wie in indirekter Weise der Beitrag von W. BARTUSCHAT, Zum Problem der Auslegung bei Leibniz (in: Hermeneutik und Dialektik, Bd. 2, Tübingen 1970, 219 ff.), zeigt; vgl. hier bes. die Leibnizsdie Bestimmung des „etre complet" als „Atomon per se completum seu se ipsum complens" (222), und die Aussage, daß „die Monade Tätigkeit ist, kraft derer sie eine Bewegung zu sich selbst vollzieht" (223), ferner die Ausführungen bezüglich der „notwendigen Wahrheiten", und die These: „daß es Tatsachen-Wahrheiten gibt, ist selbst eine notwendige Wahrheit" (233), die insgesamt von Nietzsches Verständnis der erwähnten Themen sachlich verschieden sind. Gleichwohl soll aber durch diese Hinweise nicht ausgeschlossen werden, daß es einen engeren Bezug zwischen der Sache des Denkens von Leibniz und jener Nietzsches gibt, als bisher überhaupt bekannt ist. Ein umfassendes Urteil ist schon deshalb verwehrt, weil es noch keine ausführliche Untersuchung des Verhältnisses zwischen diesen beiden Denkern gibt. Auch in der Arbeit von H. RODINGEN, Aussage und Anweisung. Zwei Auslegungs- und Verständigungsmuster dargestellt an Texten von Leibniz und Nietzsche, Meisenheim 1975, steht nicht das Verhältnis zwischen den beiden Philosophen im Mittelpunkt, sondern die im Titel genannte Thematik bei jedem für sich; abgesehen davon kommt in dieser Studie die hermeneutische Grundreflexion zu wenig zum Tragen (vgl. dazu die Rez. von W. GEBHARD, in: Nietzsche-Studien 8 [1979] 440ff.). — Für das Bestehen weiterer aufschlußreicher Parallelen spricht die Affinität zwischen der Leibnizischen Explikation des klassischen „conatus"-Begriffs und dem Nietzscheschen „Willen zur Macht" (vgl. dazu M. BENEDIKT, Der philosophische Empirismus. Theorie, Wien 1977, 487). 33 Vgl. auch VII 3,439: 43,2, wo sich Nietzsche „gegen den absoluten Begriff ,Atom' und .Individuum'!" wendet; den „aktudistischen Atombegriff" (23) untersucht ausführlich A. MITTASCH, Friedrich Nietzsches Stellung zur Chemie, Berlin 1944; aus dieser kleinen Schrift geht zugleich hervor, daß Nietzsches Äußerungen über den Atomismus selbst für eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise „viel Beachtenswertes" bieten (19); hier wird ebenfalls auf den Bezug zu den Monaden im Verständnis von Leibniz hingewiesen (vgl. 22 und 31).
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heiten metaphysischer Art hat man dabei zu denken, sondern daran, daß sie „relativ" sind. Worin besteht aber nun näherhin die Relativität der monadenähnlichen Zentren? Um diese Frage und in einem damit den Seinscharakter der den Willen zur Macht konstituierenden „Elemente" zu klären, ist eigens auf die spezifische Seinsweise derselben einzugehen.
4. Werden — die Seinsweise der Machtquanten Aufgrund ihrer Komplexität, also ihrer Nicht-Einheitlichkeit, die sich in ihrer Pluralität zeigt, kann Nietzsche zu den „herrschaftlichen Centren" bemerken: „.Vielheiten' jedenfalls, aber die ,Einheit* ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden" ( V I I I 2 , 2 7 8 : 11,73). 3 4 Werden und Einheit bilden einen Widerspruch. Dieser kann nur — wenn überhaupt — dadurch aufgelöst werden, daß die „Einheiten" selbst vom Werden her gedacht werden und dadurch die Vorstellung einer statisch verstandenen Seinsweise und Einheit durchbrochen wird. Solche Zentren sind dann selbst vom Charakter des Werdens geprägt und dem Wandel des Werdens unterworfen; sie entstehen und vergehen, sie haben keine Permanenz, ihre Dauer ist beschränkt; sie sind „complexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens" (a.a.O. 278). Diese „Einheiten" haben keine Absolutheit, weder im Hinblick auf ihre zeitliche Existenz noch auf ihren ontologischen Status. Denn: — es gibt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist ,das Seiende' erst von uns h i n e i n g e l e g t ( . . . ) . (VIII2,278) Ebensowenig haben sie eine Existenz als selbständig bleibende, autonome Einheiten: Kampf der Atome, wie der Individuen, aber bei gewisser Stärkeverschiedenheit wird aus zwei Atomen Eins, und aus zwei Individuen Eins. Ebenso umgekehrt aus Eins werden zwei, wenn der innere Zustand eine Disgregation des MachtCentrums bewerkstelligt (VII3,439: 43,2). Die Machtzentren haben kein „Sein" im Sinne einer festgestellten und fixierten Existenzweise, sondern „existieren" nur in der Veränderung. Darum kann von ihrer zeitlichen Daseinsform nur in eingeschränkter Weise gesprochen werden, keinesfalls absolut. Nietzsche ist sich hier bewußt, daß er mit der Vorstellung solcher „Einheiten" an die Grenze der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit35 gelangt ist: 3"t Die folgenden beiden Zitate sind ebenfalls dem Fragment 11(73) entnommen. Zur konstitutiven Bedeutung der Vielheit vgl. audi J . SALAQUARDA, Umwertung aller Werte, in: Archiv für Begrifisgeschichte, Bd. X X I I , Heft 2, Bonn 1978, 161 f. 35 Vgl. W . MÜLLER-LAUTER, Nietzsche, 21; vgl. J . HENNIGFELD, Sprache als Weltansicht.
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Interpretieren als ontologisches Geschehen — die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das Werden auszudrücken: es gehört zu unserem u n a b l ö s l i c h e n B e d ü r f n i ß d e r E r h a l t u n g , beständig die eine gröbere Welt von Bleibendem, von .Dingen' usw. zu setzen. Relativ, dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß ist, daß die k l e i n s t e W e l t a n D a u e r d i e d a u e r h a f t e s t e i s t . . . (VIII2,278: 11,73).
Doch obwohl, wie es im Zitat heißt, die Redeweise von Atomen und Dingen relativ ist, meint Nietzsche audi feststellen zu können, was „gewiß" ist, nämlich „daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist". Wenn in den kleinsten Welten dann doch die größte Permanenz gegeben sein soll, dann muß dies so verstanden werden, daß sich diese am konstantesten im Wechsel des Werdens bewahren, und zwar deshalb, weil sie selbst den Charakter des Werdens haben, selbst Werden „sind". Die grundlegende Daseinsweise eines solchen „Zentrums" sieht Nietzsche im Werden, so daß er es in seinem sich an der Grenze zur Sprachlosigkeit bewegendem Ringen um den treffenden Ausdruck im selben Fragment als „ein Quantum Macht, ein Werden, insofern nichts darin den Charakter des ,Seins' hat", bezeichnen kann.
