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German Pages 409 [416] Year 1996
J. E. Wilson Schelling und Nietzsche
w DE
G
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda · Josef Simon
Band 33
1996
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Schelling und Nietzsche Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches
von
John Elbert Wilson
1996 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anschriften der Herausgeber. Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Redaktion Johannes Neininger, Rigaer Straße 98, D-10247 Berlin
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Wilson, John Elbert: Schelling und Nietzsche : zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches / von John E. Wilson. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 33) ISBN 3-11-015128-6 NE: GT
© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Colügnon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz Sc Bauer, Berlin
Inhaltsverzeichnis Siglen
Einleitung Fragestellung und Plan der Arbeit Zum frühromantischen Begriff des Dionysischen: Der junge Schelling und die Brüder Schlegel Die „itellektuelle Anschauung" beim jungen Schelling und die Kritik an Schelling in Nietzsches späteren Schriften Schopenhauers Philosophie aus der Sicht des späten Schelling
XI
1 6 10 13
Teil I: Einführende Vergleiche: Zur Prinzipienlehre 1 1.1 1.2 1.3
2
Schellings Prinzipienlehre und „Methode" Das Apollinische und Dionysische Die Erkenntnis des Absoluten beim jungen Schelling in Unterscheidung von der Gotteslehre der Spätphilosophie Die Entstehung der Philosophie aus der Mythologie und der Fall der Philosophie von ihrem Ursprung
19 25 37
Prinzipienlehre bei Nietzsche: Aus Nietzsches Basler Vorlesungen über die vorplatonische und platonische Philosophie 2.1 Von Mythologie bis zur Philosophie 42 2.2 Anaximander 45 2.3 Heraklit 46 2.4 Parmenides 50 2.5 Anaximenes und Anaxagoras 53 2.6 Pythagoras und Empedokles 54 2.7 Demokrit 56 2.8 Die Pythagoreer 60 2.9 Sokrates 62 2.10 Plato 2.10.a Die Ideenlehre 66 2.10.b Uber den Ursprung der Ideenlehre 68
VI
Inhaltsverzeichnis
2.11 Prinzipienlehre in der Mythologie 2.11.a Musik, Mythos, Poesie 2.11.b Der mythologische Grund 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7
Zusammenfassende Darstellung des Mythologiebegriffs beim späten Schelling Die dionysische Uberwindung des gefallenen Seins Ekstase, Zauber, freie Besonnenheit Die Zerreißung (Selbstsein) und die Wiederherstellung der Einheit In demselben Augenblick trunken und nüchtern sein Die Bedeutung und Folge der mythologischen Stufen Irrtum und Moral Ironische „Satanologie"
74 77
81 87 89 94 96 103 105
Teil II: Die „Geburt der Tragödie" und andere Schriften dieser Zeit 4 Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen 4.1 „Vom Ursprung der Sprache" (1869/70) 4.2 Philologie 4.3 Erschütterung, Zauber, Zerreißung, Vergeistigung 4.4 Geschichtliches 4.4.a Mythische Entwicklung 4.4.b Das neue Zeitalter der alexandrinischen Wissenschaft 4.4.C Rom 4.4.d Das Christentum 4.5 Aus Nietzsches Vorarbeiten zur „Geburt der Tragödie" 4.5.a Zauber 4.5.b Lösung der Glieder 4.5.c Bacchus und die Orphiker 4.5.d Die Mittelwelt 4.5.e Der Weltgrund als Wahrheit 4.5.f Ein Kreuz unter Rosen 4.5.g Der Höhepunkt im Nebeneinander von Besonnenheit und Rausch 5 5.1
Problembereiche in der „Geburt der Tragödie" (1872) Sokrates als Fortschritt
109 112 115 119 120 122 124 126 127 128 129 130 134 135 136
137
VII
Inhaltsverzeichnis
5.2 Buddhismus und Griechentum 5.2.a Buddhismus 5.2.b Nüchtern und Trunken 5.3 Nietzsches Abhängigkeit von Schelling in der Auslegung der Götter der Eleusinischen Mysterien 5.4 Der Zusammenhang des Christlichen mit dem Dionysischen 5.4.a Aus nachgelassenen Fragmenten 5.4.b Erlösung als Problem in der „Geburt der Tragödie" 5.5 Neugeburt aus dem dionysischen Grund 5.6 Andere Bilder und Gleichnisse 5.7 Mittag und Untergang 6 Andere Schriften Nietzsches aus dieser Zeit 6.1 „Uber die Zukunft unserer Bildungsanstalten" (1872) 6.1.a Der mythologische Plan der Schrift 6.1.b Die Bildung 6.2 „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" 6.2.a Morgendliche Entwicklung von Thaies bis Anaxagoras 6.2.b Das Gleichnis vom Gestirn 6.2.c Andere Parallelen 6.3 „Umgedrehter Piatonismus" und die Schrift „Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" 6.3.a „Umgedrehter Piatonismus" 6.3.b „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" . . . . 6.4 „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" (1872) 6.4.a „Über das Pathos der Wahrheit" 6.4.b „Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten" . . . 6.4.C „Der griechische Staat" 6.4.d „Das Verhältnis der Schopenhauerschen Philosophie zu einer deutschen Kultur" 6.4.e „Homers Wettkampf" 6.5 Über Verstellung und Ironie bei Nietzsche und Schelling
144 150 151 154 158 161 163 170
175 181 184 193 197
199 206 210 211 212 216 217 218
Teil III: Nietzsches „Unzeitgemäße Betrachtungen" 7 8 9 10
„David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller" (1873) 221 „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) . 227 „Schopenhauer als Erzieher" (1874) 249 „Richard Wagner in Bayreuth" (1876) 272
Vili
Inhaltsverzeichnis
11 „Wir Philologen" (Notizen aus dem Jahre 1875) 11.1 Zusammenhang mit früheren Schriften 11.2 Wieder die „zwei Sphären": Aus der „Schluß-Betrachtung" zu Dühring 11.3 „Über Religion" 11.4 „Ziele" 11.5 Zeugung und der Erzeugte
286 291 294 295 297
Teil IV: Vergleiche beim späteren und beim frühen Nietzsche 12 Ein Blick in spätere Schriften 12.1 Wille zur Macht, Ubermensch, Ewige Wiederkehr 12.2 Weiteres aus Zarathustra 12.2.a Der Geist der Schwere, das Sich-Verschenken des Zarathustra und das Mitleid 12.2.b Die Stufen im vierten Teil von „Zarathustra" 12.3 „Der Antichrist" (1888) 12.3.a Jesus . . : 12.3.b Manus Gesetzbuch 12.3.c Der Ankläger 12.4 Maske und Ironie 12.5 Verwandlungen 12.5.a Ariadne und Dionysos in der „Klage der Ariadne" 12.5.b Zarathustras Untergang 13 Aus Nietzsches Jugendzeit (1862-1868) 13.1 Aus den letzten Jahren in Schulpforta (1862-1864) 13.1.a Fragen und Zusammenhänge 13.1.b „Fatum und Geschichte" und verwandte Aufsätze 13.1.c Die Natur als Kunstwerk 13.1.d Aus Dichtungen 13.2 Theologisches aus dem Jahre 1865 13.2.a „Zum Leben Jesu" 13.2.b Geschichtliches 13.2.c Gegen die christliche Priesterschaft 13.3 Aus Briefen 13.3.a Pädagogik 13.3.b Schopenhauer 13.3.c Das Christentum als Erlösungsbedürftigkeit
302
307 309 318 320 323 330 333 335
338 340 349 351 353 356 358 360 361 364
Inhaltsverzeichnis
IX
13.4 „Zu Schopenhauer" 13.5 F.A. Lange 13.5.a Der doppelte Gebrauch des Wortes Wahrheit 13.5.b Nietzsche über Lange: Aus Nietzsches Briefen 13.5.c „Heiliger Brahma" 13.6 „Zur Teleologie" 13.6.a Zum Problem der Metaphysik 13.6.b Zweckmäßigkeit und Leben 13.7 „Zu Demokrit"
366
376 383 385
Literatur
388
Register
396
369 371 375
Siglen Nietzsches Werke Hinweise beziehen sich allgemein auf die Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, begründet von Giono Colli und Mazzino Montinari und weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Berlin und New York, 1967ff. III/l, 55.14.25 hat die Bedeutung: Ausgabe Colli-Montinari, Abteilung III, Bd. I, S. 55, Linie 14 u. 25. NB
Nietzsches Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. Berlin und New York, 1975ff.
BAW Nietzsches Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Werke (Bde. 2 und 3). München (Beck), 1934-1935. Schellings Werke Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Sämtliche Werke, hrsg. v. K. F. A. Schelling. Erste Abteilung Bd. I-X. Zweite Abteilving Bd. I-IV. Stuttgart und Augsburg 18561861. Die vier Bände der zweiten Abteilung werden kontinuierlich mit den Bändezahlen der ersten Abteilung bezeichnet: XI - Philosophie der Mythologie, Bd. I. XII - Philosophie der Mythologie, Bd. II. XIII - Philosophie der Offenbarung, Bd. I. XIV - Philosophie der Offenbarung, Bd. II. Schopenhauer WWV Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Schopenhauers sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, hrsg. v. Otto Weiß (Leipzig, 1919).
[ ] Eckige Klammer bezeichnen meine Angaben.
Einleitung Fragestellung und Plan der Arbeit In ihrer Arbeit Friedrich Nietzsche, von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens [Stuttgart, 1962], S. 14, meinen Karl Schlechta und Anni Anders, daß die Frage, „ob wir in der Tat zweierlei Nietzsche vor uns haben, einen offiziellen und einen inoffiziellen, einen bekannten und einen unbekannten", nicht abzuwehren sei - eine Frage, die seither viele Forscher auf verschiedene Weisen gestellt haben. Im Begreifen des oft rätselhaften Sinnes der Schriften Nietzsches hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten viele Fortschritte gemacht. Dafür hat die von Girogio Colli und Mazzino Montinari begründete und bis heute fortgesetzte Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken [Berlin, 1967ff], in welcher auch vorher unzugängliche Manuskripte Nietzsches erschienen sind, die Anregung und auch Grundlage gegeben In seinen „Vorlesungen über die Neue Mythologie": Der kommende Gott [Frankfurt a.M., 1982], 344-346, und Gott im Exil [Frankfurt a.M., 1988], 55-58, hat Manfred Frank die wahrscheinliche Abhängigkeit Nietzsches von F.W.J. Schelling (1775-1854) in der Auffassung der Eleusinischen Mysterien und ihrer Dionysoslehre nachgewiesen [siehe Kap. 5.3].1 Während diese Entdeckung eines der wichtigsten Gebiete der Nietzsche-Forschung betrifft, hat sie bislang kein neues Interesse für die Beziehung Nietzsche-Schelling erregt. Freilich erwähnt Nietzsche Schelling nie als eine Quelle; darum vielleicht scheint der Nachweis von Frank einen nur einmaligen und eher zufälligen Gebrauch durch Nietzsche anzudeuten. 1
Zum Dionysos-Begriff bei Nietzsche siehe schon Charles Andler, Nietzsche, sa vie et pensée [Paris, 1920ff], II, 220-266; I, 28f, 33f. In der neueren Forschung siehe vor allem Max Baeumer: „Das moderne Phenomenon des Dionysischen und seine .Entdeckung' durch Nietzsche", NietzscheStudien, Bd. 6, 1977, 123-153. Baeumer meint [140ff] besonders in der Gegenüberstellung von Dionysos und Apollo in der griechischen Religion den Einfluß von F. Creuzer zu sehen; aber die Parallelen lassen keinen engeren Zusammenhang mit Nietzsches Auslegungsweise erkennen [vgl. über Creuzer unten in Kap. 3.1 (Anm)]. Siehe im zweiten Teil dieser Einleitung Ernst Behlers Arbeit über Nietzsches Beziehung zu den frühromantischen Brüdern Schlegel. Siehe auch M. Silk u. J. Stern, Nietzsche on Tragedy [Cambridge, 1981], 209-216, bes. 21 lf. Siehe ferner Maria Behres Schrift: J)es dunkeln Lichtes voll" - Hölderlins Mythokonzept Dionysos [München, 1987], 41-62. Bei der Schelling-Forschung siehe Dieter Jähnig, Schelling, Die Kunst in der Philosophie [Pfullingen, 1969], II, 34lf; ders., Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte [Köln, 1975], 139, 232; K. Hildebrandt, „Die Geltung der Mythologie Schellings", Zeitschr. für philos. Forschung, Bd. 15, 1961, 226f.
2
Einleitung
Die ältere Generation der Forscher - bei ihnen war das Interesse für den Zusammenhang Nietzsche-Schelling größer - hatte viele Verwandtschaften gefunden, die sie auf die philosophische Uberlieferung und überhaupt auf die Bildung der Zeit zurückführte. In seiner Schrift Das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Schelling [Berlin, 1935] zog Otto Kein einen Vergleich, ohne von einer Abhängigkeit Nietzsches reden zu wollen. Der Schelling-Forscher Walter Schulz hat mehrmals Verwandtschaften angedeutet, die er durch geistesgeschichtliche Strömungen in der deutschen Philosophie und in der Moderne überhaupt erklärt.2 Nach Horst Fuhrmans antizipiert Schellings Begriff des Weltgrundes denselben Begriff bei Nietzsche.3 Nach Karl Jaspers folgte Nietzsche unbewußt Schellings Unterscheidung zwischen „positiver" und „negativer" Philosophie.4 Karl Löwith findet Parallelen bei Schelling für Nietzsches Begriffe der ewigen Wiederkehr und des amor fati.5 Heidegger hat bei Schelling und Nietzsche grundsätzlich dieselbe Auslegung des Seins als Wille gefunden.6 Man könnte auch noch auf den bei beiden Philosophen vorkommenden Begriff des organischen Lebens und Wachstums als einen Grundbegriff fast der ganzen Romantik hinweisen. Reichen die allgemeinen Strömungen in der deutschen Philosophie und Literatur aus, um die Zusammenhänge zwischen Schelling und Nietzsche zu erklären? Ich meine nein.7 Aber um die Frage zu beantworten, muß man die Parallelen erst klar 2
3 4 5
6
7
Bes. Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings [2. Aufl. Pfullingen, 1975], 280ff; siehe z.B. auch Schulz' einleitenden Aufsatz zur Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe von Schellings Schrift Über das Wesen der Menschlichen Freiheit [Frankfurt a.M., 1975], 20. Die Deutungen der Geistesgeschichte bei den Schelling-Kennern Jürgen Habermas und Odo Marquard stehen hier nicht zur Diskussion, so daß ich sie in diesem Zusammenhang nur erwähne: Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne [Frankfurt a.M., 1985]; Marquard, Abschied vom Prinzipiellen [Stuttgart, 1981] (Kap. 4). Siehe ferner die Dissertation von Udo Osterwald, Die Zweideutigkeit der Freiheit als Resultat der Willensmetaphysik Schellings [Bielefeld, 1972], die von Schulz' Arbeit ausgeht und Parallele zwischen Schelling und Nietzsche bes. im Begriff des Willens nachweist [bes. 90]. Bernard Taureck bemerkt eine gewisse Verwandtschaft im Begriff des Schönen: „Nietzsches Einfluß auf die Lyrik", Nietzsche-Studien, Bd. 10/11, 1981/82, 573-575. Schellings Philosophie der Weltalter [Düsseldorf, 1954], 86-88. Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens [Berlin u. Leipzig, 1936], 102. Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen [Stuttgart, 1956], 151, 83f. Vgl. Walter Kasper, Das Absolute in der Geschichte [Mainz, 1965], 353. Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit [Pfullingen, 1971], 224f; Nietzsche [Pfullingen, 1961], I, 45, 69; II, 471f, 475-480. Vorträge und Aufsätze [Pfullingen, 19673], I, 105, 109. Was heißt Denken? [Thingen, 19713], 35-47. „Es ist im gesamten Schaffen Nietzsches nachzuweisen, daß er sich gezielt anregen ließ und dann in eigenständiger Weise darauf aufbaute". Ulrich Willers, Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie [Innsbruck, 1988], 56. Wenn Nietzsche auch Schelling so gebrauchte, wäre es für seine Arbeitsweise nichts Ungewöhnliches. Es fragt sich aber, inwieweit und in welchem Sinne Willers allgemeiner Satz die Beziehung Nietzsches zu Schelling beschreiben würde.
Einleitung
3
herausstellen. Dies ist die Absicht der vorliegenden Arbeit. Im Laufe der Untersuchung bin ich auf die bemerkenswerte Mitteilung von Hans-Georg Gadamer in der Schrift Heideggers Wege [Tübingen, 1983], S. 138, gestoßen, daß für Heidegger „hinter Kierkegaard und später sogar hinter Nietzsche der späte Schelling immer sichtbarer wurde." Weil von Heidegger keine Besprechung gerade dieses Themas vorliegt, weiß man nicht genau, welchen Sinn für ihn dieses „Sichtbare" hätte.8 Ich finde den Ausdruck dennoch dienlich, denn gerade das „Sichtbare" will ich herausstellen. Dies bestimmt die Methode als die des möglichst objektiven, detaillierten, analytischen Vergleichs. Es gibt wenige unmittelbare Belege für Nietzsches Benutzung der Schriften Schellings [Kap. 4.5.c (vgl. Kap. 4.1), Kap. 5.3, Kap. 13.6.a]. Aber sowohl in begrifflicher als auch in sprachlicher Beziehung sind die Parallelen durchgehend.9 Eugen Biser hat auf zwei Gefahren der Nietzsche-Auslegung aufmerksam gemacht, die ich hier hervorhebe: erstens wird durch Vergleiche Nietzsches Individualität leicht verdrängt, zweitens arbeiten manche Interpreten einseitig aus einem bestimmten Blickwinkel, wodurch sie Nietzsche nicht gerecht werden. 10 Diese Ge8
9
10
In den veröffentlichten Schriften sieht Heidegger vom Begriff der Abhängigkeit ab, freilich ohne die Bekanntschaft zu leugnen. In Nietzsche [I, 45] meint er: „Allerdings darf man nun nicht sagen, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht sei von Leibniz oder Hegel oder Schelling abhängig, um mit dieser Feststellung das weitere Nachdenken einzustellen. .Abhängigkeit' ist kein möglicher Begriff, um das Verhältnis der Großen unter einander zu fassen... Der große Denker ist dadurch groß, daß er aus dem Werk der anderen .Großen' ihr Größtes herauszuhören und dieses ursprünglich zu verwandeln vermag". An einer anderen Stelle [I, 75f] liest man: „Das eine Jahrzehnt des Schaffens am Hauptwerk üeß ihm [Nietzsche] nicht die Ruhe des Verweilens in den weiträumigen Bauten der Werke Hegels und Schellings". In der Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten gibt Nietzsche einmal den Hinweis: „An meinem Gleichnisse aber deutet euch, was ich wohl unter einer wahren Bildungsanstalt verstanden haben möchte..." [III/2, 244.4; siehe unten Kap. 5.6]. Bei Nietzsche und Schelling ist die Sprache der Gleichnisse und Bilder keine zufallige oder willkürlich gewählte, sondern eine bewußt mythologische. Während ein Gleichnis wie der „große Mittag" in Zarathustra [unten Kap. 12.1, vgl. Kap. 4.3] eine Parallele nicht nur bei Schelling, sondern auch in Hölderlins Hyperion findet [hierüber Eugen Biser, „Die Reise und die Ruhe", Nietzsche-Studien, Bd. 7, 108ff, vgl. die folgende Diskussion 115ff], gibt es (m.W.) für andere Gleichnisse keine Parallelen als bei Schelling, z.B. für das „Festhalten in langer Erschütterung" in der Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie fir das Lehen [unten Kap. 8]. „Die Reise und die Ruhe. Nietzsches Verhältnis zu Kleist und Hölderlin. Nietzsche im Vergleich", Nietzsche Studien, Bd. 7 (1978), 97f; „Das Desiderat einer Nietzsche-Hermeneutik", NietzscheStudien, Bd. 9 (1980), lf, 7. Wolfgang Müller-Lauters wichtige und einflußreiche Arbeit: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie [Berlin, 1971] weist mit Recht auf Widersprüche bei Nietzsche hin, welche nach Müller-Lauter die Auslegung stets zu beachten hat. Uber Müller-Lauters Begriff der Arbeitsweise Nietzsches und deren Resultat bin ich geteilter Meinung. Wie er meint: „Weil für Nietzsche von vornherein das Ganze der Wirklichkeit durch den .Kampf von Gegensätzen bestimmt wird, deshalb sieht er sich im Vollzuge seines Philoso-
4
Einleitung
fahren kann ich nur dann zu bannen hoffen, wenn ich keinen anderen Anspruch erhebe, als den Vergleich nach Möglichkeit für sich reden zu lassen. Er zeigt und beleuchtet, was er zu zeigen und zu beleuchten vermag, und er erforscht Interpretationsmöglichkeiten, die sich dadurch stellen. Er hat eine bestimmte wissenschaftliche Aufgabe, die nichts verdrängt, solange diese Grenzen nicht überschritten werden. Da allein der Vergleich das Thema der vorliegenden Arbeit ist, gehe ich mit wenigen Ausnahmen nicht auf die darin vorkommenden Ähnlichkeiten mit dieser oder jener Ansicht in der recht uneinigen Nietzscheforschung11 ein; das hätte zu weit geführt. Ich meine z.B. die Ansicht, daß Nietzsche trotz der scheinbar ungünstigen Darstellung in der Geburt der Tragödie Sokrates keineswegs ablehnte.12 Andere Beispiele wären den Studien zu Nietzsches Sprache, besonders zu den Metaphern, zu entnehmen, z.B. Ilse Bulhofs Arbeit Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit [Den Haag, 1969], Am Schluß seines schönen Aufsatzes „Die Renaissance des Tragischen" im ersten Band der Nietzsche-Studien [1972] schreibt Peter Köster: „In der Identifikation von dionysischer Größe und selbstzerstörerischer Zerfallenheit des Menschen mit seinem endlichen Dasein ist Nietzsches Denken sich vom Anfang in der .Geburt der Tragödie' bis zu den spätesten Schriften treu geblieben" [S. 209]. 13 Dieser Ansicht bin ich auch. In der vorliegenden Arbeit habe ich vornehmlich die frühen Schriften und Manuskripte Nietzsches untersucht.14 Im allgemeinen folge ich der chronologischen phierens genötigt, die Gegensätze im einzelnen mit aller Schärfe herauszuarbeiten. Zwar ist sein Ziel die Synthese... Schließlich bricht jedoch immer wieder auseinander, was Nietzsche zu in sich
11
12
13
gegliederter Einheit zu bringen sucht" [7], Den Kampf von Gegensätzen sehe ich - auch im vorliegenden Vergleich tritt er hervor -, nur über das Scheitern habe ich Bedenken. Vielleicht weiß man noch zu wenig über Nietzsches Methode, um darüber ein letztes Urteil zu sprechen. Vielleicht gehört das Scheitern - das Aufbrechen einer „Kluft", wie Müller-Lauter auch schreibt [188]- bewußt zur Methode selbst. Wie Ulrich Willers, F. Nietzsches antichristliche Christologie, 33, bemerkt, „hat sich noch keine Nietzsche-Interpretation den Respekt oder die Zustimmung aller Nietzsche-Forscher oder auch nur des überwiegenden Teils von ihnen erwerben und sichern können". Bes. Walter Kaufmann, z.B. „Nietzsches Einstellung gegenüber Sokrates", in: Nietzsche, hg. v. Jörg Salaquarda, Wege der Forschung Bd. 521 [Darmstadt, 1980], Vgl. Kösters Dissertation, Der sterbliche Gott [Meisenheim am Glan, 1972], Sie steht in einer Reihe von beachtlichen Schriften, die insbesondere den Gottestod und die Christentumskritik bei Nietzsche bearbeiten. Siehe z.B. Eugen Biser, Gottsucher oder Antichrist? Nietzsches provokative Kritik des Christentums [Salzburg, 1982]; Johann Figi, Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte [Düsseldorf, 1984]; und die oben zitierte Arbeit von Ulrich Willers, F. Nietzsches antichristliche
14
Christologie.
Unter den heutigen Bearbeitern des frühen Nietzsche erwähne ich insbesondere Barbara von Reibnitz' Schrift Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste
5
Einleitung
Reihenfolge der Schriften. Unnötige Wiederholungen habe ich durch Querverweise und die Hinzufügung eines Registers zu vermeiden versucht. In Kapitel 12 ziehe ich das spätere Schrifttum in Betracht: Dort versuche ich an bedeutenden Beispielen zu zeigen, wie der Vergleich für die späteren Schriften aussehen würde. Auch in diesem Kapitel handelt es sich nicht allein um allgemeine begriffliche Vergleiche, wie z.B. in der Fassung des Willens zur Macht, sondern auch um Parallelen, die den Wortlaut betreffen können [z.B. Kap. 12.3.a]. In Kapitel 13 werden Manuskripte und Briefe Nietzsches, die vor seiner Ankunft in Basel geschrieben wurden, in den Vergleich einbezogen. Sie werden nicht zu Beginn untersucht, weil diejenigen Manuskripte, die für den Vergleich interessant sind, hauptsächlich aus einzelnen kurzen Stücken bestehen und ein zunächst fragmentiertes Bild darstellen. Sinnvoller schien mir der Anfang mit Nietzsches Schriften aus der Basler Zeit, denn in diesen liegt ein viel breiterer Zusammenhang der Begriffe vor. Aber schon die früheren Schriften zeigen klare Parallelen mit Schelling. Das erste Kapitel beginnt mit einer Darstellung der Geschichte und Bedeutung von Schellings Prinzipienlehre. Im zweiten Kapitel werden Nietzsches neuerdings erschienene Basler Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen im Vergleich mit Schelling untersucht. Diese Vorlesungen beginnen mit der ersten, noch mythischen Formulierung einer Prinzipienlehre und stellen dann eine sehr bestimmte Auffassung der weiteren philosophischen Entwicklung dar. In diesem Kapitel ist der Vergleich ein fast nur philosophischer; mit nur einer Ausnahme [Kap. 6.3] setzen die folgenden Vergleiche die Mythologie voraus. Ich beziehe mich einerseits auf F. W.J. Schellings sämtliche Werke, die 1856-1861 als die erste vollständige Schelling-Ausgabe bei Cotta in Stuttgart und Augsburg erschienen. Nietzsche verbrachte seine Jahre zu Pforta in der Periode 1858-1864, also war ihm diese Ausgabe der Werke damals zugänglich.15 In ihr erschien zum der Musik (Kap. 1 -12) [Stuttgart, 1992], Ihre detaillierte Arbeitsweise hält wichtige Informationen zumal aus der Zeit der Vorbereitung der Geburt der Tragödie für die Forschung fest. Nur beachtet Reibnitz Schelling sehr flüchtig [bes. 63n], was - wie schon bemerkt - in der heutigen NietzscheForschung die Regel ist, d.h. sofern er überhaupt erwähnt wird. In sehr übersichtlicher Weise interpretiert
Hubert
Canciks Nietzsches Antike.
Vorlesung
[Stuttgart,
1995]
Nietzsches
Beschäftigung mit der Antike über sein ganzes akademisches Leben. Auch Claudia Crawfords Arbeit The Beginnings of Nietzsche's Tíjeory of Language [Berlin u. New York, 1988] behandelt Inhalte beim frühen Nietzsche, die ich behandle. 15
Keine Werke Schellings sind im Nietzsche-Archiv verzeichnet. Max Oehlers Zusammenstellung der Bücher-Titel ist aber, wie das Archiv zugibt, sehr unvollständig: Nietzsches Bibliothek [Weimar, 1942]. Siehe auch die Berichte über Nietzsches Lektüre am Ende verschiedener Bände der NietzscheStudien. Interessant finde ich die Information, daß „Nietzsche einen Teil seiner Bibliothek bei den Schwiegereltern Overbecks in Zürich untergestellt hatte," wie K. Schlechte und A. Anders, in: F. Nietzsche, von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens [Stuttgart, 1962], 160, berichten, mit Hinweis auf Nietzsches Briefwechsel mit F. Overbeck [Leipzig, 1916], 154.
Einleitung
6 ersten
Mal
n i c h t n u r Schellings S p ä t p h i l o s o p h i e , 1 6
sondern
auch
andere
S c h e l l i n g s L e b z e i t e n n i c h t v e r ö f f e n t l i c h t e S c h r i f t e n , w i e z . B . d i e Philosophie Kunst
[aus V o r l e s u n g e n d e r J a h r e 1 8 0 2 - 1 8 0 5 ] , Die
die Stuttgarter
Privatvorlesungen
Weltalter,
zu der
Erstes Buch [ 1 8 1 3 ] u n d
[ 1 8 1 0 ] . Andererseits beziehe ich m i c h auf die v o n
C o l l i u n d M o n t i n a r i h e r a u s g e g e b e n e Kritische
Gesamtausgahe
von Nietzsches Wer-
k e n [ B e r l i n , 1 9 6 7 f f ] . F ü r d i e Z e i t v o r B a s e l [ K a p . 1 3 ] v e r w e n d e i c h d i e f r ü h e r e Historisch-Kritische
Gesamtausgabe
d e r W e r k e , Bde. II u n d III [ M ü n c h e n , 1 9 3 4 u . 1 9 3 5 ] .
D e r v o r l i e g e n d e n A r b e i t g e h t eine f r ü h e r e v o n m i r v o r a u s : Schellings Zur
Auslegung
der Philosophie
der Mythologie
und
der
Offenbarung
Mythologie.
[in d e r R e i h e
S p e k u l a t i o n u n d E r f a h r u n g , A b t . II, B d . 3 1 , S t u t t g a r t - B a d C a n n s t a t t : f r o m m a n n h o l z b o o g , 1 9 9 3 ] . A u f diese U n t e r s u c h u n g w i r d i n d e r v o r l i e g e n d e n A r b e i t gelegentlich hingewiesen.
Zum frühromantischen Der junge D a ß d i e Geburt
der
Schelling
Tragödie
Begriff
des
und die Brüder
Dionysischen: Schlegel17
unmittelbar v o n der F r ü h r o m a n t i k
beeinflußt
w u r d e , steht a u ß e r Frage. Insbesondere h a t die F o r s c h u n g den Schlegelkreis, d e m Schelling m i t s e i n e r A n k u n f t i n J e n a a m E n d e des J a h r e s 1 7 9 8 b e i t r a t , als w i c h t i g e
16
Die Abgrenzung „Spätphilosophie" bezieht sich auf die Schriften Schellings seit etwa 1830; dazu gibt die erst in den Werken [1856ff] veröffentlichte Vorlesung Geschichte der neueren
Philosophie
die Einführung. Die Spätphilosophie selbst entwickelt sich bis zu Schellings „letztem Wort" in der in den Werken erschienenen letzten Fassung der Philosophie der Mythologie und der Philosophie Offenbarung
der
(siehe Schellings Leben. In Briefen, hg. v. G.L. Plitt [Leipzig, 1869-70], III, bes. 228).
Zwischen der Freiheitsschrift (Über das Wesen der menschlichen Freiheit) aus dem Jahre 1809 und seinem Tode 1854 gab Schelling nur wenige Schriften heraus, die mit der Freiheitsschrift zusammen viele Züge der Spätphilosophie erkennen lassen, aber diese selbst noch nicht darstellen. „Dionysos" findet sich bei Schelling erst in der Schrift Die Gottheiten
von Samothrake
aus dem
Jahre 1815 [VIII, 345-424], aber die Sache selbst ist viel früher da [siehe Kap. 1]. Ausführliches über Schellings Perioden findet man bei Xavier Tilliette, Schelling, une philosophie
en devenir [Paris,
1970, 1993 2 ]; bes. über den jungen Schelling siehe Wilhelm Jacobs, Gottesbegriff und Geschichtsphilosophie in der Sicht Schelling [Stuttgart, 1993]; siehe auch Birgit Sandkaulen-Bock, Ausgang vom Unbedingten.
Über den Anfang in der Philosophie Schellings [Göttingen, 1990], Der neulich ver-
öffentlichte, vorher unbekannte Aufsatz Schellings 1794 über Piatons Timäus [hg. v. Hartmut Buchner, Stuttgart, 1994] läßt die frühe Bedeutung der Prinzipienlehre deutlich erkennen. Diese ist das große Kontinuierliche in der ganzen Schellingschen Philosophie. 17
Hier geht es wesentlich um die Übereinstimmung Schellings zumal mit Friedrich Schlegel im Begriff des Dionysischen. (Man könnte andere Frühromantiker erwähnen, vor allem Schellings Freund Hölderlin.) Uber die vielfältige Beziehung Schellings zu den Brüdern Schlegel siehe neben Tilliette Rudolf Haym, Die romantische
Schule [Berlin,1870]. Für die wichigste Aufdeckung der
Bedeutung des Dionysos in der Mythologie der Antike weist der späte Schelling auf Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker (1810 1 ) hin [siehe unten Kap. 3.1 (Anm)].
Einleitung
7
Quelle bewertet. In der Geburt der Tragödie wird A.W. Schlegel in Zusammenhang mit dem Begriff des Chors der Tragödie als des „idealischen Zuschauers" ausdrücklich erwähnt [§7f]. In den frühen Werken von Friedrich Schlegel hat der Nietzscheund Schlegel-Forscher Ernst Behler eine bedeutende Quelle für Nietzsches Auffassung des Dionysischen gesehen. Er weist z.B. auf das Phänomen „eines rauschhaften überindividuellen Einheitsgefühls und der unendlichen Lebenskraft der Natur", das Friedrich Schlegel für die Deutung der Lyrik und des Dramas als Grundlage genommen habe, hin. 18 Daß die kunsthistorischen Werke der Brüder August und Friedrich Schlegel eine wichtige Quelle für gewisse Informationen in Schellings zum ersten Mal 1802/1803 in Jena vorgelesener Philosophie der Kunst waren, ist in dieser Arbeit selbst belegt.19 Umgekehrt hat man, insbesondere für die Zeit nach der Veröffentlichung von Schellings System des transzendentalen Idealismus im Frühling des Jahres 1800, den Einfluß des jungen Philosophen im Denken der Brüder Schlegel bemerkt.20 Zu ihren wenigen philosophischen Ausführungen gehört A.W. Schlegels Kunstlehre, 1801 als Vorlesung in Berlin gehalten, für welche man Verwandtschaften sowohl mit dem System des transzendentalen Idealismus als auch mit der Philosophie der Kunst nachweisen kann.21 Vielleicht hatte Schelling schon vor 1802 im Schlegelkreis die Philosophie der Kunst behandelt. Im letzten Hauptabschnitt des Systems des transzendentalen Idealismus geht es um die Philosophie der Kunst, und in einer Anmerkung gibt Schelling bekannt, daß „eine schon vor mehreren Jahren ausgearbeitete Abhandlung über Mythologie ... nun binnen Kurzem erscheinen sollte" 18
19
Einleitung zum ersten Band der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe [Paderborn, München, Wien, 2ürich, 1979], CIX. Siehe auch Behlers Aufsatz „Die Auffassung des Dionysischen durch die Brüder Schlegel und Friedrich Nietzsche", in: Nietzsche-Studien, Bd. 12, 1983, 335-354; „Nietzsche und die frühromantische Schule", ebd, Bd. 7, 1978, 59-87, 88-96. Der Text zur erst 1859 in Bd. V der Gesamtausgabe erschienenen Philosophie der Kunst stammt von Vorlesungen Schellings 1802/1803 in Jena und wieder 1804/1805 in Würzburg, wo die Abschnitte 1-15 hinzugefügt wurden. Der Nachdruck der Ausgabe von 1859 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft [Darmstadt, 1980] empfiehlt sich wegen des Namenregisters; das Verzeichnis der Erwähnungen der Brüder Schlegel bedarf einer Korrektur: A.W. Schlegel, 637n, 653, 726; F. Schlegel, 421n, 642n.
20
21
Siehe Ernst Behler in der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. I, CXIX: „Sogar das Phänomen des Dionysischen, im Sinne der all-einen Naturkraft, das er [Fr. Schlegel] so tief in der griechischen Welt verwurzelt fand, ist deudich nach Vorstellungen der Identitätsphilosophie konzipiert". (Uber die Identitätsphilosophie siehe Kap. 1.2.) A.W. Schlegel, Die Kunstlehre, in: Kritische Schriften und Briefe, Bd. II, hg. von Edgar Lohner [Stuttgart, 1963], Mit Schellings Philosophie der Kunst [V, 690, 697] sind u.a. die respektiven Bestimmungen der Tragödie als „innere Freiheit" und „äußere Notwendigkeit" in A.W. Schlegels späteren Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur [Sämtliche Werke, hg. von Eduard Böcking (Leipzig, 1846), V, 72] zu vergleichen. Vgl. auch in beiden Werken die Entwicklungsreihe Aschylus-Sophokles-Euripides.
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Einleitung
[III, 629]. Damit meint er wahrscheinlich gewisse Teile der Philosophie der Kunst}2 Wie sehr die Ansichten des Kreises sich decken können, kann am folgenden Beispiel veranschaulicht werden. In der Interpretation des Bacchischen in seiner Kunstlehre des Jahres 1801 schreibt A.W. Schlegel: „Eine ganz neue Epoche tritt ein mit der ersten Ahnung des Unendlichen, die ... den Menschen gewaltig ergreift und mit Grausen erfüllt. ... Die enthusiastischen Feierlichkeiten aber, welche das mystische Prinzip hervorruft, bedeuten grenzenlose Hingabe und Entäußerung seiner selbst. Der Mensch stürzt sich gleichsam ohne Rückhalt in den vor ihm eröffneten Abgrund der Natur, er kann dabei bis zur selbstvernichtenden Wut gehen."23 Hier hat das „Unendliche" als das „Mystische" dieselbe Bedeutung, die dieser Begriff in Schellings Philosophie der Kunst hat [siehe Kap. 1.3]. Auch ist eine frühere Arbeit Schellings, die Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus aus dem Jahre 1795, zu beachten: Der „natürliche Grieche" habe vom [religiösen] Objekt nichts zu fürchten, solange er es durch seine Vorstellung beherrsche. Wenn aber die „Schranke" aufgehoben und das Objekt nicht mehr vorstellbar werde, „sieht er sich verloren". „Solange die griechische Kunst in den Schranken der Natur bleibt, welches Volk ist da natürlicher, aber auch, sobald sie jene Schranken verläßt, welches schrecklicher! Die unsichtbare Macht ist zu erhaben, als daß sie durch Schmeichelei bestochen, ihre Helden zu edel, als daß sie durch Feigheit gerettet werden könnten. Hier bleibt nichts übrig als - Kampf und Untergang." Sodann weist Schelling auf die Bedeutung dieser Macht für die Tragödie hin [I, 336-338].24 Ausdrücklich wird das Dionysische in der Philosophie der Kunst nicht erwähnt die „Dionysologie" [XIII, 333] gehört der Spätphilosophie an -, jedoch das, was Schelling später das Dionysische nennen wird, meint er schon in diesem Werk. Z.B. sei die „Regung des Unendlichen", die er - auch in Anlehnung an Friedrich Schlegel in der späteren lyrischen Kunst und in der Tragödie findet, „in der griechischen Bildung durchaus nachhomerisch". „Homer kennt keine Orgien, keinen Enthusiasmus..." [V, 421, vgl. 639ff]. Man hat auch die Lehre von der Musik als der ersten Äußerung des absoluten Einen zur Schöpfung zu beachten. Diese erste Musik hat
22
Vgl. auch das „älteste Systemprogramm" zur neuen Mythologie aus der Zeit 1796-1797 und die vermutliche Verfasserschaft von Schelling: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen,
hg.
v. M. Frank u. G. Kurz [Frankfun a.M., 1975], 110-112, 193ff (Tilliette). Siehe auch M. Frank, Der kommende
Gott, bes. 251-255. II, S. 290.
23
Kritische Schriften und Βήφ,
24
Vgl. Friedrich Schlegels Satz über Schelling aus den „Fragmenten" des Athenäums,
Bd. I, 2. Stück
(1798): „Schellings Philosophie, die man kritisierten Mystizismus nennen könnte, endigt, wie der Prometheus des Aschylus, mit Erdbeben und Untergang." Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe,
Bd.
II, S. 180 [Fragment #105. Auf S. 398 heißt es nach Schlegel: „Der Mystizismus ist die mäßigste und wohlfeilste aller philosophischen Rasereien. Man darf ihm nur einen einzigen absoluten Widerspruch kreditieren, er weiß alle Bedürfnisse damit zu bestreiten und kann noch großen Luxus treiben." Vgl. femer Schlegels kritische Bemerkung über Schelling S. 2 1 6 [#304]; vgl. X C I I .
Einleitung
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eine Mehrzahl göttlicher Potenzen und bedeutet die Entfaltung der Ewigkeit zum Universum [Kap. 2.11.a]. Auch diese Lehre enthält eine Antizipation der späteren Dionysoslehre [vgl. Kap. 1.3]. In seiner Schrift Der kommende Gott [S. 247] hat Manfred Frank auf eine gewissermaßen parallele Auffassung der Mysterien als Erziehungsmethode bei Friedrich Schlegel und Schelling aufmerksam gemacht.25 Schelling scheint schon früh den Begriff solch einer Methode zu haben. In einem Brief vom 12. März 1796 scheibt er: „Ich glaube, daß zu einer Nationalerziehung Mysterien gehören, in welche der Jüngling stufenweise eingeweiht wird. In diesen soll die neue Philosophie gelehrt werden. Sie sollte die letzte Enthüllung sein, die man dem erprobten Schüler der Weisheit widerfahren ließe..."26 Wie ich in meiner früheren Arbeit Schellings Mythologie zu zeigen versucht habe [siehe bes. die Einleitung], hat auch der späte Schelling die erzieherische Aufgabe der Philosophie mit Bezug auf die Mysterien verstanden [vgl. Kap. 6.5, Kap. 10]. In der genannten Arbeit weist Manfred Frank [S. 93] auf eine andere Parallele hin, den Begriff vom Trunken-Nüchternen. In einem frühen Aufsatz des Friedrich Schlegel findet man: J m Gemüte des Sophokles war die göttliche Trunkenheit des Dionysos, und die tiefe Empfindsamkeit der Athene, und die leise Besonnenheit des Apollo gleichmäßig verschmolzen".27 Wie Schellings berühmter - und für das 25
Kritische Friedrkh-Schlegel-Ausgabe, II, 314. An dieser Stelle in der „Rede über die Mythologie" in Schlegels Gespräch über die Poesie (von 1800) äußert sich Ludivico über die großen Einsichten und die revolutionäre Kraft des Idealismus, der „doch nur ein Teil, ein Zweig, eine Außerungsart von dem Phänomene aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden", sei. „Das graue Altertum wird wieder lebendig werden, und die fernste Zukunft der Bildung sich schon in Vorbedeutungen melden. Doch das ist nicht das, worauf es mir zunächst hier ankommt: denn ich möchte gern nichts überspringen und Euch Schritt vor Schritt bis zur Gewißheit der allerheiligsten Mysterien führen. Wie es das Wesen des Geistes ist, sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich heraus zu gehen und in sich zurückzukehren; wie jeder Gedanke nichts anders ist, als das Resultat einer solchen Tätigkeit: so ist derselbe Prozeß auch im ganzen und großen jeder Form des Idealismus sichtbar, der ja selbst nur die Anerkennung jenes Selbstgesetzes ist...".
26
Aus Schelling Leben, in Briefen, hg. v. G.L. Pütt, Erster Band, 1775-1803 [Leipzig, 1869], 89, zitiert bei M. Frank [ebd], 252. Siehe überhaupt Franks Besprechung des Mysteriengedankens in der Frühromantik: Der kommende Gott, 245ff. So wie die kosmischen Götter der Eleusinischen Mysterien kein Geheimnis waren, meinte Schelling nicht, daß die philosophischen „Grundsätze" verborgen oder vorbehalten sein sollten, wie er am Schluß der Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus aus dem Jahre 1795 erklärt [I, 341], Zumal in den letzten Schriften aber gehört es zu seiner Methode, daß gewisse Zusammenhänge nicht ausdrücklich erklärt werden, daß der Leser mitdenken muß, um sie zu entdecken [vgl. X , 171f; XIII, 23]. Vgl. J . G . Fichte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: Werke, hg. v. I.H. Fichte [Berlin, 1845-46], I, 89.
27
Aus Fr. Schlegels Aufsatz „Über das Studium der griechischen Poesie", Kritische F.-Schlegel-Ausgabe, 1,298f. Trunken-Nüchtemheit als Verschmelzung der Gegensätze findet man auch bei Hölderlin: Siehe M. Beh re, J)es dunklen Lichtes voll" - Hölderlins Mythokonzept
Dionysos, 92ff.
