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German Pages 266 [268] Year 1998
Erwin Schlimgen Nietzsches Theorie des Bewußtseins
1749
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1999
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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari • Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) · Jörg Salaquarda (Wien) Josef Simon (Bonn)
Band 41
1999 Walter de Gruyter · Berlin • New York
Nietzsches Theorie des Bewußtseins
Erwin Schlimgen
W G DE
1999 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. T E L 12/1 Ernst-Reuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Redaktion Johannes Neininger, Aschaffenburger Str. 20, D-10779 Berlin
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Hinheitsaufnahme
Schlimgen, Erwin: Nietzsches Theorie des Bewußtseins / von Erwin Schlimgen. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 41) Zugl.: Jena, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-11-016066-8
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter G m b H & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Meinen Eltern Maria und Wilhelm (t) Schlimgen gewidmet
„Conceptio autem, qua mens se ipsam concipit, est verbum a mente genitum, scilicet sui ipsius cognitio." (Nikolaus Cusanus, Compendium, Cap. ΥΠ, 20)
„(...) idea ideae nihil aliud est, quam forma ideae, quatenus haec, ut modus cogitandi, absque relatione ad objectum consideratili; simulac enim quis aliquid seit, eo ipso seit, se id scire, & simul seit, se scire, quod seit, & sic in infinitum." (Benedictus De Spinoza, Ethica Π, Schol. XXI)
„Die neben den materiellen Vorgängen im Gehim einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren (...) für unseren Verstand des zureichenden Grundes. (...) Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoffatomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen (...). Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewußtsein entstehen könne." (Emil Du Bois-Reymond, Über die Grenzen der Naturerkenntnis)
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung der im Sommersemester 1997 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-SchillerUniversität zu Jena angenommenen Dissertation.- Die Atmosphäre und der unvergleichliche Charme der altehrwürdigen Universitätsstadt Jena werden mir immer als beglückende Erinnerungen im Gedächtnis bleiben. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Wolfram Hogrebe, der die vorliegende Arbeit an der Universität Jena auf eine sehr souveräne Weise in Gesprächen, Telefonaten und Briefen fachlich betreut und sehr menschlich begleitet hat. Ich danke auch für die unkonventionelle Art der Betreuung, die stete Gesprächsbereitschaft und für die vielen aufbauenden Ermutigungen. An dieser Stelle möchte ich auch meinem Lehrer Herrn Prof. Dr. Josef Simon (Bonn) ganz herzlich Dank sagen; die Dissertation trägt eindeutig seine Handschrift und hätte sich ohne seinen wegweisenden sprach- und zeichenphilosophischen Neuansatz in der Nietzsche-Forschung mit einem wesentlich bescheideneren Niveau zufrieden geben müssen. Herrn Prof. Dr. Klaus-M. Kodalle (Jena) danke ich ganz herzlich für seine wichtigen Anmerkungen zu meiner Arbeit und für die weiterführenden Anregungen.- Besonderer Dank gebührt auch den Herausgebern der Reihe Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herrn Prof. Dr. Günter Abel (Berlin), Herrn Prof. Dr. Jörg Salaquarda (Wien) und Herrn Prof. Dr. Josef Simon (Bonn) sowie dem Verlag Walter de Gruyter für die Aufnahme meiner Dissertation in diese Reihe. Hier ist besonders Günter Abel hervorzuheben, der die Aufnahme in die Reihe MTNF initiiert hat und mir in dieser Angelegenheit beratend zur Seite gestanden hat. Mein besonderer Dank gilt Frau Dr. Gerda Eiben (f) und Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Johannes Eiben (Bonn), die mir in unvergleichlicher Weise geistige und berufliche Unterstützung haben zukommen lassen und deren Wohlwollen, menschliche Anteilnahme und Fürsorge mich stets begleitet haben. Herzlichen Dank für alles! Ich danke meiner Schwägerin Margarete Schlimgen und meinem Bruder Walter Schlimgen, die mir zur Seite gestanden haben, als das ganze Promotionsprojekt aufgrund des Todes meines Vaters, der bedauerlicherweise nur noch die Fertigstellung der Arbeit miterleben durfte, in seiner Endphase noch zu scheitern drohte. Für ihre unschätzbare Hilfe bei der Textkorrektur und für ihre freundschaftliche Anteilnahme und Ermutigungen danke ich Frau Marita Mechtilde Theneé
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Vorwort
Μ.Α.- Für die stete Gesprächsbereitschaft, die große Anteilnahme und für zahlreiche Hilfen am Computer danke ich Herrn Dipl. Theol. Holger Foltz (Bonn). Bonn, im April 1998
Erwin Schlimgen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Inhaltsverzeichnis 0 Einleitung 1 Der philosophische Bewußtseinsbegriff. §1 Begriffsexplikation §2 Historischer Abriß des philosophischen Bewußtseinsbegriffs §3 Abgrenzung vom psychologischen Bewußtseinsbegriff. §4 Der philosophische Bewußtseinsbegriff aus epistemischer Sicht. Skizzierung des gegenwärtigen Reflexionsstands. II Nietzsches Kritik am traditionellen Bewußtseinsbegriff. §5 Descartes §6 Leibniz §7 Kant III Das Subjekt als metaphysisches Postulat §8 Das „ Ich " als Substanz und Ursache §9 Das organologische Modell als Versuch der Subjektüberwindung §10 Die oligarchische Struktur des Subjekts. §11 Der Phänomenalismus der „inneren Welt" §11.1 Nervenreiz. Kausalitätsschluß. Metaphorisierungsprozeß
Inhaltsverzeichnis
XII §11.2 Das Gedächtnis
76
§11.3 Das Zeitbewußtsein
80
IV Das intentionale Bewußtsein
88
§12 Die Konstitution der Außenwelt
88
§13 Das Problem der Referenz
94
§14 Der metaphorische Ursprung der Sprache
100
V Das Bewußtsein
und die epistemischen Leistungen
des
Subjekts
107
§15 Das Denken (Noesis)
107
§16 Nietzsches Kritik am philosophischen Erkenntnisbegriff.
112
§16.1 Das Erkennen
112
§16.2 Der Begriff
116
§16.3 Das Urteil
122
§17 Das Bewußtsein und die Grundlagen und Funktionen der Logik
126
§18 Das Selbstbewußtsein. Nietzsche über die Möglichkeit der Selbsterkenntnis
134
VI Das Verhältnis von Bewußtsein
und Sprache
139
§19 Kommunikabilität und Existenzsicherung
139
§20 Nietzsches Grammatik-Interpretation
147
§21 Die apophantische Satzstruktur und das Problem der Wahrheit
153
§22 Nietzsches Metakritik der philosophischen Grundbegriffe
160
VII Das Leib-Seele-Problem. aktuellen Thema
Nietzsches
Beitrag 2x1 einem 165
§23 Das Leib-Seele-Problem. Ein Paradigma einer unbewältigten Sprachmetaphysik
165
§24 Das Gehirn-Bewußtsein-Problem
174
§25 'Der Geist in der Maschine '. Die Vollendung der Anthropomorphisierung. Nietzsches Position und die KI-These
179
Inhaltsverzeichnis
VIII Die hypnagogische Existenz des Menschen
XIII
184
§26 Nietzsches Begriff des Unbewußten
184
§27 Der Ursprung der Kunst
190
§28 „Auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend". Die Grundlosigkeit der Welt oder das kosmische Bewußtsein
196
IX Nietzsches Forderung nach einem „neuen" Bewußtsein
203
§29 Das starke Selbstbewußtsein. „Dionysos gegen den Gekreuzigten "
203
§30 Erkenntnismodus und Zeitlichkeit. Der inspirierte und intuitive Bewußtseinszustand
212
§31 Der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen im Lichte des „ neuen " Bewußtseins
218
Siglen
225
Literaturverzeichnis
226
Personenregister
238
Sachregister
241
0 Einleitung Nietzsches gegenwärtige Aktualität verbindet sich unter anderem mit neueren philosophischen Ansätzen wie der Philosophie des Zeichens (J. Simon, T. Borsche, W. Stegmeier u.a.) oder des Interpretationismus (G. Abel, J. Figi u.a.), Philosophien, die sich systematisch aus der neueren Nietzsche-Interpretation herleiten, und die den sprachphilosophischen Impuls, der von dieser Interpretation ausgeht, in den Vordergrund stellen. Nietzsches Bewußtseinsbegriff wird dabei auch immer mitreflektiert, ohne ihm jedoch eine hervorgehobene monographische Stellung einzuräumen.- Hier nun, in der vorliegenden Arbeit, tritt der philosophische Bewußtseinsbegriff (cf. Kap. I, §1-4) als ein problematischer und facettenreicher Begriff in den Vordergrund. Nietzsches kritische philosophiegeschichtliche Auseinandersetzung mit dem traditionellen Bewußtseinsbegriff fokussiert sich auf Autoren (Descartes, Leibniz, Kant; cf. Kap.II), die dem Begriff ihren neuzeitlichen Stellenwert in der theoretischen Philosophie zugewiesen haben. Nietzsches Bewußtseinsbegriff muß auf dem kritischen Hintergrund der abendländischen Subjekt- (ego-, Ich-) Philosophie gelesen werden (cf. Kap. III); die Begriffe Substanz, Ursache (cf. §8) stellen die kritische Grundlage, die das Subjekt nach Nietzsche als bloßes metaphysisches Postulat ausweisen. Nietzsches Alternatiworstellung zum Substanz-/Ursache-Subjekt der abendländischen Tradition spiegelt sich in seinen Versuchen, das Subjektmodell zugunsten eines organologischen Modells (§9) mit oligarchischer Struktur (§ 10) zu überwinden. Die Innenperspektive dieses multiplen 'Subjekts' beschreibt Nietzsche als „Phänomenalismus der inneren Welt" (cf. §11), dessen Strukturmomente Nervenreiz, Kausalitätsschluß, Metaphorisierungsprozeß (cf. § 11.1) sowie die der Instanz und Funktion des Gedächtnisses (cf. §11.2) und der Entstehung der Zeit (cf. §11.3) im Bewußtsein aufzufinden sind. Im VI. Kapitel geht es um die Intentionali tat, die möglichen Inhalte eines Bewußtseins; die Frage, ob unabhängig von unserem Bewußtsein eine (reale) Außenwelt existiert (cf. §12) und das mit dieser Frage verbundene Referenzproblem (cf. §13) lassen sich nach Nietzsche nur auf dem Hintergrund der metaphorischen Sprachursprungstheorie (cf. §14) beantworten: alles, was überhaupt in einem Bewußtsein ist, ist dies nur aufgrund einer rein schöpferischen (metaphorischen) Produktion von Zeichen·, von einer transbewußten (= zeichenunabhängigen) Außenwelt zu sprechen, basiert nach Nietzsche auf einem fiktiven Schluß. Die Bewußtseinsinhalte können auch nach dem Grad ihrer Deutlichkeit bzw. ihrer Helligkeit charakterisiert werden. Der Aufbau des V. Kapitels folgt dieser
2
Einleitung
Differenzierung, daß sich vom bloßen Denken als Aktgeschehen (cf. §15) über das Erkennen (cf. §16.1), das Begreifen (cf. §16.2), das Urteilen (cf. §16.3) bis hin zu den luziden logischen Operationen (cf. §17) gleichsam immer mehr aufhellt/-klärt, so daß wir eben zuletzt in der Logik unseren hellsten, klarsten und evidentesten Bewußtseinszuständen begegnen. Die Begriffe Denken, Erkennen, Begreifen und Urteilen sind systematisch eng mit der Bewußtseinsthematik verbunden: die Operationen in einem Bewußtsein sind ohne sie funktional nicht zu erfassen. Nietzsche vertritt die Ansicht, daß wir zu den Inhalten und Funktionsweisen unseres je eigenen Bewußtseins keinen privilegierten Zugang haben; die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs (cf. Kap. I, §4) ist fur ihn eine Absurdität, denn alles, was uns überhaupt bewußt werden kann, verdankt sich einer (zeichenhaften, kausalen, syntaktischen) Vermittlung. Sprachentwicklung, Bewußtseinsentwicklung und Kommunikabilitätsausbildung und die damit avisierte Existenzsicherung (cf. §19) stehen genauso wie der Glaube an eine objektive Wahrheit (cf. §21) unter dem Diktum einer (unbewußten) nach Machterweiterung strebenden höheren Organisation; Gesellschaften, Staaten usw. sind solche machtsteigernden Organismen, für die Kommunikabilität nur die funktionale Grundlage stellt.- Um die Zweckverflochtenheit von Bewußtsein und Sprache richtig verstehen zu können, muß man sich Nietzsches Grammatikbegriff (cf. §20) zuwenden und das Verhältnis von Syntax (diejenige Struktur, die letztlich bewußtseinskonstitutiv ist) und Semantik (in der sich die ältere Seelenverfassung ausdrückt) beleuchten. Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, hat man seine metakritischen Äußerungen, die besonders die philosophischen Grundbegriffe und speziell den Bewußtseinsbegrijf betreffen, zu berücksichtigen. Danach gibt es für Nietzsche kein Bewußtsein, auf das man wie auf etwas, dem irgendeine Art von Realität zukommt, referieren könnte; der Bewußtseins6eg/7#" (der philosophische wie auch der psychologische) ist lediglich eine (fiktionale) Hilfshypothese, die andere theoretische Begriffe erklären hilft. Die vorliegende Arbeit legt Wert darauf, daß Nietzsche auch auf der Basis des heutigen philosophischen Reflexionsstandes begriffen wird. Aufschlußreich für eine kritische Aktualisierung ist eine Einbindung Nietzsches in die gegenwärtig heftig geführte Diskussion der Leib-Seele-Problematik (cf. Kap. VII). Bei Nietzsche läßt sich nicht nur nachlesen, daß diese Debatte auf einer unbewältigten Sprachmetaphysik (cf. §23) fußt, sondern auch die tiefere Einsicht finden, daß, wenn überhaupt gedacht, erkannt, begriffen werden soll, dies immer nur in einem sprachlichen Zwange, in dem unablegbaren indoeuropäischen Satzschema vollzogen werden kann, und daß eben dieses Schema den Leib-Seele-/KörperSeele-Dualismus unumgänglich mitproduziert. Da das indoeuropäische Satzschema, in dem wir denken müssen (cf. §20), nicht abgelegt werden kann, auch wenn es schon als begrenzendes Schema reflektiert ist, wird klar, daß das LeibSeele-Problein und die in dieser Problematik involvierte Metaphysik (cf. §22) entgegen den Ansichten heutiger Philosophen - unüberwindbar ist. Das LeibSeele-Problem ist in allen seinen Spielarten sui generis ein Problem des menschlichen Bewußtseins selbst.
Einleitung
3
Der Begriff des Unbewußten (cf. Kap. VIII) ist für Nietzsche kein nonischer Begriff, der sich aus dem Bewußtseinsbegriff ableiten ließe. Das Unbewußte hat bei ihm, hierin an die Frühromantik anknüpfend (cf. §26), eine fundamentalere Bedeutung als das Bewußtsein; es stellt die eigentliche Grundlage unserer (rationalen) Kultur, die auf ästhetischen (cf. §27), sprachgenerierenden Fundamenten ruht. Der seit Descartes anhaltenden Hypostasierung des Bewußtseins und seinen hellen epistemischen und logischen Funktionen setzt Nietzsche die abgründigere, tiefere, umfassendere hypnagogische Existenzweise des Menschen entgegen: selbst bei wachem Bewußtsein hängen wir gleichsam wie „auf dem Rücken eines Tigers" traumverloren. Die Symbolik des Tigers ist ambivalent; sie steht für das Gnadenlose, das Mörderische, das wir als Mensch auch je selbst sind, und es steht für ein dem Intellektualbewußtsein transzendentes kosmisches Bewußtsein (cf. §28), auf das hin unser Normalbewußtsein überwunden werden soll. Im Titel der Albeit ist von einer Theorie des Bewußtseins die Rede und nicht bloß von einem Bewußtseins0egn#j obgleich sich die relevanten Aussagen zum Bewußtseinsbegriff im philosophischen Gesamtwerk in Form von Aphorismen, Fragmenten, Nachlaßaufzeichnungen und Nachlaßskizzen verstreut finden. Wir sprechen dennoch von einer Theorie, weil die inhaltlichen Merkmale des Bewußtseinsbegriffs sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - völlig kohärent durchhalten. Diese Kohärenz geht auch dann nicht verloren, wenn der Bewußtseinsbegriff in das Geflecht der ihm korrespondierenden Begriffe (Substanz, Ursache; Subjekt, Ich; Sprache, Zeichen; Kommunikation, Gesellschaft, Staat; Organismus u.a.) verwoben ist; er hat innerhalb der theoretischen Begriffshierarchie seinen Stellenwert und seine für andere Begriffe explikative und stützende (systematische) Funktion. Die Entscheidung jedoch, von einer Theorie des Bewußtseins bei Nietzsche zu sprechen, verdankt sich letztlich dem Befund, daß der Bewußtseinsbegriff Nietzsches sogenannte 'große Gedanken', wie den Nihilismus, den Tod Gottes, den Willen zur Macht, den Übermenschen (cf. bes. Kap. IX, §29) und den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen (cf. §31) interpretieren hilft. Man kann Nietzsches Zarathustra und die Spätschriften (bes. aber Der Antichrist) auf dem Hintergrund der Bewußtseinstheorie lesen. Anhand des hier erarbeiteten Bewußtseinsbegriffs lassen sich die Hauptgedanken des Autors gewissermaßen einordnen; es wird deutlich, welche Funktionen ihnen über ihre bloße theoretische Implikationen hinaus zukommen sollen, nämlich die Rolle von bewußtseinsverändernden Anweisungsregeln, die helfen sollen, das Normalbewußtsein, vom Normalbewußtsein ausgehend, zu transzendieren. Es wir gezeigt, daß die Herkunft des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen sich selbst einer extremen Bewußtseinslage (cf. §30) des Autors verdankt. Die Überwindung des Menschen erfordert ein neues Bewußtsein, das sich auf dem Hintergrund der Bewußtseinstheorie nur spekulativ erahnen läßt; es ist mit dem herkömmlichen Begriffsapparat der abendländischen Philosophie nicht mehr zu erfassen. Nicht nur Nietzsches Philosophie ist gegenwärtig von hoher Aktualität, auch der Bewußtseinsbegriff hat Konjunktur: Neurowissenschaftler, Gehirnforscher, Physiologen, Biologen, Psychologen, aber auch Mathematiker und Physiker wol-
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Einleitung
len die Herkunft, den 'Sitz', die Funktionsweise und den Zweck des Bewußtseins aus ihren jeweiligen Fachdisziplinen heraus erklären. Verfolgt man die gegenwärtigen Publikationen über die Bewußtseinsthematik, dann gewinnt man den Eindruck es fände eine Art 'Wettlauf statt, wer als erster dem Bewußtsein 'auf die Spur' komme. Der Aufwand an Phantasie, der dabei - auch von seilen der Naturwissenschaften - getrieben wird, ist enorm und muß den an Kant und Nietzsche geschulten Philosophen befremden. Dennoch gibt es mittlerweile fachübergreifende Impulse aus den Naturwissenschaften, die von der Gegenwartsphilosophie mit Gewinn aufgegriffen werden und mit den Methoden der Philosophie in ihren historischen Diskurs eingebunden werden.1 Nietzsches Bewußtseinstheorie mit ihren metatheoretischen Überlegungen immunisiert vor naiven ontologisierenden Hypostasierungen, wie sie sich häufig in modernen Bewußtseinstheorieen auffinden lassen.- Die Aktualität Nietzsches für die gegenwärtige auf breite Basis gestellte Bewußtseins-Diskussion verdankt sich nicht zuletzt der großen Aspektvielfalt, die seine Bewußtseinstheorie aufweist: neben den rein philosophischen Aspekten lassen sich bei ihm physiologische, neurologische (bedingt), biologische, evolutionäre, genealogische, psychologische; kommunikative, gesellschaftliche, politische; semiotische, sprachphilosophische und natürlich epistemologische Aspekte nachweisen; eine Vielfalt also, die sich auch aus der Methode (Aspektualismus, Perspektivismus) seines Philosophierens erklären läßt. Gegenwärtige Bemühungen, Bewußtsein als emergente Eigenschaft einer hochkomplexen organischen Struktur (Gehirn) zu begreifen (cf. §25), könnten sich - seinen kritischen sprachphilosophischen Ansatz und die damit verbundenen metakritischen Überlegungen ausgeklammert - in gewisser Weise auch auf Nietzsche berufen. Man hat dann allerdings zwischen der Funktionsweise und dem Zweck des Bewußtseins zu differenzieren: Bewußtsein hat sich zwar „am" Organischen ausgebildet, um größere 'Organismen' (Gesellschaften, Staaten) bilden zu können, die Funktionsweise des Bewußtseins ist dagegen mechanistisch und gemessen an der organischen Komplexität simplifizierend. Bewußtsein ist so nur im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit eine Höherentwicklung, nicht jedoch in seiner Funktionsweise, hierin ist es von grundlegend anderer Qualität als das Organische, das, so Nietzsche, dem menschlichen Bewußtsein weit überlegen ist; es steht für ein 'geistiges' Prinzip, während Bewußtsein sich nur mechanistischen Operationen verdankt, die an Zeichen gebunden sind. In der Nietzsche-Forschung hat der Bewußtseinsbegriff immer auch mehr oder weniger sporadisch Beachtung gefunden; monographische Untersuchungen zum Bewußtseinsbegriff bei Nietzsche finden sich jedoch eher selten2, obgleich 1
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Hier ist vor allem die Publikation von Th. Metzinger (ed.), Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderbom/München/Wien/Zürich 1995, zu nennen, der alle oben genannten Wissenschaftszweige innerhalb eines philosophisch gesteckten Rahmens zu Wort kommen lißt. Cf. H.W. Reichert/K. Schlechta, International Nietzsche Bibliography, Chapel Hill 2 1968- Cf. H.W. Reichert, „International Nietzsche Bibliography 1968 - 1971", in: Nietzsche-Studien, Bd. 4 (1973) Cf. G.U. Gabel, Friedrich Nietzsche. Leben und Werk im Spiegel westeuropäischer Hochschulschriften 1900 -1975. Eine Bibliographie, Hamburg 1979.- Zu nennen sind die Beiträge von F. Wedel, Die
Einleitung
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er in der Nietzsche-Literatur zunehmend an Bedeutung gewinnt.- Die vorliegende Arbeit versucht nicht nur den Bewußtseinsbegriff erschöpfend und unter allen möglichen Aspekten zu erhellen und auszuwerten, sie entwickelt eine Bewußtseinstheorie auf dem Hintergrund der Nietzschischen Gesamtphilosophie mit Schwerpunkt auf seiner kritischen Erkenntnistheorie.
Dialektik von Bewußtsein und Wille im Denken Friedrich Nietzsches. Ein Versuch zur Begründung der Methode des wissenschaftlichen Verstehens, Phil. Diss. Mainz 1970; M. Frank, Was istNeokonstruktivismus? (bes. 13. Vorlesung), Frankñirt/M 1984; H. Zitko, Nietzsches Philosophie als Logik der Ambivalenz, Würzburg 1991.- Besonders hervorzuheben ist der Aufsatz von Josef Simon, „Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche und der traditionelle Bewußtseinsbegriff', in: M. Djurió /J. Simon (eds.), Zur Aktualität Nietzsches, Würzburg 1984, pp. 17 - 33.
I Der philosophische BewußtseinsbegrifF
§] Begriffsexplikation Der philosophische Bewußtseinsbegriff in seiner neuzeitlichen Fassung geht auf Descartes zurück1, der das lateinische Lexem conscientia (Mitwissen, Gewissen) in seiner Bedeutung durch Ausklammerung der ethischen Bedeutungskomponente verengte, es aber gleichzeitig ñinktional erweiterte: conscientia im Sinne von M/wissen, Bewußtsein wird zum Subjektivierungsindex aller kognitiven2 Leistungen, die dadurch als unbezweifelbar subjektive, einem ego zugehörigen epistemischen, volitiven, imaginativen und sentitive Leistungen ausgewiesen werden.3 In dem conscientia-Bcgññ der lateinischen Antike scheint schon in der ethischen Bedeutung als Gewissen die konkomitierende Funktion im Sinne einer zum eigenen Verhalten stellungnehmenden, beobachtenden Instanz durch.4 Als Vorgänger des lateinischen conscientia-BegrìSs gilt das griechische συναισθησις 5 , dessen Präfix σον- 6 mit dem lateinischen cum (com-lcon-) bedeutungsgleich ist; es legt in modaler und temporaler Hinsicht die für den Bewußtseinsbegriff entscheidende Grundbedeutung der Konkomitanz fest. Anfang des 17. Jahrhunderts prägte Christian Wolff als Lehnübersetzung des Cartesischen „conscientia" das deutsche Substantiv7 „Bewußt seyn" und sah in 1
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Als Gründungsquellen werden die Schriften Discours de la Méthode (1637) und Meditationes de prima philosophia (1641) angegeben. Eine Obersetzung der Begriffe cogitare, cogitatio mit denken, Gedanke würde die Begriffsbedeutung zu eng fassen, da denken im Deutschen nur einen spezifisch theoretischen Bewußtseinsakt bezeichnet „Sunt deinde (...) actus, quos vocamus cogitativos ut intelligere, velie, imaginan, sentire, & c., qui omnes sub ratione communi cogitationis, sive perceptionis, sive conscientiae, conveniunt; atque substantial« cui insunt (...)." (R. Descartes, Meditationes de Prima philosophia, Œuvres de Descartes, Bd. VII, ed. C. Adam/P. Tannery, Paris 1904, (Obj. III, obj. II, (241), p. 176.) Cicero schreibt: „Certissima scientia et certitude eius rei quae animo nostro inest: sive bonum, sive malum." (M. T. Cicero, Pro Milone, Opera quae supersunt omnia, ed. C. Orellius, Vol. II, 63, Paris 1825.) Das Simplex αΐσθησις (Empfindung, Wahrnehmung, Kenntnis (von etwas)) zeigt schon kognitive Bedeutungsmerkmale. Das Präfix συν- ist ursprünglich ein freies Morphem (σύν, Adj.) mit der Bedeutung zusammen, zugleich. Als Präp. bezeichnet es ein Zusammensein: mit, nebst, samt, Hand in Hand mit, im Einklang mit.- In präfigierter Zusammensetzung drückt es Gemeinschaft, Obereinstimmung aus. Mhd. ist das Verbum bewissen (sich zurechtfinden) belegt Cf. F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 231995, p. 106, sp. b.
Begriffsexplikation
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ihm das „Merckmahl, daraus wir erkennen, daß wir gedencken".8 In dieser Begriffsbestimmung hat sich die psychologische/epistemische Bedeutungskomponente gegenüber der ethischen9 gänzlich durchgesetzt: Bewußtsein ist nun ein Grundbegriff der Erkenntnistheorie, dessen Konzeption die Fundierung alles dessen umspannt, was überhaupt von einem Subjekt gewußt werden kann. In dieser Hypostasiening steht der BewußtseinsAegr/^im Zentrum der Kritik Nietzsches. Um einen Eindruck über die terminologische Vielfalt und die sich darin spiegelnde philosophische Begriffs- und Problemvielfalt zu vermitteln, soll - in Anlehnung an Alwin Diemer10 - der Begriffsbereich skizziert werden: (1) Erscheinungsformen des Bewußtseins menschliches*11 , tierisches*, individuelles**, kollektives**, kosmisches**, göttliches Bewußtsein; All-Bewußtsein**, absolutes Bewußtsein, Normalbewußtsein**, Alltagsbewußtsein** usw. (2) Spezifizierende/qualifizierende Bestimmungen der Bewußtseinsstruktur Bewußtseins-Umfang, Bewußtseinslage, Bewußtseins-Enge** usw. (3) Intensität des Bewußtseins* Bewußtseins-Grade, Bewußtseins-Gradienten, Bewußtseinsstärke, Bewußtseins-Stufen, Bewußtseins-Schwelle; klares, helles, getrübtes, dunkles usw. Bewußtsein; Wach-Bewußtsein*, Traum-Bewußtsein**. (4) Referenzialität des Bewußtseins Bewußtseins-Transzendenz**, Bewußtseins-Immanenz**, Gegenstandsbewußtsein**, Fremd-Bewußtsein**, Bewußtseins-Gegenstand**, Bewußtseins-Inhalt**. (5) Reflexivitätsformen des Bewußtseins Selbstbewußtsein*, Ich-Bewußtsein**, Persönlichkeitsbewußtsein. * Ch. Wölfl; Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720,1, cap. 3, §194. ' Das Französische kennt nur conscience und muß aber qualifizierende Adjektive differenzieren: conscience psychologique (Bewußtsein), conscience morale (Gewissen).- Das Englische unterscheidet conciousness (Bewußtsein) und conscience (Gewissen). 10 Cf. Α. Diemer, „Bewußtsein", in: J. Ritter et al. (eds.) Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, Basel 1971, pp.895/96.- Die Abweichungen von der Strukturierung Diemers sowie die Ergänzungen sind durch die Bemühung um Übersichtlichkeit in bezug auf die speziellen Belange der Arbeit motiviert 11 Ein Sternchen hinter dem Begriff zeigt an, daß dieser bei Nietzsche lexikalisch belegt ist Zwei Sternchen signalisieren, daß das Lexem im Werk Nietzsches nicht belegt ist, aber dennoch eine entsprechende thematische Berücksichtigung erfahren haL Diese Verfahrensweise soll nur einen vorläufigen, rein summarischen Eindruck über den lexikalischen und begrifflichen Belegstand im philosophischen Œuvre Nietzsches vermitteln.- Im Werk belegt sind die Wortformen: bewußt, (das) Bewußte, Bewußtsein, Bewußtheit, (das) Bewußt-werden/Bewußtwerden, (das) Sich-bewußt-werden, (das) Bewußtmachen-, Selbstbewußtsein, Bewußtseins-Perspektive, Bewußtseins-Perspektivismus.
Der philosophische Bewußtseinsbegriff
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(6) Epistemisch-bewertende Bewußtseins-Funktionen empirisches, reines**, apriorisches**, transzendentales** Bewußtsein. (7) Bewußtsein als sozialer, geistiger und kultureller Überbau Gesellschafts-Bewußtsein, Klassenbewußtsein, (Herden-Bewußtsein*), Zeit-/ Epochen-Bewußtsein; historisches*, ästhetisches**, moralisches**, religiöses** Bewußtsein; Freiheits-Bewußtsein, Rechts-Bewußtsein**. Die Enumeration zeigt, daß der Bewußtseinsbegriff sich mit fast allen wesentlichen philosophischen Thematiken verbinden kann, was auch ein Indiz dafür ist, daß es sich hierbei um einen echten philosophischen Grundbegriff handelt, dem auf epistemischem Feld ein quasi-axiomatischer Charakter zukommt12 ; ontologisch gesprochen muß man das menschliche Bewußtsein als „anthropologische Grundkategorie"13 ansehen. Die Einteilung der obigen Begriffsliste gibt in etwa die methodologisch zu stellenden Leitfragen an die Hand, wie sie dann auch an die Bewußtseinstheorie Nietzsches herangetragen werden müssen: an welchen (ontischen) Formen bzw. in welchen Gegebenheitsweisen Bewußtsein auftreten kann (1), wie es (intern) strukturiert gedacht werden kann (2), welche qualitativen Modalitäten seine Inhalte aufweisen (3), was es für die Welterkenntnis (4), was für die Selbsterkenntnis leistet und welche Rolle ihm bei den neuzeitlichen und modernen Subjektkonstituierungs-Tbeorìen zugedacht wird (5), welche Funktionen es innerhalb epistemischer Vollzüge innehat (6), und bei welchen kulturelen/ gesellschaftlichen Ansichten und Leistungen es als wesenhaft beteiligt angesehen wird (7).14 In der philosophischen Tradition wird der Bewußtseinsbegriff generell in die beiden perspektivischen Momente der Intentionalität und der Reflexivität ausgelegt. Die Intentionalität des Bewußtseins hebt die vektorielle Funktion, das Gerichtetsein auf einen Objektbereich (Gegenstands-AVeltbezogenheit) hervor15, die Reflexivität dagegen bezeichnet die Funktion, von sich selbst als Subjekt der psychischen Erlebnisse, kognitiven Akte und mentalen Zuständen16 zu wissen; das sich bewußte Subjekt ist sich so unmittelbar Ich- oder Selbstbewußtsein. Das AktBewußtsein, das sich auf Prozesse und Zustände im Bewußtsein richtet, ist gleichzeitig Oiyefo-Bewußtsein, insofern es sich auf die durch Intentionalität gekennzeichneten Bewußtseinsinhalte bezieht und Sui/e&i-Bewußtsein (Ich- bzw. 12
Die Bemühungen von Seiten der analytischen Philosophie, ohne diesen Grundbegriff auszukommen, haben sich mittlerweile als äußerst problematisch herausgestellt Cf. dazu Kap. VIII der Arbeit 13 A. Diemer, Bewußtsein, op. cit, p. 895. 14 Die unter den Ziffern 2, 5 und 6 genannten Begriffe sind für die Thematik der Arbeit von zentraler Bedeutung. 15 Cf. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), Tübingen 41980. Für Husserl ist alles Bewußtsein immer auch Bewußtsein von. 16 J. Hoffineister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1955, nennt: ,£inneseindrücke, Erinnerungen, Vorstellungen, Empfindungen, Geßhle(n), Willensregungen, Gedanken". (Op. cit, p. 120).
Begriffsexplikation
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Selbstbewußtsein), das sich als Träger/Agens der Akte als die seinigen versteht.17 Das Akt-Bewußtsein initiiert die für alles Erkennen notwendige Bedingung der Subjekt-Objekt-Diremtion; es stellt das Erkenntnissubjekt dem Erkenntnisobjekt gegenüber und ermöglicht dadurch sowohl den Welt- als auch den Selbstbezug. Kant differenzierte begrifflich zwischen dem empirischen Bewußtsein, das alle faktischen Einzelleistungen (Bewußtseinsinhalte) begleitet und dem apriorischen bzw. transzendentalen, reinen Bewußtsein, das alle empirischen Einzelvorstellungen unter die (transzendentale) Einheit (Identität) des sich in allen Akten durchhaltenden Selbstbewußtseins stellt.1" In der philosophischen und psychologischen Terminologie finden sich eine Anzahl von qualifizierenden Adjektiven, die den Intensitätsgrad der einzelnen Bewußtseinszustände/-verfassungen mit Hilfe einer Lichtmetaphorik veranschaulichen sollen. Die Skala reicht dann von dunkel, trübe bis klar, hell}9 In erkenntnistheoretische Sprechweise übersetzt, lägen die Eckwerte auf einer epistemischen Skala ungefähr bei halbbewußt (gerade noch wahrnehmend) und wissend (in begrifflicher Klarheit verfugbar - rational bewußt).20 Was dagegen unter der Aufmerksamkeitsschwelle liegt, kann als vor-bewußt, noch-nicht-bewuñl (praereflexiv) bzw. nicht-mehr bewußt (postreflexiv) bis ««-bewußt bezeichnet werden. Der Begriff des Unbewußten spielt in Nietzsches Bewußtseinstheorie nicht nur in anthropologischer Hinsicht eine herausragende Rolle; er gewinnt auch für seine Erkenntnistheorie bzw. der Kritik an den traditionellen Erkenntnistheorien an interpretatorischer Aussagekraft.21 Vorbild in dieser Hinsicht ist Leibniz. Dessen Ansicht, daß „unsere innere Welt (...) viel reicher, umfänglicher, verborgener" „ist"22, versieht Nietzsche mit der Ergänzung: ,als wir uns jemals bewußt zu machen vermöchten'. Nach Leibniz können wir selbst eine sinnliche Wahrnehmung haben (perzipieren), die, ohne identifizierendes (bewußtes) Erfassen des Wahrgenommenen23, dennoch in der Seele wirksam ist. Nietzsche sieht im Gegensatz zur rationalen Tradition gerade in den unbewußten Sedimenten das Po-
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Cf. auch K.L. Reinliold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag/Jena 1789, p. 23$: „Im Bewußtsein wird die Vorstellung vom Vorstellenden und Vorgestellten unterschieden und auf beides bezogen." Cf. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (= KrV), ed. R. Schmidt, Hamburg 1956 (Nachdr. v. 1976); cf. bes. A 117/18 u. Β 132 sqq. Ausführlich zu Kant vid. Kap. II, §7. Auch Kant geht davon aus, daß es „unendlich viele Grade des Bewußtseins" gibt, die „bis zum Verschwinden" (Kant, KrV, tr. Dial. 2.B, 1. Η.) reichen.- Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die abendländische Lichtmetaphorik als lux intelligibilis. Hier läßt sich dann auch an eine Oberhelle des Bewußtseins denken, die nicht mehr erleuchtet, sondern blendet (cf. Platon, Politeitr, bes. das Sonnengleichnis (507d - 509)). Bemerkenswert ist auch Hamlets Einsicht in seine Tragik: „I am too much in the sun." (Shakespeare, Hamlet, I, 2) Der Wahrig gibt unter dem Lemma hell die fign. Bedeutungskomponenten deutlich, klar, bewußt, gescheit, aufgeweckt, rein an (G. Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 1968, Sp. 1699 sq.). Vid. dazu Kap. V der Arbeit. Cf. Nietzsche, FW V, KSA 3, p.599. Die un-/vorbewußten Perzeptionen („petites perceptions"; Monadologie, § 21) bleiben für Leibniz nicht, wie Descartes noch angenommen hatte, filr das Subjekt wirkungslos (cf. ibid., § 14).
Der philosophische Bewußtseinsbegriff
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tential für die ästhetisch-schöpferischen24 sowie für die sprachschöpferischen25 Leistungen des Subjekts. Schon ein vorläufiger Überblick ist geeignet, die Komplexität des philosophischen Bewußtseinsbegriff vor Augen zu führen. Stellt man mit Ernst Cassirer jedoch noch den „Proteus"-Charakter2< dieses Begriffs in Rechnung, dann wird deutlich, wie problematisch eine definitorische Fixierung sich ausnehmen muß, die auch nur zwei Philosophen von Rang gerecht würde.- Es ist aber nicht nur der Bewußtseinsbegriff, der von Autor zu Autor in seiner Bedeutung und Funktionalität variieren kann; auch die ihm korrespondierenden Begriffe wie Ich, Subjekt (als logisch-grammatisches, ontologisches und epistemisches), Individuum; Substanz; Objektivität, Wahrheit sowie die epistemischen Einstellungen (meinen, glauben, wissen) hängen sytematisch und funktional von dem jeweils zugrundegelegten Bewußtseinsbegriff ab.
§2 Historischer Abriß des philosophischen
Bewußtseinsbegrijfs
Ein philosophiegeschichtlicher Abriß des Bewußtseinsbegriffs im Hinblick auf die speziellen Belange der Bewußtseins-Thematik bei Nietzsche muß natürlich unter dem selektiven Aspekt vorgenommen werden, welche Autoren Einfluß auf ihn ausgeübt haben bzw. welche Ansätze ein besonderes Licht auf seine Konzeption zu werfen vermögen. So wird in dem „historischen Abriß" die Patristik, die Scholastik und die Philosophie der Renaissance gänzlich ausgeklammert, und zwar nicht nur, weil Nietzsche Autoren dieser Epochen und Schulen eher nur sporadisch rezipiert hat, sondern auch aus dem Grunde, daß wir dabei sowieso nur die Entwicklung des christlichen Seelenbegriffs verfolgen könnten - wozu hier auch der Raum fehlt. Wir gehen daher nur ganz kurz auf Aristoteles und Piaton ein, um die Vorläuferinstanz oder den Vorläuferbegriff für den neuzeitlichen Bewußtseinsbegriff zu markieren. Die wichtigsten Autoren, wie Descartes, Leibniz und Kant, mit denen sich Nietzsche explizit auseinandergesetzt hat, werden im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt; hier geht es nur darum, sie in die philosophiegeschichtliche Entwicklung einzubetten. Sucht man, wie gesagt, in der vorcartesianischen Tradition für den Bewußtseinsbegriff einen Vorläufer, der, wenn auch nicht in semantischer Hinsicht mit diesem übereinstimmend, als annähernd funtionales Äquivalent betrachtet werden kann, dann bietet sich der vorchristliche Seelenbegùïï an. Die Seele, zumal in der griechischen Antike, hat mit dem neuzeitlichen Verständnis von Bewußtsein die Eigenschaft gemeinsam, ein spezifisches Vermögen, ein fundamentum cognitionis zu sein.
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Vid. Kap. VIII der Arbeit.
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Vid. Kap. VI der Arbeit. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen
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Formen, 3 Bde, Bd. 3, Berlin 1929 ( 2 1954), p. 57.
Historischer Abriß des philosophischen Bewußtseinsbegriffs
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Für Aristoteles ist die Seele (ψυχή) in ihrer allgemeinsten Funktion als Formprinzip die erste Verwirklichung (έντελέχεια) eines „natürlichen [organischen] Körpers"1. Sie bildet mit diesem eine untrennbare Einheit; denn sie ist das, was seine Verwirklichung als das ausmacht, was er wirklich ist; sie macht als Realgrund des Körpers dessen Wesen aus.1 Aristoteles strukturiert die Seele ähnlich hierarchisch wie Piaton3, auch er geht von der Trias einer vegetativen, sensitiven und denkenden Seele aus, wobei nur im Menschen alle drei Seelenvermögen, durch die wir „leben, wahrnehmen und überlegen"4 (denken), verwirklicht sind. Da die Seele Formprinzip des Körpers ist und beide eine unio substantiate bilden, kann sie weder praeexistent noch unsterblich sein. Dies läßt Aristoteles aber nur für den leidensfähigen Verstand (νους παθητικός) und die anderen Seelenteile gelten, nicht jedoch für den tätigen Verstand (νους ποιητικός, intellectus agens) mit dem die Seele „überlegt und Annahmen macht"5 dieser Seelenteil ist „unsterblich und ewig"6. Die Aristotelesforschung hat darauf hingewiesen, daß die hylemorphistische Theorie an diesem Punkt inkonsistent wird, und Aristoteles sich wieder dem platonischen Dualismus annähere, weil die Seele als Geist (νους) vom Körper getrennt existieren kann, und somit das ΰλη-εΐδος-Schema als Erklärungsform nicht mehr greife.7 J. L. Ackrill bemerkt, daß Aristoteles Probleme habe, das .reine' „Denken" als „Tätigkeit ohne Tätigen", als „Form ohne Stoff"8 zu erklären, und daß er sich dessen auch durchaus bewußt gewesen sei. Nicht bewußt dagegen sei ihm „das Problem der privaten Erlebnisse"9 gewesen, also die Akte und Zustände, die erst seit Descartes als bewußte „Tätigkeiten" auf ein Ich (einen Tätigen) bezogen wurden. In De anima stellt Aristoteles zwar die Frage, „ob der Geist selbst denkbar sei"10, verlagert das Problem aber auf eine göttliche Ebene: der Geist der Gottheit besteht darin, „sich selbst zu denken"". Das reine Denken, das Denken des Denkens (νόησις νοήσεως) bleibt bei ihm bloße Beschreibung der Seelentätigkeit des νους; es ist noch nicht Beschreibung des Seelischen, die erst möglich wurde, als mit Descartes das Subjekt als Erkenntnisgrund des Denkens ausgewiesen wurde. Descartes bricht mit der forma-substantialis-Theorie, wie sie ihm durch die scholastische Tradition überliefert wurde: die Seele {mens, anima) ist eine unaus1
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Aristoteles, Von der Seele (Περί ψυχής, II 1, 412b, 4-6); dt., introd. et ed. O. Gigon, Von der Seele, München 1 1987, p. 287 (Der Text folgt der im Artemis Verlag erschienenen Ausgabe (= Bibliothek der alten Welt), Zürich 1950». Cf. Aristoteles, Metaphysik, H 1043b. Er wendet sich allerdings gegen die ontologische Einteilung der Seele bei Piaton und gegen die von diesem angenommene Praeexistenz der Seele. Aristoteles, Von der Seele, op. cit., p.290. Aristoteles, Von der Seele, op. cit., p. 330. Aristoteles, Von der Seele, op. cit., p. 333. Cf. J.L: Ackrill, Aristotle the Philosopher, dt. Aristoteles. Eine Einführung in sein Philosophieren, Berlin/New York 1985. Ackrill, op. cit., p. 119. Ibid. (Hervorhebung - E. S ). Aristoteles, Von der Seele, op. cit., p. 332. O. Gigon, „Einleitung", in: Aristoteles, Von der Seele, op. cit., p. 252.
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Oer philosophische Bewußtseinsbegriff
gedehnte, immaterielle Substanz (substantia cogitans), die mit dem Körper (,substantia extensa) nur eine unio compositionis bildet. Die Zweisubstanzenlehre, die Teilung von Seele und Körper, wurde unter anderem erforderlich, um die (cartesische) Gewißheit rein in der Autonomie des Denkens begründen zu können. Der dualistischen Konzeption entspricht die Einteilung in eine Außen- und Innenwelt, in der sich dann allein die Evidenz, als denkende Substanz zu existieren, soll finden lassen. Der Seelenbegriff behält bei Descartes zwar seine traditionelle (metaphysische) Berechtigung, jedoch wird durch den Versuch, ein grundlegendes Fundament in der Gewißheit zu suchen, das Augenmerk auf eine spezifische Tätigkeit der Seele gelenkt; das reine Denken tritt nun in den Vordergrund als bewußte Tätigkeit eines sich darin selbstgewissen Ichs. Auch Nietzsche wird den Seelenbegriff neben dem Bewußtseinsbegriff in einer „gereinigten" Bedeutung als „Seelen-Hypothese"12 beibehalten; sie wird bei ihm in einem modernen Sinne psychologisiert, d.h. sie wird zum Schauplatz von ,Trieben und Affekten' 13 , in die das bewußte Denken motivational verstrickt bleibt. Rationales Denken ist nur eine Funktion der Seele und, wie sich zeigen wird, für Nietzsche bei weitem nicht die wichtigste. Wie Descartes geht auch Leibniz noch von einer dem Bewußtsein zugrundeliegenden Seelensubstanz aus, die durch „reflexive Erkenntnis" („connaissance reflexive"14) auf ihren „inneren Zustand" („état intérieur") sich als Selbstbewußtsein („apperception") erfahrt.15 Leibniz wendet sich ausdrücklich gegen den Empirismus in der Ansicht, wie die Ideen „estre", „substance", „action" „identité"16 etc. in die Seele gekommen sind: es ist für ihn falsch zu sagen, „que toutes nos notions [begriffene Ideen] viennent des sens qu' on appelle extérieurs"17 . Für J. Locke ist Bewußtsein zunächst ein „weißes Blatt Papier" („white paper"), ohne alle „Vorstellungen" („ideas"), das von den Erfahrungen beschrieben wird, und dessen Inhalte (Bewußtseinsinhalte) die Ideen (Einbildung, Vorstellung, Begriff) bilden. „Consciousness", schreibt Locke, „is the perception of what passes in a man's own mind."18 Locke geht also von einer Reflexion, einer Selbstwahrnehmung der über die äußere Sinneswahmehmung (sensation) in den Geist (mind) gekommenen Bewußtseinsinhalten aus. Wie Locke ist auch Hume ein typischer Vertreter der Reflexions-Theorie des Bewußtseins. Bewußtsein ist
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Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 12, p. 27. Ibid. G. W. Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace fondés en Raison (1718) (dt. Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, Hamburg (= Meiner) 2 1982, p.8). Leibniz muß zur Begriffsbestimmung der „Monade" noch den Seelenbegriff heranziehen: Seelen sind Monaden, die eine .deutliche* „perception" und Erinnerung haben (cf. Monadologie §19). Cf. Leibniz, Discours de Métaphysique (1686) (dt. Metaphysische Abhandlung, Hamburg (= Meiner) 1958, p.69).- Hier wäre auch noch die Kausalität zu nennen, ein Begriff der gerade in Nietzsches Philosophie eine herausragende Rolle spielt. Leibniz, Discours, op. cit., p. 69. J. Locke, Essay concerning Human Understanding, (London 1690), ed. J.W. Yolton, II Vols., Vol. 1, II, ch. 1.19, London/New York 1961, p. 87.
Historischer Abriß des philosophischen Bewußtseinsbegriffs
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für ihn lediglich „inward sentiment"19. Damit ist der Bewußtseinsbegriff vollends von dem Seelenbegriff abgetrennt: was in der Reflexion auf die Ideen, die nun selbst Gegenstand des Denkens sind, bezogen ist, hat nun eine rein individuellpsychologische Geschichte; das Bewußtsein ist nur noch ein theatrum internum. Nietzsche stellt sich gegen beide Positionen; er ist gegen den Empirismus, insofern er den Ursprung der Bewußtseinsinhalte nicht in der Erfahrung ansiedelt; denn ohne eine im Denken gründende Ich-Setzung (als Substanz-UrsacheSchema) wäre weder eine empirische Realitätsbasis für uns gegeben noch ein kategorialer Zugriff auf sie, noch auch Selbstbewußtsein möglich; er ist gegen den Rationalismus, insofern die Ideen (Kategorien) nicht nur für ihn keine Objektivität verbürgen, sondern darüber hinaus deren Gebrauch keine Partizipation an einer deren Wahrheit garantierenden göttlichen Vernunft (Leibniz) ist, sondern Ausdruck eines prinzipiellen menschlichen Unvermögens. Er lehnt mit der idealistisch-rationalen Tradition die Annahme ab, die Ideen seien aposteriorischer Herkunft20, wendet sich aber gegen deren Anspruch, die Ideen könnten im Bewußtsein als notwendige Wahrheiten („vérités nécessaires")21 aufgefunden werden. Die Kategorien Substanz und Kausalität, auf die es Nietzsche im wesentlichen ankommt, haben für ihn ihren Ursprung im bewußten Denken selbst, und zwar als in diesem Denken verankerte Nützlichkeits-Perspektiven22, sich und die Welt so (unter ihrer Semiotik) zu verstehen: „bloß ihre Nützlichkeit ist ihre Wahrheit"23. Gegenüber seinen Vorgängern weist Kant dem Bewußtsein eine andere Funktion zu; es ist nicht mehr nur Mit-Wissen bzw. 'Beobachter' innerer Vorgänge (cogitationes), sondern bekommt nun die Aufgabe einer synthetisierenden Einheitsstiftung zugewiesen. Die Einheit des Bewußtseins, die „durchgängige Identität unserer selbst"24 ist das „transzendentale Prinzip der Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen."25 Der Synthesis-Funktion des Bewußtseins werden nun zwei Aufgaben zugewiesen: eine empirische Einheitsstiftung bei der Gegenstandskonstitution in objektiver und subjektiver Hinsicht und eine transzendentale, die das empirische Bewußtsein (das Mannigfaltige der Einzelvorstellungen) in eine notwendige Beziehimg zu einem „einigen Selbstbewußtsein"26 (= ursprüngliche Apperzeption) bringt und darin durchgängig verbindet. Hatte Descartes conscientia noch als konkomitierendes Wissen der cogitationes als zu einer res cogitans gehörig verstanden, so wird Bewußtsein bei Kant eine „allgemeine Bedingung aller Erkenntnis überhaupt"27, womit der Erkenntnis" D. Hume, A Treatise of Human Nature and Dialogues Cnceming Natural Religion, T. H. Green/T. H. Grose (eds.), 2 Vols., London 1898,Vol. I, p. 534. 20 Cf. Leibniz, Monadologie, §30 sqq. 21 Cf. Nietzsche, JGB, KS AS, Nr. 20 et Nr. 252. 22 Cf. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 3 (14 [105]), p. 283. 23 Ibid. 24 Kant, Λ>Κ, A 116. 25 Ibid. 26 Kant, KrV, Al 17/18. 27 Cf. Kant, Logik, Einl. V, ed. W. Weischedel, Werkausgabe (in 12 Bdn.), Bd. VI., p. 457 sqq.
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Der philosophische BewuBtsemsbegriff
grund nicht mehr in einer von einem Deus benignus abhängigen Seele gesucht werden mufl, sondern nun ganz auf ein Selbstbewußtsein gestellt wird. Das Selbstbewußtsein ist als synthetische Einheit der Apperzeption das oberste Prinzip des Verstandesgebrauchs; es ist das „reine Ich" als Subjekt - der „höchste Punkt" der „Transzendental-Philosophie"28. Für Kant war das transzendentale Ich nicht mehr erkennbar, weil der dazu erforderliche kategoriale Zugriff aufgrund der fehlenden (empirischen) Anschauung nicht möglich ist; es ist nur „Beziehung der inneren Erscheinungen auf das unbekannte Subjekt derselben"29, von dem wir „niemals den mindesten Begriff haben können"30, weil das transzendentale Subjekt die „Form"31 stellt, unter der überhaupt etwas als Objekt begriffen werden kann. Damit entgeht Kant der zirkulären32 Argumentation, die in der Bestimmung dessen, was Selbstbewußtsein sein soll, wurzelt. So aber - und an diesem Punkt knüpft Fichte an - denkt Kant Selbstbewußtsein als rein logische Voraussetzung von Erkenntnis, das Problem der Selbsterfassung des reinen Ichs bleibt jedoch offen.33 Fichte, hier anknüpfend, holt die Begründung des Selbstbewußtseins quasi in die Immanenz des sich selbst setzenden Ichs als dieses Selbstbewußtsein hinein. Selbstbewußtsein ist der ursprüngliche Akt („reine Thätigkeit"34) des Selbstsetzens: „Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst"35. Setzung und Gesetztes sind gleichursprünglich. Die „Thathandlung" ist die Genesis der Selbstbewußtwerdung, ohne sie ist kein Bewußtsein (kein Ich) und kein Denken: „man kann", so Fichte, „von seinem Selbstbewußtsein nie abstrahieren"36. Man kann nach Fichte auch nicht die Frage stellen, was Ich war, „ehe ich zum Selbstbewußtsein kam ?"37, „denn ich bin nur als Selbstbewußtsein"3®. Dieser philosophiegeschichtlicher Reflexionsstand muß in der Diskussion um die Problematik einer genetischen Herleitung des Bewußtseins, die nicht in der Immanenz des (bewußten) Denkens selbst begründet wird, berücksichtigt werden. Aussagen Nietzsches von der Art, Bewußtsein sei „überflüssig"**, das letzte, was hinzukomme, wenn ein Organismus fertig fungiere40, sind - zumin28 29 30 31 32 33
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Kant,KrV, Β 133, Aran. Kant, Prolegomena, ed. Κ. Vorländer, Hamburg (= Meiner) (durchges. Nachdr.) 1976, §16, p. 96 sq. Kant, KrV, Β 404. Ibid. Cf. ibid. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang kritisch (teilweise sogar ironisch) von einem Subjekt an sich bzw. Ich an sich. J. G. Fichte, Grundlagen der gesammten Wissenschaftslehre (1794), in: Fichtes Werke, ed. I. H. Fichte, Berlin 1834/35; repr., Berlin 1971, pp. 26 - 328, p. 96. Ibid. Ibid. Ibid., p. 97. Ibid.- „(...) ich war gar nicht, denn ich war nicht ich." (ibid.) Nietzsche, FWV, KS A3, Nr. 354, p. 590. Ibid.- Cf. auch Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [316]), p. 563.
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dest aus philosophischer Sicht - nicht unproblematisch und sollten auch auf dem Hintergrund des Fichteschen Reflexionsstandes besprochen werden. Hegel rühmte an Fichte, daß dieser nicht wie Kant „erzählend zu Werke"41 gegangen sei, also das transzendentale Ich nur als „Idee"42 aufgefaßt habe, sondern er sei „hinter"43 das „gewöhnliche Bewußtsein"44 gekommen; er habe nicht wie sein Vorläufer „die Kategorien[.] empirisch aus der Logik"45 genommen, sondern deren „Konstruktion der Denkbestimmungen aus dem Ich"46 abgeleitet. Bewußtsein bleibt so kein leerer Begriff, sondern ist Gewißheit des Ichs - ist so wesentlich Selbstbewußtsein. Für Schelling hat Fichte die Natur (das Nicht-Ich) als „abstrakte" „Schranke"47, eines dem Subjekt bloß Entgegengesetztes, gänzlich unbestimmt gelassen. Er versucht den Fichteschen Idealismus, die Absolutheit des Subjekts, durch die Hineinnahme des Wirklichen in seiner Einseitigkeit zu korrigieren. Die „Außenwelt" ist nur für mich da, insofern ich mir selbst bewußt da bin.48 Das „Ich bin"4' hat ein „außer- und von-sich-Gewesenseyn"50 zur Voraussetzung; ich bin zunächst außer mir, d.h. gleichzeitig: ich bin mir in diesem Stadium meiner noch nicht bewußt.51 Das „Bewußtwerden" ist „die Arbeit des zu-sich-selbstKommens"52. Bewußtsein ist das Ergebnis dieser Tätigkeit, deren Endprodukt.53 Das bewußte Ich muß sein Außer-sich einholen - und dieser Weg des Sich-selbstEinholens ist die geschichtliche Aufarbeitung (Bewußtwerdung) des Ichs als ein individuelles.- Die Außenwelt bleibt dem Bewußtsein als „bloße(s) Resultat" „stehen"54: als „Denkmäler jenes Wegs"55 - nicht schon des Wegs selbst. Aufgabe der Philosophie als „Urwissenschaft"54 ist es, den „ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseins bis zu dem höchsten Bewußtseyn - selbst mit Bewußtseyn" 41
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G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, ed. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Werke (20 Bde.), Bd. 20, Frankfurt/M J 1986, p.392. Ibid., p.391. Ibid., p.393. Ibid. Ibid., p. 392 sq. Ibid., p. 393. F. W. J Schelling, Münchener Vorlesungen (WS 1833/34), Kant. Fichte. System des transzendentalen Idealismus, in: F.WJ. Schellings sämmtliche Werke, ed. K.F. Schelling, Stuttgart 1856 - 1861, 1/10, 73 - 98, p. 90. Cf. ibid., p. 93. Ibid., p. 94. Ibid. Cf. ibid., p. 93. Ibid. Dies ist auch in Abgrenzung zu Fichte zu lesen, für den das Ich-Bewußtsein immer nur in dem „Akt des sich-selbst-Setzens" (Fichte, Wissenschaftslehre (1894), op. cit., p. 92 Anm.) besteht Man kann so bei Fichte immer nur von einem kontinuierlich iterierenden Anfang sprechen, was gleichbedeutend damit ist, daß überhaupt kein wirklicher Anfang (und keine Zeit) ist. Das Ich - und darin besteht die Crux der Schellingschen Rüge - bleibt so merkwürdig geschichtslos. Schelling, Vorlesungen, op. cit., p.93. Ibid., p. 94. Ibid., p. 95.
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Der philosophische BewuQtseinsbegriff
.zurückzulegen' 57 . Diese 'Rückbesinnung' nennt er in Anlehnung an Piaton „Anamnesis", die Freilegung der „transzendentale(n) Geschichte des Ichs"58, die dem faktischen Bewußtsein vorausgeht. Jedes Bewußtsein hat seinen Anfang in einem ekstatischen Außer-sich-Sein, in einem For-Bewußten seiner „transzendentalen Vergangenheit"59. Das Unbewußte ist bei Schelling nicht schon als defizitärer Modus eines Bewußtseins gedacht, sondern dessen Grund, der für ein Bewußtsein - als dessen transzendentale Bedingung - Vergangenheit ist. Die Gedanken der Prozeßhaftigkeit, der Geschichtlichkeit, der Genese (!) und Entwicklungstendenz vom Vor-/Unbewußten zum Selbstbewußten sind festzuhalten, da sich im Denken Nietzsches in bezug auf den Bewußtseinsbegriff Spuren der von Schelling inspirierten Romantik (F. Schlegel, Novalis u.a.) nachweisen lassen. Hegels Bewußtseinsphilosophie ist die Phänomenologie des Geistes selbst, die sich in das Stufenschema Bewußtsein - Selbstbewußtsein - Vernunft auslegt. Die erste Stufe, das Bewußtsein, teilt sich in das sinnliche Bewußtsein, die Wahrnehmung und den Verstand. Das Bewußtsein beginnt mit dem faktischen Gegenstandsbezug, der sinnlichen Hingabe an den Gegenstand. In der „sinnlichen Gewißheit"60 erfaßt das Bewußtsein den konkret-einzelnen Gegenstand nur unmittelbar; er ist für dieses Bewußtsein ein bloß „Gegebenes"61, das in der Reflexion ein vom Ich Gegenübergestelltes62 ist. Das sinnliche Einzelne aber ist in Wirklichkeit als Gegenstand eine Komplexität von Eigenschaften und Bezügen, die sich nur mit (sprachlich vermittelten) Allgemeinbestimmungen erfassen lassen: die „sinnliche Gewißheit" geht in wahrnehmendes Bewußtsein über.63 Für den Verstand ist der Gegenstand ein gesetzter und phänomenal gedeuteter. Auf der Verstandesebene erweist sich der Gegenstand als Spiegel des Bewußtseins, das, je mehr er diesen erklärt, um so mehr zu sich selbst kommt: „In dem Erklären ist eben darum so viele Selbstbefriedigung, weil das Bewußtsein dabei (...) in unmittelbarem Selbstgespräche mit sich, nur sich selbst genießt, dabei zwar anderes zu treiben scheint, aber in der Tat nur mit sich selbst herumtreibt."64 Der Vertiefung in den Gegenstand, wie sie durch das Dreistufenschema skizziert ist, entspricht dem Zu-sich-Selbst-Kommen des Bewußtseins, das den Weg zum Selbstbewußtsein markiert. „Das Bewußtsein", heißt es bei Hegel weiter, „hat als Selbstbe57 58 59
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Ibid. Ibid., p. 94. Ibid., p. 93 - Cf. dazu W. Hogrebe: „(...) der Anfang ist blind, der Sache nach immer das Erstere, dem Begriff nach immer das Spätere; ist er sehend geworden, ist er vergangen." (W. Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings „Die Weltalter", Frankfurt/M 1989, p. 114.- „Bewußtsein" gibt es „nur, weil es Unbewußtes gibt." (ibid.) G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, ed. v. E. Moldenhauer et K.M. Michel, Bd. 3, p. 82 sqq. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie, Werke (20 Bde.), ed. v. E. Moldenhauer et K.M. Michel, Bd. 10, §418Z, p. 207. Cf. Hegel, Enzyklopädie, op. cit., §418A. Hegel, Phänomenologie, op. cit., p. 92: „Ich nehme so es auf, wie es in Wahrheit ist, und statt ein Unmittelbares zu wissen, nehme ich wahr." Ibid., p. 134.
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wußtsein nunmehr einen gedoppelten Gegenstand, den einen, den unmittelbaren, den Gegenstand der sinnlichen Gewißheit und des Wahrnehmens, der aber fur es mit dem Charakter des Negativen bezeichnet ist, und den zweiten, nämlich sich selbst, welcher das wahre Wesen (...) ist. Das Selbstbewußtsein stellt sich hierin als die Bewegung dar, worin dieser Gegenstand aufgehoben und ihm die Gleichheit seiner selbst mit sich wird."63 Bewußtsein und Selbstbewußtsein sind nun die beiden Momente der Vernunft. Der Inhalt des Bewußtseins ist dem Ich ein fremder Gegenstand, dagegen ist als Inhalt des Selbstbewußtseins das Ich sich selbst Gegenstand.66 „Die Vernunft", schreibt Hegel, „ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein; so spricht der Idealismus ihren Begriff aus."67 Mit dem Selbstbewußtsein ist die Selbst-Inbesitznahme des Menschen vollzogen, der sich aus seiner Nahrhaftigkeit in das (vernünftige) Reich der Freiheit erhoben hat: „erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt es sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere."68 Die Anerkennung des anderen als freies (selbstbewußtes) Subjekt ist nur möglich aufgrund der Selbst-Anerkennung; wenn das Ich sich als sein Eigentum bewußt geworden ist, das sich gegen die Natur und im intersubjektiven Verkehr gegen andere behauptet, gleichzeitig aber - um der Stabilisierung seiner Subjektivität willen - in anderen seine Anerkennung sucht: „Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein Der von Hegel gesehene Zusammenhang von Eigentum und Selbstbewußtsein läßt sich in ähnlicher Weise so auch bei Nietzsche ausmachen. Der Mensch muß, um sich dem anderen überhaupt mitteilen zu können, seine eigene Bedürftigkeit feststellen (er muß zunächst wissen, was ihm fehlt), ein Prozeß, dem nach Nietzsche eine zunehmende Bewußtwerdung seiner selbst korrespondiert. Eine Parallele zu Hegel läßt sich auch in bezug auf die Art der „Besitznahme"70 durch „Bezeichnung"71 feststellen. Für Nietzsche ist Bewußtwerdung und die Bewußtseinsentwicklung ausschließlich an Zeichen geknüpft - Allerdings gehen die Auffassungen von Hegel und Nietzsche, was die Bewertung des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins betrifft, weit auseinander. Nach Hegel geht das Bewußt65 66
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Ibid., p. 139. Cf. V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2 Bde. ( Bd. 2, Philosophie der Natur und des Geistes), Hamburg 1988, p. 366.- Hösle merkt zu Hegels Begriff des Selbstbewußtseins kritisch an: „Das Selbstbewußtsein geht bei ihm nicht aus intersubjektiven Beziehungen hervor." (Hösle, op. cit., p.369) Wohl würde es sich „erst in intersubjektiven Prozessen" „bewahren" (ibid.).- Ähnlich wie Hegel sieht auch Nietzsche Selbstbewußtsein als ein Voraussetzungsmoment von Intersubjektivität (und Kommunikabilit&t). Hegel, Phänomenologie, op. cit., p. 179. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke (20 Bde.), ed. v. E. Moldenhauer et K.M. Michel, Bd. 7, Frankfurt/M 1979, p. 122.- Cf. dazu: W. Hogrebe, MuM, op. cit., §15. Cf. auch W. Hogrebe, „Eigentum und Bewußtsein", in: Annali della Facolta di Lettere e Filosofia dell ' Università di Napoli, vol. XXVII (1984/85), pp. 49 - 69. Hegel, Phänomenologie, op. cit., p. 144. Hegel, Grundlinien des Rechts, op. cit., p. 127. Ibid.