5. Die modifizierte Frage nach dem „Wer" der Interpretation Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen kann die Frage nach dem „Wer" des Interpretierens in einer modifizierten Weise wieder aufgenommen werden. Sie wurde in der oben zitierten Aussage 36 aufgrund der Tatsache, daß das Interpretieren ein Werden ist, zurückgewiesen. Nietzsche kann sich aber nicht auf diese Negation beschränken, bzw. es muß angenommen werden, daß er mit der Ablehnung eines „Wer" nicht schlechthin jede nur denkbare Konkretisation punktueller Art innerhalb des Werdens negiert. Sehr deutlich zeigt diese problematische Situation und den Versuch, sie zu überwinden, eine Überlegung, in der nach dem „Wer" gefragt wird, das hinter Luststreben bzw. dem Willen zur Macht, der „das innerste Wesen des Seins"37 ist, steht: Humboldt - Nietzsche - Whorf, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976), 442, der meint, das folgende Zitat mache deutlich, „daß Nietzsches Einschätzung der Sprache eine metaphysische These voraussetzt", nämlich daß das wahre Sein Werden, näherhin Leben sei. — Das starke Ringen Nietzsches um den angemessenen Begriff ist audi an der erwähnten Tatsache abzulesen, eine Reihe verschiedener Ausdrücke für die zu beschreibenden Phänomene zu verwenden. An den variierenden Ausdrücken zeigt sich, daß diese keinesfalls als Begriffe in einem definitorischen Sinn aufgefaßt werden dürfen. 36 Vgl. oben S. 81. 37 Vgl. oben S. 80; zugleich wird dadurch eine bedeutsame Aussage über den Stellenwert von Lust und Unlust gemacht, eine Thematik, die hier nicht mehr weiter zu verfolgen ist, vgl. dazu z.B. VII 1,107: 25,378: „Vor den Lust- und Unlustgefühlen gibt es Kraftund Schwächegefühle im Ganzen."
Interpretieren im Horizont einer pluralen Ontologie des Werdens
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Aber w e r fühlt Lust? . . . Aber w e r will Macht? . . . Absurde Frage: Wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlustfühlen ist. Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also relativ, der ü b e r g r e i f e n d e n E i n h e i t e n . . . Lokalisirt wenn Α auf Β wirkt, so ist Α erst lokalisirt getrennt von Β (VIII 3 , 5 2 : 14, 80).
Audi in diesem Fragment wird die Frage nach dem „Wer" zunächst abgewiesen, insofern sie als „absurde" beurteilt wird. Und auch hier ist wie bei der Frage nach dem „Wer" des Interpretierens ein ontologisdier Grund angeführt: da das Wesen, also der Grund des Seins selbst, Machtwille ist (so wie oben das Interpretieren selbst seinem Sein nach als Form des Willens zur Macht bestimmt wurde),38 deshalb ist eine Hinterfragung, die Suche nach einem dahinterliegenden Subjekt oder einer subjektanalogen „Instanz", einem „Wer", nicht sinnvoll. Das „Letzte" ist nämlich schon im Machtwillen erreicht. Dennoch — oder sollte man nicht Nietzsche weiterführend sagen: gerade deswegen! — ist die Annahme von Gegensätzen und Widerständen erforderlich, die ihrerseits wiederum nur gedacht werden können, wenn innerhalb des Flusses des Werdens „übergreifende Einheiten" angenommen werden.39 Das zitierte Fragment bricht an dieser Stelle ab, und nach dem Wort „lokalisirt" folgt davon abgesetzt die mathematisch anmutende formelhafte Aussage vom Wirken eines Α auf ein B, wobei das Wort „lokalisirt" wiederholt und durch ein „getrennt" ergänzt wird. Diese bruchstückhaften und teils noch unentziflerten Aufzeichnungen fügen sich jedoch zu einer sinnvollen Aussage, wenn man das Anliegen, um das es Nietzsche hier geht, vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen -würdigt. Es ist die Suche nach „Einheiten", von denen her die Gegensätze im alles umfassenden Werden, die Widerstände innerhalb des universalen Machtwillens erklärbar werden sollen. Es geht um Lokalisierung, d. h. um punktuelle Festlegung auf einen begrenzten Ort; dieser ist dann getrennt, d. h. als nicht-identisch mit einem anderen Punkt zu denken. Nietzsche spricht bloß von „A" bzw. „B". In solcher Abstraktheit scheint sich die Schwierigkeit auszudrücken, die erforderten „Einheiten" im Fluß des Geschehens zu bezeichnen. Zugleich geht aber aus der an mathematische Formeln erinnernden Terminologie hervor, daß die Annahme von „Zentren" innerhalb des Machtwillens von der ontologischen Gesamtkonzeption her denkmöglich, ja notwendig ist. Die Auffassung, daß der Wille zur Macht sich als eine Pluralität von „Punkten" konstituiert und somit eine Vielzahl von „Wer" gegeben ist, geht aus einer weiteren Gegenüberstellung unzweideutig hervor. Nietzsche schreibt: „es giebt keinen Willen·, es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren" (VIII2,278 f.: 11, 73). Der punktuelle Aspekt solcher Macht38 Vgl. das S. 81 angeführte Zitat. 39 Vgl. H. KUTZNER, Nietzsche, Hildesheim 1978, 64.
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Interpretieren als ontologisches Geschehen
Zentren wird hierbei hervorgehoben. Mit dem Ausdruck „Punktation" ist etwas erfaßt, das „lokalisiert" und somit „getrennt" von anderen Punkten ist, wie es in einem der vorhin interpretierten Fragmente heißt. Mit einer „Punktation'' ist ein relatives Zentrum im Fluß des Werdens bezeichnet. Wenn Nietzsche hier von Willens-Vunktation spricht, so ist damit ein Zentrum innerhalb des Willens zur Macht gemeint. Das Werden, das der Wille zur Macht „ist", ist demnach mit einer Vielzahl von Willens-Punkten identisch, und keineswegs ein undifferenziertes, amorphes Geschehen. 40 Denn innerhalb der permanenten Veränderung gibt es Zentren, subjektanaloge Punkte, eine Pluralität von „Wer", die jedoch nur von relativer Dauer sind. Sie sind gleichsam temporäre „Inseln" im Fluß des Werdens, „Einheiten" für eine begrenzte Zeit.
6. Plurale Struktur des Willens zur Macht und Auslegung a) Gegensätzliche
„Zentren" als Bedingung
eines interpretativen
Geschehens
Nachdem die plurale Struktur des Willens zur Macht an den Machtpunkten bzw. komplexen Gebilden zutage getreten ist und somit eine Vielzahl von Machtzentren angenommen werden muß, soll abschließend überlegt werden, ob mit dem Aufweis einer solchen Pluralität im Prozeß des Interpretierens auch die Frage nach dem „Wer" der Auslegung beantwortet ist. Darauf ist zu sagen, daß gewiß auch diese Machtpunkte nicht als „Subjekte", die der jeweiligen Interpretation zugrundeliegen, gedeutet werden dürfen; der Subjektbegriff im personalen Sinn ist hier nicht am Platz, weil Nietzsche ausdrücklich die personbezogene Frage nach dem „Wer" ablehnt, und das impliziert, daß nach diesen Willenspunktationen nicht in personaler Weise gefragt werden darf. Die betont apersonale Struktur der von Nietzsche vorausgesetzten kleinen Einheiten zeigt sich auch darin, daß er sie als „Etwas" bezeichnet. Doch darf die unpersönliche Gestalt dieser vielen „Etwas" nicht darüber hinwegsehen lassen, daß es einzelne „Punkte" und in diesem Sinn relative Einheiten sind, die eine jeweils spezifische Interpretation „bewirken", und darin andere Einheiten von ihrem Machtwillen her auslegen. Es sind, wenn auch keine „Subjekte", so doch die der Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit von Auslegungen zugrundeliegenden Punkte. Die Annahme von solchen Zentren ist erfordert, um vom Willen zur Macht ein Interpretieren, d . h . ein auslegendes Abschätzen eines „Anderen" aussagen zu können. Um den Grund anzugeben, der es ermöglicht, den Willen zur Macht als interpretatives Geschehen zu denken, muß nämlich auf die Bedingung zurückgegangen werden, von der her es überhaupt denkbar erscheint, die Totalität des Seins als Auslegen zu deuten. Eine der Grundbedingungen hierfür ist die TO V g l . R . H . GRIMM, aaO. 1 7 0 .