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Einleitung
Verständnis seiner Spätphilosophie sehr wichtiger - Spruch lautet, liege das „Geheimniß der wahren Poesie" darin, „in demselben Augenblick trunken und nüchtern zu sein" [XIV, 25]. In unserem Vergleich werden wir mehrmals Gelegenheit haben, diesen Begriff in Betracht zu ziehen. Wie Schelling ihn versteht, hat man an keine Verschmelzung, sondern an zwei gegensätzliche Eigenschaften in demselben Augenblick zu denken, so wie trunkene Begeisterung, nüchterne Wissenschaft.
Die „ intellektuelle A nschauung " beim jungen Schelling und die Kritik an Schelling in Nietzsches späteren Schriften
In seinen späteren Schriften war Nietzsche Kritiker der Philosophie der Frühromantik und in diesem Zusammenhang zugleich Kritiker des frühen Schelling. Es handelt sich aber wesentlich um einen einzigen Gedanken, den Schelling selbst in der spätphilosophischen Geschichte der neueren Philosophie zurückgewiesen hatte, nämlich die „intellektuelle Anschauung" als Vermögen der Gotteserkenntnis. In Schellings früher „Identitätsphilosophie" [unten Kap. 1.2] war die intellektuelle Anschauung als Vernunfterkenntnis der Einheit des Alls zugleich Erkenntnis Gottes. Die Erkenntnis der Einheit gab Anlaß zu Aussagen wie dieser aus der Schrift Bruno (1802): „Jene heilige Einheit nun, worin Gott ungetrennt mit der Natur ist, und die im Leben zwar als Schicksal erprobt wird, in unmittelbarer, übersinnlicher Anschauung zu erkennen, ist die Weihe zur höchsten Seligkeit, die allein in der Betrachtung des Allervollkommensten gefunden wird" [IV, 307], In der Rückschau der Geschichte der neueren Philosophie übt Schelling Selbstkritik: Der intellektuellen Anschauung kommen keine Gotteserkenntnisse zu. Nach ursprünglicher Absicht bedeutete sie nur die Anschaung des Ichs als Subjekts von sich selbst als Objekt,28 aber sie wurde aus dieser Beziehung abstrahiert und zur Anschauung des Absoluten in reinen Vernunftideen verallgemeinert. In dieser abstrahierten Form der intellektuellen Anschauung erkennt der späte Schelling die nur theoretische oder „negative" Vernunft in der Anschauung von Ideen (ähnlich wie in der Geometrie). Daraus kann die Vernunft keine Ansprüche erheben, „positive" Aussagen über die Wirklichkeit zu machen [X, 147-151, vgl. 123-125]. Gemäß der Eingrenzung der Spätphilosophie kann die Vernunft ein wirkliches Seiendes29, das 28
29
„Ursprünglich" bedeutet hier Schellings Definition mit und seit dem System des transzendentalen Idealismus, wo er beginnt, „intellektuelle" statt „intellektuale" Anschauung zu schreiben. Uber „intellektuale" Anschauung siehe I, 285, 317-327, 420; hierüber Walter Schulz' Einleitung zum System des transzendentalen Idealismus [Hamburg, Meiner, 1957], Beim späten Schelling bezieht sich der Ausdruck „das Seyende" nicht nur auf das wirkliche Seiende als die Existenz (das „Daß"), sondern manchmal auch auf den Begriff des existierenden Seienden als des für die Vernunft Erkennbaren und Intelligiblen, daher allein in der Vernunft Denkbaren
Einleitung
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ihr durch Erfahrung, d.h. durch die Existenz, vermittelt wird, denken, d.h. deren Idee (Struktur und Relationen) ideell anschauen. Im nächsten Schritt erhebt sich die Vernunft aus solcher Reflektion des Realen zu abstrakt theoretischem Denken des Alls und der Möglichkeit Gottes als seines Ursprungs. Dies ist der philosophischen Vernunft nur natürlich und für die Philosophie auch notwendig; aber die Vernunft hat die Grenze ihres Vermögens zu erkennen. Was ihr nicht „positiv" zu denken gegeben wird, setzt ihr die Grenze. Sie kann frei alle Möglichkeiten erforschen, aber Tatsachen müssen ihr gegeben werden [bes. XI, 560-572],30 Die Gotteslehre des späten Schelling beruht auf keiner Vemunftanschauung, sondern auf „philosophischem Glauben" [siehe Kap. 1.2], und zwar solchem, der erst infolge der Vermittlungen sowohl der ganzen philosophischen als auch der schon immer damit verbundenen geschichtlichen und persönlichen Entwicklung ermöglicht wird. Unter den veröffentlichten früheren Schriften Nietzsches - bis zu der Zeit der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" - findet man Schellings Namen an nur wenigen Stellen, und zwar in Manuskripten, die von Nietzsche selbst nicht veröffentlicht wurden. Wir diskutieren sie unten in Kap. 2.10.b, Kap. 4.1, und in Kap. 13.6.a.31 Unter den späteren Schriften wird Schelling erst in Morgenröte (1881) erwähnt. Die späteren Erwähnungen von Schelling haben im Wesentlichen denselben Inhalt, die Zurückweisung der intellektuellen Anschauung als eines Vermögens der Gotteserkenntnis [vgl. die „intellektuale Anschauung" bei Nietzsche in Kap. 2.10.b].
30
31
[z.B. XI, 304, 532; XIII, 242]. Nach diesem Gebrauch des Wortes ist das Seiende dasselbe wie das intelligible Wesen oder das „Was" der Dinge. Der Ausdruck „das Seyende" ist offenbar ein Produkt der Vernunft, aber als positiver Begriff soll er dem denkbaren Wesen des Realen entsprechen. Die Korrektur an der früheren Lehre hatte weitere Folgen. In Schellings Identitätsphilosophie und noch in der Freiheitsschrift von 1809 wurde der Weltprozeß von Natur und Geschichte ähnlich wie in Hegels Phänomenologie des Geistes als das Werden Gottes begriffen. Im geschichtlichen Prozeß „gebärt" Gott sich; er wird mit und durch den Menschen nach und nach zum persönlichen Geist [siehe z.B. VII, 403ff; vgl. V, 377ff]. In der Geschichte der neueren Philosophie weist der späte Schelling auch diesen Gedanken zurück; darin erkennt er nun eine Erscheinung der falschen Vorherrschaft des „negativen" Denkens, der sich überschätzenden Vernunft [X, 123-125; vgl. die Kritik an Hegel, 126-164; vgl. Nietzsche gegen Hegels werdenden Gott unten in Kap. 8 (§7-§10); siehe auch Kap. 6.3.b (Anm)]. Vgl. Nietzsches Bemerkung in Menschliches, allzu Menschliches über den „werdenden Gott" und die „Vergottung des Werdens" als die zwar tröstliche, aber irrtümliche Lehre „einer allzuviel historisiernden Gelehrtengeneration" [IV/2, 204 (Bd. I, §238)]. Siehe über diese Stelle bei Nietzsche W.R. Corti, „Die Mythopoesie des .Werdenden Gottes', in: SchellingStudien, Festgabeßr Manfred Schröter, hg. v. A.M. Koktanek [München-Wien, 1965], 97f. Beim späten Schelling ist das Werdende das gefallene erste Prinzip [hierüber Kap. 1, Kap. 3, vgl. Kap. 11.5], Eine Stelle hat keine Bedeutung: Max Müller begehe eine freche Unsauberkeit, wenn er, der das deutsche Wesen leugne, andere Leute wegen Geringschätzung von Kant, Schelling und Hegel tadle [III/3, 113],
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Einleitung
Von den zwei Stellen in Jenseits von Gut und Böse (1886), hat die erste für unsere jetzige Betrachtung keine sonderliche Bedeutung: Mit Schelling weist Nietzsche Lockes Philosophie zurück [VI/2, 203 (§252)].32 Die zweite Stelle hat für die anderen Fälle typische Bedeutung: Sie bezieht sich auf die romantische „Jugend", den „Honigmond", der deutschen Philosophie und auf deren illusorisches „Vermögen fürs .Ubersinnliche'", das Schelling die „intellektuelle Anschauung taufte"; später erwachte die deutsche Philosophie von diesem Traum [VI/2, 19 (§11)]. Um dieselbe frühromantische Periode in der deutschen Philosophie geht es an zwei anderen Stellen. In Morgenröte schreibt Nietzsche von der Periode des „Schiller, Wilhelm v. Humbolt, Schleiermacher, Hegel und Schelling" als der Zeit eines „weichen, gutartigen, silbern glitzernden Idealismus", dem Goethe und „später auch Schopenhauer" kritisch zusahen [V/1, 163f (§190)]. Nach der Schrift Der Fall Wagner (1888) war Richard Wagner „jung" in der „unredlichen" Zeit, wo Hegel und Schelling „die Geister verführten" [VI/3, 30 (§10)]. In Abteilung VII der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches sind Fragmente aus der Zeit 1882-1885 veröffentlicht worden, unter welchen man auch einige Erwähnungen von Schelling findet. Diese scheinen zu den Vorbereitungen für Jenseits von Gut und Böse zu gehören und so wie in Jenseits erscheint der Name gewöhnlich in einer Reihe mit den Namen anderer Philosophen zusammen. Nur einmal ist dies nicht der Fall, nämlich in einer Notiz aus der Zeit Sommer-Herbst 1884: „Der Unfug Kants mit .Erscheinung'. Und wo er keine Erscheinung findet, ein Vermögen anzusetzen! Dieser Vorgang war's, worauf hin der große SchellingSchwindel losging" [VII/2, 271]. Hier handelt es sich offensichtlich auch um die intellektuelle Anschauung als ein Vermögen für das Ubersinnliche. In einem Fragment mit dem Titel „Anti-Kant" aus der Zeit April-Juni des Jahres 1885 findet man wieder denselben Gedanken: „...die jungen Theologen des Tübinger Stifts gingen in die Büsche - alle suchten nach - Vermögen. Und was fand man nicht Alles! Schelling taufte es ,die intellektuelle Anschauung', ein Vermögen fürs .Ubersinnliche'" [VII/3, 165]. Auch in den übrigen Fragmenten geht es um „Theologen". Das folgende ist vom Sommer-Herbst 1884: „Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher, Feuerbach, Strauß - alles Theologen" [VII/2, 150]. Nicht nur läßt die Reihenfolge an den jungen Schelling denken, sondern auch findet sich bei jedem von diesen „Theologen", wenn auch auf verschiedene Weise, ein Vermögen der Gotteserkenntnis. Aus derselben Zeit stammt eine ähnliche Notiz: „Fichte, Schelling, Hegel 32
An dieser Stelle zitiert Nietzsche einen Satz, der von Schelling stammen sollte: „Je méprise Locke". Der Satz kommt weder in Schellings Werken noch in seinen Briefen vor [vgl. XI, 278; XIII, 40], sondern findet sich in einem Brief Schillers an Goethe vom 30. Nov. 1803, im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe [Ausgabe in drei Bänden, Verlag Insel, 1955, II, 465], Schiller schreibt den Satz Schelling zu. Siehe auch unten Kap. 2.7.
Einleitung
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Feuerbach Strauß - das stinkt Alles nach Theologen und Kirchenvätern" [ebd, 260]. Die letzte bedeutende Stelle unter den Fragmenten 33 stammt aus der Zeit Juni-Juli 1885 und handelt offenbar wieder vom jungen Schelling, offensichtlich auch in Zusammenhang mit seinem Gedanken der Gotteserkenntnis: „Im letzten Grunde war es die verhaltene und lange aufgestaute Frömmigkeit der Deutschen, welche in ihrer Philosophie endlich explodirte, unklar und ungewiss freilich, wie alles Deutsche, nämlich bald in pantheistischen Dämpfen, wie bei Hegel und Schelling, als Gnosis..." [VII/3, 333]. 34 Die letzte Erwähnung Schellings bei Nietzsche findet sich in Ecce Homo (1889). Hier scheint die Reihenfolge wieder den jungen Schelling anzudeuten: „Die Deutschen sind in die Geschichte der Erkenntniss mit lauter zweideutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur .unbewusste' Falschmünzer hervorgebracht (- Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher gebührt dieses Wort so gut wie Kant und Leibniz, es sind Alles blosse Schleiermacher -)..." [VI/3, 359]. 35 Angesichts der Hinweise auf den jungen Schelling könnte man vielleicht denken, daß Nietzsche den späten Schelling für bedeutungslos gehalten hätte und ihm daher keine Achtung schenkte. Oder man könnte denken, daß Nietzsche den späten Schelling in den Begriff der früheren Schellingschen Philosophie einordnete, was nur möglich wäre, wenn Nietzsche den späten Schelling nicht gut kannte. Beide Ansichten muß man im Hinblick auf den vorliegenden Vergleich ausschließen.
Schopenhauers Philosophie aus der Sicht des späten Schelling Schopenhauer steht in einem gewissen Sinne zwischen Nietzsche und Schelling und wird in der vorliegenden Arbeit häufig erwähnt. In vielen Beziehungen ist das Verhältnis Schelling-Schopenhauer bemerkenswert. 36 Wie man allgemein anerkennt, ist Schopenhauers Philosophie Hegel und Schelling „auf das tiefste verpflich-
33
Siehe noch VII/2, 235: „die verschiedene Grade des Genusses für .wahr', z.B. Kant und Schelling..." Vgl. auch noch VII/4/2, 461.
34
Aus der Zeit 1887-89 stammt dieser Satz: „...das Deutsch der Wagnerianer ist der verblümteste Unsinn, der seit dem Schellingschen geschrieben worden ist". Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, hg. v. D. Borchmeyer u. J. Salaquarda [Frankfurt a.M., 1994], 1048, zitiert aus: Fr. Nietzsche, Sämtliche Werke (Studienausgabe), hg. v. Colli u. Montinari [1980, 1988 2 ], 13/507.
35
In Schellings Spätphilosophie hat man es gelegentlich
mit einer „bewußt"
ironischen
Darstellungsmethode zu tun, die das Mitdenken des Lesers fordert (vgl. unten bes. Kap. 6.5). Auch Nietzsches ironische Methode läßt an einen bewußten „Schleiermacher" denken. 36
Siehe Schopenhauers kritische Bewertung der Philosophie Schellings im Anhang zum Aufsatz „Skizze einer Geschichte der Lehre vom Realen und Idealen", in: „Uber die Universitätsphilosophie", Parerga und Paralipomena, Bd. 1.
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Einleitung
tet".37 So wird es im folgenden Vergleich hier und dort notwendig, Schopenhauer zu berücksichtigen. Das Folgende bieten wir als eine vorausgehende Orientierung im Verhältnis Schelling-Schopenhauer. Wir kehren zunächst zum Begriff der „negativen" Philosophie zurück. „Negativ" bedeutet beim späten Schelling allgemein eine Vernunft, die sich theoretisch im nur Begriff bewegt.38 Eine negative Philosophie hat für Schelling wichtige Aufgaben, z.B. das kritische Herausfinden des Möglichen und Unmöglichen im Bereich des Gottesbegriffs [XI, 374]. Die „nur negative", darum nihilistische Philosophie überschreitet die oben erwähnte Grenze und will theoretisch37
So nämlich bei Heidegger, Nietzsche I, 44. Es handelt es sich um den Einfluß nur der frühen Schriften Schellings [siehe unten bes. Kap. 2.10]. - Am Anfang von Nietzsches Basler Zeit veröffentlichte Eduard v. Hartmann eine Schrift nicht nur über die Verwandtschaft Schopenhauers mit Schelling, sondern auch über Schellings spätphilosophische Prinzipienlehre. Schellings positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer [Berlin, 1869] ist durch den Versuch motiviert, Hegel und Schopenhauer - für Hartmann die zwei bedeutendsten, aber sich gegenseitig ausschließenden Philosophen der Zeit - zu vereinigen [Iff]. Offensichtlich soll die kurze Schrift dieselbe Vereinigung in Hartmanns eigener Philosophie, nämlich in seiner gleichzeitig veröffentlichten Hauptschrift, Philosophie des Unbewußten, untermauern; vielleicht wurde sie ursprünglich als ein Kapitel in dieser Schrift vorgesehen. Schellings erste zwei Prinzipien werden gemäß der Absicht der Vereinigung von Hegel und Schopenhauer gedeutet: das reale Prinzip ist der (Schopenhauersche) Wille, das zweite Prinzip die (Hegeische) Idee [38]. Hartmann verfolgt viele Spuren der Prinzipienlehre in Schellings Spätphilosophie, aber mit einem seinem Hauptzweck dienenden abziehenden Verfahren, das sehr viele Zusammenhänge unbeachtet und wichtige Unterschiede untegehen läßt. Es ist ihm wichtig, Schellings Spätphilosophie kritisch zurückzuweisen [siehe aber Kap. 4.1], In Schellings Frühphilosophie sieht er nichts Nützliches. Für Schellings geschichtliche Methode interessiert er sich nicht; die Mythologie wird nicht erwähnt. Siehe auch Abschnitt C 15.1 in der Philosophie des Unbewußten [Berlin, 1876]7, II, 423-425, 460. Nach dieser Arbeit findet die Erlösung vom existentiellen Qual des (Schopenhauerschen) Willens (d.h. des Unbewußten) erst in ferner Zukunft statt, nämlich wenn unter nicht gerade allen Menschen das höchste Bewußtsein des Unglücks der Existenz als das „Ziel des Weltprozesses" endlich erreicht wird. Durch heute kaum denkbare technisch geschickte Mittel wird die Menschheit - nun für den Willen selbst handelnd - die Welt vernichten. Zu diesem Ziel führt die „Logik" geschichtlicher Entwicklung, deren Diktate für die Jetztwelt man allerdings anzunehmen hat [ebd, 401411], - Wie bekannt greift der junge Nietzsche die Philosophie Hartmanns sehr scharf an, bes. die Lehre vom Ende der Geschichte, auch die bequeme Bejahung der jetzigen Kultur. Seine Besprechungen erwähnen Hartmanns Beziehung zu Schopenhauer und Hegel; Schelling wird nicht genannt [III/l, 309ff; III/4, 255ff, vgl. 224]. Über Nietzsche-Hartmann siehe J. Salaquarda, „Studien zur zweiten unzeitgemäßen Betrachtung", Nietzsche-Studien, Bd. 13 (1984), 30ff, und die Diskussion bei F. Gerratana, „Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869-1874)", Nietzsche-Studien, Bd. 17, 1988, 391-433.
38
Ursprünglich stammt das Negative bei Schelling von der Wirkung des zweiten Prinzips, das das erste, expansive Prinzip eingrenzt oder negiert [z.B. III, 442; VIII, 73f; siehe Kap. 1.2], In der Spätphilosophie ist die Bedeutung eigentlich keine andere: Das vernünftige Bewußtsein ist das Resultat des Prozesses der Eingrenzung, des Naturwerdens.
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negativ die Wirklichkeit selbst erklären, statt von diesem als dem „Positiven" auszugehen. Bei Schelling findet man das Wort „Nihilismus" in der Beschreibung des falsch-rationalen, nur negativen Denkens in der „indischen" Mythologie [XIII, 405; es gibt viele verwandte Ausdrücke, z.B. „Annihilation", XII, 565]. Bei Schelling hat diese Mythologie typische Bedeutung; sie vertritt die falsche Herrschaft des negativen Denkens als eine kulturelle und religiöse Erscheinung. Daher gebrauchen wir in der vorliegenden Arbeit für diese Herrschaft auch das Wort Nihilismus [siehe über die indische Mythologie in Kap. 3.5]. Das erwähnen wir im Hinblick auf Schopenhauer, dessen Namen nie von Schelling genannt wird, der aber aus Schellingscher Sicht den „indischen" philosophischen Nihilismus vertreten würde. 39 Nach Schopenhauer ist die Welt als Vorstellung nur Schein und darum schließlich etwas Unwirkliches. „Die alleinige Realität" gehöre dem Ding an sich, das nur als Wille positiv bestimmt wird [WWV II, 604 (Kap. 41)]. Im abgeleiteten oder relativen Sinne kommt sie auch der „adäquaten Objektivität" des Dings an sich, den ewigen Ideen, zu.40 Der weise Mensch kontempliert die ewigen Ideen „sub specie aeternitatis" in seliger innerer Unabhängigkeit vom Schein [WWV I, 240 (§32), 246 (§34)]. „Die ächte philosophische Betrachtungsweise der Welt, d.h. diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinaus führt, ist gerade die, welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer und überall nur nach dem Was der Welt fragt..." [ebd. 367 (§53)]. Während in der Scheinwelt die Natur die Individuen vernichtet, jedoch die Gattungen erhält, spreche sie „die Wahrheit aus, daß nur die Ideen, nicht die Individuen, die eigentliche Realität haben..." [ebd, 370 (§54)]. Jenseits der Ideen sei das Ding an sich, das, vom illusorischen Weltschein aus betrachtet, wie nichts erscheine, doch sei es das Wirklichste. „Wirklich ist der solideste Grund für unsere Unvergänglichkeit der alte Satz: Ex nihilo nihil fit, et in nihilum nihil potest revertí" [WWV II, 601 (Kap. 41), vgl. 759].41 39
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Für das heutige Denken reflektieren - wenn in verschiedenen Weisen - Schellings, Schopenhauers und auch Nietzsches Gebrauch vom Begriff „Indien" oder „China" eine durch Provizialität gekennzeichnete Ungerechtigkeit der damaligen Bildung gegen die wirklichen Inder und Chinesen. Man hatte sehr wenig an ein Gespräch mit Indern und Chinesen gedacht; das „Indische" und „Chinesische" waren vornehmlich als Erscheinungsformen des europäischen Bewußtseins begriffen. Aber man meinte doch, mit solchen Begriffen auch weltgeschichtlich zu denken. Die Ideen als die „adäquate Objektivität" des Dings an sich lassen an dieses als ein absolutes „Subjekt" denken, das in die Objektivierung der Ideen übergeht. Man könnte darin den Einfluß der Schellingschen Identitätsphilosophie als Philosophie des Absoluten erkennen. Vgl. unten Kap. 1.2 und bes. Kap. 2.10. Vgl. aus Schellings spätphilosophischen Vorlesungen über die indische Mythologie den folgenden Vergleich der Lehre der Bhagavadgita mit Parmenides. Es handelt sich um Krischnas bekannten Rat an den Prinzen Ardjuna über die richtige Einstellung zu einer bevorstehenden Schlacht, in der Tausende sterben werden. „Kurz, Krischna behauptet hier die absolute Ewigkeit aller Existenzen,
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Die „Erkenntniß des Ganzen" hebe den Menschen über das Leiden des Weltlebens und führe zur „Quietiv des Wollens", zur Gelassenheit als „gänzlicher Willenslosigkeit", zur „Resignation", zum „Opfer" des eigenen Selbst [WWVI, 505, 507 (§68)]. Die Kasteiung des Leibes und die Selbstpeinigung der Asketen, der „Heiligen", breche und töte den Willen zum Leben, die Quelle des Leidens [ebd, 509]. Wer aber die „moralischen Tugenden" übe, d.h. die Menschenliebe als die Selbstentsagung des Individuums aus Mitleid mit der Gattung, der gelange besser zur Willensverneinung [WWV II, 752f (Kap. 48); 1,498ff]. Das Moralische „begleitet den Menschen als eine Leuchte auf seinem Wege von der Bejahung zur Verneinung des Willens" [WWV II, 754]. Seine Botschaft ist immer dieselbe. Dem sterbenden Menschen könnte man nach Schopenhauer sagen: „Du hörst auf, etwas zu seyn, welches du besser gethan hättest, nie zu werden". „Alles was entsteht, ist werth, daß es zu Grunde geht" [ebd, 619f (Kap. 41)]. Die wahre Erkenntnis sei die der uralten indischen Religionen, des Brahmanismus und des Buddhismus, von denen Schopenhauer auch das wahrhafte, d.h. willensverneinende, Christentum ableitet [ebd, 773, vgl. 550]. Der Brahmanismus und der Buddhismus sind für Schopenhauer wesensgleich: Die Nirwanalehre stelle nur eine andere Form der indischen Lehre von der Unwirklichkeit der Welt dar; Buddha sei mit anderem Namen Sankya genannt worden [ebd, 206f (Kap. 17)]. Was der Wille macht, ist das Entscheidende, so daß nicht die Mythen, sondern „der Geist und die ethische Tendenz" das Wesentliche einer Religion darstellen [ebd. 773]. Die Philosophie habe die Aufgabe, dieses Wesentliche in den großen Religionen „rein, unvermischt, also bloß in abstrakten Begriffen" herauszustellen. So weiß Schopenhauer auch die christliche Trinitätslehre zu deuten: Der Heilige Geist sei die Verneinung des Willens zum Leben; der Sohn sei der Mensch, der die Verneinung konkret darstellt; der Vater sei der die Welt hervorbringende Wille, mit dem der Sohn - nach seiner wesentlichsten Realität als Ding an sich - identisch sei [ebd, 781f].42 Der Gottesbegriff selbst aber sei unwesentlich. Die „vornehmste" Religion, er leugnet, daß irgend je etwas wahrhaft entstehen oder vergehen könne, da vielmehr alles ewig sey, weil ein Uebergang vom Nichtseyn zum Seyn unmöglich sey. Denn ,dem Nichtseyenden kann nie Seyn, also auch nie dem Seyenden nicht Seyn werden', oder wie W. v. Humboldt den Vers übersetzt: ,des nicht Seyenden ist nicht Seyn, Nichtseyn ist nicht des Seyenden', ein Vers, der ganz an den beinah gleichlautenden Satz des Parmenides erinnert, wo ebenfalls gesagt ist, daß das nicht Seyende nie seyn könne." Das nennt Schelling eine „ganz abstrakte Lehre" und einen „an sich trostlosen Begriff", mit dem aber Krischna Ardjuna „zu trösten sucht" [XII, 487]. Vgl. unten Kap. 6.2.a (Parmenides); Kap. 12.1 Anm. (über die Lehre des Krischna bei Schopenhauer); Kap. 13.3.b (den „Trost" Schopenhauers). An derselben Stelle zitiert Schelling Krischnas Bemerkung, daß das Obige nach der Sankyalehre auseinandergesetzt sei. Vgl. den Zusammenhang zwischen der Figur des Jesus und der Sankyalehre in Nietzsches Antichrist·, unten Kap. 12.3.a. 42
Vgl. den jungen Schelling in der Philosophie der Kunst: „Das Ewige ist der Vater aller Dinge, der ... sich von Ewigkeit in zwei mit ihm gleich ewige Formen gebiert, das Endliche, welches der an
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der Buddhismus, sei atheistisch, und der Veda des Brahmanismus lehre keinen Schöpfer, sondern nur eine Weltseele, „das Brahm (im neutro)". 43 All das beschreibt bei Schelling gerade die Herrschaft des negativen Denkens, wie man sie in seiner Darstellung der indischen Philosophie vorfindet [XIII, 403ff; XII, 431ff]. Man beachte z.B. die Lehre vom „Brahm": Nach Schelling ist es ein der Wirklichkeit negativ entleertes, abstraktes „Neutrum" [XII, 495, 479], Gerade typische Erscheinungen des Nihilismus sind für Schelling die Herrschaft der rationalen Moral - sie begleitet die Vorherrschaft des Denkens als dessen praktische Seite [Kap. 3.6] - und im christlichen Raum die vom geschichtlichen Boden abgetrennte, abstrakte Interpretation der christlichen Urschriften [bes. XII, 476]. Während Schopenhauer den Buddhismus als wesensgleich mit dem Brahmanismus sieht, begreift Schelling den ursprünglichen Buddhismus - der hier und dort nihilistische Entartungen erleidet - als Gegensatz zur indischen Religion. Nach Schelling ist der ursprüngliche Buddhismus vielmehr mit der ursprünglichen lebensbejahenden Religion des Mithras verwandt. In beiden Religionen erkennt er die „Liebe" des Gottes zur Kreatur, nämlich darin, daß der Gott sich selbst zur Materie, somit zur Leiblichkeit der Welt macht und liebend in ihr wohnt, ihre Wirklichkeit bejahend [Kap. 3.5, Kap. 5.2]. Für Schopenhauer stellen alle Zeiten wesentlich das Gleiche dar; der Gegenwartszustand ist ein ewiger, sofern keine wesentliche Änderung eintreten kann [WWV Π, 550f (Kap. 38), 603f (Kap. 41)]. Jede Gegenwart enthält dasselbe Leiden; Leiden führt zur Willensverneinung. Auch die Liebe ist ein Leiden: „Alle Liebe ist Mitleid", das das Leiden der Anderen zu lindern sucht; es führt zum Aufgeben des Willens zum Leben [WWV I, 499-501 (§66f)]. Dagegen sieht Schelling die Gegenwart in Spannung mit der Verheißimg einer wirklichen Zukunft. Er verwirft eine vermeintliche Menschenliebe, die das gegenwärtige Leiden nicht als Motivation zum Kampf um Verbesserung versteht, sondern im jetzigen Zustand ein vermeintliches Glück sucht [XIV, 272], Aber Schopenhauer benimmt sich als Schriftsteller keineswegs nur als Verneiner des Willens, sondern er stellt das Bild eines im Leiden unerbittlich kämpfenden Kritikers dar. Nach dieser Seite seines Philosophierens wäre Schopenhauer ein Beispiel dessen, was Schelling die Krise der dionysischen Kritik nennt [siehe unten z.B. Kap. 5.2.a]. Durch die schonungslose Schilderung der in der Welt wirklich gegebenen, oft grausamen Zustände will er seinen Leser dorthin führen, wo ihn der
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sich absolute, in der Erscheinung aber leidende und menschwerdende Sohn Gottes ist, dann der ewige Geist, das Unendliche, in dem alle Dinge eins sind" [V, 431, vgl. 294], Aus Parerga und Paralipomeni Bd. I, §13 in den „Fragmenten zur Geschichte der Philosophie" [Ausgabe Grisebach (1890ff), Bd. IV, S. 153],
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„Ernst" des Lebens packen sollte [z.B. WWV I, 362f (§52f)], und mit diesem Ernst übergeht Schopenhauer in die Welt- und Willensverneinung.44 Im letzten Abschnitt der „Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie" beschreibt der späte Schelling einen „Wendepunkt" im Leben eines rational verfahrenden philosophischen Geistes, der durch die persönliche existentielle Erfahrung des „Fluches", der auf dem ganzen Dasein liegt, den „Unwerth" des Lebens einsieht: Er sucht, sich der Unseligkeit des Handelns zu entziehen und sich in das beschauliche Leben zu flüchten. Nach Schelling gibt es bei diesem Versuch drei Stufen, drei „Stationen der Wiederkehr zu Gott". An der ersten Station findet Selbstentsagung als Verneinung des Willens statt. Die zweite Station sei die „Kunst", durch welche das Ich „sich dem Göttlichen ähnlich macht". An der dritten Station „erhebt sich das Ich über das praktische und das bloß natürliche (dianoëtische) Wissen" und „erkennt das Ewige". „Dies also ist es, was das Ich, das der Unseligkeit zu entkommen und sich in seiner Welt selig zu machen sucht, erreichen kann." Nach Schelling ist solche Seligkeit fehlerhaft und muß auch scheitern, denn erstens hat dieses Ich nur ein „ideelles Verhältniß" zum Ewigen, d.h. ein Verhältnis nur im Denken, und zweitens muß es wieder ins tätige Leben eintreten, womit es wieder gerade die „Verzweiflung" der Existenz erlebt, der es zu entgehen suchte. Es kann noch einen weiteren Schritt geben: die Umkehrung zu dem, was „mehr ist als die Idee", die Umkehrung zur positiven Philosophie [XI, 556-560]. Das obige Bild der letzten Stufen der rational-kontemplativen Philosophie freilich ohne die Umkehrung zur positiven Philosophie - scheint Schopenhauer passend zu beschreiben. Auch für den Vergleich Nietzsche-Schelling ist es beachtenswert, daß gerade Schopenhauer am Gipfel der nur negativen Philosophie stehen könnte. Zumal in Kapitel 9, wo wir Nietzsches Schrift Schopenhauer als Erzieher behandeln, werden wir darauf zurückkommen.
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Max Horkheimers Hervorhebung des Willens zum Leben und der Kritik in seinem SchopenhauerAufsatz in der Kritik der instrumentalen Vernunft [Frankfurt a.M., 1967] wäre die Hervorhebung gerade jener dionysischen Krise, aus welcher bei Schelling entweder eine höhere religiös-kulturelle Bildung (wie bei den Griechen) oder der Nihilismus hervorgeht [siehe unten z.B. Kap. 5.2.a]. Nach Horkheimerführen Schopenhauers Gedanken über den Tod in die Verzweiflung: Vgl. unten Kap. 13.3.b.
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Schellings Prinzipienlehre und „Methode" 1.1 Das Apollinische und Dionysische
In seiner Schrift aus dem Jahre 1935, Das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Schelling, hat Otto Kein wertvolle, aber nicht unproblematische Vergleiche Nietzsches mit Schelling gezogen.1 Während er eine bedeutende Sammlung von Verwandtschaften aufgezeigt hat, irrt er sich an einer sehr empfindlichen Stelle der Untersuchung, nämlich in der Auffassung der Schellingschen Prinzipien. Ausdrücklich klammert er Schellings „abgrundtiefe" Spekulationen aus [18, 97,125]; darunter versteht er offensichtlich die Prinzipien- und Potenzenlehre. Trotzdem meint er, über Schellings Prinzipien zusammenfassend reden zu können. Nach Kein kreist die gesamte Schellingsche Philosophie um eine im Frühwerk festgelegte zentrale Einsicht, nämlich um das „Polaritätsgesetz", das verschiedene Bearbeitungen bei Schelling gefunden habe. Das Bedeutendste hat Kein offensichtlich der Freiheitsschrift {Uber das Wesen der menschlichen Freiheit) entnommen: Zwei Elemente treten als Gegensätze aus der ursprünglichen göttlichen Einheit heraus, die sich dann suchen, um schließlich in neuem „Verein" eine höhere Einheit zu bilden [Kein, 23f]. Nach Keins Ansicht ist das von Schelling herstammende Polaritätsgesetz2 hauptsächlich durch Schopenhauer in die philosophische Überlieferung eingegangen und hat Nietzsche beeinflußt, ohne daß Nietzsche sich dieses Ursprungs bewußt wurde. Die zwei Pole versteht Kein so: Das erste Element - nach 1
Keins Arbeit erschien in der Reihe Neue Deutsche Forschungen, Abteilung Philosophie, Bd. 6 [Berlin, 1935], Genau genommen ist sie eher eine Interpretation von Nietzsche und Schelling durch einen Leitbegriff des Dionysischen und Apollinischen, den Kein als allgemeines Kulturgut der deutschen Philosophie seit Schelling auffaßt. Daß er Schelling nicht gerecht wird, zeigen wir unten; seine Ansichten über Nietzsche waren damals nicht originell. Während die Arbeit wegen der problematischen Interpretation wenig Beachtung gefunden hat, ist sie in bezug auf den Vergleich selbst als eine Fundstelle von Spuren heute noch wertvoll. V o r allem weist sie auf den Gedanken des Dionysischen und Apollinischen bei Schelling und Nietzsche hin. Ihre Teile haben die folgenden Uberschriften: „Das Apollinische und Dionysische in der griechischen Kunst", „Einteilung der Künste nach der Lehre vom Apollinischen und Dionysischen", „Das Verhältnis der Wissenschaft zur Kunst in bezug auf Sokrates und den Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen", „Der Kampf gegen Sokrates als Begründer der antidionysischen Moral". Siehe auch Kap. 2.11.b, Kap. 5.3.
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Das W o r t „Polarität" bei Schelling: II, 409, 476; X , 230.
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Kap. 1: Schellings Prinzipien lehre und „Methode"
Kein gleicht es dem Willen bei Schopenhauer - sei der unergründliche Wille, das Unbegrenzte oder Formlose und Unbewußte; dies sei grundsätzlich das Dionysische der Spätphilosophie. Das zweite Element - nach Kein entspricht es dem Begriff der Vorstellung bei Schopenhauer - sei das Begrenzende oder Formende und Bewußte; es hat die Bedeutung des Apollinischen der Spätphilosophie [Kein 23f, 34]. Das Apollinische strebt, das Dionysische zu fassen; in ihrer Vereinigung wird die Fassung erreicht, aber bald löst sich das Apollinische unter der größeren Kraft des Dionysischen auf [Kein, 18, 24f]. Damit hat Kein die Prinzipien nicht richtig aufgefaßt. Schon im System des transzendentalen Idealismus (aus dem Jahre 1800) findet man das folgende Schema, das Schelling bis in die Spätphilosophie festhält. Im Werden des „Bewußtlosen" - als des objektiven Weltseins in den Vorstellungen des Ichs - gibt es eine Dreiheit der Kräfte, welche die später entstehende philosophische Reflexion zu Bewußtsein bringt: (1) die in alle Weite expansive Kraft, (2) die dieser entgegengesetzte (widersprechende), sie begrenzende Kraft, und (3) die synthetische Vereinigung dieser beiden Kräfte in stets höheren Stufen eines „construirenden" Dritten [III, bes. 390394,433-445; vgl. V, 379]. „Das Ich ist ein ursprünglicher Gegensatz, wodurch das Wesen und die Natur der Intelligenz constituirt wird" [III, 479]. In späteren mythologischen Schriften werden grundsätzlich dieselben zwei Urkräfte im kosmischen „Kampf" begriffen; in stets höheren Stufen der Vereinigung als des Dritten (als der Finalursache) finden sie zu synthetischen, ordnenden Konstruktionen.3 Auch hier bringt erst die freie philosophische Reflektion das mythologische Geschehen zum bewußten Begreifen dieses Geschehens. In Schellings Spätphilosophie ist das Apollinische nicht, wie Kein meint, das zweite Prinzip, sondern die stufenmäßig höchste griechisch-mythische Bildung oder Konstruktion des Dritten, das Ideal des Geistes [bes. XII, 668, vgl. 601]. In Ubereinstimmung mit den Eleusinischen Mysterien nennt Schelling das zweite kosmische Prinzip der Mythologie Dionysos. Dieses ist für Schelling das begrenzende, das in die Form bringende und höherführende demiurgische Prinzip. Das erste Prinzip ist stets der Gegensatz, den Dionysos kämpfend überwinden will; die stufenmäßig fortschreitende Uberwindung macht das Erste zur Substanz oder Materie der erscheinenden Konstruktionen im Dritten. 4 „Schon Aristoteles hat auf die ganz analoge Succession von Principen in der Mythologie und der Philosophie aufmerksam gemacht" [XI, 332],5 3
Schon die streitenden Prinzipien des Systems des transzendentalen
Idealismus lassen an Mytho-
logisches denken. Vgl. Schellings Schrift aus dem Jahre 1798, Von der Weltseele: „Diese beiden streitenden Kräfte zugleich in der Einheit und im Conflikt vorgestellt, führen auf die Idee eines organisirenden, die Welt zum System bildenden Princips. Ein solches wollten vielleicht die Alten 4 5
durch die Weltseele andeuten" [II, 381], XI, 386ff, 393ff; XII, 112f; XIII, 226-228, 289f, 346, 341. Wir bemerken folgendes zu Schellings Benennung der Prinzipien in der Spätphilosophie, bes. der
Kap. 1: Schellings Prinzipienlehre und „Methode"
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N i e erscheinen die Urkräfte, die ersten zwei Prinzipien, für sich, sondern jede mögliche konkrete Erscheinung stellt ein Drittes, eine Vereinigung der Urkräfte dar. Sein einfachster Begriff kann als abstrakter Identitätssatz ausgedrückt werden: Subjekt ist Prädikat [XIII, 229; vgl. VII, 341ff]. 6 Es leuchtet v o n selbst ein, daß es nur in der Abstraktion ein völlig prädikatsloses Subjekt geben kann; in der Wirklichkeit erscheint das erste Prinzip schon immer prädiziert. Das Subjekt oder das erste Prinzip ist das Alles (alle möglichen Prädikate oder bestimmten Erscheinungen) Weiden-Könnende, und zwar so, daß es dies auch unaufhörlich sein muß. Die ursprüngliche oder prinzipielle Unbegrenztheit des Subjekts bedeutet ein ewiges Werden der endlichen Welt. Unter den verschiedenen konkreten Erscheinung des Dritten gibt es eine, die besonderer Natur ist u n d zur Freiheit gelangt, nämlich der Geist, so wie in der folgenden Erklärung der Prinzipienlehre aus Schellings Spätphilosophie [vgl. schon den frühen Schelling: I, 356]. Diese Ursachen sind die Principien oder ά ρ χ α ν, deren Untersuchung und Erforschung von den ältesten Zeiten an als Hauptaufgabe der Philosophie betrachtet worden. Philosophie ist nichts anderes als έ π ι σ τ ή μ η τ ω ν ά ρ χ ω ν , Wissenschaft der reinen Principien. Sie können auf verschiedene Weise abgeleitet und benannt werden, aber ihr Verhältniß und das Wesen einer jeden ά ρ χ ή wird sich unter jedwedem Ausdruck als dasselbe darstellen. Annährend an die platonische Darstellung 7 verhält sich das erste Princip als ... das unbegrenzte, τ ο ά π ε ι ρ ο ν , das einer Grenze bedürftige. Die zweite ά ρ χ ή verhält sich als die bestimmende, als die ratio determinans der ganzen Natur, als die Grenze setzende. ... Die dritte ά ρ χ ή ist die sich selbst bestimmende Ursache, die Ursache, die sich selbst Stoff oder Gegenstand und Ursache der Bestimmung und
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Mythologie: Die Prinzipien oder auch „Elemente", „Ursachen", wirken als „Potenzen", „Kräfte", „Willen", „Mächte". Schon in seiner Frühzeit stellt Schelling die ersten zwei Prinzipien als ein Dualismus von Prinzipien im Urwollen dar [I, 395], Später werden sie als zwei Willen gedacht: Vn, 359,375,395; ΧΠ, 87, lllf; XIII, 206, 300, 325; vgl. Kap. 3.1. Wir werden - wie gelegentlich Schelling selbst - die drei Prinzipien auch das „Erste", das „Zweite" und das „Dritte" nennen. Im System des transzendentalen Idealismus bezieht sich „Identität" auf den Begriff der synthetischen Tätigkeit des dritten Prinzips, das im Streit der Prinzipien die Gleichheit von Subjekt und Objekt vermittelt [III, 392; vgl. 520]. Erst durch die Vernunftkonstruktion eines absoluten SubjektObjekts wird das Wort zum Kennzeichen der „Identitätsphilosophie" der absoluten Vernunft [siehe III, 600; IV, 90f; siehe unten Kap. 1.2], Siehe über Platon XI, 391-395. Dort liest man: „Vorausgegangen, wenn nicht in der Begründung, doch in der allgemeinen Erkenntniß dieser drei Ursachen sind uns die Philosophen..." „Dem für sich schranken- und fassungslosen Seyn ... haben wir gleich das Unbegrenzte [S. 388: ά π ε ι ρ ο ν ] verglichen, welches dem Piaton die Materie und Unterlage nicht erst der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, sondern selbst der Urbilder oder Ideen ist." „Die wirklichen Dinge können sich von den Urbildern nicht durch das Was" [Wesen], sondern „nur durch das Daß [Existenz] unterscheiden, und demnach können die Elemente der Dinge keine andern seyn, als die auch Elemente der Ideen sind" [391f; vgl. XIII, 76], Piatons Fehler liegt für Schelling nicht in diesem Begriff der Ideen, sondern in der Umkehrung der wahren Priorität der Existenz (des Daß) vor den Ideen (dem Was).