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Der philosophische Bewußtseinsbegriff
sein den Weg der Vernunft, deren Ausdruck das freie, gesellschaftsfähige Subjekt ist. Nietzsche dagegen wertet die Bewußtseinsentwicklung als einen Prozeß, der außerhalb des menschlichen Bewußtseins in biologischen und physiologischen bzw. organischen Prozessen motiviert ist, die wiederum einem höheren Willen unterstellt sind, für den auch das Bewußtsein oder das Selbstbewußtsein nur Funktion ist. Die freie Subjektivität, die über sich als autonomes Selbstbewußtsein glaubt verfugen zu können, stellt sich mit diesem Glauben in eine Illusion, die jedoch fur den höheren, transbewußten Willen gleichfalls nur Zweck sein soll. Mit Nietzsche werden die idealistischen Begriffe wie Subjekt, Ich, Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft usw. radikal umgewertet', es sind nur noch zweckmäßige Illusionen, Bewußtseins-Prorfu&te, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht. Dies sagt der kritische Nietzsche gegen die philosophische Tradition; der Nietzsche als Kind seiner Zeit ist bemüht, das idealistische Vokabular (als funktionale Fiktionen) in materiellen, biologischen und physiologischen Strukturen aufzuspüren. Ein materialistischer und zum Teil auch naturalistischer Zug dieses Denkens ist dabei unverkennbar. Die gegenwärtige Aktualität Nietzsches verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, daß dieser Trend bis in unsere unmittelbare Gegenwart anhält und sich in den Debatten über den Bewußtseinsbegriff und über das Leib-Seele-Problem niederschlägt.
§ 3 Abgrenzung vom psychologischen Bewußtseinsbegriff Versteht man unter Bewußtsein/Bewußtheit eine anthropologische Grundkategorie, dann ist Bewußtsein gleichermaßen Gegenstand der Philosophie wie der Psychologie, beide Disziplinen fragen nach der Bedeutung des Bewußtseins für den Menschen. Fragt die Psychologie nach den spezifischen Zuständen, in denen wir ein Bewußtsein von uns und der uns umgebenden Welt haben und nach der Art und Weise, wie psychische Prozesse in einem Organismus diesem bewußt werden können und wie sich dies empirisch erheben bzw. messen läßt (Behaviorismus, Gestalt-, Wahrnehmunspsychologie, Kognitionspsychologie), so legt die Philosophie ihren Schwerpunkt auf Fragen, inwiefern überhaupt ein Bewußtsein vorausgesetzt werden muß, und wie dessen 'Beschaffenheit' gedacht werden kann. Der Psychologie von ihrem empirischen Ansatz her muß es darum gehen, Bewußtes in einer Weise zu objektivieren, daß es beobachtbar und meßbar wird 1 , um von daher zu gesetzmäßigen Aussagen zu kommen. Insofern sie versucht, für Bewußtseinszustände korrespondierende physiologische Vorgänge (Gehirnforschung, Psychophysik) ausfindig zu machen, partizipiert sie an For-
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„Die Psychologie ist eine experimentierende und zugleich verstehende, eine phänomenologisch beschreibende und (...) auch messende und rechnende Wissenschaft." (W. Metzger, „Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften", in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, 15 Bde., Bd. 1, ed. H. Balmer, Die europäische Tradition. Tendenzen. Schulen. Entwicklungslinien, Zürich/München 1976, pp. 2 7 - 4 0 , p. 39)
Abgrenzung vom psychologischen Bewußtseinsbegriff
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schungsbereichen der Naturwissenschaft.2 So hat z.B. die bewußte Wahrnehmung eine transbewußte physikalisch-physiologische 'Vorgeschichte' ; sie ist nur ein Glied in einer Kette, die von der „Reizquelle" bis zur „Veränderung des Verhaltens des physiologischen Organismus in der physikalischen Welt"3 reicht. Physiologische Erklärungen, wiewohl sie auch bei Nietzsche einen großen Raum einnehmen und besonders wieder in der gegenwärtigen Philosophie analytischer Provenienz Eingang gefunden haben, haben aus philosophischer Sicht immer das Fragwürdige an sich, daß sie Kausalerklärungen liefern, wo eigentlich logischbegriffliches Verstehen gefordert ist. Es ist Freges Verdienst, die wesentliche Eigenart des logisch-philosophischen Urteils als die (logische) „Berechtigung des Fürwahrhaltens"'' herausgearbeitet zu haben. Nicht die „psychologischen, physiologischen und physikalischen Verhältnisse, die es möglich gemacht haben, den Inhalt eines Satzes im Bewußtsein zu bilden"5, sondern der Gedanke, unabhängig davon, wer und wann er aktuell gedacht wird, ist von eminenter philosophischer Relevanz. Das gilt natürlich auch für die Vorstellungen als Inhalte eines Bewußtseins; sie sind vom Gedanken, der weder „als Vorstellung meiner Innenwelt noch auch der Außenwelt"6 angehört, zu unterscheiden. Frege setzt seine logische Anforderung unter anderem so hoch an, um dem Psychologismus in der Logik und Philosophie entgegenzuwirken. Gerade wenn man sich aus dem heutigen Standpunkt mit Nietzsche auseinandersetzt, sollte man Freges Überlegungen berücksichtigen, weil Nietzsche des öfteren dem positivistischen Charme, der von der Physiologie und Psychologie ausgeht, erlegen ist.
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Cf. Metzger, Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, op. cit. W. Metzger, „Der Ort der Wahmehmungslehre im Aufbau der Psychologie", in: Handbuch der Psychologie (12 Bde.), Bd. 1, Allgemeine Psychologie, Göttingen 1966, pp. 1 - 20, p. 16 sq.- Der gesamte Wahrnehmungsvorgang stellt sich wie folgt dar: Reizquelle - Reiz - Erregungsleitung - kortikaler psychophysischer Prozeß - Bewußtseinsinhalt („phänomenaler), anschauliche(r), unmittelbar erlebte(r) Sachverhalt" = „Empfindung, Wahrnehmung, Sehding, Walirnehmungsding" (cf. ibid.)) - die Verhaltensweisen anregende Valenz des Bewußtseinsinhaltes · Veränderung des Gemützustandes - Veränderung des Verhaltens des Organismus.- Besonders die analytische Philosophie in ihrem Bestreben, Bewußtsein (mind, consciousness) einem - wie sich langsam zeigt - falsch verstandenen Objektivismus zu opfern, macht eindeutig Anleihen an Psychologie und Physiologie (cf dazu Kap. VII der Arbeit). Auch in dieser Hinsicht zeigt sich eine Verwandtschaft Nietzsches zur analytischen Philosophie, wenn er z.B. physiologische Forschungsergebnisse seiner Zeit (Helmholtz) in seine bewußtseinsgenetischen Reflexionen einfließen läßl. G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl (MM), ed. J. Schulte, Stuttgart 1987, p. 27. Ibid. G. Frege, „Der Gedanke. Eine logische Untersuchung" (1918/19), in: ders., Logische Untersuchungen, ed. G. Patzig, Göttingen 2 1976, pp. 30 - 33, p. SO.- Cf. ibid.: „Beim Denken erzeugen wir nicht die Gedanken, sondern wir fassen sie." In diesem Rahmen ist auch Poppers 3-Welten-Theorie von Interesse. Die Welti (= physische Gegenstände/Zustände) wird von der Welt2 (= Bewußtseinszustände/geistige Zustände) und Welt3 (= objektive Gedankeninhalte/Theorien) unterschieden. Nur zwischen Welt2 und Welt3, die autonomes Produkt des Menschen sind, findet eine Interaktion statt, und nur in diesem Sinne ist die Welt2 für die Philosophie überhaupt von Interesse (cf. K.R. Popper, Objektive Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford 1972; dt.: Objektive Erkenntnis, Hamburg 1993; cf. bes. Kap. 3, p. 109 sqq.).
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Der philosophische Bewußtseinsbegriff
Nietzsches Selbsteinschätzung in Ecce homo: „Wer war überhaupt vor mir unter den Philosophen Psycholog ...? Es gab vor mir noch gar keine Psychologie."7 - darf nicht im Sinne eines Psychologismus verstanden werden. „Psycholog" ist er nur insofern, als er eine motivationale Fragestellung, eine spezifische Frage-Methode in die Philosophie eingebracht hat, die nicht nach dem traditionellen Was, sondern nach dem Warum und Wozu fragt. Er stellt keine Wesens-Fragen mehr, sondern Zweck- und Motivations-Fragen: Warum und Wozu muß z.B. an Wahrheit, Gerechtigkeit, an gut und böse geglaubt werden? Warum ist es für uns zweckmäßig, daran zu glauben, daß wir so etwas wie ein Bewußtsein haben? Nietzsche unterzieht so alle philosophischen Grundbegriife einer epistemischen Umwertung, indem er sie unter eine (existentielle) Wertschätzungs-Optik bringt, die Wesensfragen in Zweckfragen transformiert. Mit dieser Methodik bleibt er auch als „Psycholog" Philosoph; denn seine Stoßrichtung ist die Kritik an dem traditionellen Anspruch, daß mit diesen Begriffen etwas in objektiver Weise (endgültig) erkannt werde. (Eine Einzelwissenschaft wie die Psychologie muß z.B. voraussetzen, daß, wenn der Bewußtseinsbegriff zu einem ihrer Grundbegriffe zählt, diesem Begriff objektive Erklärungskraft zukommt, daß mit ihm tatsächlich etwas begriffen wird; die Philosophie hingegen und besonders diejenige, die auf dem Nietzschischen Reflexionsstand ist - hat auf begriffslogischer Ebene auch - und gerade - ihre Grundbegriffe zu begreifen - ihr bleiben so alle Grundbegriffe problematisch.) Die Verbindung der psychologischen Fragestellung mit der von Nietzsche avisierten Erkenntniskritik hat L. Klages schon herausgestellt: „Nietzsches EnthUllungsarbeit (...) gilt den generellen Selbsttäuschungen und vollendet sich mit der Aufrollung ihrer Geschichte: er ist der Entwicklungstheoretiker des Wertcharakters der Allgemeinbegriffe"* Seit Ende des 19. Jahrhunderts löste sich die Introspektionspsychologie in Einzeldisziplinen auf (Intelligenzforschung, Kognitionspsychologie, Wahrnehmungspsychologie, Gedächtnisforschung). Das sog. Bewußtseinsapriori wich der Betrachtungsweise genetischer Entwicklungspsychologien (Kohlberg, Piaget), die Bewußtsein und seine Leistungen auf dem Hintergrund psycho- und ontogenetischer Überlegungen zu verstehen suchten. Bemühungen, den Bewußtseinsbegriff generell aus der Wissenschaft zu extirpieren, werden in der Psychologie mittlerweile als gescheitelt angesehen.9 7 8
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Nietzsche, Ecce homo. Warum ich ein Schicksal bin, KSA6, p. 371. L Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches (1926), Bonn 1958, p. 57.- Klages sieht völlig Idar, wie Nietzsche zu lesen ist - als .Seelenforscher', nicht als „Kathederphilosoph". Zur Kritik an Klages, cf. W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph, Psychologe, Antichrist, Darmstadt 1982. Cf. C.-F. Graumann, „Bewußtsein und Bewußtheit. Probleme und Befunde der psychologischen Bewußtseinsforschung", in: Handbuch der Psychologie, Bd.l, l.Halbbd., eds. K. Gottschaidt u.a., Göttingen 1966, pp. 77 - 127, p. 109.- Graumann unterscheidet neun verschiedene „qualitative" Bestimmungen des Adjektivs „bewußf : 1. belebt, organisch, 2. beseelt, seelisch, 3. wach, 4. Oberhaupt empfindend, reizbar 5. unterscheidend, unterschieden, 6. mitteilbar, 7. aufmerkend, bemerkend, bemerkt, 8. vorsitzlich, absichtlich, regulativ, 9. wissend, inneseiend, gewußt (cf. ibid., p. 84 sqq.).- Cf. V. Schurig, „Bewußtsein", in: H.J. Sandkühler (ed.). Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, pp. 392 - 404, p. 394, Sp.a.- Cf. auch J.R. Searle, The Rediscovery of the Mind, Massachusetts 1992; dt.: Die Wiederentdeckung des Geistes, München 1993.
Der philosophische BewuBtseinsbegriff aus epistemischer Sicht
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In der qualitativen und funktionalen Bestimmung des Bewußtseins lassen sich in Philosophie und Psychologie einige inhaltliche Übereinstimmungen festmachen: 1. Bewußtsein wird als eine Art Begleitwissen aufgefaßt; es weist 2. Intensitätsgrade (klar, hell, trübe, dunkel etc.) auf; es wird 3. wesentlich durch die Eigenschaft der Intentionalität (Bewußtsein ist immer Bewußtsein von ...) beschrieben; auch gelten 4. Sprachlichkeit und Mitteilbarkeit als Charakteristika, die auf Bewußtsein hinweisen; und 5. wird in beiden Disziplinen die Reflexivität, die Möglichkeit, daß das Subjekt sich auf seine eigenen Bewußtseinesinhalte/zustände beziehen kann, besprochen: Bewußtsein ist Wissen um sich und seine BewußtseinsinhalteZ-zustände.- In formaler und wissenschaftstheoretischer Hinsicht besteht der grundlegende Unterschied zwischen der Psychologie und der Philosophie in der generell auszumachenden Differenz zwischen einer empirischexperimentell verfahrenden Einzelwissenschaft (Psychologie), für die sich in ihren Teilgebieten (Kognitions-, Wahrnehmungs-, Motivationspsychologie usw.) Bewußtseinesleistungen und Verhaltensweisen auf der Basis empirischer Datenerhebung nachweisen und auf der Wissenschaftsebene (Theorienbildung) zu nomothetischen Aussagen verallgemeinern lassen und einer ideothetischen und analytischen Allgemeinwissenschaft (Philosophie), die logisch-argumentativ vorgeht, und deren Grundbereich ihrer Forschung ihre eigenen Grundbegriffe (zu denen natürlich auch der BewußtseinsAegn/Γ gehört) in ihrer (eigenen) geschichtlichen Genese darstellen. So ist der Bewußtseins^eg/T/Tfür die Philosophie selbst ein problematischer Begriff, dessen Voraussetzungen, d.h. seine Stellung und Erklärungskraft innerhalb der kontextuellen philosophischen Begrifflichkeit, der Theorien und Systeme, stets mit zu reflektieren sind und nicht axiomatisch vorausgesetzt werden dürfen. Aus philosophischer Sicht müssen Bemühungen, wie sie in der heutigen Psychologie und teilweise auch in der analytischen Philosophie zu finden sind, Bewußtsein aus biologischen und neurophysiologischen Forschungsergebnissen herzuleiten bzw. zu erklären, problematisch erscheinen. Die Philosophie hat dem Bewußtseins^egr///'" im Rahinen ihrer Anthropologie, und wie vor allem bei Nietzsche ersichtlich, im Rahmen der Erkenntislheorie zu besprechen und mit deren methodischem Rüstzeug zu erfassen.
§4 Der philosophische Bewußtseinsbegrijf aus epistemischer Sicht. Skizzierung des gegenwärtigen Reflexionsstands Der philosophische Bewußtseinsbegriff wird auch heute noch, in der cartesianischen Tradition stehend, in einem erkenntnistheoretischen Rahmen (kontrovers) diskutiert, der im wesentlichen durch die Begriffe ¡Vissen und Gewißheit vorgezeichnet ist. Generell ist anerkannt 1 , daß
1
Cf. F.v. Kutschers, Grundlagen der Erkenntnistheorie, Berlin/New York 1982, p.12.
Der philosophische Bewußtseinsbegriff
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(1) W(a,p) 3 W(a, W(a,p)). (In Worten: wenn a weiß, daß p, dann weiß a (auch), daß er weiß, daß p.) Die Überlegung geht nun davon aus, daß ¡Visseη in der Antecedensbestimmung und dem 2. Glied des Konsequenzbestimmung eine andere Bedeutung hat als Wissen im 1. Glied der Konsequenzbestimmung. Wir nennen das erste epistemisches Wissen (WE) und das zweite bewußtes konkomitierendes Wissen (WB), so daß man nun schreiben kann: (2)
WE
(a, p) =>
WB
(a,
WE
(a, p)).
Nun ist Bewußtsein immer Bewußtsein in actu\ immer dann, wenn gedacht, gefühlt, gewußt wird, ist dies notwendig (N) mit Bewußtsein verbunden: ( 3 ) ( V t ) ( W E (a, ρ , t)) D N W B (a, t, W E (a, p , t)).
(In Worten: Immer (V) dann (Vt), wenn die Person a zum Zeitpunkt t die Proposition ρ weiß (WE), dann (=5) ist sie sich mit Notwendigkeit (N) bewußt (WB), daß sie (a) ρ zu diesem Zeitpunkt (t) weiß ( W E ) ) . WB ist kein propositionales Wissen, sondern unmittelbare Gewißheit. Es wird sich zeigen, daß gerade für Nietzsche keine Notwendigkeit dafür besteht, daß alle kognitiven Akte mit Bewußtsein verbunden sein müssen ( - die Formeln 2 bis 4 kann er nicht akzeptieren - ) : unser ganzes Denken/Fühlen/Wollen könnte sich, so Nietzsche, abspielen, ohne daß es uns bewußt zu werden braucht; WE und WB sind demnach für ihn nicht notwendig Momente eines Aktes. Die Formel (3) soll mit Hilfe des Allquantors und Notwendigkeitsoperators lediglich zum Ausdruck bringen, daß immer wenn gedacht, gefühlt, gewußt usw. wird, dies gleichzeitig und notwendig mit Bewußtsein verbunden ist: WE und WB sind, so kann man sagen, Momente eines Aktes/Zustands, so das gelten soll: (4)
WE
=> W B df= - . M (WE
A
-,
WB);
denn anders kann nicht gedacht, gefühlt, gewußt werden. Dabei ist unerheblich, ob richtig oder falsch gedacht wird, gleichgültig, was gefühlt, vorgestellt, wahrgenommen oder gewollt wird oder ob das propositionale Wissen einem Sachverhalt entspricht oder nicht2 - entscheidend ist die Gewißheit, daß Propositionen meine sind. 3 - An dem Begriff der unmittelbaren Gewißheit wird sich Nietzsches 2
3
Hierbei ist nur wesentlich, daß man glaubt zu wissen, denn es gilt: G (a, ρ) - . WB (a, - . WE (a, ρ)). Glauben (als die st&rkste Form des FQrwahrhaltens) kann auch als subjektive Gewißheit interpretiert werden (cf. F. ν. Kutschern, Grundfragen der Erkenntnistheorie, op. cit., p. 14 et p. 15, Anm. 20). W. Hogrebe unterstreicht besonders den „possessiven" Charakter des Bewußtseins; er spricht in diesem Zusammenhang von einem „epistemischen" .Märtyrertum' unserer eigenen doxastischen Einstellungen als ein „Wissen" um diese. Ein ,Zeuge" kann, so Hogrebe", irren, aber er ist deshalb doch ein .Dabeigewesener' (cf. W. Hogrebe, Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Système orphique de Iena), Frankfurt/M 1992, p. 90).
Der philosophische Bewußtseinsbegriff aus epistemischer Sicht
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Kritik an der Hypostasienmg des traditionellen abendländischen Bewußtseinsbegriff entzünden. Alles, was uns überhaupt in irgendeiner Weise bewußt werden kann, ist durchgängig über Zeichen vermittelt, so daß von einer Unmittelbarkeit keine Rede sein kann; unmittelbares Wissen (also Wb) ist für ihn eine reine contradictio in adjecto, um nicht zu sagen barer Unsinn. Das Bewußtsein wird in jüngster Zeit auch als Fallibilitäts-Raum verstanden, in dem Denken als Verstehen von etwas als etwas begriffen wird und die darin implizierte Möglichkeit der Differenz von Sätzen (Urteilen) und tatsächlichen Sachverhalten (Tatsachen)4 hervorgehoben wird. Bewußtsein wäre als Umschlagsort einer (je vorläufigen) Welt- und Selbstinterpretation aufgrund von Zeichen und Interpretationsschemata ein universeller Korrekturraum, der wesentlich durch eine Offenheit bzw. Flexibilität gegenüber ontisch (und ontologisch) erstarrten Interpretationen charakterisiert ist - der Freiraum5, der Denken (und Irren) und Anders-Denken überhaupt erst ermöglicht. Das Bewußtsein ließe sich so auch als transzendentaler Interpretationsraum beschreiben, als formale Bedingung des Zeichengebrauchs und gleichzeitig als Existenzgrund des denkenden, wollenden und fühlenden Subjekts verstehen6, wie man in Anlehnung an Kant sagen kann. „Bewußtsein", schreibt Hogrebe, „ist gerade das, was der Fall ist, wenn jemand existiert [Hervorhebung - E.S.] und ihm propositionale Gehalte auf irgendeine Art gegeben sind."7 Er unterscheidet vier funktionale Momente des Bewußtseins: „Begleitendes Bewußtsein" (= Konkomitanz-Funktion), die „Pronominalität des Bewußtseins" (= Referenzialität als Vektor aller möglichen inhaltlichen Bestimmungen; Bewußtsein von ...; materiales Bewußtsein)8, die .Kleinigkeit" (= epistemische Einstellungen konstituieren
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Cf. L. Wittgenstein, Tagebücher 1914 - 1916, in: Werkausgabe (Bde. 1 - 8), Bd. 1, Frankfurt/M 1984, Eintrag vom 21.10.1914, p. 105: „Der Satz muß die Möglichkeit seiner Wahrheit enthalten ... Aber nicht mehr als die Möglichkeit."- (Cf. auch Tractatus, 3.02: „Der Gedanke enthält die Möglichkeit der Sachlage, die er denkt Was denkbar ist, ist auch möglich." - Und: Tractatus, 4.031: „Im Satz wird gleichsam eine Sachlage probeweise zusammengestellt") 5 Cf. J. Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989, p. 91.- „Denken", schreibt Simon, „erlebt sich als Freiheit der Interpretation gegenüber früheren Interpretationsansätzen." (ibid., p. 94) Bewußtsein ist für Simon eben jener Umschlagsort von Zeichen, die, problematisch geworden, uminterpretiert werden.- Diese Uminterpretation ist Bewußtsein: Möglichkeit („Freiheit"), etwas als nun etwas anderes verstehen zu können. Bewußtsein ist somit der Zei thorizont, in dem jede Interpretation ihre Zeit hat (cf. ibid., p. 97). 6 In dem Possessivpronomen mein ist nach Hogrebe ineins „personale Existenz und Gegebensein eines propositionalen Gehalts" (W. Hogrebe, MuM, op. cit, p. 94) ausgedrückt Dies zeigt sich nach Hogrebe auch in dem Axiom der „Existenzgeneralisierung" (ibid., p. 93): „(... a, p) = (3x) [(x=a) & (... x, p.)]" (ibid.). Eine gegebene Proposition F(a) ist äquivalent damit, daß es ein χ gibt (3x) und daß dieses mit mir (bzw. mit .Irgendjemandem' ) identisch ist, so daß Fa s (3χ) (Fx λ x=a) (cf. Wittgenstein, Tractatus, 5.47). 7 W. Hogrebe, MuM, op. cit, p. 94. 8 Diese seinserschließende Funktion des Bewußtseins wird ähnlich - allerdings ohne die damit verbundene Referenz-Problematik - von Sartre konstatiert: „La conscience est conscience de quelque chose: cela signifie que la transcendance est structure constitutive de la conscience; c'est-à-dire que la conscience naît portée sur un être qui n'est pas elle." (J.P. Sartre, L'Etre et le Néant. Essai d'ontologie phénoménologique, Paris 1943, Edition Gallimard, p. 28.
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Der philosophische Bewußtseinsbegriff
prinzipiell eine Haben-Relation: Ich habe Ahnungen, Vermutungen Gedanken)9 und die „Intersubjektivität"10 (= Erste-Person-Äußerungen sind immer auch Äußerungen von irgendjemandem).- Die „Fundamente" unseres Bewußtseins sieht Hogrebe in einer noch vorsprachlichen mantischen Deutungsnatur, in einer „pronominalen Ausrichtung"" (Referenzialität), die man als gespannte Offenheit für For-Zeichen umschreiben könnte. In dieser Gespanntheit hat das Dasein, um mit Heidegger zu reden, die „ontische Auszeichnung", „ontologisch"12 zu sein; es geht ihm „in seinem Sein um dieses Sein selbst"13. Sartre kann mit recht nun für Dasein Bewußtsein („conscience") einsetzen und Heideggers Bestimmung dahingehend interpretieren, daß das „Bewußtsein" ein Sein ist, „dem es in seinem Sein um sein Sein geht"14. Das Bewußtsein bewirkt (auch in einem zeitlichen Verständnis), daß das Dasein Sorge um seine Existenz trägt. Mit der SorgeVerfassung des Daseins kommt dann auch die Zeitlichkeit in den Blick. Es wird zu zeigen sein, wie Nietzsche die Zeitlichkeit in die Bewußtseinsproblematik mit einbezieht und in ihr (wie auch im Bewußtsein und allen rationalen Leistungen des Subjekts) eine defizitäre Notwendigkeit sieht, die - dessen ungeachtet - für alles Bewußtsein konstitutiv ist.
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Dies drückt sich auch in der Verbvalenz aus: ahnen, vermuten, glauben usw. sind bivalente Verben: a ahnt, vermutet, glaubt p. W. Hogrebe, MuM, op. cit., p. 96. Ibid., p. 39. M. Heidegger, Sein und Zeil, Tubingen l2 1972, p. 12. Ibid. Sartre, L ' Être et le Néant, op. cit., p. 29: „(...) la conscience est un être pour lequel il est dans son être question de son être (...)."
II Nietzsches Kritik am traditionellen Bewußtseinsbegriff
§5 Descartes Descartes ist für Nietzsche „der Vater des Rationalismus"1, der entgegen der platonistischen Vorstellung, daß „Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel", „auf Gott", „zugehen"2, nun allein die Vernunft für das Erlangen von Wissen autorisiert. Das endliche Erkenntnissubjekt muß sich seit der Neuzeit als Garant überzeitlicher Wahrheit bewähren, muß im Bewußtsein das unerschütterliche Fundament des Wissens sehen. Das fundamentum absolutum et inconcussum veritatis glaubte Descartes in dem Gedanken des „ego cogito, ergo sum"3 mit Evidenz gefunden zu haben. Daß Nietzsche Descartes nur aus zweiter Hand gekannt haben soll'1, schmälert nicht die tiefgründige Auseinandersetzung mit diesem Autor, bei der er sein ganzes kritisches Repertoire ins Feld führt, um eben auch den Rationalismus an seiner Wurzel zu fassen, indem er ihn auf seine Voraussetzungen hin befragt: „Wenn ich den Vorgang zerlege", schreibt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse, „der in dem Satz ,ich denke' ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist,- zum Beispiel,
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Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 191, p. 113. Ibid. 3 R. Descartes, Principia philosophiae, in: Œuvres de Descartes, ed. C. Adam/P. Tannery, Bd. VIII/1, Paris 1982, p. 7. „Ac proinde haec cognitio, ego cogito, ergo sum, est omnium prima & certissima, quae cuilibet ordine philosophant! occurrat." (ibid.) 4 So jedenfalls Heideggers Einschätzung (cf. M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen M 961, Bd. 2, p. 174.) Eine erste Bekanntschaft mit Descartes, abgesehen von der vorhergehenden Vermittlung durch Schopenhauer - in GT ist Descartes Supposition eines Deus benignus schon erwähnt - , hat er 1872 durch die Vermittlung seines Zimmergenossen Heinrich Romundt machen können, der am 9.7.1872 die Meditationes de prima philosophia und die Principia philosophia in der Baseler Universitätsbibliothek ausgeliehen hat.- Vermittler ist auch A. Spir, dessen Werk Denken und Wirklichkeit, 2 Bde., Leipzig 1873) von Romundt am 14 .3. 1873 zum ersten Mal ausgeliehen wurde. Das Werk befindet sich auch in Nietzsches Privatbibliothek. Cf. auch Nietzsche, Nachlaß (August - September) KSA11, wo er sich mit Spirs Descartes-konformer Interpretation kritisch auseinandersetzt. Cf. bes. Denken und Wirklichkeit, Leipzig 4 1908, Kap. I (,£>as unmittelbar Gewisse") : „Alles, was ich in meinem Bewußtsein vorfinde, ist als bloße Tatsache des Bewußtseins unmittelbar gewiß." (ibid., p. 13) - Unmittelbare Gewißheiten gibt es nach Nietzsche nicht (cf. Nietzsche, Nachlaß KSA11 (40 [23]), p. 640 - Zur Ausleihliste cf. Luca Crescenzi, „Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869 -1879)", in: Nietzsche-Studien, Bd. 23 (1994), pp. 388 - 442. 2
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Nietzsches Kritik am traditionellen Bewußtseinsbegriff
(1) dass ich es bin, der denkt, (2) dass überhaupt ein Etwas sein muss, das denkt, (3) dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, (4) dass es ein ,Ich' giebt, endlich, (5) dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist,— (6) dass ich weiss, was Denken ist."5 Die Liste zeigt die kryptischen Voraussetzungen, die in dem einfachen Ich denke gemacht sind. Mit ihr wird ferner Nietzsches Kritik am Bewußtseinsbegriff ( 1), dem Substanzbegriff (2), dem Kausalitätsbegriff (3), dem Subjektbegriff (4), dem Referenzbegriff/Sprachbegriff (5) und dem Erkenntnisbegriff (6) angesprochen. Die stärkste Stoßkraft zielt auf die cartesianische Gründungsformel des Rationalismus, daß in dem cogito eine „unmittelbare Gewißheit"6 liege, eine gleichsam voraussetzungslose, „reine"7 Erkenntnis. „Unmittelbare Gewißheit" ist, wie „absolute Erkenntnis", für Nietzsche, wie schon erwähnt, eine „contradictio in adjecto" 8 , denn Erkennen ist per se immer vermittelt über Zeichen und grammatische Strukturen, deren Genese mehr oder weniger willkürliche und kontingente Züge aufweisen. Erkennen ist zudem für Nietzsche nur ein Erkennen/n toen, eine defizitäre Notwendigkeit, die der bloßen Existenzsicherung dient; sie kann durch diese Zweckgebundenheit schon nicht mehr „rein" genannt werden. Ein weiterer Punkt, der oben angesprochen wird, betrifft das Prädikat (denken) der Formel: bevor denken prädiziert werden kann, muß der Vorgang des Denkens semantisch identifiziert sein (5); ich muß schon - vorab, d.h. dann auch nicht mehr unmittelbar - wissen, daß es Denken - und nicht etwa „.Wollen oder Fühlen'" 9 ist, das in Frage steht. Es ist diese vergleichende „Rückbeziehung auf anderweitiges .Wissen'" 10 (6), das allein schon die Rede von der Unmittelbarkeit obsolet macht. Das Cartesische ego ist nach Nietzsche eine unbewußte Ableitung, die dem grammatischen Subjekt-Prädikat-Schema folgt: „ ,Ich' ist Bedingung, ,denke' ist Prädikat und bedingt" 11 . Descartes gelangt über dieses Schema zu dem Begriff einer denkenden Substanz zu der dann Denken als akzidentieller Modus hinzugedacht wird; das Ich (2) wird als ursächliche (3) Substanz (2) gedacht, von der Denken eine Wirkung (3) ist. Das Substanz-Akzidens-Schema spiegelt sich syntaktisch in dem Agens-Patiens-Schema wider: das Ich ist Ursache des Denkens: „,Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes'" 12 . Nietzsche favorisiert das 5
Nietzsche, JGB. KSA5,, Nr. 16, p. 29 sq.- (Gliederung und Numerierung - E.S.) Ibid., p. 29; cf. auch KSA11. (40 [20] ), ( 40 [23] ), (40 [24] ), (40 [25] ). 7 Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 16, p. 29. 8 Ibid. 9 Ibid., p. 30. 10 Ibid. " Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 54, p. 73. 12 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [22] ), p. 639. 6
Descartes
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umgekehrte Verhältnis13 : Denken ist Bedingung, Ich ist Bedingtes, d.h. die durch „grammatische Gewöhnung" veranlaßte Besetzung der Subjektstelle (als Hypokeimenon) muß in jedem Falle vorgenommen werden, weil anders als in diesem Sprach-Schema nicht gedacht werden kann. Da die „Grammatik" sich bei Nietzsche als „Struktur" darstellt, „die noch jeder Reflexion als Bedingung ihrer Möglichkeit vorausliegt"14, darf sie als Form, (als Satz-AJrteils-Forw) selbst nicht in den Blick genommen werden, wenn in ihr/mit ihrer Hilfe Gültiges, Wahres oder Evidentes zum Ausdruck gebracht werden soll, wie z.B. Ich denke. Man kann nur noch an sie glauben, so als sei die Form voraussetzungslos. Diese latente Voraussetzung, die in der indoeuropäischen Satzstruktur liegt und das Denken wenn überhaupt gedacht werden soll - leitet, hat Descartes nach Nietzsche nicht gesehen. Zwar hat er den „alten Seelen-Begriff'13 durch den Bewußtseinsbegriff abgelöst, indem er nun alle kognitiven Leistungen als die eines selbstbewußten Ichs (1) verstanden wissen wollte, aber hierin, so Nietzsche, konstituiert sich keine unmittelbare Gewißheit, sondern ein über die sprachliche Vermittlung bedingtes Unvermögen alles Bewußten überhaupt.16 Auch wenn man das ,ich denke' umformt in ein „es denkt"17, so bleibt dennoch der „Glaube", „daß .denken' eine Thätigkeit sei, zu der ein Subjekt (zum mindesten ein ,es') gedacht werden müsse"18. Das Satzschema fordert auch selbst dann ein Hypokeimenon, wenn man das Indefinitpronomen wegläßt und passivisch nur „cogitatur" setzt; auch dann wird damit kein .nackter' „Thatbestand" hingestellt, sondern „das .Glauben' und .Meinen' steckt"" auch noch in dieser Form, d.h. auch diese Konstruktion läßt uns unwillkürlich (gleichsam schon vor-bewußt) nach einem Agens suchen. Wenn in dem Satz cogito ergo sum das sum (bzw. est) wahr wäre, so überlegt Nietzsche weiter, dann wäre das „eine Gewißheit auf Grund zweier richtiger Urtheile"20 (cogito und est) - und Urteile, in denen wir Wissen/Erkanntes artikulieren, sind schon formal mittelbar, indem in ihnen Begriffe, d.h. vorgängig 13
Cf. JGB, KSA5, Nr. 54, p. 73: „ ,Ich' also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird." 14 J. Simon, „Grammatik und Wahrheit Ober das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition", in: J. Salaquarda (ed.), Nietzsche (= Wege der Forschung, 521), Darmstadt 1980, pp. 185 - 218, p. 216 sq., Anm. 62. 15 Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 54, p. 73. 16 Cf. Nietzsche, Antichrist (A), KSA6, Nr. 14, p. 181: „(...) wir leugnen, dass irgendetwas vollkommen gemacht werden kann, so lange es noch bewuBt gemacht wird." Der bewußte Mensch ist nach Nietzsche „das missrathenste Thief" (ibid., p. 180). Cf. G. Planty-Bonjour, „Nietzsche und das .Cogito' des Descartes", in: H. Busche/G. Heffeman/D. Lohmar (eds.), Bewußtsein und Zeitlichkeit. Ein Problemschnitt durch die Philosophie der Neuzeit, (= Festschrift für G. Schmidt), Würzburg 1990, pp. 159 172, p. 165: „Descartes hat das Cogito überschätzt, weil er unfähig war zu verstehen, was ihn behaupten ließ, daB das Cogito eine unmittelbare Gewißheit sei. Nietzsche deckt in der Sprache den Ursprung der Illusion au£ die dazu führt, die Substantialisierung des Ego und das Primat des Bewußtseins zu gestatten." (Aus dem Franz. v. C. Brauers u. H. Busche.) 17 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [23] ), p. 639. 18 Ibid. 19 Ibid. 20 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [24] ), p. 641.
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Nietzsches Kritik am traditionellen Bewußtseinsbegriff
gewußte Bedeutungen verknüpft werden; man muß schon wissen, was überhaupt veiknüpfbar ist; man muß auch voraussetzend glauben, daß in dem Satz-Schema sich etwas überhaupt sinnvoll verknüpfen läßt. Nietzsche interpretiert das „ergo" der cartesianischen Formel als logische Schlußpartikel21, was auf einem Mißverständnis beruht, gegen das sich Descartes schon seinerzeit zu wehren hatte. Durch Anwendung einer Schlußform wäre das sum nach seinem Verständnis nicht mehr unmittelbare Gewißheit, sondern (durch eine logische Operation) vermitteltΡ Nun muß diese, Nietzsches Intention entgegenkommende Kritik an Descartes auch nicht mehr greifen; es genügt zumindest im Sinne Nietzsches - gezeigt zu haben, daß in dem ,ich denke' allein schon Voraussetzungen (1 - 6) gemacht sind, die großenteils in der von Descartes noch nicht durchschauten Sprachmetaphysik liegen, die schon in der Form der Aussage begründet sind. Durch die Auflistimg der Voraussetzungen ist die durch Descartes auf den Weg gebrachte Hypostasierung des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins sowie die auf diesen Fundamenten gründende Vernunft relativiert. Von dem Angriff auf den Gewißheitsbegriff ist auch der cartesianische Wahrheitsbegrijf („illud omne esse verum, quod valde clare & distincte percipio"23 ) betroffen: „die logische Bestimmtheit" und „Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit"24 beruht auf dem Glauben, daß Veritas est adaequatio intellectus ad rem\ aber „zwischen Subjekt und Objekt"25, zwischen diesen „absolut verschiedenen Sphären" „giebt es keine (...) Richtigkeit"26; es gibt keine „richtige Perception", keinen „adäquate(n) Ausdruck eines Objekts im Subjekt"27. Descartes vermag den Subjekt-Objekt-Hiatus nicht zu überbrücken; es bedarf der (moralischen) Zusatzhypothese eines Deus benignus, um den transbewußten Bereich der res extensa für die Möglichkeit von Wahrheit als adaequatio intellectus et rei zu sichern.2® Das clare et distincte percipio ist kein objektives Wahrheitskriterium, sondern ein subjektives Bewußtseinsphänomen - über die Wirklichkeit ist damit nichts in einem objektiven Sinne ausgemacht. Das „moralische Vorur21
Cf. ibid. et Nietzsche, Nachlaß, KS Al 2 (10 [138]), p. 349: „Reduziert man den Satz auf ,es wird gedacht, folglich [Hervorhebung- E.S.] gibt es Gedanken', so hat man eine bloße Tautologie." 22 Daraufhat schon Schelling aufmerksam gemacht Außerdem, so Schelling, fehlt der Obersatz „Omne, quod cogitat, est", so daß sich mit dem Untersatz „Atqui cogito" der Schlußsatz „Ergo sum" ergäbe (F.W.J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833/34), in: Ausgewählte Schriften, 6 Bde., ed. M. Frank, Frankfiirt/M 1983, Bd. 4, pp. 417 sqq., p.425).- Cf. G. Schmidt, Aufklärung und Metaphysik, Tübingen 1965.- Cf. Nietzsche, JGB, KS A3 Nr. 17, p. 31 sq.: , 3 s denkt: aber dass dies ,es* gerade jenes alte berühmte ,Ich* sei, ist (...) nur eine Annahme (...), keine .unmittelbare Gewißheit' ". „(...) schon dies ,es* enthält ein e Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgang selbst Man schliesst [Hervorhebung - E.S.] hier nach der grammatischen Gewohnheit, Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist, folglich - ' " . 23 24 25 26 27 28
R. Descartes, Meditationes (Medit teitia), op. cit, p. 33. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 2 (9 [91] ), p. 386. Nietzsche, WL, KSA1, p. 884. Ibid. Ibid. Cf. dazu Nietzsche, GT, KSAI, p. 86; SGT, KSA1, p.625; Nachlaß, KSA11, (36 [30] ), (39 [13] ), (40 [10] ) und KSA12, (2 [93] ).
Descartes
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teil"29, daß die Dinge (und Gott) sich dem Erkenntnissubjekt gegenüber wahrhaftig verhalten - Nietzsche spricht hierbei auch von einer „moralischen Ontologie" - , kann, so Nietzsche, selbst wieder unter die Nützlichkeits-Perspektive eines Glaubens an die Wahrheit zum Zwecke der Berechenbarkeit der Wirklichkeit (d.h. deren Zurechtmachung) fallen.30 In gleicher Weise können die Reflexionen des Subjekts auf das Subjekt eine zweckmäßige Fehlinterpretation sein, die aus der für Nietzsche übergeordneten Direktive eines universellen Willens zur Macht motiviert ist31; das Ich, die „Subjekt-Einheit", der Glaube an ein Selbstbewußtsein als unbezweifelbare Tatsache der Ichheit (im Sinne Descartes') könnten immerhin verfälschende oder zweckmäßige Grundannahmen (Vorurteile) sein, nach denen wir die Welt und uns selbst auslegen - auslegen müssen.- Die Frage nach der Wahrheit, nach dem Subjekt, nach dem Selbstbewußtsein wird von Nietzsche in Fragen nach der Werthaftigkeit eines Glaubens an Wahrheit Subjekt und Selbstbewußtsein überführt. Es ist demnach völlig konsequent, wenn er (entgegen Descartes) bezweifelt, daß das Subjekt sich selber erkennen könne.32 Schon der frühe Nietzsche bestreitet die gläserne Existenz des Menschen. Wir sind in unserem „Bewußtseinszimmer"33 gefangen, und es gibt keine Möglichkeit uns von einer Außenperspektive in den Blick zu nehmen. Dies impliziert, daß wir keinen privilegierten Zugang zu unserem Bewußtsein haben können, wie es das ReflexionsModell des Selbstbewußtseins uns nahelegen will.34 Ein Privileg ist schon dadurch vereitelt, daß Bewußtsein zeichenvermittelt ist und durch diese Vermittlung nicht als reiner oder apriorischer Grund von immittelbarer Durchsicht in Frage kommen kann. Nietzsche vertritt die Ansicht, daß Descartes nicht gründlich genug gezweifelt habe, sonst hätte er bemerken müssen, daß (i) der Zweifel semantisch präformiert (das, was bezweifelt wird, muß vorher semantisch bestimmt und anerkannt sein) 29 30
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Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [10] ), p. 632. Im Nachlaß heißt es: „(...) ,ich will nicht betrogen werden' könnte das Mittel eines tieferen feineren gründlicheren Willens sein, der gerade das Umgekehrte wollte; nämlich sich selber betrügen." (Nachlaß, KSA11,(40 [20] ), p. 638) Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [21] ). Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSAU (40 [20] ).- Es gibt nach Nietzsche keinen archimedischen Punkt außerhalb des Subjekts bzw. des Bewußtseins, von dem aus das Subjekt gleichsam als reines Objekt zu erreichen wire. Er nennt aus diesem Verständnis heraus Descartes einen ,Jiarmlose(n) SelbstBeobachter" (cf. JGB, KS A3, Nr. 16, p. 29 sq.). Nietzsche, WL, KSA1, p. 877. Cf. M. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum ausAnlaß ihrerfostmodernen'Toterklärung, Frankfurt/M 1986, p. 30 sq. Frank sieht in Descartes einen typischen Vertreter des „Reflexions-Modells des Selbstbewußtseins" (ibid., p. 30) und zitiert: „Etre conscient, c'est assurément penser et réfléchir sur sa pensée", (ibid.) Auf Burmans Einwand, „vous n'êtes pas conscient de penser, mais d'avoir pensé" (ibid.), antwortet Descartes, dies sei möglich, „parce que (...) l'âme peut penser plusieurs choses en même temps (...)". (ibid., p. 31) - Descartes löst - für sich - das Problem, indem er den Denkvorgang („penser") und den Reflexionsvorgang („réfléchir sur sa pensée") als Modi der res cogitans bzw. der Seele auffaßt, so daß eine „inspection de l'esprit" (ibid., p. 31) nun plausibel erscheinen kann. Allerdings ist damit die von Burman implizit angesprochene subtile Zeitproblematik unterschlagen, die wir in ähnlicher Form bei Nietzsche noch zu besprechen haben, (vid. Kap. III, §11.3 der Arbeit)
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Nietzsches Kritik am traditionellen Bewußtseinsbegriff
und (ii) syntaktisch-formal vorstrukturiert ist (der Zweifel hat propositionalen Charakter, weil in ihm etwas als etwas, das nicht mehr der Fall ist, gedacht wird): Zweifel setzt Affirmation und damit überhaupt erst die Möglichkeit der Negation voraus; denn wer an allem zweifeln wollte, der käme auch nicht einmal bis zum Zweifel (Wittgenstein). Wittgensteins Einsicht besagt genau das, was Nietzsche Descartes prinzipiell vorwirft, daß nämlich auch der Zweifel noch vor dem Inhalt des Zweifels seine Voraussetzungen hat, durch die er überhaupt erst möglich wird. Descartes ist bei dem Versuch einer Grundlegung eines unbezweifelbaren Wissens im Selbstbewußtsein in den Mythos eines voraussetzungslosen Anfangs im Denken zurückgefallen; er ist darin für Nietzsche oberflächlich35. Nach Nietzsche führt der Zweifel nicht in die Gewißheit eines zweifelnden Subjekts. Um die Möglichkeit einer ,JScheinexistenz des Subjekts"36 zu autorisieren, greift er auf die „Vedanta-Philosophie" zurück und beruft sich auf Kant, um gegen Descartes' Subjekt-Begriff zu argumentieren.37 Der Vedânta kennt die Subjektauslöschung, wenn der Âtman (persönliche Seele, Geist, Selbst)38, die individualisierte Ausdrucksform des Brahman ( das einzige, allumfassende, ewige Seiende, das Absolute) in die Identität seines Ursprungs, der das Brahman ist, eingeht. Im Chändogya-Upanishad wird dieser Zustand mit dem traumlosen Tiefschlaf verglichen.39 Nietzsche adaptiert die „Vedanta-Philosophie" - Vermittler ist sein Freund, der Indologe Paul Deussen - besonders unter dem Erlösungs-Aspekt; die Subjektaufgabe wird von ihm „als Freiwerden von allem Wahne, als .Wissen', als »Wahrheit' und als ,Sein'40 interpretiert. Der Mensch, „vereinigt mit dem Seienden, in sich selbst (...) eingegangen,- von dem erkenntnisartigen Selbste umschlungen [,] hat (...) kein Bewußtsein mehr von dem, was aussen oder innen ist."41 Nietzsche bedient sich der Spekulation der VedantaPhilosophie, um die „Möglichkeit einer Schein-Existenz des .Subjekts'"42 erwägen zu können, und um der Hypostasierung der mit Descartes einsetzenden Subjekts- und Bewußtseinsphilosophie entgegenzuwirken. Wenn sich aber das Subjekt vom Subjekt aus nicht beweisen läßt, und wenn es nach Nietzsche nur die subjektive Perspektive gibt, dann sind damit unüber35 36 37
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Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [93]), (9 [106]), (9 [178]), passim. Nietzsche, JGB, Nr. 54, KSA5, p. 73. Die Behauptung, ,JCant wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne" (JGB, loc. cit.), ist sicherlich überzogen. Das transzendentale Subjekt der Apperzeption ist Voraussetzung, daß alles Denken mein Denken sein kann, also zu meinem Bewußtsein gehören kann. Wenn gedacht, vorgestellt, gezweifelt usw. wird, dann ist dies, will Kant sagen, notwendig mit Selbstbewußtsein verbunden, auch wenn des Subjekt des Denkens nicht unter einer Kategorie begriffen - und schon gar nicht bewiesen - werden kann. Cf. H. Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, (Orig.: Philosophies of India, New York 1951, ed. J. Campbell), trad. L. Heyer-Grote, Frankfurt/M 1973, p. 83. Cf. Upanishaden. Die Geheimlehre der Inder, ed., trad, et introd. A. Hillebrandt, Düsseldorf/Köln 1977, p. 129: „Nicht weiß ja dieser [= der entsubjektivierte Schläfer - E.S.] in solcher Lage in bezug auf sein Selbst: ,Das bin ich', auch nicht, ,(das sind) die anderen Wesen'." Cf. Nietzsche, GM, KSA5, Nr. 17, p. 380. Ibid., p. 581. (Nietzsche zitiert hier aus: P. Deussen, Das System des Vedânta, Leipzig 1883.) Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [16] ), p. 636.
Descatres
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schreitbare Grenzen des Bewußtseins bezeichnet, innerhalb derer die Reflexion auf Bewußtes immer wieder auf das reflektiert, was in Frage steht, gerade das zur Voraussetzung hat, was zu beweisen wäre. Wir hätten hier eine iterierende petitio principii, einen irrsinnigen Bewußtseinssolipsismus vor uns, in den wir hypnagogisch (traumatisch) verstrickt wären. Es wäre dies ein System, das eine absolut hermetische Welt43 beschreibt, in der Beweise oder Gewißheiten immer nur wieder von dieser Welt wären. Nietzsche setzt der durch Cartesius begründeten „kleinen Vernunft" die „große Vernunft" des .Leibes'44 und dem Ich das Selbst45 entgegen: der „Geist" glaubt in der Gewißheit zu „Ende"44 zu kommen, aber hinter ihm steht ein dem Bewußtsein transzendentes „Selbst"47 (die „große Vernunft"), dem er nur Mittel zu seinem Zweck ist. Daß sich das Subjekt als Grund und Ursache seines Fühlens, Wollens und Denkens bewußt ist, und an ein fundamentum absolutum glaubt, ist nach Nietzsche eine List der Großen Vernunft; denn ohne diesen Glauben würde ihr 'Werkzeug' nicht funktionieren. Heideggers Diktum, Nietzsche habe die Vollendung der metaphysischen Grundstellung des Descartes entfaltet, nur daß alles aus dem Bezirk des Vorstellens und des Bewußtseins (der perceptio) in den Bezirk des appetì tus, der Triebe, verlegt und unbedingt aus der Physiologie des Willens zu Macht gedacht sei48, trifft teilweise zu49 ; denn die Ersetzung des cartesianischen Ichs durch den Begriff „Selbst bzw. den des ,¿eibe¿\ kann durchaus als eine naturalisierende Metaphysik aufgefaßt werden. Wie schon dargelegt, bedeutet cogitare bei Descartes nicht nur denken , sondern auchföhlen, wollen usw., was Nietzsche bei seiner Argumentation gegen Descartes unberücksichtigt läßt. Er baut seine Kritik einzig auf der Bedeutung denken auf, so daß aus heutiger Sicht gefragt werden muß, ob nicht doch eine unmittelbare Gewißheit vorliegt, wenn z.B. jemand Schmerzen hat, so daß eben die Possessivität von Schmerzen-haben unbezweifelbar und auch unmittelbar wäre. Nietzsche jedenfalls muß, will er konsistent argumentieren, diese Unmittelbarkeit ablehnen: auch Schmerzen-haben ist das Ergebnis einer Interpretation, weil - wie wir noch sehen werden - der Reiz, die als Schmerz identifizierte Reizung auf einem vorgängigen InterpretationsgescAeAert beruht.
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Cf. Wittgenstein, Tractatus, 5.63: „Ich bin meine Welt." et 5.632: „Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt." Nietzsche, Za, Von den Verächtern des Leibes, KSA4, p. 39. Ibid. Nietzsche setzt dagegen: „Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende." (ibid.) Eine andere Bezeichnung für das Selbst ist der Ausdruck Wille zur Macht. Cf. M. Heidegger, Nietzsche, op. cit., Bd. II, p. 187. Heidegger unterschlägt allerdings, daß der Begriff des Leibes durch den des Selbst bzw. den des Willens zur Macht ersetzt werden kann. Die Rede vom Willen zur Macht gehört aber in die Exoterik Nietzsches - der esoterische Nietzsche weiß, daß es keinen Willen gibt, daß Wille genauso wie Subjekt, Ich und Bewußtsein lediglich zweckgebundene Fiktionen sind. (Zu dieser Thematik jedoch an späterer Stelle.)
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Nietzsches Kritik am traditionellen Bewußtseinsbegriff
Wir haben es hierbei mit einer noch vorsprachlichen, einer rein kausalprojektiven Vermittlung zu tun, die den Reiz aus dem physiologischen Gesamtgeschehen als etwas Isoliertes herausgreift und somit eine (noch private) Referenz herstellt. Diese bei Nietzsche thematisierte Problematik ist der Wittgensteinschen Privatsprachen-Thematik noch vorgelagert.
§6 Leibniz Nietzsches Kritik an Leibniz bezieht sich im wesentlichen auf dessen Piatonismus 1 , der in dem Glauben an ,ewige' „Begriffe", „Werthe", „Formen" und „Seelen" 2 zum Ausdruck kommt. Leibniz ist wie Kant zum „Hemmschuh" 3 geworden, weil er die platonische „Mythologie" 4 aeternalischer Begriffe und Wahrheiten durch die Wertschätzung der Allgemeinbegriffe weiter tradiert hat und so die „Fortentwicklung" 5 verhinderte. Er hat damit das in der platonischen Tradition stehende christliche Dogma, daß die wirkliche Welt nicht die wahre ist, daß das Allgemeine, das Festgesetzte das Geistige ist, gegen die in der Renaissance einsetzende Strömung, die das Leben 6 mit seinen wechselnden Affekten und Strebungen an die Macht bringen wollte, restauriert. Die allgemeine Kritik 7 an Leibniz hat mit Bezug auf dessen Bewußtseinsthematik ihre Ausnahme und trägt teilweise sogar Züge der Bewunderung, wenn er von dessen „unvergleichliche(n) Einsicht" 8 spricht, „dass die Bewußtheit nur ein Accidens der Vorstellung, nicht deren nothwendiges und wesentliches Attribut"' ist. Diese hohe Einschätzung wird auch dadurch unterstrichen, daß Leibniz in dem die Bewußtseinstheorie Nietzsches zusammenfassenden längeren Aphorismus Nr. 354 aus der Fröhlichen Wissenschaft als Vordenker gepriesen wird, an dessen Einsicht er ausdrücklich anknüpft. Leibniz erweiterte die Bewußtseinsthematik um den Begriff des Unbewußten, indem er die Perzeption von der Apperzeption, dem eigentlichen Bewußtsein
1
Cf. Nietzsche, A, KSA6, Nr.10, p.176 sq.; Nachlaß, KSA11, (34 [73] ), (34 [82] ), (34 [92] ), (38 [14]), (41 [4]), (42 [3]). 2 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (38 [14] ), p. 613. ì Nietzsche, EH, Der Fall Wagner, KSA6, Nr. 2, p. 360, passim. 4 Nietzsche, Nachlafl, KSA11,(38 [14]),p. 615. 5 Ibid. 6 Cf. Nietzsche,/!, KSA6, Nr. 61, p. 251. Neben dem Vorwurf des Piatonismus ist hier noch der Theodizee-Gedanke (cf. bes. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (PHG), KSA7, Nr. 7, p.831; Nachlaß, KSA12, (7 [4] ), p. 264; (10 [150] )) und die mechanistische Denkweise (cf. bes. Nachlafl, KSA11, (26 [248] )) zu erwähnen. Jedoch gehört er für Nietzsche zu den großeil Deutschen, die von einem „Heimweh" nach der .griechischen' „Welt" geprägt sind. (Nachlaß, KSA11 (41 [4] )) 8 Nietzsche, FW, V, KSA3, Nr. 357, p. 598. ' Ibid.
Leibniz
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oder Selbstbewußtsein unterscheidet. Die Perzeptionen, die Eigenschaft aller Substanzen (Monaden, Entelechien)10 sind, müssen nicht bewußt werden", um in den Seelen bzw. Monaden eine Wirkung auszuüben. Mit dieser Konzeption des Perzeptionsbegriffs ist die Möglichkeit erschlossen, daß bewußte/selbstbewußte Lebewesen (Monaden, Seelen) un-/(vor-)bewußt) perzipieren (auffassen) können und unbewußte (areflexive) Monaden eine Perzeption haben bzw. beseelt sein können. Nietzsche geht über Leibniz hinaus, indem er die Leibnizsche Perzeption (Auffassung, sinnliche Wahrnehmung) durch den cogitatio-Begriff erweitert, so daß nun auch alle kognitiven Akte des Subjekts („denken, fühlen, wollen, uns erinnern (...) handeln" 12 ) unbewußt ablaufen können. „Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe (...)."13 In diesem Sinne .empfindet' er mit Leibniz, daß „ ,Unsre innre Welt viel reicher, umfänglicher, verborgener'" 14 ist. Was Nietzsche mit Leibniz konform gehen läßt, muß in dem Aufweis der Möglichkeit gesehen werden, daß Bewußtsein für (perzipierende) lebende Organismen zu deren Existenzsicherung nicht erforderlich ist: „Das Problem des Bewußtseins (richtiger: des Sich-Bewusst-Werdens) tritt erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen, inwiefern wir seiner entrathen könnten: und an diesen Anfang des Begreifens stellt uns jetzt Physiologie und Thiergeschichte (...)."" Die hypothetische Abstraktion vom Bewußtsein bringt dessen Genese in den Blick und relativiert gleichzeitig den hypostatischen Anspruch innerhalb der Philosophiegeschichte. Leibniz spielt Nietzsches genealogischer Methodik in die Hand, wenn er ihm eine Möglichkeit zeigt, wie man ohne Bewußtsein - gleichsam als Organismus wahrnehmen kann, und daß das so Wahrgenommene dennoch eine Wirkung auf die Seele ausübt.- Dieser Gedanke gibt Gelegenheit, einige grundsätzliche Überlegungen in bezug auf Nietzsches genealogischen Ansatz anzustellen, der sich eng mit seiner hohen Bewertung des Organischen verbindet. Dies führt zwar etwas von Leibniz weg, ist aber wirkungsgeschichtlich mit seiner Bewußtseinstheorie verbunden.-
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Cf. Leibniz, Monadologie, §19.- Man kann nach Leibniz aber auch die einfachen Substanzen Seelen nennen (cf. ibid.). „Et c'est en quoi les Caitesiens ont fort manqué, aïant compté pour rien les perceptions dont on ne s'apperçoit pas. C'est aussi ce qui les a fait croire que les seules Esprits etoient des Monades, et qu'il n'y avoit point d'Ames des Bêtes ny d'autres Entelechies (...)." QMonadologie, §14) Nach Descartes wäre der bewußtlose oder traumlos schlafende Mensch gleichsam nur noch eine res extensa, und Tiere sind f&r ihn bloße Automaten. Nach Leibniz hingegen ist der gesamte Mensch beseelt. Nietzsche, FW, KS A3, Nr. 354, p. 590. Ibid. Nietzsche, FW, KS A3, Nr. 357, p. 599. Ibid., p. 590.- Nietzsche muß zu seinem Zwecke der Relativierung des Bewußtseins nicht der Monadologie in ihrem ganzen Umfang folgen; es genügt die Möglichkeit, den Menschen als einen vom Bewußtsein abstrahierten tierischen Organismus ansehen zu können.
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Nietzsches Kritik am traditionellen Bewußtseinsbegriff
Herders bekannter Satz, daß der Mensch schon als Tier Sprache16, also im Nietzschischen Sinne Bewußtsein habe, muß nach Nietzsche dahingehend modifiziert werden, daß der Mensch schon als Tier komplett, d.h. ein überlebensfähiger Organismus wäre, wenn er nur keine Sprache (d.i. kein Bewußtsein) hätte; so aber, als unter „Seines-Gleichen"17 Schutz suchendes soziales Wesen, ist er gerade das „gefährdetste Thier"18. Das „Bewußtsein" hat sich „nur" als „Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch" „entwickeln müssen: der einsiedlerische und raubthierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft."19 Den Menschen in die „Thiergeschichte" zu stellen, um nach der Genese des Bewußtseins zu fragen, hat allerdings mit den Sprachursprungstheorien das Problematische gemeinsam, daß der Mensch als vor-bewußtes bzw. vor-sprachliches Wesen gedacht wird, um ihn als reines Naturwesen in den Blick nehmen zu können und so die in Frage stehenden Fähigkeiten (Vermögen !) in abstrahierender Genese herzuleiten, so daß man dann mit Nietzsche sagen kann, daß der Mensch sich des Bewußtseins „entrathen" könne, was jedoch streng genommen auf eine reductio ad absurdum hinausläuft.20 Der mit dem Titel Vom ,Genius der Gattung'' überschriebene Aphorismus Nr. 354 fokussiert die Nietzschische Bewußtseinstheorie in ihren wichtigsten Ansätzen und methodischen Schritten. Bemerkenswert ist dabei, daß er die Problematik der Theorie des animal conscivum auf die des animal rationale/linguale
und
von dieser auf die des animal sociale zurückfuhrt. Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß alle drei Aspekte Momente des vernünftigen Subjekts sind, die nur in der begrifflichen Analyse getrennt werden, systematisch aber zusammengehören.Die „petites perceptions"21, die nach Leibniz zwar die Seele affizieren können, aber noch voibewußt sind, werden durch die „perceptions relevées"22 als distinkte Perzeptionen apperzipiert, d.h. sie treten ins Bewußtsein, wobei die Grade ihrer Deutlichkeit verschieden sein können. Was die Seelen-Monade von den einfachen Entelechien auszeichnet, hängt eben von der Deutlichkeit der Perzeption ab.23 Die Natur hat auch den Tieren spezifische Sinnesorgane mitgege16
Cf. J.G. Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache" (1772), in: ders., Sprachphilosophische Schriften, ed. E. Heintel, Hamburg 1960, pp. 1 - 87, p. 3. 17 Nietzsche, FW, V, KS A3, Nr. 354, p. 591. 18 Ibid.- Cf. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, op., cit., p. 65: „Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschöpf der Herde, der Gesellschaft: die Fortbildung einer Sprache wird ihm also natürlich, wesentlich, notwendig." 19 Nietzsche, FW, V, KS A3, Nr. 354, p. 591. 20 Cf. J. Simon, „Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche und der traditionelle Bewußtseinsbegriff', in: M. Djurió/J. Simon (eds.), Zur Aktualität Nietzsches, Bd. Π, Würzburg 1984, pp. 17 - 33.- Simon weist daraufhin, daß die Abstraktion vom Bewußtsein für Nietzsche ein „utopischer Gedanke" sei (op. cit, p. 17). Er sieht in der Leibnizschen „Verlagerung in das Organische als Vorstufe zum Bewußtsein" „eine Parallele zu Nietzsche." (ibid., p.21) 21 Leibniz, Monadologie, §21. 22 Leibniz, Monadologie, §25.- „Das Bewußtsein", schreibt Simon, „ist das Hervorheben bestimmter Perzeptionen aus deren unbewußten Kontinuum, in dem sie miteinander unmittelbar zusammenhangen." (J. Simon, Das Problem des Bewußtseins, op. cit, p. 17) 23 Cf. Leibniz, Monadologie, §19.