Interpretieren im Horizont einer pluralen Ontologie des Werdens
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Voraussetzung von Differenzen, Unterschieden und Gegensätzen im Geschehen der Macht; erst wenn verschiedene Willenspunkte, die von jeweils verschiedenen Graden der Macht gekennzeichnet sind, angenommen werden, ist das Wadisen und Abnehmen, das Bekämpfen eines schwächeren Machtquantums und das Angegriffenwerden durch ein stärkeres, kurz ein Kampf in dem Prozeß, den Nietzsche mit „Interpretieren" bezeichnet, denkbar. Nietzsche setzt daher die Annahme von sogenannten Machtquanten, die als Interpretationszentren zu verstehen sind, voraus. b) Das Interpretieren des einen Willens zur Macht und die Interpretationen von vielen Machtzentren aus Die Darstellung der Konstitution des Machtwillens hat indirekt auch zur Klärung der Frage beizutragen vermocht, wie das Verhältnis des einen Willen zur Macht zur Vielheit der ihn konstituierenden Machtpunkte zu denken ist. Aufgrund der wesensmäßig pluralen Gestalt des einen alles umfassenden Willens zur Macht wäre es eine unzutreffende Deutung, Einheit und Vielheit desselben gegeneinander zu stellen, bzw. das eine auf Kosten des anderen, ebenso wesensmäßigen Konstitutivums, zurückzustellen. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Singularität nicht ohne Pluralität zu denken ist, da letztere nötig ist, um das Wesen aller Dinge als dasjenige zu denken, was es ist, nämlich ein Kampf sich gegenseitig messender (interpretierender) Willenspunkte; und ebenso ist es umgekehrt notwendig, die vielen Zentren innerhalb einer umgreifenden Einheit zu sehen, da sie nur so in ihrem Zueinander und Gegeneinander begriffen sind, in jenem Wechselspiel also, das sich in allem Geschehen vollzieht; schließlich ist diese Einheit auch deswegen anzunehmen, weil im Willen zur Macht sowohl die Homogenität alles Geschehens als auch der letzte, alles Sein umfassende Horizont gedacht wird. Die ontologisch bedeutsame Aussage über die Konstitution des Willens zur Macht trifft nun das Wesentliche seines Interpretierens.· auch dies ist ein Geschehen, von dem gesagt werden muß, daß es auf das Sein im ganzen und in seiner universalen „Einheit" zutrifft, wie es in dem Satz zum Ausdruck kommt: Der Wille zur Macht — im Singular — interpretiert; doch gleichzeitig ist festzuhalten, daß sich das Interpretieren alles Seins nur von einer Vielzahl verschiedener Machtpunkte aus realisiert. Darum gilt gleichzeitig die Aussage: Die Willen zur Macht (im Plural), d.h. die „Zentren" im Machtwillen, sind es, die interpretieren.
4. Kapitel: Der Macht-Charakter der Interpretation Der Charakter der Interpretation als ontologisches Geschehen ist, wie in der Vorbemerkung zu diesem Teil der Arbeit erwähnt wurde, in einem engen Zusammenhang mit dem Verständnis des Willens zur Macht zu sehen. Diese Annahme hatte sich schon in der bisherigen Erörterung des Werdecharakters und der pluralen Struktur des Willen zur Macht erwiesen, da gezeigt werden konnte, daß die Art des Interpretierens davon abhängig ist, und Auslegen somit ebenfalls als Werden und plurales Geschehen zu verstehen ist. Nun ist ein weiterer konstitutiver Aspekt der Auslegung vom ontologischen Grundbegriii Nietzsches her zu untersuchen: jener Grundzug, der ein Element in diesem Schlüsselbegriff bildet, nämlich die Dimension der Macht. Wie wirkt sich die Tatsache, daß es ein Wille zur Macht ist, auf die Art und Weise seines Interpretierens aus? Nachdem im ersten Kapitel dieses Teils versucht wurde, das „Wer" der Interpretation zu klären, geht es nun um das „Wie" derselben, und im folgenden Kapitel um ihr „Was" (die Objektkonstitution). Um die aufgeworfene Frage beantworten zu können, ist in einem ersten Durchgang eine Analyse des Aspektes des Machtmäßigen in Nietzsches Zentralbegriff durchzuführen (A); hierauf aufbauend kann sich erst zeigen, ob diejenigen Kennzeichen, die den Begriff der Macht innerhalb des „Willens zur Macht" prägen, auch das von ihm getragene Auslegungsgeschehen charakterisieren (B).
A) Charakteristische Aspekte des Machtwillens Unzweifelhaft bildet in dem Ausdruck „Wille zur Macht" der Begriff „Macht" eine zentrale Komponente. Gleichwohl ist es ebenfalls nicht zu übersehen, daß Nietzsche mit der Formulierung eine spezifische Art von Willen hervorheben wollte, so daß es um Macht „nur" insofern geht, als sie die Zielrichtung des Willens genauer angibt, indem sie eine bestimmte Ausprägung von Willen kennzeichnet. In diesem „Nur" ist aber zugleich das Entscheidende des Willens enthalten, da er einzig und allein durch die Macht charakterisiert wird. Die beiden Begriffe „Wille" und „Macht" dürften daher in der genannten Formel in einem wechselseitigen Beziehungsverhältnis stehen, das es ermöglicht, die Formel selbst sowohl von dem einen wie von dem anderen der beiden Begriffe her zu interpretieren. Aufgrund der vermuteten Zusammengehörigkeit ist
Der Macht-Charakter der Interpretation
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es naheliegend, den Begriff der Macht audi von dem des Willens her konkreter zu bestimmen. Darum soll die im folgenden versuchte Aufhellung des „Willens zur Macht", obwohl es primär um den Aspekt des Machtmäßigen geht, mit einer Analyse dessen einsetzen, was Nietzsche unter „Wille" versteht; von diesem her nämlich ist auch ein Beitrag zum Verständnis des Machtbegriffs zu erwarten, der im folgenden als solcher untersucht werden soll.