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Kap. 1: Schellings Prinzipienlehre und „Methode"
Begrenzung ist: Subjekt und Objekt = Geist. Die Folge stellt sich also hier so dar: 1. das Unbegrenzte, Unbestimmte, 2. das Begrenzende, Bestimmende [ τ ο π ε ρ α ΐ ν ο ν], 3. die sich selbst begreifende, sich selbst bestimmende Substanz, als welche sich nur der Geist darstellt. [ΧΠ, 113]
Im Grunde ist die dritte Ursache (Finalursache) die unbestimmte erste (die Substanz), die durch die zweite Ursache Bestimmung annimmt; durch die Vereinigung läßt das Dritte eine bestimmte Bildung erscheinen. Auch ist das Dritte eine durch das Zweite vermittelte Möglichkeit des Ersten als des „Seynkönnenden" oder der „Potenz" des Seins [siehe bes. XII, 270]. 8 Kraft des ihm einwohnenden Zweiten „kann" der freie Geist sich selbst bestimmen oder begrenzen. Am Anfang seiner Arbeit zitiert Otto Kein [5, vgl. 13, 86] den bekannten Spruch des späten Schelling über die „apollinische" im Gegensatz zur nur „dionysischen" Begeisterung: „...in demselben Augenblick trunken und nüchtern zu seyn, dies ist das Geheimniß der wahren Poesie". Wie Schelling erklärt, handelt es sich um „eine blinde, ihrer Natur nach schrankenlose Produktionskraft, der eine besonnene, sie beschränkende und bildende ... Kraft in demselben Subjekt entgegensteht" [XIV, 25]. Das Trunkene oder die Produktionskraft entsteht aus dem Ineinander oder mythologisch ausgedrückt - aus dem dionysischen Kampf der ersten zwei Prinzipien im Bewußtsein des Dichters; das Nüchterne und Bildende bedeutet das Dritte, den Geist. Ein Beispiel solcher Poesie findet sich in einer Ausführung des späten Schelling über „das höchste Werk der Dichtkunst, der Tragödie": Mitten unter den stürmischen Bewegungen, wo die Vernunft über die gräßliche Notwendigkeit verstumme, „erscheint der Geist des Dichters als das stille, allein noch leuchtende Licht, als das allein oben bleibende, in der heftigsten Bewegung selbst unbewegliche Subjekt, als weise Vorsehung, welche das Widerspruchsvollste doch zuletzt zu einem befriedigenden Ausgang zu leiten vermag" [X, 118]. Hier ist der Dichter „in
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„Die Potenz ... ist an sich selbst das Unbestimmte ..., inwiefern sie nämlich Potenz, Subjekt, Materie (denn diese sind gleichbedeutende Ausdrücke) oder selbst das Seyende seyn kann" [XIII, 76]. U m Subjekt oder Materie eines wirklichen Prozesses zu sein, muß diese Potenz ins Sein übergehen und darin die Begrenzung des Zweiten erleiden. Nach der dem obigen Zitat [XII, 113] vorausgehenden Besprechung bei Schelling heißt das erste Prinzip „die vorangehende Ursache, welche den ersten Anlaß und Anfang zum ganzen Prozeß gibt, die zweite i s t . . . die eigentlich schöpferische Ursache, die dritte ist... die alles zur Vollendung bringende, die gleichsam jedem Entstehenden das Siegel aufdrückende" [XII, 112; vgl. bes. X , 242ff; XI, 386ff; XIII, 226-228], - Es gibt beim späten Schelling zwei weitere Ursachen, zunächst einmal Seele: das reale Erste in seinem Begrenztsein, im größten Maß der Begrenzung als der existierende Mensch; darüber hinaus ist Seele ein bestimmter Mensch, der wie kein anderer ist. Sodann gibt es den Geist als die menschliche Seele, die sich selbst als Ichsein bestimmt. [XI, 313ff, 400ff; XIII, 348, 455], Die vierte und fünfte Ursachen sind keine ganz neuen (etwa von außen kommenden), sondern reale Gestalten oder Bildungen der dritten Ursache, so wie der Geist im obigen Zitat. Siehe Seele in Kap. 4.1 und Kap. 5.6. Siehe die Vier und Fünf Kap. 6.1.a.
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demselben Augenblick" eine Zweiheit: Er ist besonnener und frei bestimmender Geist, doch ist er zugleich mitten in der „heftigsten Bewegung" und dem „Widerspruchvollsten" seiner Dichtung. Diese letzten Ausdrücke haben die Bedeutung des Ineinanderseins der zwei ersten Prinzipien als des Grundes der Begebenheiten. Jener Spruch über die „wahre Poesie" hat eine bis in das System des transzendentalen Idealismus zurückreichende Geschichte. Darin meinte Schelling, daß in allem Werden „eine dunkle unbekannte Gewalt" sei. Im Hinblick auf die menschliche Handlung ist diese Gewalt das Schicksal oder die Notwendigkeit als die je gegebene Lage, mit welcher der Handelnde als freier Mensch zu tun hat [III, 615]. Sie stellt den Künstler in den „Schmerz" des „Widerspruchs" mit sich selbst, in den Gegensatz nämlich zwischen seiner Freiheit, seinem freien Geist, und jener Gewalt. Unwillkürlich, „selbst mit innerem Widerstreben wird der Künstler [durch den Widerspruch] zur Produktion getrieben (daher bei den Alten die Aussprüche: Pati Deum usw., daher überhaupt die Vorstellung von Begeisterung durch fremden Anhauch)" [III, 617]. Dieses schmerzlich-begeisterte „Erleiden des Gottes" als jener dunklen Gewalt entspricht der „dionysischen" Begeisterung in Schellings spätphilosophischem „Begriff der wahren Poesie". Die apollinische Begeisterung enthält dieselbe Begeisterung, aber zugleich oder „in demselben Augenblick" hat sie auch die Freiheit des Bewußtseins als der „nüchternen" Beherrschung der Produktion eines Kunstwerks. Im System des transzendentalen Idealismus schreibt Schelling, daß der geniale Künstler wider Erwarten im Kunstwerk die Auflösimg des Widerspruchs erblickt [I, 617]. Im Kunstwerk sind beide vorhanden: sowohl der Widerspruch als auch die Auflösung. Es handelt sich wesentlich um denselben Gedanken, den wir oben in der Schilderung des freien Geistes des Dichters der Tragödie gefunden haben. Aber hier geht es darum, daß der Geist sich aus dem schmerzlichen [dionysischen] Widerspruch, der ihn zur Produktion trieb, zur [apollinischen] Freiheit findet. Nach Schelling sieht dieser Künstler die Sache nicht so, daß er selbst die Auflösung vollbrachte, sondern daß ein Höheres - Schelling nennt es ein göttliches „Genie" -, die aussöhnende Auflösung des Widerspruchs durch ihn bewirkte [III, 617f]. Am Schluß des Systems des transzendentalen Idealismus wird mit dem Kunstwerk die Philosophie der Kunst hervorgehoben. In jenem wird das, was im System des transzendentalen Idealismus reflektiert wird, wie in einem Spiegelbild vertreten: die vom Widerspruch der Prinzipien getriebene Produktion des Objektiven - „die objektive Welt ist nur die ursprüngliche, noch bewußtlose Poesie des Geistes..." [III, 349]. In der Philosophie der Kunst findet die philosophische Nachkonstruktion des Kunstwerdens statt. Den Widerspruch erfährt auch der Philosoph, der ebenso zur Philosophie getrieben wird. Auch die „Anschauung" des Philosophen hat ihr Spiegelbild in der Kunst: „Die ästhetische Anschauung ist die objektiv gewordene intellektuelle Anschauung" [III, 625]. Diese haben wir nun zu verstehen.
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Kap. 1: Schellings Prinzipienlehre und „Methode"
Nach Schellings Erklärungen zum System des transzendentalen Idealismus in der spätphilosophischen Geschichte der neueren Philosophie9 hat das Ich (der Geist als das höchste Ergebnis des Werdens) die Fähigkeit, sich philosophisch-reflektierend die einzelnen Stufen des Werdens zu „erfinden" [X, 95, 98]. Das philosophische Ich findet in sich selbst die „Monumente, die Denkmäler" des ganzen Weges des Werdens vor, Monumente, die es ihm ermöglichen, den Weg reflektierend zurückzulegen, so daß das Ich nun mit Bewußtsein „zu sich selbst" komme [X, 94f], Mit Bewußtsein, denn das Ich rekonstruiert nun den Weg seines Werdens. Es selbst war das ursprüngliche Subjekt des Werdens, das Werden war der unbewußte Prozeß der Produktion der Welt als seines objektiven Daseins. Wie Schelling in der Geschichte der neueren Philosophie bemerkt, handelte es sich bei jener Rekonstruktion in dem früheren Werk um die „Methode" seines Philosophierens überhaupt; sie war schon immer wesentlich eine geschichtliche.1® Nach Schellings Bestimmung in dieser Arbeit beruhte im System des transzendentalen Idealismus „das Princip des Fortschreitens oder die Methode auf der Unterscheidung des sich entwickelnden oder mit der Erzeugung des Selbstbewußtseyns beschäftigten Ichs und des auf dieses reflektierenden, gleichsam ihm zuschauenden, also philosophischen Ichs" [X, 97f], Wesentlich denselben Gedanken hatte er schon in dem früheren Werk selbst ausgedrückt: Als Transzendentalphilosoph sei man „immer zugleich das Angeschaute (Producirende) und das Anschauende" [III, 351]. Sowohl die Produktion als auch das philosophische Wissen um das Produzieren nannte er die „intellektuelle Anschauung" [vgl. X, 148],11 In der ästhetischen Anschauung wird die intellektuelle Anschauung für den Philosophen objektiv, er sieht Subjekt und Objekt vor sich im Werden des Kunstwerkes. 9
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Auch wegen des Zusammenhangs mit der spätphilosophischen Mythologie [Kap. 3] werden wir uns durch Diskussionen in der Geschichte der neueren Philosophie leiten lassen. Über die Geschichtlichkeit seiner Methode siehe schon I, 382. Siehe Walter Schulz' Einleitung zum System des transzendentalen Idealismus [Hamburg, Meiner, 1957], XVIIIff. Wie Schulz zeigt, findet sich der Gedanke des Zu-Sich-Kommens des Geistes ursprünglich bei Schelling, nicht Hegel (siehe die Phänomenologie des Geistes, in den Werken [Jubiläumsausgabe Stuttgart 1964], II, 5Of.)
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Nach dem System des transzendentalen Idealismus ist die Intelligenz (das Ich) das ursprüngliche (das Objekt) Produzierende, dessen Produkt schon immer ein Intelligibles ist. Diese Beziehung von Intelligenz und Intelligiblem bedeutet grundsätzlich Wissen, obwohl dies erst in der philosophischen Reflexion zu Bewußtsein kommt. Die „intellektuelle Anschauung" ist nicht bloß die wissende Anschauung der Produktion, sondern auch „ein Wissen, dessen Objekt nicht von ihm unabhängig ist, also ein Wissen, das zugleich ein Produciren seines Objekts ist". Das philosophische Ich sei „ein Wissen, das zugleich sich selbst (als Objekt) producirt" [III, 369]. „Das Ich ist nichts anderes als ein sich seihst zum Objekt werdendes Produciren, d.h. ein intellektuelles Anschauen" [III, 370], „Das Ich selbst ist ein Objekt, das dadurch ist, das es von sich weiß, d.h. es ist ein beständiges intellektuelles Anschauen" [III, 370, vgl. 511 f].
Kap. 1: Schellings Prinzipienlehre und „Methode"
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1.2 Die Erkenntnis des Absoluten beim jungen Schelling in Unterscheidung von der Gotteslehre der Spätphilosophie In seinem späteren Werk weist Schelling einen Aspekt seiner früheren Philosophie zurück, nämlich die „Identitätsphilosophie" als die Aussöhnung aller Gegensätze in dem rationellen Gedanken des Einen. Nun ist im früheren Werk die Identitätsphilosophie nie bloß für sich da, sondern stets mit der Natur- und Kunstphilosophie verflochten. Diese gingen von den realen Gegensätzen, d.h. von dem Widerspruch der streitenden Prinzipien aus. Der Grundgedanke der Identitiätsphilosophie war der Begriff der aussöhnenden Einheit der Gegensätze. Nach der Identitätsphilosophie ist das ewig-unzeitliche, zuletzt rationell gedachte „Absolute" die alle Gegensätze des Daseins umfassende Einheit und der Grund der Prinzipien. Die Erscheinungswelt offenbart das Eine in Raum und Zeit; ewig treten die Prinzipien aus der absoluten Voraussetzung in die Erscheinungswelt [z.B. V, 378f]. Im folgenden Naturprozeß, welcher die Sache der Naturphilosophie ist, geht das erste Prinzip als das Subjekt unter Mitwirkung des zweiten Prinzips stufenmäßig in das Objektivwerden über. Am absoluten Ende des Prozesses steht sich das Subjekt als fertiges Objekt selbstidentisch gegenüber und erkennt sich selbst als absolutes Subjekt-Objekt. 12 So ist es auch die dritte Ursache als der absolute Geist. In der absoluten Vernunft macht das Absolute den Weg vom Anfang als dem bloßem Subjekt bis zum Abschluß als dem absolut fertigen Objekt durch, aber nur in der absoluten Vernunft, rein der Theorie nach; denn Schelling war auch der Ansicht, daß das real-geschichtliche Werden selbst nie zu einem absoluten Ende kommen kann. Das Endliche muß endlich bleiben; es wird nur im Absoluten zum ewigen und ewig-fertigen Subjekt-Objekt. Diesem Absoluten entspricht eine absolute Erkenntnis: die verabsolutierte intellektuelle Anschauung. Hier handelt es sich nicht mehr um das Subjekt als das konkrete Ich in Anschauung des realen Objektes, sondern um ein „absolutes" Subjekt und ein „absolutes" Objekt. Um sich vom Ich zum Absoluten zu erheben, hat Schelling nur ein Mittel: die Vernunft, und durch sie erfährt die intellektuelle Anschauung eine gründliche Verwandlung. Wie Schelling in der Identitätsphilosophie meinte: „Nicht ich weiß, sondern nur das All weiß in mir..." „In der Vernunft erkennt die ewige Gleichheit des Subjekts und Objekts sich selbst, d.h. die Vernunft ist eine unmittelbare Erkenntniß von ihr... Nun ist aber eben diese Gleichheit des Subjekts und Objekts ... die Idee des Absoluten" [VI, 153].13 12
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Siehe bes. Geschichte der neueren Philosophie X, 108 (vgl. u.a. Philosophie und Religion aus dem Jahre 1804, VI, 29ff.) Die folgende Darstellung gründet insbesondere auf die Darstellung in der Geschichte der neueren Philosophie, X, 17-26, 34-36, 56-58, 114-127, 146-151, 173-175, 177-181. So nach dem System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere aus dem Jahre
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Es war Schellings Versuch in der Identitätsphilosophie, die absolute intellektuelle Anschauung als eine reale und unmittelbare zu begreifen, so nämlich wie in seiner ursprünglichen Bestimmung der intellektuellen Anschauung. Auch dies aber erreichte er nur durch die Vermittlung eines Vernunftverfahrens. Während er das „Allgemeine" der Vernunft als das Ideelle - auch als Idee des Absoluten - und das „Besondere" der Welterscheinungen als das Reale anerkannte, fand er zu ihrem hier nötigen Gleichsetzen so: Das Besondere bestehe nur durch die Form, diese aber sei im Absoluten mit dem Allgemeinen eins oder identisch. Im Absoluten sei daher auch die Einheit von (allgemeinem) Denken und (besonderem) Sein; diese Einheit werde in der intellektuellen Anschauung erkannt. N u n wurde von der absoluten intellektuellen Anschauung behauptet: „Alle Anschauung ist Gleichsetzen von Denken und Sein, und nur in der Anschauung überhaupt ist Realität." „Intellektuell nennen wir diese Anschauung, weil sie Vernunft-Anschauung ist und als Erkenntniß zugleich absolut eins mit dem Gegenstand der Erkenntniß." 14 Diese Ansicht hält Schelling in der Spätphilosophie für einen Irrtum: Solche Vernunftanschauung kann nur ideell sein. Nun wird es für Schelling zum kritischen Punkt, zwischen nur Ideell und Real deutlicher als vorher zu unterscheiden. 15 Real sind Natur und Geschichte; aus diesen als dem Realen können die Prinzipien und ihr widersprüchliches Zusammenwirken im Produzieren des Realen abstrahiert werden - so wie in der früheren Naturphilosophie und vor allem im System des transzendentalen Idealismus.16 Und ähnlich wie im Kunstwerk können in der Mytho-
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1804, VI, 140, 150f, 153 (siehe die ganze Besprechung VI, 131ff). Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802), IV, 361-372; vgl. V, 378-382; VI, 21ff; VII, 148ff. In den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie aus dem Jahre 1806 liest man: Die „Idea" sei das „in Gott aufgelöste Wesen der Dinge, d.h. das Wesen des Besonderen [Konkreten], sofern es unmittelbar auch Seyn und unendliche Position von sich selbst ist". „Die Idea ist daher auf keine Weise zu denken als Allgemeinbegriff oder als Gattungswesen; denn jener ist der Begriff im Gegensatz mit dem Seyn, die Idee aber der Begriff als die unendliche Bejahung vom Seyn; auch ist sie nicht außer dem Besonderen, sondern selbst das Besondere, inwiefern es als eine ewige Wahrheit in Gott ist" [VII, 162; vgl. 169], Im System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere steht zu lesen: „Die Erkenntnißart des Absoluten ... ist auch eine contemplative. - Jede unmittelbare Erkenntniß ist überhaupt = Anschauung, und insofern ist auch alle Contemplation Anschauung. Da aber die Vernunft hier das Erkennende ist, so ist diese Anschauung eine Vernunft-, oder, wie auch sonst genannt, eine intellektuelle Anschauung" [VI, 153], Ansätze zu solcher Kritik sind schon beim jungen Schelling vorhanden, bes. in den Briefen über Dogmatismus und Kmicismus (1795) [1,281ff]. An einer ander Stelle heißt es: Der Idealist sei „von Gespenstern überall umgeben"; seine (Begriffs-) Anschauung sei ein „todter Gedanke" [I, 362], In dieser Arbeit geht Schelling vom realen Wirken der Prinzipien aus; er abstrahiert vom Realen die Genesis und den Ablauf des realen Werdens. Man wisse um das Wirken der Prinzipien „offenbar nicht unmittelbar, sondern nur durch Schlüsse" [III, 395], Nach dieser Arbeit hat „Abstraktion" die Bedeutung des „Urteils", nämlich des ersten oder ursprünglichen „Teilens" des
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logie die Prinzipien in ihrem Zusammenwirken bildlich angeschaut werden, nämlich in den Göttern und ihrer Geschichte. Z.B. stellt die Urgöttin Urania den Widerspruch der Prinzipien im Weltgrund dar. Rückblickend auf die Identitätsphilosophie meint der späte Schelling: „Mit dem ersten Schritt" befand sich diese Philosophie „in der Natur" als „in der Sphäre der Anschauung" [X, 146, 138], d.h. in der Sphäre des realen und real widersprüchlichen Wirkens der Prinzipien. 17 Für den frühen Schelling war das Ideal der Einheit der Widersprüche selbst kein nur rationelles Ideal der Vernunft. Nach dem wichtigen Schlußteil des Systems des transzendentalen Idealismus erreicht der ewige Widerspruch der gegensätzlichen Prinzipien eine gewisse Aussöhnung im genialen Kunstwerk, und zwar wie durch ein unerwartetes Wunder Solche Kunst sei „die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt" und sie überzeuge uns „von der absoluten Realität jenes Höchsten" als der göttlichen Einheit der realen Gegensätze [III, 617f].18 Das war etwas Anderes als nur
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Begriffs von dem realen Produkt; vorher liegt der Begriff ununterschieden im Produkt oder anschaulichen Objekt vor [III, 507f], „Was wird aus dem Begriff, wenn alle Anschauung aus ihm hinweggenommen ist?" - „der anschauungslose Begriff" oder auch der „logische Begriff" [III, 513]. - Nach Schellings Ansicht in der Geschichte der neueren Philosophie hat Hegel durch eine falsche Umkehrung der wahren Priorität „die abstraktesten Begriffe" wie „Werden, Daseyn, u.s.w" vorangestellt. „Abstrakta aber können doch natürlicherweise nicht eher daseyn, ...als das ist, wovon sie abstrahiert sind: ein Werden kann nicht eher seyn als ein Werdendes, ein Daseyn nicht eher als ein Daseyendes" [X, 140f; vgl. unten Kap 6.2.a]. Vgl. z.B. die „Deduktion der Materie" im System des transzendentalen Idealismus, III, 440ff. D o r t liest man: „Der erste Moment ist der, wo die beiden entgegengesetzten Kräfte als in einem und demselben Punkt vereinigt gedacht werden. Von diesem Punkt aus wird die Expansivkraft [des Unbegrenzten] nach allen Richtungen wirken können, welche Richtungen aber nur mittelst der entgegengesetzten Kraft unterschieden werden, die allen den Grenz- also auch den Richtungspunkt gibt" [445], Im genialen Kunstwerk ist die überraschende Aussöhnung des Widerspruchs eine Wirkung des dritten Prinzips; so auch ist das in der wahren Kunst wirkende göttliche „Genie" [ebd] ein bildendes Drittes. Nach dem Kapitel über die „Wissenschaft der Kunst" in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) sei „Construktion [das Dritte] allgemein Aufhebung von Gegensätzen" [V, 351], Vgl. folgendes aus derselben Arbeit: „Ich rede von einer heiligeren Kunst, derjenigen, welche, nach den Ausdrücken der Alten, ein Werkzeug der Götter, eine Verkündigerin göttlicher Geheimnisse, die Enthüllerin der Ideen ist, von der ungebornen Schönheit, deren unentweihter Strahl nur reine Seelen inwohnend erleuchtet..." [345] Die wahren Künstler seien „still, einfach, groß und nothwendig in ihrer Art, wie die Natur". Der Enthusiasmus, der sie beseele, sei „in einer gottähnlichen Freiheit zugleich die reinste und höchste Nothwendigkeit". Das so beseelte menschliche Genie als der wahre Künstler sei „autonomisch, nur der fremden Gesetzgebung entzieht es sich, nicht der eignen, denn es ist nur Genie, sofern es die höchste Gesetzmäßigkeit ist" [349]. Vgl. auch folgendes Bemerkenswertes aus der Schrift Bruno (1802): „Um in die tiefsten Geheimnisse der Natur einzudringen, muß man nicht müde werden, den entgegengesetzten und widerstreitenden äußersten Enden der Dinge nachzuforschen; den Punkt der Vereinigung zu finden, ist nicht das Größte, sondern aus demselben auch sein Entgegengesetztes zu entwickeln, dieses ist das eigentliche und tiefste Geheimniß der Kunst" [IV, 328].
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rationelle Theorie: Es war die Äußerung eines existentiellen Bedürfnisses aus der Erfahrung des schmerzlich-widerspruchsvollen Lebens einerseits und andererseits der erfahrenen Lösung dieses Widerspruchs in der Kunst. Gewissermaßen könnte man sagen, die Identitätsphilosophie war nur eine Vernunft-Reflektion jener Offenbarung; freilich lag im Begriff solch einer Offenbarung ein Inhalt, den die philosophische Vernunft reflektieren mußte. Nicht nur in der Kunst, sondern auch im verwandten Begriff der Religion, z.B. bei den Griechen, hatte der junge Schelling real-geschichtliche Lösungen des existentiellen Widerspruchs gesehen, und zwar in engem Zusammenhang mit der Kunst. Nach den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) sind Religion und Kunst so sehr verbunden, daß diese „in" jener entstehe, während jene zu „einer wahrhaft objektiven Erscheinung" nur durch die Kunst gebracht werden könne [V, 352]. Wir werden unten einen sehr ähnlichen Begriff der Beziehung zwischen Kunst und Religion beim späten Schelling finden. In der Selbstkritik der Spätphilosophie meinte Schelling, die frühere Idee des Absoluten (als Gottes) sei kein Reales, sondern vielmehr die abstrakte Konstruktion der Vernunft [X, 123-125, vgl. 145-151]. Im Denken des Absoluten wurde die intellektuelle Anschauung aus dem konkreten Zusammenhang herausgenommen, sie war „nur noch Sache des reinen Gedankens" [X, 148; vgl. schon IV, 360]. Der späte Schelling verallgemeinert: Wenn auch die Vernunft immer für sich die Idee des Absoluten sucht, so muß sie auch notwendig zur Idee des Absoluten als dem Resultat ihres Denkprozesses finden; denn solches Vermögen liegt schon immer in der Natur der Vernunft selbst.19 Aber wenn man dabei glaubt, daß dieser Denkprozeß auch real sei und daß das Resultat, die Idee, das wirklich existierende Absolute, Gott, sei, so hat man nach Schelling zwei wichtige Fehler begangen: erstens hat man die Wirklichkeit eines nur theoretischen Prozesses behauptet; zweitens hat man das Resultat des Prozesses zu dessen absoluter Voraussetzung gemacht. Auch in der Identitätsphilosophie wurde der Prozeß des Werdens als der ewigen Übergang des ewig-absoluten Subjekts in die objektive Welt gedacht, aber zum absoluten Subjekt gelangte sie erst am Schluß des Prozesses: Sie dachte bis zu einem vorgestellten Ende des Prozesses, wo theoretisch alle Möglichkeiten des Sub-
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Über die absolute Vernunftidee in der Spätphilosophie siehe bes. XI, 558-563; vgl. XIII, 148-150. Die Vernunft hat das Vermögen, ganze Ketten von Schlüssen bis zum Ende und wieder zum Anfang zurück sozusagen fliegend durchzumachen; denn sie selbst ist das Apeiron [vgl. X , 173f], Sie hat ihre besondere Art von Anschauung, nämlich die (subjektive) Anschauung der (objektive) Ideen [vgl. X , 151]. Die Ideen selbst haben Objektivität, daher setzen sie sich, obwohl rein negativ, doch auch aus den Prinzipien zusammen (vgl. oben Piaton). Siehe X I , 392, vgl. 352-354. - Wenn mit der Vernunft allein keine A n t w o r t auf die Frage nach G o t t erreicht werden kann, so hat die Vernunft als das Letzte ihres Verfahrens das Vermögen, die Frage nach G o t t erst wirklich zu stellen [bes. X I , 561],
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jekts objektiv fertig geworden waren und postulierte dadurch das für sich seiende absolute Subjekt. Dieses für sich seiende Subjekt wurde dann an den Anfang als dessen Voraussetzung zurück versetzt. Somit war das Resultat eines Vorgangs nur im Denken zum Anfang gemacht [petitio prinzipii] [Χ, 123-125]. 20 Nicht geht es darum, daß es kein anfängliches Subjekt geben kann, sondern darum, daß das wahre Subjekt gefunden wird, wie wir unten sehen werden. Nun aber unterscheidet Schelling zwischen einer falschen oder „nur negativen" Philosophie, welche der Vernunft die Vorherrschaft über der Wirklichkeit zuerkennt, und „positiver" Philosophie, welche von den Grenzen der Vernunft weiß und die Priorität der Wirklichkeit gewährt. „Die ganze Geschichte der Philosophie zeigt einen Kampf der negativen und positiven Philosophie" [XI, 564]. Für den späten Schelling ist das innere Wirkliche in der konkreten Wirklichkeit noch immer das dynamisch-kämpfende Ineinander der Prinzipien, und nach wie vor sieht er es als Aufgabe, den wirklichen Weg des Werdens philosophisch nachzukonstruieren. Insofern ist die „Methode" und im allgemeinen auch der Hauptinhalt des frühen Systems des transzendentalen Idealismus für den späten Schelling noch gültig [siehe z.B. XIII, 364]. Insbesondere in der Spätphilosophie hebt Schelling das erste Prinzip als das „Apeiron", das Unbestimmte, der klassischen griechischen Philosophie hervor [Kap. 1.1]. Nach wie vor geht es um den Begriff des an sich grenzenlosen Subjekts des unendlichen Prozesses des Werdens. Jenes absolut Bewegliche [Apeiron]..., das fortwährend ein Anderes ist, in keinem Moment sich festhalten läßt, das erst im letzten Moment (bemerken Sie diesen Ausdruck wohl!), das erst im letzten Moment wirklich gedacht wird, wie verhält sich dieses Bewegliche zum Denken? Offenbar nicht einmal als eigentlicher Gegenstand desselben; denn unter Gegenstand versteht man etwas Stillhaltendes, Stillstehendes, Bleibendes. Nicht eigentlich Gegenstand ist es, vielmehr die ganze Wissenschaft hindurch die bloße Materie des Denkens; denn das wirkliche Denken äußert sich eben nur in der fortgehenden Bestimmung und Gestaltung dieses an sich Unbestimmten, dieses nie sich selbst Gleichen, immer ein Anderes Werdenden. [X, 150f; vgl. XI, 396; ΧΙΠ, 76]
Mit jenem „letzten Moment" meint Schelling nicht das absolute Ende des Werdens das es nur „negativ" oder nur theoretisch geben kann -, sondern den letzten Moment der jetzigen Erfahrung: im dritten Prinzip als Prinzip der zwar vorübergehenden, aber relativ stehenbleibenden Erscheinung der Dinge. Allein in der Erscheinung hält
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„Gott war jenes zuletzt als Subjekt, als über alles siegreich stehen bleibende Subjekt, das nicht mehr zum Objekt herabsinken kann; eben dieses Subjekt war durch die ganze Natur, durch die ganze Geschichte, durch die Aufeinanderfolge aller Momente hindurchgegangen, von denen es nur das letzte Resultat schien..." [X, 123]. - In der Identitätsphilosophie hatte Schelling die Sache allerdings differenzierter gedacht, wie Manfred Frank in seiner Arbeit Der Unendliche Mangel an Sein [München, 1992], 151ff, nachweist und wie der späte Schelling selbst kurz zu zeigen versucht [X, 145ff],
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sich das Subjekt momentan stille und wind denkbar. Wirkt das Zweite, um das Erste „zu sich" als Selbstbewußtsein zu bringen, so bewirkt es dies nicht auf einmal, sondern so, daß Stufen des Weges als der ganzen Natur und der Geschichte erscheinen. Die Stufen stellen den Prozeß des Weges dar [vgl. XIII, 288f, 296f, 345348; XI, 393], Wie der späte Schelling schreibt, sucht die Philosophie nach „dem, ,was Ist'" als dem Subjekt des Werdens [X 149], Nach einer anderen Formulierung sei „das was Ist" das „Subjekt des Seyns". „Das [objektive] Seyn selbst" verhalte sich „zu dem, was ist, als Prädicat" [X, 17]. Man erkennt darin wieder den einfachen Satz: Subjekt ist Prädikat. Steht nun das Subjekt im dritten Prinzip momentan still, so tut es dies vor allem in der höchsten Gestalt des dritten Prinzips, des Geistes als des IchBewußtseins.21 Philosophisch weiß dieser von sich als Subjekt-Objekt: Obwohl er freilich nicht ewig feststeht, erkennt er sich selbst doch als „das, was Ist". Sozusagen mit einem Schlag, im „letzten Moment", hat der Geist alle drei Prinzipien unterschiedlich in einer Einheit, eben dem Geist selbst, der in demselben Moment seine ganze Geschichte in sich hat, und zwar eine, die rekonstruiert werden kann. Das Unbestimmte hat im Geist alle Stufen des Werdens der Natur bis zum Selbstbewußtsein und dessen Geistigkeit durchgemacht. In den Erklärungen der Geschichte der neueren Philosophie greift Schelling insbesondere auf gewisse Begriffe des Systems des transzendentalen Idealismus zurück: In der früheren Schrift hatte er gesagt, das werdende Ich oder Subjekt „verliert" sich in seinem Objektsein oder im objektiven Werden. Das heißt, im Prozeß des Werdens ist es als Subjekt vorerst gar nicht da, sondern nur als Objekt. Aber dann gelangt es schließlich zur Stufe, wo es sich als des Subjekts dem Objekt gegenüber bewußt wird, wo es zum Selbstbewußtsein kommt [III, 628, 500, 369, 341].22 Dieses „Sich-Verlieren" nennt der späte Schelling auch ein „Außer-Sich-Seyn": Während das Subjekt mit dem (geschichtlichen) Weg des unbewußten Werdens (der Produktion der Welt) involviert ist und darum noch nicht zum Ausdruck „ich bin" gelangt, sei es „außer sich" oder „ekstatisch". Sage es aber, „ich bin", so sei es „zu sich gekommen" [X, 94, vgl. 124, 186]. Das „Außer-Sich-Seyn" sei ein Zustand der „gänzlichen Selbstverlorenheit" und der „Erniedrigung". Den Geist als das zu-sich-gekommene Ichsein nennt Schelling einen Zustand der „Erhöhung" [X, 25, vgl. 130]. Erniedrigung und 21
In Schellings späten M y t h o l o g i e liest man, daß die griechischen Götter „das Princip einer unabläßigen Bewegung in sich selbst besiegt erhalten", d.h. sie sind Geist und geistiger W i l l e [XII, 652f],
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Im System des transzendentalen Idealismus schreibt Schelling: „Das Seyn ist in diesem System nur die aufgehobene Freiheit" [III, 376], Die Freiheit bedeutet hier das ursprüngliche Subjektsein des Menschen, das im Sein als dem Objektiven aufgehoben oder verloren wird. Die Freiheit ist von Anfang an f ü r Schelling eine sittliche Forderung der Philosophie, das wahre Höchste, aber auch stets Gesuchte.
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Verlorenheit bedeuten Außer-Sich-Sein; Erhöhung findet in der fortschreitenden Entwicklung stufenmäßig als die Erhebung dieses Seins in den menschlichen Geist statt. 23 Nach der Geschichte der neueren Philosophie ist das zweite Prinzip, das „Lichtprincip" der Natur, das erhöhende Prinzip. Es vermittelt dem Ersten das ZuSich-Kommen, die Geistigkeit [X, 103-115].24 Gegen Ende der genannten Arbeit kommt Schelling auf dieses Geistwerden zurück: „Wenn Sie sich zurückrufen, was bei Gelegenheit der Naturphilosophie ausgesprochen worden, so ist das im Menschen sich selbst Bewußte und zu sich Gekommene - dieses ist das durch die ganze Natur Hindurchgegangene, das gleichsam alles getragen, alles erfahren hat, das aus der Selbst-Entfremdung wieder in sich, in sein Wesen Zurückgebrachte." Das Subjekt ist nun der „zurückgebrachte Anfang" [X, 185], Das im Objekt außer-sichseiende Subjekt „kommt zu sich", dadurch nämlich, daß es zu oder in sich „zurückgebracht" worden ist, und zwar durch das Wirken des erhöhenden zweiten Prinzips. Das Subjekt ist nun zum freien Geist, zum selbstbewußten Ich geworden. Versteht das Ich nun, seinen Werdensweg philosophisch-reflektiv zurückzulegen und zu rekonstruieren, so weiß es von seiner ursprünglichen Unbestimmtheit, seinem Außer-Sich-Sein als Objekt, und seiner Erhöhung, seinem Zu-Sich-Kommen. In der Geschichte der neueren Philosophie weist Schelling auf eine gewisse Entwicklung in seiner eigenen Philosophie hin: Die Naturphilosophie wurde zur Philosophie der Geschichte, dort nämlich, wo der zu-sich-gekommene, freie Geist in die Geschichte als die Sphäre der Freiheit des Handelns, somit auch des schlimmen Mißbrauchs der Freiheit, überging. „Hier, wo die höchste und am meisten tragische Dissonanz hervortritt..., hier sieht der Mensch sich genöthigt, etwas zu erkennen, das höher ist denn die menschliche Freiheit", etwas, das eine „höhere Gesetzmäßigkeit" auch bei der „freieste, ja gesetzloseste Handlungsweise des Individuums" handhabe [X, 116]. Die höhere Gesetzmäßigkeit ist nicht etwa eine allwaltende Moral, sondern - wie wir unten sehen werden [Kap. 3] - die Mythologie. Noch höher als die Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeit ist die letzte
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Diese Ausdrücke: Außer-Sich-Sein, Verlorenheit, Erniedrigung, Erhöhung, kehren in Schellings spätphilosophischen Mythologie wieder und zwar mit grundsätzlich denselben Bedeutungen: Siehe Kap. 3. Vgl. Erhöhung als „Erhebung" schon in der Freiheitsschrift, VII, 363, 381.
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Die Vermittlung geschieht durch den Kampf und das Leiden des Bewußtseins, wie wir zumal in Schellings Mythologie sehen werden [Kap. 3]. Stufenweise muß das Verlorensein (durch das Zweite) „überwunden" weiden; auch muß der gewordene Geist seine Freiheit stets erweitern und durch neue Überwindungen wahren. „Wirkliches Denken ist, wodurch ein dem Denken Entgegenstehendes überwunden wird. Wo man nur wieder das Denken und zwar das abstrakte Denken zum Inhalt hat, hat das Denken nichts zu überwinden. ... Die Poesie kann z.B. ein poetisches Gemüth im Verhältniß und im Kampf mit der Wirklichkeit darstellen, da hat sie einen wirklich objektiven Inhalt. Die Poesie kann aber auch die Poesie überhaupt und in abstracto zum Gegenstand haben - Poesie über die Poesie seyn" [X, 141],
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Stufe, die Erkenntnis höchster Freiheit, nämlich in der „Umkehrung" oder auch „Umkehr" der Philosophie. Die Umkehr wollen wir zunächst mittels des abstrakten Begriffs darstellen, um nachher die Frage zu stellen, welche die springende reale Erkenntnis, die diese einführte, wäre. Schelling nennt das Höhere das „überschwenglich Seyende" oder das „rein Seyende", gegen welches das philosophische Ich sich als nur Subjekt verhalte. Das Höhere sei das „in reiner unendlicher Objektivität - in unendlicher Freiheit von aller Subjektivität - seyende" [X, 180]. Wo dem Ich diese Erkenntnis aufgeht, sieht es ein, daß das ganze bisherige dem Subjekt Objektive, in welchem das Ich vorher nur sich selbst erkannte, jenes Überschwängliche schon immer sozusagen als dessen höhere Dimension hatte; in Verhältnis zu diesem wird das Ich seiner grundsätzlichen Natur als Subjekt (Apeiron) bewußt. Ebenso tritt das Höhere als das Prinzip hervor, das alles Objektive hat werden lassen: das erhöhende zweite Prinzip. Dieses wird in seiner Freiheit vom menschlichen Subjekt erkannt, und zwar so, daß es dem philosophischen Subjekt als die reine unendliche Objektivität aufgeht. Das Aufgehen dieses Verhältnisses nennt der späte Schelling die „Umkehr" oder „Umkehrung" der Philosophie [bes. XI, 566, vgl. XIII, 159, 241, 365]. Nach Schellings früherer Philosophie ging alles vom Subjekt (ob als Ich, ob als dem theoretisch-gedachten absoluten Subjekt) aus, das die Zweiheit der Prinzipien in sich hatte - es war „seine" Zweiheit -; im Werden stellte das Subjekt das Objektive als sein Produkt her [vgl. X, 180]. So findet der Prozeß auch nach der Umkehr statt, nur wird nun das zweite Prinzip von Anfang an als das Höhere, das Mehr-AlsSubjekt, erkannt. Es wird nicht etwa als Eigentum des menschlichen Subjekts gesehen, sondern als etwas Freies, dem menschlichen Subjekt Zukommendes. Wenn nun das philosophische Ich, sich umkehrend, vor dem „rein Seyenden" in das reine Subjektsein ( das reine Bewußt-Sein) zurücktritt, so erkennt es das Werdende als das Werk des höheren Zweiten. Freilich ist das Subjekt an allem Werden beteiligt: alles Werdende ist „aus" ihm geworden. Aber die Perspektive hat sich umgekehrt: Das Werdende ist das kraft des Zweiten fortwährend „ein Anderes" Werdende.25
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Vgl. Schellings Sätze: „Alles ist Osiris" oder „alles ist Dionysos" [siehe unten in Kap. 5.3], Hier hat „alles" die Bedeutung des Subjekts, nämlich als alles, was „aus" dem Subjekt geworden ist. Wieder die abstrakte Form: Subjekt ist Prädikat. N u n aber wird das Prädikat als „Osiris" oder „Dionysos" - nach Schellings Deutung mythische Erscheinungen des zweiten Prinzips - zur Hauptsache; dieses Prinzip bestimmt „alles" durchgehend oder erhöht es. „Ein Anderes werden", heißt also die Erhöhung des Ersten durch das Zweite. Subjekt ist Prädikat = das Erste ist das Zweite. Es besteht Ironie darin, daß man an jedem Punkt im Prozeß des Werdens je nach Perspektive das Erste oder das Zweite im Vordergrund bzw. im Hintergrund sehen kann. Daß das Erste „fortwährend ein Anderes wird", heißt einerseits: Die Veränderung ist dem Ersten natürlich, sein Anderswerden ist nur die Entfaltung seiner Möglichkeiten. Andererseits aber heißt es: Das Erste wird erhöht, es wird „Dionysos". - Im „objektiven Gang der Dinge", „in der Welt selbst" oder „im Sein" sei „Weisheit" [XIII, 203],
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Das hier Gemeinte ist ähnlich wie das Verhältnis des Künstlers zu seinem genialen Kunstwerk in Schellings Frühphilosophie: Unerwartet findet der Künstler sein Kunstwerk zum Werk des Genies erhoben - eine „Offenbarung", wie wir oben gesehen haben. Ferner besteht beim jungen (siehe oben) und alten Schelling eine Parallele im Begriff der Beziehung von Religion und Kunst. Die neue Subjektivität der Umkehr entspricht dem Begriff des Religiösen. In der spätphilosophischen Geschichte der neueren Philosophie steht zu lesen: „Ist nun die Kunst das Objektivste menschlicher Thätigkeit, so ist die Religion die subjektive Seite derselben..." Die Philosophie vereinige in sich „das Objektive der Kunst und das Subjektive (oder die Unterwerfung) der Religion" [X, 118f]. Auch wird in dieser Arbeit der Gedanke des göttlichen Genies festgehalten: „Kunst, Religion und Philosophie, dies sind die drei Sphären menschlicher Thätigkeit, in denen allein der höchste Geist als solcher sich manifestiert, er ist der Genius der Kunst, der Genius der Religion, der Genius der Philosophie. Diesen drei Sphären wird allein Göttlichkeit und daher auch ursprüngliche Begeisterung zugestanden..." [X, 119]. Die Umkehr bedeutet also nicht, daß die Kunst irgendwie zurückgestellt wäre. 26 Die springende Erfahrung, welche die Erkenntnis des Höheren aufgehen läßt, ist die Begegnung mit dem Höheren als mit einem Realen und Persönlichen, das Schelling als das „rein Seyende" philosophisch begreift.27 Zwar begegnet dieses real Persönliche dem menschlichen Subjekt in allem wirklichen Seienden - in all dessen endlichen stufenmäßigen Bildungen -, obwohl vor der Umkehr noch in unerkannter Weise. Als ein Persönliches wird es in lebendigen realgeschichtlichen Göttergrößen erkannt, welche die ganze Wirklichkeit durchgehend bestimmen: Dionysos, Christus. Diese selbst vermitteln die werdende Erkenntnis von ihnen; sie sind ewige Mittler [XIV, 196,224]. Die Umkehr geht also dem menschlichen Geist als eine Offenbarung auf, die das ganze Werden umfaßt. Die Stufen des Werdens 26
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Nach Schellings Spätphilosophie ist Gott ein in der Endlichkeit wirkender „Künstler", der einen unendlichen Inhalt in die Endlichkeit bringe [XIV, 25f]. Auch für die Spätphilosophie ist er das in allem wirkenden höhere Genie. „Der Gott, den der Mensch nur in einem Wissen [der Vernunft] besitzen kann, mußte selbst in die Vernunft eingeschlossen seyn, und konnte daher soweit nur das allgemeine Wesen, nicht der persönliche seyn. Persönlich nennen wir ein Wesen gerade nur, inwiefern es frei vom Allgemeinen und für sich ist, inwiefern ihm zusteht, außer der Vernunft, nach eigenem Willen zu seyn" [XI, 281, vgl. 566, 568; vgl. unten Kap. 3.1 (Willen), und Kap. 9, $5 (Personsein Gottes)]. Wie wir in Kap. 3 sehen werden, ist dieses Persönliche zunächst Dionysos, dann auch Christus. Vgl. auch die folgenden Formulierungen, zunächst über den rationalistischen Theismus: „Theismus ist derjenige Begriff, in welchem nur überhaupt Gott (Θεό ς) [allgemein] gesetzt ist, nicht der bestimmte Gott (ό Θεό ς), der Gott, der es ist" [ΧΠ, 70, vgl. 22], Hier bedeutet „der Gott, der es ist" offenbar das ewige, alles umfassende Subjekt-Objekt. In diesem Gott „ruht die Philosophie von ihrer Arbeit und feiert gleichsam ihren Sabbath" [X, 119]. Siehe über das göttliche Subjekt unten.