Leibniz
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ben, vermittels derer sie ausgezeichnete Perzeptionen („perceptions relevées") haben. Sie verfügen, wie der Mensch, über ein Gedächtnis, das ihnen eine Art von Folgerung („un espece de consecution"2*) auf frühere, ähnliche Perzeptionen ermöglicht, die sich durch lange Gewohnheit („longue habitude"25) oder öftere Wiederholungen ( „beaucoup de perceptions") von mittlerer Stärke („mediocres reiterées"26) dem Gedächtnis eingeprägt haben. Bestimmte Perzeptionen, wenn sie beeindruckend sind, rufen, kraft des Gedächtnisses27, ähnliche Perzeptionen in die Vorstellung. Ist die Vorstellung dunkel, basiert sie nur auf einem Erinnerungsgefühl, ist sie klar, dann ist die durch eine gegenwärtige Perzeption hervorgerufene Erinnerung an eine frühere (ähnliche) als eine bestimmte identifiziert. Der Vorgang selbst verläuft assoziativ, hervorgerufen durch die Verkettung („consecution") der im Gedächtnis gespeicherten Perzeptionen; sie sind noch nicht reflexiv38, d.h. noch nicht von einem selbstbewußten Ich („Moy"29) in einer spontan begrifflich geleiteten Bestimmung gesetzt.30 Die assoziative Hervorhebung von Perzeptionen ist Mensch und Tieren gemeinsam, d.h. es gehört genuin zum Organischen, Perzeptionen hervorzuheben, ohne daß dies schon bewußt (subjektgesteuert) geschehen müßte. Diese Vorstellung kommt Nietzsches Epiphänomenalitätstheorie des Bewußtseins natürlich entgegen. Der Gedanke, daß sich „der bei weitem überwiegende Theil" des mit Bewußtsein ausgestatteten „Lebens" des Menschen „ohne [bewußte] Spiegelung abspielt"31, findet sich so schon bei Leibniz angelegt, für den die „Menschen" „wie Tiere" handeln, wenn sie ihre Folgerungen aus den Perzeptionen nur aufgrund des Gedächtnisses ziehen.32 Die Parallele zwischen Leibniz und Nietzsche ist in der Ausweitung der Bewußtseinsthematik zu sehen, die den Bereich des Organischen als eines selbstfunktionierenden vor-bewußten Systems mitumfaßt, das auf Bewußtheit nicht angewiesen ist. Nietzsches Abweichung von Leibniz* Theorie liegt primär in der pejorativen Einschätzung des Selbstbewußtseins. Selbstbewußtsein erlangen wir nach Leibniz durch die Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten („vérités nécessaires") und durch ihre Abstraktionen („et par leurs abstractions"), die uns zu den reflexiven Akten (,,Λctes reflexife")33 fuhren, über die unser Ich („Moy") in den
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Ibid., §26.
25
Ibid., §27.
26
Ibid.
27
Cf Monadologie,
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Cf. ibid., §30.
29
Ibid. Cf. Ibid.- Simon bezeichnet den assoziativen Vorgang als eine „ .niedere', noch nicht vom beherrschte Stufe von Bewußtheit." (J. Simon, Das Problem des Bewußtseins, op. cit., p. 20) Nietzsche, FW, V, KS A3, Nr. 354, p. 590.
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§26.
Subjekt
Cf. Monadologie, §28.- „Auch wir sind bei drei Vierteln unserer Handlungen reine Empiriker" (cf. ibid.- d.h. unseres Tuns nicht reflexiv bewußt und insofern mit den Tieren gleichzustellen). Leibniz, Monadologie, §30 (Hervorhebung - E S.).
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Nietzsches Kritik am traditionellen Bewußtseinsbegriff
Blick kommt, und damit auch die in uns liegenden „ewigen und notwendigen Wahrheiten"34, durch die wir an dem „göttlichen Verstand"35 partizipieren. Die „notwendigen Wahrheiten" liegen einer potentiellen Reflexion auf sie präbewußt voraus. Dem reflexiven Bewußtsein kann somit eine Art AnamnesisFunktion zugesprochen werden36, vermittels derer wir uns den Gegenständen der „Vernunfterkenntnissen" („Ich", „Sein", „Substanz", „Gott"37) zuwenden. Nietzsche kritisiert, wie gesagt, diesen Glauben an ewige Wahrheiten, legt aber Leibniz' Bewußtseinsbegriff ganz in seinem Sinne aus, wenn er ihn, ohne Berücksichtigung des hinter dieser Theorie stehenden monadologischen (metaphysischen) Systems, dahingehend interpretiert, „dass die Bewußtheit nur ein Accidens der Vorstellung ist, nicht deren notwendiges und wesentliches Attribut"38 sein soll. Die „Bewußtheit" ist keine Eigenschaft, die unseren Vorstellungen wesenhaft zukommt; sie kann auch - und darin liegt der fundamentale Unterschied zu Leibniz, den Nietzsche zugunsten seiner Bewußtseinstheorie weginterpoliert - beim Menschen fehlen; für Leibniz ist das reflexive Bewußtsein (Selbstbewußtsein) dagegen ein notwendiges Merkmal der Vernunft, die nur dem Menschen zukommt - und nicht, wie bei Nietzsche, ein kontingentes Merkmal, das „nur einen Zustand unserer geistigen und seelischen Welt ausmacht (...) und bei weitem nicht sie selbst (...).39 Die „Bewußtheit" ist ein (möglicher) „Zustand" einer ungleich komplexeren „geistigen und seelischen Welt"40, die niemals bewußt zu werden braucht. Bewußtheit ist für Nietzsche nur eine perspektivische Möglichkeit, zu deren Optik jedoch gehört, sich für die zentrale und grundlegende zu halten, obwohl sie, wie Kaulbach treffend bemerkt hat, ,instrument [Hervorhebung- E.S.] eines .Organismus'"41 ist. Nietzsches Denken zeigt auch deutliche Parallelen zur Monadologie von Leibniz, wenn es darum geht, eine „Einheit (...) als Organisation"42 (politische Systeme, menschliche Gemeinwesen, Organismen sowie das menschliche Subjekt) zu beschreiben.- Die Monaden in Leibniz' metaphysischen System sind substantielle Einheiten eines Strukturzusammenhangs, innerhalb dessen jede individuelle Einheit wechselwirkend mit jeder anderen und dem Ganzen (Zentralmonade/Gott) durchgängig verbunden ist; jede individuelle Monade ist 34
Ibid.- Diese Wahrheiten sind Sein, Substanz, Einfaches, Zusammengesetztes, Immaterielles und Gott (cf. ibid.). 33 Leibniz, Monadologie, §46. 36 Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [73] ): „Was uns ebenso von Kant, wie von Piaton und Leibniz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen (...)." 37 Cf. Leibniz, Monadologie, §30. 38 Nietzsche, FW, KS A3, Nr. 357, p. 598. 39 Ibid. 40 Ibid. 41 F. Kaulbach, „Nietzsche und der monadologische Gedanke", in: Nietzsche-Studien, Bd. 8 (1979), pp. 127 · 154, p. 137.- Ober den Einfluß des monadologischen Gedankens auf Nietzsche cf op. cit, p. 129, Anm. 2. 42 Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [87]), p. 104.- „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist." (ibid.)
Leibniz
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selbst wieder Struktur (präformierte strukturelle Substanz), die das Ganze spiegelt. Und jede ist durch ihre einzigartige Perspektive individuiert.- Wie sehr Nietzsche diesen Gedanken verpflichtet ist43, zeigt sich bei seinen Bemühungen, die Subjekt-Einheit strukturell zu fassen, indem er etwa Analogien mit einem Organismus oder einem Staatswesen herstellt.44 So denkt er z.B. das Subjekt in Analogie zu einem Staatswesen mit einen „Regenten an der Spitze"49, der gleichwohl „von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitstheilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen"46 abhängig ist. Im Unterschied zum monadologischen System ist ihm das „Wichtigste", „dafl wir den Beherrscher und seine Untertanen als [von] gleicher Art verstehen, alle fühlend, wollend, denkend (...)."47 Wir finden, will die Analogie sagen, wenn wir vom menschlichen Subjekt sprechen, keine oberste, unabhängige Instanz, wie etwa das Selbstbewußtsein oftmals gedacht wird; es gibt keine Subjekt-Substanz. Es gibt nicht, wie bei Leibniz, eine allwissende, göttliche Zenthralmonade, keine ausgezeichnete Perspektive. Die „Unwissenheit, in der der Regent gehalten wird", ist fiuiktional-integativer Bestandteil des Systems.- Bewußtsein hat bei Nietzsche nicht das Telos einer epistemischen Progression in Richtimg ewiger Wahrheiten, denen ein Selbstbewußtsein sich approximativ nähern könnte, um so sich als (spiegelnder) Repräsentant eines universellen Ganzen bewußt zu werden. In dem Bemühen, keine SubjektSubstanz anzusetzen, zeigt sich Nietzsche als Verfechter einer absoluten WerdenMetaphysik. In Werden-Prozessen gibt es keine isolierbaren obersten Instanzen, die im Sinne eines (erdachten, konstruierten) Systems, das durchgesetzt werden soll, befehlen. Es ist vielmehr so, daß das Gesamtsystem in jedem Moment auf einem es aufbauenden Willen-zur-Macht-Geschehen beruht und keinem prästabiliertem (= vorkonstruiertem) System gehorcht, wie Leibniz annahm. Auch der an die Macht gekommene Regent in Nietzsches Analogie verdankt seine Macht einer voibewußten, gleichsam metaphysischen Instanz (cf. Nietzsches Willen-zur-Macht-Theorem), die ihn für das Ganze (bzw. für die Machtsteigerung des Ganzen) als Herrscher, als Regent funktionalisiert. Der zentrale Unterschied in den metaphysischen Systemen von Leibniz und Nietzsche
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Die Parallele geht natürlich nicht so weit, daß Nietzsche Leibniz bis in die ontologischen Konsequenzen hinein folgen würde. Hier ist Kaulbachs Differenzierung zu berücksichtigen: „Leibniz betrachtet den perspektivischen Charakter als Eigentümlichkeit des Seins der Monade. Nietzsche geht es dabei vor allem um eine methodologische und funktionalistische Seite des Prinzips Perspektive. Er fragt nach der Brauchbarkeit (...)." (F. Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, op. cit., p. 137) Cf. dazu bes. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [316] ). p.563: „Die letzten Organismen, deren Bildung wir sehen (Völker Staaten Gesellschaften), müssen zur Belehrung Ober die eisten Organismen benutzt werden. Das Ich-BewuBtsein [„das Bewußtsein der Einheit'] ist das letzte, was hinzukommt, wenn ein Organismus fertig fungirt, fast etwas Oberflüssiges (...)." (ibid.) · Auch bei Leibniz bilden die höheren Monaden (Geister) mit Gott („le plus parfait des Monarques"; Monadologie, §85) einen Gottesstaat („la Cité de Dieu"; ibid.), cf. Mich Monadologie, §83 sqq. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [21]), p. 638. Ibid. Ibid., p. 639.
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Nietzsches Kritik am traditionellen BewuBtseinsbegriff
liegt also in der prinzipiellen Offenheit des Nietzschischen Willen-zur-MachtPrinzips gegenüber der prästabilierten Harmonie bei Leibniz.
§7 Kant Kant gehört neben Schopenhauer und den Vorsokratikern zu den Philosophen, mit denen sich Nietzsche immer wieder auseinandergesetzt hat. Die herausragenden Themen seiner Kant-Kritik gelten dem Zeit-/Raumbegriff, der Ding-an-sich-/Erscheinungs-Problematik, dem Kausalitätsbegriff und dem Subjektbegriff, der in der folgenden Darstellung näher beleuchtet werden soll, Nietzsches überzeugendste Kritik an der Kantischen Philosophie betrifft dessen Setzungen von Vermögen1, die quasi Immunisierungen gegen das WeiterFragen sind; wer aber dennoch weiterfragt, erhält zur Antwort: .vermöge dieses Vermögens'2. Wo also ein Vermögen angesetzt wird, kommt das Denken zunächst an ein Ende; es wird gleichsam ein Sub-Subjekt (ein Sub-Täter/Agens) gesetzt, das mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet gedacht wird.- In einem Nachlaßtext vom Herbst 1884 - Anfang '85 3 , in dem Nietzsche die Genese des Bewußtseins behandelt, demonstriert er die Funktionsweise dieser Simplifizierung, die darin besteht, da ein „Wort" zu setzen, „wo unsere Unwissenheit anhebt, - wo wir nicht mehr weiter sehen können"4. Nietzsche schreibt: „An sich kann das reichste organische Leben ohne Bewußtsein sein Spiel abspielen: so bald aber sein Dasein an das Mit-Dasein anderer Thiere geknüpft ist, entsteht auch die Nöthigung zur Bewußtheit."5 Und auf die sich nun aufdrängende Frage, „wie (...) diese Bewußtheit möglich" sei, weicht er der Gefahr einer Setzung eines apriorischen Vermögens geschickt aus: „Ich bin fern davon, auf solche Fragen Antworten (d.h. Worte und nicht mehr!) auszu denken"6 und kommt dann auch auf Kant zu sprechen. In einer Nachlaß-Aufzeichnung zu JGB1, mit der Überschrift ,¿inti-Kant", 1
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Den gleichen Status haben auch die Begriffe „Erkenntnisquelle" (etwa Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität) das Apriori oder der Kantische Begriff Fähigkeit'. Nietzsche konstatiert ironisch, daS die Vermögensphilosophie geradezu der deutsche Beitrag zur europäischen Philosophie sei (cf. JGB, KS A3, Nr. 11, p. 26). Cf. Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 11, p. 24 sq. Cf auch: Nachlaß, KSA11, (26 [461] % (30 [10] \ (34 [82]), (34 [185]), (38 [7]). Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (30 [10] ), p. 356. Nietzsche, Nachlaß, KSA 12, (5 [3]), p. 185.- Er nennt hier beispielhaft das Wort „Ich", „tun", „leiden". Man kann ohne weiteres andere Grundbegriffe wie Subjekt, Wille, Bewußtsein usw. einsetzen. Die bei Nietzsche am meisten kritisierte Simplifizierung Kants macht er an dessen Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, fest (cf. ibid.).- Antwort: „durch ein Vermögen dazu" (ibid).Fairerweise muß man jedoch konstatieren, daD sich solche Voraussetzungen einer noch unreflektierten, unproblematischen Begriffs- oder Wortsetzungen nicht vermeiden lassen: Man kann nicht alles gleichzeitig problematisieren - man käme so nicht einmal zu einem Problem. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (30 [10]), p. 356. Ibid. Cf. dazu: JGB, KSA5, Nr. 11.
Kant
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heißt es, daß mit den „Worten" „Vermögen, Instinkte, Vererbung, Gewohnheit" nichts „erklärt" 8 werden könne. Von dieser Kritik ist natürlich auch der transzendentalphilosophische Ansatz betroffen 9 , der nach den Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erkenntnis fragt, so als könne man durch das Erkennen die rein formalen Bedingungen des Erkennens erkennen: „die Erkenntnis der Erkenntnis"10 ist aber eine „Naivität", weil wir schon wissen müßten, was Erkenntnis ist, um sagen zu können, daß es sie gebe." Es sind vor allem die Allgemeinbegriffe und besonders die Kategorien, die Kant als Urteilsformen verstanden hatte, unter denen das in Raum und Zeit angeschaute objektiv begriffen (bestimmt) wird (im Unterschied zur bloßen subjektiven Wahrnehmung), die von Nietzsche als die „leersten Begriffe" 12 bezeichnet werden. Es sind Begriffe die begriffsgenetisch einen Endpunkt markieren, der durch einen extremen Intensionalitäts-Schwund charakterisiert ist, und der das Ergebnis einer (philosophiegeschichtlichen) fortlaufenden Abstraktion ist. Nietzsche sieht eine Verwechslung darin, daß der Transzendentalismus, in der platonischen Tradition stehend, die Allgemeinbegriffe mit ihrer - modern gesprochen - minimalen Intensionalität als das eigentlich Wirkliche und „Erste" 13 begreift. Dabei sind sie „das Letzte, Dünnste, Leerste" 14 , das nun aber „als Ursache an sich" („cusa sui"), „als ens realissimum"15 verwechselt wird. Er wirft Kant und den Rationalisten eine ahistorische Denkweise („Ägyptizismus") vor und setzt ihnen seine genetische Fragestellung entgegen: alle sogenannten „.höchsten Begriffe'" 16 sind künstlich erzeugte letzte Schemate, denen in der Wirklichkeit nichts mehr entspricht. Gegen Nietzsche ist anzumerken, daß der genetische Ansatz auch abstraktiv davon ausgeht, daß sich ein genetischer Prozeß gleichsam voraussetzungslos verfolgen lasse. Dabei wird stillschweigend unterschlagen, daß die genetische Methode im Prinzip ein Rekonstruktionsverfahren ist, das von vorauszusetzenden
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Nietzsche, Nachlaß,
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J. Salaquarda zeichnet die Wirkungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft auf Nietzsche nach. Eine erste Vermittlung läuft über Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung. Später liest Nietzsche Langes Geschichte des Materialismus und interpretiert nun „Kant und Schopenhauer mit Hilfe des Langeschen Modells". (J. Salaquarda, „Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie", in: M. LutzBachmann (ed.). Über Friedrich Nietzsche. Eine Einführung in seine Philosophie, Frankfurt/M 1985, pp. 2 7 - 61, p. 3 0 ) - Salaquarda kommt in bezug auf Nietzsches Kritik an der Kantischen „VermögensPhilosopliie" zu der Einschätzung, daß Nietzsche Kant „mißverstanden" (vid. op. cit., p. 3 7 ) habe. In der Tat ist Nietzsches Kant-Kritik eine den systematischen Zusammenhang ignorierende Verkürzung auf isolierte Themenbereiche, die zudem aus zweiter und dritter Hand vermittelt ist. Daß Nietzsche die Kr Vim Original gelesen hat, ist eher unwahrscheinlich.
KSA11, ( 3 4 [82] ), p. 445.
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Nietzsche, Nachlaß,
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C f ibid.
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Nietzsche, Götzen-Dämmerung
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Ibid.
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Ibid.
15
Ibid.
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Ibid.
KSA12, (7 (4) ), p. 264. ( G D ) , KSA6, Nr. 4, p. 76.
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Nietzsches Kritik am traditionellen BewuOtseinsbegrifF
Begriffen geleitet wird. Man muß auch hierbei - um Nietzsche gegen Nietzsche zu wenden - wissen, was sich entwickelt haben soll. Für unsere Thematik ist natürlich Nietzsche Kritik am Subjektbegriff sowie am Bewußtseinsbegriff und dem Begriff des Selbstbewußtseins, wie sie in der transzendentalen Apperzeption, dem Herzstück der Kantischen Transzendentalphilosophie, entwickelt worden sind, von besonderem Interesse.- Wie nach Nietzsche das Ding (psychologisch) vom Subjekt abgeleitet ist17, so ist das ,ßing an sich" im Grunde die Conception eines .Subjekts an sich'" 18 . Ist das „Subjekt" nach Nietzsche schon eine fiktionale Einheit, so kann man das „Subjekt an sich" als Fiktion einer Fiktion auffassen, die in etwa dem 'hinter' dem erkennntnisgewinnenden Urteils-Subjekt stehenden Super-Subjekts der transzendentalen Einheit der Apperzeption entspricht, so jedenfalls läßt sich Nietzsches Kritik auf den Punkt bringen. Dieses absolute Subjekt (Kant spricht auch vom logischen oder intellektuellen Ich) kann als die formale Einheit der Form, selbst nicht erfahren werden, da sie nicht objektive, sondern „exemplifizieibare Einheit des Selbstbewußtseins"19 ist. Das reine Subjekt ist nach Kant keine Substanz, weil es keine Erscheinung in den Anschaungsformen von Raum und Zeit ist, mithin auch nicht unter die Objektivität konstituierenden kategorialen Bestimmungen fallen kann.20 Mit anderen Worten: Das Kantische transzendentale (reine) Subjekt ist kein Beharrendes in der Zeit;- aber genau dies will Nietzsche Kant nicht zugestehen: wir können gar nicht anders, so sein Argument, als das Subjekt als eine sich in allem Wechsel durchhaltende Substanz zu denken.- Das reine Subjekt ist sich, so Kant, „in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption" nur seiner Existenz „bewußt"21 ; es hat kein propositionales Wissen von sich. Die "Vorstellung", „daß ich bin" ist bloß „ein Denken" ohne ,Anschauung' 22 . Die „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzepton"23 besagt, daß „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können"24- d.h.: alle einzelnen Vorstellungen unseres empirischen Bewußtseins bedürfen der durchgängigen Identität des transzendentalen Bewußtseins, die diese Einzel-Vorstellungen durchgängig als meine ausweisen; und diese Meinigkeit impliziert die Gewißheit meiner Existenz, weist mich ebenfalls als Selbstbewußtsein aus. Selbstbewußtsein ist die transzendentale Bedingung der Einheit des Ichs - ohne die Voraussetzung 17
Ober diese Thematik wird ausführlicher an späterer Stelle gehandelt Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [91] ), p. 384. " Cf. W. Hogrebe, Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik, Freiburg/München 1974, p. 90. 20 Cf. Kant, KrV A144: „Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen [Hervorhebung E.S.] in der Zeit, d.i. die Vorstellung desselben, als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung Oberhaupt, welches also bleibt, indem alles andere wechselt"· Hogrebe, Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik, op. cit p. 91 schreibt: „Das logische Ich als Einheit der Zeit ist nicht denkbar als Begriff sondern lediglich als das ursprünglich Einheitliche einigenden Tuns." 21 Kant A>KB157. 22 Ibid.- Cf. auch Β 158: „Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst (...)." 23 Kant, KrV Β 131. 24 Kant, KrV Β 131 sq. 18
Kant
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dieser Einheit, ließe sich nicht erklären, wie es möglich ist, daß wir bei den mannigfaltigen mentalen Zuständen (unseren Bewußtseinsinhalten) oder Vorstellungen, diese überhaupt verknüpfen können; wir wären nicht einmal in der Lage, Urteile zu bilden, noch auch wären wir rechtsfähig oder als juridische Personen anzusprechen, denn wir könnten ja nicht mit einer vorhergehenden Handlung oder Tat verantwortlich in Verbindung gebracht werden - wir wären in jedem Augenblick ein anderer. Nietzsche würde nun nicht von einem transzendentalen Bewußtsein als einem Selbstbewußtsein sprechen, sondern eher von einem transzendentalen Glauben an ein Selbstbewußtsein als eine sich durchhaltende Subjekt-Substanz; wir müssen uns, so Nietzsche, in dieser Weise mißverstehen, aber dieses Mißverständnis ist selbst zweckmäßig in einem existentiellen Verständnis. Sein Ansatz ist so verschieden nicht von dem der Transzendentalphilosophie, nur eben, daß es ihm hierbei nicht um eine Objektivitäts-Begründung oder einer Wahrheitsfindung zu tun ist, sondern eher um Fragen, warum wir es nötig haben, eine Wahrheit finden zu wollen.- Sein stärkstes Argument gegen Kant ist allerdings dies: daß wir aufgrund unseres Substanzschemas, das unser ganzes Denken infiziert, gar nicht anders können, als das Subjekt als eine sich durchhaltende Einheit zu denken, so wie Kant das vorgedacht hat. Nietzsche würde sagen, daß eben diese Zwanghaftigkeit des In-Einheiten-/Substanzen-denken-Müssens uns die Kantische Selbstbewußtseinstheorie so plausibel erscheinen läßt, weil sie unserem zwanghaften Vorurteil entgegenkommt. Das absolute Subjekt des Selbstbewußtseins ist fur Kant „der höchste Punkt, an den man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik" und „die Transzendental-Philosophie heften muß"; es ist das „Vermögen" [!] des .Verstandes' „selbst."" Kant formuliert hier nolens volens die Konsequenz der Transzendentalphilosopie, daß ihre systemimmanente Vollendung über die Möglichkeiten dieses Systems hinausweist: ihre höchste Voraussetzung, das transzendentale Ich, bleibt dem Verstand transzendent. Nietzsche knüpft, ähnlich dem deutschen Idealismus, aber unter anderen Vorzeichen, an diesem Punkt an. Im Unterschied zu Fichte und Hegel, sieht er in der Unerkennbarkeit des (transzendentalen) Subjekts kein Defizit, sondern eine unumgängliche Konsequenz, die er fur seine eigene Subjekttheorie, genauso wie die durch Paul Deussen vermittelte Vedänta-Philosophie26, glaubt vereinnahmen zu können. Diese Vereinnahmung ist nicht immer ohne Mißverständnisse, so sinnt er Kant z.B. an, er habe gezeigt, „daß vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen [Hervorhebung - E.S.] werden könne" 17 . „Die Möglichkeit", heißt es weiter, „einer Scheinexistenz des .Subjekts' dämmert: ein Gedanke, welcher, wie in der Vedänta-Philosophie, schon einmal auf Erden dagewesen ist."28 Kant 25 26
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Kant, AVK Β 134. Cf. P. Deussen, Das System des Vedänta, Leipzig '1906, p. 49 sqq. Oeussen hebt die Übereinstimmung der griechischen, deutschen (bes. Kant) und indischen Philosophie in ihrer „Gmndanschauung" (ibid. p. 50) hervor. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [ 16] ), p. 636. Ibid.- Cf. dazu: JGB, KSA5, Nr. 54, p. 73. Hier, im veröffentlichten Werk (der Exoterik, wie Nietzsche auch sagt), formuliert er vorsichtiger: „(...) die Möglichkeit einer Scheinexistenz des Subjekts, also ,der
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Nietzsches Kritik am traditionellen BewuBtseinsbegriff
wollte gewiß nicht das Subjekt, noch seine Scheinexistenz beweisen, sondern das Selbstbewußtsein des Erkenntnissubjekts als transzendentale Voraussetzung epistemischer Vollzüge aufweisen. Nietzsche interpretiert Kants Subjekt- und Selbstbewußtseins-Begriff als „Attentat auf den alten Seelen-Begriff'29, das „seit Descartes" die „ganze neuere Philosophie"30 kennzeichne. Diese philosophiegeschichtliche Uminterpretation, die er hier anspricht, ist die Ablösung des Seelenbegriffs31 durch den neuzeitlichen Subjektbegriffs. Im Unterschied zur Kritik an der Vermögensphilosophie, an dem transzendentalphilosophischen Gedanken, der Hypostasiening der Allgemeinbegriffe und Kategorien als das eigentlich Wahre und der Dichotomie von Erscheinung und Ding an sich interpretiert Nietzsche die kantische Subjekttheorie von der Konsequenz her betrachtet, daß das Subjekt sich als Subjekt nicht selbst beweisen kann - interpolierend - , ganz in seinem Sinne, nur mit der Abweichung, daß er, was Kant im Rahmen der Transzendentalphilosophie als oberstes Prinzip der Erkenntnis überhaupt ansah, als existenzsichernde (arterhaltende) Fiktion bezeichnet.- Das transzendentale Subjekt, daraufhat Eisler schon hingewiesen, wird bei Nietzsche zu einem psychologischen, biologischen und physiologischen32 System dynamischer Prozesse einer Vielheit wechselnder Einheiten. Selbstbewußtsein ist nicht transzendentaler Grund der Subjektivität, sondern eine Funktion unter vielen, die an einer genetisch letzten Stufe unter der Direktion eines transbewußten Willen zur Macht steht.
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Seele', mag ihm [=Kant] nicht immer fremd gewesen sein (...)."- Die Parallele zum Vedänta-System stellt sich wie folgt dar: Von einem höheren Standpunkt aus erweist sich der Alman (die individuelle Einzelseele, das Selbst), der seine „Identität mit Brahman" (Deussen, Das System des Vedânta, op. cit, p. 291) (Geist, das Absolute, die einzige Realität) „vergessen" (ibid.) hat, als Täuschung.- „Nicht sehen kannst du den Seher des Sehens, nicht hören den Hörer des Hörens, (...), nicht erkennen kannst du den Erkenner des Erkennens. Er ist deine Seele, die allem innerlich ist" (Brihadäranyaka-Upanishad, 3, 42; in: Sechzig Upanishad's des Veda, aus dem Sanskrit m. Einl. u. Aran. P. Deussen, Leipzig 21905, p. 436) - Deussen kommentiert: „Das Brahman ist (...) theoretisch unerkennbar, denn weil es bei allem Erkennen erkennendes Subjekt ist, kann es nie für uns Objekt der Erkenntnis werden." (ibid., p. 435) Paul Deussen zieht hier ausdrücklich eine Parallele zu Kant!- Den „vorläufigen Ausdruck" für die Scheinexistenz des Subjekts könne man, so Nietzsche, in der Geburt der Tragödie finden (cf. Nachlaß, KSA11 (40 [16] ), p. 636).- Es liegt nahe zu vermuten, daß er auf seinen Begriff des Dionysischen als „Drang zur Einheit" (Nachlaß, KSA13, (14 [14]), p. 224 anspielt. Im dionysischen Rausch findet gleichsam eine Sub-jektauslöschung statt. Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 54, p. 73. Ibid. Nietzsche identifiziert den Seelenbegriff mit dem neuzeitlichen Ich-Begriff, der sich dem Glauben an das Subjekt-Prädikat-Schema verdankt: „,Ich* ist Bedingung" [= Ursache/Täter] „,denke' " ist Prädikat und bedingt" (cf. ibid.).- In der durch die Umkehrung des Schemas bedingte Konstituierung des Subjekts durch das Denken sieht Nietzsche ein „antichristliches" (ibid.) Moment in der neuzeitlichen Philosopie, weil dadurch der Seelenbegriff seine alte Bedeutung verloren hat und historisch geworden ist Cf. R. Eisler, Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik, Leipzig 1902, p. 12 sqq.- So auch Salaquarda: „Nietzsche bezieht sich nicht auf das menschliche Erkenntnisvermögen' (...), sondern auf die menschliche .Organisation', d.h. auf die psychisch-physische Einheit Mensch." (J. Salaquarda, Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie, op. cit. p. 43)
III Das Subjekt als metaphysisches Postulat
§8 Das „Ich " als Substanz und Ursache Descartes war im fundamentalen Zweifel auf die Gewißheit gestoßen, eine res cogitans zu sein und als solche mit Gewißheit zu existieren. Alle kognitiven Vollzüge sind Leistungen eines Ichs, das sich in eben diesen Leistungen als selbstbewußte Instanz erfahrt. Für Leibniz gründete die Fähigkeit, „Ich" sagen zu können, in der „vernünftigen Seele, die ein Bewußtsein dessen hat, was sie ist" 1 , in der Selbstreflexion.2 Kant differenzierte zwischen einem empirischen Ich als Objekt der Wahrnehmung des inneren Sinnes (= bestimmte Ich) und einem transzendentalen oder reinen Ich als Subjekt des Denkens (= reflektierendes Ich), das als Einheit des Bewußtseins Bedingung der Möglichkeit der Objektivität des Erkennens ist. Für Nietzsche ist das Ich eines der grundlegenden Glaubensartikel der abendländischen Metaphysik: grundlegend, weil sich aus dem Ich-Begriff fast alle wesentlichen Begriffe der philosophischen Tradition ableiten lassen, so, um einige zu nennen, der Substanzbegriff, der Dingbegriff, der Atom-Begriff, der Subjektbegriff und der Ursache-/Täter-Begriff; Glaubensartikel, weil die IchVorstellung als substantielle Einheit eine notwendige, wenn auch fiktive Vorstellung ist, die, modern gesprochen, ein Existenzial darstellt. Der existenziale Charakter des Ich-Glaubens wird aus dem Umstand ersichtlich, daß wir diesen Glauben nicht einfach ablegen können, selbst dann nicht, wenn erkannt ist, daß es sich um einen Irrtum3 handelt; wir können die Ich-Fiktion nicht willkürlich abwerfen, weil sie den existenzsichernden Bezugspunkt unserer Welt- und Selbsterkenntnis stellt. Nietzsche faßt seine reifen Vorstellungen vom „Ich" und seiner Ableitung vom Willen in der Götzen-Dämmerung unter den Aphorismus-Gruppen „Die .Vernunft' in der Philosophie" und „Die vier grossen Irrthümer" zusammen. Unter dem Titel „Irrthum einer falschen Ursächlichkeit"4 geht er der Ich-
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Leibniz, Discours de Métaphysique, op. cit., §34: „Mais 1'ame intelligente connoissant ce qu'elle est, et pouvant dire ce ΜΟΥ ..." Cf. auch Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace, fondés en Raison, op. cit., §5. Nietzsche, GD, KSA6, Die drei grossen Irrthümer (3), p. 90 sq.: Das „Ich" „ist zur Fabel geworden, zur Fiktion (...)." Ibid.
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Das Subjekt als metaphysisches Postulat
Ableitung vom „Glauben" an den „Willen als Ursache"5 nach: „Von diesen drei ,inneren Thatsachen' [= „Wille", „Geist", „Ich"], mit denen sich die Ursächlichkeit zu verbürgen schien, ist die erste und überzeugendste die vom Willen als Ursache-, die Conception eines Bewusstseins (.Geistes' ) als Ursache und später noch die des Ich (des .Subjekts' ) als Ursache sind bloss nachgeboren, nachdem vom Willen die Ursächlichkeit als gegeben feststand (...)."6 In der Ableitungskette Wille => Geist => Ich bildet das Ich zwar das letzte Glied, ist aber, so Nietzsche, der „älteste Glaubensartikel"7, d.h. von unserer gewohnheitsmäßigen, unreflektierten Grundannahme aus gelesen, stellt sich die Ableitungskette genau umgekehrt (rückläufig) dar: das Ich ist Ursache des Willens 'hinter' dem, auf die Frage, „Warum hat er das getan?", ein geistiges „Motiv"8 vermutet wird. Nietzsche sieht hier die „älteste und längste Psychologie" „am Werk"9, derzufolge allem „Geschehen" ein „Thäter (ein Subjekt)"10 supponiert wird. Es ist wesentlich festzuhalten, daß nach diesem Schema sowohl die äußere als auch die „ .innere Welt' " ausgelegt wird. Der Glaube an das Ich als eine Substanz wird nach Nietzsche auch auf das „Sein" „projiziert"11, was gleichbedeutend ist mit der Fixation von Dingen als sich durchhaltende, diskriminierte Einheiten. Die Ding-Ontologie entspricht also der Ich-Ontologie und wird mit denselben Kategorien - Nietzsche spricht von „Vernunft-Vorurtheilen"12 - erfaßt: „Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein"13, sind deren Bezeichnungen.- Diese Kategorien sind Konstrukte einer späten Begriffs-Kultur, hinter der man den zugrundeliegenden Ich-Glauben nicht mehr vermutet. Wenn wir bestimmen wollen, was unter einem Ding oder unter einem Ich zu verstehen ist, müssen wir dies mit Hilfe dieser „Vernunft-Vorurteile" vornehmen14, d.h. die theoretische Bestimmung dessen, was das Ich ist, hat den konstitutiven Grundirrtum eines Glaubens an ein Ich als eine Substanz immer schon im Rücken; und es ist nicht möglich, aus dieser Zirkularität herauszukommen: wir sind, so drückt sich Nietzsche aus, „in den Irrthum" „verstrickt", zu ihm „necessitirf 15 .- Wenn im folgenden eingehender erörtert wird, wie Nietzsche die Ich-Setzung aus der inneren Phänomenologie des Denkens und Bewußtseins ableitet, dann ist dieser Reflexionsstand des Autors immer zu berücksichtigen. 5
Ibid. Ibid. 7 Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [79]), p. 258. 8 Nietzsche, GD, KSA6, p. 91. »Ibid. 10 Ibid. 11 GD, KSA6, Die „Vernunft in der Philosophie", Nr.5, p. 77. 12 Ibid. 13 Ibid. 14 Ibid.- „Heute (...) sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurteil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache,.Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitili zum Irrthum (...)." (ibid.) 15 Ibid. 6
Das „Ich" als Substanz und Ursache
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Leitet sich das Ich als Verursacherprinzip von der Willens-Metaphysik ab, so ist das Ich als Substanz ein Konstrukt des Denkens. Da für Nietzsche „Denken" und „Empfinden" „unableitbar" sind, „weil wir nichts als Denken und Empfinden haben"1*, es zur „Natur des Denkens" aber „gehört", „daß es zu dem Bedingten das Unbedingte hinzudenkt, hinzuerfindet", muß der „Vielheit seiner Vorgänge"17 eine sich durchhaltende Einheit als Ursache dieses Denkens unterstellt werden: ein Ich als Substanz, die sich in allen Denkakten als mit sich identisch durchhält.18 Das „Ich" ist somit eine „Construktion des Denkens"", eine „HülfsHypothese"20, ohne die das Denken den für das Erkennen notwendigen Bezug entbehrte. Das Denken bzw. „Vorstellen"21 ist, im Unterschied zur „Bewegung"22, die immer schon Bewegung von etwas in Raum und Zeit ist, wesentlich durch „Wechsel"23 charakterisiert. Dem Wechsel der Vorstellungen, dem „Vergehen und Entstehen"24, „fehlt" das „Beharrende"25, das erst durch das Denken gesetzt werden muß - andernfalls wäre es nicht Denken/Vorstellen - , weil „ein Erkennen des völlig Fließenden unmöglich ist."26 Aus dem reinen „Vorgang der Vorstellung"27, dem Vorstellungskontinuum, muß ein distinkt umrissener Vorstellungsinhalt 'herausgegriffen' werden, damit das Denken zum Gedanken werden kann.- Es ist nun zu unterscheiden zwischen dem „unableitbaren" Denken, das für Nietzsche die Realität ausmacht28, und dem abgeleiteten (bewußten, zeichenvermittelten) Denken, dessen Funktion dafür verantwortlich ist, daß wir überhaupt etwas als etwas erkennen oder wissen können.29 Das bewußte Denken setzt „durch Heraushebung Eines Elements aus dem Prozeß"30 das „Ich" (als Subjekt 16
Nietzsche, Nachlaß, KSA10, (8 [25] ), p. 343. Ibid., p.342. 18 Das entspricht in etwa auch den Überlegungen Kants. 19 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (35 [35] ), p.526.- „Das Denken setzt erst das Ich (...)." (ibid.) 20 Nietzsche, Nachlaß, KSA10, (4 [58] ), p. 127. 21 Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [325] ), p. 567. 22 Ibid., p. 570. 21 Ibid., p. 567. 24 Ibid., p. 570. 25 Ibid. 26 Ibid. 27 Ibid. 28 Die Annahme, daß das Denken die einzige Realität sein soll, die wir kennen, findet sich sich schon zu Beginn der philosophischen Entwicklung Nietzsches: „(,..)wir kennen nur eine Realitât - die der Gedanken. {Nachlaß, KSA7 (Sommer 1872 - Anfang 1873), (19 [165] )). Später ergänzt er: Denken und Empfindung.- Die Nähe zu Schopenhauers Grundgedanken, daß das „Subjekt" „der Träger der Welt, die durchgängige, stets vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden, alles Objekts" (A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 5 1879, Bd. I, §2, p. 5) ist, ist unverkennbar. 29 Auf diesen Unterschied und die in diese Thematik involvierte Zeitproblematik macht auch Paolo d'Iorio aufmerksam: „Donc, d'après Nietzsche, on devrait distinguer la pensée pure - placée dans une dimension intemporelle - de la conscience de cette pensée, qui en serait la traduction en termes de l'apparence, c'est-à-dire de la succession, de la pluralité, du mouvement." (P. d'Iorio, „La Superstition des Philosophes critiques. Nietzsche et Afrikan Spir", in: Nietzsche-Studien. Bd. 22 (1993), pp. 257 - 294, p. 266) 30 Nietzsche. Nachlaß, KSA13, (11 [113] ), p. 54. 17
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der Vorstellung) und einen „Inhalt"31 (als Objekt: das Vorgestellte). Das fixierende Setzen eines Inhalts aus dem Vorstellungskontinuum durch „Heraushebung" und die Ich-Setzung ist eine gleich-ursprüngliche Aktion. Diese Aktion verläuft selbst noch unbewußt und unter Kriterien, die außerhalb der Möglichkeiten des Intellekts liegen; sie bleiben für diesen unerkennbar; nur das Ergebnis - die Etwas-a/s-etwas-Interpretation unter Zuhilfenahme des Gedächtnisses - , die Setzung, ist das ins Bewußtsein Getretene. Das Ich und der Vorstellungsinhalt sind für Nietzsche, ontologisch aufgefaßt, kein Beharrendes, sondern ein durch Interpretation Zurechtgemachtes.32 „Es braucht kein Subjekt und kein Objekt zu geben, damit das Vorstellen möglich ist, wohl aber muß das Vorstellen an Beide glauben,"33 Es stellt sich nun natürlich die Frage, wie das bewußte Denken zu seinen Inhalten kommt, weil daran das Problem geknüpft ist, wie das Ich sich als Substanz glauben kann.- Die gesuchte Antwort ist schon kurz angesprochen worden: durch heraushebende Interpretation. Die Hervorhebung aus dem Vorstellungskontinuum geschieht mittels eines im Gedächtnis34 vorhandenen Zeichenvorrats; denn nur das kann bewußt werden, für das wir „eine Sprache gefunden"35 haben, d.h. was wir auf schon Bekanntes mittels einer Ähnlichkeits-Relation zurückfuhren können. Inhalt kann nur werden, wofür sich ein zeichenvermittelter Bezug herstellen läßt. Was so aus dem Vorstellungskontinuum, dem „unabgeleiteten" Denken herausgegriffen wird, ist keine .Thatsache'36, nichts, was objektiv feststellbar wäre, sondern ein „Auszug, eine Vereinfachung", ein ,Gestaltungs-Versuch'37. Da nach Nietzsche zu jedem Vorgang eine Ursache (ein „Thäter") gesucht werden muß, fingiert das (bewußte) Denken, dessen Funktion ja die Fixation von Inhalten, von durativen Einheiten ist, ein Ich als Agens dieses Denkens; es überträgt (projiziert) seine Funktion, die sich in den oben genannten Kategorien der Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit und Sein ausdrückt, auf ein Ich als Ursache, und das bedeutet, daß, wenn überhaupt gedacht wird, dieser Vorgang als Wirkung aufgefaßt wird, zu der dann mit Notwendigkeit (d.h. zwanghaft) die Ursache birmi-fingiert werden muß. Das Ergebnis dieser Operation ist die Subjekt-Setzung: das Subjekt wird als die Ursache fingiert - und diese Fiktion ist für Nietzsche gleichbedeutend mit der Substantialisierung des Subjekts, 31 32
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Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [330] ), p. 570. „(...) alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisirt, ausgelegt - der wirkliche Vorgang der inneren .Wahrnehmung' " ist „uns absolut verborgen — und vielleicht eine reine Einbildung." (Nietzsche, Nachlaß, KSA13 (11 [113] ), p. 53) Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [330] ), p.570. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [114] ), p. 180: „wir sind uns bewußt der Arbeit, wenn wir einen Gedanken, ein Gefühl schaff fassen wollen - mit Hülfe von Vergleichung (Gedächtniß)." - Ober den Gedächtnisbegriff vid. infra. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (15 [90] ), p. 460. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [114] ), p. 179. Ibid., p. 179 sq.- Diese wichtige Passage lautet: „Es giebt keine unmittelbaren Thatsachen! Es steht mit Gefühlen und Gedanken ebenso: indem ich mir ihrer bewußt werde, mache ich einen Auszug, eine Vereinfachung, einen Versuch der Gestaltung: das eben ist bewußt werden: ein ganz aktives Zurechtmachen. (...) Ein Gedanke und ein Gefühl sind Zeichen irgend welcher Vorgänge (...)."
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dem das Denken dann nur akzidentieller Vorgang ist; es selbst denkt sich in seinem Wesen, in seiner Substanzhaftigkeit unverändert38 Zu einem tiefergreifenden Verständnis dessen, wie es zu dem Glauben an ein Ich als Substanz und Ursache kommt, gelangt Nietzsche durch die Berücksichtigung der dieser Problematik inhärierenden Ze/7-Thematik. Die „Quelle", daß wir „im Werden etwas Bleibendes annehmen", „daß wir an ein Ich glauben"39, sieht er nun darin, daß „unser Bewußtsein nachhinkt"'10 ; es beobachte nur wenig auf einmal und währenddessen pausiere es für anderes.41 Das bewußte Denken ist gegenüber dem genuinen (unabgeleiteten) Denken und Empfinden verzögert, zwischen der unmittelbaren Realität des Denkens und dem zeichenvermittelten Denken entsteht ein temporärer Hiatus, hervorgerufen durch die Fixierung, die aus dem Vorstellungsstrom gleichsam 'Auszüge' macht, währenddessen das unabgeleitete Denken oder Vorstellen auf einer dem intellektuellen Bewußtsein verborgenen (organischen)42 Ebene weiterläuft. Das bewußte Denken ist nach dieser Theorie notwendig Selektion. Selektion, Einheiten-Setzimg, Substantialisierung und Zeit-Setzung sind Momente des bewußten Denkens/Vorstellens. „Liefe das Wissen so schnell wie die Entwicklung [die zum bewußten Denken führt - E.S.] und so stätig, so würde an kein ,Ich' gedacht."43 Liefe das bewußte Denken/Vorstellen so schnell wie das ursprüngliche, unabgeleitete Denken/Vorstellen fielen beide zusammen und die zur Substantialisierung (d.i. das Setzen von ZeitEinheiten, von Dauer/Beharrendem) erforderliche Differenz von Vorstellungsstrom und bewußtem Denken, die das Zeitbewußtsein überhaupt erst ermöglicht (und damit auch die Substanz- und /cA-Fiktion), wäre nicht möglich. Erst durch den für Nietzsche defizitären Modus des hiatischen Hinterherhinkens des (bewußten) Denkens, kommt das Ich als Beharrendes in der Zeit in den Blick. (So nur kann überhaupt erst von den Dichotomien wie Werden - Sein, Substanz - Akzidens, Vorstellungsstrom - Einzelvorstellung gesprochen werden.) An diese Überlegungen müssen allerdings einige kritische Anmerkungen angeschlossen werden.- Wenn die Differenzierung zwischen dem unabgeleiteten und dem abgeleiteten, bewußten Denken selbst ins Bewußtsein ( - daß zudem noch verfälschend sein soll - ) fällt, und daran wird man wohl kaum zweifeln können, wie läßt sich dann überhaupt von dem Sachverhalt eines (unabgeleiteten) Vorstellungsstromes reden, da dieser doch für Nietzsche dem Bewußtsein transzendent ist? Zugänglich ist uns nach Nietzsches Theorie nur das
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Die Kategone Kausalität wird von Nietzsche genealogisch begriffen: „(...) wir mußten alles erst erwerben für das Bewußtsein, einen Zeit-sinn, Raum-sinn, Causal-siim: nachdem es ohne Bewußtsein lange schon viel reicher [im Organismus - E.S.] existirt hatte." (Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [124] ), p. 462) - Cf. auch Nachlaß, KSA12, (2 [83]), p. 102: „Was uns die außerordentliche Festigkeit des Glaubens an Causalità! gibt", ist „unsere Unfähigkeit, ein Geschehen anders interpretiren zu können als ein Geschehen aas Absichten." Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (6 [340] ), p. 283. Ibid. Ibid. Diese Thematik des Verhältnisses von Bewußtsein und dem Organischen wird an anderer Stelle besprochen. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (6 [240] ), p. 283.
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bewußte Denken. Die theoretische Erörterung über das, was uns bewußt sein kann, ist immer die eines Bewußtseins. Eine ähnliche Problematik begegnet auch, wenn man nach den Kriterien der Selektion aus dem Vorstellungsstrom fragt. Es lassen sich hierfür nach Nietzsche keine rationalen Kriterien angeben. Er verlagert die Vorgänge in die Komplexion des Organismus, unter dessen Direktion bewußtes Denken (unbewußt) vorbereitet wird. Auch das Ich-Bewußtsein versteht sich in seiner Rolle als Souverän seiner Gedanken und Vorstellungen falsch. Es sei hier an Leibniz erinnert, bei dem sich Selbstbewußtsein durch das Ergreifen der „notwendigen Wahrheiten" aus dem unbewußt verlaufenden Perzeptions-Strom aufbaut. Auch das Kantische Ich der transzendentalen Apperzeption ist sich in seinen Funktionen zu urteilen als Synthesis aller seiner Synthesen als Urteilssubjekt gewiß, wenn es auch - konsequenterweise - nicht erkannt werden kann. Bei Nietzsche hingegen kann es nicht nur nicht erkannt werden, es ist auch nicht Souverän seines Erkennens. „Wenn ich etwas von einer Einheit in mir habe", schreibt er, „so liegt sie gewiß nicht in dem bewußten Ich [Hervorhebungen - E.S.] und dem Fühlen Wollen Denken, sondern wo anders: in der erhaltenden aneignenden überwachenden (...) Klugheit meines ganzen Organismus, von dem mein bewußtes Ich nur ein Werkzeug ist."44 Nicht das bewußte Ich ist die substantielle Einheit - diese ist nur geglaubt - , sondern es arbeitet - unbewußt! - für eine andere, wirkliche Einheit, „die ein (...) nach Wachstum von Machtgefühlen ringender Komplex von Systemen"45 ist. Demgegenüber erweist sich das Ich-Bewußtsein als Epiphänomen, dessen Fiktion, autonom, frei und ursächlich für sein „Fühlen", „Wollen" und „Denken" zu sein, in die Perspektive des Organischen als Machterweiterungs-System gehört. Das Organische bzw. den Begriff, den sich Nietzsche vom Organischen macht, gehört fest zu seiner Subjekt-Entmündigungsstrategie. Der Gesamtorganismus Mensch ist für ihn eine „ungeheure Synthesis von lebendigen Wesen und Intellekten"46 ; eine Vielheit von „Bewußtseins"47 sind es, die den „Leib constituiren."48 Diese Bewußtseine, die Vielheit der lebendigen „Wesen" oder, wie er auch sagt, der ,,Subjekte(n)"49 legt dem als „regierende Vielheit und Aristokratie"50 gedachten „Bewußtsein höheren Ranges" (Ibid.), dem Intellektualbewußtsein, „nur eine Auswahl von Erlebnissen" (Ibid.) zum weiteren „Vereinfachen", „Übersichtlichmachen" und „Fälschen" (Ibid.) vor. Für das, was das bewußte Denken aus dem Vorstellungs- und Erlebnis-Kontinuum der inneren Sensationen herausgreift und durch dieses Herausgreifen bewußt werden läßt, lassen sich nach Nietzsche keine rationalen Kriterien angeben, es ist deshalb aber nicht schon willkürlich, denn es handelt sich dabei um ein Angebot, das zum Zwecke der 44 45 46 47 48
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Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [46] ), p. 434. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 3, (14 [174]), p. 361. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (37 [4] ), p. 577.- Darilber Näheres in §10. Ibid. Ibid., p. 577 sq.- Nietzsche unterscheidet zwischen dem Bewußtsein (Intellektualbewußtsein) und der BewuOtseins-Pluralitât des Leibes. Nietzsche, Nachlaß, KSA11 (40 [41] ), p. 650. Nietzsche, Nachlaß, KSA11 (37 [4] ), p. 578.
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Machterweiterung des Geamtorganismus vorgängig „vereinfacht, angeähnlicht" und „ausgelegt" (Ibid.) worden ist. Das eigentliche Bewußtsein ist vor diesen .Operationen' „geschützt" (Ibid.) und abgeschüttet, denn deren Komplexität überstiege die Möglichkeiten des bewußten intellektuellen Denkens bei weitem. Die Abschottung ist auch unter anderem erforderlich, damit das (bewußte) Ich sich selbst als Ursache seines Denkens mißverstehen und sich als Substanz postulieren kann.
§9 Das organologische Modell als Versuch der Subjektüberwindung Die naturwissenschaftlichen Studien Nietzsches sind zum einen dadurch motiviert, daß er die schwerpunktmäßige philologische Ausbildung als einseitig und ergänzungsbedürftig empfand, zum anderen aber, wie schon die frühen Versuche' zeigen, hatte er die Möglichkeit erkannt, daß sich naturwissenschaftliche Begriffe und Theorien2 für ihn philosophisch fruchtbar machen lassen. Dabei dienen ihm naturwissenschaftliche Befunde eher als Spekulationspotential denn als objektiv gesicherte Erkenntnisse; er liest diese Schriften mit den Augen des Philosophen, der einerseits die Exaktheit zu schätzen weiß, andererseits aber immer von dem Mißtrauen begleitet wird, daß diese Exaktheit durch die von den Einzelwissenschaften nicht weiter in Frage gestellten Grundbegriffen (den „metaphysischen Anfangsgründe"3, wie Kant sie nennt) erkauft worden ist. So zeichnet sich schon bei dem frühen Nietzsche die Einsicht ab, daß sich in den Naturgesetzen auch nur anthropomorphe Relationen4 verbergen. Man muß bei Nietzsche unterscheiden zwischen der Natur, die im Bewußtsein des Menschen Gegenstand der Beherrschbarkeit ist, der primär naturwissenschaftlichen Sicht und der „nicht objektivieibare(n), unsere Existenz umfassendein)" ,,,große(n)' Natur", der der Mensch „seine Subjektivität anheimstellt."5 Der „Leib" als Organismus betrachtet, gehört der „großen Natur" an und ist allem Bewußtsein weit überlegen. 1
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Zu Nietzsches naturwissenschaftlichen Ambitionen cf. Κ. Schlechte/Α. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart/Bad Cannstatt 1962.- Eine ausgezeichnete Kompilation und thematische Zuordnung der naturwissenschaftlichen Überlegungen Nietzsches und deren philosophische Auswertung bietet A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952. Naturwissenschaftliche Begriffe (z.B. Atom, Kraft, Energie, Materie usw.) werden von ihm in philosophische Begriffe transformiert. Cf. dazu Schlechta/Anders, op. cit, p. 140 sqq. Hier wird eindrucksvoll demonstriert, wie er den Atom-Begriff (in Anlehnung an Boscovich, Spir und Zöllner) für erkenntnistheoretische Überlegungen zu nutzen weiß. Cf. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: Werkausgabe, XII Bde., ed. W. Weischedel, Bd. IX, Frankfurt/M 1968, pp. 11 -135. Vid. WL, KS Al, p. 887 sq. F. Kaulbach, „Nietzsches Interpretation der Natur", in: Nietzsche-Studien, Bd. 10/11 (1982), pp. 442 464, p. 442.- Der frühe Nietzsche deutet die „Welt" als „ein ungeheurer sich selbst gebarender und erhaltender Organismus (...)." (Nachlqß, KSA7, (5 [79] ), p. 111)
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Das Subjekt als metaphysisches Postulat
Wenn im folgenden Nietzsches Begriff des Organischen analysiert wird, dann ist festzuhalten, daß es hierbei nicht nur um eine biologische oder physiologische Betrachtung im Sinne einer naturwissenschaftlichen Thematik geht, sondern eher um eine organologische Philosophie des Geistes: Aussagen über das Organische sind Aussagen über ein Subjekt-Modell, das den traditionellen Subjektbegriff zu überwinden trachtet. Nietzsches Organismus-Begriff läßt sich sehr präzise unter dem sytemtheoretischen Oberbegriff, der sich in die Begriffe Organisation, Funktion, Struktur und Dynamik, auffächert, bestimmen.6 Der Organisation nach sind Organismen für Nietzsche hierarchisch strukturiert; es gibt eine „tiefe Stufe"7 und ein höheres „Leitungssystem" („Nervensystem" und „Gehirn")8, eine „Aristokratie von .Zellen'" 9 . Innerhalb eines Organismus herrscht eine Kontrollhierarchie, in der Befehle nach unten und Informationen nach oben fließen; es besteht ein „Veibindungs- und Vermittlungs-System", „eine blitzartig schnelle Verständigimg aller (...) höheren und niederen Wesen"10, ein durchgängiges 'Kommunikationssystem', das alle Kommunikationsteilnehmer durch „lebendige Vermittler"11 verbindet. Innerhalb des Gesamtsystems gibt es einen „tausendfältige(n) Gehorsam", eine „Anordnung und Einordnung der höheren und niederen Thätigkeiten"12. Innerhalb der Kontrollhierarchie besteht eine Tei¡autonomie, und das fur jede den Organismus konstituierende Einheit13 ; d.h. a) die .abhängigen' und ,unterthänigen' Elemente sind selbst auch „befehlend und aus eigenem Willen handelnd"14 - und b) auch die höheren Funktionen sind abhängig von den niederen. Der Gehorsam ist kein „blinder", sondern ein „wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Gehorsam"15. Die Zwecke des „Einzelwesens" sind die des Gesamtwesens, seine Selbstbejahung ist Bejahung des „Ganze(n)"16 ; sein Kampf mit den anderen „belebten Wesen", seine Ein- und
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Fast allen Äußerungen Nietzsches Ober das Organische und dessen Funktionen lassen sich modernen systemtheoretischen Begriffen zuordnen. Das ist natürlich ein Indiz für seine tiefergehenden Kenntnisse auf diesem Gebiet Die Vorsicht, die seine Äußerungen erkennen lassen, beruht nicht auf Unsicherheit, wie häufig behauptet, sondern fußt gerade auf seinen Kenntnissen, die zur Vorsicht mahnen. 7 Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [268] ), p. 544. 8 Nietzsche, Nachlaß, KSÄ11, (26 [34] ),p. 157. 9 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [41] ), p. 650. 10 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (37 [4] ), p. 577.- Unter den „lebenden Wesen giebt es solche, welche in höherem Maafle Herrschende als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg." (Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (27 [27] ), p. 282) 11 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (37 [4] ), p. 577. 12 Ibid. 13 Diese Einheiten sind selbst wieder,lebende Wesen'. Zu den 'letzten', kleinsten Einheiten vid. infra. 14 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (37 [4] ), p. 576.- Nietzsche geht von der „Voraussetzung" aus, „daß der ganze Organismus denkt [!], daß alle organischen Gebilde Theil haben am Denken Fühlen Wollen" und zieht daraus den Schluß, „daß das Gehini nur ein enormer Centralisations-Apparat ist" (Nachlaß, KSA11 (27 [19] ), p. 279 sq.) 15 Ibid., p.577. 16 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (27 [26] ),p. 282.
Das organologische Modell als Versuch der Subjektaberwindung
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Unterordnung" stehen „unwillkürlich"17 im Dienste des Ganzen und dienen ihm damit wieder selbst. Höhere Organe wie das Gehirn als „Leitungssystem" und „Centralisationsapparat"18 koordinieren zwar die „Individual-Geister von verschiedenem Range" 19 , sind aber von deren Informationen abhängig, die immer schon eine .Auswahl', .Abstraktion' und ein .Zusammengedachtes' sind.20 Diese „Operation" des „Vorlegens" von schon „Zurechtgemachtem" vollzieht sich „auf allen tieferen Stufen"21 ; sie zieht sich, kann man sagen, durch den gesamten Organismus und ist auch charakteristisch für das zuletzt hinzugekommene 'Organ', das Bewußtsein.- Wie ein „Feldherr"22 in der Schlacht nicht alles wissen darf, um die „Gesamt-Überschau"23 nicht zu verlieren, so darf auch nicht alles ins Bewußtsein treten. Damit es nicht überlastet wird, muß vieles - nach Nietzsche das meiste - trieb- und instinktgesteuert, d.h. unbewußt bzw. vor-bewußt bleiben. Es ist wesentlich zu begreifen, daß Nietzsches Bewußtseins-Modell von seinem Begriff des Organischen abgeleitet ist. „Bewußtsein", heißt es in einer Aufzeichnung despektierlich, sei „ein Organ, wie der Magen."24 Man muß hier, was vielleicht einmalig in der Philosophiegeschichte ist, von einem organologischen Bewußtseins-Modell sprechen. Das Bewußtsein selbst selektiert, interpretiert, abstrahiert, synthetisiert das auf anderen organischen Ebenen schon Selektierte, Interpretierte usw. noch einmal; seine Operation unterscheidet sich nicht von denen auf der niedersten Stufe des Organischen.- Den Organismus als „Leib" beschreibt Nietzsche als ein hierarchisch organisiertes Subsystemensystem, in dem „viele Systeme" „zugleich" „für einander und gegen einander" „arbeiten" 25 . Es drängt sich nun die Frage auf, welches denn die kleinsten und letzten sytemkonstituierenden Elemente oder Bausteine sind? Wie weit reicht das organische - und bei Nietzsche korrelativ dazu, das geistige - Prinzip in die Natur hinein? Nietzsche spricht von „kleinsten lebenden Wesen", die den „Leib constituiren" 26 ; sie sind „etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes", und sie sind von „unbeständig" .wechselnder' „Zahl"27 17
Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [34] ), p. 157. " Ibid. 20 Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (37 [4] ), p. 578.- Nach dieser Modell Vorstellung gibt es in dem ganzen System keine einzige Einheit, keinen Individual-Geist, der alles über den Zustand des Gesamtsy- steins wüßte; und das bedeutet, daß alles, was Individuen bewußt innerhalb des Systems zum System beisteuern, immer auch fur es selbst unbewußt vom Ganzen motiviert ist. 21 Ibid. 22 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [131] ), p. 464. 23 Ibid. 24 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (27 (26] ), p. 282. 25 Nietzsche, Nachlaß, KSA10, (7 [126] ), p. 284. 26 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (37 [4] ), p. 577. 27 Ibid.- Es sind keine „Seelen-Atome" (ibid.).- Nietzsche hat sich, durch seine Demokrit-Lektüre angeregt, intensiv mit Atomtheorien - auch naturwissenschaftlicher Provenienz - auseinandergesetzt. Neben Fechner, Liebmann und Vogt hat vor allem R.J. Boscovich (1711 - 1787), Mathematiker und Astro18
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Das Subjekt als metaphysisches Postulat
und von relativer Dauer, „etwas Wandelbares", das „isolirt gar nicht vorhanden"28 ist. Wenn es aber keine letzten isolierbaren distinkten (zählbaren) Einheiten sind, dann sind sie nach Nietzsches Verständnis auch konsequenter Weise nicht erkennbar und können im Prinzip nur mittels ex-«ega//vo-Bestimmungen beschrieben werden.- Worauf es Nietzsche hierbei besonders ankommt, ist die Subjekt-, Substanz-Vorstellung zu vermeiden: die „Wesen" dürfen nicht als 'Mini-Subjekte' aufgefaßt werden; deshalb sind sie auch nicht zählbar. Ihre Charakterisierung entspricht dem Nietzschischen Begriff des Werdens (das für ihn ja auch unbegreiflich ist); deshalb sind sie lebendig, also selbst wieder organologisch beschreibbar. Nietzsche bietet zu ihrer Bezeichnung eine ganze Begriffspalette an: Kräfte, Machtquanten, Triebe, Existenzen, Intellekte, Bewußtseine und, wohl etwas unbesonnen, Subjekte. Die Auflistung legt nahe, sich die „Wesen" immateriell und rein geistig vorzustellen. Am treffendsten charakterisiert der MachtquantenbegnS die „Wesen", weil in ihm ein Wesenszug ausgedrückt wird, aufgrund dessen sie Organe sind; sie dienen nämlich dem Zweck der Machterweiterung}9 In einem späten Fragment (Frühjahr 1888) gibt Nietzsche die wohl gründlichste Definition seines Machtquanten-Begriffs und hebt gleichzeitig die mit diesem Begriff verbundene Erkenntnisschwierigkeit hervor. „Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet."30 Seine
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nom, starken Einfluß auf ihn ausgeübt, (cf. bes.: R.J. Boscovich, Philosophiae naturalis Theoria redacta ad unicam legem virium in natura existentium, Vienna 1739) - Boscovich löste das „Klümpchen-Atom" (Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 12, p. 26) in .oszillierende' „Massenpunkte" auf (cf. Κ. Schlechta/A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, op. cit., p.127 sqq.). Sie „unterscheiden sich von mathematischen Punkten durch die realen Eigenschaften der Trägheit" (ibid., p.134). Schlechte/Anders zitieren Nietzsche: „Wir negieren (...) das Stoffliche " und lassen es „im reinen Kraft be griff aufgehen." (cit. nach Schlechta/ Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, op. cit., p. 140) Nietzsche, KGW VII, p. 182. Cf. dazu: J. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin/New York 1982.- Für Figi sind die „.Machtquanten' tur die Konstitution der gesamten Wirklichkeit ausschlaggebend", sie sind aber „wegen ihrer permanenten Veränderung keine absoluten, gleichbleibenden und .letzten' Einheiten, sondern sie verändern sich fortwährend durch Wachstum oder durch Abnehmen der Macht" (ibid., p. 130) Nicht die „Einheit" sei das „Letzte", sondern die „Wandelbarkeit in der Vielheit" (ibid., p. 131) Nietzsche, KGW VII 1, 696: 24, 16: „(...) eine Zweckmäßigkeit' „herrscht" „im Kleinsten Geschehen (...)."· G. Abel bemerkt dazu, daß die „Leib-Organisation von einer Willen-zur-Macht-Genealogie her zu verstehen" ist. (G. Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, p. 138) · Besonders wichtig ist Abels Herausstellung des Zusammenhangs von „Leib-Geschehen", „Kräfte-Organisation" bzw. der „Willen-zur-Macht-Organisation" mit der dahinterstehenden Subjektphilosophie: „Das sich als Leib vollziehende Geschehen der vielen Willen-zur-MachtOrganisationen ist auch derjenigen Konstellation und Einheit von Mensch und Welt noch vorgängig, die in der Subjektivität im Sinne der Kantischen Transzendentalphilosophie konzipiert wird, und es durchdringt auch noch das hinter den Bewußtseinsgegensatz zurückgehende und die transzendentale Verfassung des menschlichen Daseins als Existenz betreffende Heideggersche ,Ιη-der-Welt-sein'". (ibid., p.160) Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 (79] ), p. 258.- Er bezeichnet ein Machtquantum auch als „Atom" und zwar im Vollsinne des Wortes, also nicht das „Klümpchen-Atom" ist gemeint sondern etwas, was keine irgendwie geartete Einheit bezeichnen soll. Nietzsche entwickelt hier den Atombegriff Boscovichs, Fechners, Vogts und Mayers für seine Zwecke weiter. „Atom", so lautet seine Definition, ist „ein [!] Quantum .Wille zur Macht' " (ibid.).