1. „Macht" als Ziel und Inhalt des „Willens" Den Zusammenhang des „Willens zur Macht" mit dem Begriff „Wille" hat Nietzsche selbst in einer Niederschrift aus dem Frühjahr 1888 problematisiert. Darin ist das Problem nach drei Gesichtspunkten hin aufgegliedert, wobei die beiden ersten eine Alternative vor Augen stellen, und der letzte eine Auseinandersetzung mit Schopenhauer vorbereitet. Seine Fragestellung lautet: ist ,Wille zur Macht' eine Art ,Wille' oder identisch mit dem Begriff ,Wille'? heißt es so viel als begehren? oder commandiren? ist es der ,Wille', von dem Schopenhauer meint, er sei das ,An sich der Dinge'? (VIII3,93: 14,121) Die zuerst gestellte Frage wird man, wenn man die Urteile Nietzsches über den Willen heranzieht, nur negativ beantworten können. Er lehnt nämlich den psychologischen Willensbegriff sowie den philosophischen, der im Problem der Willensfreiheit vorausgesetzt wird, entschieden ab. In einer Notiz aus dem Jahr 1884 schreibt er, daß es „gar keinen Willen (giebt), weder einen freien noch einen unfreien", und mit dieser These meint er eine Lösung des Problems der Willensfreiheit herbeigeführt zu haben, „die man sich gründlicher und abschließender gar nicht denken kann" (VII2,275: 27,1). Er zielt auf eine „Beseitigung des ,Willens'" (VII2,223: 26,283), auf eine „Elimination des Begriffs ,Wille'" (VII2,66: 25,214). Der Wille ist für Nietzsche eine „Erdichtung" (VII2,282: 27,24), eine „ungerechtfertigte Verallgemeinerung" (VIII3,93: 14,121). „Wollen" ist eine „reine Fiktion" (VIII2,296: 11, 114). Das Resümee aus diesen Thesen kann darum nur lauten: „für mich giebt es keinen Willen" (VII2,214: 26,254). Angesichts der hier zusammengestellten Urteile aus den letzten Jahren seines Schaffens ist es umso verwunderlicher, daß der abgelehnte Begriff zu einem Bestandteil seiner programmatischen Rede vom „Willen zur Macht" zur selben Zeit geworden ist. Die Bedeutung des Willensbegriffs in dieser Formulierung muß darum im Gegensatz zum herkömmlichen Verständnis desselben stehen. Nietzsche deutet dies in der Aussage an, die sich im Anschluß an die oben wiedergegebene Fragestellung findet. Darin wirft er der bisherigen Psychologie vor, daß sie, „statt die Ausgestaltung Eines bestimmten Willens in viele Formen zu
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Interpretieren als ontologisches Geschehen
fassen", den Charakter des Willens weggestrichen habe, „indem man den Inhalt, das Wohin? heraus j«&trahirt hat"; dies sei „im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er ,Wille' nennt" (VIII 3,93: 14,121). Nietzsche profiliert seinen eigenen Willensbegriff in Abhebung von dem Schopenhauers, dem gerade das Eigentümliche des Willens, nämlich Inhalt und Ziel, fehlen würden. Gerade diese aber kennzeichnen den in einem wahren Sinn verstandenen Willen: „es giebt kein ,wollen', sondern nur ein Etwas-wollen: man muß nicht das Ziel auslösen aus dem Zustand (...)" (VIII2,296: 11,114). Zu dem inhalts- und zielgerichteten Charakter des Willens tritt der befehlshafte hinzu, wie es in dem soeben zitierten Fragment weiters heißt: „daß Etwas befohlen wird, gehört zum Wollen" (ebd.). Den Aspekt des Befehlens hebt Nietzsche besonders hervor, und er betont damit zugleich den Gegensatz zum Willen, der als bloße Begierde verstanden wird: „.wollen' ist nicht .begehren', streben, verlangen: davon hebt es sich ab durch den Affekt des Commando's" (ebd.).41 Durch die Entgegensetzung von befehlendem Willen und Begierde wird der Gegensatz zu Schopenhauer noch klarer, da dieser nach dem Urteil Nietzsches zutiefst von der Herrschaft der Begierde überzeugt war, auch wenn er „Wille" sagte (vgl. VIII2,105: 9,178). Die angeführten Aussagen enthalten eine direkte Antwort auf die zweite der oben zitierten Alternativfragen, in der es um das Entweder-Oder von „Begehren" und „Commandiren" ging. Ebenso ist deutlich geworden, daß die dritte, die Frage bezüglich des Willensbegriffs Schopenhauers eindeutig negiert wird. Insgesamt ist dadurch eine weitere Klärung der ersten Alternativfrage, ob es im Willen zur Macht um „eine ,Art' Wille" gehe oder ob dieser mit dem Begriff „Wille" identisch sei, gegeben. Die zweite Möglichkeit ist aufgrund der entschiedenen Absage Nietzsches an den Willensbegriff auszuklammern. Kann aber daraus geschlossen werden, daß die erste, nämlich die Aussage bezüglich einer „Art" von Willen, bejaht ist? Den wichtigsten Anhaltspunkt für eine Beantwortung dieser Frage bietet das schon zitierte Postulat, „die Ausgestaltung Eines bestimmten Willens in viele Formen zu fassen", das Nietzsche kritisch dem herkömmlichen Willensbegriff entgegenstellt. Wenn es nun ein Wille ist, der durch seine Bestimmtheit, d. h. durch einen klar umrissenen Charakter definiert ist, dann ist es nicht unberechtigt, in einem solchen „bestimmten" Willen 41 Zur Bedeutung des Befehlens und Beherrschen-könnens im organischen Bereich vgl. VII 2,219: 26,272; in einer dem Denken Nietzsches konvenienten Weise beschreibt M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 1, 50, den Charakter des Wollens: „Wollen ist überhaupt nicht Wünschen, sondern Wollen ist: sich unter den eigenen Befehl Stellen, die Entschlossenheit des Sichbefehlens, die in sich schon Ausführung ist". Vgl. auch W. M Ü L L E R L A U T E R , Der Organismus als innerer Kampf, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), 209 f.
Der Macht-Charakter der Interpretation
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eine „Art" Wille, also einen Willen mit einer spezifischen Eigenstruktur zu erkennen. Der „Wille" im Sinn Nietzsches ist nicht Wille schlechthin, sondern in seiner Art festgelegt, in seinem Wollen bestimmt und befehlend. Die Bestimmtheit des Willens im „Willen zur Macht" hatte sich auch schon in der oben erwähnten Inhalts- und Zielgerichtetheit gezeigt; durch den befehlshaften Charakter wurde diese Ausgerichtetheit auf ein „Etwas" noch deutlicher hervorgehoben. Welcher Art nun dieser Wille konkret ist, das ist im Ausdruck „Wille zur Madht" ausgesagt: im Macht-Charakter ist seine eigentümliche Struktur zu erblicken; in ihr hat er seinen „Inhalt", sein „Woraufhin", sein Ziel, das „Etwas". auf das hin er tendiert. Mit diesem ersten Schritt der Analyse ist zwar der „Wille" näher präzisiert worden, doch in einem damit auch die Macht, insofern nämlich dieser Wille selbst sdion in einem gewissen Sinn jene Macht verkörpert, auf die hin er tendiert; Wille ist nämlich seinem innersten Charakter nach Macht-wollen.42 Es ist aber auch umgekehrt anzunehmen, daß der Wille seinerseits das Machtmäßige im „Willen zur Macht" wesenhaft prägt, daß dieses zuinnerst von einem willensmäßigen Grundzug durchdrungen ist. Die Analyse des Machtaspektes zeigt denn audi, daß die beiden Kennzeichen, die nun dargelegt werden sollen, audi als eine Art Wille aufgefaßt werden können, nämlich die Tendenz zur Steigerung und Machterweiterung einerseits, und die vereinfachende Organisation andererseits.