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dieser Offenbarung - zu ihr gehört die Erkenntnis der ganzen Vermittlung oder Erhöhung - rekonstruiert Schelling in der positiven Philosophie [Kap. 3]. Der freie philosophische Geist oder das Ich, dem die Umkehr nicht aufgeht, ist obwohl er „zu sich gekommen" ist - auf eine Weise noch im Sein verloren. Das „überschwänglich Seyende" begegnet ihm, aber es geht in die endlich-weltliche Objektivität als „Besitz" dieses philosophischen Ichs als des in falscher Vernünftigkeit beharrenden Subjekts unter [siehe Kap. 3.4, vgl. Kap. 4.4.b]. Die Objektivität erscheint hier nicht als „Besitz" jenes Anderen, des Höheren als des „Herrn des Seyns" [XI, 566]. Dieser Besitz - des zweiten Prinzips - läßt sich auch nicht bloß rationell demonstrieren, obwohl er für Schelling immer Sache der Wissenschaft ist. Die Erkenntnisart oder das Wissen der Umkehr nennt Schelling den „philosophischen Glauben". Der Ausdruck bedeutet zunächst einmal, daß das Höhere das vorherige, gewöhnliche Wissen zum „Nichtwissen" herabsetzt, sodann auch daß die neue Erkenntnis ein stets lernendes, immer fortschreitendes neues Wissen um die Wirkungen des Höheren, des zweiten Prinzips, im unaufhörlichen Werden der realen, konkreten Geschichte sein muß [X, 179-181; vgl. IX, 230f]. Zu Erläuterung des Wissens des philosophischen Glaubens schreibt Schelling: „Alle Wissenschaft entsteht nur im Glauben; wer die ersten Sätze des Euklid soeben gelernt hat, würde die höchsten Leistungen der Geometrie nicht nur für unmöglich halten, er würde sie nicht einmal verstehen - dieselben, die er dann ganz leicht begreift, wenn er durch alle Vermittlungen hindurchgegangen ist" [X, 183f]. In der positiven Philosophie handelt es sich um Glauben an die stets weiterführenden, erhöhenden realgeschichtlichen Vermittlungen des zweiten Prinzips. 28 Schelling findet nun auch, daß dem freien überschwenglichen Objektiven ein freies unendliches Subjekt zugrundeliegt, das „das Seyende selbst Ist" [X, 17]. Dieses göttliche Subjekt, das wahrhaft „alles Ist", ist das ewige „Nichtseyende" und zugleich „Seynkönnende", d.h. das ursprünglich und ewig Unbestimmte, das erstens seine ewige Bestimmung im „rein Seyenden" hat, aber zweitens der ewige, göttliche Entstehungsgrund des Apeiron der Schöpfung ist. Die Einheit dieses NichtseiendenSeinkönnenden (Ersten) mit dem „rein Seyenden" (Zweiten) ist das Dritte als der göttliche Geist [z.B. XII, 82-89; siehe Kap. 3.2], In jedem „letzten Moment" der
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Im philosophischen Glauben ist die Richtung auf die Zukunft - das stets Werdende - nicht zu übersehen. Am Anfang jeder wissenschaftlichen Forschung ist Glaube notwendig [Kap. 6.4.b]; aber auch der Anfang der Mythologie heißt für Schelling Glauben [XIV, 208]. Uber Glaube als die Umkehr siehe bes. XIV, 13-17. Siehe ferner X, 173, 178-184, 406f; XI, 355-358; XIII, 12, 135, 172, 216; vgl. IX, 228. Siehe auch die Besprechung bei Hubert Beckers, Schellings Geistesentwicklung in ihrem inneren Zusammenhang [München, 1875], 74-76. Vgl. unten Kap. 4.3, Kap. 6.4.b, Kap. 13.2.a. - Nach der Ansicht des späten Schelling macht kein Philosoph den Anfang mit der Umkehr; vielmehr beginnt der freigeistige Philosoph mit der Vernunft [XI, 526], Und mit ihr beansprucht er - ob absichtlich oder nicht - die ganze Wirklichkeit ( = ich bin das, was ist).
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Endlichkeit hat das „rein Seyende" das ewige Nichtseiende-Seinkönnende in sich. Wird also das philosophische Ich zum bewußten Subjekt des „rein Seyenden", so verhält er sich zu diesem wie zur ganzen Gottheit. In Unterscheidung von Schellings früheren Philosophie erkennt die (negative) Vernunft wohl die Möglichkeit Gottes, kann aber die Wirklichkeit selbst nicht erreichen. Die Gotteserkenntnis gehört für den späten Schelling zum „philosophischen Glauben" der Umkehr. 29 Es stellt sich die Frage, warum der Mensch „durch eine falsche Ekstasis" „außer sich" wurde [X, 186]. Wie ist es dazu gekommen, daß er der Erhöhung bedürftig wurde? In der Geschichte der neueren Philosophie weist Schelling auf eine „Katastrophe des menschlichen Wesens" hin, welche „unter dieser oder jener Form in allen Religionen, in der christlichen unter dem Namen eines Falls", angenommen werde [X, 186]. Das Wissen um den Fall entsteht also nicht ursprünglich mit der Umkehr, sondern hat einen vielmehr mythologischen Ursprung. Doch ruft die höhere Erkenntnis den mythologischen Ursprung in die Erinnerung zurück. Der Philosoph kann nun auch den Vorgang des Falls rekonstruieren. Uber das dem Menschen eigenste Prinzip, das erste als das Apeiron, meint er: Es ist ein ά π ε ι ρ ο ν ebensowohl auch vor dem Seyn [d.h. als nichtseiende Potenz des Seins], auch hier das nicht sich selbst begrenzen Könnende, das von sich selbst Unbegrenzte, das nur durch ein anderes begrenzt und in den Schranken des Könnens erhalten werden kann. Es ist das von sich selbst Unbegrenzte: insofern der größte Gegensatz der Philosophie, der besonnenen und daher durchaus auf Begrenztes und Festes gehenden Wissenschaft. Wenn es also das durch sich selbst nicht Begrenzte ist, so folgt u m so mehr, daß es durch ein anderes begrenzt sein m ü ß t e . . . . Das Seynkönnende ist nicht ... das v o n sich selbst Enthaltene, von sich selbst Begnügte. D a r u m ist es auch für die Folge, inwiefern es nämlich für sich hervortritt und mit dem des Begütigenden [dem 2. Prinzip] in Spannung tritt, die Quelle alles Unwillens und MißVergnügens..." [ΧΙΠ, 226].
Das urmenschliche Prinzip ist das erste Prinzip rein im Können, rein im Subjektsein begrenzt. Als Seinkönnen aber ist er das Subjekt der Schöpfung (das, was ist). Fällt er aus der „Umhegung" des Göttlichen [XIII, 348], so fällt alles, was er ist, in den Kampf der Prinzipien; als erstes Ergebnis ihres Kampfes entsteht die 29
Auch die absolute Idee der vorherigen Identitätsphilosophie war das ewige göttliche SubjektObjekt. Zur Unterscheidung: In der Umkehr tritt die Vernunft oder auch das menschliche Subjekt aus der Priorität vor dem Höheren zurück. Die Vernunft, die vorher mit dem Absoluten gleichgesetzt wurde, ist die Eigenschaft des Subjekts als des denkenden Bewußtseins; in der Umkehr wird sie dem Objektiven als dem Höheren unterworfen. „Wenn die Vernunft sich selbst Gegenstand ist, wenn das Denken sich auf den Inhalt der Vernunft richtet, wie in der negativen Philosophie, so ... ist die Vernunft dabei nicht in ihrer reinen Substantialität und Wesentlichkeit. Ist sie aber in dieser (... sucht sie nicht in sich selbst das Objekt), so kann ihr als unendlicher Potenz des Erkennens nur der unendliche Actus [des zweiten Prinzips] entsprechen." Durch diese Unterwerfung gelange sie „zu ihrem wahren und ewigen Inhalt" [XIII, 165]. Vgl. X, 225ff.
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Weltzerrissenheit der Individuation, der Gegensätze [XIII, 352]; aber auch beginnt die erhöhende Arbeit des zweiten Prinzips, Dionysos [siehe Kap. 3]. Die Spannung bedeutet den Widerspruch der Prinzipien und kennzeichnet das Leben der Prinzipien in der gefallenen Welt. 3 0 Sie bedeutet auch, daß im Versuch, Gott zu erkennen, der gefallene Mensch die gespannten, kämpfenden Prinzipien in und vor sich hat, und zwar so, daß dieser Mensch im gefallenen Sein jener Spannung, die ewig im Grunde der gefallenen Welt fortlebt, nie entkommt. In der Umkehr wird man nicht etwa aus dieser Welt enthoben, sondern mitten in dieser Welt findet man zum philosophischen Glauben. Im Kapitel über den Theosophismus in der Geschichte der neueren Philosophie unterscheidet Schelling zwischen dem unmittelbaren „Sehen" oder „Schauen" Gottes, vor allem bei Jacob Böhme, und dem philosophischen Glauben, der durch immer fortschreitende geschichtliche Vermittlungen geführt wird. „Unsere Bestimmung ist nicht, im Schauen zu leben, sondern im Glauben, d.h. im vermittelten Wissen" [X, 188]. Dieses Wissen ist keine unmittelbare Anschauung Gottes, sondern Wissenschaft: eine gelernte Erkenntnis der Vermittlungen des sich in Natur und Geschichte entwickelnden Lebens der Prinzipien. Aber Schelling weist den theosophischen „Gottbegeisterten" [X, 184] nicht schlechthin zurück; denn das theosophische Schauen hat vor sich „das Chaos aller früheren Momente" und ist selbst gewissermaßen „Prozeß" [X, 187]. 31 Jacob Böhme meine, das Wesen Gottes und die Schöpfung zu schauen, aber was Böhme „trunken" schaue, sei das chaotische Ringen der gespannten Prinzipien im Grunde der dissonanten, gespannten Wirklichkeit [XIII, 122-124].32 Böhmes Erfahrung gleicht der dionysischen Trunkenheit in jener obigen Definition der wahren Poesie. 30
Wie wir oben gesehen haben, machte schon der junge Schelling den Kampf der Prinzipien zur Grundlage der Erscheinungswelt. Damals aber wurde die Entstehung des Widerspruchs identitätsphilosophisch erklärt. Z.B. im Bruno wird die Frage nach der Entstehung so beantwortet, daß eine „Trennung", „gleichsam das Trübende" der unendlichen Einheit im Ubergang des Absoluten in die Endlichkeit, in Zeit und Raum, stattfand [IV, 257f, 264; vgl. V, 480ff], Nach der Schrift Philosophie
und Religion
(1804) liegt der Grund des Widerspruchs im „Abfall" vom
Absoluten [VI, 38ff]. Schon bei diesen Erklärungen verwendet Schelling offensichtlich mythische Begriffe eines Urfalls, aber ohne von einem Urmenschen zu reden. 31
Schelling hat zwei verschiedene Begriffe des Chaos, die er in der Spätphilosophie, XII, 596f, erklärt: Der erste (u.a.) aus Hesiods Theogonie entnommene Begriff gleicht dem Begriff des Apeiron als der reinen Potenz vor allem Sein [Kap. 1.1-2 (vgl. 3.1), Kap. 12.3.a]. Der zweite („uns durch Ovidius zugekommene") Begriff bedeutet einen Zustand „der materiellen Verwirrung aller Elemente" [vgl. V, 465f],
32
Über Böhmes früheren Einfluß auf Schelling (bes. im Gedanken des Werden Gottes) siehe Horst Fuhrmans, Schellings Philosophie der Weltalter [Düsseldorf, 1954], 116ff. Zur spätphilosophischen Bewertung Böhmes siehe meine frühere Arbeit Schellings Mythologie, S. 241f. Vgl. unten Kap. 3.1 (Anm).
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1.3 Die Entstehung der Philosophie aus der Mythologie und der Fall der Philosophie von ihrem Ursprung Für den späten Schelling liegen in der Mythologie die früheren Momente des realgeschichtlichen Prozesses vor, aber nicht, so wie in Böhmes Anschauung, im chaotischen Zustand. Vor allem in der griechischen Mythologie findet er die konkreten Denkmäler des ersten geschichtlichen Prozesses des menschlichen Geistwerdens, so daß er als Mytholog diesen geschichtlichen Weg verstehend zurücklegen und rekonstruieren kann. Für den jungen Schelling hatte die griechische Mythologie eine ähnliche Bedeutung, aber er rekonstruierte ihre Entstehung und Entwicklung von jener oben gesehenen Zweiheit aus, d.h. durch die Identitätsphilosophie einerseits und die Naturphilosophie andererseits. Die zwei Methoden haben sich damals teils gedeckt, teils haben sie unterschiedliche Richtungen gehabt. Nach der Seite der Naturphilosophie waren die Götter Geburten der Natur, nach der Seite der Identitätsphilosophie waren sie aus der absoluten Einheit abgeleitet. Die absolute Idee drückte sich zunächst in den ewigen Ideen als den Urbildern der Natur aus; diese gingen nur unvollkommen in die konkrete Erscheinungswelt, vollkommen aber in die Götter-Vorstellung ein [V, 390ff, bes. 400403; vgl. III, 629]. „Die Ideenwelt fällt in der griechischen Mythologie in die Sinnenwelt selbst" [V, 403n]. Für den jungen Schelling war das die schönste Zeit, gleichsam die selige Kindheit, der Menschheit. In Schellings später Periode bleibt die Natur - wenn durch den Fall ihres Subjekts (des Apeiron) auch selbst in gefallener Weise - der Entstehungsgrund der Mythologie. Nun aber steht am Anfajig der Mythologie die Katastrophe des Falls, wodurch eine Kluft zwischen dem Menschen und dem wahren Göttlichen entsteht. Deshalb gehen an diesem Anfang keine unmittelbar göttlichen Ideen aus der wahren Gottheit in die Götterbilder über. Aber der Fall bedeutet nicht, daß keine Ideen aus der gefallenen natürlichen Quelle entstehen. Vielmehr treten den mythischen Menschen aus der durch den Fall erzeugten Spannung der Prinzipien als dem Naturgrund Göttervorstellungen hervor, welche Begriffe oder Ideen enthalten, die das Wesen des menschlichen Daseins offenbaren [XII, 127-131]. Z.B. besagt der böse Gott Kronos die Vernichtung der Freiheit im Namen einer versteinerten altväterlichen Gesetzlichkeit, während sein schwächerer dionysischer Kontrahent Herakles gegen ihn, für die fortschreitende Freiheit kämpft [Kap. 3.5]. Ihr Kampf drückt eine gewisse Wahrheit über eine Stufe in der Entwicklung der Menschenwelt aus. Die Ursachen der mythischen Göttervorstellungen sind die mit sich ringenden Prinzipien. In seiner Spät- wie in seiner Frühphilosophie war Schelling der Ansicht, daß „die Natur bewußtlos anfängt und bewußt endet, die Produktion ist nicht zweckmäßig, wohl aber das Produkt" [III, 613]. In der Mythologie sah Schelling grundsätzlich denselben natürlichen Vorgang als den des Mensch- oder Geistwerdens.
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Mit den Götter-Vorstellungen treten für die ersten, noch mythischen Philosophen der Geschichte die Prinzipien selbst in das Bewußtsein der Philosophie ein. Dies war die Ansicht schon des jungen Schelling, nämlich in der Schrift Bruno aus dem Jahre 1802: In einer seligen Zeit, wo „die Sterblichen mit den Göttern Umgang pflogen" [IV, 316], haben die „Alten" unter den Griechen im Eros-Mythos die Prinzipien als den Weltgrund erkannt: Die ewige Form sei wie „Reichthum", die ewige Materie sei wie „Armuth"; als Vater und Mutter erzeugen sie Eros, der die Welt bildet [311].33 Am Schluß der Schrift entsteht eine ebenso selige Anschauung der noch zukünftigen höchsten Einheit der Prinzipien, die alle Gegensätze aussöhnt; sie bedeutet die „selige Gemeinschaft" des erkennenden Menschen „mit allen Göttern". „Dann werden wir die königliche Seele des Jupiter begreifen; sein ist die Macht; unter ihm aber ist das formende und das formlose Princip, welches in der Tiefe des Abgrunds ein unterirdischer Gott wieder zusammenknüpft..." In dem „formenden" und dem „formlosen" Prinzip erkennt man Schellings erste zwei Prinzipien wieder, während Jupiter den über dem Ganzen schwebenden Geist bedeutet. „Unsere Augen werden auf die oberen Götter gerichtet seyn" und durch solche Anschauung „werden wir wahrhaft... vollendet werden..." [328; vgl. V, 382], Schelling schildert eine Vision wie die in den griechischen Mysterien, die offensichtlich als Vorbild für die Schlußrede des Bruno dienen [vgl. 225, 232-234]. 34 Die bemerkenswerten zwei letzten Sätze der Schrift Bruno lauten: Jedoch, o Freunde, schon mahnt uns die sinkende Nacht und das Licht einsam funkelnder Sterne. Lasset uns also von hinnen gehen" [IV, 329], Die Sätze fallen insbesondere im Vergleich mit der Lehre vom Fall in der Spätphilosophie auf, weil sie selbst auf einen Fall - nur nicht auf einen urmenschlichen, sondern auf einen Fall der Philosophie von ihrer ersten griechischen Höhe - hinweisen. Die „sinkende Nacht" bezieht sich metaphorisch auf den Fall nicht nur der griechischen, sondern in dessen 33
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Vgl. XII, 50. Siehe im Bruno auch „Mutter und Vater" bei den Pythagoreern, IV, 313; vgl. X, 243. Siehe ferner IV, 261, 278. In solcher begeisterten Anschauung des Höchsten ist zugleich das Ineinader von Mythologie und Identitätsphilosophie beim jungen Schelling zu erkennen, denn Jupiter" bedeutet auch die absolute Idee. Nach Bruno ist diese Idee eine „Gabe der Götter an die Menschen, die zugleich mit dem reinsten Feuer des Himmels Prometheus auf die Erde brachte" [IV, 242; vgl I, 368]. „Jene heilige Einheit nun, worin Gott ungetrennt mit der Natur ist, und die im Leben zwar als Schicksal erprobt wird, in unmittelbarer, übersinnlicher Anschauung zu erkennen, ist die Weihe zur höchsten Seligkeit, die allein in der Betrachtung des Allervollkommensten gefunden wird" [IV, 307], - In der Spätphilosophie wird die selige Vision (Epopteia) der Einheit der Prinzipien in den Eleusinischen Mysterien als den Höhepunkt der griechischen Religion angesehen [XIII, 448f], aber nun in Unterscheidung von einer „Seligkeit in Gedanken, dergleichen wohl der wahrhafte Philosoph auch empfindet" [450f], Festzuhalten hat man, daß nach der Ansicht des späten Schelling die Mysterien die wahre Gottheit nicht erkennen; hier wird die Umkehr noch nicht erreicht, aber doch geahnt [siehe den Prozeß der positiven Philosophie unten in Kap. 3].
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Folge auch aller nachherigen abendländischen Philosophie. Dieser Fall findet mit dem „Tode der Materie" in der Philosophie statt, im Vergleich mit welcher - nach der Meinung des Bruno - „jene sonst roh genannten Völker ehrwürdig werden, welche die Sonne, die Gestirne, das Licht oder Thiere oder einzelne Naturkörper anbeteten" [315]. Denn bei diesen Völkern lebte die Materie gleichsam: Die Gestirne und die Naturkörper waren nämlich die ersten realen Geburten aus jenem theogonischen Zusammenknüpfen der Prinzipien als dem Lebensgrund der Welt. Nach Bruno ist die Sonne der „Herd der Welt", die „heilige Wache des Zeus" [276], Aber diese Wirklichkeiten gingen in jenem Fall der Philosophie verloren; seither habe die (falsche) Philosophie den Menschen gelehrt, „das Natürliche von dem Göttlichen zu trennen, beide aber in zwei ganz verschiedene Welten zu verbannen" [314f]. Die materielle Welt für sich wurde die tote; zu letzter Konsequenz werde in der Neuzeit im (sogenannten) Materialismus die Natur zur Maschine. Im Bruno wird die Ursache jenes Todes der Materie nur kurz erklärt: Die Lehre jener „Alten" habe die „Keime der höchsten Speculation mehr oder weniger entwickelt in sich getragen", doch „die Nachfolgenden und schon Piaton" haben unter Materie „schlechthin nichts" verstanden, „was zum Princip gemacht werden könnte"; sodann haben sie das Natürliche und Göttliche geschieden [310]. Unter jenen „Alten" denkt Schelling vornehmlich an die frühen Orphiker, wie man in der folgenden Ausführung aus der Philosophie der Kunst - die es mit dem „mystischen" Begriff des „Unendlichen", das über alles Endliche hinausgeht und ihm zugrunde liegt [vgl. Kap. 2.11.a], zu tun hat - erkennen kann: „Die ersten Regungen der Philosophie, deren Beginn überall der Begriff des Unendlichen ist, zeigten sich selbst zuerst in mystischen Gedichten, dergleichen die von Piaton und Aristoteles erwähnten orphischen Lieder, die Gedichte des Musäos, die zahlreichen Poems des Sehers und Philosophen Epimenides" [V, 421]. 35 In den gleichzeitig gehaltenen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums meint Schelling, daß mit der Zeit die aufwachsende „mystische" Philosophie einer falschen Unterscheidung zwischen Unendlichem und Endlichem verfiel. Daraus ergab sich die „Verwerfung der Mythologie" und die „Verbannung der Dichter durch die Philosophen, vornehmlich Plato" [V, 298]. „Wir müssen uns vorerst entschließen, die höhere Philosophie und die des Plato insbesondere als den entschiedenen Gegensatz in der griechischen Bildung, nicht nur in Beziehung auf die sinnlichen Vorstellungen der Religion, sondern auch auf die objektiven und durchaus realen 35
Der folgende Satz lautet: „Je mehr sich in der griechischen Bildung das Princip des Unendlichen entwickelte, desto mehr bestrebte man sich, dieser mystischen Poesie ein höheres Ansehen des Alters zu geben und ihren Ursprung selbst über das Zeitalter Homers hinaus zu rücken. Allein schon Herodotos widerspricht dem..." In der späteren Schrift Gottheiten von Samotbrake (1815) aber sieht Schelling Mysterien, die Mystisches enthalten, in der vorhomerischen Zeit entstehen [[VIII, 345-424], Zum Begriff „mystisch" siehe auch: V, 443, 447, 455f.
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Kap. 1: Schellings Prinzipienlehre und „Methode"
Formen des Staats, zu denken" [V, 346; vgl. VI, 36f]. In der Spätphilosophie behält Schelling seine Ansicht von der hohen Bedeutung jener ersten griechischen Philosophie bei. Er hält z.B. einen Satz des Aristoteles [Methaph. II, 8] für „göttlich gesagt", daß „von dem, was die ganz Alten in Gestalt des Mythos hinterlassen haben, man nur das nehme, daß sie die ersten Substanzen Götter nennen" [XI, 257], Offenbar bezieht sich diese Aussage auf jene ersten Philosophen. Für den späten Schelling besaßen die griechischen Mysterien die spekulative Erkenntnis der drei Prinzipien oder Ursachen als die innerlich wirkenden der Mythologie. Sie entstanden in Zusammenhang mit der homerischen Dichtung, welche die vorerst chaotische Menge der Götter im mythischen Bewußtsein ordnete. „Die Mysterien [sind] entstanden aus der natürlichen Entwicklung der Mythologie selbst. ... Indem sich das Bewußtseyn zuerst auseinandersetzte, blieben nun im Bewußtseyn die reinen Ursachen, die reinen Principien zurück, und dies war der einfache und nothwendige Uebergang ... zu den Mysterien." Schelling fügt hinzu: Durch die Orphiker wurde der Ubergang in die Philosophie vollzogen, denn sie haben den „Schleier" von dem theogonischen Prozeß hinwegezogen und die „rein theogonischen Vorstellungen der Mysterien in allgemein kosmogonische" hinübergezogen. Hier wurden die Prinzipien zum ersten Mal zu philosophischen Prinzipien der Welterklärung. „Diese orphischen Erklärungen verbreiteten sich um so mehr, als nach der Auflösung und Zerstörung der pythagorischen Gesellschaften viele Pythagoreer sich unter dem Namen der Orphiker verbargen" [XIII, 528f]. So stellte sich der Anfang der Philosophie nach der Auffassung des jungen und des späten Schelling dar. Wie wir oben gesehen haben, ging sie in ihrem weiteren Verlauf in das, was der junge Schelling den „Tod der Materie" nannte, bald unter. Am Schluß der Schrift Bruno steht auch folgendes: „Auch die Schicksale des Universums werden tins nicht verborgen bleiben, die Zurückziehung des göttlichen Princips von der Welt, und wie die mit der Form vermählte Materie der starren Notwendigkeit überliefert worden, noch werden uns die Vorstellungen von den Schicksalen und dem Tode eines Gottes dunkel sein, die in allen Mysterien gegeben werden, die Leiden des Osiris und der Tod des Adonis" [IV, 329; vgl. V, 290]. Das Leiden und Tod von diesen dionysischen Göttern hat offenbar die Bedeutung des hier mythisch gedeuteten Verfalls der Moderne, welche die tote Natur zu einer Maschine macht. 36 Der späte Schelling hat dieselbe Ansicht: Unvermeidlich mußte 36
Auch im System des transzendentalen Idealismus äußert sich Schelling über diesen Verfall der Philosophie: „Die Mythologie läßt die Geschichte mit dem ersten Schritt aus der Herrschaft des Instinkts in das Gebiet der Freiheit, mit dem Verlust des goldenen Zeitalters, oder mit dem Sündenfall, d.h. mit der ersten Äußerung der Willkür beginnen" [III, 589; vgl. V, 290, 294, 424, 429], Vgl. die Freiheitsschrift: Nach dem goldenen Zeitalter des Mythos wird die Erde „zum zweitenmal wüst und leer"; das kaiserliche Rom ist der politische Ausdruck dieser zweiten Wüste [VII, 377-383].
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die Philosophie diesen Verfall - letzten Endes als eine Konsequenz des ursprünglichen Falls - erleiden [siehe Kap. 3.5]. In der Spätphilosophie bedeutet der Verfall die Herrschaft der nur negativen Philosophie oder des Rationalismus, also des kulturellen Nihilismus. Eine Folge dieser Herrschaft ist die Scheidung der Kunst von ihrer natürlichen Wurzel in der Mythologie [z.B. XIII, 12; XI, 68-70], Nach dem Frühwerk Philosophie der Kunst sollte es in der Neuzeit, als Zeichen der philosophischen Uberwindung des Rationalismus, eine „neue Mythologie" geben, die den Zusammenhang der Kunst mit ihrer natürlichen Wurzel wiederherstellt [V, 445-457], „Mythologie ist die nothwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst" [V, 405], Das meinte Schelling auch in der Spätphilosophie [bes. XI, lOff, 240-243, 259].
2 Prinzipienlehre bei Nietzsche: Aus Nietzsches Basler Vorlesungen über die vorplatonische und platonische Philosophie 2.1 Von Mythologie bis zur Philosophie Während seiner Jahre in Basel las Nietzsche mehrmals - vielleicht schon 1869/70, zuletzt im Jahre 1876 - über die „vorplatonischen Philosophen" [II/4, 211-362; vgl. II/5, 18 Iff]. 1 Diese Vorlesungen sind mit Nietzsches Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen inhaltlich eng verwandt. Die zwei Schriften unterscheiden sich teils durch den viel breiteren Inhalt der Vorlesungen, teils durch die Darstellungsweise, die in der Philosophie um tragischen Zeitalter der Griechen durchgehend mythisch bestimmt ist. Weil wir die mythische Darstellungsweise der griechischen Philosophie von Thaies bis Sokrates erst später behandeln wollen nachdem wir Schellings spätphilosophische Mythologie dargestellt haben -, trennen wir die beiden Schriften und behandeln die zweite Schrift in Kap. 6.2. Am Anfang der Vorlesungen über die vorplatonische Philosophie schreibt Nietzsche: „Wir wollen erstens also nachweisen, daß die Griechen, aus sich heraus, Philosophie treiben mußten und wozu" [II/4, 212], Die Philosophie entstand für dieses geistigste Volk der Antike auf natürliche Weise aus ihrem Mythos. Die vorplatonischen Philosophen hatten „zuerst den Weg vom Mythus zum Naturgesetz, vom Bild zum Begriff, von der Religion zur Wissenschaft zu finden" [214]. Mit zur mythischen Wurzel der griechischen Philosophie gehört ihr Intellekt oder Geist [vgl. 305f]: „Es hängt mit den tiefsten Wurzeln eines Menschen und eines Volkes zusammen, ob er philosophirt oder nicht. Es handelt sich darum, ob er einen solchen Uberschuß an Intellekt hat, daß er ihn nicht mehr für persönliche individuelle Zwecke verwendet, sondern mit ihm zu einem reinen Anschauen kommt". „Der Intellekt muß ... völlig frei geworden sein und Saturnalien feiern. Der freigewordene Intellekt schaut die Dinge an..." [II/4,215]. Der Begriff des völlig freigewordenen und in Freiheit anschauenden Intellekts entspricht bei Schelling dem Begriff der Freiheit des Geistes in der Mythologie, die bei den Griechen den Gipfel ihrer Entwicklung erreicht [Kap. 3.1]. Die Freiheit des frei gewordenen 1
Über Nietzsches Beschäftigung mit den Vorsokratikern siehe Hubert Cancik, Nietzsches Antike [Stuttgart, 1995], 64ff. „Nietzsche hat sich über diese Tradition auf merkwürdige Weise angeeignet, sozusagen durch den Hintereingang der spätantiken Philosophiegeschichtsschreibung, als Quereinsteiger..." [66].
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
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Geistes besteht nach Schelling in der Objektivität, in der Unterscheidung von Subjekt und Objekt, also in freier Anschauung.2 Nietzsche zieht die „mythische Vorstufe" der griechischen Philosophie in Betracht. Die Götter der Griechen entstehen nicht ursprünglich in Griechenland selbst - ihre Götter sind also älterer mythischer Herkunft -, sondern nur die Systematisierung, das Herstellen der „Rechte und Ordnung dieser bunten Götterweit" zeichnet die Griechen aus [219]. Wesentlich dasselbe findet sich schon in Schellings Mythologie [XII, 586-589].3 Für den Übergang in die Philosophie weist Nietzsche auf die Götterordnung der „ernsten" Mysterien [220] und die orphischen Theogonien hin. (Auch bei Schelling sind die Mysterien „ernst" [XIII, 442].) Nietzsche erwähnt verschiedene orphische Theogonien, aber dann eine, die „besonders bedeutend" sei: die „erste prosaische Kosmogonie des Pherecydes".4 Er gibt das philosophisch Wesentliche in diesem Gedicht wieder: „Im Anfang sind 3 Urprincipien, das wodurch alles gemacht ist, Zeus, der Äther; das woraus alles gemacht ist: Chthon, die Materie, und das worin alles gemacht wird, Chronos, die Zeit" [222]. „Diese Dichtung hat gewiß großen Einfluß auf die Physiologen geübt: wir finden alle Principien vereinzelt bei ihnen wieder..." [223]. Damit zeichnet Nietzsche kurz einen Ubergang von „Urprincipien" in der mythischer Philosophie in die nichtmythische vorplatonische Philosophie, und zwar einen, der sehr an Schellings Begriff dieses Ubergangs erinnert [Kap. 1.3]. In Pherecydes' Kosmogonie ist Zeus offensichtlich das Prinzip der Form, denn, wie Nietzsche an jener Stelle auch erklärt, sei Chthon (die Materie) „formlos und qualitätslos". Bei Schelling ist (nach Aristoteles) das formelle Prinzip das, „wodurch", das materielle Prinzip das, 2
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In Schellings spätphilosophischer Mythologie ist die freie Anschauung des Standbildes das Symbol der griechischen Geistesfreiheit: XIII, 654-660; XII, 654; vgl. XIV, 278. Vgl. unten Kap. 4.5.b, Kap. 10. „Wir können uns, was die Freiheit des griechischen Bewußtseyns betrifft, auch vorläufig schon auf das ganz andere, nämlich nicht mehr blinde, sondern freie Verhältniß berufen, das der Hellene zu den Göttern hat..." [XII, 588], Daß bei Nietzsche der Geist mythologisch „Saturnalien" feiert, wäre, nach Schelling gedeutet, die Feier der geistigen Freiheit über das, was sie überwunden hat, nämlich das Erste in seinem unfreien Verlorensein [Kap. 1.2, vgl. Kap. 3.5], Der „Stoff" der Mythologie wurde den Griechen - die nach Schelling mit H o m e r ihre Geburt erleben - durch ältere Völker überliefert. „Der Stoff der griechischen Mythologie gehört noch dem Prozeß und insofern der Nothwendigkeit an, die Entfaltung desselben ist das völlig freie Erzeugniß des besonnenen, des Stoffes mächtig gewordenen Bewußtseyns. Darin liegt der Grund des Poetischen, das die griechische Göttergeschichte von allen früheren Götterlehren unterscheidet" [XII, 586f]. „Nicht die Materie der Mythologie, wohl aber diese in allen ihren Momenten frei und mit Besonnenheit auseinandergesetzte Göttergeschichte verdanken die Hellenen dem Hesiodos und Horneros" [ebd, 589], Die antiken Quellen bei Fr. Creuzer, Symbolik und Mythologie, Teil 4 [Leipzig u. Darmstadt, 18423], 81, darunter auch Diongenes Laertius. Über des jungen Nietzsches Beschäftigung mit D. Laertius siehe Jonathan Barnes, „Nietzsche u. Diogenes Laertius, Nietzsche-Studien 15, 1986, 16-40; über D. Laertius' Philosophiegeschichte siehe auch H . Cancik, Nietzsches Antike, 67f.
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
„woraus" alles gemacht wird [XII, 112]. Aus dem Schellingschen Rahmen könnte im Gedicht das dritte Prinzip als die Zeit zu fallen scheinen, aber in der Tat entspricht diese Bestimmung der Ansicht des späten Schelling über die Finalursache. Denn das Ende, wo das Werden ruht, findet man nicht, stattdessen hat man es mit nur vorübergehenden, zeitlichen Erscheinungen eines unaufhörlichen Werdens zu tun [oben Kap. 1.2]. Nach Nietzsches Darstellung des Gedichts ist in der Zeit „alles" im Werden. Das Werden ist dann auch das „Problem", mit dem Nietzsche die ionische Philosophie beginnen läßt [215f]. Während die Prinzipien des Pherecydes-Gedichtes in die nachherige Philosophie der Physiologen übergehen, verlieren sie nach Nietzsche ihren Zusammenhang, so daß sie in dieser Philosophie als „vereinzelt" erscheinen: „...wir finden alle Principien vereinzelt bei ihnen wieder, die flüssige Urmaterie bei Thaies, den thätigen Hauch bei Anaximenes, das absolute Werden ... bei Heraklit, bei Anaximander das unbekannte form- und qualitätslose Urwesen τ ό ά π ε ι ρ ο ν " [223].5 Außerdem stellen die vorplatonischen Philosophen entsprechende „Typen" des Philosophen dar. Die Griechen „haben wirklich alle Typen erzeugt". „Fortsetzung bis zu den Moosen und Flechten der dogmatischen Theologie" [212].6 Nietzsche nennt diese Philosophen auch die „Einseitigen" im Gegensatz zu Piaton und „allen späteren Philosophen", die „Mischungen" darstellen [214]. Nun ist das, was sie zu jeweils einseitigen Typen macht, offenbar dadurch bestimmt, wie sie die Prinzipien auffassen. Sofern die Prinzipien bei den griechischen Typen oder Urtypen in „Vereinzelung" erscheinen, sofern ferner die spätere Philosophie die vereinzelten Elemente nur „mischt", ohne daß dadurch die Typen als Typen verschwinden, könnte man denken, daß in der späteren Philosophie die Vereinzelung nicht zur Ganzheit überwunden wird - als ob die Prinzipien auf chronische Weise auseinander wären. Dies entspricht Schellings Ansicht: Insbesondere werden wir in Kap. 3.1-3 den Begriff der „Spannung" der grundsätzlich getrennten Prinzipien in Betracht ziehen. In grundlegender Weise haben wir diese Spannung schon in Kap. 1.2 gesehen, nämlich im Begriff des Falls. 5
Vgl. Apeiron (das Erste) und das „thätige" Zweite (Aktus) bei Schelling in Kap. 1.1-2. In der Spätphilosophie vergleicht Schelling die vorplatonische Philosophie mit einer Stufe in der Entwicklung der Sprache, die „nur ein elementarisches Seyn hat und gleichsam nur gestammelt wird, wie Aristoteles von den ersten sagt, daß sie nur stammelten" [XI, 381]. Das „Elementare" an dieser Sprache meint Schelling sicher im Sinne der Elemente, der Ursachen oder Prinzipien, aber als noch ohne den richtigen Zusammenhang (darum auch stammelnd). Vgl. Schelling über die Physiker als „Verehrer der Elemente" [XII, 383].
6
H i e r meint Nietzsche offensichtlich den Typus der Philosophie des Parmenides, denn in seiner Darstellung dieser Philosophie redet er eben vom (rationalistischen) Dogmatismus [unten Kap. 2.4]. Beim späten Schelling findet man denselben Zusammenhang. Siehe z.B. Kap. 4.4.d über die orthodoxe Theologie im Protestantismus.
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
2.2
45
Anaximander
Wenn wir nun Nietzsches Besprechung der Physiologen in Betracht ziehen, übergehen wir Thaies [siehe Kap. 6.2.a], da er für die vorliegende Besprechung keine besondere Bedeutung hat. Dagegen ist die zweite Gestalt, Anaximander, von sehr hoher Bedeutung. Nach Nietzsche haben die „späteren aristotelischen Philosophen" den „Emst" der Fragestellung des Anaximander „offenbar gar nicht begriffen" [242], Er habe einen „ungeheuem Sprung" gemacht; „seine Nachfolger gingen langsamer" [241], „Als ά ρ χ ή - ein Ausdruck, den er [Anaximander] zum terminus machte betrachtet er τ Ò ά π ε ι ρ ο ν . " „Dieses Eine ist allein ewig... Alles andere wird und vergeht" [II/4, 241]. Nietzsche zitiert aus den Fragmenten des Anaximander einen griechischen Satz, den wir (nach Diels) in deutscher Ubersetzung wiedergeben: Anfang und Ursprung der seiende Dinge ist das Apeiron (das grenzlos-Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung. 7
Nietzsche bemerkt: „Hier sehen wir eine fast mythologische Vorstellung. Alles Weiden ist eine Emancipation von dem ewigen Sein: daher ein Unrecht, daher mit der Strafe des Unterganges belegt. Hier erkennen wir die Einsicht, daß alles, was wird, nicht wahrhaft ist." „Also braucht er [Anaximander] eine dahinter- [hinter dem Werdenden] stehende Einheit, die nur negativ zu bezeichnen ist: τ ό ά π ε ι ρ ο ν , etwas dem kein Prädikat gegeben werden kann aus der vorhandenen Welt des Weidens, so etwas wie das ,Ding an sich'" [II/4, 241]. Sehr Ahnliches oder doch das Gleiche sahen wir oben bei Schelling [Kap. 1.1-2]: das negative Apeiron negativ nämlich, sofern es nichtseiend (an-sich-seiend), d.h. sofern das Prinzip nur Subjekt an sich (Potenz), ist. Nietzsche schreibt weiter: Eine höchst ernste Weltbetrachtung: alles Werdende und Vergehende büßt... Wie kann etwas vergehen, was ein Recht hat zu sein! Nun sehen wir alles im Vergehen, folglich alles im Unrecht. Dem, was wahrhaft ist, können wir also nicht die Prädikate der vergehenden Dinge beilegen: es ist etwas anderes, für uns aber nur negativ zu bezeichnen. Hier waren eine Menge Probleme wachgerufen: wie kann die Individualwelt entstehen? Welche Kraft ist es, die eine Entwicklung aus dem einen ά π ε ι ρ ο ν
möglich macht? Was ist das
Werden? Was die Zeit? D e r Einfluß der ersten Schrift muß ungeheuer gewesen sein: der Anstoß zu der Lehre der Eleaten ebenso als zu der des Heraklit, des Empedokles usw. war hier gegeben. Dazu war hier die Frage nicht mehr rein physikalisch, sondern die
7
Zitiert nach Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch, [12. unveränderter Nachdruck der 6. verbesserten Auflage 1951, hg. v. Walter Kranz, Zürich, 1985], I, 89.
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche Entstehung der Welt, als eine Reihe von abzubüßenden [Ungerechtigkeiten] eröffnete einen Blick in die tiefsten ethischen Probleme. Thaies war hiermit unendlich überboten: in der Scheidung einer ewigen, für uns nur negativ zu begreifenden Welt des Seins von einer werdenden und vergehenden Welt der Empirie liegt eine unermeßlich wichtige
Fragestellung... [Π/4, 242]
Nietzsche übersetzt ά π ε ι ρ ο ν als das „Unbestimmte". „Alle Wesen mit bestimmten Eigenschaften sind werdende, also muß das wahrhaft Seiende alle diese bestimmte Eigenschaften nicht haben: sonst würde es zu Grunde gehen. „Warum muß das Urwesen ά π ε ι ρ ο ν . . . sein? Damit das Werden nicht aufhört" [244]. Betrachtet man die Ansicht Schellings über das erste Prinzip [Kap. 1.2], so muß man sagen, Nietzsche findet in Anaximander dieselbe Ansicht vom ewigen Werden des ά π ε ι ρ ο ν . Als „prädikatslos", wie Nietzsche meint, sei es wie das „Ding an sich", d.h. bei Schelling das Unbestimmte an sich, nur Subjekt. Der Begriff des „Ungerechten" zusammen mit der nicht nur physischen, sondern auch ethischen Fragestellung, die den Sinn des ganzen Daseins umfaßt, läßt an den Fall des Menschen und die Verfallenheit der Welt bei Schelling denken [vgl. Kap. 3.6]. In Nietzsches Reihe der Philosophen folgt eine Betrachtung des Pythagoras der Behandlung des Anaximander, aber wir wollen vorläufig Pythagoras übergehen [siehe Kap. 2.6], weil sich Nietzsches nachfolgende Darstellung der Heraklitschen Philosophie unmittelbar an die Problemstellung des Anaximander anschließt.
2.3
Heraklit
„Das ά π ε ι ρ ο ν und die Welt des Werdens waren [bei Anaximander] in unbegreiflicher Weise nebeneinander gestellt, eine Art von unvermitteltem Dualismus. Heraklit leugnet die Welt des Seins ganz und behauptet nur die Welt des Werdens: das Umgekehrte that Parmenides, um aus dem Problem des Anaximander herauszukommen" [II/4, 252]. Nietzsche behandelt nicht nur die Philosophie, sondern auch die Persönlichkeit des Heraklit, der „die höchste Form des Stolzes, im sicheren Glauben an die von ihm allein erfaßte Wahrheit" erkennen läßt. Dieser Stolz habe Heraklit „bis zu einem erhabenen Pathos, durch unwillkürliche Identifikation von sich selbst und der Wahrheit" gebracht [262f). In unserem Kapitel über die Parallelschrift Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen werden wir den Stolz des Heraklit näher in Betracht ziehen [Kap. 6.2.b]. Hier interessiert vielmehr Nietzsches Ansicht: „An sich ist ja alles Streben nach Erkenntniß seinem Wesen nach unbefriedigt und deshalb ist jene königliche Uberzeugtheit und Herrlichkeit etwas fast Unglaubwürdiges" [263]. Wie wir oben beim späten Schelling gesehen haben, sucht die
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Philosophie nach dem, was sie wegen der Verfallenheit der Existenz nicht finden kann [Kap. 1.2]. Nicht die „logische Erkenntnis", sondern die „intuitive Erfassung des Wahren", daher auch das „Enthusiastische und Verzückte", kennzeichnen Nietzsches Heraklit [263]. Heraklit verwarf das Mythologische, weil seine Erfassung des Wahren eine unmittelbare war [264]. Er war von zwei Intuitionen oder auch Anschauungen gefesselt: „die ewige Bewegung, die Negation jedes Dauerns und Verharrens in der Welt und die innere, einheitliche Gesetzmäßigkeit jener Bewegung" [267]. Für Heraklit gebe es „kein Ding, von dem man sagen könnte, ,es ist'. Er leugnet das Seiende. Er kennt nur das Werdende das aber, was wird, ist eines in ewiger Umwandlung. ... Also das eine überhaupt Werdende ist sich selbst Gesetz; daßts wird und wie es wird, ist sein Werk" [270]. Wir erinnern an Schellings Satz im System des transzendentalen Idealismus·. „Die Natur fängt bewußtlos an, und endet bewußt, die Produktion ist nicht zweckmäßig, wohl aber das Produkt" [III, 612; Kap. 1.3]. Also, wie man sagen könnte: Daß das Werdende wird und wie es wird, ist sein eigenes Werk. Nun ist beim jungen Schelling das erste Entstehende nicht Eines, wie bei Heraklit, sondern ein Zweifaches, die ersten zwei Prinzipien; aus ihrem Zusammenwirken entstehen die Phänomene des werdenden Seins. Wie erklärt Heraklit das Werden aus nur Einem? Darüber bemerkt Nietzsche, daß „in der älteren Periode" der vorplatonischen Philosophie - zu Heraklits Zeit - „das Problem des ,Wie' noch gar nicht aufgeworfen" wurde [250]. Dies war vielmehr das Problem des Anaximenes, den Nietzsche wegen der Zugehörigkeit einer nach seiner Meinung späteren Fragestellung zeitlich nach Heraklit und Parmenides zurürckstellt. Wie wir noch sehen werden, stellt nach Nietzsche das Problem des „Wie" die Frage: „durch was?" Diesen Ausdruck, das „Durch", haben wir oben als Zeichen des Bewußtseins des zweiten Prinzips im Gedichte des Pherecydes gefunden.8 Nun schreibt Nietzsche, die Vielheit der Welt oder diese selbst sei für das Heraklitsche Eine dessen „Gewand, die Erscheinungsform des Einen" [II/4, 270f]. 8
In der Geschichte der neueren Philosophie sieht Schelling in der Entwicklung seiner Philosophie die drei Prinzipien als „successive Herrscher" [X, 119]. Die Periode der ersten Herrschaft war offenbar die, wo das Objektiv-Werden (in der Naturphilosophie) herrschte: „Es war der Gegenstand selbst, der sich nach einem ihm inwohnenden Princip fortbestimmte, es war der nach innerem Gesetz fortschreitende Gedanke, der sich seinen Inhalt gab." Der Inhalt war „die Geschichte des unvermeidlich sich verendlichenden, aber [letztenendes] aus jeder Verendlichung wieder siegreich hervortretenden Subjekts..." [120]. Hier war freilich auch das zweite Prinzip an der Arbeit, aber zu dieser Zeit trat dieses Prinzip noch nicht als ein „Herrschendes" hervor. Die Parallele in Schellings spätphilosophischer Mythologie ist die „vordionysische" Zeit als die Zeit vor den höheren Vermittlungen des zweiten dionysischen Prinzips, d.h. die Zeit, wo Dionysos als solcher ins Bewußtsein trat [Kap. 3.5, Kap. 6.2.a].