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'Urintention' ist „nicht Selbsterhaltung", sondern „Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigungen zu wehren."31 Es hat nur Existenz in „einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten", „deren Wesen" wiederum „in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht" 32 . „.Wirken"' 3 3 macht nicht nur die Essenz der „dynamischen Quanten" aus, sie sind nur durch Wirken. Die den Leib konstituierenden „lebenden Wesen" sind in ihrem Wesen Willen-zur-Macht-Quanten, die sich durch das ,£tûrker-werdenwollen"M überhaupt erst generieren. Allen nichtmechanistischen Strukturen liegt das Prinzip des Willens zur Macht unmittelbar zugrunde. Seltsamerweise geht Nietzsche zwar von einem organologischen Bewußtseins-Modell aus, sieht aber in dessen 'höchsten' Funktionsweisen, dem bewußten begrifflichen Denken, logische, das heißt fur ihn, mechanistische Prinzipien am Werk.35 Das bewußte begriffliche/logische Denken arbeitet reduktionistisch unter der Voraussetzung, daß es Einheiten fingiert; es ist schon durch die „Sprache" .verleitet', ein „Subjekt", zum „Thun" (zu irgendwelchen Vorgägen) einen „Thäter"3* zu setzen und daher sui generis " unfähig, das Werden zu verstehen (daher auch Nietzsches Schwierigkeit für die „Wesen" einen Terminus zu finden, weil wir bei jedem Wort unwillkürlich auf ein Subjekt als Urheber referieren). Wir müssen zu einem „Wirken" etwas, das wirkt, hinzudenken, d.h. wir müssen ein Subjekt postulieren, um überhaupt denken zu können. Mit diesem Postulat eines ursächlichen Subjekts wird aber noch eine andere Schwierigkeit heraufbeschworen, die Nietzsche versucht abzuwenden, nämlich das Unterstellen von Zwecken und Zielen, die dieses durch sein Wirken verfolgt. Die Willen-zur-Macht-Quanten dürfen aber laut Nietzsche nicht teleologisch aufgefaßt werden, denn „(...) jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz" 37 , d.h. sie ist nicht unter einem Zeitschema38 zu erfassen - und damit ist jegliches Telos negiert. 31
Ibid. Ibid., p. 259. 33 Ibid. 34 Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [81] ), p. 261.- Nietzsche bezeichnet das ,¿Stärker-v/erden-wollen von jedem Kraftcentrum aus" als „die einzige Realität" (ibid.).· An anderer Stelle heißt es, die „elementarste Thatsache", hinter die nicht mehr zurückgegangen werden könne, sei „ein Pathos" (ibid.), ebenfalls eine andere Bezeichnung für Wille zur Macht. (Zum Pathos-Begriff vid. Kap. IX, §31) 35 „Zum Verstândnifl der Logik::: der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht." (Nachlaß, KSA12 (2 [90]), 106) - „Das Bewußtsein ist die Hand, mit der der Organismus am weitesten um sich greift (...). Unsere Logik, unser Zeitsinn, Raumsinn sind ungeheure Abbreviatur-Fähigkeiten, zum Zwecke des Befehlens." (Nachlaß, KS Al 1, (34 [131] ), p. 464) - Die mechanistische Denkweise arbeitet unbewußt für die „große Vernunft des Leibes" - eben durch reduktionistische, mechanistische Simplfizierung, die wir allerdings auch im Organischen vorfinden! Auf diese scheinbare Ungereimtheit kann an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden (vid. Kap. V der Arbeit). 36 Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [79] ), p. 258. 37 Ibid.- In diesem Punkt geht Nietzsche über den Kantischen Organismusbegriff hinaus. Das ist natürlich auch ein Hinweis darauf, das seine organologische Theorie mehr ist als bloße Beschreibung des Organischen. 38 Der „Raum-" und „Zeitsinn" sind bei Nietzsche Bewußtseinsphänomene. Eine Zweck-Mittel-Relation ist nur aus einem Zeithorizont heraus erklärbar. 32
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Das Subjekt als metaphysisches Postulat
Die Charakterisierung der „lebenden Wesen" als „Intellekte", „Individualgeister" und „Subjekte" ist nicht in der usuellen Bedeutung zu verstehen.39 Die Absicht, die Nietzsche mit dieser Vergeistigung der sog. letzten Bausteine, die den Leib oder jeden Organismus konstituieren, verfolgt, ist klar ersichtlich: es versucht durch Panpsychisierung die Atom- oder Substanz- bzw. Subjektvorstellung zu umlaufen. Unter demselben Aspekt sind auch seine Bemühungen zu lesen, das Subjekt in eine „Vielheit von Subjekten"·10 aufzulösen. Der Versuchung, die letzten konstituierenden Einheiten als Subjekt-Substanzen aufzufassen, versucht er zu entgehen, indem er diese selbst als belebt charakterisiert, d.h. bei Nietzsche auch immer soviel wie: sie als unerkennbar, unbegreifbar zu verstehen. Auch die anorganische Natur ist ihrem Wesen nach Geist: „das Unorganische" ist „die individualitätslose Geistigkeit."41 Nietzsche bezeichnet dieses „Reich" sogar als .höherstehend', weil es in ihm „keinen Irrthum giebt."42 Der Irrtum tritt erst auf der Ebene lebender Organismen auf. Alle „organische Wesen" haben einen ego-bedingten „Seh-Winkel"43. Die Geburt der von Nietzsche kritisierten Subjektivität findet auf der Zellebene statt: ,J)as Ich-Geistige selber ist mit der Zelle schon gegeben."44 Und „vor der Zelle giebt es keine IchGeistigkeit (...)."45 Auch die Zelle als kleinste organische Einheit muß sich innerhalb eines Zellverbandes, aus Gründen der Nahrungsaufnahme, das sich Einzuverleibende entgegensetzen; es muß Objekte als assimilierbar oder nichtassimilierbar interpretieren46. Die Möglichkeit der Nahrungsaufnahme setzt eine Ich-Origio und Subjekt-Objekt-Diiferenzierung voraus47, nur so können Dinge als einverleibbar 'erkannt' werden. Selektion, wie sie bei Nahrungsaufnahme stattfindet, setzt Ding-Interpretation, die von der Ich-Interpretation abgeleitet ist, voraus. Der Irrtum, von dem Nietzsche spricht, besteht in der mit der Ich-Fiktion notwendig auftretenden Perspektive. Dieser auf der Zellebene entspringende Irrtum setzt sich durch den gesamten Organismus bis hin zum letzten Organ, dem Bewußtsein, fort. 39
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Darauf weist auch Figi hin. Er bezeichnet sie als „vorbewußt" und „überbewußt, insofern sie die Prozesse leiten, die die praerationale Einheit des Leibes begründen, bzw. diese Prozesse in einer das bewußte Wollen übersteigenden Weise dirigieren." (J. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, op. cit., p. 127) Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [42] ), p. 650. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [34] )., p. 157. Ibid.- Der Irrtum beginnt für Nietzsche mit dem Leben, denn zu leben setzt permanentes Interpretieren voraus und bedeutet immer perspektivische Gebundenheit. Ibid. Ibid. Ibid. „Der Wille zur Macht interpretirt: bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation; es grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt." (Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [148] ), p. 139 sq.) Wir haben hier den Versuch vor uns, das grammatische Subjekt-Objekt-Schema biologisch zu verankern.
Das organologische Modell als Versuch der SubjektQberwindung
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Zum besseren Überblick seien die methodischen Schritte noch einmal kurz skizziert: 1. Nietzsche geht vom physikalischen Atom als einer letzten Einheit aus, verfolgt die physikalischen Arbeiten Boscovichs, Fechners, Vogts und Mayers, die das Atom ganz in seinem Sinne in einen reinen Kraftbegriff aufgehen lassen. Diesen Kraftbegriff entwickelt er dann fur seine Zwecke weiter bis hin zum Machtquanten-Begrijf und verbindet so den physikalischen Begriff von der letzten Einheit der Materie mit seinem Postulat des Willens zur Macht und erhofft sich davon die Tilgung der Subjekt-Vorstellung. 2. Zur Charakterisierung der inneren Dynamik eines Organismus greift er - hierin von Kant beeinflußt auf strukturelle Beschreibungen von Organismen und Gesellschaftsstrukturen48 zurück. Wir haben bisher den Organismus als System unter dem Aspekt der Organisation untersucht und müssen ihn im folgenden noch unter den Gesichtspunkten der Funktion, Struktur und Dynamik genauer betrachten.- Unter dem funktionalen Aspekt wird das Gesamtsystem in seiner Prozessualität und seinen Wechselwirkungen betrachtet.49 Alle biologischen Systeme sind autopoietisch, darauf ausgerichtet, sich selbst zu erneuern. Auf sog. „abbauenden" Prozessen folgen wieder „aufbauende"50. Für Nietzsche sind die „kleinsten lebenden Wesen" „etwas Wachsendes (...), Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes"51. Für die „eingeborenen einverleibten arbeitenden Einheit aller Funktionen"52 und die „Selbsterhaltung"53 ist Bewußtsein nicht erforderlich: diese „Hauptthätigkeit" verläuft „unbewußt"54. Nun ist ersichtlich, daß die Rede vom Bewußtsein als eines Organs sich primär auf die Funktionsweise bezieht und nicht als lebendes Organ, das sich autopoietisch erneuert, aufgefaßt werden darf.55 Interessanterweise versucht Nietzsche auch das Bewußtseins-Organ, organologisch wieder einzubinden, indem er einen über Leib und Bewußtsein hinausgehenden höheren Organismus56 ansetzt: „Das Bewußtsein erscheint erst gewöhnlich, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will - als Bewußtsein zunächst dieses höheren Ganzen, des Außer-sich. Das Bewußtsein entsteht in Bezug auf das Wesen, dem wir Funktion sein könnten - es ist das Mittel, uns ein-
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Vid. Kap. III, §9-10. Eine instruktive Zusammenfassung der Systemtheorie bietet E. Jantsch, „System, Systemtheorie", in: H. Seiffert/G. Radnitzky (eds ), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, p. 329 sqq.- Cf. E. Jantsch, „Eikenntnistheoretische Aspekte der Selbstorganisation natürlicher Systeme", in: Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, ed. S.J. Schmidt, Frankfùrt/M 1987, pp. 159 - 191. J. Jantsch, „System, Systemtheorie", op. cit., p. 334, Sp. b. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (37 [4| ), p. 577. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [316] ), p. 563. Ibid. Ibid. Mit dem Bewußtsein tritt, wie noch auszuführen sein wird, eine neue Qualität auf, die nicht nach biologischem Muster beschreibbar ist. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 |7] ), p. 443.
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Das Subjekt als metaphysisches Postulat
zuverleiben."57 Das „Bewußtsein der Einheit", das „Ich-Bewußtsein"58 oder das Subjekt ist selbst wieder Funktion" eines höheren Ganzen"; d.h. der Irrtum, sich als Subjekt zu verstehen, ist von einem transbewußten höheren Organismus vorgegeben. In struktureller Hinsicht weist das von Nietzsche beschriebene organische System eine dissipative Struktur auf, eine sich kontinuierlich verschiebende Konstellation von Macht-Allianzen, eine ständige Umverteilung von Kräften, Verdichtung von Machtzentren, die sich wieder verschieben können. Dieselbe Strukturbeschreibung gilt auch für die Charakterisierung des Subjekts: „Die Sphäre eines Subjekts beständig wachsend oder sich vermindernd - der Mittelpunkt des Systems sich beständig verschiebend (...). Keine .Substanz', vielmehr Etwas, das an sich nach Verstärkung strebt; und das sich nur indirekt,erhalten' will (es will sich überbieten -)". w Die Struktur eines solchen Systems kann nur erfaßt werden, wenn man es künstlich 'einfriert', de facto aber entzieht sich eine solche kontinuierliche Dynamik dem Erkennen.60 Unter dem dynamischen Systemaspekt erfaßt man ein ganz wesentliches Merkmal des Nietzschischen Organismusbegriffs.61 Die Selbstorganisationsdynamik wird von den Willen-zur-Macht-Quanten 'angetrieben', so daß, qua Definition dieser Quanten, für das permanente Wachsen-Wollen ein Energiezuwachs erforderlich ist, denn „Leben" ist ja nach Nietzsche „nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr ,Äußeres' sich unterwirft und einverleibt"62. Da in einer dissipativen Selbstorganisation freie Energie in Entropie umgewandelt wird63, würde ohne Energiezuwachs von außen die Gesamtdynamik zum Erliegen kommen, was der Machtquantentheorie Nietzsches widerspräche, deren Prinzip gerade negentropisch ausgerichtet ist: jedes Organ will über sich hinauswachsen. Nietzsche geht von offenen Systemen auf allen organischen Stufen (von der Zelle bis zur „Geschichte eines Gestirns") aus; hält aber in kosmologischer Hinsicht das „Maaß der All-Kraft" für „bestimmt", und zwar für „nichts .Unendliches'"64 57
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Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [316] ), 563.- „In allem Bewußtwerden drückt sich ein Unbehagen des Organismus aus: essoll etwas Neues versucht werden (...)." (Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (13 [25] ), p. 421) Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [316] ), p. 563. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [98] ), 391 sq. Erkennen ist ftlr Nietzsche eben diese untaugliche Fixation. Der Organismusbegriff umfaßt natürlich auch die „großen Organismen" wie „Staat", „Volk", „Gesellschaft", „Menschheit" sowie die „Geschichte eines Gestirns" (Nietzsche, Nachlaß, KSA7 (5 [79]),p.lll). Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (7 [9] ), p. 295. Cf. E. Jantsch, System, Systemtheorie, op. cit., p. 335, Sp. a. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [202] ), p. 523.- Der Organismusbegriff fthrt bei Nietzsche systematisch zur Konzeption der kosmologischen Dimension des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Dennoch wird das „All" nicht als Organismus begriffen; das „Organische" (im rein biologischen Sinne) .nehmen wir nur auf der Kruste der Erde wahr'. „Das modern-wissenschaftliche Seitenstück zum Glauben an Gott ist der Glaube an das All als Organismus: davor ekelt mir." (Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [201] ), p. 522) Die Erscheinung des Organischen ist sub specie aeternitatis etwas Flüchtiges, Unwesentliches. Das All organologisch zu verstehen wäre für Nietzsche wieder ein unzulässiger
Das organologische Modell als Versuch der Subjektoberwindung
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und das heißt, daß auf kosmischer Ebene von einem geschlossenen System ausgegangen wird, in dem durch die Irreversibilität der Zeitrichtung die Entropie zunehmen müßte. Nietzsche schließt nun daraus, daß die „Zahl der Lagen Veränderungen Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar (...) ,unermeßlich' ", aber „bestimmt und nicht unendlich"65 ist. Unendlich dagegen ist für ihn die „Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich d.h. die Kraft ist ewig gleich und ewig thätig"66. Und dies nun ist nur möglich, wenn die abendländische lineare Zeitvorstellung in eine zyklische umgewandelt wird: „(...) bis diesen Augenblick ist schon eine Unendlichkeit abgelaufen, d.h. alle möglichen Entwicklungen müssen schon dagewesen sein. Folglich muß die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung sein und so die, welche sie gebar und die, welche aus ihr entsteht und so vorwärts und rückwärts weiter! Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt."67 Die „Kraftmenge"68 ist zwar begrenzt, aber „die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der unendlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen."69 Dem entropischen Kräfteausgleich, der mit Aufhebung der Dynamik des Systems gleichzusetzen wäre, begegnet Nietzsche mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der unter diesem kosmologischen Gesichtspunkt eine Negation der Zeitrichtung erfährt: „(...) jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz"70 (und jeder „Augenblick" ist wieder eine Ewigkeit, weil er zeitlos gedacht werden muß).71 Die Wiederkunfts-Thematik soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Es ging zunächst nur darum, den systemtheoretischen Aspekt soweit zu verfolgen, daß der Stellenwert des Bewußtseins auf dem Hintergrund der kosmologischen Idee Nietzsches sichtbar wird.- Das Bewußtsein als jüngstes und letztes Organ markiert die Schnittstelle, wo das Organische ins Kosmologische (unter Anthropomorphismus. Zur kosmologischen Beschreibung muß also vom Organismus-Modell Abschied genommen werden, während der System-Gedanke noch weiterträgt.- Nietzsche war durch Mayers Mechanik der Wärme (21874) mit dieser Thematik vertraut- Cf. dazu M. Bauer, „Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegrifl", in: Nietzsche-Studien, Bd. 13 (1984), pp. 211 - 227. 65 Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [202] ), p. 523. 66 Ibid. 67 Ibid. 68 Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [157] ), p. 502.- Cf. auch KSA9, (11 [292] ). 69 Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [148]), p. 498. 70 Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [79] ), p. 258. 71 Nietzsche warnt auch vor einer ,,falsche(n) Analogie", die werdenden und vergehenden Kreisläufe in dem Sinne von Jahreszyklen „zur Charakteristik des ewigen Kreislaufs zu verwenden." (Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [157] ), p. 502) - „Alles Werden ist innerhalb des Kreislaufs und der Kraftmenge" (ibid.), will sagen, wie es unter linearer Zeitvorstellung gedacht wird Man müßte das Geschehen gleichsam aus der Innenperspektive erfassen können, dann nämlich erwiese sich die ganze Dynamik als ein, wie Abel schreibt, „ateleologisches Willen-zur-Macht-Geschehen" (G. Abel, Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, p. 386). „Stellt man sich" nach Abel „ganz auf die Innenseite ihres Vollzugs selbst", dann sind die „Prozesse" „nicht (...) kausal und/oder final determiniert (...)." (ibid.) - Es wird an anderer Stelle noch zu zeigen sein, daß die Innenperspektive nicht über die rationale Bewußtheit zu erreichen ist, vielmehr gelangt man über einen ekstatische Zustand zu einer Intuition dessen, worüber man auf der bewußt rationalen Ebene nur ein symbolisches Verständnis gewinnen kann.
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Das Subjekt als metaphysisches Postulat
Beibehaltung des Willen-zur-Macht-Prinzips) überschritten wird. Nimmt sich die bewußte Subjektivität in ihren intellektuellen Möglichkeiten72 gemessen an den für sie selbst unbewußt ablaufenden Prozessen des Leibes schon äußerst ärmlich aus, so erst recht gemessen an der Dynamik des kosmischen Ganzen, wenn das Organische schon von diesem Ganzen so „entfernt wie möglich"73 gedacht werden soll. Es ist, so Nietzsches Ansicht, verglichen mit der immensen Willen-zurMacht-Komplexion des „Alls", nur ein flüchtiges74 Experiment. Bewußtsein ist entstanden, als „etwas Neues versucht werden"73 sollte. Prinzipiell ist gerade der Mensch in seiner bewußten Verfaßtheit etwas, das „überwunden werden soll."76 Legt man das heute vieldiskutierte anthropische Prinzip (AP) zugrunde, so dürfte die bisherige Analyse gezeigt haben, daß Nietzsche, selbst dem schwachen AP, das besagt, daß die Existenz eines bewußten Beobachters ein Universum impliziert, das durch Gesetze regiert wird und Anfangsbedinungen hat, die diese bewußte Existenz zulassen77, nicht zustimmen würde. Aus seiner Sicht wäre der erste Einwand, daß es solche „Gesetze" überhaupt nicht gibt, imgleichen gibt es keine „Anfangsbedingungen", dem Begriff inhäriert die abendländische lineare Zeitvorstellung. Geht man von dieser Vorstellung aus, wird nämlich sofort die Frage suggeriert, was die Bedingungen der Anfangsbedingungen waren78 und so ad infinitum. Selbst wenn die teleologische Komponente ausgeklammert wird, bleibt die durch unser Zeitbewußtsein vermittelte Kausalvorstellung als eine psychologische Nötigung. „Die Welt", schreibt Nietzsche, „wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen - sie erhält sich in Beidem ..,"79 Solche Formulierungen lassen das Bemühen erkennen, die kausal-mechanistische Denkweise des Vorher - Nachher zu umgehen. Nietzsche setzt der mechanistischen Denkweise, die auch für unsere Subjekt-Fiktion (TunTäter-Schema) verantwortlich ist, sein inunaterialistisch gedachtes Willen-zurMacht-System rein energetischer Machtquanten entgegen. Dieses universal12
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„(...) Vernünftigkeit oder UnvernQnftigkeit sind keine Prädikate für das All." (Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [137] ), p. 502) · Die Vernunft, die höchste intelligible Instanz des Menschen, hat so keine Kriterien einer sinnvollen Bewertung. Streng genommen ist die Nietzschische Konzeption Irrsinn, der auf rationalem Boden gewachsen ist Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [201] ), p. 522. Einen Eindruck von der hier waltenden Relation zwischen dem Organischen und der kosmischen Dimension vermittelt der Anfang von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ( WL): „(...) es gab Ewigkeiten, in denen er [der menschliche Intellekt - E.S.] nicht war, wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben." {WL, KSA1, p. 875) Der Intellekt führt nicht „Ober das Menschenleben" hinaus (ibid.). Cf. PW, KSA1, p. 759 sq. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (15 [25] ), p. 421. Nietzsche, Za, Vom Krieg und Kriegsvolk, KSA4, p. 60, passim. Cf. Β. Kanitscheider, Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive, Stuttgart 1984, p. 274.- Nach Kanitscheider „muß das Universum", wenn man das schwache AP zugrundelegt, „keinen Zielrichtungsmechanismus enthalten, eine Art universaler Entelechie, die auf den Menschen ausgerichtet ist" (op. cit, p. 275) Cf. Kants 1. Antinomie, KrVΒ 454 sqq. Bei der anthropischen Diskussion muß man mit Kant berücksichtigen, daß „Welt" und „Kosmos" Oberhaupt keine Gegenstände der empirischen Erkenntnis sind. Der Gegenstand der Kosmologie ist eine theoretische Entität. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [188]), p. 374.
Das organologische Modell als Versuch der Subjektüberwindung
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durchgängige System energetischer Dynamik hat gegenüber naturwissenschaftlichen, kausalistischen Theorien einen großen Vorteil: der bewußte Beobachter ist in das Gesamtsystem absolut integriert · oder anders gesagt: Bewußtsein steht nicht - beobachtend - neben dem System, sondern ist an der Selbstorganisation beteiligt (und zwar nicht nur im mechanistischen Verständnis): die beobachtende/erkennende Intelligenz verändert in der Beobachtung die Gesamtdynamik des Systems selbst; aber es weiß sich hierbei nicht als Ursache, weil die possessive Funktion des Bewußtseins den Beobachter als Subjekt isoliert (= Substantialisiert) und so die Beobachtung bzw. das Erkennen ursächlich auf sich selbst perspektivisch verengt. Die genuine absolute Identität mit dem Gesamtsystem bleibt dem bewußten Denken verborgen, weil es anders seine Aufgabe, sich als Erkenntnis·, Wollens- und Empfindungs-.SwZ>yeit/ zu verstehen, nicht erfüllen könnte; es muß sich autark verstehen, und das heißt nichts anderes, als daß es seine Perspektive absolut setzen muß. Es mißversteht daher das Weltgeschehen oder die kosmische Entwicklung als ihm äußerlich evolvierend. Der kosmische Anfang und das Selbstbewußtsein als Kulminationspunkt werden so als eine in der Zeit zurückgelegte Strecke mißverstanden.- Legt man das oben beschriebene System zugrunde, dann kann man sagen, daß jegliche Referenz auch wieder Selbstreferenz ist, wiewohl diese Unterscheidung nur analytischen Charakter hat. Für Schelling war das letztendliche Ziel der Natur, sich (durch die höchste Reflexion in sich) selbst in der Vernunft Objekt zu werden, d.h. in einem Bewußtsein, zu sich selbst zu kommen. Natur ist „ursprünglich identisch (...) mit dem, was wir in uns als Intelligenz und Bewußtes erkannt"80 haben. Schelling vertritt zwar einen teleologischen oder besser gesagt, einen anthropischen Ansatz, nimmt aber nichts in die Entwicklung hinein, was nicht schon vom Urbeginn an (potentiell) da war: „Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich, hat die menschliche Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung."81 Die Parallele 80
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Ibid.- Schelling kann daher sagen, daß „über Natur philosophiren so viel heißt, als die Natur schaffen (...)." F.W.J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), in: F.W.J. Schelling (ed.), op. cit, p. 321) - Schelling wird heute im Rahmen des anthropischen Gedankens häufig erwähnt Cf. J.D. Barrow/F.J. Tipler, The Anthropic Cosmological Principle, Oxford/New York 1986, bes. chap. 3.5: „Teleologica! Ideas in Absolute Idealism", p. 153 sqq.- „Nature is teleologica! for two reasons: the rational subprograms are presently an image of the Universal Program, and further - as a consequence of being an image of an intrinsically teleological entity - the Universal Program has the goal of universal self-consciousness." (ibid., p. 157) - Im Gegensatz dazu Nietzsche: Die Natur ist nicht teleologisch, sie hat (die „große Natur") kein Endziel; BewuBtsein ist eine bloße Obergangsform. In Obereinstimmung mit dem obigen Zitat würde auch Nietzsche Bewußtseinszustände im weitesten Sinne als in die „große Natur" eingebunden betrachten; nur - alles was überhaupt bewußt ist, basiert auf — später noch genauer zu beschreibenden - mechanistischen (kausalistischen) Prinzipien: mit dem Bewußtsein tritt eine neue Qualität auf, die zu dem dynamistischen Prinzip konträr gedacht ist, in dieses aber involviert sein soll. Das Reich des Irrtums wird fraglos in das Reich absoluter Notwendigkeit/Konsequenz integriert. Diese vorausgesetzte Kompatibilität könnte mit Nietzsche dahingehend erklärt werden, daß das Bewußtsein und seine Funktionsweise sich von dem Organischen ableiteten läßt, daß sich schon auf der Zellebene mechanisch-analoge Prozesse vollziehen. F.W. Schelling, Die Weltalter (1811), cit. nach W. Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings „Die Weltalter", Frankfiirt/M 1989, p. 79.- W. Hogrebe weist daraufhin, daß „Mitwissenschaft als conscientia" (Bewußtsein) zu lesen ist (cf. W. Hogrebe, Prädikation und Genesis, op. cit, p. 79).
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Das Subjekt a b metaphysisches Postulat
zu Nietzsche wird ersichtlich in der Differenz beider zu Kant, dessen Natursicht mathematisch-mechanistisch an der Newtonschen Physik orientiert war, die auf identifizierbare Objekte in Raum und Zeit geht Die Verstandeskategorien greifen nur bei Erscheinungen82 in Raum und Zeit, für das Begreifen des Lebendigen oder Organischen sind sie nach Kant untauglich.83 Organismen können nur als Idee der Zweckmäßigkeit vorgestellt, nicht aber begriffen werden.- In dem Versuch, die Natur vom Lebendigen, Individuellen oder Voluntaristischen her zu verstehen, gibt es zwischen Schelling und Nietzsche partielle Übereinstimmungen. Auch in bezug auf den Erkenntnismwfttf, unter dem das Subjekt sich in einer gewissen Identität mit der Natur fühlen kann, läßt sich eine Parallele ausmachen; so entspricht Schellings Begriff der intellektuellen Anschauung in gewisser Weise der dionysischen Ekstase, in der das suspendierte (mechanistische) Bewußtsein die Einswerdung des Menschen mit der „großen Natur" wieder zuläßt.Nietzsche geht allerdings nicht davon aus, daß das menschliche Bewußtsein Zeuge eines „Uranfangs" ist: Schöpfungsgeschichten sind für ihn BewußtseinsFiktionen. Das Bewußtsein, um es nochmals hervorzuheben, tritt erst an bestimmten (schon fertigen) Organismen auf; es hat eine Genese, die jedoch nicht teleologisch verstanden werden darf; es dient einem ihm übergeordneten Zweck, aber dieser Zweck darf nicht mit Zweckbegriffen verwechselt werden, die wir (erkennend) in die Natur hineinlegen. Nietzsches Philosophie ist in ihrem systemtheoretischen Aspekt zwar organologisch, aber einen Organizismus lehnt er zur Erklärung für das, was er das „All" nennt, kategorisch ab. Als aussagekräftigen Befund ist festzuhalten, daß Bewußtsein leib-biologisch verankert ist84 und als letztes „Organ" aus dem Leib-Organismus hervorgegangen ist, der für sich wiederum aus einer Vielfalt von „Bewußtseins" oder Willezur-Macht-Quanten konstituiert ist. Die innere Dynamik des Leib-Geschehens ist dem mechanistischen Intellektualbewußtsein weit überlegen. Die Struktur und Funktionsweisen des Bewußtseins sind systemtheoretisch nach dem Organismusmodell beschreibbar, wobei das wesentliche Kriterium des Lebens auf der Zellebene durch einverleibende Assimilation, Selektion, Vereinfachimg usw. charakterisiert ist. Diese Funktionen, die sich unter dem Oberbegriff Interpretation fassen lassen, durchziehen alle Ebenen des Organismus und sind auch - funktional - im Denken und in den hochbewußten logisch-begrifflichen Operationen wiederzufinden. Die Besonderheit des Bewußtseins gegenüber anderen Organen besteht in der Verstärkung dieser Funktionen. Radikal unterscheidet sich das be82 83
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Von der reinen Konstruktion in den Anschauungsformen (Geometrie/Arithmetik) sehen wir hier ab. Cf. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, ed. K. Vorländer, Hamburg (=Meiner) (unveränd. Nachdr. d. 6. Aufl. v. 1924) 1974, §§ 65, 66. Nietzsche kann in dieser Hinsicht für die gegenwartige Diskussion fruchtbar gemacht werden. In jüngster Zeit hat Searle in dem Bemühen, den Leib-Seele-Dualismus zu überwinden, einen verblüffend ähnlichen Bewußtseins-Begriff entwickelt: ,ßewußtsein ist (...) ein biologisches Merkmal des Menschenhirns und des Hirns gewisser anderer Lebewesen. Es wird durch neurobiologische Vorgänge verursacht und ist ein Bestandteil der natürlichen biologischen Ordnung wie jedes andere biologische Merkmal (Photosynthèse, Verdatíung, Mitose). " (J.R. Searle, The Rediscovery of the Mind, Massachusetts 1992 (dt Die Wiederentdeckung des Geistes, München 1993, p. 109). Cf. K.R. Popper/J.C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München 10 1991; cf. bes. Kap. VII).
Die oligarchische Struktur des Subjekts
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wußte Operieren mit Hilfe von Zeichen von allem Organischen jedoch durch die neue Qualität, daß alles Bewußte in einem Zustandsmodus (Fixation) stattfindet, was für Nietzsche im organischen Bereich nicht zutrifft. Die Subjekt-Fiktion, der er durch sein organologisches Modell zu entgehen sucht, findet schon da statt, wo Interpretation (z.B. der Nahrungssuche) ein Entgegen-Setzen und Assimilieren erforderlich macht.- Die letzten Einheiten eines Organismus, der auch als ein Wille-zur-Macht-System beschrieben werden kann, sind keine „Seelen-Atome", sondern Willen-zur-Macht-Quanten; sie sind das Prinzip, das die Gesamtdynamik des Ganzen und seine evolvierende Potenz bestimmt. Zur Beschreibung der internen Machtstrukturen werden von Nietzsche auch Gesellschaftssysteme (Staat, Volk) herangezogen. Im Rahmen der kosmologischen Konzeption wird die Bedeutung des Organischen und das Phänomen des Bewußtseins und des Subjekts als eine flüchtige Erscheinung apostrophiert, die auch funktional an höhere nicht-biologische Prozesse gebunden ist. Nietzsche kommt somit zu einer anderen Einschätzung des Selbstbewußtseins als der deutsche Idealismus, auch wenn sich mit Bezug auf Schelling gewisse Parallelen auffinden lassen. Eine kritische Bewertung der zum Teil hochspekulativen Vorstellungen Nietzsches, die sich aber durchaus systematisch darstellen lassen, hat immer die von Nietzsche intendierte kritische Stoßrichtung gegen das souverän gedachte Subjekt und dessen neuzeitliche Hypostasierung zu berücksichtigen.
§10 Die oligarchische Struktur des Subjekts Wurde in der vorhergehenden Analyse die Verankerung des Bewußtseins und des Subjekts im Organischen und seine Stellung innerhalb eines kosmologischen Konzepts unter dem übergreifenden Gesichtspunkt einer Systemtheorie analysiert, so ist nun präziser zu fassen, was es heißen soll, daß das Subjekt eine „Vielheit von Subjekten" ist, die unter einer oligarchischen Herrschaftsstruktur stehen. Die Frage muß lauten, ob eine Subjekttheorie traditioneller Spielart dadurch zu überwinden ist, daß man das Subjekt lediglich in eine Vielheit von Subjekten aufgehen läßt? Welcher Art sind dann die multiplen Subjekte?- Diese inhaltlichen Schwierigkeiten sind aber noch vergleichsweise harmlos, konfrontiert man die Auflösungs- und Dynamisierung-Versuche mit Nietzsches essentielleren Einsicht, daß wir Einheiten/Substanzen/Dinge/Ursachen/Verursacher setzen müssen, um überhaupt denken zu können. Welchen epistemischen Anspruch können dann Aussagen über ein - nicht zu begreifendes - absolut dynamisches System beanspruchen? Auch eine Systemtheorie muß, wie gesehen, von diskriminierbaren Einheiten ausgehen, will sie überhaupt zu einer Struktur kommen wollen. Anders sind auch Begriffe wie Wechselwirkung, Ordnung und selbst Prozeß ohne sinnstiftende Referenz. Das wird natürlich augenfällig, wenn wir mit Nietzsche davon sprechen, daß sich das Subjekt unter dem Begriff Machtverhältnisse verstehen läßt.- Hier ist nun noch nicht der Ort (vid. Kap. VI) diese
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Schwierigkeiten aufzulösen; nur soviel sei vorweggenommen, daß Nietzsche um diese Problematik genau wußte - und um die Tatsache, daß sie nicht ausräumbar ist; denn wenn wir etwas begreifen wollen, können wir das nur in einen sprachlichen Zwange tun. „Die Annahme des Einen Subjekts" (wie es die Transzendentalphilosophie überliefert hat) „ist vielleicht nicht nothwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt? Eine Art Aristokratie von .Zellen', in denen die Herrschaft ruht?"1 Die Annahme eines multiplen Subjekts ist mit Fragezeichen versehen; Nietzsche nennt seinen Gedanken auch eine .Hypothese'2. Er gewinnt diese Hypothese, indem er vom „Leib und der Physiologie"3 ausgeht, die ihm eine „Vorstellung von der Art unserer Subjekt-Einheit (...) als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens"4 vermittelt. Dieser „Subjekt-Einheit" korrespondiert das „oberste Bewußtsein"5, während es so viele „Bewußtseins" gibt wie „organische Wesen". Es ist klar ersichtlich, daß Nietzsche mit der „Vielheit" die bewußten „organischen Wesen" meint, und daß er sie als Subjekte anspricht. Wie beim Erkenntnissubjekt setzt er bei „allem Organischen" „Gedächtniß und eine Art Geist „voraus"6. Dem Gedächtnis kommt die Funktion zu, die „Erlebnisse" des .lebendigen' Organismus nach Ähnlichkeiten zu ordnen, zu vereinfachen und in „Einheiten"7 zu verwandeln. Ein wesentliches Merkmal des Gedächtnisbegriffs ist das Wiedererkennen8. Das aber ruft die Vorstellung einer „zeitlosen" Seele', die wiedererkennt, sich also als Substanz durchhält, auf den Plan, für die der Subjektbegriff nur die neuzeitliche Version ist. Nietzsches Angriff auf die Subjektsubstanz entspricht dem Angriff auf die „Seelen-Atomistik"10; er spricht sich für die Hypothese einer „ ,sterbliche(n) Seele'" und einer „,Seele als Subjekt-Vielheit'" und einer „.Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte'"! 1 aus. Er will also, wie schon erwähnt, an dem Seelenbegriff festhalten, psychologisiert ihn aber in einem heute usuellen Verständnis. Die Seele wird, ähnlich wie bei Freud, Schauplatz von Machtkämpfen, von Trieben und Affekten oder besser: sie ist nun das Triebgeschehen. 1 2 3 4
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Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [41] ), p. 650. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [21] ), p. 638. Ibid.- Ein Jahr zuvor hatte er noch notiert: „Der Mensch als Vielheit: die Physiologie giebt nur die Andeutung eines wunderbaren Verkehrs zwischen dieser Vielheit und Unter- und Einordnung der Theile zu einem Ganzen. Aber es wäre falsch, aus einem Staate nothwendig auf einen absoluten Monarchen zu schließen (die Einheit des Subjekts)" {Nachlaß, KSA11, (27 [8] ), p. 276 sq.). Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [401] ), p. 116. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [4039 ), p. 117. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [94] ), p. 175.- Das Gedächtnis hat eine der Begriffsbildung/anwendung vergleichbare Funktion.- Ober den Gedächtnisbegriff vid. infra. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [29] ), p. 644, passim. Cf. ibid. Nietzsche, JGB, Erstes Hauptslück, KSA5, Nr. 12, p. 27. Ibid.
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Um zu klären, wie es zur Bildung von Herrschaftsstrukturen kommt, sind wir zunächst wieder auf den Organismus gestoßen und haben festgestellt, daß solche Gebilde schon als Subjekte vorgestellt werden. Nun ist aber ein Organ schon Ausdruck und Ergebnis einer Willen-zur-Macht-Interpretation12, eines vorgängigen Geschehens, das es jetzt näher zu betrachten gilt. Die Arbeit setzt dabei die Ergebnisse der gegenwärtigen Nietzsche-Forschung in bezug auf die Willen-zurMacht-Lehre voraus, wie sie speziell von Günter Abel {Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr) interpretiert worden ist. Danach gibt es „Wirklichkeit als Wirklichkeit, als die So-und-so-Wirklichkeit nur in und als Vollzug des vielheitlichen Willen-zur-Macht-Geschehens."13 Hier sei nur angedeutet, daß Bewußtsein und seine Funktionen auch Ausdruck dieses von Nietzsche universell gedachten Prinzips sind. Die universale „Kraft"14, die allen Erscheinungen zugrundeliegt, „bedarf nach Nietzsche „noch einer Ergänzung: es muß" ihr „eine innere Welt zugesprochen werden", die er als „.Willen zur Macht'" 15 bezeichnet. Begreift man die Kraft ohne das Willen-zur-Macht-Prinzip, ist sie bloße ,j>otentia (δύναμις)" 16 , reine Möglichkeit. „Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich", wie gesagt, „noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt."17 Erst wenn die Potenz in Interpretation umschlägt, kann die Kraft etwas werden, das etwas anderes, das auch mehr will und dadurch als etwas bestimmt ist, auf seine Allianz-Tauglichkeit hin interpretiert. Der Umschlag von der Potenz in die Qualität der Werthaftigkeit, die sich an dem Mehr-werden-Wollen bemißt, bringt die Kraft (als nun bestimmte) in die Existenz för andere Machtquanten. Das Quantum interpretiert sich dabei als Einheit (Subjekt) und wird fiir andere interpret abel. Die Werteinschätzung anderer Quanten legt die eigene Perspektive im Gesamtprozeß fest, d.h. die Subjektsetzung ist mit einer Origio-Positionierung verbunden, von der aus andere Quanten für mögliche MachtsteigerungsKoalitionen bewertet werden. Die Abschätzung der anderen Quanten ist immer auch Selbstwert-Einschätzung". Dasselbe Prinzip wird uns wieder begegnen, wenn wir Nietzsches Theorie erörtern, warum sich überhaupt Bewußtsein ausgebildet hat.
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Cf. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 2, (2 [148] ), p. 139. G. Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, p. 4.- Abel betont ferner, daß das Willen-zur-Macht-Prinzip,fille Seinsbereiche betrifft" (ibid.). Nietzsche meint hier den Kraft-Begriff mit dem die „Physiker Gott und die Welt geschaffen haben" (ibid.). Nietzsche, Nachlaß, KSA11. (36 [31] ), p. $63. R. Boehm, Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie, Den Haag 1968, p. 230. (Cf. bes. Kap. VIII: „Husserl und Nietzsche", op. cit., p. 217 sqq.) Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [148] ), p. 139 sq. Hierin sieht Nietzsche auch den Ursprung der Moral, die wesentlich perspektivisch gebunden ist und immer das Willen-zur-Macht-Prinzip im Rücken hat: „(...) jedes Kraftcentrum - und nicht nur der Mensch" - „construírt" „von sich aus die ganze übrige Welt", „d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet" es die Welt. (Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [186] ), p. 373))
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Jedes Machtquantum ist durch den Vektor des Mehr-Macht-haben-Wollens charakterisiert, der auch den Impetus enthält, daß andere Quanten interpretativ als mögliche Allianz-Kandidaten wahrgenommen („empfunden") werden. Erst in dem (dynamischen) Spannungsverhältnis der Kräfte untereinander (Systemcharakter) bauen sich die Quanten auf (sie sind nur in diesem Wechselwirkungs-Verhältnis), und es können so allererst „Machtverschiedenheiten"19 festgestellt werden. Das Ausbilden von „Machtcentren" setzt eine vorgänige Abgrenzung der an der Machtakkumulation beteiligten Quanten und deren Teilautonomie voraus. Das aber bedeutet, da nicht jedes Quantum mit jedem anderen 'kompatibel' ist, daß die Qualität des Mehr-werden-Wollens verschieden sein muß; es muß bestimmte Gradunterschiede geben, die nicht von vornherein festgelegt sind, sondern erst durch das Messen an anderen Kräften hervortreten.20 - Nun verleitet eine solche Darstellung dazu, die Willen-zur-Macht-Quanten wieder wie Subjekte zu behandeln, zumal ja auch Nietzsche von einer „Vielheit von Subjekten" spricht. R. Boehm sieht hierin denn auch eine ,bloße „Abwandlung" der klassischen Ontologie, der „gemäß eine .Substanz' Substanz ist, insoweit sie durch Selbstbestimmung ist, und .Subjekt', insoweit sie (durch .Akzidentien') durch anderes (durch eine andere Substanz) bestimmt ist (...)."21 Obgleich diese Interpretation plausibel ist, läuft sie doch der eigentlichen Intention Nietzsches zuwider.22 Nietzsche versucht ja gerade das Substanzschema zu umlaufen, indem er die Machtquanten als Interpretationsgeschehen begreift: „Man darf' dann auch „nicht" mehr „fragen: ,wer interpretirt denn?' sondern das Interpretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein ,Sein', sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt."23 Wir müssen das Geschehen einem Subjekt unterlegen, weil „alles, was geschieht (...), sich prädikativ zu irgend welchem Subjekte" „verhält"24. Auch wenn Nietzsche sagt: „Der Wille zur Macht interpretirt"25, besteht die Versuchung, einen ursächlichen Willen als Subjekt der Interpretation aufzufassen; aber es gibt nur das Interpretationsgeschehen - jedoch -: das Feststellen der eigenen Kraft an anderen Kräften ist gleichzeitig eine Selbst/?x/m«7g, ohne diese könnte nicht gemessen (bzw. verglichen, „bewertet") werden. Um sich mit anderen Kräften zu veibinden oder 19 20
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Nietzsche, Nachlaß, KSA12 (2 [148] ),p. 139. Diesen Aspekt hebt Boehm (Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie, op. cit., p. 230 sqq.) besonders hervor. Er schreibt: „Diese Kräfte haben nur Existenz, insofern sie sich entfalten, und ihre Entfaltung gestattet dem Zentrum, dessen Kräfte sie sind, nur dann, .für sich', .selbständig' und .unabhängig' (.Substanz') zu sein, wenn die Entfaltung die Gestalt einer Ausbreitung ihres Machtbereichs hat", „innerhalb dessen sie andere Kräfte beherrschen." (ibid., p. 231)- Zur Kritik am SubstanzbegrifF vid. infra. R. Boehm, Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie, op. cit., p. 230 sq. Nietzsches Subjektbegriff ist ein anderer als hier referiert. Für ihn versteht sich ein Subjekt immer auch als eine selbstbestimmte Substanz. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [151] ), p. 140. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [83] ), p. 101. „Das .Subjekt' ist ein solches Geschaffenes, ein .Ding', wie alle Andern: eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen, im Unterschiede von allem einzelnen Setzen, Erfinden, Denken selbst." (Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [152] ), p. 141)) - Cf. Nietzsches Kritik an Descartes (Kap. II, §5). Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [148] ), p. 139.
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von ihnen abzustoßen, muß die eigene Kraft hergestellt werden, und das ist gleichzeitig conditio sine qua non der Bildung einer oligarchischen Herrschaftsstruktur: man muß wissen, mit wem man die Herrschaft teilen kann und gegen wen man sie verteidigen muß. Die oben beschriebene Feststellung impliziert aber die Existenz von nun zählbaren Einheiten: die sich als gleich oder auch als ähnlich verstehenden Machtquanten, die etwa die Oligarchie bilden wollen, haben sich somit unter einen Begriff gebracht.26 Es sei noch einmal daran erinnert, daß das Festgestellte, das Werturteil auf einer grundlegenden Fälschung basiert; es gibt 1. kein Beharren, keine Einheit, und 2. wird bei der Bewertung identisch gesetzt, was nur ähnlich ist.- „Die fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von »Individuum' usw. zu reden; die .Zahl' der Wesen ist selber im Fluß."27 Konsequenterweise müßte man hier auch den Zahlbegriff zu vermeiden suchen; dann aber könnte man nicht mehr sinnvoll von einer oligarchischen oder auch gar von einem nicht weiter spezifizierten Herrschaftsgebilde reden, weil sich so generell nicht über Strukturen reden ließe. Dies weiß natürlich auch Nietzsche, und so ist es vollkommen stringent, wenn er sagt, daß wir über die „Regierung des Organismus" nur,symbolisch"2* reden können. Auch für die an späterer Stelle zu behandelnde Thematik des bewußten begrifflich-logischen Denkens ist es wesentlich hier schon festzuhalten, daß Nietzsche zwischen der Bildung oligarchischer Machtstrukturen und der Begriffsbildung und dem Begriffsgebrauch Parallelen sieht.29 In der abstrahierenden Gleichmachung, die erforderlich ist, damit individuelle Kräfte sich zu einer höheren, befehlenden 'Einheit' verbinden können, liegt, wie Nietzsche sagt, eine „Vergewaltigung" vor; der Zusammenschluß kann nur erfolgen, wenn die Kräfte sich nicht mehr individuell begreifen, sondern sich nach ihrem perspektivischen Maßstab bewerten: als Mittel zur Machtsteigerung. Die Vergewaltigung ist gleichursprünglich Se/ésívergewaltigung, weil die abschätzende Kraft sich ebenfalls unter einen abstrahierenden Maßstab zu bringen hat, und so ihre Individualität für die Zwecke eines höheren Kräfteverhältnisses aufgeben muß; es zahlt diesen Preis für den Willen zur Macht. Hier liegt die paradoxe Situation vor, daß das, was individuiert, die Individualität gleichursprünglich bedroht. Der Preis, den die höhere Organisation zu zahlen hat, ist dann darin zu sehen, daß sie innerlich immer bedroht ist, weil das Ganze zum Einzelnen quasi in dem Verhältnis von Herr und Knecht (Hegel) steht. 26
G. Frege hat überzeugend dargestellt, daß nur das, was unter einen Begriff fällt, auch zählbar ist Cf. G. Frege, Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, ed. J. Schuhe, Stuttgart 1987, p. 80. Die „Abstraktion" geht „oft der Bildung eines Zahlurteils vorher" (ibid., p. 83), „denn wir stellen die Dinge unter Zahlen nur vor, nachdem sie auf ein gemeinsames Maß gebracht sind." (ibid.) - Das Feststellen des Kriftemaßes an anderen Kräften impliziert die Vorstellung eines gemeinsamen Maßstabes, was wiederum Gleichartigkeit/Ähnlichkeit unterstellt 27 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (36 [23] ), p. 561. 28 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [68] ), p. 166. 29 Das sichtbare organische Leben und das unsichtbare schöpferische seelische Walten und Denken enthalten einen Parallelismus (...). In wiefern Denken, Schließen und alles Logische als Außenseite angesehen werden kann: als Symptom viel innerlicheren und gründlicheren Geschehens?" (Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [146] ), p. 139.)
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Das Begriffsbildungs-Modell wendet Nietzsche, wie erwähnt, auch auf die „großen Organismen" (Leib, Mensch; Staat, Gesellschaft, Volk) an. Das Bewußtsein wird z.B. mit einem Feldherrn verglichen, der Meldungen auswählt (abstrahiert), um die „Gesamt-Uberschau"30 zu behalten. Durch diese Reduktion31 , wie sie auch in der „Begriffs- und Zeichenwelt"32 vorliegt, „gewinnt der Mensch ein Mittel, sich ungeheurer Mengen von Thatsachen wie mit Zeichen zu bemächtigen und seinem Gedächtnisse einzuschreiben."33 Die Bemächtigung hat für das begriffliche Denken eine ähnliche Entlastungsfunktion, die auch ein Feldherr in der Schlacht braucht, weil er sich nicht um jede Einzelheit kümmern darf. Um die internen Herrschaftsstrukturen, die den Organismus Mensch (d.i. der Leib + Bewußtsein) kennzeichnen, veranschaulichen zu können, greift Nietzsche auf Gesellschafts- und Staatsmodelle zurück, weil in diesen Systemen die Triebund Affekt-Motive klarer hervortreten, da sie hier gleichsam institutionalisiert sind.34 Die Verantwortung ist auf viele übertragen, so daß der einzelne von ihr suspendiert ist. Die Macht des Staates gibt sich die Scheinlegitimation, „durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe"35 usw. Die Ethik ist das Mittel, den Machttrieb des Menschen „in Schranken zu halten"36, und ihn so für das Ganze verfügbar zu machen. An dem Gesellschaftsmodell wird noch ein weiteres Motiv ersichtlich, was beim Organismusmodell nicht so klar zu Tage tritt: die durch den Zusammenschluß bewirkte Entlastungsfunktion für den einzelnen; er handelt gleichsam unter einem Schema, wenn er etwas aus Pflichtbewußtsein tut. Auch in dieser Hinsicht trägt die Analogie mit der Begriffsbildung: Entlastung durch Schematisierung und durch die freiwerdende Energie zur Machterweiterung. Machtsteigerung und Entfremdung (Entindividualisierung) stehen in einer funktionalen Relation zueinander und in Proportion zur Intensionalität und Extensionalität des Begriffs: je mehr extensional unter einen Begriff fällt, um so geringer die Intension, um so schwächer das Individuelle. Auf politisch-gesellschaftlicher Ebene entspricht die Ent-Individuierung der Dissipation der Verantwortlichkeit37, die aber das Ganze verstärkt. Nietzsche spricht davon, daß der „ungeheure Wahnsinn im Staat" den einzelnen „überwältigt", indem er ihn zum Werkzeug seiner Staatsmacht vereinnahmt.
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Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [131] ), p. 464. Nietzsche kommt im Zusammenhang mit der Feldherr-Analogie selbst auf die Funktion der Begriffsbildung zu sprechen (cf. Nachlaß, KSA11, (34 [131]), p.464).- „Ein Begriff ist eine Erfindung, der nichts ganz entspricht; aber Vieles ein wenig (...)•" (ibid.) 32 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [131] ), p. 464. 33 Ibid. 34 „Der Staat oder die organisierte Unmoralität... inwendig: als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig: als Wille zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache." (Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (11 [407]), p. 187) 35 Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (11 [407]), p. 187. 34 Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (1 [33]), p. 18. 37 Nietzsche spricht von „Entselbstung" durch „Gehorsam" {Nachlaß, KSA12, (9 [145]), p. 419 sp.). 31
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Das „politische Gemeinwesen" ist, wie Kaulbach schreibt, „,als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer sich türmender und flutender Kräfte' ; eine dynamische, sich einigend-herstellende Einheit, nicht" eine „bloße Verknüpfung (Zusammensetzung) von schon vorhandenen selbständigen Teilen."38 Hier ist ein System angesprochen, das hierarchisch strukturiert ist, dessen Strukturen aber immer bedroht sind und sich auch kontinuierlich verändern. Bleibt man bei der Staatsanalogie des Subjekts, dann ist die Staatsform in quantitativer Hinsicht eine Oligarchie und in qualitativer Hinsicht eine Aristokratie,3' Nietzsche denkt subjektfähige Organismen als Aristokraten-Vielheit; denn es gibt eine Aristokratie von Zellen und eine Aristokratie von Bewußtseinen.40 Auf allen Ebenen des Systems darf man Kräfte ansetzen, die, wie Nietzsche sagt, „ans Regieren gewöhnt sind"41, und die sich aufgrund ihrer Verwandtschaft verbinden. Weshalb nun Nietzsche eine oligarchische und aristokratische Herrschaftsform wählt und keine monarchische, liegt auf der Hand: bei einer Monarchie denkt man unwillkürlich an eine absolut oberste (letzte) Instanz, quasi an eine Art Subjekt-Substanz, wohingegen bei der oligarchischen/aristokratischen Herrschaftsform der Machtkampf auch innerhalb der Regierenden stattfinden kann, womit auch dem Aspekt der Dynamik Rechnung getragen wird. Auch das Bewußtsein ist „nicht die Leitung [keine oberste (monarchische) Instanz - E.S.], sondern ein Organ der Leitung"*1, d.h. in ihm (als Organ) kommt die Willen-zur-Macht-Dynamik, wie sie am Staatsmodell ausgeführt ist, selbst wieder zum tragen. Also sind dann auch hier horizontale und vertikale Machtvektoren anzusetzen. Nietzsche sagt zwar, daß es mit Bezug auf das Bewußtsein eine „oberste Instanz" gebe, daß diese aber als eine „Art leitendes Comité" (Aristokratie-Parallele!), „wo die verschiedenen Hauptbegierden ihre Stimme und Macht geltend machen"43, zu denken ist. Ein solches Gemeinwesen, um die Analogie fortzuführen, kennt im Prinzip nur eine
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F. Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, op. cit, p. 130.- Kaulbach betont die Übereinstimmung mit Leibniz (Monadologie), Schelling und Hegel in der Ablehnung der Gesellschaftsvertragstheorien (Hobbes, Locke, Rousseau), die davon ausgehen, daß Individuen in einer fiktiven Willenserklärung ihre Rechte auf den Souverän übertragen und sich so als Rechtssubjekte unter die Gesetzgebung des Staates stellen. Kaulbach sieht darin eine „Zusammensetzung", einen „Beziehungszusammenhang zwischen (...) atomaren Elementen, Individuen (...), die auch ohne im ganzen verbunden gedacht werden können." (ibid., p. 150, Anm. 4) Cf. Plato, Politeia, SSO c - SSS b.- Plato unterscheidet quantitativ drei mögliche Regierungsformen, je nachdem, ob einer (Königtum), einige (Aristokratie, Timokratie, Oligarchie) oder alle (Demokratie) herrschen FOr Plato ist die Regieningsform des Idealstaates die Aristokratie (Herrschaft der .Besten' ); Timokratie, Oligarchie und Demokratie sind Verfallstypen, die wieder in eine Tyrannis führen. Er unterscheidet ja zwischen „vielen Bewußtseins" und dem „Bewußtsein höheren Ranges, als eine regierende Vielheit und Aristokratie (...)." (Nachlaß, KSA11, (37 [4] ), p. 578.) Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [42] ), p. 650. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 3, (11 [145] ), p. 68. Ibid.- In der frühen Schrift von 1872 Homer 's Wettkampf, KSA1. p. 783 sqq. beschreibt Nietzsche den „Wettkampf ' als den „Lebensgrund des hellenischen Staates" (ibid., p. 788). Er führt hier als Begründung die Verbannung des Hermodor durch das Ostrakismos an: „ .Unter uns soll Niemand der Beste sein; ist Jemand es aber, so sei er anderswo und bei Anderen'." (ibid.) - Mit einem Besten an der Spitze, so Nietzsches Interpretation, würde der „Wettkampf ' erlahmen!
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Verfassung: Willen zur Macht - von der rangniedersten 'Einheit' bis zu den leitenden aristokratischen Funktionen der „Leitungsorgane". Man darf die Rede von den Einheiten höherer und niederer Stufen nicht mißverstehen; jede sog. Einheit ist wieder Einheit von Einheiten : „Alle Einheit ist nur", um es zu wiederholen, „als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist (...), ein „Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ¿sí."44 Günter Abel hat betont, „daß Einheit immer nur als Nomen, nur ,als Wort eine Einheit' ist."45 Man darf sich nach Abel die Organisation nicht aus „Elementen" „konzipiert" vorstellen. „Terminologisch streng wäre (...) überall dort, wo in Nietzsche-Texten von .Einheit' die Rede ist, von .konkreten Ganzheiten' zu sprechen."44 Hier zeigt sich dann auch die Begrenztheit der Staats- oder Gesellschafts-Analogie; sie vermag zwar die Machtverhältnisse und die damit verbundene Dynamik, den Informationsfluß und die Informations-Interpretation (= Begriffs-Analogie) sehr schön zu veranschaulichen, muß aber letztlich doch von „Elementen", den Rechtssubjekten, ausgehen, will man die Analogie nicht auf die Spitze treiben. Nietzsches Willen-zur-Macht-System ist jedoch wesentlich radikaler aufzufassen, als es das Staats-Modell zu veranschaulichen vermag. Der dynamischen Ganzheit, wie sie ihm vorgeschwebt haben mag, liegt kein Ensemble von Elementen zugrunde, und die Machtzentren sind keine Teilmengen von Elementen eines Grundbereichs. Einem Vorschlag Abels folgend kann man die systemkonstitutiven 'Einheiten' als „Ereignis-Stellen"47 begreifen, die innerhalb des Gesamtsystems funktional mit allen anderen Ereignis-Stellen zu jedem Zeitpunkt systematisch verbunden sind, bzw. aus dieser Verbindung allererst hervorgehen. In einem solchen System könnte nichts der Fall sein und alles andere bliebe wie es ist48 ; jede Veränderung verändert das Ganze, und durch das Ganze verändert 44
Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [87] ), p. 104.
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G. Abel, „Nominalismus und Interpretation. Die Überwindung der Metaphysik im Denken Nietzsches", in: J. Simon (ed.), Nietzsche und die Philosophische Tradition, Würzburg 1985, pp. 35 - 89, p. 46.Eine eingehendere Rezeption und Auseinandersetzung mit dieser wichtigen Abhandlung findet weiter unten statt. G. Abel, Nominalismus und Interpretation, op. cit., p. 46 sq.- Nietzsches Nähe zu Leibniz ist unübersehbar, wenn es bei diesem heißt, „daß es im kleinsten Teile der Materie eine Welt von Geschöpfen, von Lebewesen (...), von Entelechien, von Seelen gibt." (Leibniz, Monadologie, §66; trad. Α. Buchenau) Leibniz geht allerdings, gemäß seinem metaphysischen System, von einem „Gottesstaat" („cité de Dieu") als einer „universalen Monarchie" („Monarchie" „universelle") aus.
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Ibid., p. 61.- Abel spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ereignis-Ontologie" (ibid., p. 57). Die Ereignis-Ontologie entspricht auch Nietzsches Werden-Begriff.- V. Gerhardt, „Die Metaphysik des Werdens. Ober ein traditionelles Element in Nietzsches Lehre vom .Willen zur Macht' " , in: J. Simon (ed.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. I, Würzburg 1985, pp. 9 - 33, faßt das Geschehen wie folgt zusammen: „Werden ist ein Austausch von Machtquanten und damit ein unendlich differenziertes Machtgeschehen, in dem es keine Substanzen, sondern nur Konstanzen von mehr oder weniger kurzer Dauer [!] gibt." (ibid., p. 27) - Dieser Beschreibung kann man sich anschließen; allerdings ist „Dauer" nicht der treffende Ausdruck, denn das 'System' ist in keinem Moment 'eingefroren' (Man darf auch nicht von Zeit-Stadien oder ähnlichem ausgehen) - das Werden ist absolut.
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Cf. L. Wittgenstein, Tractatus, 1.21. Eine rein logische (nach Nietzsche im Prinzip mechanistische/begriffliche) Weltbetrachtung hat zur Voraussetzung, daß sich Tatsachen isolieren lassen, so daß etwas der Fall sein kann, und alles andere bleibt wie es ist.
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sich alles andere. Nietzsches Konzeption ist holistisch angelegt, so daß man die Funktionen des Bewußtseins und der Subjektivität nicht im Rahmen einer Vermögens-Philosophie isoliert betrachten kann. Von dem Bewußtsein oder dem Selbstbewußtsein oder dem Erkenntnissubjekt zu sprechen, beruht auf einer isolierenden Einteilung, der Nietzsche durch die Erweiterung der Subjekt-Sphäre als einer organischen oder auch kosmischen Ganzheit sowie durch Strukturierung und Systematisierung in Analogie zu einer aristokratischen/oligarchischen Staatsform und der absoluten Dynamisierung begegnen will. Sicherlich ist es ihm dabei gelungen, die traditionelle Substanz-Metaphysik zu überwinden, die Frage, ob er damit auch, wie Abel hervorhebt, die Metaphysik glaubte überwunden zu haben, muß vorerst noch zurückgestellt werden. Hier genügt es, eine Vorstellung dessen vermittelt zu haben, welche Anstrengungen Nietzsche unternommen hat, der Hypostasierung des autonomen selbstbewußten Subjekts, wie es seit Descartes ins philosophische Bewußtsein eingegangen ist, zu begegnen. Daß er bei diesem Versuch zum Teil gegen sein besseres Wissen anschreibt, ist bei der Einschätzung des Ergebnisses dieses Versuchs ausdrücklich festzuhalten. Es bleibt jedoch kritisch anzumerken, daß auch Nietzsche in seiner philosophischen Darstellung einer nach oligarchischen Prinzipien verfaßten Subjektstruktur nicht umhinkann, in dem Willen-zur-Macht-Geschehen Einheiten der „Leitung" dieses Geschehens anzusetzen. Er spricht zwar von einem Organ der Leitung, was ja bedeutet, daß auch das Leitungskomitee wieder nach organischem Vorbild gedacht werden soll, daß es demnach nicht aus Subjekt-Einheiten, sondern aus nicht-isolierbaren dynamischen Werden-Prozessen bestehen soll, die auch für Machtverschiebungen immer offen bleiben, aber ohne eine systemorientierte Vorstellung - und eine solche muß strukturierende Einheiten setzen - läßt sich jedoch nicht recht deutlich machen, wie ein Organ der Leitung gedacht werden soll. Wir haben hier eine grundsätzliche Problematik der Nietzschischen Philosophie vor uns: Er spricht über Zusammenhänge, wo ihm nach seiner eigenen Aussage die Begriffe fehlen; insofern ist seine Subjekt-Entmündigungsstrategie spekulativ, der epistemische Anspruch symbolisch und seine Subjekt-Philosophie im Ganzen eine organologische Metaphysik. Es sei aber noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich Nietzsche dieser Problematik durchaus bewußt war - die Verwendung seines Symbolbegriffs weist darauf hin - , daß er bei dein Versuch, den abendländischen Subjektbegriff aufzuheben, gegen sein besseres Wissen anschreibt. Es finden sich in seinein Werk (besonders im Nachlaß) zahlreiche metakommunikative Äußerungen, die seine Aussagen über das Organische bzw. über organische Prozesse mit dem Index der zurückhaltenden Vorsicht versehen. Diese Vorsicht zeigt sich auch bei vielen seiner Aussagen, die im Modus des Konjunktivs {könnte, dürfte so sein) gehalten sind oder sich im häufigen Gebrauch der Adverbien vielleicht, möglicherweise zeigen, die Urteile als vorsichtige Einschätzungen ausweisen. Nietzsche hat also in bezug auf Beschreibungen des Organischen durchaus ein geschärftes Problembewußtsein.- Dies ist bei der kritischen Einschätzung des Ergebnisses dieses Versuchs ebenfalls festzuhalten.