2. Steigerung und Machterweiterung a) Steigerung als Wesen der Macht Aus den zahlreichen und mannigfaltigen Äußerungen Nietzsches über den „Willen zur Macht" läßt sich als ein erstes durchgehendes Merkmal dessen Streben nach Ausweitung und Vergrößerung des jeweiligen Machtbereiches nennen. Darum ist der Wille zur Macht für Nietzsche ein Wille zum Mehr, zur Überwindung eines schon erreichten Stadiums. Denn in seiner Philosophie bemißt sich der Wert des Daseins „allein an dem Quantum gesteigerter und organistrter Macht, nach dem, was in allem Geschehen geschieht, ein Wille zum Mehr . . ( V I I I 2 , 2 8 2 : 11,83). Der die Universalität des Geschehens durchziehende Grundzug ist die Tendenz zur Steigerung. Er beherrscht die physikalische Welt ebenso wie die des Menschen. In der Physik ist nämlich der Begriff der „Kraft" durch jene innere Welt zu ergänzen, die Nietzsche als „Willen zur 42
Vgl. M. HEIDEGGER, aaO. 5 3 : „Der Ausdrude ,zur Macht' meint also nie einen Zusatz zum Willen, sondern bedeutet eine Verdeutlichung des Wesens des Willens selbst."
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Interpretieren, als ontologisches Geschehen
Macht" bezeichnet, „d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw." (VII3,287: 36,31). Es werden verschiedene Dimensionen der Macht genannt, doch ihnen allen ist ein „unersättliches Verlangen" eigen,43 eine Tendenz, die auf stets neues Überschreiten von Grenzen ausgerichtet ist. Wie in der Welt des Physikalischen so kommt es auch in den organischen Grundfunktionen auf die Erweiterung des Erreichten an, es geht in ihnen sowie im bewußten Leben vor allem um „Lebenssteigerung" (VIII2, 282: 11,83). 44 Die Aussagen Nietzsches, auf denen die bisher getroffene Bestimmung des Machtcharakters beruht, haben jedoch widersprüchliche Deutungen erfahren. So hat M. Heidegger in seinem Nietzsche-Werk diesen Grundcharakter der Steigerung im „Willen zur Macht" primär auf diesen selbst rückbezogen gedacht: „Jede Macht ist nur Macht, sofern sie und solange sie Mehr-Macht, d. h. Machtsteigerung ist. Macht kann sich nur in ihrem Wesen halten, indem sie die je erreichte Machtstufe, also je sich selbst übersteigt und überhöht, wir sagen: übermächtigt" ;45 er gelangt daher zu der Definition, daß Wille zur Macht heißt: „das Sich-ermäditigen der Macht zur eigenen Übermächtigung" 46 Gerade gegen diese Auslegung wendet sich Müller - Lauter, da nach ihr „der Wille zur Macht nicht auf andere Machtquanten, auf andere Willen zur Macht gerichtet (ist), sondern er sich in seiner Einzigkeit in sich selbst (entfaltet)". 47 Vom betont pluralistischen Ansatz Müller - Lauters ist der Einwand konsequent. Wenn nämlich festgehalten wird, daß dem Willen zur Macht die Tendenz zur Steigerung und Erweiterung eines Machtbereiches inhäriert, dann darf dies nicht in dem Sinn verstanden werden, als würde sich die Aktivität des Machtwollens immer und in jedem Fall in einer Überhöhung und Übersteigerung des schon Erreichten realisieren können. Der Wille zur Macht agiert auch noch dort, wo es zum Verfall der Macht, ja zur Ohnmacht kommt. Die Ohnmacht ist gewissermaßen die notwendige Kehrseite des Machtstrebens. Beide Tendenzen sind so zwar als Auswirkungen des einen Machtwillens zu verstehen, der sich aber aufgrund dieser Gegensätzlichkeit notwendigerweise plural ausgestalten, „fragmentarisieren" muß: „Beide Prozesse: den der Auflösung und den der Verdichtung als Birkungen des Willens zur Macht zu begreifen. Bis in seine kleinsten Fragmente hinein hat er den Willen, sich zu verdichten. Aber er wird gezwungen, um sich irgendwohin zu verdichten, an anderer Stelle sich zu verdünnen usw." (VII 3,440: 43,2). Wenn man denProzeß des „Verdichtens" als 43 Vgl. VIII 1,94: 2,76: „Ernährung nur eine Consequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht." 44 Vgl. auch VIII 2,279: 11,74: „— daß nicht Vermehrung des Bewußtseins das Ziel ist, sondern Steigerung der Macht (...)". 45 Vgl. M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 2, 36. 46 Ebd. 47 Vgl. W. MÜLLER-LAUTER, Nietzsche, 31.
Der Macht-Charakter der Interpretation
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Machtkonzentration versteht, und den des Verdünnens als Rückgang von Macht, dann wird deutlich, warum für Nietzsche Macht und Ohnmacht nur zwei Aspekte des einen Grundgeschehens sind, dessen Wesen Machtwollen ist. Die Fragmentarisierung, also die Pluralität, ermöglicht es, das Abnehmen und das Wachsen als gleichzeitig zu denken, da es sich jeweils in verschiedenen „Fragmenten" vollzieht, die jedoch ihrerseits nur das eine Geschehen konstituieren. Die Aussage, daß der Wille zur Macht wesenhaft Wille zur Steigerung ist, trifft daher zu, da ja bis in die kleinsten Fragmente hinein der Wille, „sich zu verdichten", d. h. zu steigern, vorherrscht. Der Rückgang der Macht in anderen Zentren ist nur die notwendige Kehrseite der generellen Aussage der Steigerung. Daher herrscht an dieser „anderen Stelle", an Stellen der Ohnmacht, noch immer der eine Wille zur Steigerung der Macht. b) Machtwollen im Ohnmächtigen (Universalität der Macht) Die alles durchdringende Absicht auf Steigerung der eigenen Macht tritt am anschaulichsten vor Augen, wenn man beachtet, wie auch gegensätzliche Phänomene von Nietzsche auf den einen Machtwillen zurückgeführt werden. Zugleich kann daran ersehen werden, daß es irreführend wäre, den einen oder anderen „Bestandteil" des Gesamtbegriffs im Sinn seiner herkömmlichen Bedeutimg zu sehen. Im Hinblick auf den Willensbegriff wurde dies von Nietzsche ausdrücklich betont.48 Ebensowenig wie der Begriff „Wille" im psychologischen Verständnis oder philosophisch im Sinn des Gegensatzes von Freiheit und Unfreiheit aufgefaßt werden darf, kann der Begriff „Macht" in seiner ontologischen Bedeutung von seinem Gegenteil, der Schwäche, her verstanden werden. Vielmehr versteht Nietzsche den Begriff der Macht als eine Überwindung des Gegensatzes von Macht und Schwäche. Der Machtwille bestimmt gerade auch den Schwachen, den Unterdrückten, den, der durch die Moral vor der Verzweiflung geschützt wird. Nietzsche ist der Überzeugung, „daß selbst in jenem ,Willen zur Moral' [sc. des Unterdrückten, J. F.] nur dieser ,Wille zur Macht' verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist"; aufgrund dieser Tatsache müßte der Unterdrückte einsehen, „daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe" (VIII 1,219: 5,71). Der Mächtige und der Ohnmächtige stehen, was ihr Bestimmtsein durch den Willen zur Macht betrifft, auf gleicher Ebene. Der Unterschied besteht — außer im Grad und Ausmaß der Macht — in der Tatsache, daß in der Schwäche der Wille zur Macht „verkappt" ist, daß er „versteckt" ist. Die Macht zeigt sich nicht offen, in ihrer eigenen Gestalt, sondern in einer verdeckten Weise. Doch « Vgl. dieses Kap., S . 9 5 f .