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
„Die ganze Welt des Verschiedenen legt also H[eraklit] dem Einen um, in dem Sinne, daß es in ihnen allen sich offenbare. Damit aber ist das Werden und Vergehen die Haupteigenschaft des Princips" [271]. Das hätte Schelling selbst vom ersten Prinzip in der Naturphilosophie sagen können, sofern nämlich das Subjekt oder das Eine sich in der Natur objektiv mache, sich offenbare. Nach Nietzsche ist für Heraklit das Werden keine Strafe, sondern im Gegenteil eine „Kosmodicee" des werdenden Einen [271]. Das Werden sei „Gerechtigkeit", Gerechtigkeit sei „Streit", „eine Vorstellung, die aus dem tiefsten Fundament des griechischen Wesens geschöpft ist". „Es ist die gute Eris Hesiods, zum Weltprincip gemacht" [272].9 Im gemeinten Kampf kämpfen Gegensätze um Ubergewicht [273], Man vergleiche bei Schelling insbesondere die Dissonanz oder den Kampf der Prinzipien [Kap. 1.2-3]; grundsätzlich derselbe Kampf wird in der Mythologie als Hauptthema hervortreten [Kap. 3], Nim aber findet Nietzsche doch eine Erinnerung an die Strafe des Anaximanders bei Heraklit. In Weltperioden, wo nach Heraklit „die Vielheit der Dinge zur Einheit des Urfeuers hinstrebt", sei dies für Heraklit ein Zustand „begehrender .Dürftigkeit'"; dagegen sei die „Periode der in das Urfeuer eingegangenen Welt" ein Zustand der „Sattheit". „Wie er nun das Hinausstreben in die Vielheit nannte, das wissen wir nicht: Bemays (Heracl. Briefe, p. 13) macht die merkwürdige Annahme, daß er das Hinausstreben ΰ β ρ ν ς genannt habe, nach dem Satze τ ί κ τ ε ι κ ό ρ ο ς ν β ρIV: in dem einen satten Feuer bricht die Sucht zur Vielheit aus."10 „Nach dieser Vorstellung", wie Nietzsche schreibt, „hat er wohl das Feuer für ewig gehalten, aber die Welt für entstanden." Dies hat nach Nietzsche die Bedeutung einer „nicht ganz überwundenen Seite der Vorstellung Anximanders: die Vielheit behält auch für H[eraklit] etwas Anstößiges, die Verwandlung des Reinen in das Unreine ist nicht ohne Schuld zu erklären". „Für die ihm innewohnende ΰ β ρ ι ς wird das Feuer selbst gestraft", nämlich mit der „begehrender Dürftigkeit" oder dem „Hunger". „Der Weltprozeß ist ein ungeheuerer Bestrafungsakt..., das Feuer ist sich 9 10
Das griechische Wort Eris bedeutet Streit. Vgl. Schelling, XII, 623. Jacob Bernays, Die Heraklitischen Briefe. Ein Beitrag zur philosophischen und religionsgeschichtlichen Literatur [Berlin, 1869], S. 13. Mit gewissen kleinen Abänderungen findet sich diese ganze Stelle schon bei Bernays mit Bezug auf eine Heraklitsche Stelle bei Hippolytus [Refutatio 9,10], Bei Bernays findet sich sowohl der „Zustand der begehrenden Bedürftigkeit" des Hinstrebens „zur Einheit" im Urfeuer als auch die „Sattheit" im Urfeuer. Bernays „ahnt", daß „Heraklit, die einmal angeknüpfte Metapher fortspinnend, jenes Hinaustreten aus der .Sattheit' des einheitlichen Feuers .Ubermut' ( ΰ β ρ ι ς ) genannt und demgemäß an hervorragender Stelle seines Werks das alte ethische Sprichwon .Sattheit gebiert Übermut ( τ ί κ τ ε ι κ ό ρ ο ς ύ β ρ ι ν ) ' physiologisch umgedeutet habe zu einer Bezeichnung der in dem Einen .satten' Feuer ausbrechender Sucht nach Vielheit."
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selbst Richter" [276]. In Nietzsches Schrift Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen findet man über diesen Inhalt folgendes: Das griechische Sprüchwort scheint uns mit dem Gedanken zu Hülfe zu kommen, daß „Sattheit den Frevel (die Hybris) gebiert"; und in der That kann man sich einen Augenblick fragen, ob Heraklit vielleicht jene Rückkehr zur Vielheit aus der Hybris hergeleitet hat. Man nehme diesen Gedanken einmal ernst: in seiner Beleuchtung verwandelt sich ... das Gesicht Heraklits, das stolze Leuchten seiner Augen erlischt, ein faltiger Zug schmerzlicher Entsagung, der Ohnmacht prägt sich aus, es scheint daß wir wissen, warum das spätere Alterthum ihn den „weinenden Philosophen" nannte. Ist jetzt nicht der ganze Weltprozeß ein Bestrafungsakt der Hybris? Die Vielheit das Resultat eines Frevels? Die Verwandlung des Reinen in das Unreine Folge der Ungerechtigkeit? Wird jetzt nicht die Schuld in den Kern der Dinge verlegt...} [HL/2, 323; meine Hervorhebung]
Aber dem Gott des Heraklit, dem ewigen Feuer, „erscheint alles gut". „Die ganze Fülle von Widersprüchen u[nd] Leiden[,] nahm Herakl[it] an, sei in der unsichtbaren Harmonie für den beschauenden Gott verschwunden". Dies erreichte er in einem „erhabenen Gleichniß: ein Werden und Vergehen ohne jede moralische Zurechnimg giebt es nur im Spiel des Kindes (oder in der Kunst)." „Das ewig lebendige Feuer... spielt, baut auf und zerstört.... Es ist eine rein ästhetische Weltbetrachtung. ...das Weltkind handelt nicht nach Zwecken, sondern nur nach einer immanenten δ ί κ η " [278]. „Wir können uns nur an der Thätigkeit des Künstlers diese Anschauung deutlich machen, die immanente δίκη..., den π ό λ ε μ ο ς als deren Bereich und wieder das Ganze als Spiel, über allem anschauend waltend der schöpferische Künstler, der wiederum identisch ist mit seinem Werk" [279]. Vergleicht man damit die Auffassungen wieder des jungen Schelling, so könnte man sich für das Letzte an das Genie der Kunst im System des transzendentalen Idealismus erinnern, das, als die Weltseele, auch identisch mit seinem Werk ist [Kap. 1.1]. Was das „Weltkind" betrifft, könnte man an das Absolute der Identitätsphilosophie, z.B. in der Schrift Bruno [Kap. 1.3], als das ewige Subjekt-Objekt (Bewußtsein) denken, das hoch über der zeitlichen und widersprüchlichen Welt in höchster Gleichgültigkeit (Identität) die Welt unaufhörlich werden und vergehen läßt. In der gleichzeitigen Philosophie der Kunst hatte Schelling geschrieben, „Sittlichkeit wie Unsittlichkeit beruht auf Entzweiung", also Gegensatz, aber in der „absoluten Indifferenz" sei solche nicht. Die Götter selbst seien weder sittlich noch unsittlich, sondern freigesprochen von diesem Verhältnis, darum „selig" [V, 396].11 11
In der ersten Fassung der Weltalter aus dem Jahre 1811 - zum ersten Mal im Jahre 1946 veröffentlicht - stellte sich Schelling den „Ueber-Gott" oder Gott an sich als ein einfältiges Kind vor, nämlich um der Anschauung der „Lauterkeit" dieses Gottes willen: „Es ist die reine Frohheit in sich selber, die sich selbst nicht kennt, die gelassene Wonne, die ganz erfüllt ist von sich selber...". Ein Hauptproblem der Schrift ist die Ableitung der Welt von dieser Lauterkeit, aus welcher ohne Zutun des seligen Kindgottes die Welt der Gegensätze entspringt. Die Weltalter,
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Kap. 2: Prinzipien lehre bei Nietzsche
2.4
Parmenides
„Aus der einen Welt des [Apeiron] war ja das Werden gar nicht abzuleiten: es muß etwas hinzukommen und das kann nur ihr voller Gegensatz sein, die Welt des Nichtseins." Teils hassen, teils lieben sich die Gegensätze, daher vereinigen und entzweien sie sich zum Werden und Vergehen der Dinge. Parmenides habe die „(Konzeption, das Werden und Vergehen auf einen Kampf u[nd] eine Liebe des Seienden u[nd] Nichtseienden zurückzuführen: eine gewaltige Abstraktion!" [II/4, 290], Dies war nach Nietzsche das Wesentliche in Parmenides' erster philosophischer Periode. „Nun aber forderten die zum ersten Male eingeführten Begriffe des Seins und des Nichtseins in einer späteren Periode ihr Recht. Wir müssen bei Parm[enides] eine ganz außerordentliche] Kraft der Abstraktion voraussetzen. Der Kanünal-Einfall wan ,nur das Seiende ist, das Nichtseiende kann nicht sein" [291]. „Nun die Consequenzen des Seienden: was wahrhaft ist, ist in ewiger Gegenwart, von ihm kann nicht gesagt werden, es war, es wird sein. Der Zeitbegriff hat nichts mit ihm zu thun." Das Nichtseiende sei nicht „und kann nichts hervorbringen" [292]. Wir erinnern daran [Kap. 1.1-2], daß bei Schellings Begriff des (potentiellen) Nichtseienden als des Apeiron dieses doch sein kann: Es ist eben das Seinkönnende, das Mögliche. Aber das philosophische Problem, das bei Nietzsche durch Parmenides aufgeworfen wird, wurde schon bei Schelling herausgestellt: das der nur negativen Vernunftphilosophie. Für Parmenides „gehört das Werden in das Reich der Täuschungen: denn es kann weder der Welt des Seins angehören, noch dem Nichtsein, da letzteres nicht existirt." Nach Parmenides soll man „nicht mit dem blöden Auge folgen..., sondern mit der Kraft des Denkens ... müsse man greifen". Zusammenfassend schreibt Nietzsche: Das Denken „erkennt das wahre Wesen der Dinge, d.h. die Abstraktion[,] und die Sinneswahrnehmungen sind nur Täuschungen" [293]. Mit anderen Worten gibt es Wahrheit nur in der Vernunft.
Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. Manfred Schröter [München, 1946 1 , 19662], 15-18. Nicht also baut und vernichtet der Kindgott die Welt, wie Heraklits Gott, doch in der Welt der Gegensätze gibt es solche Vernichtung und Wiederaufbau. Die erste Fassung der Weltalter ließ Schelling zwar drucken - Schröters Ausgabe gibt die Seitenzahlen der gedruckten Arbeit wieder -, aber er entschied sich, sie nicht in die Öffentlichkeit herauszugeben. Von den folgenden Bearbeitungen wurde nur die letzte sehr veränderte Fassung aus dem Jahre 1813 in die von K.F.A. Schelling 1856ff herausgegebenen Sämtlichen Werke aufgenommen [VIII, 195-344], In dieser letzten Fassung wird Heraklit ausdrücklich erwähnt: in Zusammenhang mit Schellings Lehre der kämpfenden Gegensätze und der Weltvernichtung [VIII, 230]. (Es geht nicht um die gegenwärtige dauerhafte Welt, sondern um das Sein der Welt in der Zeit, welche sich die Mythologie als die Titanen- oder Uraniazeit vorstellt.) Vgl. Kap. 6.2.a (Herklit), Kap. 2.1 l.b (Urania).
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
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In der folgenden Ausführung erinnert Nietzsches Kritik an die Kritik Schellings an der nur negativen Vernunftphilosophie. Sehr merkwürdiger Schritt: die abgezogensten Allgemeinheiten ... sollen wahrhaft sein, ...die ganze Fülle der Vielheit, der Prädikate usw. [ist] nur eine Täuschung. Hier haben wir eine unnatürliche Auseinanderreißung des Intellekts: die Consequenz muß endlich sein[:] Geist (Vermögen der Abstraktion) und Körper (niederer Sinnesapparat)[;] und bereits erkennen wir die ethischen Consequenzen bei Plato, die Aufgabe des Philosophen, sich möglichst von dem Körper, d.h. von den Sinnen, zu befreien. Der gefährlichste Irrweg! Denn aus jenen leeren Hülsen kann keine wahre Philosophie sich aufbauen: die vielmehr immer von dem Anschauen des Wirklichen auszugehen hat [Anmerkung bei Nietzsche: „die anschauliche Erkenntniß ist die unerschöpfliche Quelle unserer Einsichten: das Eigenthum der Begriffe ist daher geborgt". 12 ] und je mehr sie aus befruchtenden Einzelapperçu's besteht, um so höher steht [sie].13 Jene rohe Scheidung ist aber, als Kritik des Erkenntnißvermögens, von höchstem Werth: von dort stammt zunächst die Dialektik..., später die Logik, dh. man entdeckt den Mechanismus unserer Abstraktion in Begriffen, Urteilen, Schlüssen [294].14
Nietzsche redet von einer Unterscheidung wie bei Schelling zwischen positiv, als von der Wirklichkeit ausgehend, und negativ, als allein in der Vernunft, im Denken. Die negative Vernunftphilosophie weist Schelling keineswegs zurück, sondern er begreift sie als die kritische Philosophie [vgl. Kap. 2.9], nämlich sofern sie vom falschen rationalistischen Versuch, die Welt negativ zu erklären, bereinigt worden ist. Nietzsche macht Parmenides den Vorwurf, mit seiner letzten Philosophie das Werden - das es auch im Denken selbst gebe - nicht „erklärt" zu haben.15 Einen Versuch der Erklärung hatte Parmenides in seiner früheren Philosophie gemacht, wo er nämlich von der Vereinigung und Entzweiung der sich teils liebenden, teils 12
13
14
15
Nietzsches Wort „Eigenthum" erinnert an Schellings Begriff des „Besitzes": Kap. 1.2, siehe bes. Kap. 3.3. In folgenden Kapiteln werden den Begriff des „Besitzes" bei Nietzsche häufig finden. Das Wort „befruchtend" ist mythologisch. Vgl. bei Schelling z.B. XI, 381. Hier wäre die Befruchtung ähnlich wie die Wirkung des zweiten Prinzips am Ersten bei Schelling. Über die hier gemeinte Scheidung vgl. Schelling im System des transzendentalen Idealismus·. Das W o r t „Urteil" bedeutet im ursprünglichsten Sinne die Trennung dessen, „was bis jetzt unzertrennlich vereinigt war", nämlich Begriff und Anschauung [III, 507f], Der Begriff „reißt sich" abstrahierend „vom Objekt los", es sei „Abstraktionsvermögen" [ebd, 511]. Somit tritt der Begriff für sich der Anschauung gegenüber und wird zur Basis der von der Anschauung freien Vernunft. Vgl. über die Logik unten Kap. 6.3.a. Beim späten Schelling bezieht sich „Erklärung" auf die reale Aufgabe der Wissenschaft. Ein „positives" philosophisches System sei ein „die Wirklichkeit erklärendes" [XI, 564]. Gegen Hegel schreibt er. „Es kann alles in der logischen Idee sein, ohne daß damit irgend etwas erklärt wäre, wie z.B. in der sinnlichen Welt alles in Zahl und Maß gefaßt ist, ohne daß darum die Geometrie oder Arithmetik die sinnliche Welt erklärte" [X, 143],
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
hassenden Gegensätze redete. In der Zeit nach Parmenides haben die „jüngeren Naturphilosophen'' versucht, das Werden im Anschluß an seine frühere Lehre zu begreifen. Anaxagoras, Empedokles und die Pythagoreer machten auch ihre Versuche mit dem Begriff des Zusammenwirkens von Gegensätzen, die nach Nietzsche wesentlich das „Lebende" und „Nichtlebende" darstellen - also mit einem Dualismus von Prinzipien. In der nun folgenden Diskussion über Parmenides' Schüler Zeno schreibt Nietzsche folgendes: Wir sind einmal genöthigt, durch unsere Organisation, alles unter der F o r m von Zeit und Raum zu begreifen: wie ist es möglich, daß dieselbe Organisation uns einen Gegenbeweis gegen die absolute Realität [von Raum und Zeit] ermöglicht? Dies geschieht mit Hilfe solcher Abstraktionen, wie das Seiende, das Unendliche: diese können wir uns gar nicht mehr vorstellen, es sind rein negativ zu erfassende Begriffe, durch Weglassen aller bestimmten Prädikate. Die vorhandene Welt giebt uns weder etwas absolut Seiendes, noch etwas Unendliches. Sie giebt uns Leben u[nd] Beharren, sehr relativ: sie giebt uns begrenzte Zahlen: ein absolutes Beharren u[nd] Nichtvergehen, eine Zahl deren Ende wir uns nie nähern, ein Raum, der nie zu Ende käme, eine Zeit, die nie ihre Grenzen erreichte, sind Vorstellungen dogmatischer, nicht empirischer Natur... [300]
Sodann schreibt Nietzsche, daß für unsere Vorstellung sowohl das Ding in Bewegung als auch der Raum real sei. Das findet man auch bei Schelling.16 Für Schelling sind die Prinzipien zwar Abstrakta, aber als vom Wirklichen selbst abgezogen. Kein Versuch wird gemacht, etwa mit der Hilfe von Abstraktionen Beweise gegen die Realität von Zeit und Raum zu stellen; dies würde die Priorität der Wirklichkeit vor dem Denken umkehren [Kap. 1.2]. In demselben Zusammenhang schreibt Nietzsche: „Wir wissen an sich weder, ob es ein Ding oder ob es eine Bewegung oder ob es einen Raum giebt" [301]. Das „Wissen an sich" fällt auf: Von der Wirklichkeit wissen wir an sich - offenbar rein im Denken oder in der Vernunft - nichts. Ebenso hatte Schelling die (negative) Vernunft gesehen. Schon der junge Schelling erkannte ein Kennzeichen des „Dogmatismus" im Versuch, etwas Endliches durch eine „nur formelle", daher unendliche Erkenntnisart, wie z.B. in der Mathematik, als Unendliches aufzufassen.17 In der Spätphilosophie bekämpft er den „logischen" oder „rationalen Dogmatismus" als die falsch-negative Philosophie, d.h.
16
Im System des transzendentalen Idealismus schreibt Schelling: „Die Anschauung, durch welche der innere Sinn sich zum Objekt wird, ist die Zeit..., die Anschauung, wodurch der äußere Sinn sich zum Objekt wird, der Raum" [III, 466], Dies sei für Schelling „Organisation" [ebd., 491ff].
17
„Am sichtbarsten ist dieses Bestreben in den bekannten Fragen über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Kausalitätsreihe, der Welt u.s.w., als ob etwas, das seiner Natur und seinem Begriff nach endlich ist, durch die endlose Ausdehnung im Raum und der Zeit nach allen Richtungen unendlich werden könnte..." Fernere Darstellung aus dem System der Philosophie (1802), IV, 348-350 [siehe schon I, 281ff],
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
53
die nur negative Philosophie, sofern sie sich über ihre Grenze hinaus zur Erklärung der Wirklichkeit erweitern will [XIII, 82f].
2.5
Anaximenes
und
Anaxagoras
Nach Nietzsche knüpfte Anaximenes an Parmenides' Gegensätze in dessen erster Philosophie an, nämlich an physische Gegensätze wie dünn und dicht. Anaximenes „nimmt zuerst bestimmt an, es sei alles durch Verdünnung und Verdickung eines Urstoffes entstanden". „Wir haben hier die erste Theorie über das Wie? der Entwicklung aus einem Urstoff: damit beginnt er [Anaximenes] die Epoche des Anaxagoras, Empedokles, Demokrit" [250, vgl. 304]. Man sieht ein, daß nun neben oder mit dem ersten Prinzip als dem Urstoff das zweite Prinzip, das „Durch" im Gedicht des Pherecydes [Kap. 2.1], in die philosophische Betrachtung eintritt. Anaximenes hat in Nietzsches Vorlesung keine weitere Bedeutung. Die Aufgabe der philosophischen Entwicklung des neuen Gedankens fällt zunächst Nietzsches Anaxagoras zu. Und sobald das Prinzip der Vermittlung in der Philosophie hervortritt, erscheint auch „Geist". 18 Nach Nietzsche versteht Anaxagoras die Welt als eine Mischung von Qualitäten; mitten darunter ist der erkennende und tätige Nous, der eine Kreisbewegung willkürlich anfängt, die das Ganze nach und nach ordnet. „Die um sich greifende Kreisbewegung bringt in diese chaotische] Masse das ordnende Princip" [II/4, 306]. Der Nous sei grundsätzlich aus deselben Urstoff wie die Materie, die er ordnet. Sowohl der Nous als auch alles Andere seien die „Wirkungen der Lebenskraft, die eine ist in allen Dingen" [309]. Aber „alles andere wird bewegt, der [Nous] bewegt sich selbst" [307]. „Anfang der Genesis durch den [Nous]" [309]. Nietzsche nennt den Nous auch Geist, was durch die erkennende, willkürliche und tätige Natur des Nous auch erforderlich scheint. In einer Anmerkung macht Nietzsche die folgende allgemeine Bemerkung über den Begriff des Nous: Den .Geist', das Gehirnerzeugniß, als übernatürlich zu betrachten und gar zu vergöttern welche Tollheit! Der Mensch nimmt die Wirkungen der complicirtesten Mechanismen, des Gehirns, als seien die Wirkungen seit Uranfang gleicher Art. Weil dieser complicirte Mechanismus etwas Verständiges in kurzer Zeit hervorbringt, nimmt er das Dasein der
18
An dieser Stelle werden wir uns nur teilweise mit Nietzsches Auslegung des Anaxagoras beschäftigen. Nietzsches eher mythische Deutung des Anaxagoras in der Schrift Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen behandelt gewisse Inhalte - zumal die Erscheinung des Geistes -, die auch in dieser Vorlesung Nietzsches vorliegen, auf eine für unseren Vergleich interessantere Weise, so daß wir sie erst im Kapitel über diese Schrift darstellen wollen [Kap. 6.2].
54
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche W e l t für sehr jung: es k a n n d e m Schöpfer nicht so viel Zeit gekostet haben, meint er. [306]
Bei Schelling ist der Geist nie das Erste - dies ist vielmehr das Subjekt, das im Werden begriffen ist -, sondern das Letzte. Im Prozeß des Werdens kommt das Subjekt am Ende des Prozesses zu sich als dem bewußten, erkennenden und frei handelnden Ichsein. 19
2.6 Pythagoras und Empedokles In diesem Abschnitt ist der Hauptgegenstand unserer Betrachtung Empedokles. Weil aber Nietzsches Behandlung des Empedokles nicht nur auf Empedokles' Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Philosophie, sondern auch auf seine religiöse Verbindung mit den Pythagoreer eingeht, und weil wir vorher Nietzsches Darstellung des Pythagoras - Nietzsche behandelt ihn vor Heraklit - nicht beachtet haben, ziehen wir nun auch Nietzsches Vorlesung über Pythagoras und die mit Pythagoras verwandte Seite der Philosophie des Empedokles in Betracht. Das für unseren Vergleich Wesentliche an der Pythagoras-Darstellung können wir kurz zusammenfassen: Nach Nietzsche hat Pythagoras Bedeutung als eine eng mit den Orphikern verwandte religiöse Figur. „Er lehrte die irdische Existenz als einen Zustand der Buße für alte Frevel begreifen." „Der Fromme, in geheimnißvollen Feiern geweiht, der sein ganzes Leben hindurch heilige Gebräuche befolgt, kann aus dem Kreise ewigen Werdens [durch Seelenwanderung] ausscheiden" [II/4, 254f]. Nietzsche begreift auch diese Lehre offensichtlich in Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen dem Apeiron und dem Werden bei Anaximander. Pythagoras' religiöse Ansicht zusammen mit seinen Vorschriften für die Praxis machen für Nietzsche die Hauptsache an seiner Philosophie aus. Das wissenschaftliche Interesse der späteren Pythagoreer, d.h. ihre Zahlenlehre, bespricht Nietzsche erst nach seiner Darstellung von Demokrit [340ff]. Empedokles erwähnt er schon in der Besprechung von Pythagoras, nämlich in Zusammenhang mit der religiösen Lehre [257], und in der späteren Besprechung von Empedokles
19
Vgl. auch Schopenhauer: Nach der Ansicht des Anaxagoras „wäre die Welt früher in der bloßen Vorstellung, als an sich selbst vorhanden gewesen; während bei mir der erkenntnisloße Wille es ist, der die Realität der Dinge begründet, deren Entwickelung schon sehr weit gediehen sein muß, ehe es endlich, im animalen Bewußtseyn, zur Vorstellung und Intelligenz kommt; so daß bei mir das Denken als das Allerletzte auftritt" [ W W V II, 333 (Kap. 21)]. - In der Schrift über die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen äußert Nietzsche eine andere Ansicht als die oben geäußerte Meinung über den Nous- oder Geistesbegriff bei Anaxagoras [Kap. 6.2]: Der Nous bedeutet das Aufgehen geistiger Freiheit.
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wird der Zusammenhang mit Pythagoras und den Orphikern hervorgehoben [316ff]. Empedokles suche „die Einheit alles Lebens auf das Eindringlichste einzuprägen... Er wolle eine ungeheure Reinigung der Menschen." ...ein überströmendes Mitleidsgefühl ist hier dazugekommen: als die Aufgabe seines Daseins tritt hervor, das wieder gut zu machen, was das ν ε ί κ ο ς [Streit] schlimm gemacht habe, innerhalb der Welt des ν ε ί κ ο ς den Gedanken von der Einheit in der Liebe zu verkünden und selbst zu helfen, wo er das Leiden, die Folge des ν ε ί κ ο ς findet. Schwer wandelt er in dieser Welt der Qual, des Gegensatzes: daß er in ihr ist, kann er sich nur aus einem Fehltritt erklären... Am Dasein in einer solchen Welt haftet eine Schuld.
[317f] „Die Allherrschaft der Liebe zu begründen zieht er als Wanderprophet umher..." „Er knüpft jene religiösen Instinkte [der pythagoreischen orphischen Mystik] an naturwissenschaftliche Erklärungen und verbreitet sie in dieser wissenschaftlicheren Form" [321]. 20 So gehört auch er für Nietzsche in das Bild der vorplatonischen Philosophie im Ubergang vom ursprünglichen Mythischen zur Wissenschaft. „In dieser Welt der Zwietracht, der Leiden, der Gegensätze findet er nur ein Princip, welches eine ganz andere Weltordnung ihm verbürgt", nämlich Aphrodite oder die Liebe „als kosmisches Princip". „Das Geschlechtsleben ist ihm das Beste und Edelste... Hier zeigt sich das Zusammenstreben der getrennten Bestandteile, um etwas zu erzeugen, am deutlichsten. Das Zusammengehörige ist irgendwann von einander gerissen und sehnt sich nun wieder zusammen." Die Liebe wolle den Streit als die Strafe des Daseins „überwinden" [322f], Bei Schelling ist die Liebe das Wesen des zweiten „kosmischen" Prinzips [VE, 375ff, 415; siehe Kap. 3], Die Zerrissenheit des gefallenen Lebens, welche das Liebesprinzip heilend zu „überwinden" hat, ist ein Hauptthema der Spätphilosophie Schellings [Kap. 3.3]. Nach Nietzsches Auslegung sind bei Empedokles Liebe und Streit die „bewegenden Principien" des Daseins [326]. Weil in der Welt weder absolute Trennimg noch absolute „Ruhe" (als Wirkung der Liebe) zu finden seien, müssen die zwei Prinzipien „miteinander kämpfen" [326]. „Nun aber ist sein [Empedokles'] Hauptproblem die geordnete Welt doch aus jenen entgegengesetzten Trieben, ohne alle Zwecke ... entstehen zu lassen: und hier
20
Nietzsche sieht Empedokles als den „tragischen Philosophen, den Zeitgenossen des Aeschylus". „Bei ihm ist das Auffallendste sein außerordentlicher] Pessimismus..." [II/4, 321]. E r glaube sich „schon in den Gott übergegangen" und wurde unter den Griechen seiner Zeit auch als einen Gott angebetet. Nach der „ironischen" Seite seiner Legende „stürzt er sich in den Aetna, weil er die Meinung bestärken will[,] ein Gott zu sein" [320], Vgl. Nietzsches Konzept einer Arbeit über Empedokles unter den nachgelassenen Fragmenten Winter/1870-71-Herbst/1872 [III/3, 243-247], Darin steht es, daß Empedokles Corrine „radikal heilen will, d.h. vernichten, hier aber rettet sie ihre griechische Art".
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genügt ihm der großartige Gedanke, daß unter zahllosen Mißformen und Unmöglichkeiten des Lebens auch einige zweckmäßige u[nd] zum Leben mögliche Formen entstehen: hier wird die Zweckmäßigkeit des Bestehenden auf den Bestand des Zweckmäßigen zurückgeführt" [324]. Uber die Frage nach der Zweckmäßigkeit in der Natur hatte sich Nietzsche früher, in seiner Leipziger Zeit, umfangreiche Notizen gemacht, die wir erst später [Kap. 13.6] im Vergleich mit Schelling in Betracht ziehen. Hier weisen wir wieder auf den in Kap. 1.3 zitierten Satz des jungen Schelling hin, daß „die Produktion [der Natur] nicht zweckmäßig ist, wohl aber das Produkt" [III, 612].
2.7
Demokrit
Nach Nietzsches Darstellung versteht Demokrit das „Eine" als Atom oder vielmehr als eine Vielzahl der Atome ( ά π ε ι ρ α ) . Demokrit erklärt die Welt und das Denken als Komplexe von notwendig entstehenden Kombinationen der verschiedenen Arten der Atome [332f], Von allen älteren Systemen ist das demokritische das consequenteste: es wird die allerstrengste Nothwendigkeit in allen Dingen vorausgesetzt... Jetzt erst ist die gesamte anthropomorph[ische] Weltbetrachtung des Mythus überwunden, jetzt erst hat man eine streng wissenschaftlich brauchbare Hypothese: als solche ist der Materialismus immer von höchstem Nutzen gewesen. Es ist die nüchternste 2 1 Betrachtung: sie geht von wirklichen Eigenschaften der Materie aus, sie überspringt nicht gleich, wie durch den [Nous] oder die Zweckursachen des Aristoteles die einfachsten Kräfte. ... Die nach den allgemeinsten Gesetzen sich bewegende Materie bringt durch eine blinde Mechanik Folgen hervor, die der Entwurf einer höchsten Weisheit zu sein scheinen. [334]
Die Uberwindung der „mythischen" Vergangenheit in der neuen Wissenschaftlichkeit ist bemerkenswert.22 Noch bemerkenswerter ist die implizite Zurückweisung der „blinden Mechanik" eines Materialismus, der - wie es Nietzsche offensichtlich meint - sich bis in die heutige Zeit fortsetzt.23 Die Parallele bei Schelling 21
22
23
Beim späten Schelling ist „nüchtern" eine Bezeichnung der „kalten" Vernunft, also des geistigen Denkens ohne den Einfluß des zweiten (dionysischen, begeisternden) Prinzips [siehe bes. Kap. 3.4]. Das Wort kommt schon bei Aristoteles als Beschreibung der Wissenschaftlichkeit vor: Metaph. I, 3 (984, bl5), eine Stelle, auf welche Nietzsche in diesen Vorlesungen auch hinweist [II/4, 279.34]. - Vgl. Demokrit unten in Kap. 13.7. Der Bruch mit dem Mythischen, daher Instinktiven, findet für Nietzsche nicht etwa erst mit Sokrates, sondern offenbar mit Demokrit statt. Nach Nietzsches Schrift Sokrates und die Tragödie „ist der Sokratismus älter als Sokrates; sein die Kunst auflösender Einfluß macht sich schon viel früher bemerklich" [III/2, 37], Vgl. Kap. 2.10, Kap. 4.4.b, Kap. 5.1. An derselben Stelle [334f] zitiert Nietzsche aus Kant die bekannten Worte: „Gebt mir Materie, ich
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
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besteht im Gedanken des „Todes der Materie" als eines in der griechischen Philosophie stattfindenden, für die ganze spätere Entwicklung, insbesondere für die Moderne, schicksalshaften philosophischen Ereignisses [Kap. 1.3].24 Nietzsche erkennt bei Demokrit „Verlegenheiten" des Materialismus, die „immer eintreten", wo es sich um die richtige Vorstellung der durch die Sinne vermittelten Gegenstände handelt. Alles Objektive, Ausgedehnte, Wirkende, also alles Materielle, das dem Materialismus] als solidestes Fundament gilt - ist doch nur ein höchst mittelbar Gegebenes...: ist durchgegangen durch die Maschinerie des Gehirns u[nd] eingegangen in die F o r m e n Zeit[,] R a u m und Causalität, vermöge deren es sich darstellt als ausgedehnt im Räume und wirkend in der Zeit. Als einem solchermaßen Gegebenen will n u n der Materialismus das einzig unmittelbar Gegebene, die Vorstellung, ableiten. Es ist eine ungeheure petitio principii: plötzlich zeigt sich das letzte Glied als der Ausgangspunkt... 2 5 [339]
Der Vorwurf der petitio principii als das Zurückversetzen des Endes oder des Resultates an den Anfang ist uns nicht neu: Wir fanden ihn in Schellings Selbstkritik [Kap. 1.2]. Nietzsche schreibt weiter: „Die Absurdität besteht darin, daß er vom Objektiven ausgeht: während in Wahrheit alles Objektive, durch das erkennende Subjekt in mannigfacher Weise bedingt ist, mithin ganz verschwindet, wenn man das Subjekt wegdenkt.... Es ist eben unsere Welt, an deren Produktion wir immer thätig sind" [340]. Wir erinnern an die „Produktion" bei Schelling [Kap. 1.2; siehe auch Kap. 6.3.a].
24
25
will Euch eine Welt bauen"; Kant wolle damit die Welt durch den „allgemeinen Bewegungsgesetzen" der „Attraktion" und „Zurückstoßung" entstehen lassen. In derselben Besprechung weist Kant ausdrücklich auf Demokrit hin. Kants Sämtliche Werke, hg. v. K. Rosenkranz u. F.W. Schubert, 6. Teil [Leipzig, 1839], 48f u. 53. Am Schluß des Zitats schreibt Nietzsche: „Zu empfehlen Fr. Alb. Lange, „Geschichte des Materialismus" [Iserloh, 1866], Siehe über Lange unten. -Jene von Nietzsche aus Kant zitierten Worte („Gebt mir Materie...") findet man bei Schelling als Ansicht des Cartesius, nämlich im System des transzendentalen Idealismus [III, 427]. In Schellings Bruno steht z.B. folgendes über die falsch-abstrakte Wendung der Philosophie und den „Tod der Materie" bei den Griechen: „Da auf diese Weise das Leben in allen Organen des Ganzen erloschen, und auch die lebendigen Erscheinungen der Körper untereinander auf todte Bewegungen zurückgeführt waren, so war nun der höchste und letzte Gipfel übrig, nämlich der Versuch, diese bis in ihr Innerstes erstorbene Natur mechanisch ins Leben zurückzurufen, welches Bestreben in den nachfolgenden Zeiten Materialismus hieß..." [IV, 315], Dies veranschaulicht Nietzsche mit einem Gleichnis, das mit der verkehrten Priorität zu tun hat: „Man hat deshalb den Materialisten mit dem Fr. von Münchhausen verglichen, der, zu Pferde im Wasser schwimmend, mit den Beinen das Pferd, sich selbst aber an seinem nach vorne überhängenden Zopfe empor in die Höhe zieht" [339f]. Das Gleichnis hat Nietzsche sehr wahrscheinlich Schopenhauers Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, §8, entnommen, wo es erzählt wird, um (wie Schopenhauer meint) den Unsinn von Spinozas Begriff der „causa sui" zu veranschaulichen.
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Kap. 2: Prinzipien lehre bei Nietzsche
Man hat den Einfluß F.A. Langes auf Nietzsche zu beachten, nämlich durch die Arbeit Geschichte des Materialismus [Iserloh, 1865]; in der Besprechung über Demokrat empfiehlt Nietzsche diese Arbeit [II/4, 335].26 Lange versteht das Gehirn als Maschinerie zur Bearbeitung der von außen gegebenen und verschiedenen Dinge an sich, die wir nur durch die Bearbeitung kennen. Weil aber nach Lange alle Wahrnehmungen der Dinge an sich zugleich Vorstellungen sind, scheint Lange in einem Kreisargument verfangen, welches das, was er setzt, leugnet, um es nur wieder zu setzen. Am Ende des wissenschaftlichen Teils seiner Arbeit stellt er seine Ansicht so dar, daß er an jedes Wissen vom Ding an sich außer unseren Vorstellungen zweifelt [496-500]. Aber im früheren Abschnitt über Kant [233-278] versucht er, zwischen dem Materialismus, als dem neueren wissenschaftlichen Empirismus, und der Kantschen Philosophie zu vermitteln, wodurch er als ein mit Locke verwandter Materialist erscheint. Zunächst einmal behauptet er die konkrete Realität der Dinge an sich in der Außenwelt. Sodann redet er, ohne Lockes Begrifflichkeit ausdrücklich zu gebrauchen, der Sache nach von primären (in den Dingen an sich) und sekundären (in der Vorstellung gegebenen) Eigenschaften der Dinge.27 Das Kreisverfahren dürfte auch unvermeidlich sein. Denn wenn man die Wechselbeziehung zwischen einem Ding an sich und dem Vermögen der Vorstellungen annimmt, so muß sie - wie Lange selbst belegt - ursächlicher Natur sein. Für Lange scheint das Ding an sieht einerseits irgendwie materiell auf die Sinne zu wirken, aber andererseits scheint die Materie nur eine Form der Vorstellung zu sein.28 Jedenfalls sieht Lange das Gehirn als so eingerichtet, daß es nicht ohne Umbildungen der Sinneseindrücke, daher mit nicht feststellbarer Treue die außer uns existierenden Objekte in der Vorstellung wiedergibt. Während es eine andere
26
Die Empfehlung steht in Zusammenhang mit Hinweisen auf Bemerkungen Kants über die Materie und über den Materialismus in der griechischen Philosophie [siehe oben A n m . 23], Über Lange und Nietzsche siehe auch Kap. 13.5.
27
Z.B. schreibt er: „Dass ... diese Anschauungsweise [Raum und Zeit] den Dingen an sich nicht entspreche, wird Kant uns niemals beweisen können" [Lange, 253f]. Über die Ursache bei Lange als (Kantsche) Kategorie siehe unten Kap. 13.5. Vgl. Langes Besprechung von Locke und seinem Vorgänger Hobbes, bei dem er den „Sensualismus Lockes im Keime" findet. Bei Hobbes „gehören alle sogenannten sinnlichen Qualitäten als solche nicht den Dingen, sondern entstehen nur in uns selbst" [137]. Lange hält Lockes Ansicht für einseitig, daß „der ganze geistige Inhalt durch die Sinne komme"; vielmehr „bringt das Gehirn oder die Seele gewisse Formen mit sich, durch welche die Gestaltung der Sinneseindrücke zu Vorstellungen und Anschauungen voraus bestimmt ist". Aber diese Formen entwickeln sich unter dem Einwirken der Außendinge: „Wie kein namhafter neuerer Philosoph Ideen annimmt, die sich ohne alle Einwirkung von der Aussenwelt entfalten oder im foetus schon fertig im Bewußtsein liegen, so dürfte auch kein Phrenologe annehmen, dass der Tonsinn sich ohne Töne, der Farbensinn ohne Farben entwickeln und in Thätigkeit treten könne" [433; vgl. 147, 252, 257]. - Lange findet seinen Versuch, zwischen Kant und dem Materialismus - grundsätzlich Locke - zu vermittlen, in der neueren empirisch-materialistischen Psychologie bestätigt [z.B. 235, 251f, bes. 41 Off].
28
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„Organisation" [der Gehimfunktion] geben könne, der „dieselben Gegenstände ganz anders erscheinen mögen" [Lange, 236], meint Lange, daß sich Empfindung und Ding der Außenwelt doch irgendwie entsprechen [497f]. ...die Erfahrungswissenschaften selbst führen uns schon darauf hin, dass die Welt unserer Sinne allerdings von der Welt der wirklichen Dinge sehr verschieden ist, ohne dass dies dem Werth unserer Naturgesetze den mindesten Ertrag thut. Haften doch z.B. Farben als solche an keinem äusseren Körper, es sind Empfindungen, welche durch Strahlen, die von dem Körper ausgehen, veranlasst werden. Sollte nicht nach demselben Princip auch im Innersten unseres Bewusstseins eine Einrichtung liegen, welche die qualitative Natur der Einwirkungen der Aussenwelt völlig umgestaltet und ihnen dennoch in geregelter Weise entspricht? [Lange, 252f; meine Hervorhebung]
Man vergleiche folgendes aus Nietzsches Besprechung von Demokrits „Theorie der Sinneswahrnehmungen" durch ά π ο ρ ρ ο α ΐ , Strahlungen: Diese dringen durch die Sinne in den Körper ein und verbreiten sich durch alle Teile desselben: dadurch entsteht die Vorstellung der Dinge. Zweierlei ist dazu nöthig, einmal eine gewisse Stärke des Eindrucks, dann eine entsprechende Beschaffenheit des entgegenkommenden Organs: nur Gleiches wird von Gleichem empfunden, wir nehmen jedes Ding mit dem ihm verwandten Teile unseres Wesens auf. Consequent ist es[,] daß manches Wahrnehmbare von uns nicht wahrgenommen wird, weil es unseren Sinnen nicht entspricht!,] und daß es Wesen mit anderen Sinnen gebe könne als den unsrigen. 29 ... Also stellt das Auge die Dinge nicht so dar, wie sie sind. [Π/4, 338f; vgl. 333]
Nietzsche scheint nicht nur über Demokrit, sondern auch über Lange zu reden. Nietzsche zieht eine Parallele zwischen Demokrits Lehre von Größe und Schwere als Qualitäten der Atome selbst und Lockes Lehre der „primären Eigenschaften, welche den Dingen an sich zukommen, außerhalb unserer Vorstellung: solche, die man an ihnen nicht wegdenken kann: Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Gestalt[,] Zahl".30 „Alle übrigen als sekundär, als Erzeugnisse der Einwirkung jener primären Eigenschaften auf unsere Sinnesorgane, folgen als bloße Empfindungen in diesen..." [II/4, 333]. Nietzsche war nie Anhänger des englischen Empirismus oder Materialismus. In der späteren Schrift Jenseits von Gut und Böse liest man: „Bacon bedeutet einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Werth-Minderung des Begriffs .Philosoph' für mehr als ein 29
Vgl. Schellings System des transzendentalen
Idealismus:
Ini Universum stellen die sukzessiv
verschiedenen Organisationen das Universum m e h r oder weniger - als niedrigere oder höhere Organismen - in sich dar. „Also wird auch die Organisation in dem Verhältniß, wie die Succession f o r t r ü c k t , eine größere A u s d e h n u n g gewinnen ...[;] ginge die Evolution des Universums ins Unendliche, so w ü r d e auch die Organisation ins Unendliche gehen..." [III, 492], 30
Vgl. Schopenhauer über die Schwere als eine ähnliche (primäre) Eigenschaft: W W V II, 382f.