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Das Subjekt als metaphysisches Postulat
§11 Der Phänomenalismus der „inneren Welt" In den vorhergehenden Paragraphen wurde hauptsächlich Nietzsches Kritik am traditionellen Subjektbegriff und seine Alternatiworstellungen eines pluralistisch-dynamischen Subjekts aristokratisch/oligarchischer Struktur untersucht. Als Grundlage seiner Subjektphilosophie haben sich der (biologische) Organismusbegriff im speziellen und der organisations-/systemtheoretische Begriff im allgemeinen erwiesen. Die methodologischen Probleme dieser als organologisch bezeichneten Subjekttheorie wurden angesprochen, und auf den hypothetischen, analogischen Charakter seines alternativen Subjektbegriffs ist ausdrücklich hingewiesen worden. In den folgenden Paragraphen wird nun gleichsam die Innenperspektive des Subjekts eingenommen, die von Nietzsche auch als „Phänomenalismus der inneren Welt" bezeichnet wird. Nervernreiz, Kausalitätsschluß, Metaphorisierungsprozeß; Zeitlichkeit, Zeitbewußtsein und Gedächtnisfunktion sind die Schlüsselbegriffe, anhand derer Nietzsche das innere Geschehen zu begreifen versucht.Die schon angesprochenen Begriffe der Kraft, des Atoms, des Kontinuums, des Werdens und der universalen Dynamik können erst auf dem Hintergrund der Analyse des Nietzschischen Zeitbegriffs ihre voll Erklärungskraft entfalten. §11.1 Nervenreiz. Kausalitätsschluß. Metaphorisierungsprozeß Ein Reiz (Nervenreiz) ist physiologisch betrachtet eine Einwirkung (physischer od. chemischer Natur) auf die Rezeptoren der Sinnesorgane eines Organismus, die psychologisch die (gegenständlich-materiale) Ursache der Empfindung initiiert. Tritt ein Empfindungszusammenhang ins Bewußtsein, spricht man von Wahrnehmung als Bewußtseinsinhalt einer inneren oder äußeren Gegenständlichkeit im Modus der Wirklichkeit. In der Vorstellung geht das rezeptiv-aktuale Moment der Wahrnehmung in den Modus der Repräsentation {representado) über; die Bewußtseinsinhalte (perceptions) vorgängiger Wahrnehmungen (Erinnerungsvortellungen) werden zu Bewußtseinsabbildungen. Da Vorstellungen nicht wie Wahrnehmungen zeitlich aktual gebunden sind, können sie auch projektiven Charakter annehmen oder die im Gedächtnis gespeicherten (zeichenhaften) Repräsentationen von sinnlichen Wahrnehmungen für die Phantasiegestaltungen umbilden. Die Vorstellung ist somit nicht genuin rezeptiv, obwohl sie in aller Regel auf sinnlicher Erfahrung beruht und ihre Gehalte (Bilder)1 im Medium der Sinnlichkeit ausdrückt und sich eben dadurch vom Gedanken als einem Spontaneitäts-Produkt unterscheidet.- Die knappe Explikation der Begriffe Reiz, Wahrnehmung und Vorstellung mag genügen, um ihre Differenz zur Nietzschischen Verwendung erhellen zu können.
1
Das Bild enthält Gestalt und Struktur der abgebildeten Sache „unter Einbuße an Realitätsgehalt" (E. Biser, ,3ild", in: H.M. Baumgartner/Ch. Wild (eds.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973 (= Studienausgabe in 6 Bdn.), pp. 247 - 255, p.248.
Der Phänomenalismus der „inneren Welt"
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Der Phänomenalismus der „inneren Welt" ist absolut, ein sensualistisches „Gefängnis"1, aus dem es „keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt"3 gibt. Nietzsche vergleicht uns mit Spinnen, die nur das in ihren Netzen einfangen können, was sich durch die Netzstruktur überhaupt nur einfangen läßt, dabei symbolisiert das Netz die Möglichkeit unserer Welt- und Innen-WeltInterpretation - und es ist die einzig mögliche, die wir haben. In WL gibt uns Nietzsche den wichtigen Hinweis, daß das Netz auch symbolisch für unsere „Zeit-und-Raum-Vorstellungen"4 steht, die „wir in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit" „produciren", „mit der die Spinne spinnt"3 ; denn wir sind „gezwungen", „alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen"6. Was sich in unseren Netzen verfängt, sind unsere eigenen Empfindungen.7 Diese Empfindungen sind keine An-sich-Qualitäten; sie verdanken sich selbst nur wieder einer „künstlerische(n) Metaphernbildung"8, die „in" den „Formen" von Raum und Zeit „vollzogen"9 wurden.- Um im Bild zu bleiben: das Etwas, das sich im Netz verfängt, ist nur dadurch Uberhaupt erst etwas-, daß es von außen gekommen sein soll, ist schon ein Schluß auf eine Dimension 'hinter' dem Netz. Alles, was überhaupt etwas ist, ist es in dem und durch das Netz. Was sich demnach in dem Netz verfängt ist in der 'Netz-Welt', in der es kein passivisch-rezeptives Geschehen gibt, entstanden; und dazu zählen auch die Reize selbst. Das, was den Reiz als einen bestimmten ausweist, verdankt sich nach Nietzsche einer „künstlerische(n) Übertragung"10, einer metaphorá. Die Metapher - Nietzsche spricht auch von Übertragung, Obersetzung - meint ein poietisches Verfahren, wonach etwas noch Unbekanntes auf etwas Bekannteres zurückgeführt wird. Dieses Projektionsverfahren verläuft alogisch, rationale Kriterien sind dafür nicht angebbar (solche Kriterien werden nur später nachgeschoben). Nietzsche versteht diesen Metaphorisierungsprozeß als „Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde"" . Der „Fundamentaltrieb" bezeichnet ein „Urvermögen menschlicher Phantasie", aus der eine „Bildermasse" .hervorströmt'.12 Die so beschriebene poietische Produktion ist für jedes Subjekt in jedem Augenblick „einmalig" und .individuell'. Das absolut Individuelle aber wäre das, wofür wir noch keine Sprache (keine Zeichen) hätten und was uns daher auch nicht bewußt sein könnte.
2 3 4 5 6 7 8 9 10
Nietzsche, M, KS A3, Nr. 117, p. 110. Ibid. Nietzsche, WL, KSA1, p. 885. Ibid. Ibid. Cf. ibid., p. 886. Ibid. Ibid. Ibid., p. 882.- Zum Metaphernbegriff bei Nietzsche cf J. Simon, Grammatik und Wahrheit, op. cit., p. 211 sq.; ders. „Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche", in: M. Lutz-Bachmann (ed.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einföhrung in seine Philosophie, Frankfurt/M 1985, pp. 63 - 97, p. 85.
" Ibid., p. 887. 12 Ibid., p. 883.
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Das Subjekt als metaphysisches Postulat
Erst die Metaphorisierung übersetzt das Geschehen in eine dem Bewußtsein zugängliche Form: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue." 13
Hier ist zu beachten, daß „der Mensch sich auch die Ereignisse und Reize auswählt, also aktiv verfährt unter all dem zufällig auf ihn Eindringenden"1'1. Für Abel ist ein „Reiz" „nicht etwas, was zunächst gegeben ist und dann zusätzlich auch noch interpretiert wird", sondern „Reiz ist bereits ein Interpretationsvorgang."15 Nietzsche geht, so Abel, auch „noch über den neueren Nominalismus" hinaus, der anstelle der „Idee des Gegebenen" des „mittelalterlichen Nominalismus" die „physiologischen Reize"16 setzt; wenn er „Reize nicht mehr bloß zu den kausalen Antezedenzien von Erfahrung, sondern zu dem, was Form und Inhalt der Erfahrung selbst mit-bedingt und mit-bestimmt"17, versteht. Das Entscheidende an Nietzsches Reizbegriff ist darin zu sehen, daß sich Reize nicht mehr wie herkömmlich - Reizquellen zuordnen lassen, die als Reizauslöser diese verursachten; es gibt keine vorgängig feststehende Reiz-Referenz-Relation, sondern diese wird durch die Verursacher-Projektion nachträglich in das Geschehen hineininterpretiert, so daß durch die Verwechslung von Reiz und .veranlassendem' „Ding"1* diese Reiz-Reizauslöser-Relation erst aufgebaut wird. Reize sind etwas aktiv Angenommenes und dadurch schon Bestimmtes19 und Bewußtes; denn „Bewußtsein hebt an mit der Kausalitätsempfindung"20, wenn zu einem Geschehen der Grund des Geschehens imaginiert wird. Fragt man nach den Ursachen für Reize, wird man bei Nietzsche wieder auf das „Organische" verwiesen: „Alles Organische, das .urtheilt', handelt wie der Künstler, es schafft aus einzelnen Anregungen Reizen ein Ganzes, es läßt Vieles Einzelne bei Seite und schafft eine simplificatio"21. „Die innere Welt muß in Schein verwandelt werden, um bewußt zu werden: viele Erregungen", heißt es an anderer Stelle, müssen „als Einheit empfunden"22 werden. Nietzsche sieht hier ein künstlerisches Vermögen [!] am Werk, das in dem Metaphorisierungsprozeß gleichfalls zum Ausdruck gebracht wird.23 Geht man die einzelnen Knotenpunkte der Ner13 14
15 16 17 18 19 20 21 22 23
Ibid., p. 879. Nietzsche, Nachlaß, KSA10, (7 [196] ), p. 304.- Die Schmerzempfindung an einer bestimmten Körperstelle ζ. B. ist für Nietzsche ein „Gehimphänomen". Er vermutet, daß die „vorstellende Einheit' des Organismus an die verletzten Körperstellen „die stärksten Reize schickt." (Nachlaß, KSA9, (11) [309], p. 559 sq.) G. Abel, Nominalismus und Interpretation, op. ciL, p. 77. Ibid. Ibid. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [270] ), p. 544. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (38 [10] ), p. 609. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [161] ), p. 469. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [333] ), p. 97. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [336] ), p. 99. Der Funktion der Aneignung, Umbildung und des Auswählens auf der organischen Ebene entspricht auf der BewuQtseinsebene des Erkenntnissubjekts die Funktion des Formens, Gestaltens und Schematisie-
Der Phänomenalismus der „inneren Welt"
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venreiz-Bild-Laut-Metaphorisierung durch, dann begegnet man auch hier einer progredierenden Simplifizierung, die durch Einheiten-Stiftung und Verflüchtigung (Schematisierung) von (sinnlicher) Vielfalt charakterisiert ist. Der metaphorische Schritt vom Nervenreiz zum Bild entspricht in etwa dem Übergang von der Empfindung zur Vorstellung in der traditionellen Begriffsauffassimg. Das „Bild" hat für Nietzsche Form- und Gestalt-Eigenschaften.24 Ihm eignet in epistemischer Hinsicht ein höherer Allgemeinheitsgrad gegenüber einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit, von der es als Vorstellungsbild Modell ist, ohne aber in der reinen Modellhaftigkeit aufzugehen. Insofern das Bild für etwas stehen soll, ist es nach E. Biser sinnstiftend, weil sich in ihm „der gesuchte Sinn .sinnlich' als wahrnehmbare Struktur (...) darstellt."25 Zu beachten ist jedoch, daß Nietzsches Bildbegriff hier nicht in einer Relation von Wirklichkeit und deren Abbildung gedacht ist; es steht zwar für etwas (und hat so auch schon Zeichencharakter), aber dieses Etwas hat keinen ontischen Status, von dem es Abbild sein könnte, sondern: das Bild ist metaphorisch hergestellt, und diese Herstellung ist die (bewußtgewordene) Wirklichkeit. Das Bild ist ein reines Konstrukt einer „frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft"26 . Der Metaphorisierungsprozeß muß so radikal gedacht werden wie das universale Interpretationsgeschehen: Reiz - Bild - Laut sind als die Ergebnisse eines Interpretationsgeschehens, so wie Abel es dargestellt hat, zu begreifen. Mit dem metaphorischen Schritt vom Bild zum „Laut" wird die eigentliche Begriffsebene beschritten. Der „Laut" basiert auf dem Ergebnis einer vorgängigen metaphorischen Übertragung (dem Bild) und ist, wie R Grimm schreibt, „a metaphor for a metaphor, and therefore twice removed from the original datum"27, wobei die Reize („sense impressions") - im Unterschied zu Abel und der hier vertretenen Ansicht - als „primordinal" und „preconceptual" aufgefaßt werden.- „Begriffe" sind „Erinnerungszeichen für ganze Gruppen von Bildern mit Hülfe von Lauten"1*. Eine andere Definition lautet: „Begriffe (...) sind mehr oder
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rens. Das „Urvermögen", von dem Nietzsche spricht, ist im Organischen schon verankert Das Willenzur-Macht-Geschehen wird auf der BewuBtseinsebene als schöpferische Kraft begriffen. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [327] ). E. Biser, „Bild", op. cit., p. 251.- Gerold Ungeheuer weist daraufhin, daß Nietzsche mit „Bild" nur das „konkrete Wort" f&r die Schopenhauerschen Begriffe „Vorstellung" und „Anschauung" gebraucht habe. Cf G. Ungeheuer, „Nietzsche Ober Sprache und Sprechen, Ober Wahrheit und Traum", in: Nietzsche-Studien, Bd. 12 (1983), pp. 134 - 214, p.196). Nietzsche, WL, KSA1, p. 884.- „Das Bild und der Begriff entsteht, indem eine produktive Kraft einige gegebene Reize gestaltet eine .Erscheinung' macht" (Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [313] ), p. 93).- Das Bild ist so fortgeführte Reizinterpretation. R.H. Grimm, Nietzsche 's Theory of Knowledge, Berlin/New York 1977, p. 94. Für Grimm sprechen einige NachlaB-Notizen, wo Nietzsche von „gegebenen Reizen" (cf. Nachlaß, KS Al 1, (38 [10] )) und der aktiven Annahme eines Reizes (cf. Nachlaß, KSA11, (38 [10] )) spricht Dennoch geht diese Auffassung an Nietzsches Intention vorbei; Reize sind Ergebisse eines Interpretationsgeschehens, (cf. WzM, Nr. 481, p. 337: „(...) Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.") - Verlängert man den Metaphorisierungsprozeß nach 'unten' b i s ins Organische, dann ist das, was ein Sinnesdatum ausmacht, auch wieder Ergebnis einer Interpretation. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [32η ), p. 96.- Cf auch JGB, KSA5, Nr. 268, p. 221.- Nietzsche ist in der hier zugrundegelegten sprachphilosophischen Konzeption ganz entschieden von Gustav Gerbers zweibändigem Werk Die Sprache als Kunst beeinfluBt, geht aber in einigen Punkten Ober diesen hin-
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weniger bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, für Empfindungs-Gruppen."29 Die Schritte vom Nervenreiz zum Bild und von ihm zum Laut und Begriff als zeichenhafte Repräsentanten von diskriminierbaren „Empfindungsgruppen" markieren „die Geschichte der Sprache" als „Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses"30, dem die Entwicklung des Bewußtseins korrespondiert. Die Genese des Bewußtseins ist an sprachgeschichtlichen Entwicklungen ablesbar; aber auch an außersprachlichen Parametern, wie „Klima", „Boden", „Gefahrenlagen, Bedürfnislagen, Arbeitsverhältnissen"31 usw., die in diese Entwicklungen eingegangen sind und Ausdruck spezifischer Bewußtseinslagen (etwa eines .Volkes'32) sind. Es genügt nach Nietzsche nicht, dieselben Worte zu gebrauchen, um sich untereinander zu verstehen, „man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen", um etwas gemein"** zu haben. Die Sprache, vorwiegend in ihrer Lexik, legt dadurch, daß sie genuin individuelle Empfindungen durch Bezeichnung zu Gruppen (Empfindungs-£mAe/ten) bündelt und damit diskriminierend fixiert, seelische Grundmuster fest und macht die Mitglieder einer Sprach- und Lebensgemeinschaft dadurch gemein; sie macht sie im Nietzschischen Sinne dadurch allererst herdentauglich. Bewußtsein ist de facto immer Herden-Bewußtsein.Nietzsche nimmt hier Gedanken von Quine vorweg, der Mitglieder einer Gemeinschaft mit (individuellen) „Büschen" vergleicht, die, zurechtgestutzt, alle die gleiche Gestalt annehmen.34 Für Nietzsche sind Wörter aber nicht nur gesellschaftliche Werkzeuge („social tools"35), die den „pull toward objectivity"36 steuern; sie legen auch fest, was uns überhaupt bewußt werden kann. Der „soziale Zwang" („social pressure"37), von dem Quine spricht, bezieht sich bei Nietzsche nicht nur auf eine sprachlich restringierte Referenzherstellung einer gemeinsamen (Außen-) Welt, sondern legt fest, was semantisch Inhalt eines so durch die Gemeinschaft majorisierten Bewußtseins werden kann - was uns überhaupt etwas aus. Nach Gerber bereitet der „Laut" den Boden für die Begriffsbildung: er steht fur eine „Gattung überhaupt" (G. Gerber, Die Sprache als Kunst, Bd.I, Bromberg 1871, p. 170). Der „Laut" ist eine Schöpfung des Menschen, die seine „subjektive Auffassung" „objektiviert" und so ein „Lautreich" errichtet, „nach dessen Gesetzen wir vorstellen, denken und dichten" (ibid., p. 171). Gerber deutet die „Thätigkeit der Lauterzeugung" als „Weiterentwicklung des Bewußtseins" (ibid., p. 168), worin ihm Nietzsche, wenn auch unter anderer Akzentuierung der Bedeutsamkeit einer solchen „Entwicklung" im wesentlichen folgt; Entwicklung in diesem Verständnis faßt Nietzsche als „Abkürzungs-Prozeß" (cf. JGB. KSA5, Nr. 268, p. 221 sq.). 29
Nietzsche, JGB, KSA5, Nr. 268, p. 221.
30
Ibid.
31
Ibid.
32
Ibid.
33
Ibid.
34
Cf. W.v.O. Quine, Word and Object, Cambridge (Massachusetts), 1960, p.8.- Quine schreibt: „The uniformity that unites us in communication and belief is a uniformity of resultant patterns overlying a chaotic subjective diversity of connections between words and experience. Uniformity comes where it matters socially; hence rather in point of intersubjectively conspicuous circumstances of utterance than in point of privately conspicuous ones." (ibid.)
35
Ibid., p. 7. * Ibid. 37 Ibid, p. 10.
Der Phänomenalismus der „inneren Welt"
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bedeuten kann. Wir sind bis in unsere Empfindungen und, wie gesehen, sogar in unseren Reizen (bis in unsere Reizbarkeit) restringiert, verallgemeinert, entindividualisiert. Auch wie wir uns als Subjekte begreifen und in unserer inneren Phänomenologie auslegen, wie es hier geschieht, und wie Nietzsche es vorschlägt, gründet auf unseren sprachlichen Möglichkeiten, etwa welche Begriffe wir zur Verfugung haben, aufgrund derer wir die inneren Sensationen strukturierend einteilen können: Nervenreiz - Bild - Laut/Begriff ist eine solche Einteilung, die auf einer philosophischen Deutungskultur basiert; und es lassen sich, wie in der indischen Philosophie, wesentlich differenziertere Einteilungen vornehmen.38 Um die komplexen Vorgänge des inneren Phänomenalismus exakter zu fassen, müssen wir uns nun dem Begriff der Kausalität bzw. der Kausalitätsempfindung zuwenden. „Empfindung, Reflexbewegungen, sehr häufig und blitzschnell erfolgende, allmählich ganz eingelebte, erzeugen die SchluBoperation d.h. das Gefühl der Kausalität" 39
Die oben angesprochene „Schlußoperation" meint einen „Analogiesehluß"413 nach dem Tun-Täter-Schema: wenn eine „bestimmte Empfindung" (oder ein Reiz) und ein „bestimmtes Gesichtsbild" „immer zusammen" „erscheinen", dann ergibt sich eine Kausalität aus Erfahrung, „daß das Eine die Ursache des Anderen ist (...).'"" Diese „Schlußoperation", die simultane Vorgänge in ein Tun-Täter-Schema dirimiert und damit gleichzeitig diskriminiert, ist die formale Voraussetzung der Metaphorisierung, die nun etwas als etwas schon Bekanntes auf der Grundlage einer Ähnlichkeits-Relation inhaltlich bestimmt - als Bild, als Laut/LautZeichen/Begriff ins Bewußtsein hebt. Der Kausalitätsschluß ist das formale „Urphänomen", das bewirkt, daß wir zu jeder Veränderung eines Zustandes an uns (durch Reize etwa) eine Ursache zu dieser Veränderung hinzufingieren. Die metaphorische42 Projektion veranlaßt, daß wir inhaltlich noch etwas Unbekanntes auf Bekannteres zurückfuhren, daß wir etwas als Nervenreiz, als Bild, als Laut interpretieren und damit gleichzeitig inhaltlich bestimmen. 38
Diese Einsicht verdanken wir Nietzsche selbst: M, KSA3, Nr. 113, p. 107: ,J)as sogenannte , I c h ' . Die Sprache und die Vorurtheile, auf denen die Sprache aufgebaut ist, sind uns vielfach in der Ergründung innerer Vorgänge und Triebe hinderlich", weil „Worte allein für superlativische Grade dieser Vorgänge (...) da sind - ; nun aber sind wir gewohnt, dort, wo uns Worte fehlen, nicht mehr genau zu beobachten, weil es peinlich ist, dort noch genau zu denken (...). Wir sind Alle nicht Das, als was wir nach den Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewusstsein und Worte (...) haben; (...) wir machen einen Schluss aus einem Material, in welchem die Ausnahmen die Regel Oberwiegen, wir verlesen uns in dieser scheinbar deutlichsten Buchstabenschrift unseres Selbst" (M, KSA3, Nr. 115, p. 107 sq.)
39
Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [161] ), p. 469. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [209) ), p. 483. Ibid. Nietzsche hat es versäumt, den Unterschied der Begriffe Kausalitätsschluß und Metaphorisierung deutlich zu machen.- Der inhaltliche Aspekt der Metaphorisierung zeigt sich unter anderem auch darin, daß die Kette Nervenreiz - Bild - Laut/Begriff eine zunehmende Abstraktion (Extensionalität) von Inhalten beschreibt. (Cf. WL, KSA1, p. 881 : Ein Begriff wird mit einer Münze verglichen, die ihr Bild (die sinnlich-inhaltliche Valenz) verloren hat. Die künstlerische Metaphernbildung setzt nach Nietzsche die „Formen" von Raum und Zeit voraus (cf. ibid., p.883sq.); sie vollzieht sich in diesen Formen, und diese wiederum werden aus der „Kausal itätsempfindung" abgeleitet (cf. Nachlaß, KSA7, (19 [161] )).
40 41 42
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Der „Kausalitätsschluß" ist die bewußtseinskonstitutive Urinterpretation (= Urdiremtion), die jeden Reiz als „Absicht" und so gleichzeitig als Wirkung einer Ursache auslegt: z.B. der „im Auge empfundene Reiz" wird „auf das Auge" bezogen43, das dann gleichsam als das Subjekt des Sehens imaginieit wird. Die Subjektfiktion gründet, wenn man so will, in letzter Instanz auf der Kausalitätsempfindung, die man als schematisch-formale Urinterpretation oder als transzendentales Schema der Sinn-/Bedeutungs-Stiftung bezeichnen kann. Diese Kausalinterpretation ist als die Bedingung der Möglichkeit metaphorischerinhaltlicher Interpretationen anzusehen. Das Schema bewirkt ungleichen, daß wir Substanzen oder verursachende Einheiten fingieren. Der Phänomenalismus der inneren Welt, die Umsetzung von Werde-Vorgängen in Scheinzustände, ist das Setzen von Einheiten am Leitfaden der Kausalprojektion; eine Grundvoraussetung, insofern dadurch etwas aus dem Sensations-Fluß herausgegriffen werden kann. Das Herausgreifen ist dann weiterhin Bedingung dafür, daß dieses Etwas als etwas interpretiert werden kann - und diese Interpretation leistet inhaltlich die Metapher, formal das (grundlegendere) Kausalitätsschema, das die Relation (x R y) der Mittelbarkeit herstellt, so daß nun ein Zeichen fur etwas (Nietzsche spricht in WL von einem rätselhaften X) stehen kann. Erst das Mittelbare, das, wofür wir Zeichen haben, kann ins Gedächtnis eingeschrieben und bewußt werden, und nur das Bewußte kann uns phänomenale Wirklichkeit sein; sie ist die Grenze unserer Welt. §11.2 Das Gedächtnis Mit dem Gedächtnisbegriffbüngt Nietzsche einen wesentlichen Aspekt in die hier zu besprechende Thematik ein. Das Gedächtnis steht in vermittelnder Funktion zwischen den Phänomenen des bewußten Empfindens, Fühlens, Denkens und dem Organismus; „es ist die Menge aller Erlebnisse alles organischen Lebens, lebendig, sich ordnend, gegenseitig formend, ringend mit einander, vereinfachend, zusammendrängend und in viele Einheiten verwandelnd."44 Nietzsche begreift die Funktionsweisen des Gedächtnisses als „etwas Analoges [zu] dem, was wir von unserem Bewußtsein aus als .Logik' bezeichnen"45 und meint damit speziell die Analogie zur ßegriffsbildung"*6, wenn er ihm die Operationsweisen der Subsumtion, Simplifikation und der Reduktion47 ansinnt. Das Gedächtnis ist im Organischen verankert48 und speichert die „gesammte Vorgeschichte"49 eines 43 44
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Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [209] ), p. 483. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [94] ), p. 175.- „Ich setze Gedächtniß und eine Art Geist bei allem Organischen voraus: der Apparat ist so fein, daß er für uns nicht zu existiren scheint" (op. cit., (25 [403] ), p. 117); cf. auch op. cit., (25 [514] ) Nietzsche, Nachlaß, KSAll, (40 [34] ), p. 645 sq. Nietzsche,Nachlaß, KSAll, (26 [94] ), p. 175. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [34] ) elNachlaß, KSA9, (11 [138] ). Es ist „kein eigenes Organ": „alle Nerven z.B. im Beine, gedenken früherer Erfahrungen. (...) Alles was den Nerven anorganisiit worden, lebt in ihnen fort Es giebt Wellenberge der Erregung, wo das Leben ins Bewußtsein tritt, wo wir uns erinnern." (Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (2 [68] ), p. 44)
Der Phänomenalismus der „inneren Welt"
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„organischen Wesens"30. Dabei ist „das Wichtigste (...) immer wieder unterstrichen worden"51; es sind dadurch „Einheiten" entstanden, für die unsere „Instinkte" („Gefühle von Neigung Abneigung usw.") „Symptome sind."52 Aber auch „die schwächsten Züge bleiben. Es giebt im organischen Reiche kein Vergessen; wohl aber eine Art Verdauen des Erlebten."53 Das Gedächtnis ist für Nietzsche kein bloßer Speicher54 objektiv-fixierbarer Erfahrungs- und Erlebnisdaten, deren zeitlosen (substantiellen) Inhalte unverändert abrufbar wären. Darin „steckt die Hauptverführung eine .Seele' anzunehmen, welche zeitlos reproduzirt, wiedererkennt usw."55. Das „Erlebte lebt fort ,im Gedächtnis'" 56 ; „es wird verarbeitet, zusammengeordnet, einverleibt."57 Die Gedächtnisinhalte sind Funktionen des Organischen und in dessen Gesamtdynamik involviert. Nach der bisherigen Darstellung dürfte deutlich geworden sein, daß wir über Gedächtnisinhalte nicht in einem unabhängigen willentlichen Zugriff verfügen können, denn was uns überhaupt erst bewußt werden kann, ist in unbewußt verlaufenden biologischen und physiologischen Prozessen für ein Bewußtsein 'vorfabriziert' ; es stehen die Zwecke des ganzen Organismus auf dem Spiel, was für unser Bewußtsein an Inhalten vom Gedächtnis angeboten wird. Die Funktionsweisen des Willens und des Gedächtnisses verdeutlicht Nietzsche an dem Verhältnis von Form und Inhalt: „Das Wollen" ist „die Vorstellung logischer Formen (...) in Form des Wunsches. Das Gedächtnis muß den Inhalt geben"58. Diese „Inhalte" sind „plötzlich auftauchende Gedanken-Embryonen"59, auf die wir „warten" müssen, „ob sie sich ereignen"60 ; und wenn sie sich ereignen, ist das „Wesentlichste des Prozesses" schon „unter unserem Bewußtsein"61 vor sich gegangen. Auch die willentliche Auswahl aus dem so vorgefertigten Angebot verläuft nicht unter der Direktion rationaler Strukturen, sondern ist das Ergebnis 49
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53 54
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Nietzsche, Nachlaß, KSA11. (40 [34] ), p. 645.- Das „Gedichtniß ist älter als das Bewußtsein. Z.B. bei der Mimosa haben wir Gedächtniß, aber kein Bewußtsein. Gedächtnis natürlich ohne Bild, bei der Pflanze." (Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [161] ), p. 469) - Das Bild ist schon Ergebnis einer Metaphorisierung, und diese ist ein genuin menschliches Vermögen. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [34] ), p. 645. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [167] ), p. 476 sq. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [26] ), p. 173.- „Die Affekte sind Symptome der Formation des Gedächtniß-Matcrials (...)." (op. cit., (25 [514] ). p. 148) Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [167] ), p. 477. Der psychologische Gedächtnisbegriff ist durch drei wesentliche Merkmale gekennzeichent: passive Merkfähigkeil (passives Einprägen)/ aktive Merkfähigkeit (einprägen, lernen); Speicherung (Bewahren von Bewußtseinsinhalten) und passive Reproduktion (passive Erinnerungsfähigkeit: jem. fällt etwas eu\yaktive Reproduktion (absichtliches Vergegenwärtigen). Cf. dazu M. Popp, Einführung in die Grundbegriffe der Allgemeinen Psychologie, München 1983, p. 62 sqq. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [29] ), p. 644. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [409] ), p. 119. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (6 [297] ), p. 274. Ibid. Ibid., p. 273. Ibid., p. 274.
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eines ,moralisch' motivierten Urteils, hinter dem „Triebe"62 und Wertschätzungen stehen. Der bisherige Befund läßt den Schluß zu, daß auch das sich selbst bewußte Subjekt nicht Hen seiner Gedanken und Vorstellungen ist. Nach Nietzsche kommt .jedes Vorstellen (...) mit Hülfe des Gedächtnisses zu Stande, und ist das Produkt unzähliger Erfahrungen Urtheile Irrthiimer Lüste Unlüste vergangener Momente im Menschen (...)."63 Eine Gedankenabfolge wird uns immer nur nachträglich bewußt, nachdem wir eine Grund-Folge-Interpretation nachgeschoben haben64 ; aber diese bewußte Interpretation ist „nicht adäquat der wirklichen Ursache"65, die im Gedächtnis als „Grund der ehemaligen .inneren Erfahrungen'" 66 zu suchen ist. Das Bewußtgewordene ist inhaltlich von den im Gedächtnis gespeicherten ehemaligen .inneren Erfahrungen' imprägniert, die „in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Causal-Fiktionen (...) tragen"67. Es ist zu differenzieren zwischen den biologischen, affektiven, instinktiven Gedächtnisinhalten und den von seiten der bewußtgewordenen Inhalten dem Gedächtnis .eingeschriebenen'68, die noch die „Causal-Fiktionen" in sich tragen; zu unterscheiden ist also zwischen biologisch verankerten und kulturbedingten Gedächtnisinhalten, die ze/cAenvermittelt sind. Prinzipiell kann nur Zeichen- oder Symbolhaftes Gedächtnisinhalt werden, so daß es irreführend sein kann, wenn man von biologisch verankerten Gedächtnisinhalten spricht. Was hier aber gemeint ist, läßt sich wie folgt erklären: die biologische Verankerung bewirkt die für den Organismus (als Ganzheit) zweckmäßige (affekt- und triebgeteuerte) Selektion und Darbietung der für die Bewußtwerdung notwendigen Gedächtnisinhalte. Das Gedächtnis vermittelt zwischen organisch verankerten Instinktsicherheiten und dem Bewußtsein, wobei moralische Prinzipien, d.h. Wertschätzungsurteile mit Bezug auf das Ganze, die sich in (bewerten) Instinkten niedergeschlagen haben, die leitende Funktion innehaben: sie bewerten (moralisch) die Tauglichkeit dessen, was mechanistisch (zeichenhaft, bewußt) dem Gedächtnis an Inhalten zur Verfügung gestellt wird, und das Ergebnis der Bewertung69 ist das, was ins Gedächtnis tritt und dem Bewußtsein (faktisch) zur Verfügung steht.- Alles Bewußtgewordene sinkt wieder ins Gedächtnis ab, aber nicht als zeitlos unveränderter Inhalt, sondern - dafür sorgen biologisch verankerte, sich in permanentem Wandel befindende Bewertungskriterien, die das Ganze (das Willen-zur-MachtGeschehen) zu berücksichtigen haben - 'leben' dort weiter, d.h. sie werden in
62
63
Ibid.- „Bis in die Zelle hinein giebt es keine Bewegungen als solche ,moralischen' in diesem Sinne." (ibid.) Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [333] ), p. 571.
64
Vid. Kap. III, §8.- Bewußtseinsinhalte sind immer ein hiatisches Nachher.
65
Nietzsche, Nachlaß,
66
Ibid.
67
Ibid. Cf. Nietzsche, Nachlaß,
68 69
KSA13, (15 [90] ), p. 459.
KS Al 1, (34 [131] ).
Ein interessanter Aphorismus, den auch Siegmund Freud schätzte, lautet: „ ,Das habe ich gethan' sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich giebt das Gedächtniss nach." (Nietzsche, J O S IV, KSA5, Nr. 68, p. 86.
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Relation zum Ganzen in jedem Augenblick neu bewertet, und ihre Erinnerbarkeit hängt von dieser Bewertung im Augenblick einer Gesamtsituation ab, in der sich der Mensch gerade befindet. Nietzsches Gedächtnismodell70 erklärt, warum wir mit einem Zeichen im Prinzip niemals dasselbe zweimal in derselben Bedeutung bezeichnen können und weshalb Zeichen ihre Bedeutung verändern. Man kann hier geradezu von einem semantischen Heraklitismus sprechen. Legt man diesen Gedächtnisbegriff zugrunde, der ja die Möglichkeiten des bewußten, willentlichen Zugriffs auf unsere mentalen Vorgänge und Zustände stark restringiert, dann stellt sich die Frage, welchen Anteil unser bewußtes Denken an den Prozessen unserer „inneren Welt" überhaupt hat?- Bewußtseinsinhalte wie etwa ein Bild, ein Begriff, ein Gedanke usw. können natürlich selbst wieder als Reizauslöser fungieren. Nietzsche bespricht diese Thematik im Rahmen der Willensproblematik. Hiervon berührt werden unsere Überlegungen, ob wir tatsächlich willentlich über Gedanken, Vorstellungen, Bilder - zumindest teilweise - verfugen können.71 Ein Bewußtseinsphänomen kann nur dann reizauslösend wirken, wenn kein stärkerer „Gegenreiz"72 dem entgegenwirkt. Der „Gegenreiz ist, so Nietzsche, „häufig nicht in unserem Bewußtsein, wir merken aber eine widerstrebende Kraft, die dem Reiz des Bildes und sei es noch so deutlich die Kraft entzieht."73 Nietzsche deutet die Reiz-Gegenreiz-Konfrontation - ähnlich wie das Wille-zurMacht-Geschehen im organischen Bereich - als „Kampf, nur daß wir von seiten des Bewußtseins „nicht wissen, wer kämpft."74 Wird der „Gegenreiz" schwächer, so daß das Bewußtseinsbild reizauslösend auf den Organismus wirken kann, dann mißdeuten wir dies als Überwindung („Sieg") und werten damit die Möglichkeiten des Bewußtseins auf: wir unterstellen, daß der „Wille" zur „That"75 geführt habe; d.h. wir interpretieren ihn als Ursache, die zur Handlung geführt hat und wähnen uns dann als frei. Dieser vermeintliche Sieg über einen „Widerstand" gibt uns den „Glauben an den freien Willen."76 In gleicher Weise glauben wir Herr über unser Gedächtnis und über unsere Gedanken zu sein. Wir gehen aber von dem „Vorurteil" aus, wir könnten mit
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Zum Nietzschischen GedächUiisbegriff sei noch bemerkt, das Nietzsche nicht tatsächlich geglaubt hat, daß es soetwas wie ein Gedächtnis gibt; es ist ein .Wort*, mit dem wir etwas „bezeichnen und andeuten", aber „nichts erklären" (Nietzsche, Nachlaß, KSA12 (1 [86] ), p. 32). Es ist festzuhalten, daß Vorstellungen, Bilder usw. schon Produkte eines physiologischen Geschehens sind: „(...) was weiß der Mensch vom Kauen, wenn er das Kauen sich vorstellt! - aber unzählige Male ist dem durch Reize hervorgebrachten Vorgange das Bild des Vorgangs in Auge und Gehirn gefolgt und schließlich ist ein Band da, so fest, daß der umgedrehte Prozeß eintritt: so bald jenes Bild entsteht, entsteht die entsprechende Bewegung, das Bild dient als auslösender Reiz." (Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [131] ), p. 489) Also ein Bewußtseinsinhalt wirkt als auslösender Reiz auf physiologische Abläufe und setzt biologische und physiologische Prozesse in Gang. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, ( 11 [ 131 ] ), p. 489. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid.
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„Gedanken Gedanken" (kausal) „verursachen"77, Denken sei rein volitiv beeinflußt. Die Suggestion, daß dies so sei, geht von der Logik (z.B. den syllogistischen Denkschritten) aus, die Nietzsche hier mit Bedacht erwähnt; denn wenn sich zeigen läßt, daß wir in den luziden Akten des bewußten Denkens, auf die das Subjekt seit Descartes seine höchsten Eigentumsrechte erhebt, nicht souverän sind, dann auch erst recht nicht in unserem Fühlen, Empfinden, Wahrnehmen oder Vorstellen. „Alles, was bewußt wird, so Nietzsches feste Überzeugung, „ist eine Enderscheinung"7*, Reichen von einem Spiel und Kampf der Affekte: sie hängen immer mit ihren verborgenen Wurzeln zusammen"79, die bei Nietzsche immer bis ins Willen-zur-Macht-Geschehen hineinreichen, dessen sinnfälligster Ausdruck das Organische ist. Es ist nach dieser Theorie des „Phänomenalismus der inneren Welt" und seines Gedächtnisbegriffs nur konsequent, wenn er ein tiefes „Mißtrauen gegen die Selbstbeobachtung"80 anmeldet und den von ihm selbst herangezogenen Begriffsapparat („Zeit Raum und Kausalität"81 und Gedächtnis) metakritisch als bloße „Erkenntnismetaphern"82 abwertet, mit deren Hilfe wir versuchen, uns die Phänomenologie des uns Bewußten begreifbar zu machen. Wie die Begriffe Reiz, Bild, Laut also nur heuristischen Wert haben, so auch der Gedächtnisbegriff. Wenn wir die innere Welt des Subjekts - wenn man diese Metapher benutzen möchte - beschreiben wollen, verwenden wir dazu Begriffe, die das Subjekt (aus der Innenperspektive gesehen) wieder in 'Subjekte' und Vermögen (z.B. hat das Gedächtnis das Vermögen zu speichern, zu reproduzieren usw.) und Fähigkeiten (z. B. Denken als Herr werden Uber viele Daten oder auch Affektionen) einteilt. Wir legen den Anthropos anthropomorphischtisch aus, d.h. wie wir die Welt auslegen, so legen wir uns auch selbst aus - modern gesprochen: zwischen der Φ-Sprache und der Ψ-Sprache besteht für Nietzsche kein wesentlicher Unterschied. §11.3 Das Zeitbewußtsein Die Bewußtwerdung von etwas gründet auf einem Kausalitätsschluß: daß etwas Ursache einer Wirkung ist. Das Kausalitätsprinzip impliziert ein „Nacheinander", das die „Ze/fvorstellung"83 hervorruft. „Das Nebeneinander in der Zeit erzeugt die Raumempfindung."84 Die Besonderheit des Nietzschischen 77 78 79 80 81 8Î
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Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [152] ), p. 335. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (1 [75] ), p.29. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [103] ), p. 112. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [210] ), p. 484. Ibid.- „(...) wir verstehn keine einzige Kausalität (...)." (ibid.) - „Daß ein Gedanke Ursache eines Gedankens ist, ist nicht festzustellen." (Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [103] ), p. 112. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [281] ), p. 549. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [210] ), p. 484.- Nietzsche entwickelt im Sommer 1872/Anfang '73 und im Frühjahr 1873 seinen Raum- und Zeitbegriff in Anlehnung an A. Spir (Denken und Wirklichkeit, op. cit., p. 311 sqq.).
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Zeitbegriffs zeigt sich in der Verschränkung dieses Begriffs mit dem Empfindungsbegriff: „Zeit an sich ist Unsinn: nur fur ein empfindendes Wesen giebt es Zeit. Ebenso Raum."83 Ausgehend von der Voraussetzung, daß Empfindungen immer nur punktuell-sukzessive „bewußte Momente" haben, die voneinander ¿getrennt** sind, entwirft Nietzsche eine „ZeitatomenJehre", die im wesentlichen auf der Identitätsthese von „dynamischem Zeitpunkt" und „Empfindungspunkt"87 beruht. Eine andere Bezeichnung für „Zeitpunkt", „Zeitmoment" ist der von K.E. v. Baer übernommene Begriff „temporis punctum", der die „Zeit" bezeichnet, „die wir brauchen, um uns eines Eindrucks auf unsere Sinnesorgane bewußt zu werden"88. Die bewußte Empfindung fällt nach Nietzsches Hypothese aber faktisch mit dem Zeitpunkt bzw. dem bewußten Zeitpunkt zusammen, so daß die Differenz zwischen „Eindruck" und „Empfindimg" nicht ins Bewußtsein fällt. Da Empfindungspunkt und Zeitpunkt „identisch" sind, kann es „keine Gleichzeitigkeit der Empfindung"89 geben, beide sind auf eine „Zeitlinie"90 zu projizieren. Real im weitesten Sinne sind nur die atomistischen Empfindungs-Sukzessionen; die zeitliche Kontinuität zwischen einem „Zeitpunkt A und (...) B"91 als „eine stetige Zeit"92 hingegen ist ein Vorstellungskonstrukt, das auf dem räumlichen „Nebeneinander" basiert.- Wenn ein „Raumpunkt A auf einen Raumpunkt Β wirkt"93, so Nietzsches Beispiel, dann imaginieren wir sowohl A als auch Β als ein Beharrendes und deuten die Wirkung von A auf Β als Bewegung in der Zeit, d.h. wir bringen hier die Grundfiktion der Kausalität und mit dieser die der Substanz in Anschlag und legen die Zeit zwischen Ursache und Wirkung als eine „stetige"94 aus. In Wirklichkeit, so Nietzsches Überlegung, „trifft A mit seiner Wirkung nicht mehr auf das Β des ersten Momentes"93; aber auch das wirkende A ist nicht mehr das des ersten Moments; denn das „in jedem kleinsten Zeitmomente Wirkende" ist „ein Verschiedenes."96 Es gilt demnach: Aiti * A2t2 und Bit] * B2t2. Das Nebeneinander im Raum ist die Hilfskonstruktion für das Nacheinander in der Zeitvorstellung 85
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Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [140] ), p. 464.- Nietzsche behandelt die Zeitthematik in zwei ThemenblOcken. Besonders in der frühen und mittleren Schaffensphase steht das Zeitbewußtsein und die Konstitution der Zeit im Bewußtsein im Vordergrund. Ab der mittleren Phase (FW) wendet er sich dem (durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen bedingten) kosmologischen Zeitbegriff zu, bei dem es vorwiegend um die Zeitmodi und den Ewigkeitsgedanken geht. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (6 [4121 ). P· 303. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (26 [121 ), P- 5 7 9 · K.E. V. Baer, Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige? (= Festrede), zitiert nach K. Schlechta/A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, op. cit, p. 132. Schlecht^/Anders weisen daraufhin, daß es sich bei Baer um eine „sinnesphysiologische Größe" (ibid.) handelt. Cf. Nietzsche,Nachlaß, KSA7, (26 [12] ), p. 577. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (26 [12] ), p. 579. Cf. Κ. Schlechta/A. Anders, Von den verborgenen Anfängen, op. cit., p. 152. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (26 [121 ). P· 579. Ibid. Ibid., p. 575. Ibid.. p. 579. Ibid., p. 575. Ibid.
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und beides ist abzuleiten aus der Kausalitätsempfindung, die die zeitkonstituierende Vorher-ZNachher-Relation97 hervorbringt, die dann wiederum in eine räumliche Vorstellung des Nebeneinander übertragen wird; in diesem Sinne sind Raum und Zeit Erkenntnismetaphern. Wenn wir „nicht Ursachen und Wirkungen" „empfänden", „sondern ein continuum, so glaubten wir nicht an die Zeit."98 Das Zeitbewußtsein bildet sich an der Distinktheit bewußtgewordener Empfindungen, die aus einem distinkt-, zeitund bewußtlosen Geschehen herausgegriffen werden. Ein „Nacheinander" von „Ursache und Wirkung" gibt es „wahrscheinlich nie,- in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren (...)."" Nietzsche konstruiert seinen Begriff des Kontinuums analog zu seinem Werden-Begriff; wie wir uns das der Realität entsprechende Werden - seine Basishypothese! - nicht vorstellen können, so können wir uns auch ein Kontinuum nicht vorstellen, obwohl es, wie das Werden, ein wesentliches Merkmal der Realität sein soll. In seiner „Zeitatomenlehre" geht Nietzsche zwar von einer unendlichen Teilbarkeit100 der Zeit aus, will dies aber nicht als quantum continuum101 verstanden wissen; denn es ist „nur von Zeitpunkten zu reden, nicht mehr von Zeit"102 - will sagen: nicht mehr von der Zeit als einer an sich - außerhalb empfindender Wesen - bestehenden Größe; sie ist, wie auch der Raum, für Nietzsche keine apriorische Anschauungsform und auch kein innerer Sinn; sie ist, wie der Raum, ein reines Bewußtseinsphänomen, das wir als empfindende (bewußte) Wesen aktiv hervorbringen (cf. Spinnennetz-Metapher).- Als wirkliches Kontinuum denkt Nietzsche z.B. auch die Kraftm, wie wir sie im Willen-zur-Macht-Geschehen und in organischen Prozessen kennengelernt haben, die mit dem Kausalitätsschema nicht zu erfassen ist, weil, wie es heißt, sie „in jedem kleinsten Moment" „verschieden"104
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Das entspricht in etwa auch McTaggarts sog. B-Reihe des „earlier" - „later", aus der die Zeitmodi abgeleitet werden: Früher als jetzt (= vergangen), gleichzeitig mit jetzt (= gegenwärtig) und später als jetzt (= zukünftig).- Cf. J.E. McTaggart, The Nature of Existence, Cambridge J 1968 - Dazu auch P. Bieri, Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfurt/M 1972. Cf. auch N. Rescher/A. Urquhart, „Zeit und Zeitlogik", in: B. Kienzle (ed.). Zustand und Ereignis, FrankfUrt/M 1994, pp. 2 7 - 9 7 , p. 54.
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Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [281) ), p. 549.- „Ohne Nacheinander und ohne Nebeneinander giebt es für uns kein Werden, keine Vielheit - wir könnten nur behaupten, jenes cotinuum sei eins, ruhig, unwandelbar, kein Werden, oline Zeit und Raum." (ibid.) Nietzsche, FWlll, KS A3, Nr. 112, p. 473. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (26 [12] ), p. 576. Cf. dagegen Kant, KrVB 211: „Raum und Zeit sind quanta continua, weil kein Teil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, daß dieser Teil selbst wiederum ein Raum, oder eine Zeit ist. Der Raum besteht also nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten." Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (26 [12] ), p. 579. Den Zusammenhang zwischen „Zeitatomenlehre" und dem Kraftbegriff arbeitet Greg Whitlock unter Berücksichtigung des Einflusses von Boscovichs Theoria Naturalis heraus. Cf. G. Whitlock, „Examining Nietzsche's 'Time Atom Theory' Fragment from 1873", in: Nietzsche-Studien, Bd. 26 (1997), pp. 350-360. Ibid., p. 577 sq.
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ist. Soll diese Kraft wirken können, darf sie, wie gesagt, kein Beharrendes in der Zeit sein; sie ist „nur Funktion der Zeit."m Für den frühen Nietzsche ist (in Abgrenzung zu Kant) die Zeit keine uns a priori gegebene Form der Anschauung104, sondern , wie schon betont, etwas produktiv Hervorgebrachtes. Wir haben es demnach nicht mit Erscheinungen in Raum und Zeit zu tun, die das Gemüt affizieren, sondern Empfindung und Zeitbewufltsein koinzidieren - und beides sind Bewußtseinsphänomene. Bei Kant ist erst die durch den „synthetischen Einfluß des Verstandes"107 vollzogene Bestimmung mit „Bewußtsein"108 verbunden, nicht jedoch, was uns in den Rezeptionsformen erscheint; d.h. es gibt eine bewußtseinstranszendente Wirklichkeit, zu deren Inventar schon Dinge (genauer: Dinge an sich) gehören, deren Erscheinungsmöglichkeiten durch die spezifisch menschlichen Anschauungsformen präformiert, ^ i r ein Bewußtsein aber ein Gegebenes sind. Von einem transbewußten Gegebenen zu reden, das nicht innerhalb unserer phänomenalen Innenwelt konstituiert sein soll, macht fur Nietzsche keinen Sinn. Alles, was uns etwas sein oder bedeuten kann, ist etwas oder hat seine Bedeutung nur durch und in einem Bewußtsein.109 Wie das intellektuelle Bewußtsein, so sind auch der „Zeit-sinn, Raum-sinn" und der „Causal-sinn"110 geworden; sie sind uns nicht a priori gegeben, sie haben sich genetisch entwickelt und helfen, als „Erkenntnismetaphern", uns und die Phänomenologie der „inneren Welt" zu verstehen. Nietzsches Zeitatomen-Theorie betont eindeutig ein punktuelles JetztBewußtsein, das von den Selbstbewußtseinstheorien seit Kant erheblich abweicht. Es stellt sich nämlich die Frage, wie ein solcherweise konzipiertes Zeitbewußtsein die durchgängige Einheit des Selbstbewußtseins eines Subjekts, die doch als Bedingung, daß alle Empfindungen und Vorstellungen meine sind, gedacht werden muß, zu erklären vermag. Eine Vorstellungs- oder Empfindungs-Sequenz ist, wie G. Mohr treffend sagt, „noch keine Vorstellung einer Sequenz"1"; d.h. verschiedene mentale Zustände müssen aufeinander und auf die Einheit des Selbstbewußtseins bezogen werden. Eine Sequenzvorstellung hat minimalen Ansprü105
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Ibid., p. 578.- cf. J. Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959, p. 97. (Leider ist in dieser Monographie die Zeitthematik des frühen Nietzsche fast ganz ausgespart.) Diese Ansicht vertritt allerdings auch noch der späte Nietzsche, der sich in bezug auf die Zeitthematik weiterhin an Spir anlehnt. Cf Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (35 [56] ), p. 537; cf. auch FW III, KS A3, Nr. 112,p. 473. Kant, KrV Β 154. Ibid. Nietzsche verdeutlicht die BewußtseUnabhängigkeit der Zeit an dem Beispiel der „Wiedergeburt". Zwischen Tod und Wiedergeburt gibt es keine „Ruhe", denn „zwischen dem letzten Augenblick des Bewußtseins und dem ersten Schein des neuen Lebens liegt .keine Zeit' " (Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [318] ), p. 564).- „Also bei allen Zeitempfindungen ist das Ich thätig." (Nietzsche, Nachlaß, KSA10, (7 [153] ), p. 293) Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [124] ), p. 462. G. Mohr, „Thesen über ZeitbewuOtsein und innere Erfahrung", in: Zeiterfahrung und Personalität, ed. v. 'Forum für Philosophie Bad Homburg', Frankfurt/M 1992, pp. 181 - 206, p. 195.- Auf den Aufsatz von Mohr sei ausdrücklich verwiesen; er faßt in 32 Thesen die traditionelle ZeitbewuBtseins-Theorie unter einem an der analytischen Philosophie geschärften Blick zusammen.
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chen zu genügen: Empfindungen/Vorstellungen müssen diskriminiert und in der Setzung als Differenz zu anderen Empfindungen/Vorstellungen reidentifizierbar sein. Die Diskriminierung ist bei Nietzsche die metaphorische Setzung von bestimmten Einheiten; dazu ist auch eine bestimmte Empfindung zu zählen. Mit dieser Operation generieren wir, so kann man Nietzsche lesen, die Zeit bzw. unser Zeitbewußtsein. Laut dieser Theorie scheint nicht erklärbar, wie wir zu einer Sequenz-Vorstellung kommen können; denn mit der Zeit-EmpfindungsAtomistik muß, wenn man Nietzsches Subjektsetzungs-Theorie rigoros in Anschlag bringt, auch von einem sukzessiven Subjekt ausgegangen werden, was zur Folge hätte, das ein so verfaßt gedachtes Subjekt nicht zu einer „Vorstellung einer Sequenz" kommen könnte, weil es nicht zu einem durchgängigen Selbstbewußtsein kommt. Die Reidentifizierung einer Empfindung (Ei) und die Unterscheidung von einer anderen (E2) wäre so nicht möglich, da zum Zeitpunkt ti das Subjekt (SO Ei korrespondiert und bei t2 der Empfindung E2 das Subjekt S2; und das würde bedeuten, daß das Subjekt in seine Empfindungsmomente zerfiele, und daß es damit prinzipiell unfähig wäre, zwischen ti und t2 eine Verknüpfung herzustellen. Ein solcherart verfaßtes Subjekt zerfiele in Bewußtseinsfraktale; es könnte weder die Einheit einer diskriminierten Empfindung, noch auch - und das wiegt noch schwerer - könnte es eine Vorher-/Nachher-Relation anwenden, so daß von dieser formalen Seite schon ein Aufeinanderbeziehen einzelner Empfindungen oder Vorstellungen vereitelt wäre. Die oben formulierten Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit man die Vorstellung einer Sequenz (und die, wie Erfahrung möglich ist) überhaupt plausibel erklären kann, lassen sich in den Begriffen Kausalität, Substantiality und Kontinuität auf den Punkt bringen. Würde man Nietzsche Unplausibilität seiner Zeitatomenlehre und damit eng verbunden seiner Subjekttheorie vorwerfen, könnte er immer noch mit der Bemerkung kontern, daß sich eben in diesen Begriffen unsere Zwangsvorstellungen niedergeschlagen habe und eine Theorie, die zu diesen Begriffen nicht in Widerspruch trete, nolens volens plausibel erscheine. Fassen wir Nietzsches Überlegungen einmal zusammen: 1. Die Vorher-/Nachher-Realation ist aus dem „Causal-Gefühl""2 abgeleitet und hat das Tun-Täter-Schema im Rücken. Diese Relation wird von dem Subjekt unter Zuhilfenahme eines räumlichen Nebeneinanders konstituiert. 2. Empfindungen, Vorstellungen sind de facto in keinem Augenblick dieselben; und sie sind prinzipiell individuell. Ihre Gleichartigkeit bzw. Substantialität ist eine produktiv Hergestellte. Selbst im Gedächtnis werden sie permanent verändert. Ihre Reidentifizierung beruht auf einer zeichenvermittelten Interpolation.
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Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [124] ), p. 462.- Das Vorher und Nachher ist für Nietzsche eine „große Naivität." (ibid.)
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3. Der Gedanke des Selbstbewußtseins beruht auf der Annahme des Subjekts als einer Substanz, dergestalt, daß alle mentalen Zustände aufeinander vermittels dieser Einheit verknüpft gedacht werden. Das Subjekt wird so als ein alle Einzelempfindungen, -Vorstellungen überbrückendes Kontinuum gedacht, das die Zeitspannen zwischen den mentalen Ereignissen und Zuständen integriert und auf sich als Einheit bezieht. Das Substanz-Subjekt wird als die Brücke gesehen, die über alle Sukzessionen hinwegfuhrt. Dieser Auffassung steht Nietzsches These entgegen, daß es nur diese Sukzessionen gibt, die durch die Empfindungs-Ze/f-Punkte markiert sind; die überbrückende Kontinuität des Bewußtseins ist nur fingiert. Kontinuität gibt es, wenn überhaupt, nur außerhalb des menschlichen Bewußtseins. An dieser Stelle muß die Frage an Nietzsches Empfîndungs-/Zeitatomen-Theorie erneut gestellt werden, ob, wenn es nur eine sukzessive Empfindungskette von inneren Zuständen gibt, das Bewußtsein nicht in atomare Jetzt-Momente zerfalle, was einer gewissen Bewußtlosigkeit gleichkäme. Nach der bisherigen Analyse mag die Antwort, die Nietzsche darauf geben könnte, nicht mehr verblüffen - : daß unser mentales Erleben punktuell ist, daß wir aber dennoch das Gefühl haben, es sei durativ und kontinuierlich. Diese Ungereimtheit kann man mit Nietzsche wie folgt aus der Welt räumen: wenn wir nur bewußte zeitkonstituierende Momente haben, dann ist zwischen diesen keine Zeit. Zwischen Empfindungen gibt es überhaupt nicht so etwas wie Zeit, und dieser Umstand macht uns glauben, daß alles innere Geschehen gleichsam kausal miteinander verknüpft sei. Man kann es mit der schon erwähnten Wiedergeburts-Analogie sehr gut verdeutlichen: „zwischen dem letzten Augenblick des Bewußtseins und dem ersten Schein des neuen Lebens liegt", so Nietzsche, „ .keine Zeit' " 1 , 1 . Man darf an diese Überlegungen die Spekulation anschließen, daß Nietzsche die Möglichkeit eines oszillierenden Bewußtseins nicht ganz ausschließen würde, daß - bildlich gesprochen - nur die Wellenberge ins Bewußtsein ragen, die in ihrer Frequenz und ihren Elongationen, in Dichte und Intensität von organischen Prozessen bestimmt werden. Nach dieser Analogie läßt sich auch die subjektive „Zeitdauerempfindung"114 erklären, so z.B. wenn uns in extremen Situationen, wie unter Lebensgefahr, geinessen an der metrischen Zeit, mehr „Erlebnisse""5 (eine höhere Erlebnis-Frequenz) zur Verfügung zu stehen scheinen, so daß uns die Erlebnisverdichtung wie eine Zeitdehnung vorkommt. Wie aber, so ist weiterzufragen, kann man mit Nietzsches Zeitbegriff Dauer erklären; mit anderen Worten - wäre ein Bewußtsein, wie es sich bei Nietzsche darstellt, tatsächlich in der Lage, eine Melodie zu hören?- Husserl hat in seinen Zeitstudien eindrucksvoll gezeigt, daß beim Melodiehören das Bewußtsein in einer Weise konstitutiv ist, insofern es über ein Wahrnehmungs-Jetzt als
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Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 |318] ), p. 564. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (6 [420] ), p. 306. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [49] ), p. 653.
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„Erlebnisjetzt"116 hinausgreift. Wir hören faktisch nicht die Melodie, sondern „den einzelnen gegenwältigen Ton"117. Nur dadurch, daß das Jetzt protentionales Erlebnisjetzt ist, sind die vorhergehenden Töne (melodiekonstitutiv) noch eine Zeitlang bewußt118, bevor sie in die Vergangenheit absinken. Entsprechend für die Dauer eines Tones gilt, daß sein Anfang in dem Phasenstrom aller seiner aktuellen Jetzt-Punkte mitbewußt ist, so daß „die ganze Strecke der Zeitdauer vom Anfangspunkt bis zum Jetztpunkt" „als abgelaufene Dauer" „bewußt ist."119 Der Endpunkt der Tondauer oder eines Phasenkontinuums120 wird erst am „Anfangspunkt"121 einer neuen Zeitstrecke bewußt. „Jedes aktuelle Jetzt des Bewußtseins unterliegt dem (...) Gesetz der Modifikation. Es wandelt sich" „stetig" „in Retention von Retention"122 - und so ist das „Bewußtsein in beständiger Wandlung begriffen"123. In den Jetzt-Punkt fällt aber nicht nur das Nicht-mehrJetzt der Retention, sondern auch das Jetzt-noch-Nicht der Pretention, die sich als horizonthafte Erwartung des Typischen umschreiben läßt. Husserls Analyse des Zeitbewußtseins, exemplifiziert am Melodiehören, hebt die Schwierigkeit, die sich aus der Nietzschischen Zeit- und Empfindungsidentität ergibt, in den Blick. Mit Beendigung der aktuellen Ton-Wahrnehmung müßte nach dieser Identitätsthese auch die Zeitempfindung im Bewußtsein 'abreißen', so daß der vergangene Ton (und damit dessen Tonhöhe und Tondauer), den Husserl mit dem Retentionsbegriff für das Bewußtsein rettet, nicht mehr auf den gegenwärtigen bezogen werden kann, et vice versa}1* Die Eleganz der Husserlschen Analyse liegt gerade darin, daß er weitgehend den Gedächtnisbegriff umgeht, den (will man die aufgezeigte Problematik für Nietzsches Ansatz aufklären) mit herangezogen werden muß. Bei Nietzsche käme dann dem Bewußtsein eine duale Funktion zu: die Tonempfindung (= die aktuelle Erfahrung) und die Erinnerung von erfahrenen Erfahrungen, die im Gedächtnis modifiziert worden sind und nicht, wie bei Husserl, in der aktuellen Erfahrung liegen. Die Retention, darauf hat Peter Bieri hingewiesen, „stellt sich" nicht „unmittelbar selber als jetzt' dar" und ist daher „kein phänomenologischer Befund"125 ; „die Feststellung des
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E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 1980 (unvermuteter Nachdruck der 2. Aufl. v. 1922), p. 164.- Das „Erlebnisjetzt" ist immer auch Bewußtsein des Nicht-mehr-Jetzt, „des soeben Vergangenen" (ibid., p. 165). 117 E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Tübingen 21980 (unveränd. Nachdr. d. 1. Aufl. v. 1928), p. 19. 118 Cf. Husserl, Vorlesungen, op. cit., p. 20. 119 Ibid. 120 Cf. ibid. 121 Ibid. 122 Ibid., p. 24. 123 Ibid.- Husserl bezeichnet die Retention auch als „primäre Erinnerung" (ibid., p. 23). 124 Das betrifft natürlich auch die für den musikalischen Vorgang selbst wieder essentiellen Pausen. Nietzsche könnte hier leicht einwenden, daß für unser Bewußtsein Pausen im musikalischen Sinne wieder Zeichen sind. 125 P. Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, op. cit. p. 194.- Bieri zeigt, daß Husserl „auf eine reale Zeitstruktur zurückgreifen und de facto den Anspruch, Zeitbewußtsein unter Ausklammerung realer Zeitvertiältnisse beschreiben zu können, aufgeben" (ibid.) mußte. 4
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zeitlichen Orts der Retention" sei „nachträglich"116 erfolgt oder anders ausgedrückt: sie ist ein Konstrukt, das in der sogenannten McTaggartschen A-Reihe seine Wurzein hat, ein Konstrukt, das bis in die Grammatik hineinreicht.127 Vielleicht ist es gar nicht zu umgehen, die Beschreibimg der Konstitution der Zeit im Bewußtsein selbst wieder unter Zuhilfenahme von Raum- und Zeitmetaphern oder einer der Grammatik folgenden Zeiteinteilung vorzunehmen. Diesen Metaphern läge dann wieder, wie Nietzsche gezeigt hat, die Kausal- und Substanz-Projektion128 (Anfang/Ende, Dauer) zugrunde. Husserls Dauer- und Kontinuitätsbegriff zeigt deutliche Spuren der cartesianischen Selbstbewußtseinstheorie im Gewand einer Zeittheorie. Wie Zeit im Bewußtsein entsteht oder für ein (menschliches) Bewußtsein konstitutiv ist, ist ohne einen Begriff von Zeit nicht zu klären, dem Begriff aber geht, wie Hegel sagt, das Bewußtsein von Zeit voraus129 ; sie ist in diesem Sinne auch für Nietzsche transzendental in seiner Bedeutungsfärbung, notwendig für erkennende Wesen130, die sie aus sich „produciren (...) mit jener Notwendigkeit, mit der die Spinne spinnt"131 - und in diesen Netzen hängen wir selbst.