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Interpretieren als ontologisches Geschehen
audi die Schwächsten stellen Mächte dar. So kann Nietzsche auf die Frage, was der „Wille zur Macht seitens der moralischen Mächte" bedeute, die thesenhafte Antwort geben: „— drei Mächte sind hinter ihm versteckt·. 1) der Instinkt der Heerde gegen die Starken Unabhängigen 2) der Instinkt der Leidenden und Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen 3) der Instinkt der Mittelmäßigen gegen die Ausnahmen." (VIII 2 , 9 3 : 9,159) Die Schwachen üben ebenfalls eine Herrschaft aus, und zwar in der ihnen möglichen Art. In den Ohnmächtigen setzt sich der Wille zur Macht auf eine ihm eigene, nicht ohneweiters in seinem Machtcharakter erkennbare Gestalt durch. Dem beschriebenen Sachverhalt entsprechend vollzieht sich hinter den entgegengesetzten moralischen Auffassungen und Wertungen im Grunde dasselbe Geschehen: Alle die Triebe und Mächte, welche von der Moral g e l o b t werden, ergeben sich mir als essentiell g l e i c h mit den von ihr verleumdeten und abgelehnten ζ. B. Gerechtigkeit als Wille zur Macht, Wille zur Wahrheit als Mittel des Willens zur Macht (VIII1,311: 7,24).e •e Ui
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MATERIALER BASIS-SATZ: Sein ist Interpretieren Pluralität 3. Kap.
Macht I Perspektiv. 4. Kap. I T E I L II
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Subj.Objekt
Wahrheit
Vorgang. Zirkel
Basis: Auslegg.
9. Kap.
10. Kap
Literaturverzeidhnis Vorbemerkung
zum Verzeichnis
der benützten
Literatur
Zu I) Textausgaben·. Die Nachlaßbände der Kritischen Gesamtausgabe werden im einzelnen angeführt, um mühelos die chronologische Einordnung des zitierten Fragments zu ermöglichen. Frühere Ausgaben von Nietzsches Nadüaß sind nur aufgenommen, da sie zu Textvergleichen herangezogen wurden; zudem befinden sich darin die editions- und rezeptionsgeschichtlich wichtigen Vorworte und Nachworte, Vor- und Nachberichte der jeweiligen Herausgeber. Zu II) Bibliographien: Es wurden nur die umfassendsten bzw. neuesten bibliographischen Zusammenstellungen aufgenommen. Zu III) Sekundärliteratur und thematisch einschlägige Literatur·. Um den Umfang des Verzeichnisses einzuschränken, wurden nicht alle in den Anmerkungen angeführten Publikationen aufgenommen; einige wenige Titel aber wurden hier zusätzlich aufgrund ihrer allgemeinen Bedeutung für das Thema berücksichtigt. „Diss, phil." bedeutet, daß das Manuskript der betr. Dissertation benützt wurde.
I.
Textausgaben
NIETZSCHE, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff. (Zur näheren Zitationsweise der KGW vgl. Anm. 1 zum 1. Teil dieser Arbeit, S. 37). VII 1: Nachgelassene Fragmente. Juli 1882 bis Winter 1883/84, hrsg. 1977; VII 2: Nachgelassene Fragmente. Frühjahr bis Herbst 1884, hrsg. 1973; VII 3: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885, hrsg. 1974; VIII 1: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Herbst 1887, hrsg. 1974; VIII 2: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1887 bis März 1888, hrsg. 1970; VIII 3: Nachgelassene Fragmente. Anfang 1888 bis Januar 1889, hrsg. 1972. NIETZSCHE, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 14: Einführung, Siglenverzeichnis, Kommentar zu Band 1-13 (zitiert als: KSA 14). NIETZSCHE, Friedrich: Werke. Gesamtausgabe in Großoktav, 19 Bde., Leipzig 1894-1913 (zuerst bei C. G. Naumann, später A. Kröner); dieselbe Ausgabe bis Bd. XVI audi in Kleinoktav: 2. Abteiig.: Nachgelassene Werke: Bd. XII: Unveröffentlichtes aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft und des Zarathustra (1881-1886), hrsg. 1901; Bde. XIII und XIV: Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit (1882/83-1888), hrsg. 1901 bzw. 1904; Bd. XV: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. (Studien und Fragmente), hrsg. 1901. Bde. XV und XVI: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe, hrsg. 1911 ( = erweiterte, „kanonische" Ausgabe, anstelle von Bd. XV [1901], besorgt von O. Weiss, nunmehr im Kröner-Verlag).
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II.
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und thematisch
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15638
Engelke, K. 8832, 11764 Fach, W. 762, 798, 11764, 12911 Fabri.A. 1862 Feuerbach, L. 1244 Fichte, J . G . 1244 Figl,J.
Fink, E.