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
Jahrhundert. ...Locke war es, von dem Schelling sagen durfte: je méprise Locke; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmüthig..." [VI/2, 203 (§252)].31
2.8 Die Pythagoreer Die Pythagoreer haben einen klaren Begriff von zwei Prinzipien. Nietzsche schreibt: Um die Grundprincipien [der Pythagoreer] zu verstehen, muß man einmal vom Eleatismus ausgehen. Wie ist eine Vielheit möglich? Nur dadurch daß auch das Nichtseiende ein Sein habe. Das Nichtseiende setzten sie nun dem ά π ε ι ρ ο ν des Anaximander gleich, das absolut Unbestimmte, das was gar keine Qualitäten hat: dem steht entgegen das absolut Bestimmte π έ ρ α ς . Aus ihnen aber besteht die Eins, dh. von ihr kann man aussagen, sie sei ... begrenzt u[nd] unbegrenzt, ohne Qualitäten und mit Qualitäten. Also - gegen den Eleatismus - sagten sie: wenn das Eine seiend ist, so ist es jedenfalls aus zwei Principien geworden; dann aber giebt es auch eine Vielheit: aus der Einheit erzeugt sich die Reihe der arithmetischen ... Zahlen, dann die geometrischen Zahlen, oder die Größen... Also: die Einheit ist etwas Gewordenes, also giebt es auch eine Vielheit. ...die Einheit selbst ist das Resultat von etwas Seiendem und Nichtseiendem, also giebt es jedenfalls Nichtseiendes und dann auch Vielheit. [341] Darüber meint Nietzsche: „Dies ist eine zunächst ganz fremdartige Spekulation. Ihr Ausgangspunkt scheint mir nicht mehr zu sein als eine Apologie der mathematischen] Wissenschaft gegen den Eleatismus" [341]. Aber das ist keine Herabwürdigung denn Nietzsche bewertet die pythagoreische „Erfindung" der Bedeutung des Zahls, „also der Möglichkeit einer ganz genauen Untersuchung der physischen Dingen", sehr hoch. „Jetzt endlich wird das Wort gesprochen, daß nur in Differenzen der Proportionen die verschiedenen Qualitäten ruhen" [344].32 Das Pythagoreische an Schellings Prinzipienlehre ist längst bekannt; er selbst erwähnt bei der Erläuterung der eigenen Prinzipienlehre insbesondere die erste Zweiheit der Prinzipien der Pythagoreer. Auch hat Schellings Begriff der Einheit als des „Dritten" große Ähnlichkeit mit dem pythagoreischen Begriff der Einheit. 33
" Über das Schelling-Zitat siehe unsere Einleitung über Nietzsches Erwähnungen von Schelling. Vgl. F.A. Langes hohe Bewertung der Englischen Empiriker, bes. Bacon: Geschichte des 6,8,112ff. Vgl. Schellings Kritik an Locke im System des transzendentalen
Materialismus,
Idealismus, die freilich
an keine Ä c h t u n g denken läßt [III, 530f]. Vgl. Schellings Kritik an Bacon in Kap. 13.7 (Anm). ,2
Vgl. aus Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (Winter 1872-73): „Der Kern der Dinge, das Essentielle drückt sich in der Sprache der Zahl aus" [III/4, 154.11, vgl. 153.22ff]. Vgl. eine Parallele bei Schelling, System des transzendentalen
35
Idealismus, III, 521 f. Siehe unten Kap. 6.3.
Siehe Schellings Besprechung der Pythagoreer: X, 243-246, 263. Siehe ferner seine A u s f ü h r u n g
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
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Schelling kann auch jeden Unterschied als Differenz der Proportionen der ersten zwei Prinzipien begreifen, insofern als das zweite Prinzip am Ersten alle Differenzen bewirkt. Denn das zweite Prinzip „setzt in das erste Zahl und Maß, regelt Zeiten und Bewegungen, bringt das für sich selbst keiner Ordnung und Einstimmigkeit fähige, ja ihr widerstrebende zur Ordnung..." [XI, 393], Schelling drückt den Unterschied zwischen dem Leblosen in der Natur und dem höchsten Naturleben (dem Menschen) durch die Zeichen +B und -B aus, wo Β das erste Prinzip die Materie bedeutet: +B ist undifferenziertes Sein, die Natur als leblose Materie, bloß Objektsein (z.B. eine Steinmasse); -B ist dieses Sein in seinem „An Sich" oder Subjektsein. Alle Stufen der Natur oder ihres Werdens reihen sich auf einer Linie zwischen diesen Endpunkten. Das Maß des Objekt- oder Subjektseins wird durch das zweite Prinzip bestimmt: Je mehr es + Β eingrenzt, desto mehr wird dieses zu -B.34 Am Schluß der Besprechimg schreibt Nietzsche, das „Begrenzende" - offenbar das zweite Prinzip - sei eine „rechnende Kraft", denn es schaffe die Proportionen. „Der Grundgedanke ist: die gänzlich qualitätslos gedachte Materie wird nur durch Zahlenverhältnisse diese und jene bestimmte Qualität. So wurde Anaximanders Problem beantwortet. Das Werden erschien als ein Rechnen." Nietzsche vergleicht dies Rechnen mit einer Ansicht von Leibniz, wonach die Musik eine unbewußtes Rechnen sei.35 Dasselbe, wie Nietzsche schreibt, hätten die Pythagoreer „von der Welt sagen können: freilich nicht, was eigentlich rechne" [350]. Rätselhaft ist das Letzte (ein Nichtwissen ist impliziert), zumal in Zusammenhang mit der Festüber die griechische Philosophie: XI, 295-489 (bes. 392ff); vgl. XIII, 78f, 342. In der Mythologie weist Schelling auf mythische Inhalte hin, welche die Pythagoreer im Zusammenhang mit den ersten Zahlen dachten: XII, 142, 160f, vgl. 260; XIII, 383. Siehe auch XI, 49, 292, 342, 348; XIII, 97n, 348, 586; IV, 313. Leibniz sei der „deutsche Pythagoras" [XIII, 106n], aber Schelling erklärt nicht, in welchem Sinne er dies meine. 34
An verschiedenen Stellen verwendet Schelling auch andere Zeichen, um dieselbe Sache darzustellen. Siehe XI, 390ff; XIII, 355-359, vgl. 277ff; XII, 118-125. Vgl. eine ähnliche Linie wie die zwischen + B und -B bei Nietzsche unten in Kap. 13.6.b.
35
Nietzsche schreibt: „Musik ist, als solche, nur in unseren Gehörnervern und Gehirn vorhanden: außerhalb oder an sich (im Sinn Lockes) besteht sie aus lauter Zahlenverhältnissen" [II/4, 343]. Diese Erwähnung von Locke dient offensichtlich dem Zweck einer Veranschaulichung des Begriffs des „an sich" als das Außer-Uns. (Nietzsche hatte im Abschnitt über Demokrit auch die Zahl als „primäre Eigenschaft" bei Locke erwähnt.) Wiederum sind bei Schelling die Objekte zahlenmäßig konstituiert. Vgl. F.A. Lange, Geschichte des Materialismus, 491: „...das Grundprincip der Sinnesapparate, namentlich von Auge und Ohr, besteht darin, dass aus dem Chaos von Vibrationen und Bewegungen jeder Art, von welchem wir uns die umgebenden Media erfüllt denken müssen, gewisse Formen einer in bestimmten Zahlenverhältnissen wiederholten Bewegung herausgehoben, relativ verstärkt und so zur Perception gebracht werden..." Die Zahlenverhältnisse gehören bei Lange zur ersten Bildungen unserer Organisation [vgl. 348, 457]. Vgl. die Musik unten in Kap. 2 . l l . a .
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
Stellung, das Rechnende sei das Begrenzende. Der Ausdruck: „durch" die Zahlenverhältnisse weist grundsätzlich auf das Begrenzende hin. Insofern wären auch die Pythagoreer in Zusammenhang mit dem Gedicht des Pherecydes zu bringen [Kap. 2.1], denn sie hätten die drei Ursachen des Gedichtes philosophisch formuliert. Bei Schelling erforscht die Wissenschaft der Zahlenverhältnisse der Wirklichkeit das „Was" oder die Struktur und Relationen der Dinge in der vorhandenen Welt, d.h. sofern sie durch das „Daß" der Dinge, die Existenz, gegeben werden. Aber als reine Mathematik oder reine Geometrie gibt es für Schelling auch - so wie es die Prinzipien in der reinen Vernunft gibt - die Wissenschaft der Zahlenverhältnis im reinen Denken, daher als, für die Spätphilosophie, negative Vemunftwissenschaft. 36
2.9 Sokrates37 Nietzsche redet über die Zeit des Sokrates als über das „Zeitalter der Auflösung" [IL/4, 355.25]. Das entspricht der Entwicklung der Philosophenreihe jedenfalls seit Demokrit, aber auch seit Anaxagoras; denn nach diesen Vorlesungen „scheidet mit [Empedokles] das Zeitalter des Mythus, der Tragödie, des Orgiasmus, aber zugleich erscheint in ihm der neuere Grieche, als demokratischer Staatsmann, Redner Aufklärer Allegoriker, wissenschaftlicher Mensch" [II/4, 328]. Sokrates aber bedeutet einen neuen und kräftigen Stoß in Richtung „Auflösung". 38 Wie Nietzsche unterrichtet, war Sokrates' einziges Interesse die ethische Reform, und zwar eine, dessen Mittel das Erkennen war. „Der Kampf gegen die Lust, die Begierde, den Zorn usw. richtet sich gegen eine zu Grunde liegende ά μ α θ ί α [Unwissen oder Nichtwissen]" [354]. Nicht aber so, daß Sokrates gegenüber den Anderen Wissender wäre, vielmehr erkannte er nur, daß weder er noch die Anderen Wissende waren. Jetzt bekommen wir eine Forschung nach der rein menschlichen, auf Wissensgründen beruhenden Ethik: sie wird gesucht" [355]. Weil Sokrates mit seiner Fragestellung Erfolg hatte, führte er Auflösung und Unruhe in das bürgerliche Leben der Stadt Athen ein, denn viele, besonders unter der Jugend, glaubten, daß er recht hatte. „Gegen die ganze Kultur u[nd] Kunst war er immer feindselig" [352], Im Kampf gegen die „naiven", aber vermeintlich weisen „Vertreter der Bildung", nämlich die Sophisten, hatte er, ein häßlicher Plebejer, „die volle griechische Bildung gegen sich" [358]. Durch ihn trat „die Lösung von den mora36 37
Vgl. bei Schelling über Zahlen u n d P r o p o r t i o n e n [z.B. IV, 438-440; vgl. IV, 363ff], Ü b e r Sokrates siehe auch Kap. 4.4.b, Kap. 5.1, Kap. 5.6. - Schellings Sokrates-Interpretation ist von H a m a n n (SokratiscbeDenkwürdigkeiten,
38
bes. den 2. Teil) beeinflußt.
Vgl. die „Auflösung" in Schellings Mythologie als Kennzeichen des Urania- u n d auch des KybeleM o m e n t s [Kap. 3.5]. Vgl. Nietzsche über D e m o k r i t : Kap. 13.7.
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lischen Instinkten ein". 3 9 Er folgte nicht den alten moralischen Instinkten des Volkes, sondern als „Kritiker" deckte er in diesen stets jenes „zu Grunde liegende Unwissen" auf [354]. Nietzsches Ausruf unterstreicht den umwälzenden Einfluß des Philosophen: „Die erstaunliche Liberalität [von] Athen und seiner Demokratie, eine solche Mission so lange zu dulden!" [359]. Wohin er kam, erzeugte er das Gefühl von άμαθία, er erbitterte die Menschen und machte sie nach dem Wissen gierig. Man fühlte etwas wie von der Berührung eines Zitteraals. Er bereitet eigentlich nur die Belehrung vor, indem er das Zeitalter von seiner άμαθία zu überführen sucht. Der ganze Strom des Wissens wird auf diese von ihm gelehrte Bahn gelenkt: die von ihm aufgeworfene Kluft verschlingt alle die von den älteren Philosophen herkommenden Strömungen. Es ist merkwürdig zu sehn, wie alles allmählich in dieselbe Bahn einmündet. Er haßte alle vorläufigen Ausfüllungen dieser Kluft.
[358] „Die ganze Welt der α ν θ ρ ώ π ι ν α zeigte sich ihm als eine Welt der ά μ α θ ί α " [355], Am Schluß von Nietzsches Vorlesungen, hier nämlich in der Behandlung von Sokrates, biegt sich alles ironisch zum Anfang zurück. Uber Anaximanders Ansicht des Unrechts des Daseins hatte Nietzsche geschrieben: „...hier war die Frage nicht mehr rein physikalisch, sondern die Entstehung der Welt, als eine Summe von abzubüßenden [Ungerechtigkeiten] eröffnete einen Blick in die tiefsten ethischen Probleme. ...in der Scheidung einer ewigen, für uns nur negativ zu begreifenden Welt des Seins von einer werdenden und vergehenden Welt der Empirie liegt eine unermeßlich wichtige Fragestellung" [242], Die Frage hat Sokrates gemeinsam mit der Tradition seit Anaximander, nur stellt er die Frage radikal: er deckt das instinktive Wissen als Nichtwissen auf. Man beachte Nietzsches Verwendung des Wortes „instinktiv": In der Diskussion über Empedokles heißt es, Empedokles erklärte die „religiösen Instinkte" der Orphiker auf naturwissenschaftliche Weise [321], Die Instinkte sind nämlich die aus dem Mythischen, den Griechen natürlicherweise hervorwachsenden Glaubens- und Handlungsweisen . Auch im Abschnitt über Empedokles liest man: „Die Mittel gegen die maßlose Selbstsucht der Individuen: die Heimatsinstinkte[,] die Offentlichkeitf,] der Wettkampf[,] Die Liebe" [316n]. All diese Mittel sind instinktiv oder natürlich griechisch. Während Sokrates das Nichtwissen des bisher instinktiven Lebens aufdeckt, deckt er auch die Mängel der griechischen Ethik auf. In allem wird
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„Die ganze ältere Philosophie gehört noch in die Zeit der ungebrochenen ethischen Instinkte: hellenische Sittlichkeit athmet Heraklit, Anaxagoras, Demokrit (Pythagoras) Empedokles, doch nach den verschiedenen Formen hellen[ischer] Ethik" [II/4, 355], Nach Nietzsches „Enzyklopädie der klassischen Philologie" aus dem Jahre 1870/71 standen die ersten griechischen Philosophen bis auf Demokrit in relativer Einheit mit dem Instinkt des griechischen Volkes [II/3, 407].
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die „Kluft aufgeworfen", die er in seine Pflege nimmt, damit sie nicht „vorläufig ausgefüllt" werde. 40 Im Vergleich mit Schelling denkt man wiederum an die Verfallenheit [Kap. 1.3]. Nach Schellings Ansicht war das herrlichste mythologische Volk das griechische, aber von Anfang an befand sich dieses Volk - gerade nichtwissend - im Irrtum, nämlich infolge seines allgemein menschlichen, gefallenen Zustandes. Schelling verwendet auch das Wort „Kluft" für diese Lage: „Weder das sittliche Handeln noch das beschauliche Leben vermochte die Kluft aufzuheben" [XII, 567; vgl. Kap. 4.3]. Wie wir oben in Kap. 1.2 gesehen haben, dachte Schelling den menschlichen Fortschritt - und mit ihm den Fortschritt der Philosophie - als Prozeß: zunächst den Prozeß des Zu-Sich-Kommens, dann auch, mit der Erkenntnis des Höheren, das Aufgehen der Erkenntnis des bisherigen Nichtwissens. Aber für Schelling hat Sokrates keine wirkliche (keine bewußte) Ekenntnis des Höheren; er ist kein positiver, sondern ein kritisch-negativer Philosoph. Uber Sokrates' Dialektik schreibt Schelling: „Weit entfernt etwas Positives zu seyn, ...hatte die Dialektik nur die Bedeutung eines Werkzeugs der Zerstörung..." [XIII, 97]. 41 Aber woher hatte Sokrates das kritische Wissen um sein Nichtwissen? Schelling sagt: „Ein anderes ist unwissend oder nichtwissend zu seyn aus Mangel an Wissenschaft, ein anderes, nichtwissend zu seyn wegen Ueberschwenglichkeit des zu Wissenden. ... Offenbar setze Sokrates ein Wissen voraus, gegen das sich die bloße Vernunftwissenschaft nur wie ein Nichtwissen verhalte" [XIII, 99]. Wie wir oben [Kap. 1.2] gesehen haben, ist die Uberschwenglichkeit bei Schelling ein Zeichen des göttlichen „rein Seyenden", d.h. des im höchsten Sinne positiven und tätigen zweiten Prinzips, das den Philosophen zur Erkenntnis seines Nichtwissens bringt, indem es ihn in sein Subjektsein „eingrenzt". Die philosophische Form solchen Nichtwissens ist für Schelling gerade Kritik, und zwar als die negative Philosophie, die sich vernünftig-
40
41
Nach Nietzsche war Sokrates von entscheidendem Einfluß auf Euripides und er trug Mitverantwortung für den Untergang der Tragödie [siehe Kap. 5.1]. Nach Nietzsches Vorlesung „Einleitung in die Tragödie des Sophokles" aus dem Jahre 1870/71 war anfänglich der „künstlerische Instinkt" das, was die Tragödie „vorwärts brachte". Bei Aschylus und Sophokles trat zwar das Denken hinzu, aber ein Denken noch im Einklang mit dem Instinkt. Bei Euripides dagegen wurde das Denken „destruktiv gegen das Instinktive" [II/3, 37]. „Mit Eurip[ides] entsteht ein Riß. Rücksichtsloser Standpunkt ohne Pietät gegen das Alte" [43]. „Mit Euripides entsteht ein Bruch in der Tragödienentwicklung: derselbe, der um diese Zeit sich in allen Formen des Lebens zeigt. Eine mächtige Aufklärung will die Welt nach dem Gedanken umändern; jedes Bestehende wird einer zersetzenden Kritik unterworfen: zersetzend weil der Gedanke noch einseitig entwickelt ist" [42]. Jener Riß oder Bruch geht für Nietzsche nicht nur zwischen aufgeklärtem Denken und Instinkt, sondern implizit auch zwischen Denken und Sein oder Natur, denn der griechische Instinkt entsteht natürlich-mythisch aus dem Naturwesen der Griechen. An einer anderen Stelle spricht Schelling von Beschränkung auf das „traurige Geschäft der bloßen Negation und Zerstörung", das selbst nichts Dauerndes hervorbringt [XIII, 11],
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kritisch gegen alle falsch-negative, d.h. nur rationelle Philosophie, die ein positives Wissen behaupten will, verhält [XI, 562-566; siehe Kap. 3.7], Offensichtlich hatte Sokrates sein kritisches Nichtwissen durch das Wirken des zweiten Prinzips; ebenso offensichtlich hatte dieses Wirken Sokrates vor allen anderen Menschen seiner Zeit ausgezeichnet [vgl. Kap. 5.1], Schelling sagt, über Sokrates* „innerer Herrlichkeit liegt noch ein Schleier" [XIII, 99]. In der Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche rätselhaft über die Verkehrung der gewöhnlichen Ordnung von Bewußtsein und Instinkt im Menschen Sokrates: Beim schöpferischen Menschen entstehe aus dem Instinkt das schöpferische Produzieren, aber bei Sokrates entstehe aus dem Instinkt statt dem Produzieren die Kritik. 42 Nämlich habe Sokrates (wie aus antiken Geschichten bekannt ist) eine innere „göttliche Stimme", die „mahnt, wenn sie kommt, immer ab". „Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd entgegenzutreten. Während doch bei allen produktiven Menschen der Instinct gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer - eine wahre Monstrosität per defectum!" [III/l, 86Í].*5 Bei Sokrates bestehe die bedeutendste „Hinderung" des „bewußten Erkennens" gerade in seinem Nichtwissen, d.h. in der scharf kritischen Ansicht, daß das Wissen der Athener ein nur vermeintliches sei. Damit geht für Nietzsche die Auszeichnung zusammen, daß nur er, Sokrates, wisse, daß er nichts wisse [ebd, 85f]. Auch für Schellings Sokrates könnte das Nichtwissen auf Sokrates' „innere göttliche Stimme" zurückgeführt werden: Wie sonst hätte Sokrates die eingrenzende 42
In der Fassung des entsprechenden Passus in Sokrates und die Tragödie steht statt „Instinkt" das „Unbewußte", und für das „Bewußtsein" steht auch das „Bewußte" [III/2, 34]. Bei Schelling könnte man dieselben Worte für dieselben Sachen verwenden. Vgl. bes. den Sinn dieser Worte im System des transzendentalen Idealismus [III, z.B. 612f]. Vgl. Kap. 1.1 und Kap. 13.6.a.
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Im zweiten Band von Schopenhauers Die Weltals Wille und Vorstellung, im Kapitel „Vom Genie" (Kap. 31), schreibt Schopenhauer von einer „abnormen" „Ueberschuß der Gehirnthätigkeit" im Genie als einem „monstrum per excessum", welchen Ausdruck er in Gegensatz zum „monstrum perdefektum" aufstellt [S. 466], Schopenhauer bejaht das „monstrum per excessum" des Genies, dessen höchstes Werk es ist, die Welt zu verneinen. Sehr wahrscheinlich hat Nietzsche mit einer ironischen Umkehrung des Sinnes den Ausdruck „Monstrosität per defectum" von Schopenhauer übernommen. Vielleicht hatte Schopenhauer den Begriff der Abnormalität des Genies von Schelling übernommen. In den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums beklagt sich Schelling über die viel zu unkritische Verwendung der Logik des Kausalzusammenhangs in den neuzeitlich-psychologischen Erklärungen z.B. der Kunst. „Wozu soll es doch etwas wie Einbildungskraft, Genie, u.s.w. geben? Im Grunde sind doch alle einander gleich, und was man mit jenen Worten bezeichnet, ist doch nur das Uebergewicht der einen Seelenkraft über die andere, und insofern eine Krankheit, eine Abnormalität, eigentlich nur eine Art des Wahnsinns, in der noch Methode ist..." [V, 271f; vgl. II, 13].
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Tätigkeit des zweiten Prinzips konkret erfahren? Es wäre auch sinnvoll, Nietzsches Wort „Abmahnung" für Schellings „Eingrenzung" durch das zweite Prinzip zu setzen: Die gegen das Ungewußte eingegrenzte Kritik erkennt die „Kluft", sie mahnt vom Irrtum des herkömmlichen Instinkts einerseits und andererseits vom falschen Gebrauch der Vernunft ab [vgl. Kap. 5.1, 12.3.c].
2.10 Plato 2.10.a Die Ideenlehre Nietzsches Vorlesungsaufzeichnungen „Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge" stammen aus dem akademischen Jahr 1871/72 [II/4, 7-188]. Hier gehen wir nur auf den Schlußteil der Schrift ein, den Nietzsche so betitelt: „Capitel II. Piatons Philosophie als Hauptzeugniß für den Menschen Plato (Abriss der Philosophie Platon's)" [II/4, 148], In den Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen äußert Nietzsche die Ansicht, daß Piaton keinen reinen Typus wie diese, sondern einen „Mischcharakter" darstelle; seine Ideenlehre „ist nicht ohne Weiteres eine Orignialconception zu nennen" [II/4, 214]. „Als der erste großartige Mischcharakter" vereinige Plato in seiner Ideenlehre „sokratische, pythagoreische] und heraklitische Elemente" [II/4, 214]. Nach der Vorlesung über Piaton ist bei Piaton „jedes Ding eine Mischung" der [pythagoreischen] Prinzipien des Begrenzten und Unbegrenzten. Damit einzelne Ideen und Körper entstehen, „müssen immer jene zwei Elemente sich mischen"; das „Resultat der Mischung" sei das einzelne Seiende [II/4, 187]. Nietzsche sieht Piatons Entwicklung als von gewissen Ansichten der Schüler Heraklits ausgehend: Mit der Ansicht, daß alles fortwährend nur werde, verfällt er „verzweifelter Skepsis" und „trübsinniger Verzweiflung" [II/4, 150f].44 Als er Sokrates kennenlemt, sei er der Ansicht, daß, wenn es ein wahres Wesen der Dinge gebe, das Werden und Sichverändern diesem Wesen nicht zukommen könne, und daß „der Irrthum und der Schein nicht zum Wesen der Dinge gehört" [152], Sokrates „emancipirt" Piaton von der Verehrung von scheinbar großen Menschen („selbst Homer, Perikles usw."), die, wie Sokrates feststellte, „im Scheine und Dunkel leben", „in der Illusion stecken" [152], „Die Verachtung u[nd] der Haß des 44
A n dieser Stelle heißt es weiter: „Damit war alles moralische Leben vernichtet, es gab keine Richtschnur mehr, alle Begriffe sind im Flusse, das Individuum ist ohne jeden Halt und kennt kein Maaß, keine Grenze. Hier blieb der Ausweg des Protagoras übrig: der Cultus des Individuums, der Mensch sich selbst Maaß. Diesen Ausweg fand Plato nicht. Die Betrübniß haben wir uns wohl als eine vor allem sittliche zu denken" [II/4, 15lf].
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Sokrates gegen die Wirklichkeit war vor allem ein Kampf gegen die allernächste Wirklichkeit, die den Denker belästigt, Fleisch und Blut, gegen Zorn, Leidenschaft, Wollust, H aß...". „Er überträgt diesen Haß gegen die Sinnlichkeit auf Plato: möglichst frei sich von den Sinnen machen, wird [für Plato] zur sittlichen Aufgabe". Sokrates fragte nach dem Woher von Begriffen wie gerecht und schön; er meinte, wir müssen diese in uns haben: „Da ist etwas, was nicht erst in sensu und nachher in intellectu war" [152f], Während Sokrates solche kritischen Fragen stellte, hat Plato die „Wirklichkeit" mißachtet [152.2], Plato „ging von solchen Abstraktionen wie gut, schön, gerecht aus", doch „leugnete er, daß die Abstraktion abstrahirt sei"; denn „wie könnte auch aus dem immer Wechselnden das immer Bleibende abstrahirt sein!" [153]. So schreitet Plato zur Ideenlehre fort. „Durch Sokrates hat er aber gelernt, daß es ein Wissen giebt: doch fand Sokrates die Objekte nicht, weil er die reinen Begriffe nicht fand. Aber er fand die Methode, wie man Begriffe suchen müsse. Dies ist die Dialektik". „Plato weiß nichts von einem intuitiven Erfassen der Ideen, der Weg zum Begriff ist immer die Dialektik: dem richtigen Begriff entspricht dann notwendig ein Seiendes, das man aber natürlich nicht sehen und wahrnehmen kann als eben durch den Begriff" [154], Später in der Vorlesung geht Nietzsche auf den Begriff der Materie bei Piaton und auf die Beziehung der Materie zur Idee ein. Wegen des Vergleichs mit Schelling zitieren wir ausführlich aus Nietzsches Vorlesung: §.35. Materie. Alles Werden [für Piaton] geschieht nach einem ewigen Vorbilde, den Ideen, und es sind daher von den Ideen alle Formen und Qualitäten der sinnlichen Dingen abzuleiten. Aber es liegt in diesen Dingen außerdem etwas, das nicht von der Theilnahme an den Ideen herrühren kann, eine Grundlage, die noch bleiben würde, wenn alle Formen und Qualitäten aufgehoben werden, im Vergehen und Werden unwandelbar (nicht, jenseits des Werdens, wie die Ideen)... Es ist ein Rohstoff ohne jede Bestimmtheit, ά π ε ι ρ ο ν , indefinitum. ... [es] liegt allem was entstehtf,] wechselt und vergeht jenes Substrat zu Grunde, [Hyle] nennt es Aristoteles. Da sie selbst nie anders werden kann, hat sie eine gewisse Unwandelbarkeit, ein wunderlicher Vorzug, den sie vor den Dingen hat... §.36. Ableitung der Materie. Wie kommt Plato darauf, wenn er bei einem Ding alle Qualitäten und Formen wegdenkt, doch noch etwas übrig zu behalten? Mit dem, was die antomistfischen] Naturwissenschaft Materie nennt, muß man sich ja nicht verwirren [siehe oben Kap. 2.7], Stoff ist dies ά π ε ι ρ ο ν gar nicht, es ist ein μή δ ν... Wie die Idee nur der Grund für das Einssein, Dasselbesein ist [d.h. in den verschiedenen Abbildern der Idee in der Erscheinungswelt], so muß es einen Grund, ein Princip für das Verschieden und Vielfachsein geben. Und so steht es bei allen Vielheiten der Abbilder einer Idee. Aber es stóht ebenso bei der Vielheit der Ideen selbst. Sie sind in einer Hinsicht dasselbe, eine Idee wie die andere, nämlich Idee: aber sie fallen nicht zusammen, folglich muß es eine Verschiedenheit geben, ein Element des Verschiedenseins. ... Das Element des Verschiedenseins ist in sich verschieden, d.h. trägt alle Anlässe des Verschiedenen in sich, ist
Kap. 2: Prinzipien lehre bei Nietzsche
68 unbestimmt,
ά π ε ι ρ ο ν . Das Element, welches jenes unbestimmte Element bestimmt
und begrenzt, zu einer Einheit umschafft, ist τ ò π έ ρ α ς [Grenze]; durch das π έ ρ α ς wird jede Idee erst die bestimmte Idee, z.B. die des Pferdes. Innerhalb des Wirkungskreises einer Idee ist nun die Idee wieder t ò π έ ρ α ς , die einzeln bestimmten Dinge entstehen aus dem ά π ε ι ρ ο ν , das durch die Idee bestimmt wird. Die Grundgedanken sind pythagoreisch. [ Π / 4 , 185f]
Grundsätzlich dieselbe Auffassung des Apeiron bei Piaton sahen wir schon in Schellings Darstellung von Piatons Ideenlehre: Nach Schelling ist das platonische Apeiron die Substanz der bestimmten Ideen [Kap. 1.1 (Anm)]. Als Substanz ist sie Träger aller aus ihr entstehenden verschiedenen Möglichkeiten (vgl. oben bei Nietzsche „Anlässe"). Schelling schreibt: „Die Ursache der Erkennbarkeit [der Ideen]... ist dem an sich Grenzenlosen, aber eben darum der Begrenzung Bedürftigen und Unterliegenden erst, was Piaton ihm unmittelbar entgegensetzt, die Grenze ( π έ ρ α ς ) , oder wie wir es unstreitig nehmen dürfen, das Begrenzende, Grenze Setzende" [XI, 393]. Außerdem stellt Schelling Parallelen zwischen Piatons und Aristoteles' Begriff der Materie dar [XI, 391-397]. Ferner ist bei Schelling die Methode der Aufstellung der platonischen Ideenlehre die dialektische Methode, die „Vernunftforschung" [XI, 337]. 45
2.10.b
Über den Ursprung der Ideenlehre
Die vier Abschnitte der Vorlesung über Piaton, die wir hier in Betracht ziehen, sind von Nietzsche so verzeichnet: „§.12. Eine falsche Ableitung der platonischen Ideenlehre" [II/4, 156]; „§.13. Gegensatz der Wissenschaft und Kunst" [156-158]; „§.14. O b Plato von der ästhetischen Idee ausging?" [158-159]; „§.15. Andere Gegengründe gegen die ästhetische Genesis" [159-162], Hat Nietzsche schon festgestellt, daß „Plato nichts von einem intuitiven [anschaulichen] Erfassen der Ideen weiß" [154], so will er nun „eine falsche Ableitung der platonischen Ideenlehre" darstellen, nämlich die Ansicht, daß Piatons Ideenlehre aus dem „ästhetischen Anschauen" entstehe. „Der Ausdruck .platonischen Idee' (idealisiren) hat in der Aesthetik Bürgerrecht bekommen; was meint man da?" [156]. In der folgenden Besprechung setzt Nietzsche sich mit Schopenhauers Ansicht der Sache - sie ist die eben gemeinte - auseinander. Dabei ist die Verwandtschaft zwischen gewisse Ausführungen, die von Schopenhauer stammen,
45
Die Hauptstellen bei Schelling über die Prinzipien in Piatons Ideenlehre und die Methode ihrer Erfindung befinden sich in Bd. XI, 323-338, bes. 388-395, 408-411. Plato erreicht nach Schelling nur die negative, nur rationale Anschaulichkeit der Ideen, aber Plato hält diese für real [XI, 392]. Vgl. Nietzsches Darstellung der Platonischen Ideen als (reale) „Objekte", denen die (subjektive) Begriffe nur entsprechen [II/4, 149],
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
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und Vorstellungen über die Anschaulichkeit der Ideen in Schellings Identitätsphilosophie, die wir oben aus Schellings Bruno angeführt haben, bemerkenswert. Man hat schon immer bemerkt, daß gewisse zentrale Begriffe und Ausdrucksweisen in der Philosophie Schopenhauers, z.B. die Rede von „Subjekt" und „Objekt", große Ähnlichkeit mit Begriffen und Ausdrücken in Schellings frühen Philosophie haben. Am Anfang von §7 im ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung erklärt Schopenhauer, daß er in der Betrachtung der SubjektObjekt-Beziehung allein von der Vorstellung des Ichs als der ursprünglichen Subjekt-Objekt-Einheit ausgehe. Darin sieht er einen Unterschied zu allen bisherigen Philosophien, die, entweder vom Objekt oder Subjekt ausgehend, eine Kausalitätsverhältis (z.B. Objekt als Wirkung des Subjekts) setzen müssen. Auch Schellings „Identitätsphilosophie" entgehe diesem Fehler nicht, und zwar trotz ihres Versuches, von der Identität des Subjekt-Objekts in einem „durch VernunftAnschauung erkennbaren Absolutum" auszugehen [WWVI, 52f], Während er aber Schellings Absolutes verwirft, kommt Schopenhauer ihm trotzdem häufig nahe, etwa insbesondere im Kapitel „Von der Materie" im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung. Darin redet er vom Ding an sich oder dem Willen einerseits als Subjekt, andererseits als dem für das Subjekt „anschaulichen" Objekt, in welchem die Materie der durch das Objekt „sichtbare Wille" sei [WWV II, 383-85]. Damit wird beinahe eine absolute Subjekt-Objekt-Einheit so wie beim jungen Schelling postuliert. 46 In Schellings Naturphilosophie sieht Schopenhauer viele richtige „Konstruktionen" aus Kausalitätsverhältnissen: „In mancherlei Gestalten ist [bei Schelling] ein Fortschreiten gemäß dem Satz vom Grunde" [WWV I, 53 (§7)].47 Wie wir unten sehen werden, hat Schopenhauer anscheinend auch gewisse Begriffe aus Schellings Philosophie der Kunst angeeignet.48 Wir kehren zu Nietzsches Vorlesung zurück. Nach Nietzsche leitet Schopenhauer die unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen, allgemeine Begriffe zu fassen, aus einer „Hierarchie der Intelligenzen" ab. Sodann meine Schopenhauer, 46
Am Schluß des Kapitels über die „Physische Astronomie" in der Schrift Über den Willen in der Natur erklärt Schopenhauer: „Kausalität ganz von außen, ganz mittelbar, ganz durch den Verstand; Wille ganz von innen, ganz unmittelbar..." Aber „überall wo Kausalität ist, ist Wille; und kein Wille agirt ohne Kausalität".
47
Beispiele bei Schopenhauer: WWV I, §27, bes. 210. Vgl. Parerga und Paralipomena,
48
Schellings Vorlesungen über Philosophie der Kunst erschienen erstmalig in der von K.F.A. Schelling herausgegebenen Gesamtausgabe von Schellings Werken im Jahre 1859. Als Vorlesungen wurden sie in Jena und Würzburg in den Jahren 1802-1805 gehalten. Unter den damals veröffentlichten Werken gibt es Philosophie der Kunst in den Schriften System des transzendentalen Idealismus (1800), Bruno (1802), Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802) und Überdas Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur (1807). Freilich war damals auch das Kopieren von Studentenheften keineswegs ungewöhnlich. Man hat auch die Wirkung der Brüder Schlegel im Bereich der Kunstlehre zu beachten: siehe den zweiten Teil unserer Einleitung.
II, §77.
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„wenn diese Auffassung des Allgemeinen nun auch in die intuitive Erkenntniß dringt und nicht nur die Begriffe, sondern auch das Angeschaute unmittelbar als ein Allgemeines erfaßt wird, so entsteht die Erkenntniß der Platonischen Ideen".49 „Also", wie Nietzsche bemerkt, „intuitives Erfassen des Allgemeinen - Genesis der Platonischen Ideen. Ist das historisch wahr?" [II/4,156]. Nietzsche meint nein. Man beachte aber die Begriffe: Das Angeschaute als ein Allgemeines oder - wie Nietzsche es umkehrt - das Allgemeine als Angeschautes (Intuitives): Beides findet sich im Bruno des jungen Schelling, nämlich in seinem Versuch, das Allgemeine der Idee als ein Reales anschaulich zu machen. Nach Bruno kommt die Anschauung gewöhnlich nur dem [realen] „Besonderen" zu, während die Unendlichkeit vielmehr in das „Allgemeine" als den Bereich des Denkens falle. In der „Idee" aber, in der absoluten Einheit des Endlichen und des Unendlichen, gehen nach Bruno die getrennten Eigenschaften ineinander auf: Das „Unendliche" werde „in dem Endlichen und hinwiederum dieses in jenem" gesetzt [IV, 241f; vgl. Kap. 1.2]. Nietzsches Abschnitt §13 hat die Uberschrift „Gegensatz der Wissenschaft und Kunst" [156]. Erst im folgenden Abschnitt §14 kehrt er zur Diskussion über Schopenhauers falsche Auffassung der Entstehung der platonischen Ideenlehre zurück. In §13 will er die Ungereimtheit im Begriff eines ästhetisch-anschaulichen Erfassens des Allgemeinen und damit auch einen Gegensatz von Wissenschaft und Kunst zeigen. Mit bemerkenswerter Ironie verwendet er, ohne die Quelle zu nennen, Schopenhauers eigene Worte, um diesen Gegensatz und somit den Gegenbeweis gegen Schopenhauers Lehre über den Ursprung der platonischen Ideen nachzuweisen, wie wir im Folgenden sehen werden. „Mit Hülfe der Begriffe faßt die Wissenschaft das Allgemeine zusammen, leitet sie das Besondere daraus ab" [II/4, 156]. Dieser Satz Nietzsches paraphrasiert eine Stelle am Anfang von §36 im ersten Band von Schopenhauers Welt ah Wille und Vorstellung [WWV1,251]. Ich zitiere aus Nietzsches Darstellung [II/4, 157], wobei ich die Anführungszeichen und Seitenzahlen aus Schopenhauer [WWV I] hinzugefügt habe: Die Welt des Wechsels, der Gesetze und der Relationen ist das Thema der Wissenschaft. ... Die Kunst dagegen, das „Werk des Genius" betrachtet das allein „Wesentliche der Welt", den „Gehalt der Erscheinungen", sie „wiederholt die durch Contemplation aufgefaßten ewigen Ideen" [253 (§36)]. „Die erste Betrachtungsart ist die des Aristoteles", „die zweite" soll „die des Piaton" sein? [254; das Fragezeichen ist Nietzsches]. „Die erste gleicht den unzähligen gewaltsam bewegten Tropfen des Wasserfalls [...], die zweite dem auf diesem tobenden Gewühl stille ruhenden Regenbogen" [254]. „Genialität ist die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren" [254]. Der Geniale sieht „in den Dingen nicht das, was die Natur wirklich gebildet hat, sondern
49
Siehe Schopenhauer, Parerga u. Paralipomena, II, §50 bis.
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was sie zu bilden sich bemühte", aber „nicht zu Stande brachte" [256)]. Er „versteht die Natur auf halbem Wege [sie] und spricht rein aus, was sie nur stammelt"; 50 „er drückt dem harten Marmor" die F o r m der Schönheit auf, „welche ihr in tausend Figuren mißlingt" und ruft „gleichsam der Natur" zu: „ J a , das war es, was du sagen wolltest'". „Nur so konnte der Grieche den Urtypus der menschlichen Gestalt finden und ihn als Kanon der Schule der Skulptur aufstellen" [302f (§45)].
Nun handelt es sich bei all diesem aus Schopenhauer Zitierten um Inhalte, die bei Schelling Parallelen haben. Das Sich-Verlieren in der Anschauung des genialen Künstlers entspricht einem gewissen Aspekt des Begriffs der Kunst [siehe oben Kap. l.l]. 51 In Parallele zum „Stammeln" der Natur und der ihr ergänzenden Arbeit des Künstlers finden sich wesentlich dieselben Inhalte am Ende von Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. In seiner dortigen philosophischen Reflexion über die „Construktion" der Kunst als Aufhebung vorhandener Gegensätze schreibt Schelling: Philosophie der Kunst ist notwendiges Ziel des Philosophen, der in dieser das innere Wesen seiner Wissenschaft wie in einem magischen und symbolischen Spiegel schaut; sie ist ihm als Wissenschaft an und für sich wichtig, wie es z.B. die Naturphilosophie ist, als Construktion der merkwürdigsten aller Produkte und Erscheinungen, oder Construktion einer ebenso in sich geschlossenen und vollendeten Welt, als die Natur ist. Der begeisterte Naturforscher lernt durch sie die wahren Urbilder der Formen, die er in der Natur nur verworren ausgedrückt findet, in den Werken der Kunst und die Art, wie die sinnlichen Dinge aus jenen hervorgehen, durch diese selbst sinnbildlich erkennen. [V, 35 lf]
Die Schönheit sei dort zu finden, wo im Kunstwerk der unendliche Widerspruch in der Natur aufgehoben werde, das heißt, wo die endliche Natur oder ihre Bildungen die realen Urbilder der Natur widerspiegeln [III, 620-623].52 Die Ansicht über die griechische Skulptur im obigen Nietzsche-Zitat hat auch eine Parallele bei Schelling. Aber bevor wir sie diskutieren, werfen wir einen Blick auf eine verwandte Stelle in Nietzsches Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen: „Die Griechen haben in ihrer Mythologie die ganze Natur in Griechen aufgelöst. Sie sahen gleichsam die Natur nur als Maskerade und Ver50
51
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Das Letzte lautet bei Schopenhauer genau: „ ...indem er im einzelnen Dingen dessen Idee erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und nun ausspricht, was sie nur stammelt..." Sofern der Künstler nur „verloren" wäre, würde dies nicht der freien Kunst z.B. im System des transzendentalen Idealismus entsprechen. Denn der freie Künstler wäre nur einerseits im Objekt bewußtlos versunken, andererseits wäre er frei [Kap. 1.1]. An der zitierten Stelle aber meint Schopenhauer in der Tat eher den freien Künstler, nämlich mit Worten, die Nietzsche beim Zitieren wegläßt: Der „echte Genius" sei „besonnen", dadurch „versteht er gleichsam die Natur auf halben Worte und spricht nun rein aus, was sie nur stammelt..." [WWV II, 302], Schelling meint nicht, daß es der Natur nicht gelinge, auch schön zu sein [III, 622], Siehe hierüber bes. die spätere Schrift Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur (1807), VII, 321-324.