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Ibid. Cf. L. Wittgenstein, Das blaue Buch, Werkausgabe in 8Bdn„ ed. R. Rhees, Bd. 5, Frankfuit/M 1984, p. 49 sq.- Cf. J. Simon, Philosophie und linguistische Theorie, Berlin/New York 1971, p. 52, Anm. 5. Husserls Analyse würde sich aus diesem Gesichtspunkt wie folgt lesen: Die Tondauer (= Substanz) hält sich in einem kontinuierlich gedachten Zeitstrom mit sich identisch durch (Zeitdauer-Substanz), und der Zeitstrom wird so weit segmentiert, daß Vergangenes mit dem jeweiligen Jetzt noch in Verbindung steht (d.h. man muß nur Zeitstadien als eine Art Substanz ansetzen). Es ist auch bezeichnend, daß Husserl von ,JZeitobjekten" (Vorlesungen, op. cit, p. 18, passim) spricht Cf. Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit, p. 558. „Wir selber als erkennende Wesen sind eine immer neue rotirende Kraft und bringen so ein Nacheinander hervor (...). Wir sind die Bewegten, welche sich um die Dinge bewegen: wir stehen nicht still (...)." (Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (6 [413] ), p. 304) Nietzsche, WL, KSA1, p. 885.
IV Das intentionale Bewußtsein
§12 Die Konstitution der Außenwelt Bereits in die platonische Tradition fällt die Unterscheidung dessen, was in der Seele und was außerhalb der Seele ist. Mit Beginn der Neuzeit differenziert sich der Unterschied in eine raum-zeitliche Außenwelt, die allen zugänglich ist, und in eine Innenwelt der Sinnesdaten und Bewußtseinsinhalten, die nur für das Subjekt, dem sie gehören, dem £7gew/ö/ner-Subjekt, zugänglich sein sollen; der öffentlichen Außenwelt steht die hermetische Welt der Subjekte entgegen, die nur über kommunikative Mittel intersubjektiv vermittelbar ist. Mit der Aufwertung des Bewußtseins durch Descartes tritt nun das Problem der Repräsentation der Außenwelt in einem Bewußtsein in den Vordergrund. Nietzsche bezieht innerhalb dieser Diskussion die extreme Position des Solipsismus, der behauptet, daß die Wirklichkeit nur aus den jeweiligen Subjekten und ihren Empfindungen, Vorstellungen, Ideen usw. besteht; alle Daten über eine vermeintliche Wirklichkeit einer raum-zeitlichen Welt sind Daten eines Bewußtseins, und die Annahme einer objektiv bestehenden Außenwelt beruht auf einer Projektion, die ebenfalls ein Bewußtseinsphänomen ist. Die oben angesprochene Projektion ist im Prinzip dieselbe, die veranlaßt, daß wir uns als Subjekte verstehen und durch die uns überhaupt nur etwas bewußt werden kann; es ist die Ursache- oder Grundimagination, daß etwas (eine Empfindung oder ein Sinnesdatum) von etwas verursacht worden ist. Die „Sinnesempfindung", die als von außen kommend gedeutet wird, ist in Wirklichkeit ein reines (intrinsiches) Phänomen, das im Bewußtsein gründet. Die Projektion, die veranlaßt, daß die Ursache als von außen kommend geglaubt wird, ist eine Folge davon, daß uns eine Empfindung bewußt geworden ist; d.h. wir haben für eine Veränderung an uns eine Ursache gefunden. Bei der Konstitution der „Außenwelt" findet nach Nietzsche eine „Umkehrung der Zeit"1 statt, indem wir sie „als Ursache ihrer Wirkung auf uns"2 ansetzen. „Ihre thatsächliche und unbewußt verlaufende Wirkung" auf uns haben wir „erst zur Außenwelt verwandelt. Es braucht Zeit, bevor sie fertig ist: aber diese Zeit ist so klein"3, daß sie, so kann man ergänzen, nicht bewußt wird. Eine Sinnesempfindung wird zu einem Be1 2 3
Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [44] ), p. 159. Ibid. Ibid.
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wußtseinsdatum, nachdem sie als Wirkung einer (projektiven) Ursache interpretiert worden ist, und das heißt: die Bewußtwerdung ist gegenüber einer tatsächlich verlaufenden unbewußten (von Nietzsche hypothetisch angesetzten) Wirkung verzögert oder, wie er sich auch ausdrückt, „nachgeboren"4. Nietzsche geht hier, um den Sachverhalt überhaupt noch verdeutlichen zu können, von dem Begriff einer objektiven (bewußtseinsunabhängigen) Zeitenfolge aus, de facto aber, wie die Analyse gezeigt hat3, ist die Kausalprojektion für unser Zeitbewußtsein konstitutiv, so daß es sich hierbei um Momente ein und derselben Operation handelt. Strenggenommen dürfte er auch den Begriff einer unbewußten Wirkung nicht verwenden. Die Rede von den unbewußten Wirkungen verdankt sich einer Grenzvorstellung und hat nur im Rahmen einer philosophischen Erörterung explikativen Charakter. Nimmt man Nietzsche beim Wort, daß alles, was uns bewußt werden kann, ein prinzipielles interpretatorisches Nachher ist, dann ist das wirkliche Geschehen unerkennbar und die Rede davon hat nur hypothetischen Status. Die Sinnesdaten - Nietzsche spricht von „Sinnesempfindung" - sind keine letzten Bausteine einer in die Physiologie eingeschriebenen Wirklichkeit (Russell), die, aufgrund unserer gattungsphysiologischen Gleichförmigkeit, empirische Objektivität beanspruchen könnten. Eine solche physiologische tabula rasa kann es fìir Nietzsche insofern schon nicht geben, als jede Sinnesempfindung auf eine je verschiedene Befindlichkeit eines Gesamtorganismus 'trifft' ; jede Sinnesempfindung ist individuell. Es sind immer „viele Erregungen", die wir „als Einheit empfinden"6, die unser Bild von der Außenwelt (die natürlich eine Innenwelt ist) überformen; wir „sehen nur", vermutet Nietzsche, „was wir kennen·, unser Auge ist in der Handhabung zahlloser Formen fortwährend in Übung: - der größte Theil des Bildes ist nicht Sinneneindruck, sondern Phantasie-Erzeugniß,"7 Daß wir Sinnesempfindungen als von außen verursacht glauben und was wir als Sinneseindruck wahrnehmen, sind bewußtseinsgesteuerte Vorgänge. Die Annahme, wir referierten auf eine gemeinsame objektive Außenwelt, hat ihren Ursprung in unserem zeichenvermittelten Bewußtsein - nicht die Außenwelt ist das, was wir teilen, sondern das Bewußtsein von der Außenwelt und was diese sein soll; d.h. wir empfinden ähnliche Erregungen als Einheiten, für die wir Wörter oder Begriffe haben: der Glaube an eine gemeinsame Außenwelt ist sprach'/zeichenvermiltelt. Wofür wir ein „Wort" haben, da schauen wir nach Nietzsche auch nicht mehr genau hin; es reichen „kleine Anlässe und Motive", die wir „aus den Sinnen"8 nehmen, um das Phantasie-Produkt zu erzeugen. Dabei werden „frühere Phantasien als gewohnte eingeübte Thätigkeiten wieder
4
Nietzsche, Nachlaß, KSA13, ( I S [90] ), p. 459.- „Unsere .Außenwelt', wie wir sie jeden Augenblick projiciren, ist versetzt [Hervorhebung - E.S.] und unauflöslich gebunden an den alten Irrthum vom Grunde: wir legen sie aus mit dem Schematismus des .Dings' " (ibid).
5
Vid. supra Kap. III, §11.3. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [336] ), p. 99.
6 7
Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [ 13] ), p. 446.
8
Ibid.
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Das intentionale Bewußtsein
zum Bau" neuer Phantasien „verwendet"9. Auch die sogenannten primären Qualitäten wie Ausdehnung, Größe, Bewegung und Form sind ebenso „Phantasien", die „unserem individuellen Zustande"10 entsprechen, wie die sekundären Eigenschaften. Es kommt Nietzsche hier besonders darauf an, Sinneseindrücke als Bewußtseinskonstrukte auszuweisen. An die Stelle des „Unbewußten" sei die Phantasie"11 zu setzen; nicht „unbewußte Schlüsse" seien hier am Werk, sondern Eingeworfene Möglichkeiten"l2. Dieser Ansatz ist natürlich weit entfernt von einem naiven Realismus und mit dem Begriff Sensualismus™ kaum noch zu erfassen, denn Sinnesdaten sind auch vom physiologischen Standpunkt bei Nietzsche keine elementaren Basen, keine letzten realitätsverbürgenden Befunde, sondern Konstrukte, die auf der Grundlage vorgängig eingeübter „Formen", die auch nur wieder Konstrukte sind, gründen. Der „Sensualismus" kommt für Nietzsche nur als „regulative Hypothese" oder als „heuristisches Prinzip"14 in Frage. Um „Physiologie mit gutem Gewissen treiben zu können"13, darf man die Sinnesorgane nicht wieder sensualistisch subjektivieren, so als wären sie Ursachen der Sinnesempfindungen. Sie so zu begreifen, ist eben nur eine „regulative Hypothese", insofern wir die Sinneswahrnehmung wieder auf den Sinn als deren Ursache beziehen. Sinneswahrnehmungen begreift Nietzsche als eine schöpferische Produktion von „organischen Wesen"16, in die („vererbte") „Werthschätzungen" eingegangen sind, die in einem „Verhältnis" zu unseren „Existenzbedingungen stehen müssen"17. Jeder „Sinneswahrnehmung" liegt ein „Urtheil" zugrunde, das „den Vorgang, bevor er ins Bewußtsein .eintritt', bejaht oder verneint'18. Wir projizieren unsere auf Nützlichkeitsmotiven aufgebauten Wertvorstellungen, die, wie Nietzsche sagt, wir uns selbst nicht „wagen" zuzuschreiben, auf eine Außen9
Ibid. Ibid. » Ibid. 1J Ibid. 13 Lockes Formel: Nihil est in intellectu, quod non sit prius in sensu.- ist dagegen nur Ausdruck einer intellektfreien Grundlage der Erkenntnis in der Sinneserfahrung. Berkeleys Diktum esse est percipi trifft zwar den Kern der Nietzschischen These, vermag die Radikalität seines Ansatzes jedoch nicht voll widerzuspiegeln. Berkeley schließt zwar eine denkunabhängige Außenweh aus, beruft sich aber auf den göttlichen Geist als Garant einer Wirklichkeit Die von ihm uns eingeprägten Vorstellungen, Phantasien und Träume hingegen tragen nicht zur Wirklichkeitsvorstellung bei. 14 Nietzsche, JGBI, KS A3, Nr. 15, p. 29.- Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [158] ), p. 474. 15 Nietzsche, JGB I, KSA5, Nr. 15, p. 29. 16 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [247] ), p. 503. 17 Ibid.- Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [95] ), p. 108: „Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit Werthurtheilen (nützlich schädlich - folglich angenehm oder unangenehm (...))".- „(...) wir haben Sinne nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen - solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten." (ibid.).- Wir haben also auch bei der sinnlichen Wahrnehmung ein ähnliches Selektions- und Bewertungsgeschehen vor uns, wie wir es im Organischen vorfinden.· Will man bei Nietzsche noch von einer Außenwelt sprechen, dann ist diese zumindest eine über Werturteile konstituierte. Das sinnliche Wahrnehmen ist gleichsam Ausdruck eines BewertungsGeschehens. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang auch von einer moralischen Ontologie. 18 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [35] ), p. 157. 10
Die Konstitution der Außenwelt
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welt." Durch diese moralische Ontologisierung, die wir an die „Natur" („NichtIch") herantragen, entfremden wir uns selbst; wir .verarmen', J e reicher" wir das „Außer-uns"20 ausstatten. Nietzsche sieht darin eine Verarmung des Menschen, die er rückgängig machen möchte. In einer Zeit, in der der homo sociologicus Konjunktur hat, muß die Theorie der fiktionalen Außenwelt, zu deren 'Ensemble' ja nicht nur Dinge, Organismen und Tiere, sondern auch andere Subjekte oder Personen gehören, befremden. In Frage steht, wie sich personale Leiblichkeit und damit verbunden, Fremdbewußtsein in einem Bewußtsein als Fremd-Bewußtsein verstehen läßt, zumal sich doch, so Nietzsches These, Bewußtsein nur im intersubjektiven Verkehr hat entwickeln können? Sprachgebrauch (kommunikative Interaktion) und Verhalten gelten im herkömmlichen Sinne als Kriterien für Fremdbewußtsein. Die nichtanalytische Bewußtseinsphilosophie macht zu recht darauf aufmerksam, daß individuelles Bewußtsein oder Selbstbewußtsein sich nicht allein aufgrund regelkonformen Zeichengebrauchs hinreichend erfassen lasse; sprachliche Allgemeinheit (semantische Identität, Systemableitbarkeit) sind szientistische Idéale, die dazu verleiten, eine wissenschaftlich beschriebene Einzelsprache gleichsam empiristisch auszuschlachten, um nicht auf suspekt gewordene mentale (intentionale) Bewußtseinszustände rekurrieren zu müssen.21 Die Fähigkeit, sich selbst als bewußtes Subjekt zu begreifen und sich als solches intersubjektiv zu erkennen zu geben, soll gemäß dem Intersubjektivismus (Habermas) über den Spracherweib sozial vermittelt erfolgen. Sprachanalytische Subjekttheorien erhoffen sich unter Zuhilfenahme eines pragmatischen Sprachbegriffs, der Sprache genuin als „social art" (Quine) begreift, die klassische Subjekt- und Selbstbewußtseinstheorie unterlaufen zu können; die Individualität des Einzelbewußtseins soll über einen geregelten Sprachgebrauch sozial vereinnahmt werden.- Nun könnte man Nietzsche geradezu als Ahnherrn dieser Bewegung aufrufen, übersähe man seine individuumsrettenden Impulse, seinen kritischen Sprachbegriff und seine im Grunde genommen solipsistische Position. Das „Bewußtsein" hat sich zwar als ein „Verbindungsnetz" zwischen „Mensch und Mensch (...) entwickeln müssen"21 , man darf diesen existenzsichernden Zusammenschluß aber nicht in einem heutigen Verständnis als sozial-motiviert bewerten. Was aber bewußt wird, trägt bei Nietzsche prinzipiell den Charakter des öffentlichen; es ist nicht so, als ob Öffentlichkeit über den Sprachgebrauch hergestellt würde, und daß sich dann 19 20
21
22
Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (12 [26] ), p. 580. Ibid.- Unsere Prädikate, die wir den Außenwelt-Dingen zusprechen, sind mit der Zeit immer vielfältiger und differenzierter geworden, ein Prozeß, mit dem die Verfeinerung der Sinne einhergeht. Damit nimmt die Komplexität unserer Sinnesempfindungen, das heißt auch unseres Bewußtseins, zu. Für eine Entlastung sorgt dann das begriffliche Denken, das wieder entlastend die Sinneswahmehmungen Qberformt. Cf. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1, Frankfurt/M 1984, p. S31: „So bietet die Analyse der Bedeutung (...) des performativen Gebrauchs des Ausdrucks .Ich', innerhalb des Systems der Personalpronomina, einen aussichtsreichen Schlüssel zur Problematik des Selbstbewußtseins."GlQcklicherweise ist das Ich auch heute noch mehr als ein Personalpronomen und seine Gebrauchsweise im intersubjektiven Verkehr. Nietzsche, FW V, KS A3, Nr. 354, p. 591.
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Das intentionale Bewußtsein
Selbstbewußtsein interkommunikativ aufbaute; Sprache ist bei Nietzsche in einem viel grundlegenderen Sinne öffentlich: die „Heerden-Perspektive"23 ist ihr Konstitutiv. Es liegt gerade in ihrem Gebrauch das Individuum-Bedrohende. Von einem anderen Menschen, von einem Fremdbewußtsein „verstanden zu werden", hat fiir Nietzsche „etwas Beleidigendes", denn „comprendre c'est égaler"24. Jemanden verstehen heißt auch, ihn auf ein über die sprachliche Restriktion festgelegtes Bewußtsein einzuengen, zu begreifen, d.h. festzulegen, zu simplifizieren und zu veröffentlichen. Nietzsche sieht darin die Schutzgebühr, die an das Gemeinwesen fur die soziale Integration zu zahlen ist.23 Vordergründig scheint dann das Fremdbewußtsein das uns Vertraute zu sein, aber dies auch nur insofern wir es als ein Allgemeines auf einen Begriff gebracht haben. In diesem Verstehen sind die durch die Sprache transportieren Vorurteile mit eingeflossen: ich 'verstehe' das Fremdbewußtsein nur soweit, als ich mich selbst zu verstehen in der Lage bin. Nietzsches kritische Bewußtseinsphilosophie ist in dieser Hinsicht von ethischem Wert, denn sie macht deutlich, daß in jedem Verstehen des anderen prinzipiell Unrecht geschieht. Die Konsequenz eines solchen Bewußtseins kann nur sein, den anderen in seinem möglicherweise anderen Verstehen zu tolerieren und wenigstens das eigene Verstehen nicht auch noch als die Wahrheit mißzuverstehen. Mit Nietzsche ist begriffen, daß Kommunikationsteilnehmer sich auch nur insoweit zu verstehen vermögen, als sie sich auf einen Begriff bringen können, der sie als Individuen negiert.26 Für ein wirklich gelungenes Verstehen lassen sich keine Kriterien angeben, denn die Annahme, „einer festen Relation zwischen einem Zeichen und ,seiner' Bedeutung" ist, wie Josef Simon hervorhebt, nur eine „axiomatische Bedingung der Sprachwissenschaft"27, so daß das intersubjektive Verstehen auch nur eines einzigen Wortes „hypothetische Voraussetzung"28 bleibt. Die Basis, ein Fremdbewußtsein zu verstehen, bleibt nach wie vor das (bewußte) Subjekt, nicht das beseelte Individuum mit seinen Trieben und Affekten - für dieses gilt, daß „zu jeder Seele eine andre Welt gehört", daß „fiir jede Seele jede andre Seele eine Hinterwelt ist"29. Im Zarathustra heißt es:
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Ibid., p. 192. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 2, (1 [182]), p. 51. Jörn Albrecht formuliert diesen Zusammenhang sehr pointiert: „(...) das sich in der Sprache manifestierende Bewußtsein ist für Nietzsche ein »Abfallprodukt* der Kommunikalionsbedürfiigkeit des schwachen .Herdentiere' - das Bewußtsein ist nicht,vornehm'." (J. Albrecht, „Friedlich Nietzsche und das sprachliche Relativitätsprinzip", in: Nietzsche-Studien, Bd. 8 (1979), pp. 223 - 244, p. 239.) „Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell (...); aber sobald wir sie in's Bewusstsein Obersetzen, scheinen sie es nicht mehr ..." (Nietzsche, FW V, KS A3, Nr. 354, p. 592 sq.) J. Simon „Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche", in: Lutz-Bachmann (ed.) Über Friedrich Nietzsche, Frankfuit/M 1985, pp. 63 - 97, p. 94. Ibid.- Simon verweist in diesem Kontext auf W. v. Humboldt, für den die Sprache im Gebrauch „erst im Individuum ihre letzte Bestimmtheit" hat (cf. W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften in 17 Bde. (= Akademie-Ausgabe), ed. A. Leitzmann, Berlin 1903 sqq., Bd. VI, 1, p. 182) Nietzsche, Za, Der Genesende 2, KSA4, p.272.
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„Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Scheinbrücken zwischen Ewig-Geschiedenem? Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt Zwischen dem Ahnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken. Für mich - wie gäbe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen! Aber das vergessen wir bei allen Tönen; wie leiblich ist es, dass wir vergessen!"30
Für den genesenden Zarathustra haben Worte etwas Tröstliches. Obgleich sie ihm nicht mehr sind als „Töne", lassen sie ihn doch fur eine Weile „vergessen", daß es eine Außenwelt nicht gibt. Sie haben für ihn nur noch die narkotische Wirkung, sich nicht mehr allein zu fühlen. Den Worten kommt so nur noch eine ästhetische Valenz subjektiver Empfindungen zu; sie werden in die Nähe bloßer Klangwahrnehmung gerückt; ihre Referenzialität ist beschädigt und ihre Semantik vermag keine feste Brücke mehr zu einem „Aussen" zu schlagen.31 Nietzsche vertritt hier einen metaphysischen Solipsismus, denn Zarathustra erkennt nur noch die Existenz seiner Innenwelt an: es gibt nur ihn und seine Bewußtseinszustände (bzw. Seelenzustände). Gerade da aber, zwischen Seele und Seele, „zwischen dem Ähnlichsten", wo die „Kluft" am kleinsten scheint, wo wir uns verstanden glauben, „lügt der Schein am schönsten". Die „kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken", weil das Bewußtsein diese (tröstende) Entfernung abschätzt; hier muß also nicht nur der Schein des „Aussen", sondern auch noch der des Ähnlichen und Vertrauten überwunden werden. Die Kluft ist nur zwischen Bewußtsein und Fremdbewußtsein vermeintlich klein, nicht jedoch zwischen individueller Seele und individueller Fremdseele. Kommunikation findet auf der Bewußtseinsebene statt und ist unter die Zweckmäßigkeit der Herden-Optik zu stellen. Nietzsche kommt es aber darauf an, wer mit wem überhaupt kommunizieren sollte, dieses nämlich, wie an anderer Stelle noch genauer zu zeigen sein wird, entscheidet die Seelenzugehörigkeit·, wenn man so will, ist sie das eigentliche kommunikative Apriori - nicht jeder hat jedem etwas zu sagen. Nur wenn man den anderen als Individuum gelten läßt und nicht versucht, ihn auf einen Begriff zu bringen, wird man ihm gerecht. „Das Individuum ist etwas Absolutes"32 und bleibt, wie Nietzsche im Antichrist durch die Charakterisierung der „Figur" Jesus aufzeigt33, von jeglichem erkennenwollenden Zugriff verfehlt. „Sie" [die Figur Jesus], schreibt Simon, „bleibt bzw. wird für ihn [Nietzsche] der Fernste par excellence, der absolut andere, als Individuum ge-
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Ibid. Zarathustra erhorcht sich über den Ton eine ins Leere gehende Referenz (deren Echo das Echo des eigenen BewuDtseins ist), die das bloße Draußen ist, um sich von seinem solipsistischen Wahnsinn zu erholen.· Es ist bezeichnend, daß er die sprachlosen Tiere, die sich seiner verzweifelten Einsamkeit erbarmen, auffordert, zu ihm zu „schwätzen". „Eines Morgens", heißt es im Zarathustra, „(...) „sprang Zarathustra von seinem Lager auf wie ein Toller (...) und gebärdete sich, als ob noch Einer [!] auf dem Lager läge, der nicht davon aufstehen wolle", so daß „seine Thiere erschreckt hinzukamen (...)." (Nietzsche, Za, Der Genesende 2, KSA4, p. 270. Nietzsche, Nachlafi, KSA10, (24 (33) ), p.663.- Das Individuum weiß sich „auch die überlieferten Worte ganz individuell·' zu ,¿deuten" (ibid.). Cf. A, KSA6, Nr. 28 sqq.
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Das intentionale Bewußtsein
genüber allen Möglichkeiten der begrifflichen Aneignung"34 - und „ .innerlich' " ist er in dem Sinne, „daß alle seine Äußerungen ,ganz sein eigen' bleiben."35 Das andere Individuum als solches anzuerkennen, hätte nach Nietzsche die Voraussetzung zu machen, sich selbst nicht mehr als Subjekt und nicht mehr als soziales Wesen zu begreifen, das Zuflucht zum Du nimmt*, um sich über das Bewußtsein in diesem zu spiegeln. Der metaphysische Solipsismus kann nur von innen her überwunden werden, indem erlebt (?)/erkannt (?) wird, daß alles in uns liegt, der „Nächste" 'in' uns ist, wir unser „Nächster" sind.
§13 Das Problem der Referenz
Die Referenzthematik hat in der Bewußtseinsphilosophie Nietzsches einen eminenten Stellenwert, obwohl der Terminus Referenz selbst noch nicht zu seiner Nomenklatur gehörte. Stellt man die Frage nach der Funktion der Referenz in erkenntnistheoretischer Hinsicht nur radikal genug, dann wird man, wie Wolfram Hogrebe gezeigt hat (cf. MuM § 11-15), auf den Bewußtseinsbegriff zurückgeführt. Im Vordergrund steht dann nicht die Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem, wie Linguistik und Semiotik sie untersuchen, sondern die vorgängige Problematik, wie sich die (transzendentale) Möglichkeit dieser Relation (anthropologisch) erklären läßt; in Frage steht die proto-semantische und protoontologische „Deutungsnatur" (ibid. p. 15 passim) als unhintergehbare Voraussetzung aller Sinn- und Seins-Bezüge überhaupt. Innerhalb dieser Thematik ist die Frage nach der Intentionalität des Bewußtseins erneut zu stellen, denn mit der bloßen Feststellung, daß alle psychischen Akte intentional (objektbezogen) sind, ist noch nicht geklärt, was die Bedingungen der Möglichkeit dieser Bezüglichkeit sind. Bewußtseinsinhalte sind für Nietzsche „Enderscheinungen" vor- oder unbewußter organisch verankerter Prozesse, Ergebnisse also, die im Bewußtsein Intentionalität als zusätzliches Merkmal erlangen. Die Funktion des Zeichens als eine Für-etwas-stehen-Funktion ist eine Operation des Bewußtseins, bzw. eine bewußtseinskonstitutive Funktion, der die radikale Referenzialität jedoch noch vorgelagert ist. Es gilt demnach im folgenden Paragraphen für die quasi-formale - jedenfalls vor-inhaltliche und möglicherweise vor-bewußte - Referenzialität mit Nietzsche eine Erklärung zu finden, so daß Intentionalität und Zeichen-Funktionalität als bewußtseinskonstitutive Momente in einem tieferliegenden Verständnis begriffen werden können.
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J. Simon, „Welt auf Zeit. Nietzsches Denken in der Spannung zwischen der Absolutheit des Individuums und dem kategorialen Schema der Metaphysik", in: G. Abel/J. Salaquarda (eds.), Krisis der Metaphysik, Berlin/New York 1989, pp. 109 -133, p. 128. Ibid. Cf. Nietzsche, Za, Von der Nächstenliebe, KSA4, p. 77: „Das Du ist älter als das Ich; das Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das Ich: so drängt sich der Mensch hin zum Nächsten."
Das Problem der Referenz
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genden Paragraphen für die quasi-formale - jedenfalls vor-inhaltliche und möglicherweise vor-bewußte - Referenzialität mit Nietzsche eine Erklärung zu finden, so daß Intentionalität und Zeichen-Funktionalität als bewußtseinskonstitutive Momente in einem tieferliegenden Verständnis begriffen werden können. Das Bewußtsein hat sich zwar als der Mittheilbarkeit' „entwickeltM, das Potential zu dieser Entwicklimg liegt jedoch in der Direktion" und „Obhut" der „leiblichen Funktionen"2, die der Erhaltung und Erweiterung des Gesamtorganismus verpflichtet sind. Die Ausbildung der Soziabilität, mit der das Bewußtsein sich entwickelt hat, dient auch keinem anderen Zweck als dem „Mehrwerden-wollen". Der Geburtsort unserer Referenzialität muß mithin im organischen Geschehen gesucht werden. Der „organische Prozeß" setzt fur Nietzsche, wie gesehen, ein „fortwährendes Interpretiren voraus"3, für das „Einverleibung" oder „Assimilation" Synonyma sind. Die Funktion der assimilierenden Interpretation organischer Prozesse besteht in der (nicht-bewußten) Beurteilung der Zuträglichkeit oder Zweckmäßigkeit für den Gesamtorganismus. „Organische Funktionen" wie „Assimiliren, Ausscheiden, Wachsen usw."4 setzen den „Glauben" an ein Außerhalb und an ein „Beharrendes"5, an eine einverleibbare Einheit voraus. Also auch im organischen Geschehen, in der assimilierenden Interpretation, ist der Irrtum des Außen und eines (da) Beharrenden, das mit schon einverleibten Einheiten identisch gesetzt wird, bereits gegeben. „Einverleibung" setzt, so Nietzsche, „schon die gewohnten Reize der Ernährung aus dem Gleichen und Ähnlichen voraus"6. Mit der Zelle, der kleinsten organischen Einheit, so ist zu erinnern, ist das „IchGeistige" schon gegeben, und damit das Λ/e/n-Gefuhl und das Nicht-Mein-Gefüid oder das Noch-Nicht-Mein-GeRM, das potentiell Begehrenswerte, das zum Intendierten werden kann, wenn das Urteil - anhand eines Vergleichs mit früheren, gewohnten Reizen - Einverleibbarkeit oder Assimilierbarkeit signalisiert.7 Ist dies zugestanden, dann bedeutet Refernzialität die Gespanntheit auf ein noch völlig unqualifiziertes Etwas, von dem nur ausgesagt werden kann, daß es ein nach dem Ich-Schema projiziertes je Einzel-Seiendes sein muß, das noch nicht mein ist. Damit ist in etwa gemeint, was Hogrebe den „pronominale(n) Gegenstand" nennt, den wir mit dem Indefinitpronomen .„irgendetwas"'9 noch un-
1 2 3 4 s 6 7
8
9
Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (11 [145] ),p. 68. Ibid., p. 67. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [148]), p. 139. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [15] \ p. 635. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [268] ), p. 544. Ibid. Werturteile, wie Nietzsche sie auf dieser Ebene schon vermutet, folgen dem Emährungstrieb. Unsere Moralvorstellungen haben sich aus diesem Triebgeschehen aufgebaut und begegnen uns später als Instinkte. Hogrebe nennt es eine „indefinite pronominale Ausrichtung" (W. Hogrebe, MuM, p. 17) und spricht von einer „Gerichtetheit mit Fokus ins Unbestimmte" (MuM, op. eil, p. 39). W. Hogrebe, MuM, op. cit, p. 39.
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qualifiziert bezeichnen. Das „Wissen"10 um diese Gegenständlichkeit ist nach Hogrebe das Basiswissen unserer („mantischen") Deutungsnatur und die Voraussetzung unserer („semantischen") Deutungskultur. Die Bezüglichkeit wird als mantischer (ahnungsvoller) projektiver Vor-Entwurf begriffen, in dem als formale Möglichkeit die „semantische Metamorphose der Natur"11 schon direktiv aktiviert ist. Die Natur, so Hogrebe, antwortet diesem Entwurf nach Maßgabe seiner Vernünftigkeit mit VernunftDie Bezüglichkeit stellt auch fur Nietzsche die Grundlage der zeichenvermittelten semantischen Natur-Aneignung, also die Umwandlungsmöglichkeit einer indiskreten in eine diskrete - und als solche überhaupt erst brauchbare - Ontologie.13 Die Umwandlung findet sich, wie gesagt, bei Nietzsche schon auf der organischen Ebene als Assimilations-Prinzip wenn etwas als Nahrung, als etwas Assimilierbares aufgefaßt wird. Dieses von Nietzsche auch als Interpretation bezeichnete Verfahren hat folgende Einheitssetzungen zur Folge: 1. die Ich-Setzung (= Substanz-ZTäter-Schema), 2. die Nicht-Ich-Setzung (= Außenwelt-Schema) und 3. die Ich-Projektion auf das Nicht-Ich (= Vorstufe zur diskreten Ontologisierung). (1) - (3) sind natürlich Momente ein und desselben Interpretationsaktes. Den Ontologisierungsmomenten entspricht, was mein (1), was nicht-mein (2) und was noch-nicht-mein (3) ist. Die Ich-Projektion auf das Nicht-Ich entspricht in etwa dem, was Hogrebe den „Ursprung der Sinnproduktion" nennt, „das Ultraschallecho unserer Vernunft"1"1, das noch protosemantischen Charakter hat, nicht schon epistemischen, aber doch schon ästhetischen Anspruch aufweist. Es ist hier aber die Differenz festzustellen, daß die Ich-Projektion bei Nietzsche noch eine gänzlich formale Projektion ist, die auf Einheiten geht; es ist eine Projektion, die uns nach Dingen suchen läßt; sie ermöglicht im weitesten Sinne unseren Raubtier¿>//c¿. Die Ding-/Einheiten-Projektion geht dem Begriff einer diskreten und indiskreten Ontologie logisch voraus, insofern sie deren Dichotomie semantisch begründet. Die projektive Einheiten-Suche ist bei Nietzsche als ein Transzendental aufzufassen. Auch wenn wir z.B. in diffuse Sach- und Erlebnislagen hineingestellt sind, erfassen wir diese als - wenn auch opaken - Zusammenhang, der auf organischer Stufe die Vergleichbarkeit mit schon gewohnten Reizen und auf der intellektuellen Bewußtseinsebene die Vergleichbarkeit mit schon bestehenden semantischen Beständen entspräche. Eine Ähnlichkeits-Relation jedenfalls ist nur zwischen irgendwie gearteten Einheiten möglich. Die Identität ist auf beiden Seiten der Relation bei Nietzsche eine Hergestellte, so daß Identifikation und Exemplifikation auch nur Momente einer Operation (Interpretation) sind. Der sich einem Organismus darbietende Reiz ist, wie gesehen, bereits das Ergebnis einer Interpretation, ist gleichsam einem Zellbewußtsein intentional (als etwas) 10
Ibid.- Wissen ist in der hier verwendeten Bedeutung in die Nähe von Gewißheit gerückt, ist unmittelbares konkomitierendes Wissen. Cf. W. Hogrebe, MuM, op. cit., p. 89: „Wissen gehört schon in eine registrierende Deutungsnatur" und „impliziert Wahrheit". " W. Hogrebe, MuM, op. cit., p. 155. 12 Cf. W. Hogrebe, MuM, op. cit, p. 156. 13 Cf. W. Hogrebe, MuM, op. cit., §17-22. 14 W. Hogrebe, MuM, op. cit., p. 156.
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gegeben. Daß der Reiz etwas (Bestimmtes) werden konnte, gründet in der interpretierenden Selektion, die in Korrelation mit den gewohnten Reizen auf der Basis von Gleichheit bzw. Ähnlichkeit hergestellt wurde. Der Reiz wird so in einem vitalistisch-existentiellen Sinne für einen Organismus bedeutsam. Auf der Ebene des intellektuellen Bewußtseins entspricht diesem Verfahren die semantische Weltaneignung, die gleichzeitig deren Ontologisierung ist. Das Indefinitpronomen „irgendetwas", das nur die „vektorielle" Richtung auf ein noch semantisch unqualifiziertes Sein angibt, ist vergleichbar mit Nietzsches IchProjektion, die das Sein für die Ding-/Einheiten-Suche erschließt. Dieser Projektion entspricht auf einer höheren Ebene die Subjekt-Objekt-Diremtion, die den Boden fur die (semantische) Zeichen-Relation bereitet, so daß ein Ausdruck wie ,x ist y' überhaupt erst möglich werden kann. Referenzialität ist hier die formale Bedingung der Kopula, daß etwas mit etwas überhaupt verknüpfbar sein kann. Referenzialität, darauf hat Hogrebe mit Nachdruck hingewiesen, ist die Bedingung der Möglichkeit, daß wir uns auf Variablen verstehen - ohne dieses Verständnis seien auch „Lernprozesse"15 nicht möglich. So sind wir auch nach Nietzsche in unserem Weltbezug nicht festgelegt; sie ist uns der Möglichkeit nach universeller Deutungsraum ungebundener Variabilität. Wäre dies nicht so, wir wären „in komplexen Situationen" „mit unseren subsemantischen Sensorien allein gelassen"16, unfähig auch nur einen Entwurf zu machen, was das noch Unbekannte denn sein könnte.· In einem radikaleren Sinne ist fur Nietzsche der Deutungsraum selbst ein gedeuteter Raum. Nietzsche geht nicht wie Hogrebe von einem Ultraschall-Reflexions-Modell aus; die Ich-Projektion auf das Nicht-Ich trifft nicht auf ein Außen, auf eine terra incognita, die es zu erkunden gilt. Unsere Referenzialität ist nicht das Ultraschallecho auf eine transbewußte Außenwelt, die ein Bewußtsein sich semantisch aneignet; unsere Referenzialität ist nur für den Glauben an eine Außenwelt konstitutiv. Wenn, um im Bild zu bleiben, überhaupt etwas reflektiert wird, ist das vom Charakter unserer eigenen Vorstellungen: wahrnehmen können wir nur, was wir selbst erzeugt haben nach einem Projektionsverfahren, das die irrtümlich geglaubte reflexive Brechung selbst erzeugt, ohne diesen Glauben gäbe es für uns keine Außenwelt. „Die Welt" schreibt Nietzsche, „[ist] ein aesthetisches Phänomen, eine Reihe von Zuständen am erkennenden Subjekt: eine Phantasmagorie nach dem Gesetze der Causalität."17 Die Schallbrechung verdankt sich der Vorstellung, daß das Nicht-Ich Ursache der Zustandsänderung des wahrnehmenden Subjekts ist; wir nehmen den Entwurf selbst für Realität, dabei ist das Nicht-Ich die projizierte Fiktion unseres fiktiven Ichs. Um die bildliche Möglichkeit der Ultraschallecho-Vorstellung auf die Spitze zu treiben: der Schall trifft nirgends auf Seinsformationen, die außerhalb unseres Bewußtseins lägen, alles, was als Echo wahrgenommen wird, ist zudem ein aktiv Hergestelltes - das Echo ist die weltkonstitutive Fiktion - und die Schallquelle ist das fiktive Ich.
15 16 17
W: Hogrebe, MuM, op. cit., p. 17. Ibid., p. 16. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (10 [E 93] ), p. 435.
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In einem späten Nachlaßfragment faßt Nietzsche den referenzkonstitutiven Sachverhalt sehr prägnant zusammen: „Was sind Prädikate ? - Wir haben Veränderungen an uns nicht als solche genommen, sondern als ein ,an sich', das uns fremd ist, das wir nur .wahrnehmen' : und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern als Sein gesetzt, als .Eigenschaft' - und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d.h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes."- Und weiter unten: „(...) von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursachen zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: ,zu jeder Veränderung gehört ein Urheber'. - Aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken." 18
Man kann diesen wichtigen Passus wie folgt interpretieren: Wir kennen eigentlich nur „Prädikate", d.h. Zustandsveränderungen an uns. Referenzialität ist nun nichts anderes als die Suche - Nietzsche nennt es auch einen „Schluß" oder ein „Urteil", das unseren „ältesten Glauben"19 zum Ausdruck bringt - nach einem Subjekt, d.h. fiir ihn auch Suche nach einem supponierenden „Sein" 20 . Referenzialität in einem so radikal verstandenen Sinne meint die Voraussetzung der faktischen Referenz, die immer auch intentional erfüllt ist. Die so gedachte Referenzialität geht der Intentionalität ermöglichend voraus; sie ist Bedingung der Möglichkeit der Intentionalität (als Gerichtetheit der Bewußtseinsakte auf Inhalte). Daß etwas mein Zustand werden kann oder wie Hogrebe sagt, daß wir „Märtyrer"21 oder „Zeuge"22 „unserer selbst"23 werden können, d.h. daß uns etwas als etwas (inhaltlich) bewußt werden kann, das dann als mein Zustand gewußt wird, verdankt sich unserer Referenzialität, die bei Hogrebe mantischer Natur, bei Nietzsche kausal-projektiver Natur ist und sich auf keine wie auch immer geartete reale Außenwelt bezieht. Für Nietzsche entstammen die Inhalte unserem Seelenhaushalt, dessen Bestände selbst wieder auf ein für ein intellektuelles Bewußtsein transsemantische, organisch verankerte Bewertungsvollzüge zurückgehen. Auch Hogrebe sieht die Notwendigkeit einer Erweiterung der Bewußtseinstheorie „nach unten", „um Anschluß an vorbewußte Schichten unserer Deutungsnatur zu halten", und so zur „Einsicht in die Genealogie des Bewußtseins aus elementaren Formen der Meinigkeit" 24 , zu dessen „nicht-sprachlichen Fundamenten" 25 , kommen zu können. Im Unterschied dazu aber drückt Nietzsche den genetischen Geburtsort des Bewußtseins noch in nicht-bewußte Schichten des Organischen herab, um Anschluß an sein Willen-zur-Macht-Geschehen als eines universellen Prinzips, das allem zugrundeliegt und schon auf atomarer und anorganischer Ebene wirksam sein soll, halten zu können. Daß diese Radi-
18 19 20 21 22 23 24 25
Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [84] ), p. 103. Ibid. Ibid.. p. 104. W. Hogrebe, MuM, p. 91. Ibid., p. 90. Ibid., p. 91. Ibid., p. 86. Ibid., p. 86.
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kalität auf Kosten bloß analoger Sprechweise geht, die sich an Vorstellungen eines intellektuellen Bewußtseins orientiert, liegt auf der Hand. Der Enge Zusammenhang zwischen Possessivität und Bewußtwerdung, wie Hogrebe ihn in Metaphysik und Mantik herausgestellt hat, wird auch von Nietzsche angedeutet. Aus einem frühen Fragment vom Winter 1869/70 - Frühjahr 1870, das in die Entstehungszeit der Geburt der Tragödie fällt und als Vorstudie zu diesem Werk diente, machte sich Nietzsche F.G. Welckers26 Ansicht zu eigen, daß im „homerischen Zeitalter*' das „Selbstbewußtsein" noch „eine Binde vor den Augen,,27 gehabt habe. „Eigenthum und Fremdthum" seien „bei den Dichtern solcher Zeiten noch nicht ausgebildet."28 Auch die „Zuhörer waren noch (...) wie Kinder", die „Märchen"29 lauschten. In der ästhetischen Verzauberung ist noch ungeschieden, was in Mein und Nicht-Mein, in Subjekt und Objekt geschieden ist. Der Zuhörer wird in den „Stoff' hineingezogen und der „Sänger" tritt hinter diesen zurück. Beide, Sänger und Zuhörer, sind in einen gleichsam vorbewußten Zustand versunken, in dem, wie Volkmann-Schluck sagt, „der Geist noch nicht als Geist gesetzt und die Natur noch nicht als Natur gesetzt ist."30 Das Märchen ist die Wiederherstellung dieses Urzustandes im Modus der „Erinnerung"31. Erst mit der Geburt der Tragödie, die „ursprünglich nur Chor (...) war"32, tritt das reflexive Moment auf, das den Zuschauer aus der Handlung zurücknimmt und damit zum 7%eater-Zuschauer33, zum Zeugen macht. Mit dem Choros hatte der attische Tragödien- und Komödiendichter ein Mittel der Sympathieleakung an der Hand. Indem er Befürchtungen, Ansichten, Hoffnungen und Anteilnahme zum Ausdruck brachte, war er gleichzeitig „der Schauer der Visionswelt der Scene"34 - oder wie Nietzsche mit A.W. Schlegel sagt, der „,idealische Zuschauer' Mit der Funktion des Chores beginnt die „Selbstspiegelung des dionysischen Menschen"34. Der Chor macht den Zuschauer zum Zeugen, indem er ihm
26
Cf. F.G. Welcker, Hesiodsche Theogonie, Elberfeld 1865.- Das Werk wurde von Nietzsche am 1 O.Nov. 1869 in der UB Basel entliehen.- Cf. KSA14, Kommentar zu Bd. 7, (KSA7, p. 332). 27 Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (2 [24] ), p. 54. » Ibid. 29 Ibid. 30 K.-H. Volkmann-Schluck, „Novalis' magischer Idealismus", in: H. Steffen (ed.), Die deutsche Romantik, Güttingen' 1978, pp. 45 - 53, p. 51.· Novalis' magischer Idealismus ist der Versuch, den Urzustand mit der poetischen Sprache wieder heraufzubeschwören. Also ein reflektiertes Unterfangen, das vom Bewußtsein ausgeht. 31 Ibid. 32 Nietzsche, GT, KSA1, Nr. 7, p. 52.- Cf. G. Colli, Scritti su Nietzsche, Milano 1980; dL: Distanz und Pathos. Einleitungen zu Nietzsches Werken, trad. R.M. Gschwend/R. Klein, Hamburg 1993, p. 26: „Der Zuschauer der griechischen Tragödie kam und .erkannte' ein wenig mehr aber die Natur des Lebens, denn das Innere griff auf ihn Ober, er wurde getroffen von einer Betrachtung - das heißt von einer Erkenntnis - , die es schon vor ihm gab, die von der Orchestra aufstieg und seine eigene Betrachtung hervorrief, mit ihr sich vermischte." 33 Er wird damit zum r/teoretischen, somatischen Menschen, der wie Gott (θεός) das Geschehen überschaut, oline sich selbst invol vielt zu Ahlen, d.h. er kann sich jederzeit (reflexiv) zurücknehmen. 34 Nietzsche, GT, KSA1, Nr. 8, p. 59. 35 Ibid. 36 Ibid., p. 60.
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Das intentionale Bewußtsein
seine Zeugenschaft vormacht, so daß das, was in der Orchestra geschieht, ins Bewußtsein gehoben werden kann. Der /Aeoretische Betrachter, der zum distanzierten Zuschauer geworden ist, kann so erst Eigentümer seiner Gefühle werden, kann Mrï-Leid (cf. Aristoteles, Poetik) haben mit dem 'unverdient' Unglücklichen und Furcht empfinden, wenn der zurecht ins Unglück Gestürzte ihm „ähnlich" ist; er kann sich so in das dramatische Geschehen einbeziehen.
§14 Der metaphorische Ursprung der Sprache Referenzialität hat sich als Ermöglichung von Possessivität herausgestellt; Possessivität wurde als ein wesentliches Merkmal von Bewußtsein hervorgehoben, beide, Referenzialität und Possessivität, sind Bedingungen der Möglichkeit von Intentionen. Versteht man unter Intentionalität ganz allgemein die Gerichtetheit auf einen Bewußtseinsinhalt, so kann dieser ein Gefühl, eine Erinnerung, eine Vorstellung usw. sein, jedenfalls hat jede Intention einen bestimmten Inhalt.- Die anschließende Untersuchung hat nun aufzuklären, wie diese Inhalte in ein Bewußtsein kommen können, wenn diese, wie gezeigt, nicht bewußt, d.h. nicht kausal verursacht werden sollen. Bewußtseinsinhalte sind nach Nietzsche nie unmittelbar gegeben 1 , sondern stets zeichenvermittelt, es sind Übertragungen biologischer, physiologische und „psychologischer Zustände"2 in Zeichen, die Endprodukte metaphorischer Projektionen sind. Durch die metaphorische Projektion wird das 'Material' aus anderen Sphären (biologische, physiologische) in eine neue und gänzlich andere übertragen. Dabei werden die Inhalte aus dem Spenderbereich im Empfangerbereich umgeformt. Zwischen den einzelnen Sphären besteht kein Kausalzusammenhang und keine Kompatibilität in einer logischen Begriffsauffassung; diese wird durch die Metaphorisierung erst poietisch hergestellt. Über die Inhalte kann eigentlich nur ausgesagt werden, daß sie absolut individuell sind; wenn wir sie dagegen als spezifische Inhalte an uns prädizieren, ist das schon eine verallgemeinernde Interpretation, aber ohne diese gäbe es keine Inhalte: das absolut individuelle kann uns niemals Inhalt werden. Erst wenn wir für einen Zustand an uns eine Sprache gefunden haben, wenn wir ihn bezeichnen können, d.h. auch, wenn wir verallgemeinern können, kann etwas Inhalt, und damit bewußt werden. Faßt man den Begriff der Metaphorisierung weit genug, so kann man ihn schon auf der zellularen Ebene in Anschlag bringen: die Zelle wählt aus einem reichen natürlichen Bestand ihre Nahrung aus, d.h. sie verallgemeinert verschiedene Substanzen als einverleibbar, sie bringt - logisch gesprochen - Individuel1
Der Formel (3) Kap. I, §4, die besagt daß alles, was wir wissen, denken, fühlen, wollen usw. uns auch bewußt ist, daß wir wissen, denken, fühlen, wollen usw., kann Nietzsche nicht zustimmen, es gibt in einem Bewußtsein nichts Unmittelbares, sonst wäre es nicht bewußt.
2
Cf. Nietzsche, Nachlafi, KSA13, (14 [119] ), p. 297.
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les unter ein 'Prädikat'. Auch Organe, Organismen, Bewußtseine und gesellschaftliche Systeme lassen sich mit dem Nietzschischen Metaphernbegriff deskriptiv erfassen. Die Frage, weshalb überhaupt eine Metaphorisierung erforderlich ist, läßt sich im Sinne Nietzsches mit einer Art Überschußtheorie erklären: jede Art von funktionaler Organisation ^Arbeitsteilung) 'erwirtschaftet' - ähnlich einem gut funktionierenden Staatswesen - einen Überschuß, der schöpferische Potenzen freisetzt, die diesen Überschuß als energetischen Impetus zur Ausbildung neuer Machterweiterungsstrategien nutzen. Organe sowie auch das sog. Bewußtseinsorgan sind Ergebnisse schon bewährter Strategien; sie sind deren 'institutionalisierte' Enderscheinungen. Das energetische Potential, das zur Ausbildung des Intellektualbewußtseins geführt hat, nennt Nietzsche den „aesthetische(n) Zustand"; „er ist die Quelle der Sprachen."3 Der „ästhetische Zustand", wie Nietzsche ihn versteht, ist nicht wie bei Kant eine glückliche Übereinstimmung aller Erkenntniskräfte, ein vorbegriffliches Begreifen ohne Begriff, keine Zuschauerästhetik4, die epistemisch motiviert ist, sondern avisiert den Zustand, der den Künstler veranlaßt, sich aus einem „Überreichthum"3 heraus mitzuteilen·, es ist ein Reichtum, der sich im Ausdruck (im Mitteilen) nicht verschwendet, weil er auf alle vitalen Funktionen steigernd zurückwirkt. Nietzsche vermutet den Ursprung dieses Zustands in der „Sinnlichkeit", die „beim Eintritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben ist (...), sondern sich nur transfiguriert"6 hat. Überschaut man das Gesamtwerk Nietzsches, dann dürfte klar sein, daß auch die „Sinnlichkeit" wieder eine Transfiguration, ein Ausdruck subsinnlicher Vorgänge sein muß, daß also der Ursprung der Sprache noch tiefer angelegt werden kann, als Nietzsche es vorschlägt. Der zentrale Gedanke der Überschußtheorie besteht nun darin, daß das „vollere Phänomen immer der Anfang ist"7; daß zwischen dem „ästhetischen Zustand" und dem Ausdruck dieses Zustands in ,¿4'Mheilungmitteln"% ein inhaltliches Gefälle besteht: das voibewußte, subintellektuelle (ästhetische) Niveau ist gegenüber dem durch metaphorische Transfiguration entstandenen Bewußtseinsniveau das reichere Phänomen. Die „Quelle der Sprachen" ist auch gegenüber den jeweiligen Einzelsprachen reduziert: „unsere Culturmensch-Vermögen sind subtrahirte aus volleren Vermögen."9 Dies ist gesagt gegen die Hypostasierung des intellektuellen Bewußtseins, nicht jedoch gegen die vitalisierende und machtsteigernde Funktion, die auch in der (inhaltlichen) Verarmung liegen kann. 3 4 5 6
7 8 9
Nietzsche, Nachlaß, KS Al 3, (14 [119] ). p. 296. Cf. dazu GM III, KS AS, Nr. 6, p. 346. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KS A13, (14 [119] ), p. 296. Nietzsche GM III, KSA5, Nr. 9, p. 356.- Nietzsche wendet sich gegen Schopenhauer, der die Funktion der Kunst als lebensvemeinendes Mittel mißverstanden hat. Cf. auch Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [119] ), p. 298.- Die Transfiguration könnte man mit Hogrebe auch als den „Umschlag des sinnlichen Reizes in einen reizenden Sinn" (Hogrebe, MuM, op. cit., p. 156) bezeichnen. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [119] ), p. 297. Ibid., p. 296. Ibid.. p. 297.
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Das intentionale Bewußtsein
Die Reduktion ist ja gerade das Machtsteigerungsmittel par excellence, denn sie schafft wieder Entlastung. Die Reduktion ist die List des jeweils reicheren Phänomens, das sich, wie im Falle des Bewußtseins, ein Organ schafft, das aufgrund von Reduktion und Simplifizierung ihm seine Macht steigern hilft. Es setzt fort, was wir mit Nietzsche am Organischen beobachtet haben: Effizienzsteigerung durch Arbeitsteilung, Hierachisierung und Entindividualisierung. Arbeitsteilung setzt den Zusammenschluß von Individuen voraus und damit natürlich die Möglichkeit der Verständigung der Individuen untereinander, die sich, um wirksam fur das Ganze werden zu können, mitteilen müssen. Mitteilen kann man nur, was man besitzt, d.h. dessen man sich bewußt ist. Der Mitteilung geht, wenn man so will, eine Ui-Teilung voraus: das Urteil, daß die psychischen Zustände (= die Prädikate) meine Zustände sind: daß sie an mir sind, daß ich sie als ihr Subjekt in Besitz genommen habe. Es gibt zunächst nur ein völlig unqualifiziertes Geschehen in uns, fur das wir überhaupt keine Begriffe haben. Mit der Urteilung wird das Geschehen für die Metaphorisierung tauglich gemacht: etwas Unbekanntes und Individuelles wird als etwas Bekanntes identifiziert und damit inhaltlich bestimmt und fixiert - und das bedeutet auch: es wird mit einem Zeichen versehen. Das innere Geschehen hat so eine Sprache gefunden, die es für uns überhaupt erst bedeutsam macht. Der eigentliche Anstoß, eine Sprache zu finden, um kommunizieren zu können, geht von der „Seele" aus, sie muß „weiter als das Individuum"10 werden, und die Folge dieser Erweiterung ist die Ausbildung von Sprachen. Die Sprachausbildung erschließt den gattungsmäßig erworbenen Überschuß durch Festsetzung (Eingrenzung) eines nun gemeinsamen Besitzes, etwa den so gemeinsam auszubeutenden Naturraum. Mit der Ausbildung der Sprache (langue) wird eine neue Welt erschlossen oder wie Nietzsche auch sagt, „eine eigene Welt neben die andere gestellt"" : der Naturraum der (raubtierhaften) Individuen wird zum Kulturraum der Schutz bietenden Herde. Nietzsche betont, daß „nicht" „die Noth des Individuums" „die Sprache erzeuge", „sondern höchstens die Noth einer ganzen Heerde, eines Stammes (...)."" Der Impetus, sich zusammenzuschließen, geht von der individuellen Seele und der Impetus, die dafür erforderlichen „Mittheilungsmittel" bereitzustellen, geht vom „ästhetischen Zustand" aus. „Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat; die ältesten Sätze", schreibt Nietzsche, „scheinen mir Fragesätze und im Accent vermuthe ich den Nachklang jenes ältesten Fragens der Seele an sich selbst, aber in einem anderen 10 11 12
Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (37 [6] ), p. 831. Nietzsche, MA I,1, KSA2, Nr. 11, p. 30. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (37 [6] ), p. 831.- Dies ist in aller Schärfe gegen die Gesellschaftsvertragstheorien (Hobbes, Locke, Pufendorf, Rousseau) gerichtet, die davon ausgehen, daß es im vernünftigen Interesse eines jeden einzelnen liegen müsse, seine individuellen Rechte in einem fiktiven Willensakt auf eine staatliche Gewalt zu übertragen. Es wird von den Vertretern dieser Theorie eine Vemunftsphäre vorausgesetzt, die sich nach Nietzsche doch erst im zwischenmenschlichen Verkehr aufbauen kann. Femer ist es nicht die Not, sondern der Uberschuß, der einen Zusammenschluß herbeiführt.- Allerdings wendet sich Nietzsche in dieser Ansicht gegen seine frühere Überzeugung, daß der „Mensch aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren" wolle. (Nietzsche, WL, KSA1, p. 877)
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Gehäuse. Erkennst du dich wieder?"13 Das ist nun aber nichts anderes als die Frage: „Wer bin ich?'- Ich muß mich erst selbst ./feststellen, muß wissen, wer ich bin, um wissen zu können, welche Seele mir verwandt ist. (Im Willen-zurMacht-Jargon: Ich muß meine Kraft kennen, um sinnvolle MachterweiterungsAllianzen eingehen zu können.) Im Akzent schlagen noch die individuellen Merkmale des Sprechers durch: Musikalität, Dynamik und Dehnung sind subsemantischen Ursprungs und verweisen, wenn man so will, auf die Seele zurück. Der entscheidende Gedanke des zitierten Passus muß jedoch darin gesehen werden, daß der kommunikative Bezug zur fremden Seele die eigene Seele erhellt und erweitert. Könnte man, so Nietzsche, die „Menschen nöthigen (...) zu schweigen: so könnte man sie zu Pferden (...) und Kühen zurückbilden"; ihre „Seele(n) würden ärmer und kleiner."14 Die über sich hinauswachsende Seele „muss (...) sich wieder finden wollen, sie muss erst sprechen wollen, bevor sie spricht; und dieser Wille ist nichts Individuelles."15- Wie ist das zu verstehen, daß der Wille, sprechen zu wollen, nichts Individuelles ist? Es ist daran zu erinnern, daß das „Bewußtsein gewöhnlich erst erscheint, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will - als Bewußtsein zunächst dieses höheren Ganzen, des Außer-sich."16 Es fällt nicht in die willentlich-bewußte Zuständigkeit eines Individuums, daß es ein Sprachvermögen (language) ausbildet, denn Sprachlichkeit steht in vorgängiger Funktionalität zu dem, was mit ihr erreicht werden soll: den höheren Organismus, für den Bewußtsein und die gesellschaftliche Existenzweise nur ein Mittel ist. Es ist für ein intellektuelles Bewußtsein ein blinder Entwurf eines expandierenden, Neues versuchen wollenden Organismus, den wir nur von seiner jeweils faktischen Enderscheinung („Völker Staaten Gesellschaften"17) her als objektivierten 'Geist' betrachten können. „Unbewußt", heißt es im selben Fragment, „ist die große Hauptthätigkeit"18 - und fiir diese ist das zeichenvermittelte Bewußtsein nur „Funktion"19. Nachdem das Warum der Sprachentstehung geklärt ist und deren Quelle gefunden wurde, muß nun auf das Wie dieser Entstehung näher eingegangen werden. Dabei nimmt der Metaphernbegriff eine entscheidende Rolle ein - Der „ästhetische Zustand" markiert den Übergangspunkt, an dem sich das neue 'Organ' ausbildet. Die Ausbildung des Bewußtseins als ein solches 'Organ' ist, wie gesehen, gleichbedeutend mit der Konstitution einer Zeichensprache. Im Metaphorisierungsprozeß wird der Kraftüberschuß des ästhetischen Zustands, den Nietzsche auch als „einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln" und „einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen"20 charakterisiert, auf 13 14 15 16 17 18 19 20
Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (37 [6] ), p. 831. Ibid. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [316] ), p. 563. Ibid. Ibid. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KS A13, ( 14 1119] ), p. 296.
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eine neue Sphäre übertragen. Diese Übertragung ist im eigentlichen Sinne die Sprachwerdung, der „Tonsprachen" ebenso wie der „Gebärden- und Blicksprachen."21 Durch die Metaphorisierung wird ein innerer Vorgang oder Reizgeschehen in Zeichen übersetzt, die in einem gewissen Sinne für das Einzelindividuum (noch nicht für andere Sprachteilnehmer) schon eine Bedeutung haben. Dadurch, so haben wir festgestellt, wird ein an sich völlig unbegreifliches Geschehen reduziert, statisiert und bedeutsam. Es ist wesentlich festzuhalten, daß jede metaphorische Übertragung prinzipiell ein rein schöpferischer, individueller Akt ist, weil, wie gesagt, zwischen der Ursprungs- und Zielsphäre keine logisch-kausale Beziehung besteht: die Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild und die „Nachformung" eines Bildes in einen Laut vollzieht sich jeweils durch ein „vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue"22 Sphäre. Es bedarf zu dieser schöpferischen „Uebertragung" „einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft"23, die einem Nervenreiz sein Bild verschafft und dem Bild seinen Laut24; und für diese Operation läßt sich keine fixe Regel angeben. Die Metapher ist die inhaltliche Übertragung/Übersetzung psycho-mentaler Vorgänge in neue sinnlich erfahrbare Zeichen, und sie übersetzt dadurch subjektiv-individuelle Befindlichkeiten in die für die Intersubjektivität tauglichen Zeichen. Dabei fällt die Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild noch in den individuellen Mentalbereich des Subjekts, erst in einem weiteren Metaphorisierungsschritt wird das Bild in einen Laut (oder in eine Zeichenkette, in ein geschriebenes Wort) übersetzt, der dann sinnlich wahrnehmbar und für die Intersubjektivität oder Kommunikation zugänglich werden kann. Mit dem ersten Metaphorisierungsschritt ist bereits ein Bewußtseinszurfanrf bezeichnet; man kann hier fragen: „Wovon hast du Bewußtsein?' - und die befragte Person kann den Inhalt dessen angeben, was sie sich vorstellt. Das mentale Bild hat einen intentionalen Gehalt, aber noch keine intersubjektiv geregelte Referenz25, die sich erst einstellen kann, wenn die Metaphorisierung eine physische Repräsentationsstufe erreicht hat. Dann erst kann die Metapher usuell und zum Zeichen für die Sprachgemeinschaft werden, mit dem die Teilnehmer dann glauben, auf eine gemeinsame Welt und auf objektive Sachverhalte oder mentale Zustände zu referieren. Das Ergebnis des Metaphorisierungsprozesses ist die Metapher als für andere Subjekte wahrnehmbares Zeichen. Für das Fremdsubjekt ist das Zeichen Anzeichen für Gefühle, Gedanken oder generell für Fremdseelisches. Im Grunde ge21
Ibid., p. 297. Nietzsche, WL, KSA1, p. 879. 23 Ibid., p. 884. 24 Nietzsche zeigt sich in WL sehr bemüht, den Kantischen Begriff der Einbildungskraft zu umgehen, die j a - genau umgekehrt - einem Begriff sein Bild verschafft, also für eine anschauliche Inhaltlichkeit sorgt, wohingegen bei Nietzsche die poietisch Kraft erforderlich ist, einem völlig Unerkennbaren sein Zeichen zu verschaffen, d.h. Oberhaupt erst erkennbar zu machen. 25 Diese stellt sich erst im intersubjektiven Verkehr her, wenn die Metapher usuell geworden ist, d.h. auch von anderen Sprachteilnehmem akzeptiert worden ist. Der hier verwendete Referenzbegriff darf nicht mit dem grundlegenderen Begriff der Referenzialität verwechselt werden. 22
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nommen sind es aber für Nietzsche keine „Gedanken", die man „mittheilt", sondern nur „Bewegungen", „mimische Zeichen, welche (...) auf Gedanken hin zurück gelesen werden"26 ; wir bleiben in dieser Rück-Interpretation individuell und in unseren jeweiligen Bewußtseinsmöglichkeiten hermetisch verpuppt. Die Mitteilungen zwischen Kommunikationsteilnehmern bleibt also für jeden dieser Teilnehmer nur symptomatisch; sprachliche oder nichtsprachliche Äußerungen eines Subjekts sind auch nur dank einer Rückübersetzung oder Remetaphorisierung Indizien für Fremdseelisches. Auch für jeden Sprachteilnehmer ist jeder andere eine „Hinterwelt". Ursprünglich sind alle Metaphern „Anschauungsmetaphern"27, deren Inhalte individueller Natur sind. „Metaphern" können nach Simon „als Zeichen erfahren werden, die noch keinen allgemeinen Rahmen haben, in dem sie referentiell bedeutend sein könnten, die aber dennoch etwas besagen, so daß sich auch dadurch - wenn auch noch ohne Begriff - etwas als etwas ins Bewußtsein hebt."28 Metaphern sind nach dieser Interpretation noch individuelle Zeichen, aber schon Zeichen för etwas, und das heißt, daß dieses Etwas bewußt ist. Mit anderen Worten: die Metapher ist das, worauf ein Subjekt sich als seinen Bewußtseinsinhalt beziehen (intentio obliqua) kann. Mit der „Metaphernbildung", schreibt Nietzsche, „beginnt in uns jede Empfindung"29, d.h. ein festgestellter Zustand (= ein bewußter Zustand) an uns, der durch die Metapher, die ja nur für einen originären Zustand oder Vorgang steht, spezifiziert ist. Sie steht so för etwas, was sich ohne sie gar nicht empfinden ließe! Metaphern sind, wie Abel schreibt, „primär gegenüber der allgemeinen Begriffsbildung"30, d.h. das inhaltlich-anschauliche Moment, die Intensionalität ist die Grundlage ihrer weiteren begrifflichen Extensionalisierung. Auch bei der Begriffsgenese besteht ein Gefälle vom „reicheren" (inhaltlichen) zum „ärmeren" (extensionalen) Phänomen, bis hin zu den Klassenbegriffen, deren inhaltliche Elemente nur noch ein übereinstimmendes Merkmal aufweisen müssen, um unter einen solchen Begriff fallen zu können. Am Anfang eines solchen Abstraktionsprozesses steht für Nietzsche immer eine individuelle Metapher, die der „Sprachbildner", der .fruchtbarste Mensch' 11 , in einem künstlerischen Akt ins Bewußtsein ruft. Eine solche zunächst individuelle Schöpfung wird zu einem Angebot an die Mitmenschen, Gruppen oder Sprachteilnehmer, mit ihr auch eine Bedeutung (und damit natürlich auch gleichzeitig einen Wert) zu verbinden: die Metapher ist die Frage an die „fremde Seele": „.Erkennst du dich wieder?'" 32 26 27 28 29 30 31
32
Nietzsche, Nachlaß, KS Al 3, (14 [119] ), p. 297. Nietzsche, WL, K.SA1, p. 882. J. Simon, Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche, op. cit., p. 32. Nietzsche, WL, KSA1, p. 886. G. Abel, „Logik und Ästhetik", in: Nietzsche-Studien, Bd. 16 (1987), pp. 112 -148, p. 124. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (36 (6] ), p. 832.- Cf. Nachlaß, KSA9, (8 [70] ), p. 398: „Die Sprachen", heißt es, „als das Werk Einzelner oder von Priesterschaften - wie Religionen."- Die Menschen, die Metaphern bilden, gehören einer Elite an; sie ragen durch diese Fähigkeit aus der Herde heraus. Die Sprache, wie Nietzsche sie versteht, trägt in der Tat religiose ZQge, so muß man zum Beispiel an sie glauben, man muß glauben, mit ihr die Dinge, die Welt und sich selbst wahrhaftig zu verstehen. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (36 [6] ), p. 831.