48, 1132, 30103
5 f., 1235, 774, 78, 82»
Fleischer, M. 1129 Förster-Nietzsche, E. 14-17, 25, 60, 6149 Foucault, M. 8 Frege, G. 16243, 175, 17668 Freud, S. 16347, 1889 Friedrich, H. 1965 Funke, M. 925 Gabriel, L. 15536 Gadamer, H.-G. 2-4, 11, 29-31, 37, 41, 44, 1834, 1845, 1889, 192, 2082 Gast, P. 14-16, 60 Gebhard, W. 8832 Gethmann, C. F. 43 f. Giesz, L. 798 Gludcsmann, A. 824 GranierJ. 925, 79s Greiner, B. 1863 Grimm, R.H. 763, 87, 9240, 10556, 11461, 1811, 20332 Guardini, R. 8525 Habermas, J. 4, 12, 29·οο 41, 139 Haller, R. 17460, 17561, 17668,69 Häntzschel-Schlotke, H. 1862, 2175, 24, 26& Haeuptner, G. 1129 Heftrich, E. 616, 1344 Hegel, G.F.W. 60 Heidegger, M. 5 f., 11, 14, 29, 31, 37, 41-44, 58, 65 f., 76, 78 f.5, 798, 80, 83 f., 9641, 9742, 98, 10050, 121, 15536, 1845 Heintel, E. 8730,32 Heller, P. 1238, 182, 2094 Hennigfeld, J. 8935, 1867 Henrichs, N. 5 Hermand, J. 10 Hildebrandt, K. 87 f .32 Höft, A. 1862 Howald, E. 1241 Hülsmann, H. 17457 Hofmiller, J. 20 Howey, R. L. 1964 Ijsseling, S. 824 Janz, C. P. 4837
220
Personenregister
Jaspers, Κ. 5 f., 6667, 135 Kamerbeek, J. 48 Kamlah, W. 30 Kant, I. 248t, 113 Kaulbach, F. 8832 Kern, W. 129» Kierkegaard, S. 5® Kofman, S. 82t, 1235, 20 Köster, P. 19" Krüger, H. 18«, 21 Kunne-Ibsch, E. 1028 Künzli, R. E. 82t, 1235, 2072 Kutzner, H. 9139, 10556 Ledure, Y. 722 Leibniz, G. W. 87 f., 153, 174 Leist, F. 616, 10052 Linke, P. F. 19321 Lipps, H. 15536 LodceJ. 174, 17561 Lötz, J. B. 762 Löwith, K. 6, 13t3, 155t, 2066, 4536 Mader, J. 124t, 15229, 16651 Margreiter, R. 26" Marx, K. 82t, 124t, 188' Matthiae, M. 3t, 925, 17255 Mauer, W. 4« Mautner, F. H. 1862,63 Meier, G. F. 174 f. Mennemeier, F. N. 2066 Mette, Η J . 14« Misch, G. 4« Mjttasdi, A. 8833 Möller, J. 616 Montinari, M. 10, 15, 20, 22, 24, 27, 32, 37, 39, 44 f., 50, 57t3, 58«, 59t6, 60t7, 61, 6252, 63, 6457, 13719 15536 Morris, Ch. 176 Müller-Lauter, W. 13tt, 14t6, 83 f., 8525, 87, 8832, 8935, 96ti, 98, 10556, 10757, 20332, 2081, 209t Pannwitz, R. 13« Pascal, B. 59 Pautrat, P. 82t, 20 Peirce, Ch. S. 17457, 176 Piaton 153 Podach, E. 38, 64 Pöggeler, O. 11, 29 Pöschl, V. 12« Puntel, L. B. 1811
Reichert, H. W. 512.13 Reinhardt, K. 3t Rey,J.-M. 824, 20 Ricoeur, P. 3, 30 Ritsehl, Fr. W. 4 Rodingen, H. 8832 Rohrmoser, G. 616, 60t» Roos, R. 196t Salaquarda, J. 6562, 893t Salin, E. 1555 Schacht, R. 1867 Schipperges, Η. 1244 Schiwy, G. 82t Schlechte, K. 4», 512, 13, 15, 20, 2379, 39, 65, 1867 Schlegel, F. 2066 Schleiermacher, F. D. E. 48 Schmid,t,A. 24, 77t Schmidt, F. 4« Schopenhauer, A. 53, 95 f., 1 6 3 t 7 Schulz, W. 4,1129,2997 Seboek, Th. A. 17460, 17561, 17669,70 Seigfried, Ch. H. 721,823, 10355 Simon, J. 1235 Simone, R. 17458 Sonderegger, S. 1867 Steiff, U. 13516,17, 13820 Stichweh, K. 619 Stuiber, A. 17458 Szondi, P. 17456,59,17561,62 Ter-Nedden, G. 1129 Trönle, L. 14725 Ulmer, K. 1133, 13, 2379, 24«, 6563, 2095 Vattimo, G. 82t, 798 Volpi, F. 1878 VriesJ.de 15331 WachJ. 4, 1129 Walther, E. 17457 Weischedel, W. 8525 Weiss, O. 1552 Willwoll, A. 15331 Wolff, Chr. 174 Windelband, W. 48 Wittgenstein, L. 1878 Wucherer-Huldenfeld, Α. K. 2117 Wuchterl, K. 187« Würzbach, F. 2068
8525, 163«,
Sachregister Adäquationstheorie 76, 181, 185 Affekte 134 f., 137, 139, 142, 148, 163 f. Anorganisdies 46, 107 f., 112, 154 Anthropologie 29, 124-132 Der Antichrist 64 Aphorismus-Interpretation 7, 18, 20 f. Assimilation 144 f., 148-151, 154 ff. Atheismus 52-54, 56 Bedeutung 161, 163, 167 f., 175 f. Begriff 151-154 Bewußtsein 133 f., 142-146, 159 f., 162, 168
Bewußtseinskritik 77, 110, 125-127, 132134, 140-142, 161, 164, 187 f. Bild 152 f. Ding an sich 114 Eindeutigkeit 159-161, 163 Einheitlichkeit (des Nachlasses) 22 f., 67 Emotionalität 153 Erklärung 47-49, 171 Erkenntnis 50 f., 75-77, 139, 166, 172, 176 Erkenntnisskeptizismus 167, 173-176, 189 Erkenntnistheorie 76, 139, 164, 171, 182186 Erlebnis 168-170 Erscheinung 114-116 Existenzbedingungen 134-136 Existenzial 121 Falschheit 151, 190, 192-201, Fiktion 142, 144-146, 158, 164, 167 Fragment-Interpretation 24-27 Fragmentarität (des Nachlasses) 17-23 Die fröhliche Wissenschaft 12 Die Geburt der Tragödie 194 Gedanke 159, 162-164 Gegensatzphilosophie 83, 8525 Gegensätzlichkeit ontologisch 86, 91-93, 110 anthropologisch 130, 135 f., 139 Zur Genealogie der Moral 7, 12, 2688 Geschichtlichkeit 153
Glauben an den Glauben 145 an die Grammatik 166, 187 Gleichsetzen 144 f., 149-151, 154, 156 Gott 52 f., 58« täuschender „Gott" 54 f., 188 f. Göttliches 54, 195 f. Götzendämmerung 64 f. Hermeneutik traditionelle 174 f. des 19. Jahrhunderts 4 des 20. Jahrhunderts 2 f., 29-31, 41-43, 121, 192 Hermeneutikbegriff 28-31, 37, 41-44 Identität, logische 149-151 Imagination 182 f. Individuum ontologisch 106 anthropologisch 130 Interpretativität 115-117 Jenseits
von Gut und Böse
47 f.
Kausalität 164«, 182-184 Korrespondenztheorie 181 Leben 45 f., 78, 102, 107-109 Leib 124-127, 131-134, 140-142 Logik 148-156, 159, 162, 167 hermeneutische Logik 15536 Lüge 194 f. Machtbegriff 94-102, 105 f. Machtquanten (-Zentren) 85-93, 130 „Atome' 88 f., 106, 111, 130 Menschliches, Allzumenschliches 12, 156", 182 Metaphysikkritik 83 f., 106 Methodologie historische 11, 30 naturwissenschaftliche 49 f., 8833 Mitteilung 158, 172 Monaden 86-90 Monadologie 86-88 Moral 52 f., 54, 56, 5845, 59.62, 99 f., 126 f., 162, 167, 193, 198
222
Sachregister Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn 12 Umwertung 62-64 Umwertung aller Werte 64-67 Unbewußtes 135, 183, 204 Universalität der Falschheit 193-200 der Interpretation 74, 208-210 Universalitätsanspruch (der Hermeneutik) 29-31, 41, 47 Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit 14 Urteil, logisches 149 f.