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
kleidung von Menschengöttern an. Sie waren darin ganz das Gegenstück der Realisten. Der Gegensatz von Wahrheit u[nd] Erscheinung war tief in ihnen. Alles Metamorphosen" [II/4, 216n], In der Philosophie der Kunst unterscheidet Schelling zwischen dem idealen Vorgehen der griechischen Skulptur und der nur „empirischen" Nachahmung der Natur, die sich „zur Kunst und über die Natur" nicht erhoben habe [V, 610].53 In der griechischen Skulptur „drückt die Plastik ihre Ideen vorzugsweise durch die menschliche Gestalt aus", denn diese als „der vollkommenste Organismus" sei in der Natur das „unmittelbare reale Abbild" des „Wesens der Materie" als des Realen [ebd, 602], Die menschliche Gestalt sei „ein Bild des Universums" [ebd, 608]. 54 Wie wir oben gesehen haben, kann für den jungen Schelling die zeitliche Natur die in ihr waltenden höheren Ideen nicht vollkommen ausdrücken. Die Kunst aber erkennt die in der Natur waltenden Ideen vor allem in den mythischen Göttern [ebd, 390ff, vgl. 609ff], den „real-angeschauten Ideen" [436]. Man hat es in Schellings Spätphilosophie mit grundsätzlich demselben Begriff der Götter als der höchsten Ideal-Bildungen und auch mit dem Begriff der sich zu Geist entwickelnden Materie zu tun [bes. XII, 650; vgl. Kap. 1.3]. Schopenhauer interessiert sich für solche mythologische Deutungen der Kunst nicht. Wir kehren zu Nietzsches Text zurück. In einer Weise, welche die vorher angeführte Lehre veranschaulicht, schreibt Nietzsche, daß der Künstler die Farben und Linien der Kunst „keineswegs erdichtet", vielmehr „sind sie da in der Natur, aber der Künstler kehrt sie heraus..." Der Künstler macht solche Inhalte oder Ideen der Natur „anschaulich" [II/4, 158], Sodann stellt Nietzsche am Anfang von §14 wieder die Frage: „Ob Plato von der ästhetischen Idee ausging?" Dazu wäre es nach Nietzsche nötig, daß er von der anschaubaren Welt ausgegangen sei. Schopenhauer denke sich Plato vor einem Tiere stehen und sagen: „dieses Thier hat keine wahrhafte Existenz, sondern nur eine scheinbare, ein beständiges Werden, ein relatives Dasein, welches ebensowohl ein Nichtsein als ein Sein heißen kann. Wahrhaft seiend ist allein die Idee..." [158]. „Es wäre möglich, daß Jemand aus der Betrachtung der sichtbaren Welt auf die Annahme der Ideen kommt: aber Plato ist nicht auf diesem Wege dazu gekommen. ... Die Ideenlehre hat nicht ihre Genesis in der Betrachtung der sichtbaren Welt.
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An einer anderen Stelle sagt er: „Die Wahrheit in dem höchsten Sinne ist das Wesen der Dinge selbst, das aber in der Natur in die Form gebildet und durch die Besonderheit mehr oder weniger verworren und unerkennbar gemacht ist. Deswegen kann diese höhere Art der Wahrheit nicht unmittelbar aus Nachahmung der Natur entspringen..." [V, 614].
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Im natürlichen menschlichen Leib selbst gebe es „eine Sphäre der Metamorphosen", worin vorausgehendes Natürliches in geistiger Richtung verwandelt wird [V, 249]. Offenbar entnimmt Schelling das W o r t „Metamorphose" aus Ovid, den er an dieser Stelle zitiert. Vgl. Über das Verhältnis der bildenden
Künste zur Natur (1807), VII, 308, 316f.
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Folglich hat sie auch keinen ästhetischen Ursprung: denn die ästhetische Contemplation setzt eben voraus, da angeschaut werden kann" [158f]. Im folgenden Abschnitt §15 fragt Nietzsche über Piatons Verhältnis zur Kunst: „....ist er eine spezifisch künstlerische Natur, die zum Philosophen wird? Ist er gerade von den bildenden Künsten inspirirt? Ist er ein Verehrer der Intuition, eines mystischen Erfassens vom Kern der Dinge? (was Schelling die intellektuale Anschauung genannt hat)" [159], Nietzsches Antwort ist wieder negativ. 55 Natürlich interessiert uns der Hinweis auf Schelling als Vertreter der ästhetischen Anschauung oder Kontemplation, „eines mystischen Erfassens vom Kern der Dinge". 56 Die Buchstabierung „intellektuale" Anschauung ist vielleicht Schopenhauer entnommen, aber sie kommt auch beim jungen Schelling vor [z.B. I, 420]. Jedenfalls gebraucht Nietzsche den Ausdruck nicht wie Schopenhauer.57 Sehr ironisch gebraucht Nietzsche Schopenhauers Worte gegen ihn selbst, um eine Unterscheidung zwischen realer Anschauimg und bloßem Denken darzustellen, die insbesondere an den späten Schelling erinnert. Die Frage stellt sich, ob 55
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Nach Nietzsche „mißachtet" Plato die Kunst, „die er ganz unästhetisch auffaßt". Seine Sympathie gehöre vielmehr der Mathematik [II/4,159]. Plato „lebt ganz in den reinsten Abstraktionen" [154], Auch Schelling hebt Piatons Feindschaft gegen die Kunst hervor: in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, V, 298, 345f. Auch in Nietzsches „Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge" wird Schelling erwähnt, nämlich in Zusammenhang mit Friedrich Schleiermachers zwischen 1804 und 1810 veröffentlichter deutscher Ubersetzung der Werke Piatons. Schleiermacher habe in Piaton „den litterarischen Lehrer, der ein ideales Publikum von Lesenden hat und diese methodisch erziehen will: etwa wie er sich in den .Reden über die Religion' [1799] an die Gebildeten wendet." „Es scheint aber, daß Schleiermacher mit diesem Bilde Piaton seinen Zeitgenossen recht nahe gebracht hat: er hatte ihn wie einen unserer großen Klassiker hingestellt. Wir finden von jetzt ab einen Kult Piatons Nachahmungen bei Schelling und Solger in dialogischer Form u. eifrige Arbeit der Philologen..." [Π/4,13], - Von Schelling hat man nur eine Schrift in dialogischer Form: Bruno, aus dem Jahre 1802. (Vgl. die Briefe über Dogmatismus und Kritizismus [1795] und, in Erzählungsform, Ciara, aus dem Jahre 1810.) Vielleicht bezieht sich Nietzsches Phrase „in dialogischer Form" nur auf Karl W.F. Solger [1780-1819], der mehrere Schriften in dialogischer Form veröffentlichte [z.B. Erwin, vier Gespräche über das Schöne und die Kunst, 2 Bde Berlin, 1815]. Jedenfalls könnte man mit Recht sagen, daß man es bei Schelling mit dem „litterarischen Lehrer" zu tun hätte, der „ein ideales Publikum von Lesenden hat und diese methodisch erziehen will". (Vgl. die Mysterien als Erziehungsmethode in unserer Einleitung im Abschnitt über Schelling und die Brüder Schlegel.) Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie aus dem Jahre 1800 sind auch in Gesprächsform [Kritische Έ.-Schlegel-Ausgabe, II, 284ff], Nach Schopenhauer wird durch die „intellektuale Anschauung", d.h. durch die (im Kantschen Sinne) apriorischen Formen des Intellekts, die Welt konstituiert. Siehe §21 der Schrift Der Satz vom zureichenden Grunde, WWV II, Buch 1, Kap. 2, bes. 34f; 380ff. - Bei Schellings Begriff der intellektuellen Anschauung hat man festzuhalten, daß keine apriori Formen des Intellekts gemeint sind. Denn alle Formen werden im Prozeß produziert [siehe Kap. 1.2], Vgl. Schopenhauer in Kap. 6.3.a (Anm).
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
vielleicht Nietzsche nicht nur ein bewußtes Verhältnis zur Schellingschen Philosophie hatte, sondern dieses Verhältnis auch verborgen halten wollte - z.B. hinter Schopenhauer.
2.11 Prinzipienlehre in der Mythologie 2.11.a Musik, Mythos, Poesie Nach Schellings Philosophie der Kunst ist das „erste Gedicht" die Geburt der Natur. „In ihr werden die ewigen Dinge ... zuerst wirklich"; „sie enthält die wahren Urbilder der Poesie" [V, 632]. In der Lyrik entspreche die Poesie diesem Ursprung am nächsten [639ff]. Denn sie ist innigst mit der Musik verwandt. Die Formen der Musik sind Formen der ewigen Dinge, inwiefern sie von der realen Seite betrachtet werden. - D e n n die reale Seite der ewigen Dinge ist die, von welcher das Unendliche ihrem Endlichen eingeboren ist. Aber diese selbe Einbildung des U n endlichen in das Endliche ist auch die F o r m der Musik, und da die F o r m e n der Kunst überhaupt die Formen der Dinge an sich sind, so sind die F o r m e n der Musik notwendig Formen der Dinge an sich oder der Ideen ganz von ihrer realen Seite betrachtet [V, 501]. 58
Rhythmus, Harmonie und Melodie seien die „ersten und reinsten Formen der Bewegung im Universum" [502]. Melodie sei „die absolute Einbildung des Unendlichen ins Endliche, also die ganze Einheit" [498]. Die Musik sei Potenz der Sprache [504]; daraus folgt die Mythologie [445ff]. Für Schelling ist Sophokles' Odipus „nichts als die reine Melodie" [500]. - Nach der Geburt der Tragödie „gebiert die Melodie die Dichtung aus sich..." [III/3, 44 (§6)]; die Musik gebäre den Mythos [III/l, 103 (§16)]. Nach der Gehurt der Tragödie reizt die Musik „zum gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit"; „die Musik lässt sodann das gleichnissartige Bild in höchster Bedeutsamkeit hervortreten" [103 (§16)]. Dies geschieht für Nietzsche durch den dionysischen Volksgesang und durch den einzelnen Lyriker, der in dionysischer Erfahrung sein individuelles Selbstbewußtsein verliert und die dionysische Allgemeinheit in Bildern und Gleichnissen ausspricht. Nach Nietzsche ist die 58
Nach Schelling stammt diese Ansicht der Musik ursprünglich von Pythagoras [502f]. Die Bewegungen der Gestirne bei Pythagoras „verursachen" nicht eine Musik, sondern sie „Seyen" Musik [502], Uber die Musiklehre der Pythagoreer schreibt Nietzsche: „Die Gestirne [oder ihre Bewegung] bilden zusammen eine Oktave oder, was dasselbe ist, eine Harmonie" [II/4, 348.11]. Sowohl Schelling als auch Nietzsche geben die Überlieferung wieder, daß man die Sphärenharmonie wegen der Gewöhnung von Geburt an nicht merke [ebd]. Vgl. auch Schopenhauer über die Musik der Sphären, WWV I, 349f ($52).
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Lyrik „ebenso abhängig vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt." Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bildrede nöthigte. 59 Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach außen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, während deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden kann. [HL/1, 47 (§6); meine Hervorhebung]
Daß in der Sprache dieser tiefe Naturinhalt der Musik nicht erschöpfend dargestellt werden kann, ist schon die Lehre des jungen Schelling in der Zeit der Philosophie der Kunst, aber sie wird insbesondere in Schellings Spätphilosophie ausgedrückt. Sogar geben die im Zitat hervorgehobenen Worte wesentlich Schellings spätphilosophischen Begriff der „universio" wieder: Uni-versio bedeutet das Nach-AußenKehren des vorher im Inneren verborgenen Einen, das durch die Herauswendung oder „Äußerung" bekannt wird. Im Werden des Universums durch „universio" wird der Schöpfungsgrund, das Göttliche, „herausgewendet". Aber bei derselben Handlung wird das Tiefste dieses Entstehungsgrundes „hineingewendet" und verborgen [XIII, 304; vgl. XII, 41f, 90-93].60 Nach der Geburt der Tragödie können die „Bohrversuche" der rationalen Wissenschaft die „ungeheuere Tiefe" der Natur nie ergründen [94 (§15)]. Bei Schelling geschieht dieselbe „universio" auch in der Theogonie des mythologischen Prozesses [ΧΠ, 125ff; ΧΠΙ, 350ff). Die Zeit des ersten Gottes Uranos trägt die zukünftige Vielheit in sich verborgen [XII, 188] und die ihm folgende, dionysisch affektierte Göttin Urania hat noch in ihrem Mutterschoß alle zu59
60
„Allgemeinheit" bedeutet in diesem Satz keine Abstraktion, sondern, wie Nietzsche auch sagt, das „Allgültige"; man könnte den Sinn als das „allen Menschen Gemeine" umschreiben. In Schellings Geschichte der neueren Philosophie kommt dieser Sinn des Wortes gelegentlich vor, z.B. X, 76,123f. Ali einer anderen Stelle schreibt Schelling: Die Natur sei das Verborgene „und in der Natur wieder das am meisten Materielle,... die Sinnlichkeit überhaupt und die Wirkungsweise der Sinne, dies ist doch wohl von allem, was in der Natur vorkommt, das Allerverborgenste" [X, 191], Dadurch soll die philosophische Rekonstruktion des Werdens und der Sinne, wie sie bes. im System des transzendentalen Idealismus vorliegt, nicht geleugnet werden; nach dieser Schrift selbst ist die Natur ein „verschlossenes Gedicht" und ein „Räthsel" [III, 628]. Aber die Frage nach der Natur und den Sinnen berührt die Grenze zwischen Herauswendung und Hineinwendung.
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künftigen Götter der Mythologie. Nach Schelling läßt diese Urgöttin - als Grund der späteren Mythologie - ihr widersprüchliches Wesen nie ganz an den Tag bringen (herauswenden), sondern sie bleibt (hineingewendet) für das mythologische Bewußtsein ein immerwährendes Mysterium [XII, 64 Iff]. 61 Aber die Mythologie ist vornehmlich Herauswendung, Theogonie als organischer Prozeß der Geburten aus dem Urkeim. In §21 der Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche über „alleruniversalste Thatsachen, von denen allein die Musik auf directem Weg reden kann". Diese Tatsachen nennt er, mit einem scholastischen Ausdruck, die „universalia ante rem" [III/l, 132], Die Musik stelle „zu allem Physischen das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich dar" [ebd, 100; vgl. oben]. Wie sein Hinweis an dieser Stelle zeigt, übernimmt Nietzsche diesen Ausdruck - wie auch „universalia ante rem" - von Schopenhauer [WWVI, 357 (§52)], aber im Gegensatz zu Schopenhauer verwendet er den Gedanken - wie Schelling - mythologisch. 62 Man vergleiche folgendes aus dem späten Schelling: „Die Potenzen, von denen wir reden [d.h. die Prinzipien], sind weder etwas Palpables, noch sind sie bloße Abstraktionen (abstrakte Begriffe); sie sind reale, wirkende, insofern wirkliche Mächte, sie stehen zwischen dem Conkreten und den bloß abstrakten Begriffen insofern in der Mitte, als sie nicht weniger wie diese, nur in einem höheren Sinne, wahre Universalia sind, die doch zugleich Wirklichkeiten sind, nicht wie abstrakte Begriffe Unwirklichkeiten." Schelling nennt sie auch die „Universalissima" [XII, 115; vgl. „universa", V, 317], Nietzsche redet von „Thatsachen": Wie bei Schelling hebt er die Realität der Universalia hervor. 63 Für Schelling wie für Nietzsche verhält sich jene erste Musik als Rede der Universalen zum Mythos wie die vorangehende erste Äußerung (Herauskehrung) zu der folgenden mythischen Bild- und Wort-Sprache [vgl. Kap. 4.1], In der Philosophie der Kunst verwendet Schelling noch nicht den Ausdruck „Herauskehrung", aber die Musik meint er doch als erste Stufe des „Universums", wie er dort schreibt, also als die Herauskehrung des Einen. Die entsprechende Hineinwendung oder Verborgenheit des Göttlichen läge im Begriff des „Erhabenen", das „für unsere Fassungskraft zu hoch" und „unermeßlich" sei. Als Begriff der Kunst bedeute das Erhabene (in Anlehnung an Schiller) die „Einbildung" des Unendlichen in ein endliches Symbol [V, 46 Iff]. Das Unermeßliche ist das Unendliche, das, als im endlichen Symbol eingebildet (also als durch das Begrenzende affektiert), sich
61
Vgl. bei Schelling XI, 232ff; XII, 164, 649; XIV, 167. Siehe auch Kap. 3.1. Die Mythologie als „universio" sei auch die „äußerliche Verstellung" Gottes, seine Ironie [XII, 90f]. Siehe Kap. 6.5.
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Überhaupt haben Schopenhauers Ausführungen über die Musik als eine den Ideen parallele Objektivierung des Willens in WWV I, §52, große Ähnlichkeiten mit den Abschnitten über die Musik in der Philosophie der Kunst, V, 488-504.
63
Vgl. „Fakten" beim späten Schelling: siehe Kap. 5.1 (am Schluß).
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
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beim Menschen mythologisch ausdrückt. Nach der Philosophie der Kunst ist das Unendliche ein Chaos göttlicher Urkräfte [V, 463, 465]; dessen Sinnbild in der Natur sei der Ozean, Poseidon sei der entsprechende griechischen Gott [403]. Nach der Deutung der spätphilosophischen Mythologie ist dieser Gott wesentlich dasselbe wie die Urgöttin Urania [XII, 625f]. Also findet das „Erhabene" mythologischen Ausdruck in Poseidon, Urania, den Titanen und im schrecklichen Weltgrund der Weltalter [Kap. 2.11.b]. Die Geburt der Tragödie definiert das Erhabene als die „künstlerische Bändigung des Entsetzlichen" [III/1, 53 (§7)], also des Schrecklichen als des Weltgrundes.
2.1 l.b Der mythologische Grund In seiner Arbeit Das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Schelling schreibt Otto Kein, Nietzsche teile mit Schelling die Ansicht, daß die olympische Welt auf einem dunklen Abgrund ruhe, den sie verhülle [32-33, 37-42], Mit dieser Meinung hat Kein gewiß Recht. Was uns hier interessiert, ist die Spur der Prinzipien im Begriff des Weltgrundes in der Geburt der Tragödie. Wie wir in unserem ersten Kapitel bemerkt haben, hat Schelling schon früh das Verhältnis der Prinzipien als das innere Leben der Mythologie begriffen. Schon früh sah er die Prinzipien in „Spannung", in Widerspruch miteinander; in der Spätphilosophie begriff er die Spannung als die Folge des „Außer-Sich-Seyns" des ersten Prinzips. In der Mythologie wird diese Spannung in den schweren Kämpfen der Götter ausgedrückt; bei den primitivsten Götter ist der Kampf am heftigsten. Der mythologische Prozeß ist Theogonie, die Geburt oder Erzeugung der Götter „aus" dem ersten Prinzip und „durch" das zweite. Wie wir in Kap. 1.2 gesehen haben, ist eines von den Prinzipien das „Begütigende" [ΧΙΠ, 226], nämlich das zweite, begrenzende Prinzip, das Schelling in seinem Spätwerk im kosmischen Gott Dionysos der griechischen Mysterien erkennt. Auf dem ganzen Weg des Werdens läßt das dritte Prinzip Stufen des Werdens, primitivere und höhere, als bestimmte Gestalten erscheinen. Wenn auch nur vorübergehend, haben die Gestalten Bestand, sie bestehen in der Erscheinungswelt. Sowohl nach Schellings Spätphilosophie als auch nach der frühen Philosophie der Kunst bedeutet Apollo die höchste griechische Einheit der zwei ersten Prinzipien, d.h. den Geist oder den Verstand. Er ist der ideale Gott, die höchste Schönheit in der tiefsten Ruhe, der Führer der Musen, das allsehende Sonnenauge im Himmel, der Erleuchter der Zukunft [V, 624, 402f, 469]. In der spätphilosophischen Mythologie versteht Schelling Apollo auch so; aber nun hat er zusätzlich den Begriff des Kunstgottes Apollo als des stufenmäßig - kraft der Wirkung des zweiten
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
Prinzips - bis zur höchsten Einheit fortschreitenden Dritten. 64 Gleichwohl schreitet das Dritte allein unter dem „Druck" des Zweiten - das so wie das „Folgende (Kommende) das Vorausgehende" zum Weichen bringt 65 - zu der jeweils höheren Stufe fort [XI, 399]. Denn das Dritte bedeutet nicht nur eine für sich feststehende Erscheinung, sondern es hat auch das erste Prinzip als Grundlage, und es ist die Natur des Ersten, die mit ihm in Spannung stehende Wirkung des Zweiten kräftig zu bekämpfen [vgl. Kap. 3.1]. Insofern als eine jeweils gegebene Kultur eine Erscheinung des Dritten ist, wird diese Kultur naturgemäß dem höherführenden dionysischen Druck widerstehen. Gewissen Ausdrücken zufolge scheint auch Nietzsche in der Geburt der Tragödie an das Apollinische als die Finalursache zu denken: Es bedeutet den Trieb zur „Vollendung" und zum „Ziel" des Ur-Einen [III/1, 32, 35]. In Schellings Mythologie ist der Kreis ein mythologisches Bild des Geistes als der Einheit des Dritten. 66 Das Bild des Kreises verwendet Nietzsche in der Geburt der Tragödie als Symbol der apollinischen Wirkung. Z.B. verschwinden die „kleinen Zirkel" der nur vorläufigen apollinischen Vollendungen in der Flut des immer höher treibenden Dionysischen [III/l, 66 (§9)]. Die in der heutigen Kultur herrschende wissenschaftliche Logik kreise in sich selbst wieder, so daß sie sich wie eine Schlange in den Schwanz beiße: Sie selbst sei ihr eigenes Ziel. Sie sollte aber von einer neuen, tragischen Erkenntnis, einer neuen Flut des Dionysischen, durchbrochen werden [III/l, 97 (§15). Nach §3 der Geburt der Tragödie „überwinden, jedenfalls verhüllen" die Griechen das Schreckliche oder das Titanische des Lebens, „d.h. sie sind Sieger über eine schreckliche Tiefe" [III/l, 37, 33]. Aber diese Tiefe, der Weltgrund, bedeutet nicht nur Schreckliches; denn in der Erfahrung des Bacchischen und der Tragödie entstehen dem Menschen aus demselben Grund auch Lust und Freude. Nietzsche vergleicht den Grund mit der „Dissonanz" in der Musik. 67 Der Widerspruch des 64
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„Weil er durch alle Stufen [der Mythologie] hindurchgegangen, finden sich in ihm die zum Theil widerstreitenden Attribute [die ersten zwei Prinzipien] vereinigt... Demnach wäre Apollon am Ende der griechischen Mythologie ihr höchster Begriff...'' [XII, 668f], Siehe Apollo in Kap. 3.5. "Dionysos... ist den ganzen mythologischen Prozeß hindurch ein kommender, ein im Kommen begriffener..." [XII, 254]. Er ist der Gott der Zukunft, vor dem das Vorausgehende „weicht" [vgl. Urania in Kap. 3.5], Am Ende des Prozesses „ist alles Dionysos", d.h. das Dritte als das höchste mythologisch Gewordene [siehe hierüber Kap. 5.3], Siehe bei Schelling ΧΠ, 394 (Horner des Widders), 399 (die in sich gekrümmte Schlange), 404 (der zirkelrunde See), vgl. XIII, 495-97. Die philosophische Bedeutung besteht im Zu-Sich-Kommen des außer-sich-seienden ersten Prinzips durch die Wirkung des zweiten, also im Zurückbiegen in das Subjekt. Geist entsteht erst, wo das ente Prinzip zu sich kommt oder in sich geführt wird [vgl. XII, 650], III/l, 148 (§24), 150.28 (§25). Zur Erläuterung siehe 99.27f (§16), 105.15-23 (§17), 137.32 (§22); vgl. „Urwiderspruch" 40.12 (§5). In Nietzsches späteren Notizen zu Wir Philologen findet man die Rede von einer „Spannung im Chaos" des Grundes [IV/1, 169]: Siehe unten Kap. 11.4.
Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
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Grundes legt den Gedanken nahe, daß es sich im Grunde um kein Einfaches, sondern um eine Vielfalt von Kräften handelt, und zwar solche, die sowohl Freud als auch Leid bedeuten. Gemäß der Ordnung der Götterentstehungen (der Theogonie) war nach Nietzsche der Weltgrund in uralter Vergangenheit die Wirklichkeit selbst, die „ursprüngliche titanische Götterordnung des Schreckens". Aus diesem Grund entwickelten sich die olympischen Götter durch sukzessive Uberwindungen [III/1, 32 (§3)]. Die ursprüngliche Schreckensordnung liegt noch der gegenwärtigen Welt zugrunde, sie sei „die ewig schöpferische Urmutter" [III/l, 104 (§16)]. In Schellings Weltaltern (1813) liest man folgendes: Wir begreifen, daß die erste Existenz der Widerspruch selber ist, und umgekehrt n u r in Widerspruch die erste Wirklichkeit bestehen kann... Alles Leben m u ß durchs Feuer des Widerspruchs gehen; Widerspruch ist des Lebens Triebwerk und Innerstes. ... D e r Widerspruch, denn wir hier begriffen, ist der Quellbronn des ewigen Lebens; die Construktion dieses Widerspruchs die höchste Aufgabe der Wissenschaft. Daher der Vorwurf, er fange die Wissenschaft mit einem Widerspruch an, dem Philosophen gerade so viel bedeutet, als dem Tragödiendichter, nach Anhörung der Einleitung des Werks, die Erinnerung bedeuten möchte, nach solchem Anfang könne es nur auf ein schreckliches Ende, auf grausame Thaten und blutige Ereignisse hinauslaufen, da es eben seine Meinung ist, daß es darauf hinausgehe. [ W I , 321, vgl. 234].
Nach Schellings Theogonie ist die Zeit der Titanen eben die dieses Anfangs, der ersten gewaltigen Bewegungen, des ersten und schwersten Kampfes der ersten zwei Prinzipien. Auch haben die Titanen bei Schelling grundsätzlich dieselbe Bedeutung wie die Göttin Urania, die Urmutter der folgenden, aus ihr erzeugten Mythologie [XI, 39; XII, 618f; XIII, 496].68 Wie Nietzsches Urmutter oder das Ur-Eine ist Schellings Urania auch nur „Eine", doch in sich hat sie die hochgespannte Kraft der miteinander kämpfenden Prinzipien. Ohne die Zweiheit gibt es für Schelling keinen Anfang, keine Bewegung, kein Leben. Aus dem ersten gewaltigen Kampf der Prinzipien entsteht die erste Bewegung des Lebens und somit der mythologische Grund aller späteren Erscheinungen. Nach den griechischen Mythen sind die Titanen und Urania dunkle, primitive, hochgewaltige Urkräfte.69 Aber der Kampf 68
69
Über Urania siehe bes. Kap. 3.5. Nach Schelling ist die hohe Göttin Demeter, nämlich in der primitiven Form ihrer ersten Erscheinung in der Theogonie, d.h. als Urania, „der erste Gegenstand alles Cultus" [XII, 641, vgl. 164, 213, XIV, 167; vgl. VIII, 367f], Demeter hat in sich die Gewalt ihres Grundes; diese ist das in ihr Gefürchtete. In ihrem widersprüchlichen Grunde bleibt sie immerwährend die der Versöhnung Bedürftige. Wie Apollo macht Demeter/Persephone alle Stufen der Mythologie durch [siehe Kap. 3.5]. Zumal in den Weltaltern hatte sich Schelling ausführlich mit diesem in der Vorzeit die Wirklichkeit beherrschenden, noch heute im Weltgrund „pulsierenden", „schrecklichen" Kampf der Urkräfte befaßt: VIH, 231, 326 (Puls), 268 (das Schreckliche). Vgl. in der Freiheitsschrift das erste
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Kap. 2: Prinzipienlehre bei Nietzsche
ist produktiv: weil gerade das zweite - das begütigende, höherführende - Prinzip mit dem Ersten kämpft. Allein für sich - bloß als das unbestimmte Apeiron - läßt das erste Prinzip keine Möglichkeit des Lebens zu. Das zweite Prinzip ist die demiurgische, schöpferische kosmische Naturkraft, Dionysos. Aus dem Ringen dieser zwei Prinzipien gibt es von Grund auf den alles Dasein schmerzlich fluchenden, aber zugleich segnenden Widerspruch. Bei Schelling wird in den bacchischen Festen der Griechen die widersprüchliche Mischung des Grundes als Freude und Leid erlebt: Bacchus sei eine Gabe, welche die „verborgenen Wonnen wie die tiefsten Schmerzen des Lebens" hervorrufe [XIII, 437]. In der Wissenschaft des vorher „Außersichseyende", nun „zu-sich-gekommenen" Geistes soll sich dieser des ganzen Weges, „aller Momente, gleichsam aller Leiden und Freuden dieser Wiederbringung bewußt sein" [XIII, 287; vgl. Kap. 3.1].
Zusammenwirken der Prinzipien, VII, 360ff; vgl. 391 („Schrecken und H o r r o r " ) . Vgl. IV, 258.
3 Zusammenfassende Darstellung des Mythologiebegriffs beim späten Schelling 3.1 Die dionysische Überwindung des gefallenen Seins Die folgende Zusammenstellung aus der Mythologie des späten Schelling versteht sich als Vorbereitung, Grundlage und Voraussetzung für den Vergleich in den nachfolgenden Kapiteln, wo wir häufig auf sie hinweisen werden. Wie wir in Kap. 1 gesehen haben, geht für Schelling das Seiende als das Existierende aus dem Zusammenwirken oder Kampf der Prinzipien, der Ursachen des Kosmos hervor: Das erste Prinzip ist das „Woraus", das zweite das „Wodurch", das dritte das „Wozu" des Werdens. Das schwierigste Problem im Werden ist für den späten Schelling - schon in der Freiheitsschrift wird dies ausgedrückt - das Böse, womit zugleich die andere Seite desselben Problems aufgezeigt wird: woher das Gute? Schelling folgt der Spur des Problems bis auf dessen Anfang zurück, bis zum „Seynkönnen", der Möglichkeit als der notwendigen Voraussetzung des Seins. Das erste Problem ist das vomVerlust der Freiheit des Könnens, der Potenz. Geht das Seinkönnen ganz ins Sein über, so verschwindet die Möglichkeit in das Sein: Sein ohne Können ist wie tot, unbeweglich. Aber unbeweglich und tot ist das Werden oder das Weltleben nicht. Es muß also noch etwas - das zweite Prinzip - geben, das dem Seinkönnen das Können beim Ubergang in das Sein der Dinge erhält. Wie wir in Kap. 1.1-2 gesehen haben, bezeichnet Schelling das Erste als das Sein mit dem griechisch-philosophischen Wort ά π ε ι ρ ο ν : das Unbegrenzte und Schrankenlose als „das von nichts mehr Gehaltene". Aber schon vor dem Sein sei das Seinkönnen „ein ά π ε ι ρ ο ν " , nämlich als das „nicht sich selbst begrenzen Könnende, das von sich selbst Unbegrenzte, das nur durch ein anderes begrenzt und in den Schranken des Könnens erhalten werden kann". „Es ist das von sich selbst Unbegrenzte..." „Wenn es also das durch sich selbst nicht Begrenzte ist, so folgt um so mehr, das es durch ein anderes begrenzt sein müßte." Dieses Andere ist das zweite Prinzip. Das Böse ist für den späten Schelling grundsätzlich der Zustand, in welchem das erste Prinzip, das vor dem Sein in den Schranken der Potenz begrenzt ist, aus der Potenz in ein eigenes Sein für sich übergeht [XIII, 236f, 286, 350]. Denn als ein eigenes Sein „schließt" das erste Prinzip das zweite „aus", oder es „widersteht" diesem und „bekämpft" es, so daß die Prinzipien sich im Zustand der „Spannung" befinden. Weil es Leben ohne Werdenkönnen nicht gibt und weil das Werdenkönnen vom zweiten Prinzip abhängt, ist das größte Böse das ungehemmte als die
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Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
absolute Ausschließlichkeit des Eisten gegen das Zweite und daher die Abwesenheit von letzterem: das unbewegliche, tote Sein ohne alles Werden. „Das Seynkönnende ist nicht... das von sich selbst Enthaltene, von sich selbst Begnügte. Darum ist es auch für die Folge, inwiefern es nämlich für sich hervortritt und mit dem es Begütigenden in Spannung tritt, die Quelle alles Unwillens und Mißvergnügens auch in dieser Hinsicht das Sinistre" [XIII, 226; vgl. X, 116]. Diese Ableitung ist zwar Denken des „Was" oder des Wesens des Bösen, aber nicht im Sinne der abstrakt-negativen Priorität des reinen Begriffs, sondern vielmehr in Nachfolge der Priorität des „Daß" als der wirklichen Existenz, der existentiellen Lage des Menschen. Man vergleiche z.B. folgendes: „Das Los der Welt und der Menschheit ist von Natur ein tragisches, und alles was im Lauf der Welt Tragisches sich ereignet, ist nur Variation des Einen großen Themas, das sich fortwährend erneuert; die Handlung, von welcher alles Leid sich herschreibt, ist nicht einmal geschehen, sondern das immer und ewig Geschehende; denn nicht wie einer unserer Dichter gesagt, ,was sich nie und nimmer hat begeben', sondern was sich immer begeben und ewig begibt - ,das allein veraltet nie'" [XI, 486]. Damit meint Schelling grundsätzlich jenen Übergang vom Seinkönnen ins Sein: Grundsätzlich, d.h. nach dem in jedem Menschenleben inwohnenden Leben der Prinzipien. Schon immer findet der „Fall" des menschlichen Könnens in die Unfreiheit statt. Ewig hat der Mensch wieder zu sich zu finden, d.h. aus dem Außer-Sich-Sein, aus dieser schlechten Ekstase der Existenz in die Grenzen des freien Könnens, in die Freiheit des freiheitlichen Wählen- und Entscheidenkönnens. Grundsätzlich macht derselbe tragische Fall und derselbe Fortschritt zur Freiheit das Wesen der Mythologie aus. Die Götter des außer-sich-seienden, ekstatischen mythischen Bewußtseins, und mit ihnen die Menschengeschichte selbst, entstehen nach Schelling aus einem ersten unbegrenzten objektiven Sein des geschichtlichen Menschen. Vor diesem Sein gab es dessen subjektive Potenz: eine urmenschliche Urzeit, nach dem Mythos die ursprüngliche Schöpfung. Ursprünglich stand der Urmensch in Beziehung zu einem Anderen, einem Zweiten, das ihn in der Begrenzung seines Könnens bewahrte; hier war das ihm Mögliche die schon immer gegebene Schöpfung, mit der er in Einheit lebte. Aber der Urmensch war von Natur aus ambivalent, denn er war freie Möglichkeit. Was er konnte, das tat er auch: Er ging in ein eigenes Sein über, er wurde für sich, und so riß er sich von der ursprünglichen Einheit der Schöpfung los. Aber so verfiel er tragisch - grundsätzlich aus freier Möglichkeit, aber urmenschlich unwissend - in die Verlorenheit dieses Seins. Er hatte gemeint, seine Freiheit bewahren zu können. Dies war nach Schelling die erste „Täuschung" des Menschen, aus der alle späteren folgten [XIII, 349, 181f; XII, 148, 336], Im Übergang zum eignen Sein wird er hinausgeworfen in „das Weite und Grenzenlose ( ά π ε ι ρ ο ν ) " [XII, 158], In dieser Seinsweise ist der Mensch zunächst ohne wirkliche Bewegung, als ob erstarrt. Ganz bewegungslos ist er nicht; er ist als Mensch erkennbar. Aber
Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
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er macht keine wirklichen Fortschritte - dazu hat er keine Potenz -; vielmehr wiederholen seine Bewegungen stets dasselbe, sie kreisen immer in derselben Bahn [siehe Kap. 3.3]. Als potenzloses Sein ist seine Seinsweise „dunkel" und „schwer". Der Urmensch war auch die Potenz der Schöpfung; denn sie ist, was er ist [Kap. 1.2]. Geht er in das Sein über, so wird sie selbst in das neue Sein mitgerissen. Aber dieses Sein hat eine verborgene Tiefe, eine Fülle von ungeahnten Möglichkeiten. Der Urmensch - wie die Schöpfung überhaupt - entstammt dem Quell aller Möglichkeiten, er ist Gott als Kreatur herausgewendet, universio; daher enthält das neue menschliche Sein, wie im Keim tief verborgen, die Möglichkeit einer neuen Welt. Damit aber das Werden dieser Welt am gefallenen Sein entstehe, muß das erste Sein zur Möglichkeit (Materie) einer Entwicklung gemacht werden. Um dies zu bewirken, tritt nun das zweite, begrenzende Prinzip in einer neuen Weise zum Ersten hinzu - nämlich als der Dionysos der Mythologie - um auf dieses einzuwirken, so daß sich aus ihm die Möglichkeiten instinktiv-mythologisch entfalten. Als Dionysos ist das zweite Prinzip nicht mehr das ursprüngliche „rein Seyende" als solches; es ist durch das Sein des Urmenschen aus dieser Stellung verdrängt worden und steht dem Menschen nun in gespannter Beziehung gegenüber. Um auf den Menschen einzuwirken, tritt es nun selbst als Potenz oder Macht auf. Als eine mächtige geschichtliche Potenz wirkt Dionysos, um den Menschen wieder in dessen Potentialität oder Subjektsein zurückzubringen und um damit sich selbst letztendlich als das „rein Seyende" der Menschenwelt wiederherzustellen [vgl. Kap. 1.2]. Durch Dionysos' kräftiges Einwirken entstehen aus dem materiell-werdenden Prinzip die „Momente" oder „Stufen" der Mythologie. Als Gipfel der menschlichen Entwicklung entsteht das besonnene, selbstbeherrschende, geistige menschliche Bewußtsein, das sein freies Können wiedergewonnen hat, und mit ihm entsteht seine Kulturwelt der Wissenschaft und Kunst. Dionysos ist im ganzen Prozeß der Löser und Erlöser (ό λ ύ σ ι ο ς), 1 der von Anfang an das erste Sein zu dessen höheren Möglichkeiten - man könnte auch sagen zur Selbstverwirklichung - befreit. 1
Siehe z.B. XIII, 436. Vgl. ό λ ύ σ ι ο ς bei Fr. Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen [3. Aufl. 1836-43], IV, z.B. 12,17. Schelling hatte Creuzers Arbeit als den wichtigsten Beitrag der Dionysos-Forschung angesehen, freilich nicht ohne sie auch zu kritisieren [XI, 89ff, vgl. XII, 161, 277, 288ff, 391, 409, 643, 651; XIII, 433f, 488]. Creuzers große und gelehrte Sammlung religiöser Mythen, Symbolen und Handlungen - mit Besprechung der Quellen und der wichtigsten neueren Darstellungen - war etwas wie eine Enzyklopädie der Mythologie, zumal durch die Erweiterung der Arbeit in der letzten (oben zitierten) Ausgabe. Auch die gewöhnliche Kürze der einzelnen Darstellungen macht den Eindruck solch eines Werkes. Offenbar wollte Creuzer seine Interpretationen der Mythologiegeschichte - z.B. war Dionysos ursprünglich indisch - dem umsichtig-gelehrten Hauptzweck unterordnen. Daß Schelling oder Nietzsche z.B. dieselben Mythen wie Creuzer erwähnt, überrascht nicht. Die philosophische Deutung macht den Unterschied aus.
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Gemäß den Stufen des Prozesses, d.h. in sukzessiven Überwindungen des Ersten, „weicht" das starre erste Prinzip immer mehr dem Einfluß des zweiten; der „Widerstand" oder „Wille" (auch „Unwille") gegen Dionysos nimmt nach und nach ab [XII, 258ff, 581; vgl. XI, 561].2 Dadurch wird das Erste zur Möglichkeit oder Materie der Entwicklung [XII, 28, 189ff]. Schreitet die Entwicklung zu einer höheren Stufe fort, so weicht die vorherige Stufe in den „Grund", d.h. sie wird zur Voraussetzung der neuen Stufe. „Grund" bedeutet wesentlich die überwundene Voraussetzung als die reale Möglichkeit oder Materie der daraus wachsenden Entwicklung [z.B. XI, 493; XIII, 227, 244]. Für die Griechen z.B. entstehen die neuen Götter aufgrund der alten Götterwelt, sie haben die alten Götter wesentlich in sich, in ihrem Grund. In der griechischen Mythologie heißt der Grund die von Dionysos beherrschte Unterwelt [XII, 435ff, 474]; denn ihre vorausgehenden Stufen hat er in den Grund überwunden und er ist mit jeder stufenmäßig auch vereinigt. Mit verschiedenen aus der Mythologie entnommenen Ausdrücken beschreibt Schelling die erste Einwirkung des dionysischen Prinzips auf das Erste; vor allem redet er von der „Erleuchtung" des Menschen [XII, 270f]. Denselben Vorgang beschreibt er auch als die „Erschütterung" jenes ersten Seins. Dionysos „erschüttert" den Menschen: Er versetzt ihn in den begeistert taumelnden, in den Anfängen schrecklichen, doch höherführenden Orgiasmus der mythologischen Entwicklung. All das ist Ereignis im Bewußtsein des mythologischen Menschen; die Erschütterung ruft die mythologischen Vorstellungen der Götter hervor [XIII, 380]. Vor dem Anfang der Mythologie sei das erste Prinzip eine im Sein verlorene Macht, „die eines andern, von ihr unabhängigen, eines wirklichen zweiten Prinzips bedarf, das sie erst erschüttert, endlich ganz überwindet" [XI, 129],3 Die Überwindung oder 2
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Schon in der Freihheitsschrift steht zu lesen: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn..." [VII, 350], Wille ist die Eigenschaft des ersten Prinzips schon als reiner Potenz („Hunger nach Seyn"), aber erst recht als des in das eigene Sein Übergangenen, d.h. als des Dionysos kräftig Widerstehenden. „Was Ernas ist, m u ß widerstehen", d.h. „Gegenstand" sein, „sich behaupten". „Widerstand liegt eigentlich bloß im Wollen, nur der W i l l e ist das eigentlich Widerstehende" [XIII, 206; vgl. XII, 87], Demgegenüber ist das zweite Prinzip als das ursprüngliche „rein Seyende" das, was „nicht zu wollen hat", weil es rein „Ist". Darum nennt Schelling es auch „gelassenes Seyn" [XII, l l l f ] . Durch den Fall des Menschen w i r d es durch das neue sich behauptende, ihm widerstehende Sein aus dem Zustand des gelassenen „rein Seyenden" gesetzt, aber ohne sein Wesen zu verlieren: Es wird zum Willen (Potenz, Macht), sich wiederherzustellen. Es muß das Erste im Prozeß überwinden, es wieder zum Subjekt machen [XIII, 325], Das erste Wille-Werden des Zweiten nennt Schelling auch die „Erzeugung" des zweiten Prinzips als Willen zur Überwindung [siehe bes. Kap. 11.5]. Vgl. Erschütterung, XI, 261; XIV, 325. In Schellings frühen Schriften vgl. z.B. I, 443. Über den schon seit der Freiheitsschrift häufig vorkommenden Begriff der Überwindung liest man z.B. folgendes: „das Geistige kann wahrhaft nur im Verhältniß zum Ungeistigen und durch Ueberwindung desselben gewonnen werden" [X, 176].