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oder: „Sagt dir das auch etwasT Erst mit der allgemeinen oder doch hinreichenden Akzeptanz wird sie kanonisch, und damit zum allgemeinen Begriff. Was demnach unsere Bewußtseinsinhalte ausmacht, mit denen wir uns und andere verstehen, sind usuell gewordene Metaphern, also Begriffe. Durch sie erst werden unsere „Handlungen, Gedanken; Gefühle, Bewegungen"33 usw. für die Gemeinschaft begreißar. Die Voraussetzung eines politischen Zusammenschlusses liegt ursprünglich nicht in einem Gesellschaftsvertrag oder in der Unterordnung unter Rechtsgesetze, sondern in der Möglichkeit, den Menschen gläsern zu machen. Das „Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch", das über das Bewußtsein geknüpft ist, besteht also nur in der Vorstellung des einzelnen, insofern er sich schon als ein allgemeines Bewußtsein, als Herdenbewußtsein begreift - in Wirklichkeit aber sind die Brücken zum Mitmenschen nur „Scheinbrücken" {Zarathustra), denn ihre Konstruktion beruht auf dem Irrtum, daß mit Hilfe der Sprache das Subjekt im Fremdsubjekt das Echo seiner selbst erfahre, wo er doch nur das Echo der Herde erfahrt.
33
Nietzsche, FW V, KS A3, Nr. 354, p. 591.
V Das Bewußtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
§15 Das Denken (Noesis) Wurden in den vorhergehenden Kapiteln III und IV primär die bewußtseinskonstitutiven Voraussetzungen von der Subjektkonstitution (Kap. III) bis hin zur zeichengebundenen Intentionalität des Bewußtseins (Kap. IV) analysiert, so geht es im folgenden Kapitel um die Operation mit Zeichen in einem Bewußtsein, also um die epistemischen Leistungen des Subjekts, die vom Denken als Aktgeschehen über das intersubjektiv überprüfbare Erkennen bis hin zum formal-operativen Denken der Logik reicht. In §18 soll dann der Frage nachgegangen werden, was es für Nietzsche denn bedeuten kann, in einem Bewußtsein auf die Inhalte dieses Bewußtseins reflektieren zu können. Gegenstand der Untersuchung ist nun das eigentliche intellektuelle Bewußtsein, das als transzendentales Vermögen der kognitiven Leistungen des Erkenntnissubjekts betrachtet wird. Mit Nietzsche wird das rationale Denken mit einer vor ihm nie dagewesenen Radikalität erneut auf den Prüfstand gehoben und auf seine notwendigen, d.h. auf seine existenzsichernden Bedingungen hin befragt. Wie alle intellektuellen Funktionen, so hat auch das Denken fur Nietzsche eine „Entstehungsgeschichte"1, die bis in organische Prozesse zurückverfolgbar ist. In den „niederen Organismen", die ursprünglich „immer das Gleiche" sahen, hat sich durch die Bemerkbarkeit .verschiedener' „Erregungen von Lust und Unlust" „allmählich" die Unterscheidbarkeit „verschiedene(r) Substanzen"2 herausgebildet. Denken auf dieser primitiven Stufe ist die Unterscheidung von Substanzen aufgrund von jeweils „Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem (...) Organismus"3, die für diesen die Assimilierbarkeit anzeigt. (Mit Sinn für Humor könnte man dieses primitive Denken als die biologisch angelegte Voraussetzung der Klassenlogik betrachten; jedenfalls zeigt dieses Denken schon eine beeindruckende Flucht vor Intensionen.) Mit der Unterscheidung des genuin Ununterscheidbaren (alles ist nach Nietzsche absolut individuell) wird die zur Unterscheidung primär anzusetzende Funktion des .Gleichmachens'4 angespro1
Nietzsche, MA I. KSA2, Nr. 18, p. 38.
2
Ibid., p. 39.
3
Ibid.- Cf. JOB, Zweites Hauptstück, KSA5, Nr. 36, p. 54 sq. Nietzsche, Nachlaß, KSA11,(41 [11] ), p. 687.
4
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Das BewuBtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
chen, die Nietzsche schon auf ,vor-organischer' Stufe in Aktion sieht. „ .Denken' im primitiven Zustande (vor-organisch) ist Gestalten-Durchsetzen, wie beim Ciystalle."5 Dem Wachsen der Kristalle nach Symmetrieeigenschaften und des Organischen durch Assimilation entspricht beim intellektuellen „Denken" „das Einordnen des neuen Materials in die alten Schemata (...), das Gleichmachen des Neuen."6 Der durchgehende Charakterzug des Denkens auf der anorganischen, der organischen und der intellektuellen Ebene besteht in der Funktion des Unterscheidens auf der Grundlage eines aktiven Gleichmachens1, der Nivellierung von Differenzen. Das bewußte intellektuelle Denken hat sich genealogisch durch „Arbeitstheilung"8 herausgebildet. So „sind die Sinne vom Denken und Urtheilen beinahe gelöst: während früher dies in ihnen lag, ungeschieden. Noch früher müssen die Begierden und die Sinne Eins gewesen sein."9 Aber auch das intellektuelle Denken hält Anschluß an das Triebgeschehen, von dem aus, was Gedanke werden kann, motiviert wird.10 Das bewußte Denken ist Symptom eines komplexeren Geschehens, das gedanklich unzugänglich bleibt; so ist z.B. „der eigentliche Gehirnprozeß eines Gedankens (...) etwas wesentlich Verschiedenes von dem, was uns als Gedanke bemerkbar wird: unsere Vorstellungen, von denen wir wissen, sind der kleinste und schlechteste Theil derer, die wir haben."" - Es läßt sich für Nietzsche auch kein (rationales) Kriterium dafür angeben, warum ein bestimmter Gedanke kommt, und warum „gerade er kommt und kein anderer"12, warum „er gerade mit dieser größeren und minderen Helligkeit [Hervorhebung - E.S.] kommt, mitunter sicher und befehlerisch, mitunter schwach und einer Stütze bedürftig"13. Hier ist erneut an Nietzsches DescartesKritik14 zu erinnern, deren Quintessenz ja darin besteht, daß das Subjekt nicht (freie) Ursache seines bewußten Denkens ist. Wir sind nach Nietzsche „mehr Zuschauer (...) als Urheber dieses Vorgangs."15 Es mag vielleicht seltsam anmuten, aber das Denken als Aktgeschehen (noesis) wird uns als solches nicht klar bewußt; „wir sind im Grunde (...) ge5
Ibid., p. 687 sq. Ibid., p. 688. 7 Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (5 [65] ), p. 209. 8 Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (1 [91] ), p. 33. »Ibid. 10 Cf. Nietzsche, JGB, Zweites Hauptstück, KSA5, Nr. 36, p. 54: „(...) Denken ist nur ein Verhalten" der „Triebe zu einander (...)." Und in FW V, KS A3, Nr. 333, p. 558 sq. beschreibt Nietzsche dieses „Verhalten" als ein Kampf der Triebe untereinander, der so lange geht, bis eine „Beruhigung, ein Rechtgeben" eintritt, eine „Art (...) Vertrag" geschlossen wird, vermöge dessen „alle (...) Triebe sich im Dasein behaupten" können. Nach dieser Vorstellung zu urteilen, kommen dem Denken dann nur die „Versöhnungsscenen und Schluss-Abrechnungen dieses (...) Processes zum Bewusstsein" - „der allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens verläuft uns unbewusst, ungefühlt (...)." 6
" Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (5 [44] ), p. 191. 12 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (38 [1] ), p. 596. 13 Ibid. 14 Vid. supra Kap. II, §5. 15 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (38 [1] ), p. 595.
Das Denken (Noesis)
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schult (...), beim Denken nicht an's Denken zu denken."16 Bewußt im eigentlichen Sinne wird uns nur, was wir zeichenvermittelt fixieren können - und das kann nur der Gedanke oder das perfektive Ergebnis eines Denkaktes sein. Daher „bleibt" uns „der Ursprung des Gedankens" auch „verborgen"17, weil der Vorgang, der zu einem Gedanken gefuhrt hat, selbst nicht bewußt vollzogen wurde. „Er kommt, unabhängig von meinem Willen, gewöhnlich umringt und verdunkelt durch ein Gedräng von Gefühlen, Begehrungen, Abneigungen, auch von anderen Gedanken (...). Man zieht ihn aus diesem Gedränge, reinigt ihn, stellt ihn auf seine Füße, man sieht, wie er dasteht (...)" und weiß nicht, „wer das Alles thut (...)."" Erst wenn der noch vage, trieb- und affektdurchsetzte Gedanke sich aus dem nicht-bewußten kampfartigen 'Denkgeschehen' herauszukristallisieren beginnt, werden wir zum Zuschauer oder Zeugen unserer Gedanken. Interessanterweise benutzt Nietzsche in diesem Zusammenhang eine forensische Metapher: „Man sitzt dann Ober ihn [dem Gedanken] zu Gericht, man fragt [d.h. man denkt]: .was bedeutet er? was darf er bedeuten? hat er Recht oder Unrecht?' - man ruft andere Gedanken zu Hälfe, man vergleicht ihn. Denken erweist sich dergestalt beinahe als eine Ait Úbung und Akt der Gerechtigkeit, bei dem es einen Richter, eine Gegen-Partei, auch sogar ein Zeugenverhör giebt, dem ich [Hervoihebung - E.S.] ein wenig zuhören darf - freilich nur ein wenig: das Meiste, so scheint es, entgeht mir." 19
Was Nietzsche hier anschaulich macht, kann man als theatrum internum des Bewußtseins bezeichnen: das Ich wird Zeuge einer Gerichtsverhandlung, die man als Gedankenwerdung anzusehen hat, der es kaum folgen kann - anschaulicher läßt sich die Entmündigung des Erkenntnissubjekts schwerlich darstellen. Das Wenige aber, dem es zu folgen vermag, reicht, um sich als Urheber und Richter der Verhandlung zu fühlen, um sich als Erkenntnissubjekt mißzuverstehen. Klar bewußt wird nur das Ergebnis der Verhandlung, der Richterspruch: der gereinigte, hingestellte Gedanke. Nietzsche verteilt in der oben dargestellten Szene die Geburtshilfe des Gedankens - um der Vorstellung des einen Subjekts auszuweichen20 - auf mehrere Instanzen, d.h. auf mehrere Subjekte. Also auch bei der Gedankenwerdung geht es im Prinzip moralisch (wertend) und hierarchisch zu (so jedenfalls kann man die Gerichtsstruktur lesen). Die Funktion des Denkens wird von Nietzsche näherhin als ein „Herausheben"11, als „ein Herauswählen von Vorstellungen"22 bestimmt. Der Gedanke, als Denkergebnis, ist so „Symptom eines viel umfänglicheren Zustandes"23. Um etwas herausheben zu können, muß notwendigerweise eine Einheit 16 17 18 19 20
21 22 23
Ibid., p. 195 sq. Ibid. Ibid., p. 595. Ibid. Für Nietzsche ist „bei allem Denken eine Vielheit von Personen [Hervorhebungen - E.S.] beteiligt" (ibid.). Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [78] ), p. 445. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (38 [1] ), p. 596.- „Es ist viel mehr von Bilderreihen im Gehirn, als zum Denken verbraucht wird: der Intellekt wühlt schnell ähnliche Bilder: das Gewählte erzeugt wieder eine ganze Falle von Bildern (...)." (Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [78] ), p. 445) - Nietzsche gebraucht den Begriff Gedanke eher im Sinne von Einfall; das passivische Moment wird stark betont.
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Das Bewußtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
fingiert werden, die es faktisch gar nicht gibt; sie muß erst erdichtet werden: „bevor (...) .gedacht' wurde, muß schon gedichtet worden sein, der formende [Hervorhebung - E.S.] Sinn ist ursprünglicher als der .denkende'"24. Bevor die analytische Funktion des Denkens, die Vergleichung mit anderen Gedanken, überhaupt erst ansetzen kann, muß die schöpferische Einheiten-Setzung schon vollzogen sein, so daß nun, was ursprünglich „Eins"" war, in „zählbare Vielheiten" „auseinandergelegt"26 werden kann. Das analytische Auseinanderlegen in Vielheiten ist die logische Voraussetzung der Unterscheidungs- und Vergleichsoperationen des Denkens.27 Nietzsche unterscheidet nun zwischen der „Kraft, die die Bilderfülle erzeugt" und der „Kraft, welche das Ähnliche auswählt und betont."28 Auf die Erzeugung der „Bilderfülle" hat das bewußte Denken keinen direkten Einfluß; es ist hier „mehr Zuschauer (...) als Urheber"29, dagegen scheint sich die Auswahl und Betonung einzelner Bilder (oder Vorstellungen) zumindest teilweise vor dem Bewußtseinsforum abzuspielen, legt man die Gerichtsmetapher zugrunde. Das im Vollsinne des Wortes bewußte Denken setzt da an, wo die fingierten Einheiten durch Zuordnung von Zeichen bestimmt werden. Die Bestimmung erfolgt vom Bekannteren auf das Unbekannte (= das prinzipiell Individuelle und Prozeßhafte), wobei,gleich" gesetzt wird, „was man in einem Punkt als ähnlich erkannt hat."30 Die Basis des vernünftigen und des logischen Denkens ist diese fiktive Identitätsstiftung zwischen Relata, die nur im Verhältnis einer Ähnlichkeitsbeziehung stehen. Das Identifizierte ist das, was eine Sprache (ein Zeichen oder auch Symbol) gefunden hat Die Sprachfindung kann auch als das Ergebnis der Reinigung31 eines Gedankens aufgefaßt werden oder als Semantisierung. Es wäre sicherlich verfehlt, sich den Semantisierungsvorgang als ein Etikettierungsverfahren vorzustellen, so als würden aufkommende Gedankenembryonen mit einem Zeichen versehen, die eine festumrissene konstante Bedeutung hätten. Die scheinbar willkürlich aufkommenden Gedanken werden sicherlich nicht durch die Semantik eines Zeichens restringiert, eher dürfte Nietzsche vorgeschwebt haben, daß sich 24 25 26 27
28 29 30 31
Nietzsche Nachlaß, KSA11, (40 [17] ), p. 636. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [38] ). p. 648. Ibid. „Alles Denken, Urtheilen, Wahrnehmen als Vergleichen hat als Voraussetzung ein ,G/eicAsetzen', noch früher ein .Gfeicfanachen'. Das Gleichmachen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in die Amoebe ist" (Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (S [63] ), p. 209) Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [78] ), p. 445. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (36 [1] ), p. 595. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (19 [249] ), p. 498. Cf. J. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, op. cit., p. 160. Figi ist der Ansicht, „daß dieser KläiungsprozeB sich wohl im Bewußtsein abspielt, aber nicht vom Bewußtsein allein geleitet wird." (ibid.) Das ist sicher richtig, nur muß man beachten, daß die Rede von einem Bewußtsein in dem sich etwas abspielt, eine Façon de parier ist; das Bewußtsein ist kein Raum, in dem etwas geschieht- Cf. dazu Nietzsche, FW V, KS A3, Nr. 354, p. 590. Hier gibt Nietzsche zu verstehen, daß es sich dabei nur um eine bildliche Redeweise handelt; wiewohl sich diese Redeweise kaum vermeiden läßt; cf dazu Nietzsche, FW V, KS A3, Nr. 354, p. 590: Die Rede davon, daß etwas in einem Bewußtsein sei, verdankt sich einer räumlichen Vorstellung.
Das Denken (Noesis)
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die Herausbildung eines Gedankens (in Analogie zu einem organischen Geschehen) durch eine Wechselwirkungsrelation vollzieht, die selbst wieder in ein unvorstellbar komplexes Geschehen involviert ist. (Bildlich gesprochen verhält sich der bewußtgewordene Gedanke zu dem komplexen Denkgeschehen, wie die sichtbare Spitze eines Eisberges zu dem nicht-sichtbaren größeren Teil desselben.) Dieses komplexe Geschehen ist nach Nietzsche das eigentliche geistige Geschehen, das, wenn es überhaupt bewußt werden soll, zu einem Zeichen reduziert werden muß - auch, um ins Gedächtnis eingeschrieben werden zu können. Die Beziehung zwischen einem Zeichen und dem, was es bezeichnet, ist rein symbolischer Natur. „Die Sprache, das Wort" ist „nichts als Symbol"32 - und „Denken d.h. bewußtes Vorstellen ist nichts als die Vergegenwärtigung Verknüpfung von (...) Sprachsymbolen."33 Das bewußte Denken ist „Symbolerinnerung"34, Symbole, die durch ähnliche Vorstellungslagen ins Gedächtnis treten. Das „Vorstellen", schreibt Nietzsche, „kommt mit Hülfe des Gedächtnisses zu Stande, und ist das Produkt unzähliger Erfahrungen"33 ; „Gedächtnis" aber ist nur möglich mittels einer Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum Zeichen. ^1,36 Das Gedächtnis liefert das eigentliche 'Material' zum bewußten intellektuellen Denken, die Zeichen oder Symbole, die das Denken als Aktgeschehen miteinander verknüpft. Nietzsche steht mit seiner Auffassung, die eine enge Verbindung des Denkens mit der Sprache sieht, in einer langen Tradition. Plato bestimmte das Denken (διάνοια) als „Gespräch der Seele mit sich selbst."37 Im 19. Jahrhundert hat vor allem Wilhelm von Humboldt die Sprachabhängigkeit des Denkens und der daraus resultierenden Weitsicht durch den Sprachbau historischer Einzelsprachen untersucht. „Sprache" ist „nicht bloss die Bezeichnung des, unabhängig von ihr geformten Gedanken(s), sondern selbst das bildende Organ [ένέργεια] des Gedanken^)"38 . Nietzsche spitzt den Gedanken der Sprachabhängigkeit des Denkens noch zu, wenn er sagt, daß wir aufhörten zu denken, wenn wir es nicht in einem sprachlichen Zwange täten.39 Er stellt sich allerdings gegen die Tradition, wenn diese den Logos-Aspekt, den Vernunft-Aspekt des Sprachgebrauchs in den Vordergrund stellt. Nietzsche betont die Notwendigkeit, in einer Sprache denken zu müssen und kommt zu einer völlig anderen Bewertung der Tauglichkeit dieses Vehikels für ein objektives Erkennen. „Denken" ist gemessen an einem hoch-
32
Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (5 [80] ), p. 113. Ibid. "Ibid. 35 Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11 [333] ), p. 571. 36 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (38 [2] ), p. 597. 37 Plato, Sophistes 263e sqq.- Cf. auch Plato, Theatet 189e sqq. 38 W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften, Bd. 5, ed. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften v. A. Leitzmann, Berlin 1903 sqq. (Nachdruck, Berlin 1968), p. 374.- Cf. L. Wittgenstein, PU 329: „Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch .Bedeutungen' vor, sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens." 39 Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (5 [22] ), p, 193. 33
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Das Bewußtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
komplexen seelischen Geschehen ,verdünnter',,vereinfachter' 40 , nur symptomatischer Ausdruck in Symbolen. Unser „Denken in Zeichen" bewirkt, daß es „faßbar, merkbar, mttheilbar wird."41 Man darf nach Nietzsche auch das „geistige Geschehen"42 nicht mit dem Denken verwechseln: Denken ist demgegenüber Reduktion. Die Merkbarkeit, mit der die Gedächtnisfunktion angesprochen ist, erlaubt es, Zeichen für ein geistiges Geschehen in neuen Zeichen zusammenzufassen, die „Abkürzung"43 nochmals abzukürzen usw. bis hin zu den pyramidalen Begriffsordnungen (Theorien), in denen Zeichen für ganze Gruppen von Zeichen stehen können.- Auch die Entwicklung des Bewußtseins ist an die Sprache geknüpft; das „bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen"4*, was für Nietzsche nicht heißt, daß sich damit auch schon die Vernunft entwickelte; diese wird sich nur über den Zeichengebrauch ihrer selbst bewußt.*5 Den fortschreitenden Abkürzungsprozeß, wie ihn der Zeichengebrauch ermöglicht, könnte man mit einer immer schärfer werdenden Einstellung eines Lichtkegels vergleichen, so daß mit der Peripherieeinengung das Wenige, was angestrahlt wird, immer deutlicher erscheint. Die Aufhellung des Bewußtseins verdankt sich dann einer Verengung; und die Bewußtheit nähme proportional zu mit der Abnahme des tatsächlichen geistigen Geschehens. Mit dem zeichenvermittelten Denken ist der eigentliche Bewußtseinsstatus erreicht. In den folgenden Paragraphen geht es um die weitere epistemische Karriere dieses Bewußtseins, wie sie sich durch die Stationen des erkennenden, des begrifflich-logischen Denkens und schließlich des sich selbst denkenden Erkenntnissubjekts darstellt.
§16 Nietzsches Kritik am philosophischen Erkenntnisbegriff §16.1 Das Erkennen Das Denken als intellektuelle Tätigkeit ist unter methodologischem Gesichtspunkt begriffliches (cf. §16.2), urteilendes (cf. §16.3) oder schließendes Denken, Operationen, die das Denken zum erkennenden Denken oder zur Erkenntnis führen. Die Denkergebnisse haben den Status von Erkenntnissen, wenn sie, im Unterschied zum bloßen Meinen, durch Begründung und intersubjektive Überprüfbarkeit Anspruch auf Richtigkeit, Objektivität oder Wahrheit erheben können. Die Erkenntnis oder das Wissen als subjektive Komponente des Fürwahrhaltens eines erkannten Sachverhalts drückt sich in der bewußtseinsimmanenten
40 41 42 43 44 45
CF. Nietzsche, Nachlaß, KSA11. (38 [2] ), p. 597. Ibid. Ibid. Ibid.- Das abstrahierende Denken behandelt so nach Nietzsche Zeichen wie andere Entitäten auch. Nietzsche, FW V, KS A3, Nr. 354, p.592. Ibid.
Nietzsches Kritik am philosophischen Erkenntnisbegriff
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Überzeugung aus, daß etwas als etwas gewußt wird, und daß dieses Wissen wahr (richtig, objektiv) ist. Zu dieser Überzeugung kommt noch hinzu, daß das als wahr Erkannte gewissermaßen auch unabhängig vom Erkennenden, also vom Erkenntnissubjekt und über alle Zeiten hinweg wahr/richtig ist, daß, wie Frege es dargestellt hat, der Erkennende den wahren Sachverhalt (objektiv) aufnimmt, so als läge er ohne subjektives Interesse an dem zu Erkennenden völlig neutral bereit. Das Erkenntnissubjekt wird hierbei als völlig objektives (neutrales) Medium gedacht. Nietzsches Kritik am Erkenntnisbegriff richtet sich gegen den, wie er glaubt, durch Sokrates in die Welt gesetzten Optimismus, „dass das Denken das Sein nicht nur erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei."1 Das erkennende Denken glaubt sich nicht nur in einer Objektivität, sondern glaubt diese noch transzendieren zu können; das Denken, so das Vorurteil, ist gegenüber dem Seienden a priori in der Wahrheit. Das natürliche Streben nach Erkenntnis um ihrer selbst willen gilt seit Aristoteles als die „höchste Wissenschaft" („μάλιστα επιστήμη" 2 ), die gleichsam im Vakuum der Interesselosigkeit betrieben wird. Es kommt Nietzsche im Gegenzug zu dieser traditionellen Auffassung, wie er sie auch in der Neuzeit noch wirksam sieht, darauf an, den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse nicht nur nachzuweisen3, sondern ihn auch als einen essentiell notwendigen zu beglaubigen. Unsere Erkenntnis steht „selber schon unter (...) Existenzbedingungen"4; Objektivität, Richtigkeit oder Wahrheit sind, so könnte man seine Kritik pointiert zusammenfassen, gar nicht die zutreffenden Begriffe, um sie zu charakterisieren. „.Absolute Erkenntnis'" gar ist für ihn „eine contradictio in adjecto"5, weil Erkennen sui generis schon der signitiven Vermittlung bedarf: „Erkennen (...) ist (...) ein Feststellen Bezeichnen Bewußtmachen von Bedingungen"6 - mit anderen Worten: Erkennen ist immer schon bedingt, und das heißt für Nietzsche auch: verfälschend.- Auch wenn man wie Kant versucht, die Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erkenntnis erkennen zu wollen, geht man von der Voraussetzung aus, man könne diese Bedingungen rein vor sich bekommen, was für Nietzsche eine „Absurdität"7 ist. In einem Nachlaß-Fragment vom April - Juni 1885 faßt er die Funktionen des Erkennens zusammen: „Erkenntniß: die Ermöglichung der Erfahrung, dadurch daß das wirkliche Geschehen, sowohl auf Seiten der einwirkenden Kräfte, als auf Seiten unserer gestaltenden, ungeheuer vereinfacht wird: so 1 2 3 4 5 6 7
Nietzsche, GT, KS Al, Nr. 15, p. 99. Aristoteles, Metaphysik 1,2 (982a). Cf. Nietzsche, MA I, KSA2, Nr. 9, p. 29 sq. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [127] ), p. 183. Nietzsche, JGB, Erstes Hauptstück, KSA5, Nr. 16, p. 29. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [154] ), p. 142. „Ein Erkenntniß-Apparat, der sich selber erkennen will!! Man sollte doch über diese Absurdität der Aufgabe hinaus sein!" (Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [18] ), p. 154) - „Der Intellekt kann sich nicht selbst kritisiren, eben weil er nicht zu vergleichen ist mit andersgearteten Intellekten und weil sein Vermögen zu erkennen erst Angesichts der .wahren Wirklichkeit' zu Tage treten würde d.h. weil, um den Intellekt zu kritisiren, wir ein höheres Wesen mit .absoluter Erkenntniß' sein müßten." (Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (5 [11] \ p. 188)
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Das Bewußtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
daß es ähnliche und gleiche Dinge zu geben scheint. Erkenntnis ist Fälschung des Vielartigen (...), Ähnlichen, Abzählbaren. Also ist Leben nur vermöge eines solchen Fälschungs-Apparates möglich. Denken ist ein fälschendes Umgestalten (...) - : in dem Allen liegt die Kraft der Assimilation (...)."8
Zwei Komponenten sind an der Erkenntnisbildung beteiligt: die „gestaltenden" Kräfte, die Kräfte, die sich aus dem Triebgeschehen herleiten und die Kräfte, die die vereinfachten Enderscheinungen des Triebgeschehens als Basis einer weiteren „gestaltenden" Vereinfachung nehmen. Mit den gestaltenden Kräften, wie wohl sie schon auf der Zell-Ebene wirksam sind, ist hier die eigentliche epistemische Leistung des Erkenntnissubjekts angesprochen, wie sie sich im begrifflichen und urteilenden Denken vollzieht. Zu beachten ist, daß Nietzsche die beiden Komponenten der Erkenntnisstruktur, der subjektiven Seite des erkennenden Bewußtseins und die objektive Seite der zu erkennenden Sachverhalte und Tatsachen verlagert: das zu Erkennende fällt bei ihm in die Sphäre des Gesamtsubjekts und ist als Objekt für ein Bewußtsein durch transbewußte biologische und physiologische Prozesse schon zurechtgemacht. Das „wirkliche Geschehen", von dem Nietzsche spricht, ist transintelligibel und im Prinzip unerkennbar. In dieser Geschehens-Form ist es für ein auf Einheiten-Setzung angewiesenes Denken ohne jeden Ansatzpunkt. (Man kann hier gegen Nietzsche einwenden, daß er das „wirkliche Geschehen" als eine Art Werden-an-sich betrachtet.) Der traditionelle Wahrheitsbegriff der adaequatio intellectus ad rem kann daher für Nietzsche auch gar nicht greifen, weil die Sache keine transsubjektive Objektivität hat; sie steht immer schon in Funktion zu einem „Werth für das Leben": „Wahrheit', so lautet die mittlerweile schon berühmt gewordene Definition Nietzsches, „ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet zuletzt."' Der „Erkenntnistrieb", der in der Wissenschaftsgläubigkeit sein höchstes Pathos feiert 10 , wird von Nietzsche als Erhaltungstrieb entlarvt. Die Erkenntnisfunktion kann mit der Spinnennetz-Metapher veranschaulicht werden; sie ist das Netz, in dem wir unsere Beute fangen." Das Netz steht für unsere Erkenntnismöglichkeiten überhaupt und bildet die Grenze die uns durch unsere spezifische Sinnlichkeit vorgegeben ist. Die Basis unserer Erkenntnis ist uns über die Sinne gegeben, aber nicht in dem Verständnis, daß uns die Dinge/Gegenstände in objektiver Weise gegeben würden, sondern nur in der Art, wie wir „unsere Veränderungen im Sehen, Hören, Fühlen"12 erfahren. In der Registratur der Veränderung, liegt schon ein Begreifen vor; es sind „intellektuelle Vorgänge", die etwas sichtbar hörbar flihlbar"n machen. In einem Aphorismus aus Morgenröte mit
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Nietzsche Nachlaß, KSA11, (34 [2522] ), p. 506. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [253] ), p. 506.- „Es ist unwahrscheinlich, daß unser .Erkennen' weiter reichen sollte als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven, sowie das Gehim sich entwickeln im Verhältniß zur Schwierigkeit der Ernährung." (Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (36 |19] ), p. 559 sq.) Cf. Nietzsche, FW III, KS A3, Nr. 123, p. 479 sq. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (6 [439])-cf. auch Nachlaß, KSA9,(15 [9] ). Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (11, [75] ), p. 470. Ibid.
Nietzsches Kritik am philosophischen Erkenntnisbegriff
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dem Titel Im Gefängnis charakterisiert Nietzsche den Menschen als ein in seine Sinnlichkeit gefangenes Wesen, aus der es „kein Entrinnen, keine Schlupf und Schleichwege in die wirkliche Welt"14 gibt. „Die Gewohnheiten unserer Sinne", heißt es weiter, „haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und .Erkenntnisse' " 1 3 . Die Gewohnheiten der Sinne geben uns den Bezugspunkt für die „Veränderungen im Sehen", ,Jfören" und fühlen". Das „Messen" dieser Veränderungen bezeichnet er auch als „Empfinden"'6. Es sind dann genau diese Empfindungen, die uns bewußt werden. Das Erkennen stellt eigentlich nur „Quantitäten"17 fest, aber „nichts hindert" uns daran, „diese Quantitäts-Differenzen als Qualitäten zu empfinden"" , die dann aber nur „eine perspektivische Wahrheit für uns" haben - und „kein(e) ,an sich'"". An die registrierbaren Empfindungen knüpfen wir „Worte"20, „Tonzeichen für Begriffe"21 - und „Begriffe (...) sind [dann] mehr oder weniger sichere Gruppen wiederkehrender zusammen kommender Empfindungen."22 Das Bewußtwerden wächst nun mit der Fähigkeit der Klassenbildung von ,inneren Erlebnissen'23. Wir werden dadurch Herr unserer selbst auf Kosten des Empfindungsreichtums, der ohne Erkennen dann allerdings subbewußt bliebe. Wir können auf diese Weise aber unsere Bedürfnisse feststellen und sie „schnell und leicht" „zu verstehn geben"24, was ja das eigentliche Ziel des Bewußtwerdens ist. Die Empfindungen, an die sich das begriffliche und urteilende Denken anschließt, sind genuine „Werthschätzungen" als „Folge unserer innersten Bedürfnisse."25 Das Erkennen erweist sich somit als der verlängerte Arm dieser Bedürfnisse und „arbeitet" in einem tieferen Verständnis „als Werkzeug der Macht."26 Der „Sinn der .Erkenntnis'" liegt in der Machterweiterung der „Art", indem „sie in ihrer Conception der Realität so viel Berechenbares und Gleichbleibendes" erfaßt, „daß darauf hin ein Schema ihres Verhaltens construirt werden kann."27 Mit Hilfe des Erkennens erfassen wir nicht eine Realität, wir konzipieren, was als Realität überhaupt in den gemeinsamen Blick (nach Maßgabe der Machtsteigerung (cf. Technologie)) kommen soll. Unter dem Aspekt der
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Nietzsche, M II, KSA3, Nr. 117, p. 110.- Streng genommen dürfte er natürlich nicht von einer „wirklichen Welt" sprechen, weil diese Annahme ein Schlufi auf eine Welt an sich wäre. Ibid. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KS A12, (5 [36] ), p. 197. Ibid. Ibid. Nietzsche. Nachlaß, KSA11, (34 [86] ), p. 448. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [122] ), p. 302. Ibid.
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Das Bewußtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
Machterweiterungsstrategie muß auch die Entwicklung des Bewußtseins gesehen werden, die im Endeffekt auf einer Steigerung der Berechenbarkeit als Voraussetzung intersubjektiver Funktionalität beruht. Je besser wir uns selbst erkennen (oder zu erkennen glauben), um so leichter können wir uns mitteilen, um so effektiver lassen sich arbeitsteilige gesellschaftliche Systeme bilden, innerhalb derer sich Kräfte potenzieren lassen.
§16.2 Der Begriff Das Bewußtsein ist das Organ der Soziabilität. Um sich den Mitmenschen mitteilen zu können, wurde „ .Bewußtsein' " 28 oder, was Nietzsche für die bessere Bezeichnung hält, „Sich-Bewusst-Werden"29 „nöthig"30. Das Sich-BewußtWerden ist gleichbedeutend mit dem Wissen, was einem „fehlt", wie „einem zu Muthe ist", was Jemand denkt."31 Der „Mensch denkt, wie jedes lebende Geschöpf, immerfort, aber er weiss es nicht; das bewußt werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon"32 - und dieser Teil des bewußten Denkens vollzieht sich nach Nietzsche in „Worten" oder, wie er auch sagt, in ,Jvíittheilungszeichenííys. Auch das „Bewußtwerden" der „Sinneseindrücke" durch deren Fixierung, „hat in dem Maasse zugenommen, als die Nöthigung wuchs, sie Andern durch Zeichen zu übermitteln."34 Die durch Zeichen ermöglichte Mitteilbarkeit hat im Laufe der Zeit zu einer Kraftsteigerung (cf. „ästhetischer Zustand") geführt, die das abbreviative Zeichengeschehen noch beschleunigte. Parallel zu dieser Beschleunigung verläuft das sich ,Immer-schärfer-seiner-selbst-bewußt' -Werden35 des Menschen. Soziabilität, Zeichengebrauch und Bewußtwerdung werden von Nietzsche im Verhältnis der Korrelation gedacht. Die Begriffsgenese vollzieht sich in zwei Stufen, die jeweils durch das Ergebnis eines Metaphorisierungsprozesses gekennzeichnet sind: durch das Bild und durch den Laut,36 Nietzsche bezeichnet „Begriffe" auch als „Hörbilder, die eine Vielheit von symbolischen Seh-Bildern zusammenfassen."37 Die genetische Stufung stellt sich wie folgt dar: „Erst Bilder" - „Dann Worte angewandt auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte giebt"38. Was Nietzsche mit „Wort" bezeichnet, trägt im Grunde genommen schon begriffliche Züge; es steht 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Nietzsche, TW V, KS A3, Nr. 354, p. 591. Ibid., p. 590. Ibid., p. 591. Ibid., p. 592. Ibid. Ibid. Ibid. Cf. ibid. Cf. Nietzsche, WL, KSA1, p. 879.- Vid. dazu Kap.IV, §14. Nietzsche, Nachlafi, KSA11, (25 [185) ),p. 64. Nietzsche, NachlaJ.I, KSA11, (25 [168] ), p. 58.
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für eine .Zusammenfassung' „vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares"39 ; es ist gegenüber dem Bild das abstraktere Phänomen: der Wortlaut hat auch in der Natur kein Vorbild, während man selbst bei einem Schema-Bild (etwa eines Hundes) noch eine Beziehung auf den realen Gegenstand herstellen kann. Die den Begriffen zugrundeliegenden Bilder (als Ausgangsbasis der Metaphorisierung) sind nicht rezeptiver Natur, sondern, wie zu erinnern ist, Selbst Ergebnis einer Metaphorisierung. Der Möglichkeit der Begiffsbildung geht die „Verwandlung aller Vorgänge in optische Phänomene"40 faktisch und logisch voraus. Nietzsche sieht bei der Bild-Gestaltung eine produktive Kraft' am Werk, die sich unschwer als das schöpferische Vermögen des Menschen, Metaphern bilden zu können, identifizieren läßt, die „einige gegebene Reize gestaltet', und so, wie er sagt, „eine ,Erscheinung' macht."*1 Wie eine Reizkonstellation in Bilder übersetzt werden kann, darüber macht Nietzsche keine näheren Angaben; wir wissen nur, daß diese Metaphorisierung nach keinen logischen Kriterien erfolgt, und daß wir bewußtseinsmäßig keinen Einfluß auf dieses Übersetzungsgeschehen haben, weil es Bedingung der Möglichkeit der Bewußtwerdung überhaupt ist. Der metaphorische Schritt vom mentalen Bild zum intersubjektiv zugänglichen (hörbaren) Wort42 ermöglicht die zur Begriffswerdung erforderliche Konventionalisiemng, durch die das zunächst noch als (individuelle) Metapher ñingierende Wort zum Begriff, d.h. usuell wird. In dem Moment, wo die Metapher auch anderen etwas bedeutet, wird sie zum kursierenden Begriff. Erst mit dem BcgriSsgebrauch wird die Grundlage für Bewußtseinsinhalte gelegt, also mit der allgemeinen Akzeptanz der Sprachteilnehmer. Diese Akzeptanz hat zur Grundlage den Glauben, daß andere mit dem Wort dieselben oder doch ähnliche Vorstellungen und Inhalte verbinden, wie man selbst: dieser Glaube ist das Apriori des Bewußtseins. Der bewußtseinskonstitutive Glaube, daß andere Subjekte mit einem Wort dieselbe Bedeutung verbinden, auf dieselben Erlebnisse und mentalen Zustände und auf dieselbe Welt referieren, ist die Grundlage dafür, daß wir uns unter einen Begriff bringen können - oder anders gesagt, daß wir uns verstehen können. Da es fur das tatsächliche Begreifen keine objektiven Kriterien gibt, darf man vermuten, daß unter anderen Funktionen der Kommunikation eine darin bestehen wird, die Bedeutungen von Begriffen zu justieren, weil davon nicht nur die Soziabilität abhängt, sondern auch das Selbstverständnis (ob man noch gleich ist und dazugehört). Sind „Gedanken", „Bilder" und „Worte" „nur Zeichen von Gedanken"·0, so sind Begriffe die Zusammenfassung „viele(r) Bilder durch Einen Laut"44. „Das klein Bischen Emotion, welches beim .Wort' entsteht, also beim Anschauen 39 40 41 42 43 44
Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [392J ), p. 115. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 |313] ), p. 93. Nietzsche geht von einer lebendigen Kommunikationssituation, vom gesprochenen Wort aus. Nietzsche, Nachlaß, KSA10, (24 [16] ), p. 654. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [463] ), p. 137.- Die „optischen inneren Phänomene" werden „mit dem Gehör" .rubriziert' ( ibid. ). Das Gehör ist für Nietzsche, verglichen dem Gesicht, das stärker abstrahierendere Sinnesorgan.
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ähnlicher Bilder, fìir die ein Wort da ist - diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffs. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben empfunden werden, ist die Grundthatsache."45 Die Begriffsanwendung ist, von der Funktionalität her verstanden, die konsequente Fortführung dessen, was Bild und Wort''6 leisten: Synthesis. Das (gesprochene) Wort ist akustisch-metaphorische Synthesis der visuellmetaphorischen Synthesis des (zunächst inneren) Bildes, und der Begriff ist logische Synthesis von „schwachen Empfindungen", für die „Ein Wort da ist". Der Begriff setzt ähnliche („benachbarte") Empfindungen (Reize) „als dieselben"47 an; die Synthesis geht, so Nietzsches Grundgedanke, immer auf Kosten von qualitativ Inhaltlichem - aber ohne diese inhaltliche Ausdünnung, könnten uns keine Reize, Empfindungen, Gedanken, Vorstellungen usw. bewußt werden. Die Extensionalisierung von Begriffen geht so weit, daß sie sich gleichsam verselbständigen48 und Sy/HÄo/charakter annehmen; sie stehen dann stellvertretend für etwas, das an ihrer semiotischen Gestalt (allein) nicht mehr ablesbar ist. Aufgrund ihrer 'Entfernung' von der sinnlichen und artspezifischen physiologischen Basis sind Begriffe sehr stark auf konventionelle Festlegungen (Bedeutungsfestlegung, Definition) angewiesen. Sie haben quasi nur noch einen Äquivalenzstatus,49 Mit dem logischen Status des begrifflichen Denkens erreicht das Bewußtsein seine höchste funktionale Wirksamkeit, seine stärkste Befehlsgewalt und seine größte „Gesamt-Überschau"50 : „Unsere Logik, unser Zeitsinn, Raums inn sind ungeheure Abbreviatur-Fähigkeiten, zum Zwecke des Befehlens. Ein Begriff ist eine Erfindung, der nichts ganz entspricht; aber Vieles ein wenig: ein solcher Satz .zwei Dinge, einem dritten gleich, sind sich selber gleich' setzt 1) Dinge 2) Gleichheiten voraus: beides giebt es nicht. Aber mit dieser erfundenen starren Begriffs- und Zahlenwelt gewinnt der Mensch ein Mittel, sich ungeheurer Mengen von Thatsachen wie mit Zeichen zu bemächtigen und seinem Gedächtnisse einzusclireiben. (...) Die Reduktion der Erfahrungen auf Zeichen, und die immer größere Menge von Dingen, welche also gefaßt werden kann: ist seine höchste Kraft. Geistigkeit als Vermögen, über eine ungeheure Menge von Thatsachen in Zeichen HerT zu sein. Diese geistige Welt, diese Zeichen-Welt ist lauter Schein und Trug', ebenso schon wie jedes .Erscheinungsding' " 5 1 .
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Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [168] ), p. 58 sq. So auch J. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, op. cit, p. 152. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (25 [168] ), p. 59. Begriffe sind usuelle, sinnlich verblaßte Metaphern, deren Funktion weit mehr eine praktische als eine epistemische ist. A. Schmidt schreibt: „Weit davon entfernt, adäquate Abbilder der Dinge zu liefern, sind die Begriffe bloße Metaphern, mit deren Hilfe wir jene praktikabler machen, nicht aber erkennen." (A. Schmidt, „Ober Nietzsches Erkenntnistheorie", in: J. Salaquarda (ed.), Nietzsche, Darmstadt 1980 (= Wege der Forschung, Bd. 521), pp. 124 - 152, p. 133) - Das von Schmidt Ausgeführte muß auch auf unsere Empfindungen und Emotionen bezogen werden.- Zur Erkenntnistheorie Nietzsches cf. auch J. Habermas (ed.) „Nachwort" zu Friedrich Nietzsche. Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt/M 1968. Hier wäre z. B. an den Handelswert von Geld zu denken, daß eine bestimmte Geldsumme mit einer bestimmten Ware in bezug auf den Wert als äquivalent festgelegt wird.- Zwischen den Begriff und seine Bedeutung schiebt sich eine Praxis oder Lebensform. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [131] ), p. 464. Ibid.
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Nietzsche wendet sich hier gegen die Abstraktionstheorie der traditionellen Logik, die empirische Begriffe aus einer „logischen Komparation"52 unter der apriorischen Leitung von Reflexionsbegriffen der „Einheit, Identität und Gleichheit"33 abgeleitet sieht, so daß zwischen den so gewonnenen Begriffen eine streng logische Relation der Transitivität besteht, die besagt, daß, wenn zwei Gegenstände mit einem dritten in der Relation R stehen, sie auch untereinander in dieser Relation stehen.34 Die Relation drückt den logischen Zusammenhang von Begriffen aus, so daß Altbegriffe, die sich durch die differentia specifica - von der der Gattungsbegriff abstrahiert - unterscheiden, ihre Gleichheit (das sie verbindende logische Band, das die Relation ermöglicht) im genus proximum haben, dem sie subordiniert sind.- Nietzsches Kritik richtet sich nun gegen die These, daß das Denken, wenn es nur logisch (= begrifflicher Natur ) ist, nach unantastbaren Gesetzen verlaufe und gleichsam die Wahrheit - wie von selbst - hervorbringe. In dem logischen Gesetzt der Transitivität verbirgt sich unser Glaube, daß „zwischen Gedanken" - wenn sie nur logisch sind - „ein unmittelbares ursächliches Band [Hervorhebungen - E.S.] anzunehmen"55 sei; in Wirklichkeit aber ist „alles Nacheinander im Bewußtsein vollkommen atomistisch."56 Nietzsches kritische Strategie zielt auf die Voraussetzungen, die gemacht werden müssen, damit das begriffliche Denken logisch erscheint.57 Schon die Reflexionsbegriffe58, die die Begriffsbildung aus Erfahrung leiten sollen, sind reine Fiktionen. „Dinge" (= Einheiten) und „Gleichheiten" „giebt es nicht"; es sind Voraussetzungen, die notwendigerweise gemacht werden müssen, damit die Strategie der Logik aufgehen kann: der Glaube, daß an ihrem Leitfaden die Wahrheit garantiert werden könne. Der in der Logik verborgene Optimismus hat für Nietzsche pragmatische Gründe, er stärkt den Glauben an die prinzipielle Erkennbarkeit der Welt und uns selbst, und er läßt das am stärksten verfälschende logisch-begriffliche Denken als das höherwertigere, als das eigentliche, in die Wahrheit mündende Denken, erscheinen. Diese Werteinschätzung ist erforderlich, damit die Reduktion von Erfahrungen auf ein Minimum an Zeichen im Namen der Effizienzsteigerung in sozialen Gebilden forciert werden kann. Es ist zum Verständnis der Nietzschischen Bewußtseinstheorie von Bedeutung zu beachten, daß eine Interpretation von epistemischen Begriffen und Funktionen immer auch Strukturen und Funktionen unseres - in diesem Falle hellen Bewußtseins interpretiert. Es ist ferner von Bedeutung, sich immer wieder 52
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Cf. H. Wagner, „Begriff", in: H. Krings/H.M. Baumgatner/Ch. Wild (eds.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, (= Studienausgabe in 6 Bdn.), Bd.1, pp. 191 - 209, p. 198. Ibid., p. 199. Formal: (Vx) (Vy) (Vz) ((Rxy Λ Ryz) -» Rxz). Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (11 [113] ),p. 53. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [152] ), p. 333.- Figi spricht in diesem Zusammenhang von einer ,,dissoziative(n) Struktur des Bewußtseins". (J. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, op. cit., p. 164) Vid. infra, Kap. V, §17. Imgleichen gibt es fflr ihn auch keine Identitäten. - Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (23 [11]), p. 542: „Der Begriff entsteht aus einem Gleichsetzen des Nichtgleichen: d.h. durch die Täuschung, es gäbe ein Gleiches, durch die Voraussetzung von Identitäten (...)."
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vor Augen zu halten, daß das bewußte Denken selbst wieder eine Funktion ist, die in einem dem Denken transzendenten höheren Zusammenhang steht.- Der hohe Grad der Bewußtheit, der das begriffliche Denken kennzeichnet, hat seine Ursache in der entlastenden Übersichtlichkeit des Operierens mit bloßen Zeichen, die zu ihren Denotaten nur in einem Äquivalenzverhältnis stehen. Wenn das Bewußtsein schon die „Hand" ist, „mit der der Organismus am weitesten um sich greift"39, so fügt Nietzsche noch charakterisierend hinzu, daß „es eine feste Hand sein muß"60, und spricht damit das begriffliche und logische Denken in seiner Funktion an, daß Menschen sich untereinander rasch und schnell verständigen müssen, auch auf Kosten individueller Gefühle und Affekte oder sonstiger Befindlichkeiten. Sich unpersönlich unter allgemeinen Begriffen zu verstehen, heiß auch, sich als gemeines Wesen austauschbar zu wissen. Nur das starke Selbstbewußtsein, wie Nietzsche es dem Typus Jesus oder dem Übermenschen ansinnt, vermag, obwohl mitten unter Menschen lebend, außerhalb von menschlichen sozialen Bindungen zu existieren, sich nicht unter Begriffen zu verstehen, die Individualität zu bewahren, ohne sich als Individuum zu begreifen. Es wird an anderer Stelle noch zu untersuchen sein, wie gemäß der Nietzschischen Bewußtseinstheorie ein solcher Mensch gedacht werden kann.- J. Figi macht zu recht auf den Umstand aufmerksam, daß „der logische Gedanke nur ein vereinfachtes Zeichen" eines „organisch-vorbewußten Lebens" ist, und daß das Zeichen unsere „triebhafte Realität" „zugleich (...) verstellt"61. Die Rückführung, so Figi, des rationalen Gehalts eines Gedankens auf das ihn prärational fundierende Grundgeschehen ende nicht in der Erfassung einer endgültigen Bedeutung, sondern führe zu jener Dimension hin, in der das Auslegen ein permanenter und unabschließbarer Prozeß sei.62 Die dem Gedächtnis eingeschriebenen symbolischen, bewußtgewesenen Zeichen treten wieder in Kontakt mit dem „organischvoibewußten Leben", von dem Figi spricht, d.h. sie führen in diesem 'Untergrund' ein bewußtseinsunabhängiges Eigenleben. Im Bedarfsfall stehen sie dem Bewußtsein - und somit auch dem rational mit Zeichen operierenden Denken - nur dann zur Verfügung, wenn sie aufgrund von Prozessen, deren Endergebnis die Feststellung von Trieben, deren Symptom sie sind, ins Gedächtnis gehoben werden. Der Einfluß von Seiten des logischen Denkens auf die Erinnerung ist immer auch von vorbewußten Prozessen abhängig; man kann, salopp gesprochen, mit dem begrifflich-logischen Denken eine Richtung auslegen und hoffen, daß sich der gewünschte, von allem emotionalen Ballast gereinigte Gedanke einstellt. Die erinnerten Zeichen werden einem Bewußtsein nie ganz rein dargeboten, so daß die Anstrengung des Begriffs bleibt: die mit ihm auftretenden Affektspuren müssen mit,/ester Hand" zurückgedrängt werden, soll der Begriff seine Primärfunktion erfüllen können. Zur Operationalität des Begriffs gehört die Ähn59 60 61 62
Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [131] ), p. 464. Ibid. J. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, op. cit., p. 164. Ibid., p. 165.
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lichkeitsregistratur, die nur in der gebotenen Schnelligkeit vonstatten gehen kann, wenn das Zeichen nicht noch allzu stark emotional befrachtet ist. Nietzsche verdeutlicht diesen Zusammenhang am Beispiel der Wahrnehmung: „das Denken" „umläuft" „bei der Wahrnehmung eines Dings [,] eine Reihe von Zeichen (...), welche das Gedächtniß ihm darbietet (...)" - und „sucht nach Ähnlichkeiten"63. Was hier in bezug auf die Dingwahrnehmung gesagt wird, kann auch auf die Wahrnehmung mentaler Zustände bezogen werden, denn diese bezeichnen wir ja auch, indem wir für niemals gleiche Empfindungen dieselben Zeichen verwenden, allein aufgrund einer Ähnlichkeitsregistratur. Wenn wir nach diesem Verfahren durch Bezeichnung etwas (ein bestimmtes Gefühl, einen Gedanken) ,ergriffen'*4, d.h. uns bewußtseinsmäflig angeeignet haben, glauben wir nach Nietzsche, es auch schon begriffen zu haben. „Än dem Bau der Begriffe arbeitet ursprünglich (...) die Sprache, in späteren Zeiten die Wissenschaft,"65 Begriffe können durch ein Über-ZUnterordnungsverhältnis in eine pyramidale Ordnung gebracht werden (cf. arbor porphyriana). Sie bilden für Nietzsche einen „Vernunftbezirk"66 innerhalb dessen der „Thurmbau der Wissenschaft"67 betrieben wird. Der Turm ist ganz Konstrukt, denn das Baumaterial (die Begriffe) stammt ausnahmslos aus dem ,wachen' Bewußtsein.68 Das pyramidale Begriffssystem ist „eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien [Gattungsbegriffe], Unterordnungen [Ärtbegriffe], Gränzbestimmungen [Limitationen] (...), die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere (,..)."6' Diese Welt ist Nietzsches Theorie gemäß ja das, was wir überhaupt erkennen können, und das, worunter wir uns als Menschen (menschlich) begreifen, auch wenn das den Begriff des Humanismus travestiert. Die bewußte „geistige Welt", die „Zeichen-Welt, die „lauter Schein ist, ist auch Ausdruck des Willens zur Macht. Will der bewußtseinskonstitutive Schein seine pragmatischen Zwecke erfüllen können, darf er sich als Schein nicht mehr mitreflektieren. In der philosophischen Reflexion, die den Schein als Schein erkennt, ist der Schein des Bewußtseins bewußter Schein geworden; es ist erkannt, daß das Bewußtsein der Schein ist. Ist dieser Reflexionsstand erreicht, wird die Erkenntnis in der Notwendigkeit ihrer Scheinhafiigkeit zur tragischen Erkenntnis, die besagt, daß der Schein nur noch affirmativ gewollt werden kann, indem man ihm entspricht, was er in Wahrheit ist: Wille zur Macht. Das erkennende Denken, daß das Bewußtsein als Ausdruck des Willens zur Macht begreift, muß 63 64 63 66 67 68
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Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (38 [14] ), p. 614. Cf. ibid. Nietzsche, WL, KSA1, p. 886. Ibid., p. 883. Ibid., p. 886. In WL heißt es dazu: „An sich ist ja der wache Mensch nur durch das starre und regelmässige Begrifisgespinst darüber im Klaren, dass er wache, und kommt eben deshalb mitunter in den Glauben, er träume, wenn jenes Begriffsgespinnst einmal durch die Kunst zerrissen wird." (Nietzsche, WL, KSA1, p. 887) Nietzsche, WL, KSA1, p. 881 sq.
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zum philosopMsch-zmperaftmcAen Denken werden, das dem Bewußtsein entspricht, indem es den Schein will und so den Willen zur Macht als seinen bewußten Willen durchsetzt. Der Philosoph, so Nietzsches Konsequenz, muß „Gesetzgeber-"70 werden, der auch den Wert des Wissens und der Wissenschaften bestimmt. Der Philosoph muß darauf hinweisen, daß das „Bewußtsein eine Gefahr"71 werden kann, wenn nicht mehr bedacht ist, „dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verdeibniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist."72 Die instrumentelle Machbarkeit, der die Wissenschaft ihren bewußtlosen Fortschrittsglauben verdankt, von dem wir uns in zunehmendem Maße bedroht fühlen, hat sein Fundament in einer maßlosen Überschätzung des Bewußtseins, das heute beginnt, das Höhere, das Leben, aufs Spiel zu setzen. Nietzsches Aufforderung, der Begriffsgläubigkeit mit Skepsis zu begegnen, umzuwerten, scheint von einer dringlichen Aktualität und darf vor allem auch nicht mit dem noch größeren Übel einer Verherrlichung des Irrationalen verwechselt werden. §16.3 Das Urteil Die Urteilsthematik stellt sich im philosophischen Werk Nietzsches unter zwei Aspekten dar. Zum einen wird das Urteil in seiner formalen logischen Funktion (P(x)), in der Wahrheit/Richtigkeit behauptet wird, untersucht73, zum anderen wird der Frage nachgegangen, welche Voraussetzungen (Vor-Urteile) gemacht werden müssen, damit das logische Schema erfüllt werden kann - mit anderen Worten: Welches sind die metalogischen Voraussetzungen wahrheitsdefiniter Urteile? Die Axiome des logischen Urteils beruhen nach Nietzsches Ansicht auf drei Glaubensartikeln : (1) „Der Glaube an die Freiheit des Willens"; (2) „Der Glaube an unbedingte Substanzen"; (3) Der Glaube „an gleiche Dinge"74. Diese Glaubensartikel sind „Grundirrthümer"75, die sich mit der Zeit „in den niederen Organismen", die „zuerst Nichts als immer das Gleiche" sahen, herausgebildet haben, indem „verschiedene Erregungen von Lust und Unlust"
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Nietzsche, Nachlaß, KSA 11, (26 [407]), p. 258. Nietzsche, FW V, KS A3, Nr. 354, p. 593.- Cf. J. Simon, „Das neue Nietzsche-Bild", in: NietzscheStudien, Bd. 21 (1992), pp. 1 - 9, p. 5 sq. Nietzsche, FWV, KS A3, Nr. 354, p. 593. Vid. infra, Kap. VI.- Diese Thematik muß besonders im Zusammenhang mit Nietzsches Interpretation der indoeuropäischen Satzgrammatik behandelt werden (vid. §20). Nietzsche, MA I, KSA2, Nr. 18, p. 40. Ibid.
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„bemerkbar"76 wurden. Die Empfindungserregungen werden „isolirt" und dann als „verschiedene Substanzen unterschieden"77, wobei die Unterscheidung, wie bereits herausgestellt, auf der Grundlage von nur „Einem Attribut"78 erfolgt. Der Unterscheidung liegt die Urprädikation zugrunde, deren generelle Semantik von Lust/Unlust, gut/schlecht in bezug auf den Organismus geprägt ist. Der jedem Urteil vorausgehende Glaube beruht nun darauf, daß 1. die Empfindungen substantialisiert, d.h. daß den Empfindungsprädikaten eine (substantielle) Ursache untergeschoben wird, daß 2. die Empfindungs-Substanzen miteinander im Verhältnis der Gleichheit stehen, so daß eine Empfindung a, auf die das Prädikat lustvoll zuträfe, mit einer Empfindung b, auf die dasselbe Prädikat zuträfe, koinzidiert.79 Nietzsche drückt dieses Verhältnis so aus: „Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form."80 Die isolierte Empfindung wird von der organischen zweckmäßigen Verankerung gelöst und erscheint dann als „willkürlich", so daß daraus 3. der Glaube an die „Freiheit des Willens" als „ursprünglichem Irrthum alles Organischen"81 entsteht. Empfindungen müssen, um als gleiche beurteilt werden zu können, identisch gesetzt werden, damit sie in die zweistellige Äquivalenzrelatiori (a = b) der Gleichheit treten können. Das Urteil setzt den Glauben voraus, „einem identischen Fall begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hülfe des Gedächtnisses."82 Diese Voraussetzung sieht Nietzsche in einer „Funktion" gegeben, „die viel älter, früher arbeitend sein muß", die „an sich ungleiche Fälle ausgleicht und anähnlicht"83 ; er nennt genau diese Funktion der ursprünglichen Identitätsstißung „Assimilation". Die Identität, die als Glaubensartikel jedem Urteil zugrundeliegt, ist immer eine Hergestellte, Identifizierung und ReIdentifizierung sind aktive Setzungen84, die, wie jede intellektuelle Funktion, ihr Vorbild in organischen Prozessen haben. ,ßevor geurtheilt wird, muß der Prozeß der Assimilation schon gethan sein: also", schließ er, „liegt auch hier eine intel-
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Ibid. Ibid., p. 39. Ibid. Formal stellt sich das wie folgt dar: (a = b) -» Vx (X(x) -> X(b)).- Cf Aristoteles, Topik, Griechisch Englisch, ed. E. S. Forster, London 1960, 152 b 27 sq. (= The Loeb Classical Library). Nietzsche, MA 1, KSA2, Nr. 18, p. 39. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, 40 [SO] ), p. 634.- „Der Satz von der Identität" wird von Nietzsche ontologisch abgeleitet; er hat zur Voraussetzung, „das es gleiche Dinge giebt." (Nietzsche, Nachlaß, KSA1 1, (36 [23] ), p. 361) - Die eigentliche Voraussetzung besteht jedoch in dem Glauben an Dinge und an gleiche Dinge. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [15] ), p. 635. G. Abel, wohl auch von Nietzsche beeinflußt, kommt in seinem Werk Interpretationswelten zu einem in wesentlichen Zügen vergleichbaren Ansatz. „Identifikation und Re-Identifikation" sind „Prozesse" „des aktiven Herstellens, des Erzeugens von Identität" (G. Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M 1995, p.44.- „IdentitAt" ist nach Abel ein „Interpretationsprodukt" (ibid., p. 48); eine Auffassung, die exakt auch Nietzsches Ansicht wiedergibt.
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lektuelle Thätigkeit , die nicht in's Bewußtsein fällt (,..)·"85 Das mit Bewußtsein vollzogene logische Urteil arbeitet mit dem im Gedächtnis gespeicherten Material, das schon das Ergebnis einer „Art Ausgleichung" von „Empfindungen"8* ist, nur daß hierbei nicht Empfindungen, sondern Zeichen für Empfindungen oder Zeichen für ganze Gruppen von Zeichen , nämlich Begriffe oder reine Symbole (z.B. logische Zeichen) in Rede stehen. Die Empfindungen stellen das Basismaterial für mögliche Prädikationen, die durch Veränderungen an uns ausgelöst werden. Eine neue Empfindung, die zunächst nur eine „Veränderung an uns"87 ist, löst quasi ein Suchprogramm aus - Veränderung ist prinzipiell interpretationsauslösend, weil deutungsbedürftig - ; und die bewußte Deutung, deren Resultat das Prädikat ist, macht davon einen sehr geringen Teil aus. Das Prädikat löst wiederum den kausalitätsmotivierten syntaktischen oder urteilenden Prozeß aus, dessen Ergebnis eine gefundene Ursache ist, die ein Ding/Gegenstand, ein Ereignis oder sonst ein Vorgang sein kann. Wir wählen in Anlehnung an Nietzsches Beispielsatz (vid. infra) das Prädikat leuchten, um den Vorgang der Urteilsbildung zu rekonstruieren. Zunächst wird die subjektive Veränderung am Erlebnissubjekt, die das Leuchten ausgelöst hat, durch schon etablierte Empfindungsprädikate identifiziert, sodann wird (aufgrund der Kausalprojektion) eine Ursache der Veränderung fingiert: die „Wirkung" wird „als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes"88. Zu dem Leuchten wird ein „Urheber"89 gesucht, der dem Prädikat als Hypokeimenon zugrundegelegt wird, wie Nietzsches Beispielsatz: „der Blitz leuchtet" illustriert. An sich ist der Blitz nur Leuchten·, aber wir müssen gleichsam zwanghaft einen Urheber unterstellen. Diese Projektion setzt die Ur-Teilung, die im Urteilsschema S ist Ρ ihren formalen Ausdruck findet. Wir stellen im Urteil eine Empfindung „an uns" aus uns heraus, die wir dann „.an-sich"' 9 0 setzen. Das Urteil objektiviert und entäußert, was an uns ist - und diese Entäußerung ist die Voraussetzung, daß ich die nun qualifizierte Empfindung als meine mir zuschreiben kann; ich nehme das aus mir Herausgestellte in meinen Besitz. Mit der Inbesitznahme werden mir dann auch Empfindungen bewußt: ich werde so Subjekt meiner Empfindungen. Wir müssen uns erst entfremden, um zu uns kommen zu können. Auf dieser Grundlage ist es auch möglich, sich in einem FraMiibewußtsein spiegeln zu können. Die Urteilsfunktion läßt sich völlig stringent auf Nietzsches Bewußtseinstheorie hin interpretieren: urteilen erweist sich als eine weitere Ermöglichung der Gemeinschaftsbildung, zu der Bewußtsein in Funktion steht. Erst wenn wir uns unter einem Urteilsschema begreifen, unter dem etwas als etwas gewußt wird, können wir das Gefühlte, Empfundene, Gedachte, Begriffene auf uns als Subjekte beziehen. Wir verstehen uns unter diesem Schema als Subjekte, wenn wir in/mit ihm sagen können: Jch den85 86 87 88 89 90
Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [15] ), p. 635. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 184] ), p. 103. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 184] ), p. 103. Ibid. Ibid.