Naturbeherrschung 165, 170 f. Naturgesetze 46 Nichts 74 f. Nihilismus 54 f., 60-63, 124, 195 f. Objekt 71 f., 111, 116, 148, 179-181 Ontologie 29, 42-44, 45, 54, 73-93 Organisches 102, 107-109, 154 Person 147 f. Perspektivismus ontologisch 105-115 anthropologisch 137 f. Phänomenologie 42 f. Pluralität ontologisch 73, 81-85, 109 f. anthropologisch 124-141 Projektion 77, 182 f. Realität
111-113
Schein 63, 74 f., 112-114 Sdieinbarkeit 114, 155 f. Schemata 148, 155 f., 173, 186 Schriftlichkeit 30 Sein 37, 71, 73-82, 89 Seinsbegriff 74-81 Seinskritik 74-76 Selbstbewußtsein 146 Selbstauslegung (des Menschen) 143-148 Selbstauslegung (Nietzsches) 6 f. Selektion 140, 142 f., 159 Semantik 162-164, 167-169, 175 Semiotik 158-177 Sinn 165, 175 f. Sinneseindruck 151-153 Sprache 41 f., 162, 165 f., 187 Sprachkritik 182, 186-188 Subjekt (der Interpretation) ontologisch 71-73, 81 f., 90-92, 112, 115-117 anthropologisch 127 f., 130 f., 143 f., 146, 188 f. Subjekt-Objekt-Verhältnis 181-191, 202 Sublimierung 137 f. Symptom 137, 161 f., 170, 173 Symptomatologie 170 Systematik (des Denkens Nietzsches) 24 Täuschung (als Grundgeschehen) 188-190, 196 f., 203, 200 Titelproblematik 38-40, 44, 64-67 Traumerleben 182 Triebe 134-139, 151, 162-164
54-56,
Vereinfachung 101 f., 139-143, 146, 148151, 158, 171, 198 Verständigung 165, 168 f. Vieldeutigkeit 159, 164 Vieleinheit, anthropologische 127-131, 135 f., 138, 140 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben 10 f. Vorbewußtes 126-128, 133-135, 140-144, 150, 156, 160 f., 164 f., 168, 183, 204 Vorverständnis 183 f. Wahrheit 63, 137, 166, 172, 175, 181, 192-204 Wahrheitsbegriff, utilitaristischer 185 f., 201 f. Welt l l l f . „wahre" Welt 112-114, 193 f. Weltauslegung mechanistische 49 moralische 52 f., 61 f., 137 religiöse 53, 138 wissenschaftliche 138 Werden 73 f., 78-81 Wesen (des Seins) 80 f., 106, 115 f., 172 Wiederkunftslehre 7 " , 65, 785, loo f. Willensbegriff 95-97 Wille zur Macht 6, 13, 32, 37, 55 f., 59, 67, 71 f., 78, 80, 83-86, 92 f , 94-102, 105 f., 108, 138, 155, 171 f., 202-204, 210 Der Wille zur Macht 8, 10, 13, 15, 32, 37-40, 44, 57 f., 60-66, 109, 116, 137, 148, 155 Hauptwerk-Idee 15, 20, 22, 65 Wissenschaft 165, 170-172 Wort 151-153, 166-168 Zeichen 158 f., 164-171 Zeichenschrift 158, 162, 167
Sachregister Zeichensprache 158 f., 162, 165, 171-173 Zarathustra 10, 12, 15, 44
Zeitlichkeit 79, 130 f. Zirkel, hermeneutisdier 183 f.
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MONOGRAPHIEN UND T E X T E ZUR NIETZSCHE-FORSCHUNG Hrsg. v. M. Montinari, W. Müller-Lauter u. H. Wenzel Peter Heller
Von den ersten und letzten Dingen Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche Groß-Oktav. X I I I , 512 Seiten. 1972. Ganzleinen DM 116,— (Band 1) Einführung in Nietzsches Denkweise anhand eingehender Analyse und Interpretation des l.'Hatiptstückes von Menschliches Allzumenschliches (Band I). Uber den Kommentar hinausgehende Einzelstudien stellen die skeptische Phase Nietzsches im Gesamtzusammenhang seines Werkes dar. Heinz Röttges
Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung Untersuchungen zum Problem einer humanistischen E t h i k Groß-Oktav. V I I I , 296 Seiten. 1972. Ganzleinen DM 103,— (Band 2) Interpretation von Nietzsches Schriften (insbesondere die der mittleren Periode) auf die Nihilismusproblematik hin. Begriffliche Erhellung des Zusammenhangs von Nietzsdies Denkund Darstellungsduktus mit seiner Stellung zur traditionellen Philosophie, insbesondere zur Metaphysik und Theodizee. Richard Frank Krümmel
Nietzsche und der deutsche Geist Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen W e r k e s im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen Ein Sdirifttumsverzeichnis der Jahre 1 8 6 7 — 1 9 0 0 Groß-Oktav. X X , 290 Seiten. 1974. Ganzleinen DM 118,— (Band 3) Deskriptive Bibliographie der Werke von Nietzsche bzw. nietzschescher Einflüsse auf: I. Andreas-Salome, H. Bahr, K. Breysig, M. Brod, M. Buber, M. G. Conrad, H. Conradi, R. Dehmel, Th. Fontane, S. Freud, Th. Fritsch, S. George, F. Gött, G. Hauptmann, P. Heyse, K. Hillebrand, H. v. Hofmannsthal, R. Huch, F. Kafka, G. Keller, K. Kraus, D. v. Liliencron, Th. Mann, C. F. Meyer, Chr. Morgenstern, R. Musil, F. C. Overbeck u. a. Preisänderungen vorbehalten
Walter de Gruyter
w DE
Berlin · New York
M O N O G R A P H I E N UND T E X T E ZUR NIETZSCHE-FORSCHUNG Hrsg. v. M. Montinari, W. Müller-Lauter u. H. Wenzel
Ruediger Hermann Grimm
Nietzsche's Theory of Knowledge Large-octavo. XIV, 206 pages. 1977. Cloth DM 78— (Volume 4) The author proves that Nietzsche's theory of knowledge is of the highest stringeney and, in its radical frankness, at hte same time questions and overcomes the conventional theory of knowledge.
Frederick R. Love
Nietzsche' Saint Peter The Genesis and Cultivation of an Illusion Large-octavo. XVI, 296 pages. 1981. Cloth DM 88,— (Volume 5) Nietzsche's vain search for a Wagner surrogate, focussed in the study of the relationship to his editorial helper (and later editor), the composer Peter Gast. The outlines of Nietzsche's emerging, post-romantic music aesthetic. Appendices assess Gast's „influence" on N's work, the place of his major opera in music history.
Freny Mistry
Nietzsche and Buddhism Prolegomenon to a Comparative Study Large-octavo. X, 211 pages. 1981. Cloth DM 82,— ISBN 3 11 008305 1 (Volume 6) From the contents The overcoming of metaphysics and nihilism — The analysis of personality and universe — The experiment with truth and reason — On suffering — The ethics of the Eternal Recurrence — The transformation of suffering and nirvana.
Preisänderungen vorbehalten
Walter de Gruyter
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G
Berlin · New York