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ke, fühle, empfinde, weiß."- Das Urteils-Schema ist fur Nietzsche auch das Schema der Referenzialität, denn unter seiner Leitung suchen wir nach (ontischen) Einheiten als Kandidaten für die Besetzung der Subjektstelle. Das Schema, kann man sagen, ist der formale Ausdruck unserer Deutungsnatur (Hogrebe).91 Die vorbewußten Operationen des Urintellekts und die bewußten Operationen des urteilenden (mit Zeichen operierenden) Denkens haben in folgender Hinsicht die gleichen Funktionen: Reduktion und Entindividualisierung auf Komprehensionsbasis. In heutiger Terminologie ausgedrückt findet auf beiden Ebenen eine Art Klassenbildung statt: die Zuordnung von Elementen zu einer Klasse aufgrund ein oder mehrerer Merkmale.92 Nietzsche bestreitet nun aber, daß auch nur zwei Dinge in einer einzigen Eigenschaft sich gleichen, denn die Prädikate, unter die subsumiert wird, sind selbst durch Anähnlichung (Assimilation) hervorgegangen und stellen keine fixe Bedeutimg; sie wandeln sich ebenso wie alles, was Bedeutung hat. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einem „beständigen [Hervorhebung - E.S.] Unterstreichen des Gewohnten"93 nach einer vagen Ähnlichkeitsrelation. Man kann nach dieser Auflassung nicht von einem semantisch eindeutig festgelegten Prädikationspotential ausgehen. Die Prädikatbegriffe, die ja genauer gesagt Empfindungsbegriffe sind, stehen mit unserer Leiborganisation in Verbindung und ändern sich daher auch permanent, so daß letztlich jede Prädikation eine gestaltende Kraft erfordert, die man funktional als künstliche Reduktion und Entindividuation (Subsumtion) bezeichnen kann. Demgemäß ist auch die Bildung von Klassen kein rein logisch operatives Verfahren, sondern ein aktives Gestalten, das aber nicht ins Bewußtsein fallen muß; sie geht ja als Ur-Urteil dem logischen Urteil ermöglichend voraus. Das bewußte Urteilen baut auf die gestaltende Vermittlung auf, dergestalt, daß die Empfindungen nun als Eigenschaften von Dingen interpretiert werden. „Zuletzt begreifen wir: ein Ding ist eine Summe von Erregungen in uns: weil wir aber nichts Festes sind, ist ein Ding auch keine Summe. Und je mehr wir Festigkeit in die Dinge zu legen wissen, "94 - um so substantieller begreifen wir uns als Subjekt - wäre hier zu ergänzen. Es sind die qualifizierten (beurteilten) Empfindungen, die uns bewußt werden, also Empfindungen, die eine durch das Urteilsschema bereitgestellte (ermöglichte) Argumentstelle besetzt haben und mit einer sog.''Prädikatempfindung', die im Gedächtnis gespeichert war, verknüpft worden ist. Das Gedächtnis gibt, wie wir wissen, die Inhalte in Form von (symbolischen)
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Hogrebe ist in diesem Punkt anderer Ansicht als Nietzsche. Die „indefinite Bezüglichkeit (...) hangt nicht an einer Form der Grammatik" (W. Hogrebe, MuM, op. cit, p. 43). 92 Bevor der Vergleich stattfinden kann, muB zuvor geurteih worden sein, so daß die x, für die f (x) gilt, einer Klasse zugeordnet werden können. Formal: λχ {f (x)}. Dabei ist ,,λ" der Abstraktor oder auch Komprehemor. 93 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [15] ), p. 635. 94 Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (10 [F 100] ), p. 438.
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Zeichen93, die das urteilende Denken in Beziehung setzt. Mit Hilfe des Schemas lassen sich natürlich auch Begriffe - etwa Begriffe zur Verdeutlichung von Prädikatbegriffen - verknüpfen, Subsumtionen von inhaltsarmen Begriffen unter noch abstraktere (Klassenbildung) vornehmen, um schließlich über immer mehr Zeichen Herr zu werden (Extensionalisiemng). Durch das Operieren in/mit Zeichen werden wir uns unserer Selbst „immer schärfer" „bewußt"96. Das Bewußtsein ist, wie Simon hervorhebt, „als solches Zeichenbewußtsein"97, und von daher an Vermittlungsstrukturen geknüpft, die durch reduktionistische Zeichenverbindungen seine Aufhellung bewirken. In diesem Sinne kann man von dem Urteilsschema als von einem Reduktionskalkül sprechen, dessen Anwendung selbst nicht bewußt gehandhabt wird, so daß das Wenige, das bewußt wird, um so klarer hervortreten kann. Das Bewußtsein ist sui generis AVasye/i-Bewußtsein, im logischen, wie auch im soziologischen Sinne.
§17 Das Bewußtsein und die Grundlagen und Funktionen der Logik Nietzsches Auseinandersetzung mit der Logik ist vorwiegend metakritischer Natur; sie richtet sich primär gegen die logischen Prinzipien oder Axiome, wie das Identitätsprinzip, das Nichtwiderspruchsprinzip und das Prinzip des auszuschließenden Dritten. Seine Kritik zielt ferner auf den von Seiten der Logik erhobenen Anspruch, daß das Denken am Leitfaden der formalen Vernunft ein „Criterium der Wahrheit" (Nachlaß, KSA13, (14 [153] ), p. 336.) an die Hand bekomme. Nietzsche sucht diesen Anspruch zu relativieren, indem er die in den logischen Grundsätzen oder Axiomen zum Ausdruck gebrachten Prinzipien auf die (diesen noch vorgelagerten) außerlogischen Voraussetzungen ontologischer und biologischer Provenienz zurückführt, die es ihm dann erlauben, auch die Logik genealogisch in Augenschein zu nehmen und sie unter der Kategorie der Zweckmäßigkeit zu betrachten. Kaum ein abendländischer Philosoph dürfte den Zusammenhang zwischen der Genese des Bewußtseins, seiner Entwicklung und der Entwicklung der Logik so scharf gesehen haben wie Nietzsche. Der für das Bewußtwerden konstitutive Zeichengebrauch zum Zwecke der Merkbarkeit (Gedächtnis) und der Mitteilbarkeit erfahrt im logischen Denken noch einmal eine Steigerung und ist nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Möglichkeiten des Bewußtseins, besonders seiner reduktionistischen Funktion im Hinblick auf die Akzeleration kommunikativer Interaktionen zum Zwecke der Leistungssteigerung gesellschaftlicher Organisationen.
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Zur Erinnerung cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (5 [80] ), p. 113: „(...) Denken ist Symbolerinnerung (...). Denken d.h. bewußtes Vorstellen ist nichts als die Vergegenwärtigung von (...) Sprachsymbolen." (ibid.) Nietzsche, FW, KSA3, Nr. 354, p. 592. J. Simon, Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche, op. cit., p. 22 sq.
Das Bewußtsein und die Grundlagen und Funktionen der Logik
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Nietzsche begibt sich mit dieser Ansicht, wie unten noch eingehender zu zeigen sein wird, in eine problematische Position, denn er denkt hier in spekulativer Weise die Wirklichkeit gegenüber den Zeichen von der Wirklichkeit reicher. Was uns aber die Wirklichkeit sein kann, ist sie nur über die Zeichenvermittlung, alles andere wäre die Annahme einer Wirklichkeit an sich. Wie das Bewußtsein in seiner generellen Funktion in bezug auf ein wirkliches, in seiner Komplexität unfaßbares Geschehen reagiert, so ist auch die Logik als der höchste Ausdruck der reduktionisti sehen 'Entwicklung' ein „Simplifications-Apparat" (Nachlaß, KSA11, (34 [249] ), p. 505), der, so die im begrifflichen Denken waltende Miktion" (ibid.), »alle Affekte, alles Fühlen und Wollen" (ibid.) ausfiltriert (ibid.) so daß der reine Gedanke übrigbleibt. Die Logik operiert in einem „Schema", das einer „regulativen Fiktion"' entspricht, die Ausdruck eines „Grundwillens" zur Effizienzsteigerung der ,¿fittheilbarkeit und Merkbarkeit1 ist. Sie setzt so konsequent fort, was im Bewußtsein von seinen Möglichkeiten schon genuin angelegt ist, und sich mit den Begriffen der Mitteilbarkeit, der Merkbarkeit und der Abbreviaturfähigkeit - eben durch alles, was den Zeichengebrauch charakterisiert - zusammenfassen läßt. Die Ausbildung des logischen Denkens dient der Beherrschung von Zeichen und der Reduktion von Zeichen auf Zeichen, von Zeichen auf Symbole. Die Logik war nach Nietzsche ursprünglich „als Erleichterung gemeint"3 ; denn die „Wirklichkeit" komme in ihr „gar nicht vor, nicht einmal als Problem"4. Die in ihr vorherrschende „Deutlichkeit"5 darf nicht als Wahrheitskriterium mißverstanden werden, sie ist nur Ausruck einer Jeichtere(n) Denkweise."6 „Physiologen" und „Philosophen" haben die im logischen Denken implizierte Bewußtseinshelligkeit (Deutlichkeit) mit Wahrheit und Evidenz identifiziert, so als „sei das hellste Bewußtsein, das logischste kälteste Denken ersten Ranges."7 Es ist aber das „oberflächlichste, vereinfachteste Denken"8, dessen „Werth" in seiner Nützlichkeit und nicht in seiner Wahrheit liegt. Die hohe Bewußtheit, die das logische Denken charakterisiert, verdankt sich, wie gesehen, der Ausklammerung von Gefühlen und Affekten und dem Umstand, daß die Wirklichkeit in diesem symbolverknüpfenden Denken überhaupt nicht mehr vorkommt. Das logische Denken suggeriert, daß in einem Bewußtsein prinzipiell alles miteinander in einem Kausalnexus steht, daß ein Gedanke aus einem anderen und alle untereinander mit (logischer) Notwendigkeit ableitbar sind, und daß ein Gedanke einen anderen kausal (mit naturgesezlicher Notwen1 2
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Ibid. Ibid.- In der Logik waltet ein Wille, der uns „das geistige Geschehen einfacher denken" (ibid.) läßt, als es in Wirklichkeit ist Dieser Wille zur Simplifizierung ist ein Wille zur Macht. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (18 [13] ), p. 336. Nietzsche, GD. Die Vernunft in der Philosophie, KSA6, Nr. 3, p. 76.- Cf. auch Nachlaß, KSA9, (7 152] ). Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (18 [13] ), p. 535. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (5 [68] ), p. 210. Ibid.
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Das Bewußtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
digkeit) hervorbringen kann, wenn man eben nur logisch denkt. Das logische Denken präferiert ein Bewußtseinsmodell prinzipiell durchgängiger Erkennbarkeit, prinzipiell durchgängiger nomothetischer Durchschaubarkeit und stärkt den optimistischen Glauben einer Bewußtseinssteigerung und Bewußtseinsentwicklung mit zunehmender Logisierung (der in gewisser Weise die Technisierung entspricht) der Welt und des Menschen.9 Nietzsche geht im Gegensatz zu diesem durch den logischen Zeichengebrauch verursachten Glauben einer logischen Verknüpfung von Gedanken nun davon aus, daß „alles Nacheinander im Bewußtsein" „vollkommen atomistisch"10 ist. Daß sie in einer durchgängigen Verbindung stehen, ist eine nachgeschobene Interpretation, die, wie zu zeigen sein wird, auf Postulaten beruht, die in die überlieferten logischen Grundannahmen eingegangen sind. Die Logik dient nach Nietzsche zwar der Vereinfachung, aber so einfach zu denken erfordert eine Kraftanstrengung: Affekte, Gefühle und die Inhalte, die mit den Zeichen assoziiert oder verbunden werden, müssen („mit fester Hand") zurückgedrängt werden; denn auch unser 'armes' Bewußtsein ist reicher, als es die Logik zulassen darf. Das helle Bewußtsein, um uns der Lichtmetaphorik zu bedienen, ist, gemäß Nietzsches kritischem Ansatz, das ärmste und restringierteste, d.h. auch: das majorisierteste, weil am meisten durchschaubare und dadurch zugreifbare Bewußtsein. Wir glauben uns selbst und andere im logischen Denken durchsichtig. Das logische Denken erfüllt demnach im höchsten Maße die Funktion, derentwillen Bewußtsein sich ausgebildet hat.- Durch die Logik „betrachten" wir „das geistige Geschehen" so, „als ob es dem Schema" einer Regulativen Fiktion entspräche"" ; wir glauben, uns unter dem Schema am besten zu verstehen und über dieses Schema zu einer Optimierung einer gemeinsamen Welts/cA/ zu gelangen. Die regulative Fiktion" ist das Apriori des Bewußtseins und gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit der Durchsetzung einer konstruktivistischen Weltsicht, die zweckmäßig für eine Naturbeherrschung (etwa durch die Technik) ist, und die für Nietzsche eine weitere Konsequenz der im logischen Denken angelegten Mechanisierung bedeutet. Es ist wichtig zu begreifen, daß die Durchschaubarkeit des Menschen in einem funktionalen Zusammenhang zur Ausbeutung der Natur steht. In dem Maße, wie wir intersubjektiv berechenbar (durchschaubar) werden, in dem Maße gelingt die gemeinsame Inbesitz-
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Von einer Bewußtseinsentwicklung durch den Zeichengebrauch spricht auch Nietzsche, aber man muß sich vergegenwärtigen, daß er diese Entwicklung sehr kritisch bewertet; sie kann, wie schon erwähnt, sich zur Krankheit auswachsen. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [152] ), p. 335.- Diese Ansicht entspricht der im Jahre 1873 entwikkelten „Zeitatomenlehre" (cf. Nachlaß, KSA7, (26 [12] )).- Sowenig die Zeit ein „continuum" (ibid.) ist, sowenig gibt es für ihn eine durchgängige logische und/oder kausale Verknüpfung (vid. supra Kap. III, §11.3).- Nietzsche schreibt: „Wir glauben, daß Gedanke und Gedanke, wie sie in uns nacheinander folgen, in irgend einer causalen Verkettung stehen: der Logiker in Sonderheit, der thatsächlich von lauter Fällen redet, die niemals in der Wirklichkeit vorkommen, hat sich an das Voruitheil gewöhnt, daß Gedanken Gedanken verursachen, - er nennt das - Denken." (Nietzsche, Nachlaß, KS Al 3, (14 [152] ), p. 335) - Cf. dazu auch: Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (15 [90] ); KSA11, (34 [123] ); (34 [170] ). Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (34 [249] ), p. 505.
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nähme (Ausbeutung) der Natur12 - eben durch die gemeinsame Fiktion dessen, was diese sein soll. In dem jeweiligen NaturbegrifF sind die Bedürfnisse der von Nietzsche so genannten großen Organismen schon eingeflossen. In dem „im Wesen der Logik verborgen liegende(n) Optimismus" - in der „Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel" - sieht Nietzsche den „Untergrund unserer Cultur"13. In der Berechenbarkeit des Menschen und der Natur zeigt sich der Wille zur Macht als Wille zur Vereinfachung, der entgegen allen Gefühlen, Affekten, gegen allen individuellen Reichtum des Menschen und der Natur gewaltsam Formen durchsetzt, die den Simplifizierungen des menschlichen Bewußtseins entsprechen. Nietzsche sucht seinem Anliegen, den in der Logik waltenden Glauben, in ihr ein unerschütterliches Fundament des zumindest formal-richtigen Denkens zu haben, zu relativieren, durch den Aufweis ihrer prdlogischen Voraussetzungen nachzukommen. Was er dadurch nachzuweisen versucht, hat R. Eisler sehr prägnant auf den Punkt gebracht; er will zeigen, daß die „Logik aus der Unlogik entstanden ist."14 Das läßt sich am besten nachvollziehen, wenn man Nietzsches Kritik an den logischen Grundsätzen verfolgt: „Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es giebt identische Fälle. Thats&chlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung erst als erfüllt fingirt werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens vorgenommen ist" 15
F. Kaulbach weist zu recht darauf hin, „daß es nicht die Logik als solche ist, die die identischen Fälle hervorbringt", daß „die Dimension, von der her die logische Grundbedingung erklärbar ist", im „Vor-bewußten und Prälogischen"16 liegt. Dem Gleichsetzen und Gleichsehen auf der logischen Ebene entspricht auf der biologischen die Assimilationsbedingung: „daß das Plasma fortwährend, was es sich aneignet, sich gleich macht und in seine Formen und Reihen einordnet."17 Gelegentlich bezeichnet er auch das „logische Denken" als „Mittel (...) für die Assimilation, für das Sehen-wo/Ze/i identischer Fälle."18 Der entscheidende Gedanke ist der, daß, bevor das logische Denken überhaupt einsetzen kann, das 12
Mit Sinn fürs Dramatische kann man Zivilisationen, legt man Nietzsches Modell zugrunde, auch als große Killerorganismen bezeichnen. 13 Nietzsche, GT, KSA1, Nr. 18, p. 118; cf. ibid, p. 101. 14 R. Eisler, Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik, op. cit., p. 31. 15 Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 813] ), p. 633 sq. 16 F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, p. 149. 17 Nietzsche, Nachlaß, KS Al 2, (7 [9] ), p. 296.- Das Sehen identischer Fälle ist auf biologischer Basis ein lebensnotwendiger Fälschungsprozeß, der als Bedingung der Nahrungsaufnahme unerläßlich ist „So ist es nur möglich", schreibt J.M. Werner, „die notwendige Nahrung zu finden, wenn alles Eßbare auch als Nahrung erkannt wird, d.h. alle konkreten Verschiedenheiten, die sich zur Absicht des Lebens zufällig verhalten, müssen ausgelassen und nur (...) das Nahrhafte darf anerkannt werden." Ein „Leben, das nicht immer wieder etwas Verschiedenes als etwas Gleiches anspricht, muß zugrundegehen." (J.M. Werner, Erkenntnis und Wahrheit. Nietzsches Destruktion der Erkenntnistheorie als Konsequenz des Verlustes verbindlicher Wahrheit, Frankfurt/M/Bem/New York 1986, p. 80). 18 Nietzsche, Nachlaß, KSAU, (40 [33] ), p. 64}.- „Vor der Logik, welche Oberali mit Gleichungen arbeitet, muß das Gleichmachen, das Assimiliren gewaltet haben: und es waltet noch fort (...)." (ibid.)
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„Gleichmachen" (die „Assimilation") schon geleistet sein muß und daß dieses Gleichmachen, das Setzen identischer Fälle, auf einer verfälschenden Fiktion beruht; mit anderen Worten: „bevor (...) gedacht wurde, muß schon gedichtet worden sein, der formende [= alogische] Sinn ist ursprünglicher als der .denkende'"1®. Der „formende Sinn" fingiert ein „Sich-selbst-identisches A (...), wie es jeder Satz der Logik (...) voraussetzt"20, und zwar ist dieses „A der Logik" „wie das Atom eine Nachkonstruktion des .Dings' " } l , d.h. der Subjekt-Substanz, die als Ursache gedacht ist. Es ist der „Glaube an Dinge (...) die Voraussetzung für den Glauben an die Logik."22 Die Voraussetzung der Logik, sowie des Denkens überhaupt, ist, daß es Dinge (diskriminierte Einheiten) gibt (= UrFälschung); eine weitere Voraussetzung der Logik und des Denkens sieht Nietzsche darin, daß es gleiche Dinge gibt. „Die Wurzel des Verstandes" ist nicht „A = A", sondern „A = B": „der Glaube, daß zwei gleiche Dinge da sind"23 ; d.h. daß es identische Fälle gibt. Die Logik erweist sich als die konsequente Fortführung des Assimilationsgeschehens auf anderer Ebene (die noch nicht ins Bewußtsein fallen muß). Es besteht für Nietzsche eine „subjektive Nöthigung, an die Logik zu glauben", „ihre Postulate in das Geschehen" .hineinzulegen' 24 , ohne daß „uns die Logik selber zum Bewußtsein"25 kommen müßte. Das ist ein Hinweis darauf, daß die Logik in ihren „Postulaten" und Voraussetzungen vorbewußten Ursprungs ist, daß wir vorbewußt und sogar abewußt immer schon in gewisser Weise logisch sind. Daß wir uns ihrer bewußt geworden sind, beruht auf derselben „Nöthigung", die das Denken und „die ganze Bewußtheit"26 hervorgebracht hat: die „Nöthigung, sich zu verständigen"27. Erst im zwischenmenschlichen Verkehr wird uns bewußt, was uns vorbewußt zu dem „Mit-Dasein" hingeführt hat. Erst jetzt kommen uns - nachträglich - ihre Prinzipien und Grundsätze zu Bewußtsein, nur daß wir die Ursachen dieser Prinzipien fälschlicherweise im Bewußtsein suchen und so zu ihrer Hypostasierung beitragen, die verdrängt, daß sie nur „zu einer nützlichen Fälschung"M dienen. Die logischen Grundsätze (Satz von der Identität29, Satz vom auszuschließenden Widerspruch30, Satz vom ausgeschlossenen Dritten31) gelten Nietzsche nicht als wahrheitsgültige Vernunftformen, sondern als Imperative, um „auf (...) kluge 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (40 [17] ), p. 636. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 2, (9 [97] ), p. 389. Ibid., p. 390. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA9, (6 [156] ), p. 236. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [144] ), p. 418. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA11,30 [10] ), p. 356. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA13., (14 [153] ), p. 336. Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [97] ). Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [97] );Nachlaß, KSA13, (14 [153] ). Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [97] ).
Das Bewußtsein und die Gmndlagen und Funktionen der Logik
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Weise die Realität mißzuverstehen ,.."32 Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (Α ν -ι A; tertium non datur) drückt „keine .Notwendigkeit* aus, sondern nur ein Nicht-vermögen"\ „dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns"33, heißt es lapidar.34 Der Satz der Identität (A = A) gründet bereits auf der „Scheinbarkeit", daß es ein „Sich-selbst-identisches A"3S gibt. Nietzsche führt das Identitätsprinzip auf eine exsistenzsichernde Nötigung zurück und kann so ein logisches Prinzip ontologisch deuten: in dem Grundsatz der Identität kommt uns unsere Exsistenzbedingung zu Bewußtsein: wir müssen Dinge als identisch fingieren, um als 'Raubtiere' überleben zu können. Als Raubtiere können wir nur in einer ontologisierten Welt, in einer Welt mit starren Dingen leben.- Auch der Satz vom zuvermeidenden Widerspruch (-. (Α α -ι A)) „enthält (...) kein Kriterium der Wahrheit"·, es ist lediglich ein Jmperativ über das, was als wahr
gelten soll".36 Die Unmöglichkeit, daß kontradiktorische Sätze zusammen wahr sein können, oder daß einem Gegenstand ein Prädikat zu- und gleichzeitig abgesprochen werden kann, interpretiert Nietzsche als „sensualistische(s) (...) Vorurtheil", dem gemäß wir „,nicht 2 entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben'" 37 können. Also auch im Nichtwiderspruchsprinzip sieht er ein gattungsübergreifendes, physiologisch bedingtes Unvermögen·, das Prinzip ist apriorischkontingent, notwendig nur in dem Sinne, daß es nicht möglich sein kann, daß es nicht in Anwendung ist. Mit anderen Worten: in den logischen Grundsätzen drücken sich keine unhintergehbaren Gesetzmäßigkeiten aus, deren Befolgung mit Notwendigkeit Wahrheit verbürgte, sondern nur regulative Glaubensartikel oder wie Eisler sagt:,¿formen für unser Denken."38 Mit dem so gewonnenen Befund zieht Nietzsche natürlich den Vorwurf des Psychologismus bzw. Biologismus auf sich, wenn er die Gesetze der Logik (und deren Axiome) psycho-physiologisch fundiert wissen will. Der Logik äquivalente Prozesse vollziehen sich, so die These, schon in transbewußten biologischen Vorgängen (Assimilation), die sich in den logischen Grundsätzen nur normativ fortschreiben. Logik als Disziplin ist die zu Bewußtsein gekommene Fortsetzung prälogischer exsistenzsichernder Vollzüge; sie begründet daher auch kein autarkes Reich der Wahrheit, sondern bleibt in bezug auf die Arterhaltung an Zwecke gebunden. Die in ihrem Gebrauch geglaubten Wahrheiten sind als Glaubensartikel auch nur im Sinne der Machtsteigerung zweckgebunden. 32 33 34
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Nietzsche, Nachlaß, KS Al 3, (14 [153] ), p. 337. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [9η ), p. 389. „Hier regiert das sensualistische grobe Voruitheil, daß die Empfindungen uns Wahrheiten Ober die Dinge lehren,- daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Ding sagen kann, es ist hart und es ist weich (...)." (Ibid., p. 390) Ibid., p. 389.- Vid. supra.- „Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den .Augenschein', daß es gleiche Dinge giebt Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht .begriffen', nicht .erkannt' werden". (Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (36 [23]), p. 561) Ibid. Ibid., p. 390.· Nietzsche wendet sich in dieser Textpassage ausdrücklich an die aristotelische Bestimmung, daß auf den Satz vom Widerspruch „alle BeweisfÜhning zurückgehn, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt (...)." (ibid., p. 389) - Cf. Aristoteles, Metaphysik, Γ 4, 1006a 5 sqq. R. Eisler, Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik, op. cit, p. 42.
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Das Bewußtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
Gegen eine psychologistische und biologistische Logiktheorie haben sich besonders Frege und Husserl gewandt. Nach Frege wird ein (logisch richtiger) Gedanke nicht, wie Nietzsche meint, geschaffen, „sondern" man „tritt nur zu ihm, der schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung (...)."39 Gedanken dieser Art sind zeitlos, unabhängig von psychischen oder biologischen Strukturen, unabhängig von einem menschlichen Bewußtsein40 und unabhängig davon, daß sie
faktisch gedacht -werden. Husserl bemerkt zwar, daß „Urteile als fertige Produkte" nach ihrer „.Konstitution' oder ,Genesis' (...) befragt werden"41 können, daß damit aber nur die „Genesis einer Bewußtseinsweise und nicht eine logische Darstellung"42 ins Auge gefaßt sei. Wir wählen hier Freges Theorie der logischen Gegenstände, weil sie der Nietzschischen Position diametral entgegengesetzt ist, und somit diese scharf zu konturieren vermag. Freges Logiktheorie, die logischen Gegenständen eine überindividuelle, überzeitliche, objektive, bewußtseinsunabhängige ideale Existenz zuspricht, scheint genau die Position, die Nietzsche vehement angreift: die Logik sei ein von allem Denken unabhäniges Reich der Wahrheit.- Frege schreibt: „,2 mal 2 ist 4' bleibt wahr, auch wenn infolge darwinscher Entwicklung alle Menschen dahin kämen zu behaupten [,] 2 mal 2 sei 5. Jede Wahrheit ist ewig und unabhängig davon, ob sie gedacht werde, und von der psychologischen Beschaffenheit dessen, der sie denkt."43 - Nietzsche dagegen sieht in der „Logik", der „Geometrie und Arithmetik"44 die konsequente Weiterführung der auf biologischer Ebene schon wirksamen Verfälschungsmechanismen und Irrtümer. Die „Logik (wie die Geometrie und Arithmetik) gilt nur von fingirten Wahrheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch, nach einem uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns
formulierbar, berechenbar zu machen ,.."45 Auch die Wahrheit ist für Nietzsche kein An-sich, nichts, „was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre"46, wie es bei Frege gedacht ist, sondern ein „processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, nicht ein Bewußtwerden (Hervorhebung - E.S.] von etwas, ,an 39
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G. Frege, „Der Gedanke", In: Logische Untersuchungen, ed. et intro. G. Patzig, Göttingen 21976, pp. 30 - 53, p. 44, Anm. „So kann ich denn auch den Gedanken als unabhängig von mir anerkennen, den auch andere Menschen ebenso wie ich fassen können." (ibid., p. 49) Cf. Th. Seebohm, Philosophie der Logik, Freiburg/München 1984, p. 42: „Für den subjektiven Konzeptualismus sind logische Gegenstände Gegenstände in mente, weswegen er auch als Mentalismus bezeichnet wird. Wird mens als empirisch gegeben aufgefaßt, so entwickelt sich subjektiver Konzeptualismus zum Psychologismus, der unhaltbar scheint, weil er 1) dem Oberindividuell objektiven Charakter logischer Gegenstände nicht Rechnung trägt und 2) den Versuch macht, logische Wahrheiten durch Rückgang auf faktische Wahrheit zu begründen."- Der Psychologismus muß im Vergleich zu Nietzsches Biologismus geradezu harmlos genannt werden. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (= Husserliana Bd. XVII, ed. P. Janssen), Den Haag 1974, p. 215. L. Eley, Philosophie der Logik, Darmstadt 1985 (= Erträge der Forschung, Bd. 230), Vorwort, p. XX. G. Frege, [„17 Kemsätze zur Logik" - geschrieben vor 1892 ], in: G. Frege, Schriften zur Logik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlaß, ed. G. Gabriel, Hamburg 21978, pp. 23 - 24, Kernsatz 11, p. 23. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [97] ), p. 391. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (9 [91] ), p. 385.
Das Bewußtsein und die Grundlagen und Funktionen der Logik
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sich' fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort fur den ,'Willen zur Macht'" 47 . Wahrheit ist ein Reflex der durch Simplifiziemng erreichten Bewußtseinshelligkeit, gemäß dem Cartesischen Diktum: „,omne illud verum est, quod clare et distincte percipitur'"4*. Die durch Reduktion erreichte „logische Bestimmtheit", die sich dem Bewußtsein als „Durchsichtigkeit" und Helligkeit darstellt, wird als „Kriterium der Wahrheit"49 mißverstanden. Nietzsches Position bleibt jedoch problematisch, wie sich an der Kernthese der fiktionalen Fälschung als Basis der Logik zeigen läßt. Auf die Bewußtseinsthematik übertragen bedeutet dies: das Bewußtsein ist dann am hellsten (am höchsten prädestiniert, apodiktische Evidenzen zu konstatieren und am wahrheitsgläubigsten), wenn es seiner Fälschungsfunktion (hier bezogen auf das bewußte Operieren mit Zeichen/Symbolen) am effektivsten nachkommt, wie es beim logischen Denken der Fall ist.- Es kann aber Nietzsche nicht darum gehen, die logischen Grundsätze für untauglich zu erklären, denn das hieße ja, die Möglichkeit der Bewußtseinsentwicklung, die ja in Korrelation zur Mitteilbarkeit steht, zu leugnen; denn, wenn der Satz vom auszuschließenden Widerspruch oder der Satz der Identität außer Kraft gesetzt würden, dann wäre nicht mal mehr eine sinnvolle Kommunikation möglich, und jegliche Mitteilung wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt.30 Diese Einsicht schlägt aber auch bei Nietzsche durch, wenn er die logischen Gesetze als Imperative oder als regulative Postulate verstanden wissen will.- Problematisch jedoch ist nach wie vor die These von der grundsätzlichen Verfälschung in allem logischen Denken überhaupt, weil sie in einem Bewußtsein, das auf diese Strukturen prinzipiell angewiesen bleibt, faktisch nicht entscheidbar ist, gleichgültig, ob diese wahrheitsstiftend oder, wie Nietzsche annimmt, verfälschend sind; wir bleiben hierin auf Evidenz angewiesen. Da Nietzsche jedoch unmittelbare Gewißheiten nicht gelten läßt - weil alles, was in einem Bewußtsein ist, vermittelt sein soll - , so dann natürlich auch nicht die These, daß alles in einem Bewußtsein unter der fiktionalen Direktive von logischen Gesetzen vermittelt/verfälscht ist. Was Bewußtsein seinem Begriff nach ist, ist in einem Bewußtsein dann auch nach dessen Möglichkeiten begriffen - und insofern auch zirkulär. In dieser Hinsicht ist das Kriterium für Wahrheit nicht in einer objektiven Sachhaltigkeit zu suchen, sondern in einem subjektiven Gefühl, das sich einem überschaubaren Zeichenbestand verdankt. Ein wesentliches Charakteristikum des Bewußtseins ist ja, wie herausgestellt, gerade die restringierende Begrenzung des
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ibid. Ibid., p. 386.- „Klar {clara)" ist eine „perceptio" (Erkenntnis), wenn sie „dem aufmerksamen Geist gegenwärtig und offenkundig" ist, „deutlich" (distincta) ist eine klare Erkenntnis, wenn sie darüber hinaus „von allen übrigen so getrennt und unterschieden ist, daß sie gar keine anderen als klare Merkmale in sich enthalt". (Cf. R. Descartes, Principia Philosophiae, in: Œuvre*, ed. C. Adam/P. Tannery, Paris 1964, Bd. Vili, I, Nr. 45 et 46) Nietzsche, Nachlaß, KS Al 2, (9 [91] ), p. 386. Cf. R. Eisler, Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik, op. cit, p. 42.
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Zeichenvorrates, mit dem dann in operativ-verknüpfender Weise Wahrheit hergestellt werden kann.
§18 Das Selbstbewußtsein. Nietzsche über die Möglichkeit der Selbsterkenntnis Selbstbewußtsein ist im neuzeitlichen Paradigma die Grundlage der Weltund Selbsterkenntnis, Objekt-Bewußtsein und Ich-Bewußtsein sind als prinzipiierende Instanzen aller Bewußtseinsinhalte verstanden, zu denen das Erkenntnissubjekt dann einen privilegierten oder gar unmittelbaren Zugang haben soll, weil diese ja insgesamt seine Inhalte sind. Nietzsches Kritik richtet sich nicht so sehr gegen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis - diese ist genauso illusionärer Natur, wie jede andere Erkenntnis auch - , sondern eher gegen den in diesem Namen erhobenen Status der unmittelbaren Gewißheit, der sich einem privilegierten Zugang zu den Inhalten des jeweiligen Bewußtseins verdanken soll; seine der philosophischen Tradition entgegengehaltene These lautet: Alles, was in einem Bewußtsein ist, ist sui generis vermittelt, es gibt keine „BewußtseinsThatsachen"1, die sich uns unmittelbar darböten, so als könnte hier ein „Text als Text abgelesen" werden, „ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen"2. Abel nennt die von Nietzsche kritisierte Haltung, die „These von der fundamentalistischen Selbstvergewisserung in einer reinen, vor-sprachlichen, vorbegrifflichen und iniQVpxziztions-unabhängigen inneren Erfahrung"3, einen „epistemologische(n) Fundamentalismus", der sich „als ein auf das neuzeitliche Subjekt herübergewanderter Platonismus"4 erweise. Was in einem Bewußtsein ist, kann nicht wie ein Urtext gelesen werden, der sich rein und unvermittelt erschlösse; wenn dies so wäre, dann wäre es kein Text, sondern ein Bewußtseintranszendentes. An „,unmittelbare Gewißheit(en)'" „glauben" dann für Nietzsche auch nur „noch harmlose Selbst-Beobachter", die sich von der Vorstellung leiten lassen, das „Erkennen" bekäme „hier" „seinen Gegenstand rein und nackt zu fassen"5. Nietzsche sieht in der Hypostasierung des „Bewußtseins" „als höchste erreichbare Form, als oberste Art Sein, als ,Gott'" 6 , einen „ungeheuren Fehlgriff' der „Philosophie", hier eine „ .wahre Welt' als geistige Welt" angesetzt zu haben, die uns über die „Bewußtseins-Thatsachen" „zugänglich"7 sei. Der Phänomenalismus der „,inneren Welt'" 8 begründet kein Reich unmittelbarer Gewißheit: 1 2 3 4 5 6 7 8
Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [146] ), p. 330. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 3, (15 [90] ), p. 460. G. Abel, Nominalismus und Interpretation, op. cit., p. 79. Ibid., p. 80. Nietzsche, JGB, Erstes Hauptstück, KSA5, Nr. 16, p. 29. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (14 [146] ), p. 330. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA13, (15 [90] ), p. 458.
Das Selbstbewußsein. Nietzsche Ober die Möglichkeit der Selbsterkenntnis
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auch hier ist alles interpretatorisch vermittelt, d.h. alles, was sich überhaupt über Bewußtseinsinhalte sagen läßt, sind lediglich „vorgestellte Vorstellung(en)"9 ; auch im je eigenen Bewußtsein ist alles „Erscheinung"10, und nirgends trifft man auf ein An-sich. Die Selbstbeobachtung stößt nicht auf transparente faktische Bewußtseinsbefunde, die sie objektiv vor sich bringen könnte - die „vorgestellte Vorstellung" ist nur eine Vorstellung mehr; eine „doppelte Spiegelung" und „nichts Unmittelbares."11 Nietzsche meldet aus diesen Überlegungen heraus ein „Mißtrauen gegen die Selbstbeobachtung"12 an, denn ob „ein Gedanke Ursache eines Gedankens" sein kann, ist für ihn „nicht festzustellen"13, weil wir keine Möglichkeit haben, innerhalb unseres Bewußtseins einen extra-bewußten Standpunkt einzunehmen, von dem aus wir eine privilegierte Perspektive einnehmen könnten. Wir sind keine objektiven Zuschauer unserer selbst, die in das theatrum internum nicht involviert wären, noch haben wir einen erleichterten Zugriff auf das Geschehen. „In der vermeintlichen Unmittelbarkeit und Reinheit der inneren Erfahrung", schreibt Abel, „trügt der ontologische Schein am subtilsten."14 Das Schema, unter dem wir uns als Selbstbewußtsein denken, ist das Schema der Substanz, dem der Glaube an ein ursächliches Ich inhäriert, das seine Gedanken denkt, und das sich darin unmittelbar seiner selbst gewiß ist. Mit der Erfüllung dieses Schemas in der Praxis, ohne die wir kein Bewußtsein von uns selbst haben könnten, bringen wir uns selbst unter die Ding-Perspektive; wir begreifen uns in dem Schema, mit dem wir auch Dinge begreifen, nur daß wir uns in bezug auf das Selbstbewußtsein zusätzlich als autonomer Grund unserer Gedanken glauben - und das bewirkt, daß wir mentale Zustände als unseren ureigensten Besitz ansehen, der uns dann natürlich auch unmittelbar zugänglich erscheint. Dabei ist nicht berücksichtigt, daß wir, wenn wir uns als etwas verstehen, wir uns unter dem Schema als etwas Allgemeines begreifen; wir bringen uns so nur unter das „Heerden-Bewußtsein"15. „Wir müssen uns", schreibt Simon, „als etwas Allgemeines, als ,ich', als das sich alle bezeichnen, denken, wenn wir uns überhaupt denken wollen (...). Nur unter Opferung der Individualität kann sich ein Individuum zur Sprache und zum Bewußtsein seiner selbst bringen."16 Es kann fur Nietzsche schon deshalb keinen unmittelbaren Zugang zu uns selbst geben, weil wir aus unserem „Bewusstseinszimmer"17 nicht herauskönnen; und wir sind unfähig, uns „wie in eine(m) erleuchteten Glaskasten zu percipiren"18 - insofern ist das Bewußtsein absolut. Das heißt: alle Versuche der Selbsterkenntnis sind perspektivisch an die Möglichkeiten des bewußten Denkens und 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Cf. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [49] ), p. 161. Ibid. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (1 [54] ), p. 24. Nietzsche, Nachlaß, KSA12, (2 [103] ), p. 112. Ibid. G. Abel, Nominalismus und Interpretation, op. cit., p. 80. Nietzsche, Nachlaß, KSA11, (26 [157] ), p. 190. J. Simon, Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche, op. cit., p. 75. Nietzsche, WL, KSA1, p. 877. Ibid.
136
Das BewuBtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
Vorstellens gebunden: für die Selbsterkenntnis gelten dieselben Bedingungen wie für das Erkennen überhaupt (= Selbstbewußtsein ist eine Vorstellung mehr). Der Glaube an einen privilegierten Zugang verdankt sich der Vorstellung, wir seien Subjekte, einer Vorstellung also, die prinzipiell wieder jedem bewußten Denken zugrundeliegt. Halten wir als Befund fest, daß Nietzsche kein Verfechter des Reflexionsmodells des Selbstbewußtseins sein kann, der davon ausgeht, man könne auf seine mentalen Zustände einen objektiven Blick werfen. Das Reflexionsmodell fuhrt darüber hinaus, wenn man es konsequent denkt, in einen infiniten Regreß. Nietzsche warnt geradezu vor der Möglichkeit einer schonungslosen Selbsterkenntnis; wir könnten dann eine Ahnung davon bekommen, „dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit des Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend."" Vor dieser Ahnung bewahrt uns ein „stolzes gauklerisches Bewußtsein"20, das uns vor den eigenen und der Welt Abgründe schützt, indem es den Zugang zur Wirklichkeit (den Ausgang aus dem „Bewußtseinszimmer") unaufliebbar verstellt. Nicht Selbsterkenntnis ist die eigentliche Aufgabe des bewußten Denkens, sondern die Selbsttäuschung. Wir träumen, wenn wir uns unserer selbst bewußt sind, wach zu sein, ohne dabei aus unserer Traumperspektive heraus zu können. Wir sind die Träumer und die Geträumten gleichermaßen.- Wie schon angesprochen, plädiert Nietzsche in Anlehnung an die „Vedanta-Philosophie" fur die Möglichkeit, „einer Scheinexistenz des Subjekts"21. In der Vedanta-Philosophie ist es das „Selbst" (Âtman), das im traumlosen Tiefschlaf22 noch „Zeuge (sâkshin), d.h. das Subjekt aller Erkenntnis ist"23. „Die einzige Möglichkeit", schreibt H.v. Glasenapp, „es zu erfassen, bietet die religiöse Versenkung"24 - bei Nietzsche ist es der Rausch oder die Ekstase. Auch Nietzsche spricht im Zarathustra vom „Selbst" als dem „Beherrscher des Ich's"25 ; es steht „hinter" den „Gedanken und Gefühlen", die ein „Umweg zu" seinem „Zwecke"26 sind. Das Selbst ist „ein Mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser", die „grosse Vernunft"27 des Leibes. Sein Ziel ist nicht die Ich-Fixierung, sondern das Über-sich-hinaus-Schafferi1*, das ekstatische Prinzip als der absolute Gegensatz zum Selbst-Bewußtsein. Nur in dem sich selbst nicht mehr reflektierenden ästhetischen „Schaffen", dem, so Nietzsche, „etwas Dunkles" und „Elementares" .anhaftet', „hat das 19 20 21 22 23
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Ibid. Ibid. Nietzsche, JGB, Drittes Hauptstück, KSA5, Nr. 54, p. 73. Cf. Chândogya-Upanishad, in: Upanishaden, trad. Α. Hillebrandt, Düsseldorf/Köln 1958, p. 129. H.v. Glasenapp, Die Philosophie der Inder. Eine Einßhrung in ihre Geschichte und ihre Lehren, Stuttgart '1974, p. 188. Ibid. Nietzsche, Za I, Von den Verächtern des Leibes, KS A4, p. 40. Ibid. Ibid. Cf ibid.
Das Selbstbewußsein. Nietzsche Ober die Möglichkeit der Selbsterkenntnis
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Selbstbewußtsein eine Binde vor den Augen."29 Individualität herrscht da vor, wo das schöpferische Subjekt in Selbstvergessenheit aus dem Fundus einer kollektiven Trieb-Seele schöpft, die ihre Bestände noch nicht als „Eigenthum"30 festgestellt hat. Der blinde Sänger Homer ist für Nietzsche das Vorbild des noch nicht sich selbst bewußtgewordenen Subjekts; er ist in diesem Verständnis noch Individuum, aber für sich selbst und für andere „undurchdringlich" (Hegel). Auch ftir Hegel ist die „unendliche Subjektivität", die „Freiheit des Selbstbewußtseins" erst „im Sokrates aufgegangen."31 Sokrates gilt Nietzsche als der Prototyp des theoretischen Menschen, des Zuschauers, der sich aus den lebensweltlichen Vollzügen glaubte herausnehmen zu können, der sich als Zuschauer reflektierte und sich in dieser Reflexion yrasetzte. Nietzsche sieht in der so gewonnenen Freiheit die Aufopferung der Individualität im Namen des Willens zur Macht und kommt zu einer anderen Bewertung der Selbstobjektivierung des Geistes, wie sie sich im Recht - und in diesem Zusammenhang auch im Eigentum - in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat niederschlagen, als etwa Hegel.32 Hegel sieht in der „absolut freien Vernunft*33 gegenüber dem „Bewußtsein" und „Selbstbewußtsein" „das Erste", in dem beide „Formen" ihre „ursprüngliche Einheit und Wahrheit34 haben. Im Selbstbewußtsein, „für welches Ich der Gegenstand ist"35, wird das bloße Gegenstandsbewußtsein zum Gegenstand, die „Sphäre des bloßen Bewußtseins (...) für uns", in die „Sphäre des Selbstbewußtseins" gehoben und wird so „für den Geist selbst."34 Der Übergang vom „Bewußtsein" über das ,¿Selbstbewußtsein" zur „Vernunft" erfolgt in „Stufen" der „Erhebung der Gewißheit zur Wahrheit"37. Die gesellschaftlichhistorische Entwicklung markiert selbst Stufen des Bewußtwerdens der Freiheit, spiegelt in Kunst, Religion und Philosophie die verschiedenen Formen des Selbstbewußtseins, die Momente des sich vollziehenden absoluten Selbstbewußtseins sind. Es ist für Hegel, ähnlich wie für Nietzsche, die Bildung des „Bewußtseins des Allgemeinen", das zur „Bildung des Selbstbewußtseins"38 führt, nur daß er - im Unterschied zu Nietzsche - darin die „Entwicklung der 29 30 31
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Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (2 [24] ), p. 54. Ibid. G.W.F Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke in 20 Bdn., ed. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Bd. 18, Frankfiirt/M 1986, p. 442. J. Simon betont, daß Hegel und Nietzsche „in ihrer philosophischen Einschätzung des Bewußtseins in vielem Obereinstimmen." (ders., Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche, op. cit., p. 77; cf auch p. 78 sq.) - Simon zitiert aus der Wissenschaft der Logik: „Erst dos reine Wissen, der Geist, der sich von seiner Erscheinung als Bewußtsein befreit hat, hat auch das freie, reine Sein zu seinem Anfang" (Hegel, Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke, Bd. 11, p. 34). „Erst dieser Geist ist nicht mehr", so Simon, „in der bestimmten Vorstellung gebunden, .Bewußtsein' nach einer bestimmten Vorstellung von sich zu sein." (ibid., p. 77) G.W.F. Hegel, Enzyklopädie III, Werke in 20 Bdn., ed. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Bd. 10, Frankfurt/M 1979, §417, p. 205. Ibid. Ibid., p. 204. Ibid., p. 205. Ibid., p. 204. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1, op. cit., p. 463.
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Das Bewußtsein und die epistemischen Leistungen des Subjekts
Vernunft" sieht, wie sie in der sokratischen Methode des Philosophierens sinnfällig wird. Nietzsche begreift demgegenüber die Entwicklung des Selbstbewußtseins nicht nur als eine Entwicklung der „kleinen Vernunft" - im Unterschied zur „großen Vernunft" des Leibes -, sondern sieht in dieser Entwicklung des Bewußtseins eine „Verderbnis", „Veroberflächlichung und Generalisation"39. Er kommt, obwohl inhaltlich in einigen Punkten mit Hegel übereinstimmend, doch zu einer ganz anderen Wertschätzung. So stimmen beide Denker in bezug auf den FreiheitsbegrifiT überein, insofern damit, wie Simon hervorhebt, ein „Freisein gegenüber einem festen, positiven Begriff von sich selbst oder von dem, ,was' man sein und wonach man sich ausrichten sollte, um seinen Begriff zu erfüllen"40, gemeint ist. Dennoch ist Freiheit bei Nietzsche eine Funktion, die dem Selbstbewußtsein transzendent bleibt; es kann nur an sie glauben, aber dieser Glaube entspringt nicht seiner autonomen Bestimmung, sondern ist fiktionale Funktionalität eines ihm Übergeordneten. Sich als freies Selbstbewußtsein zu verstehen hat nichts mit Vernunft zu tun - wenigstens nichts mit der „kleinen Vernunft" - ; es ist lediglich zweckmäßig für die Herdentauglichkeit, weil es in der Restriktion noch Freiwilligkeit vortäuscht. Der Glaube an die freie Subjektivität, die im Selbstbewußtsein gründet, ist eine List der „großen Vernunft", die im Sinne des Willens zur Macht handelt. Nur wo das Selbstbewußtsein „eine Binde vor den Augen"41 hat, wie etwa in elementaren, voibewußten schöpferischen Vollzügen, sieht Nietzsche noch rudimentäre Möglichkeiten, sich der Diktatur des Allgemeinen (der Bewußtseinsdiktatur) partiell zu entziehen. In diesen schöpferischen, ekstatischen Zuständen sind Vernunft, Freiheit, Eigentum thematisch suspendiert, wir haben hier die Individualität auf Kosten der Selbst-Bewußtheit zurückgewonnen. Mit Nietzsche ist aber auch gleichzeitig reflektiert, daß der ekstatische Zustand der Selbstvergessenheit nur noch als Grenzerfahrung möglich ist; wir können das Bewußtsein unserer selbst nicht bewußt ablegen, weil wir uns selbst in dieser Negation noch bestimmten.
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Nietzsche, FW V, Nr. 354, p. 593. J. Simon, Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche, op. cit., p. 79. Nietzsche, Nachlaß, KSA7, (2 [24] ), p. 54.
VI Das Verhältnis von Bewußtsein und Sprache
§19 Kommunikabilität und Existenzsicherung Die Aktualität Nietzsches verbindet sich, wie in der Einleitung schon erwähnt, mit gegenwärtigen philosophischen Neuansätzen, wie die Philosophie des Zeichens (Josef Simon und seine Schüler T. Borsche, W. Stegmaier u.a.), des Interpretationismus (G. Abel, H. Lenk u. z.T. auch J. Simon u.a.) und teilweise auch des Konstruktivismus und Interpretationskonstruktivismus, deren Vertreter - mit Ausnahme von H. Lenk - sich auf Nietzsche als Vordenker berufen können, wenngleich sie ihre Ansätze, über Nietzsche hinausgehend, weiterentwickelt haben. Ausgangspunkt bilden dabei Nietzsches sprachphilosophische Überlegungen, die in einem modernen Sinne den Charakter einer Ersten Philosophie haben, also Fragen betreffen, unter denen sich ontologische, epistemische, praktische und, wie bei Nietzsche auch nachweisbar, bewußtseinsphilosophische Aspekte aufschließen lassen. Kein Philosoph vor ihm hat die sprachphilosophische Thematik so eng an den Bewußtseinsbegriff geknüpft wie er; wenn es überhaupt einen Zugang zum Bewußtsein, zu seiner (möglichen) Struktur und seinen Funktionsweisen geben kann, dann - so seine These - nur über einen Begriff von Sprache und Grammatik. Das hat natürlich methodologische Konsequenzen: die Grenzen und Möglichkeiten unserer Sprache, in denen wir sinnvoll fragen können, was Bewußtsein/Bewußtheit sein soll, bildet gleichzeitig die Grenzen dessen, als was wir Bewußtsein überhaupt begreifen können. Nietzsches Bewußtseinsbegriff ist weniger in eine Anthropologie eingebettet, als vielmehr in sprachphilosophische Überlegungen. Wie schon erwähnt, versucht Nietzsche der „unsinnige(n) Überschätzung des Bewußtseins" relativierend entgegenzuwirken, indem er nach seiner Zweckmäßigkeit, nach seinem Wozu fragt. So stellt er die „Vermuthung" an, daß es sich „nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt hat1, das eine Folge des durch existentielle Gefahrdung und zum Zwecke der Machterweiterung veranlaßten Zusammenschlusses von Individuen ist. Der Mensch brauchte „als das gefahrdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines-Gleichen"2 - und erst
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Nietzsche, FW V, KSA3, Nr. 354, p. 591. Ibid.- In WL, KSA1, p. 877 dagegen heißt es, daß er „aus Nolh und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will".
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Das Verhältnis von Bewußtsein und Sprache
jetzt, als „sociales Thier"3, entstand das Bedürfnis, seine „Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen (...)."4 Nun wird Bewußtsein erforderlich, um die eigenen Bedürfnisse feststellen (fixieren) zu können; man muß nun „ .wissen' [,] was" einem „fehlt", wie einem „zu Muthe" ist, was man „denkt."5 Die BedürfnisBewußtwerdung impliziert eine Meinigkeits-Setzung, durch die das Subjekt die Sphäre möglicher Besitz-Relationen betritt. Die im sozialen Verbund forcierte Selbstbewußtwerdung legt den Grund für die Möglichkeit der Mitteilbarkeit defizitärer Zustände bzw. defizitärer Verhältnisse, bezogen auf ein Ich. Es besteht fur Nietzsche ein enger Zusammenhang zwischen bewußtem Denken, das sich „in Worten (...), in Mittheilungszeichen" vollzieht, und dem BesitzBegriff bzw. dem von Herrschaftsstrukturen und der moralischen Implikation, die a priori mit dem Gebrauch von Sprache verknüpft ist. In den „Sprachen" sieht er die „Nachklänge der ältesten Besitzergreifungen der Dinge, von Herrschenden und Denkern zugleich — : jedem gemünzten Wort lief der Befehl neben her, ,so soll das Ding nunmehr genannt werden!'" 6 Die Bezeichnung der Dinge durch das „Wort" legt fest, was überhaupt als potentieller Besitz in den (allgemeinen) Blick kommen soll. Eine derartige Taufsituation eröffnet instantan die rechtliche Besitzsphäre und die moralische Sphäre. Die Intentionalität der im Mitteilungszeichen gemeinten Sache baut sich im intersubjektiven Verkehr auf, denn das Wort, das die Besitzsphäre konstituieren soll, muß unter die Akzeptanz der Kommunikationsgemeinschaft fallen, also allgemeiner Begriff werden, d.h. anderen muß das Wort auch etwas bedeuten, so daß - intersubjektiv - der Glaube konstituiert werden kann, alle referierten auf dieselbe Sache, dasselbe Ding, dieselben Gedanken, Gefìihle usw.. Daß de facto mit einem Zeichen, das ja für etwas stehen soll, auch dasselbe vorgestellt oder verbunden werde, dafür lassen sich keine objektiven Kriterien angeben. Das Zeichen steht nur „anstelle der Sache" und „der Grund fur die zureichende Verdeutlichung" liegt „nicht", wie Simon ausführt, „in einer Übereinstimmung der Struktur des Wissens mit der Sache, sondern darin", „daß die Explikation im intersubjektiven Verkehr als hinreichend akzeptiert wird."7 Entscheidend für die Möglichkeit der Kommunikation ist, daß intersubjektiv an die „Identität" der „Bedeutung"8 geglaubt wird; denn nur unter dieser Voraussetzung vermag das Einzelbewußtsein sich als ein allgemeines (austauschbares) Bewußtsein zu verstehen; es ist nur unter dieser Bedingung ein Bewußtsein, wie Nietzsche es versteht.® Die Benennung der Dinge trägt, wie das obige Nietzsche-Zitat zeigt, einen moralisch-imperativischen Charakter, und zwar aus dem ersichtlichen Grund, 3 4 5 6 7 8 9
Nietzsche, W V , KS A3, Nr. 354, p. 592. Ibid., p. 591. Ibid., p. 592. Nietzsche, Nachlaß, KS Al 2, (2 [156] ), p. 142. J. Simon, Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche, op. cit., p. 25. Ibid. Simon schreibt dazu weiter: „ ,1m' Bewußtsein ist etwas, insofern es so in ihm ist, daß es auch in einem anderen Bewußtsein zu sein scheint, nämlich als die Vorstellung, die dem anderen als Grund dafür zugesprochen wird, daß er die Rede als hinreichend deutlich akzeptiert oder verstanden hat." (ibid.)
Kommunikabilitât und Existenzsjchening
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daß der Sprachgebrauch intersubjektiv kontrollierbar sein muß, denn er ermöglicht prinzipiell Zeichen anders zu gebrauchen als es die Konvention fordern muß. Mit dem Gebrauch von Sprache ist genuin die Möglichkeit gegeben zu lügen und sich mit Hilfe der Lüge gegenüber anderen einen Vorteil zu verschaffen, also zu schaden. Das Kriteriendefizit muß, damit der einzelne durchschaubar oder, wie Nietzsche sagt, „berechenbar" bleibt und als Kommunikationsteilnehmer dem Ganzen (der Herde) nicht verlorengeht (und sich selber auch nicht verliert), moralisch kompensiert werden, zumindest dem Versuch nach. Das Bewußtsein wird danach nicht nur sprachlich, sondern auch über den Sprachgebrauch moralisch ,/najorisirt [Hervorhebung - E.S.], andernfalls würde es seiner Funktion, um derentwillen es sich überhaupt ausgebildet hat, einen größeren gesellschaftlich-politischen Organismus zu bilden, nicht gerecht werden können. Mit der Gesellschaftsbildung wird eine neue Existenzweise begründet: der einzelne lebt nicht mehr naturhaft in der Welt, sondern referiert (mit anderen) auf eine gemeinsame Welt, die eine prinzipiell interpretatorisch konstituierte ist. Damit geht nach Nietzsche eine Machtverschiebung einher, weil nun nicht mehr die körperliche Physis die Machtstrukturen bestimmt, sondern der „Intellekt"; er dient nun „als (...) Mittel zur Erhaltung des Individuums" und „entfaltet"10 zu diesem Zweck „seine Hauptkräfte in der Verstellung"11, in der vorfeiV-suchenden Täuschung. (Das Verfälschen ist ja, wie wir herausgearbeitet haben, sein Prinzip - nur daß dieses Prinzip in der Praxis schadet, gilt es zu verhindern: so sollen dann, wie es in WL heißt, alle „in einem für alle verbindlichen Stile (...) lügen."12) Es sind nun die „schwächeren, weniger robusten Individuen"13, denen der „Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubthier-Gebiss zu fuhren versagt ist"14 ; es sind die Sprachbildner, die mangelnde Physis durch Intellekt kompensieren und so in Machtpositionen aufsteigen, indem sie durch die Benennung der Dinge mögliche Welten und Bewußtseinsräume erschließen. Sie sagen, was bewußt werden soll und darf. Ihre Herrschaft ist auf den gläsernen Menschen angewiesen, denn Schutz kann ihnen die Herde, innerhalb derer ein „bellum omnium contra omnes"15 herrscht, nur bieten, wenn diese durchschaubar und berechenbar bleibt, damit der Kampf von Seiten des Intellekts geführt werden kann. Die mit der „Gesetzgebung der Sprache"16 gleichzeitig erhobene Forderung, wahrhaftig zu sein, die Zeichen nur so zu gebrauchen, wie die Konvention sie festgelegt hat, um nicht zu schaden, kommt der Ausbildung des Gewissens gleich;, es entstand, als der Mensch „sich endgültig in den Bann der Gesellschaft
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Nietzsche, WL, KSA1, p. 876. Ibid. Ibid., p. 881. Ibid., p. 876. Ibid. Ibid., p. 877. Ibid.
142
Das Verhältnis von Bewußtsein und Sprache
und des Friedens eingeschlossen fand." 17 Die mit der Vergesellschaftung einhergehende Trieb-Entwertung mußte von nun an durch Bewußtseinsleistungen ersetzt werden, denn die „Halbthiere"18 hatten „für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr", „die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe,- sie waren auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combiniren von Ursachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen, auf ihr ,Bewusstsein', auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ!"19 Das Bewußtsein ermöglicht, daß der einzelne in ein Verhältnis zu sich selbst und seinen Handlungen treten kann. Dadurch werden, wie J. Mohr ausführt, „Akte der Selbstbeurteilung" und „vor allem der Selbstverurteilung möglich, die aus dem Spannungsverhältnis erwachsen, das sich aus dem Verhalten des Menschen und den für dieses Verhalten als verbindlich angenommenen Werten (Nonnen) ergibt."20 Wie schon hervorgehoben, werden die Normen als moralische Imperative mit der Sprachkonventionalisierung gleichursprünglich mitgesetzt. Vergesellschaftung, Sprachkonventionalisierung, die Herstellung von kommunikativen Bedingungen zur Ausbildung von Makroorganismen (Gesellschaften, Staaten) und Gewissensbildung sind Momente eines komplexen Geschehenszusammenhangs, wie er sich im Übergang vom „einsiedlerische(n) und raubthierhafte(n) Mensch(en)"21 zum „socialen Thier" 22 vollzieht. Die „Quelle des Gewissens" ist der „Glaube an Autoritäten" 23 , die man im Sinne Nietzsches als die Sprachbildner identifizieren kann. Wenn Nietzsche das Gewissen als „die Stimme einiger Menschen im Menschen"24 bezeichnet, dann ist das ein eindeutiger Hinweis auf die Herkunft des Gewissens, das seine Wurzeln im Bewußtsein hat, d.h. in der Soziabilität. Das Bewußtsein ist, wenn die Bezeichnung erlaubt ist, das Organ der Moralitäf, alles was in einem Bewußtsein ist, ist ipso facto moralisch verfaßt. Und die Moralität ist wiederum eine Funktion der Organbildung' von Gesellschaften und staatlichen Verbänden. Mit der durch den Sprachgebrauch geforderten Gewissensinstanz ist bei Nietzsche implizite begriffen, was erst später unter dem Titel Sprechakttheorie (Austin, Searle) ins philosophische Bewußtsein gedrungen ist, daß Sprachteilhabe sich im Rahmen einer Praxis vollzieht, also im weitesten Sinne handeln ist.Unter diesem Gesichtspunkt sind die logischen Grundsätze, durch die die Möglichkeit von Rationalität formuliert ist, die also auch von der Logik als einer ein17
Nietzsche, GM, Zweite Abhandlung, KSA5, Nr. 16, p. 321 sq. - Cf. Wh, KSA1, p. 877: Der „Gesetzgebung der Sprache" geht ein „Friedensschluss" voraus, der „wenigstens das allergrößte bellum omnium contra omnes" aus der Welt schafft.
18
Ibid., p. 322.
19
Ibid.- Cf. dazu auch EH, GM, KSA6, p. 352: „Die zweite Abhandlung giebt die Psychologie des Gewissens: dasselbe ist nicht, wie wohl geglaubt wird, die 'Stimme Gottes im Menschen', - es ist der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach aussen hin sich entladen kann. Die Grausamkeit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten Cultur-Untergründe hier zum ersten Male ans Licht gebracht."
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J. Mohr, „Nietzsches Deutung des Gewissens", in: Nietzsche-Studien, Nietzsche, FW V, KS A3, Nr. 354, p. 591.
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Ibid., p. 592. Nietzsche, MA II, KSA2, Nr. 52, p. 576. Ibid.
Bd. 6 (1977), pp. 1 - 15, p. 7.
Kommunikabilität und Existenzsichening
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deutigen Zeichensprache als Prinzipien in Anspruch genommen werden müssen, nicht nur als Bedingung von Wahrheit/Richtigkeit, sondern - möglicherweise noch grundlegender - auch als Kommunikationsbedingung, als Imperativische Regelung dessen, was ,.gelten soll"23, zu verstehen. Logische Grundsätze enthalten dann eine latente moralische Aufforderung zur Wahrhaftigkeit. Offenbar ist mit dem Zeichengebrauch ein Freiheitsraum entstanden, die Möglichkeit, Zeichen anders zu gebrauchen, als es konventionell anerkannt und festgelegt ist, etwa Λ zu sagen und Β zu meinen, oder das Verbot, das im Satz vom auszuschließenden Widerspruch formuliert ist (etwa den Negator vor dem Existenzquantor: -Ι (3x) (P(x) Λ -Ι P(x)) zu ignorieren, χ e Ρ zu sagen und χ G Ρ zu meinen26, was prinzipiell möglich ist, weil Zeichen nur för etwas stehen, was sie selbst nicht sind, über das sie aber in absence (als universe of discourse) innerhalb eines kommunikativ abgesicherten Rahmens (universe of discoursers) verfügen können.- Das Individualbewußtsein bleibt in seinem Freiheitsspielraum, der sich in der Möglichkeit zu lügen äußert, trotzdem an das Kollektivbewußtsein angeschlossen, weil dessen Konventionsrahmen auch noch das Apriori der Lüge ist, denn diese ist formal auf ihr Gegenteil, die Wahrheit, angewiesen. In praktischer Auslegung ist die Dichotomie von Wahrheit/Wahrhaftigkeit - Lüge die von Befolgen - Nicht-Befolgen einer auf nur zwei Möglichkeiten hin angelegten Vorschrift, wie sie beispielsweise im Satz vom auszuschließenden Dritten gefordert wird: eine der beiden Elementaraussagen muß wahr sein: entweder Ν e Ρ oder Ν e Ρ - ein Drittes soll (!) es nicht geben. Den Satz vom auszuschließenden Dritten (als Bivalenzprinzip aufgefaßt) besagt, daß eine Aussage entweder wahr oder falsch zu sein hat, daß es zwischen diesen Wahrheitswerten kein Drittes geben darf." Der Satz läßt sich als Imperativ interpretieren, der den durch den Zeichengebrauch gewonnenen Freiraum (