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auch „Umwendung" des Ersten bedeutet schließlich die Wiederherstellung des menschlichen Könnens, die Herstellung des freien Geistes als das Ergebnis des Prozesses [XIII, 405]. Als freier Geist kann der Mensch in seinem Handeln Potenzen oder Möglichkeiten verwirklichen, ohne sich damit zu verlieren, und sich besonnen über sein Tun und Lassen entscheiden. Der Prozeß seines Werdens ist ein widersprüchlicher Weg des Leidens und der Freude. Unter den Griechen erscheint der dionysische Gott Bacchus, der sein mythologisches Gleichnis im Wein hat. Nach Schelling bedeutet der bacchische Wein „die völlige Umwendung, d.h. die Vergeistigung" des ersten materiellen Prinzips. Wie aber der Wein nur durch die „Zerdrückung" der Reben hergestellt wird, so erleidet das Bewußtsein schwer den erschütternden Prozeß der Uberwindung bis zur Vergeistigung [XIII, 436f], Nach Schellings Auslegung besagt der Persephonemythos, daß ein früheres Bewußtsein „sterben muß, damit das freie, geistige, nunmehr den geistigen Gott (damit die geistigen Götter) setzende aufgehe" [XII, 638]. Demeter, die Mutter der Persephone, bedeutet das Bewußtsein im Ubergang: Sie gibt ihre Tochter nicht freiwillig auf, sondern nur infolge „des Kampfes, in dem das Bewußtseyn sich befindet". „Mit Gewalt wird die Tochter von der Mutter, die nicht wollende von der nicht wollenden, gerissen..." [ebd, 630]. Geistwerden bedeutet Kampf: Jede höhere Stufe der Mythologie muß gegen den unwilligen Widerstand im Bewußtsein erkämpft werden. Das mythische Bewußtsein ist der Kampfplatz der Götter, welche die konkret-geschichtliche Gestalt des Uberwindungsprozesses mythisch darstellen. Der Götterkampf bedeutet für den Menschen das Erleiden des Widerspruchs der gegensätzlichen Kräfte. Im Interesse der mit Freude erlebte Befreiung ist Dionysos die eine Ursache des Schmerzes; die andere ist der Widerstand des Ersten gegen Dionysos. Auf der niedrigsten Stufe, Urania, wo der Kampf der Uberwindung die primitivsten und gewaltigsten Formen hat, haben die mythischen Orgien die wildesten und unsittlichsten Formen [XIII, 423]. Die Priester der phrygischen Göttin Kybele verstümmeln sich; die taumelnde, zügellose „Agonie" wirft den Mensch um [XII, 362; VIII, 338]. In Schellings Mythologie erleben die Griechen eine eigenartige zweistufige Entwicklung: Ihre Mythologie wurde mit dem hochgeistigen, durch poetische Schönheit verklärten Homer geboren, aber sie wurde später durch jene neue dionysische Bewegung des Gottes Bacchus in eine noch höhere Stufe geführt. Nach Homer hatte nämlich der Orphismus Einfluß auf die griechische Kultur gewonnen, zu einer Zeit nämlich, wo der Orphismus einer althergebrachten Ordnung verpflichtet war und sich daher dem stets fortschreitenden Dionysos widersetzte. Dadurch wurde das erste Prinzip im Griechischen wieder kräftig, z.B. auch durch altväterliche Gesetzlichkeit [XIII, 422ff]. Bacchus löste die Griechen wieder, er konnte das Alte, das an der Vergangenheit Haftende, überwinden. Die bacchischen Feste waren nach Schellings Darstellung am nächsten mit der stufenmäßig vorgriechischen Kybele-
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Verehrung verwandt, nur waren sie nicht von der „wilden" und grausamen Art der Kybele-Verehrung. Die viel sittlicheren bacchischen Aufzüge fanden im „WohlgefiihT der „seligen Trunkenheit" statt. Aber wie der Wein, das bacchische Symbol, ist Bacchus eine zweiseitige Gabe, die nicht nur „die verborgenen Wonnen", sondern auch „die tiefsten Schmerzen des Lebens hervorruft" [XIII, 437],4 Er bringt den in der Poesie Homers verborgenen und widersprüchlichen mythologischen Grund des griechischen Geistes an den Tag [vgl. XII, 649]. Im Grund ist das begütigende Prinzip mit dem Ersten in hoher Spannung vereinigt. Durch Bacchus wird ein „freies Naturleben" unter den Griechen eingeführt [XIII, 435]. Mit diesem Ausdruck will Schelling Unterschiede setzen: Wo die dionysische Einwirkung nicht vorhanden oder nur schwach ist, ist das Naturleben vielmehr ein dumpfes unfreies, wie z.B. an der Vorstufe der Mythologie, in der Zeit des Gottes Uranos. Das bacchische Naturleben fand Ausdruck im Herumtragen von Efeu und Weinblättern, den „Zeichen des Friedens und der friedlichen Eroberung", und in der Kostümierung als Satyr. Dadurch erscheint das „Princip der Natur" - das erste, materielle Prinzip - als gezähmt, überwunden, versöhnt; Dionysos hat sich mit dem ersten Prinzip in hoher Weise vereinigt. Silenos, Bacchus' „treuster Gefährte", reitet den Esel, das „Thier des Friedens". „Diese Züge erinnern an ganz analoge Bilder des Alten Testaments, wie es denn eben darum in der bekannten, auf den Messias sich beziehenden Weissagung heißt: „Sage der Tochter Zion, siehe dein König kommt zu dir sanftmüthig (friedfertig) und reitet auf einem Füllen der lastbaren Eselin" [XIII, 437f], „Versöhnung" ist nach Schelling das mythologische Ergebnis der Vereinigung mit Dionysos: Daraus wird das Kind, der „Sohn", d.h. die neue, höhere Stufe des Bewußtseins, geboren. Die in ihrer Geschichte schwer leidende, aber durch die Geburt freudige Göttin Demeter gebärt den Sohn und zukünftigen Herrscher Jakchos, der die höchste Geistigkeit bedeutet [XIII, 483-86]. Aber die Ursachen des Leidens und des Lebenskampfes werden nicht aufgehoben. Die realen widersprüchlichen Mächte des Grundes erscheinen zwar nicht mehr mit der Gewalt der ersten mythologischen Zeit; aber damit die gewaltige Zeit in der Vergangenheit oder im Grunde bleibt, müssen jene Mächte - eben auch als die primitiven dionysischen Objekt der fortwährenden Uberwindung im Leiden und Lebenskampf der Men4
So wie der Wein nach Schelling aus einem ersten Prinzip, einer Materie, besteht - er entsteht aus den zerdrückten Reben [XIII, 436] -, so auch ist Bacchus nicht das reine zweite, dionysische Prinzip selbst - dieses erscheint rein f ü r sich nie in der Geschichte -, sondern eine bestimmte und kräftige Erscheinung der Einwirkung des zweiten, dionysischen Prinzips auf das erste. Im bacchischen Menschen wird dies zu seiner eigenen Bewußtseinsgeschichte: In der Wirkung des Weins oder des Bacchus wird auch die schmerzliche Erinnerung der Zerdrückung hervorgerufen (vgl. Demeter oben). Vgl. X, 266f: Das Weltsein gelange „durch Schmerz zur Freude, durch Leiden zur Herrlichkeit", auch zur „Wonne" der Freiheit.
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sehen sein. Jeglicher mythischer Kultus beruht nach Schelling auf der realen Notwendigkeit, die gewaltigen Kräfte des Grundes zu versöhnen, die für die Griechen selbst in Zeiten der Not wieder aus dem Grund treten und auch grausame Menschenopfer fordern können [XII, 164, 213, 641; XIII, 468]. Doch das Leben selbst und all Höheres geht aus demselben Grund hervor; ihm selbst liegt die fortwährende, aber schon immer in den Fall gehende Schöpfung zugrunde [XIII, 324; siehe Kap. 11.5]. Im Kultus der Eleusinischen Mysterien, welche die Prinzipien als kosmische Götter erkannten, wurde die mythologisch-theogonische Entwicklung bis zur Geburt des zukünftigen Gottes Jakchos symbolhaft dargestellt [XIII, 443ff], und zwar so, daß „Momente der Vergangenheit hier wieder hervortraten; es war ein reeller Prozeß" [451]. In den großen Tragödien, die in Zusammenhang mit den Mysterien vorgetragen wurden, wurde eine ähnliche Leidensgeschichte als das Schicksal eines Menschen dargestellt [XIII, 496ff, bes. 498]. Zumal aus Proklos entnimmt Schelling die Beschreibung der Handlungen der Mysterien als (erschütternde) „Schrecken", welche die menschliche Seele aus ihrem anfänglichen Zustand lösen oder befreien und sie der höheren göttlichen Macht fügsam machen [XIII, 444]. An derselben Stelle weist Schelling darauf hin, daß nach Proklos „die Philosophie, um Jünglinge zum weisheitliebenden Leben emporzurufen, zu gleichem Zweck auch so verfährt''.5 Auch die Schrecken, welche die Tragödien als Schauspiel auf der Bühne vorspielten, hatten einen pädagogisch-religiösen Sinn.
3.2 Ekstase, Zauber, freie Besonnenheit In seinen Göttervorstellungen ist der mythische Mensch „ekstatisch", „excentrisch", „außer sich"; sein Bewußtsein ist in den Inhalt (die Vorstellungen) aufgegangen, der ihn „bezaubert" [XII, 128,141, 179; XIII, 380, 413f; vgl. kap. 2.1], Bei Schelling sind Ekstasen verschiedener Natur; es gibt sowohl heilsame als auch unheilsame [bes. IX, 230]. Im Fall des Urmenschen geschieht ein unheilsames Außer-Sich-Sein des Bewußtseins im ersten dunklen, unbeweglichen, noch einförmigen, gefallenen Sein, das für Schelling die Voraussetzung der Mythologie darstellt. Als Dionysos zu diesem ersten Sein des Menschen hinzutritt, um die mythologische Bewegung einzuleiten, wird dem Bewußtsein ein Gutes zuteil, das 5
Prodi Successions in Piatons Atcibiadem Priorem Commentarli, hg. v. Fr. Creuzer (mit Widmung an Schelling und dem Franzosen J.F. Boissonade: „platonicorum monumentorum philosophiaeque interpretibus primariis") [Frankfurt a.M., 1820], 61. Vgl. ferner Schelling: „Alles, sagt Demetrius von Phalerä (De Eleoc. §101), war in der Einleitung zu den Mysterien auf Schrecken, Bestürzung und Schauer ... angelegt. Wenn der Einzuweihende in den geheimnisvollen Tempeln tritt, sagt Themistios, so wird er zuerst von Schrecken und wie von einem Schwindel befallen..." [XIII, 444],
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zwar großes Leiden verursacht, das ihm aber eine neue Ekstase, die Göttervorstellungen, ermöglicht. Mit jeder neuen Stufe der Mythologie werden die Götter sowohl als einzelne als auch in ihren gegenseitigen Beziehungen freier, menschlicher, herrlicher und schöner. Nach und nach wird das Bewußtsein vom seinem Leiden befreit, so daß es als freier Geist auch in Freiheit von dem schweren alten Götterkampf leben kann. Doch mit der Freiheit ist es mit dem Zauber nicht vorüber; Ekstase hat bei Schelling gerade ontologische Bedeutung. Schellings philosophische Vorstellung von der Zauber- und Liebes-Beziehung der Prinzipien im Göttlichen, d.h. die des „rein Seyenden" und des „Nichtseyenden" [Kap. 1.2], läßt dies erkennen. Erstellt diese Sache mit Zeichen dar. „A" steht für das Göttliche. Das „rein" oder „überschwenglich Seyende" hat das positive Zeichen + A. Das „Nichtseyende" oder die göttliche Potenz hat das negative Zeichen -A. Wie Schelling schreibt, „zieht" -A + A „magisch an". Für -A ist + A nicht gegenständlich; vielmehr geht -A in + A unter: -A nimmt kein eigenes Sein an, sondern „hat" sich nur „in" dem Anderen. „Einer vergißt sich gleichsam im andern" [XIII, 252f, vgl. 23 lf]. Dadurch ergibt sich die Einheit ±A, das Dritte als der göttliche Geist [XIII, 237, vgl. 342; XI, 390], Nach der Spätphilosophie ist der geschaffene Urmensch auch magisch-anziehende Potenz; er „kleidet sich" mit dem „rein Seyenden", + A [XIII, 23 If; XII, 50ff). Das bedeutet verzauberte Existenz, „magische" Anziehung. Weil -A schon immer in + A ist, zieht der Urmensch (als nur Subjekt) mit + A die ganze Gottheit an, und somit ist er „im Centrum". 6 Diese „Anziehung" des Anderen, die noch keine Gegenständlichkeit in der Beziehung zum Anderen erlebt, beschreibt bei Schelling auch die wesentliche Struktur des mythologischen Zaubers der Göttervorstellungen der Mythologie. Denn der Dionysos der Mythologie ist wesentlich +A. Von der ersten mythologischen Erschütterung an drängt er sich unaufhörlich den Menschen liebend auf, und diese ziehen ihn in den Göttervorstellungen bezaubert an. Schon nach der Freiheitsschrift ist die Liebe das „begeisternde Princip" [VII, 415]. Jeder mythologische Kampf, jede Stufe des Werdens stellt eine gewisse Einheit (das Dritte), ein gewisses widersprüchliches Ineinader der gespannten, kämpfenden Prinzipien dar. 6
Für den späten Schelling bedeutet „Centrum" in erster Linie die Zentralstellung (Potenz) des Menschen in der Schöpfung [XI, 206], Zentrum bedeutet das Subjekt in Beziehung zur excentrischen „Peripherie" als des Seins, des Objekts, am höchsten und reinsten als des „rein Seyenden" [XIII, 257; vgl. VII, 362ff], - „Centrum" findet man häufig bei Jakob Böhme, nur bedeutet es bei Böhme in erster Linie das göttliche Licht oder Wort. Siehe Böhme, Sämtliche Schriften, hg. v. W.E. Peuckert [Stuttgart, 1955ff], z.B. II (De tribus principia), 31, 106f, 113-116, 143,179, 187. Durch die Wirkung des Bösen bilden sich egoistische „Centra" (Ichheit) als eigene Willen (Contraria) gegen das göttliche Zentrum. Siehe z.B. Böhmes Weg zu Christo, Buch 6 (Von göttlicher Beschaulichkeit), Kap. 1, §18-§20 [im IV. Bd. der Sämtlichen Schriften].
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Das Zeichen der Freiheit ist die geistige Besonnenheit, die Selbstbeherrschung, das Handeln-Können, ohne sich dabei zu verberen, das am Ende der mythologischen Entwicklung erscheint. Daher kann man die Mythologie auch als einen Prozeß der Entzauberung, d.h. als Befreiung von jener ersten schlechten Ekstase, sehen.7 Z.B. erscheint Persephone - die wesentlich das Bewußtsein selbst als dessen ganze Leidensgeschichte bedeutet - als eine bestimmte mythologische Gestalt erst dann, „wo der Zauber sich löst, in dem es gefangen war" [XIII, 414]. Das freie, besonnene Selbstsein am Ende des Prozesses hat jedoch einen noch höheren Zauber zu erleben, nämlich (in der „Umkehr") den Zauber der wahrhaft göttlichen Liebe. Um diesen Zauber zu erleben, muß der Mensch die göttliche Liebe sowohl verstehen als sie auch in besonnener Freiheit wollen, d.h. das „überschwenglich Seyende" freiwillig anziehen.8 Dies ist für den späten Schelling das Höchste.
3.3 Die Zerreißung (Selbstsein) und die Wiederherstellung der Einheit Selbstsein ist die Voraussetzung des ganzen Prozesses, denn gerade Selbstsein hat der Urmensch im Fall, in der „Zerreißung" der Einheit der Schöpfung, des Bewußtseins und der Welt, gesetzt [XIII, 352; XII, 268]. Nur war sie noch kein Selbstsein der Individuen, sondern des einen vormythologischen Uranos-Bewußtseins. Am Ende der Mythologie aber gelangt der einzelne Mensch zum freien, doch tragischen Bewußtsein seines wahren Zustandes als eines zerrissenen, dem die Einheit schon immer fehle. Nach Schellings Darstellung ist die erste gefallene Seinsweise des UranosBewußtseins ein einförmiges, einfaches Sein, das aber in eine Vielheit der vielen Menschen und der Dinge gebrochen ist; m.a.W. ist diese Vielheit eigentlich nur Eines. Das erklärt er mythologisch: Das gefallene Sein als solches strebt instinktiv das verlorene „Centrum" in der Schöpfung wieder an, aber es wird zur „Peripherie" durch die Gegenkraft des zweiten Prinzips zurückgestoßen. Durch die zwei entgegengesetzten Kräfte entsteht an der Peripherie eine Kreisbewegung, so wie die eines Gestirns, das gleichförmig denselben Kreis zieht. Aber durch dieselbe Gegenkraft des Zweiten wird das Erste in eine Vielheit - viele sich gleichende Gestirne - zerrissen. Jedoch herrscht in dieser Vielheit eigentlich nur das eine 7
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Auch für den freien Geist aber kann es noch die schlechte Ekstase geben, welche den Verlust der Besonnenheit, daher ein Ungewolltes bedeutet: so wie in Aristoteles' Begriff der Leidenschaften [XIII, 446], „Zauber" ist bei Schelling ein spätphilosophischer Begriff, aber es gibt Anzeichen in den früheren Werken, z.B. nach der Philosophie der Kunst ist die „magische Ansicht der Dinge" eine „unvollständige Ahndung des höheren und absoluten Vereins aller Dinge" [V, 450] Das ist eine Vorbedeutung des spätphilosophischen Begriffs des göttlichen Liebeszaubers [vgl. IX, 72],
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Gestirn Uranos, das einfach-eine Bewußtsein, die „astrale" Einheit des ersten starren Seins [XII, 170ffJ. Von der einen Seite gesehen, ist diese Zerreißung die Tat des Dionysos [vgl. XIII, 401, 430f; VIII, 338]. Aber sie schafft die erste Bedingung der Uberwindung des unbeweglichen, gestirnartigen Daseins: die erste Unterscheidung als die erste im Keim des neuen Seins enthaltene Möglichkeit einer neuen, zuletzt geistigen Welt. Die Mythologie führt nach und nach das freie Bewußtsein der Vielheit und somit auch das einzelne Ichbewußtsein ein. Durch den Fall des Urmenschen wird die ganze Schöpfung in das Selbstsein mitgerissen,9 so daß alle Wesen eine Vielheit von sich gegenseitig ausschließenden „selbstischen" Gegenständen darstellen.10 „Alle Unterscheidung macht die Selbstheit; wo keine Selbstheit, ist kein Gegensatz" [XII, 81; vgl. 51ff]. Wegen der unendlichen Gegensätze scheint die Welt dem Menschen zwecklos und überflüssig, zufällig und sinnlos [XIII, 363, 352, vgl. 387]. Die Mythologie selbst sei das „Entstellte, Zerrissene und Zerstörte des Urbewußtseyns"; aber, wie schon die Griechen in den Eleusinischen Mysterien erkannten, bezweckt der dionysisch-mythologische Prozeß letztendlich die „Wiederherstellung der wahren Einheit" [XI, 208]. In der Mythologie bekämpfen sich die zwei „kosmischen Potenzen" der gefallenen Welt, die zwei ersten Prinzipien; die konkreten Gestalten der Götter stellen ihr gespanntes, kämpfendes Ineinander in stufenmäßig-fortschreitenden Erscheinungen dar. Jede Stufe bildet eine relative Einheit der Gegensätze. Je nach der Stufe des Fortschrittes unterliegt ein dionysischer Gott seinen Gegnern oder er besiegt sie. Gemäß vielen Mythen „zerreißen" sich dionysische Götter und ihre Gegner. In der ägyptischen Mythologie wird der dionysische Osiris von Typhon zerrissen, aber auch umgekehrt zerreißt Osiris Typhon [XIII, 477-480]. Im Mythos der Zerreißung des Orpheus als einer älteren (relativen, d.h. Uranos näheren) Einheit durch die bacchischen Mänaden bedeutet die Zerreißung den dionysischen Fortschritt [XIII, 430f]. In einem verwandten Mythos zerreißen die primitiven Titanen den alten dionysischen Zagreus, der auch eine vergangene Einheit bedeutet, nämlich die in der fortschreitenden - und manchmal fortschrittlich verwirrenden Mythologie verlorene der alten Zeit [XIII, 477-482; vgl. XII, 427]. Nach Schellings
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Nach Schellings Verwendung der Zeichen ist die Schöpfung überhaupt das objektive Sein „B" als das aus göttlicher subjektiver Potenz (-A) Gesetzte. Als dieses Sein, aber unter der Einwirkung des + A (des „rein Seyenden"), entsteht der Urmensch als die subjektive Potenz -B. Der Urmensch ist die Schöpfung, wie Subjekt Objekt ist [Kap. 1.2], Darum geht diese in den Fall des Urmenschen mit. Die ganze Schöpfung fallt oder erleidet die Zerreißung [siehe bes. XII, 119ff; XIII, 355ff].
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Das Wort „selbstisch" kommt bei Schelling häufig vor: XIII, 206, 214f, 220-22, 232f, 269-71. Durch die erste Zerreißung (Uranos) sind alle Dinge selbstische „Gestirne". Wie bei Aristoteles „begehrt" alles Sein das Höchste, für Schelling die verlorene paradiesische Einheit [XIII, 105], Das Wesen der selbstischen Welt ist „Begierde" und „Sucht" [XI, 468], „kosmische Krankheit" [XIV, 282], Vgl. Begierde in Kap. 6.4.a, Kap. 12.1.
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Ansicht begreifen die hochgeistigen Eleusinischen Mysterien weitgehend die Ironie in den Zerreißungsmythen. Sie wissen, daß im Tode Dionysos Herr der Unterwelt wird [Kap. 3.1], woher neue, höhere dionysische Kraft in neuen, höheren Göttergestalten entsteht. Nach ihrer Deutung soll Jakchos, Demeters (aus dem dionysischen Tode der Persephone) neugeborenes Kind und der zukünftige, fortschrittlichste Weltherrscher, der „wiederhergestellte" Zagreus sein: die in herrliche Einheit gefügte Weltvielheit [XIII, 482]. Aber Jakchos' Herrschaft ist für die Mysterienweisheit eine in noch unbestimmter Zukunft kommende; in der Gegenwart herrschen noch Zerreißungszustände. Der freie menschliche Geist ist selbst ein Symptom der Zerreißung, denn er ist nur als einzelnes Ichbewußtsein. Im Mythos der Eleusinischen Mysterien bedeutet Demeters Trauer über den Verlust der Persephone - der alten Einheit - die „Umwandlung des Einen in eine Vielheit von Gestalten" [XII, 631], Gerade das geschieht im Werden des Geistes. Der dionysische Fortschritt, der die Entwicklung des Geistes als Ziel hat, führt nur tiefer in den Widerspruch zwischen ersehnter Einheit und wirklicher Vielheit. Für Schelling stellt die Weltzerreißimg auch die griechische Philosophie vor eine Tatsache, mit der sie nie fertig wird. Ahnlich wie in den Seligkeitsvisionen der Mysterien ersieht z.B. Piaton eine höchste Seligkeit in den göttlichen Ideen [XIII, 415f; XI, 381]. Aber „von den Ideen zur Sinnenwelt herabsteigend", gelangt er bei einer „Kluft" an, die er nicht überbrücken kann, nämlich die zwischen ideeller Vollkommenheit und der Unvollkommenheit der Sinnenwelt [XI, 460], Grundsätzlich dieselbe Kluft wird in Aschylus' Prometheus dargestellt, der „mit Klammern eiserner Notwendigkeit an den starren Felsen einer ... unentfliebaren Wirklichkeit angeschmiedet, ...hoffnungslos den unheilbaren... Riß betrachtet" [XI, 482], Der Riß durch das gefallene Sein kennzeichnet für Schelling freilich auch seine eigene Welt. Er will seinen Studenten so bilden, daß sie fähig seien, „was auch kommen möge, vor den Riß zu stehen, vor keiner Erscheinung zu erschrecken..." [ΧΠ, 673].11 Fortwährend ist die Welt eine schwer zerrissene; darum verbindet für Schelling das Tragische der Existenz die heutigen Menschen mit den tragischen Griechen [XIII, 529], Auch Schelling sieht die Erlösung des Menschen und dessen Welt in der Wiederherstellung der Einheit, nämlich durch das Werk der Liebe des göttlichen + A, des mythologischen Dionysos. Nach Ursprung und Wesen ist + A durch die
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Vgl. Schellings Darstellung der Wirkung des philosophischen Zweifels des (dionysischen) Cartesius: „Damit war das ganze künstliche Gewebe der Metaphysik völlig zerrissen. Dieser Bruch vervollständigte nur den Bruch, der durch die Reformation in das System der bisher geltenden Erkenntnisse gemacht worden" [XI, 264]. Nach den Vorlesungen über die Metbode des akademischen Studiums (1803) ist die Wissenschaft durch ihre neuzeitliche Abtrennung vom integrierenden „Urbild" (in der griechischen Klassik) „zerstückelt" worden [V, 227].
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sich-hingebende Liebe gekennzeichnet, nämlich als „der Wille, der nicht das Seine sucht" [XIII, 325; vgl. Kap. 11.4]. Dieselbe Liebe gibt sich dem mythologischen Menschen hin, aber mit dem Ergebnis des zerreißenden Kampfes, sofern das Erste im Menschen dem nie weichenden Dionysos kräftig widersteht. Im Prozeß erweist Dionysos nach und nach seine überlegene Kraft über den Widerstand des Ersten. Um dies zu erreichen, muß er den Kampf in allen Tiefen des menschlichen Seins führen. Die Vertiefung oder Erniedrigung des + A als Dionysos beschreibt den ganzen Weg des zweiten Prinzips in der Mythologie. Er geht mit den Menschen in den Fall und nimmt an allen deren gefallenen Gestalten teil, um die Gefallenen zu erhöhen. „Erniedrigung" und „Erhöhung" haben für Schelling prinzipielle und somit ontologische Bedeutung.12 Am Ende der Mythologie, in den griechischen Mysterien, wird Dionysos als die herrschende göttliche Potenz des Kosmos erkannt; denn er hat den bösen Gegensatz, das Erste, überwunden; er hat es zum freien, sichbesitzenden, herrlich-mächtigen menschlichen Geist erhoben. Aber damit kann Dionysos nicht zufrieden sein, denn der Weltzustand ist noch immer ein zerrissener und er selbst ist noch nicht das „rein Seyende" des Weltseins. Letzten Endes muß der Mensch - als noch wesentlich die ausschließliche, nur für sich seiende Selbstheit - in den Tod „untergehen" [XIII, 351; XIV, 285]. Im Tode wird + A, das Lebensprinzip, endgültig ausgeschlossen. In seinem Wesen ist Dionysos das göttliche Sich-Jedem-Anderen-Hingebende, das vor keiner es ausschließenden Grenze haltmacht: er ist wesentlich das „rein Seyende". Darum muß Dionysos weiter fortschreiten, er muß die tragische Zerreißung überwinden. Er geht noch tiefer in das gefallene Sein als je zuvor: Er macht sein herrliches, aber durch den Fall von seiner Wahrheit als dem „rein Seyenden" getrenntes, eigenes Gottsein zur Materie (Apeiron) eines konkreten Menschen und wird in der „Gestalt eines Knechtes" geboren [XIV, 59, 79, 179]. Er tritt aus der Höhe seiner Herrlichkeit in die Tiefe der allgemeinsten Menschheit. Damit offenbart er sich als der reine Sich-JedemAnderen-Hingebende, die reine Liebe. Er überwindet er die Zerreißung [XIV, 162ff] und hebt die vorherige Verdrängung aus seiner Wahrheit auf. 13
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Siehe schon oben Kap. 1.2. Über die Beziehung von -A und + A liest man: „Je tiefer die Vertiefung, d.h. die Negation der Selbstheit in dem einen, desto größer die Erhöhung über alle Selbstheit in dem anderen" [XII, 51]. Die Liebe versteht sich für Schelling wesentlich als solche Erniedrigung und Erhöhung. Siehe ferner XIII, 220; XIV, 223; vgl. XI, 529. Beim früheren Schelling siehe Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. Manfred Schröter [München, 1946 1 ,1966 2 ], 275; vgl. 19, 99 („Wer sein Leben verliert, der wird es finden"), auch IX, 217. Vgl. Erniedrigung und Erhöhung bei Nietzsche unten in Kap. 5.4.b.
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Schon in der Mythologie wird Dionysos Mensch, z.B. Herakles, wie er schon immer am Werden des menschlichen Geistes beteiligt ist. (Denn jede Erscheinung setzt auch das zweite Prinzip voraus, z.B. der Geist [vgl. XII, 375f].) Der Unterschied zwischen dem mythologischen Menschwerden und dem Jesus- oder Christus-Werden des Dionysos ist ein wesentlicher: Das nur mythologische Menschwerden des Dionysos (z.B. Herakles, Bacchus) geschieht in oder an der
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In Christus erscheint das zweite Prinzip als einzelner Mensch unter Menschen, und als das nämlich, was es am ganzen Leidensweg der Mythologie schon immer wesentlich war: als die sich nicht-versagenkönnende Liebe [XIII, 211-221], Es sei „gleich einem lauteren, gleichsam willenlosen Wollen: als Beispiel eines solchen willenlosen Wollens können wir die überfließende Güte eins sich gleichsam nicht versagen könnenden Wesens ansehen". „Das Zweite ist das sich gar nicht versagen Könnende, das an sich Selbstlose, das sich dem Ersten nur geben Könnende" [XII, 51; vgl. Kap. 11.4]. Dieses Sich-Hingeben gehört zur letzten Tat der Begrenzung des Ersten durch das zweite Prinzip: man kann diese Liebe nur empfangen. „Das Erste muß Nichts seyn (nämlich nichts selbst seyn), damit das überschwenglich Seyende ihm Etwas werde" [XII, 51f]. (Vgl. Schellings Begriff „Etwas-Seyn" in Kap. 6.1.a.) Aber Christus wird getötet. Dadurch geschieht das größte und entscheidenste Werk des Menschwerdens des + A: Im Untergang zum Tode wird die Vertiefung, die Erniedrigung des Zweiten vollendet. Der Tod bedeutet die Kontraktion des Ersten aus allem Werden in die absolute Ausschließlichkeit gegen das zweite Prinzip. Im Sterben vereinigt sich nun das sich-hingebende göttliche Zweite mit dem gefallenen, zerrissenen Ersten in dessen letzten, tiefsten, schwersten, auch „selbstistischen" Grund [XIV, 203]. 14 + A erhebt sich damit ein für allemal zur Weltherrschaft, die kein Böses zerstören kann [XIV, 222-227]. So besitzt nun
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gefallenen Materie; sie bringt an dieser höhere Formen vor, ohne die gefallene Materie aufzuheben. (Der leidende Dionysos der Mythologie, bes. Herakles, stellt für Schelling ein vorbildlicher Typ des Christus dar.) Im Christus-Werden dagegen setzt Dionysos sein Gottsein zur Materie selbst; er materialisiert dieses vor einem höheren Wirkenden, dem göttlichen Geist, + A [XIV, 153ff], Er macht sein Gottsein zur ungefallenen Materie Β und vereinigt sich als diese mit dem gefallenen Β in der Mutter Maria; im Leben Jesu (Lebenskampf) wird das gefallene Β stets zur Einheit in ± A überwunden [XIV, 170ff], Hier wird Β = A gesetzt, darin tritt + A als die reine sich hingebene Liebe des Knechtes Jesus hervor. Aber bei der Materialisierung behält + A seine „demiurgische", vermittelnde Funktion bei; diese ist ihm wesentlich, er kann sie nicht verlieren [XIV, 191f], Das bedeutet, er ist noch immer die dionysische Potenz der gefallenen Welt, der Herr des gefallenen Seins (sonst wäre diese aufgehoben). Was er vor dem höheren ± A materialisiert, ist sein durch den Fall gesetztes Außer-dem Höheren-Sein, sein Für-Sich-Sein als eigene Gottheit. Vgl. unten Kap. 11.5, Kap. 12.1. Siehe Schellings Mythologie, Kap. 4.3, Kap. 5. „Denn indem die vermittelnde Potenz in der unwiderruflich und ohne Vorbehalt angenommenen Menschheit sich jenem [ersten] Prinzip opfert, zum Opfer hingibt, hat es diesem alle fernere Ausschließung unmöglich gemacht. Denn wie sollte es noch ferner ausschließen das, was sich ihm hingegeben, alle Selbständigkeit geopfert hat? ...jenes [erste] Princip ist nur eben darin und soweit der göttliche Unwille, als es die vermittelnde Potenz ausschließt, wenn ihm also diese (die Ausschließung) unmöglich gemacht wird, so ist es eben damit seiner Kraft beraubt, als Princip des Unwillens aufgehoben. Weil das vermittelnde Potenz ihr außer-ihm-Seyn aufgibt, muß es auch selbst sein Ausschließen der vermittelnden Potenz, d.h. es muß sich als Princip des Unwillens aufgeben..." [XIV, 203]. Die letzte Kluft zwischen Β und A wird überwunden. - Durch dieses Opfer erübrigen sich die schmerzlichen Versöhnungsopfer der Mythologie [XIII, 523].
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Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
Dionysos/Christus das Ganze, alles gehört ihm. Die philosophische Erkenntnis dieser Herrschaft ist die des darin wiederhergestellten „rein Seyenden". Mit dem Aufgehen des „rein Seyenden" als der höheren Erkenntnis wird im Menschen das „Centrum" (Subjektsein) auch wiederhergestellt; dies bedeutet aber keineswegs das Ende des Werdens. Die höhere Erkenntnis des „rein Seyenden" und des Zentrums findet in dem unablässigen Werden, darum mitten in der zerrissenen Wirklichkeit der vielseitig gespannten persönlichen, sozial-politischen und weltgeschichtlichen Entwicklungen statt. Dennoch „ist" nun das Ganze das „rein Seyende" [vgl. Kap. 5.3]. Dies erzeugt einen neuen Geist im Menschen, der in allen Bereichen des Lebens aktiv handelt und der in jeder Entwicklung das Ideal der realen, konkreten Einheit erzielt. 15 Man hat den Zusammenhang zu erkennen: Damit es überhaupt eine Entwicklung (das Werden = die Peripherie) gebe, darf das dionysische Prinzip dem Ersten, dem Werdenden, nicht fehlen. Damit das Erste zum Zentrum findet, darf ihm die letzte Verwandlung des Dionysos nicht fehlen. Und sowohl die Peripherie als auch das Zentrum bilden die Ganzheit [bes. Kap. 12.1].
3.4 In demselben Augenblick trunken und nüchtern sein Wie das Wiederfinden des Zentrums die Aufhebung des zerrissenen Weltseins gerade nicht bedeutet, so bedeutet es auch nicht die Aufhebung des Grundes des Weltseins, d.h. des Urkampfes der ersten zwei Prinzipien [siehe bes. Kap. 11.5]. Nach wie vor macht sich Dionysos (das Prinzip) zum Herrscher des zerrissenen Komos - sonst gäbe es die (gefallene) Welt nicht. 16 Auch nach dem Christus-Ereignis gibt es also Dionysos, den Kampf im Grund und die unendlich vielen Entwicklungen im ganzen Bereich des Menschlichen. Und nach wie vor geht der Mensch tragisch in den Fall, erwächst im Spannungsfeld der Prinzipien, wird freier Geist und sucht die Einheit, die er nur findet, wenn er es versteht, als Subjekt das „rein Seyende" anzuziehen.17 Auch ist ein neues Können, eine neue Freiheit, die Möglich-
15
Siehe unten Kap. 3.7. Die Vision der Einheit der real-irdischen Welt am Ende des zweiten Bandes der Philosophie der Offenbarung ist ein Zeugnis des Glaubens an der unwiderstehlichen, siegreichen Kraft des zweiten Prinzips. Das ganze Weltsein wird zur „Heimath" überwunden [XIV, 118, 328, vgl. 295f; vgl. Heimat in Kap. 6.2.b]. Auch dieses Ereignis ist kein anderes das, wodurch die Peripherie ihr Zentrum findet; die Erkenntnis des „rein Seyenden" wird zum allgemein menschlichen. Wie Dionysos ist der christliche Gott der „kommende", der Gott der Zukunft, vor dem alles Bestehende weichen muß. - Der Erlösungsprozeß umfaßt auch die Natur (alles Seiende überhaupt) [VII, 380, 411; XIII, 353; XIV, 11], Hierher gehört Schellings Begriff der Weltseele als Vermittler aller Wesen in die Einheit [XI, 417], Vgl. den „Mittler" in Kap. 9 (im ersten Abschnitt).
16
Siehe hierüber bes. Schellings Lehre der „ewigen, immerwährenden" Erzeugung des Dionysos in
17
Schelling stellt dies in der Philosophie der Offenbarung als „Anziehung" des auferstandenen
Kap. 11.5.
Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
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keit eines neuen Geistes im tiefsten Weltgrund eingepflanzt worden, wodurch jede periphere Entwicklung das Zentrum finden kann. Jedoch geht in der „christlichen" Zeit der Weg der Menschen gerade nicht siegreich-aufwärts der Einheit entgegen, sondern ironisch in die noch größere Zerreißung der Moderne unter. Das Ichbewußtsein der neuzeitlichen Wissenschaft hat vor sich die vielen Dinge der Erscheinungswelt. Die Wissenschaft selbst ist die Tat des je einzelnen Ichs, das nach Schelling seinen eigenen „Besitz" von Wissen erwirbt; durch Wissenschaft gelangt der einzelne Mensch zum eigenen Begreifen der Welt und Gottes [XI, 281, 364]. Nur der aber könne etwas besitzen, der sich selbst besitze (der freie Geist ist), und .etwas besitzen heißt etwas in seiner Gewalt haben" [XII, 182]. 18 In der Neuzeit mündet die wissenschaftliche Menschheit in die „reine unverhüllte Individualität" solcher Besitzenden [XI, 537fJ. „In unserer Zeit können manche gar nicht begreifen, daß von jenen realen Verhältnissen, die einst das menschliche Leben zusammenhielten und festigten, eins nach dem anderen sich auflöse ... und alles darauf abgesehen scheine, die menschliche Gesellschaft, wie viele klagen, in Atome aufzulösen..." Aber die Auflösung mache „einer höheren, idealen Einheit Platz" [XII, 282]. Dieses Höhere - das noch ferne Ideal der einheitlichen Menschengesellschaft versteht Schelling nicht allein als die Wirkung der aufgehenden Liebe zum „überschwenglichen Seyenden", sondern auch als die Bildung einer Einheit dieser Liebe mit der freien, geistigen Wissenschaft. Dies bedeutet eine Zweiheit in der Haltung des freien Geistes. Zunächst einmal tritt er dem „rein Seyenden" gegenüber in das Subjektsein zurück oder „erniedrigt" sich vor ihm: Er „zieht" in freier Liebe das „rein Seyende" „an" [vgl. XIV, 236]. Wie wir oben gesehen haben, bedeutet das „Anziehen" der Liebe Zauber, Ineinandersein, Ungegenständlichkeit [Kap. 3.2], Sodann wird diese Beziehung philosophisch gedacht. Zur Erläuterung des Begriffes des „philosophischen Glaubens" als der persönlichen Beziehung zum „rein Seyenden" [siehe Kap. 1.2] meint Schelling, daß der Philosoph keine Anstrengung scheue, Christus dar [XIV, 204f], aber das versteht er - wie wir in den folgenden Kapiteln oft sehen werden [siehe schon Kap. 3.5] - eben nicht orthodox-christlich, sondern philosophisch [vgl. den Begriff der Person in Kap. 1.2]. Theoretisch könnte man versuchen, Schellings philosophischen Begriff des „rein Seyenden" von seinem Dionysos/Christus-Begriff zu trennen oder den Zusammenhang zwischen beiden auf verschiedene Weise zu denken. Hat man diese Möglichkeit erkannt, so sieht man ein, daß man es mit Philosophie zu tun hat. 18
Siehe „Besitz" auch an den folgenden Stellen: XII, 125; XI, 262, 558; XIII, 231, 257, 297f, 318-20; siehe schon V, 349. Vgl. Schellings Erkenntnislehre: Durch die Begegnung mit dem wahrhaft Unbekannten ist das Bewußtsein im Inhalt gleichsam verloren, orientierungslos. U m seine Freiheit als Ichsein wiederherzustellen, unterscheidet es sich als Subjekt von dem Inhalt durch dessen Objektivierung; Verstehen ist objektives Begreifen [Besitz] des Inhaltes [ X I , 516f], Auch heißt es das „Herr Werden" des Entgegenstehenden [ X I , 463] oder dessen „sich bemächtigen" oder über es „Macht haben" [XI, 520-527], Vgl. Besitz in Kap. 1.2.
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Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
damit „die Vermittlungen, durch welche das, woran der Glaube glaubt, auch der Vernunft und der strengsten Wissenschaft einleuchtend gemacht wurde" [X, 183]. 19 Der Philosoph glaubt und denkt, oder - was hier dasselbe bedeutet - er liebt und denkt. Aus seiner Erfahrung entsteht eine neue Philosophie, die „positive", als die vom „rein Seyenden" ausgehende, welche in einer zerrissenen Welt die praktische Aufgabe hat, die heilende, integrierende, erhebende Philosophie zu sein. 20 Um die Erlösungslehre des späten Schelling zu verstehen, hat man insbesondere das zu beachten, was er das „Geheimniß der wahren Poesie" nennt; denn auch die Philosophie ist für Schelling Kunstwerk. 21 Das „Geheimniß" sei nicht die „dionysische", sondern die „apollinische Begeisterung": Man habe nicht in verschiedenen Augenblicken, sondern „in demselben Augenblick zugleich trunken und nüchtern zu seyn" [XIV, 25; vgl. Kap. 1.1]. „Trunken" bedeutet den Zustand des Bewußtseins in der Ekstase seines dionysischen Inhalts. „Nüchtern" bedeutet das Vermögen, über diesen Inhalt in freier, geistiger, wissenschaftlicher Besonnenheit zu denken. Wesentlich dasselbe meint Schelling für die bezaubert-liebende und zugleich wissenschaftliche, nichtobjektive-objektive Erkenntnis des „überschwenglich Seyenden". Uber der verstehenden wissenschaftlichen „Nüchternheit" vergißt man nicht die Göttlichkeit des Inhalts; ja, gerade wegen der Ekstase des Zaubers kann man sie nicht vergessen, darin Hegt ihre göttliche Kraft. Aber sie ist Zauber, der die Freiheit des Denkens nicht zerstört, sondern erhöht.
3.5 Die Bedeutung und Folge der mythologischen Stufen In seinen frühen wie in seinen späten Schriften hielt Schelling den (rationalistischen) Gebildeten seiner Zeit die Notwendigkeit vor Augen, sich der Prinzipien des Lebens „auf eine neue Art" bewußt zu werden [XIII, 9f]. Damit will er grundsätzlich auf die Mythologie aufmerksam machen. Man hat das zu beachten, was Schelling die „Methode" nannte: Im Prozeß der Mythologie, in welcher die Prinzipien ihren natürlichen Ausdruck haben, sah er das Muster jeder bedeutenden
19
Vgl. Schellings Bemerkung über eine ungewöhnliche Verwendung des Imperfektums bei Aristoteles, XI, 403-406.
20 21
Hierüber bes. die Stelle XIII, 364, die wir unten in Kap. 9 (im ersten Abschnitt) zitieren. „Kunst in dem weiten Sinne der Griechen" umfaßt jede Wissenschaft als Gaben der Götter [XI, 485], d.h. für Schelling Gaben des Dionysos. „Gott ist keineswegs ein Gegensatz der Endlichkeit, und der, wie man sich vorstellt, nur in dem Unendlichen sich gefiele, sondern dadurch zeigt er sich als die höchste, künstlerische Natur, daß er das Endliche sucht, und gleichsam nicht ruht, bis er alles in die faßlichste, begreiflichste, endlichste F o r m gebracht hat" [ X I V , 25f]. Sein Werkzeug ist für den späten wie für den frühen Schelling [Kap. 1.1] - das Kunstwerk des Menschen. Vgl. V, 241 f. Vgl. Kap. 11.5.
Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
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menschlichen Entwicklung überhaupt [XII, 672; siehe Kap. 11.5]. „Der Gang der mythologischen Entwicklung" stehe im analogen Verhältnis zu dem „in jeder großen Entwicklung" [XII, 283]. 22 „In jeder geschichtlichen Entwicklung werden in der Regel alle Möglichkeiten repräsentiert" [XII, 209]. Sodann „ist jede Kunst und jede Philosophie mehr als einmal, soweit es jederzeit möglich gewesen" [XI, 257]. In der Spätphilosophie redet Schelling von der Bewegung der Mythologie als einem fortschreitenden „Herabkommen" [z.B. XI, 206; XII, 283f]. Das Vorherige dieses Herabkommens ist nicht allein die Unschuld des Urmenschen, sondern auch die noch relative Unschuld der ersten gefallenen Menschen, welche die individuellselbstische Seinsweise der späteren Menschheit noch nicht kennen. Im Vergleich damit bedeutet der Fortschritt der dionysischen Mythologie die zunehmende Verwirrung der menschlichen Verhältnisse als die fortschrittlich in Erscheinung tretende Zerrissenheit des Daseins; aber er führt zur höchsten Uberwindung. Schelling verwendet einmal auch das französische Wort „déchu", d.h. abgekommen, dekadent [XI, 534].23 Der Ausdruck ist auch ironisch, weil es Dionysos selbst gewesen ist, der die Menschen in die mythologischen Verwirrungen geführt hat [Kap. 5.1]. Auch das Christentum altert oder „degeneriert" [XIV, 315, 323; vgl. XI, 259f], Wie alles Leben ist es eine organische Erscheinung [XIV, 295], d.h. eine bestimmte Gestalt des materiellen ersten Prinzips als des Subjekts einer Entwicklung. Deshalb erlebt es grundsätzlich dieselben Stufen der Entwicklung wie jedes organische Leben, das schließlich wie die reife Frucht zu Boden fällt und verwest. Wie wir noch sehen werden [bes. in Kap. 8], geht das neuzeitliche („paulinische") Christentum in Nihilismus unter. Aber sowohl die Mythologie als auch die Christus-Wahrheit leben in Neugeburten noch weiter; denn das Leben gehört dem ihnen zugrundeliegenden und unzerstörbaren zweiten Prinzip. Jedes wirkliche Leben begreift Schelling als die Wirkung jenes geheimnisvollen Zweiten, das an der ganzen Menschengeschichte, auch dem Tode selbst, teilnimmt und ihr Hoffnung auf einen neuen Tag gewährt.
22
Nach der Philosophie der Kunst soll es eine „neue Mythologie" geben: Die ewigen Wahrheiten der Mythologie sollen in der Sprache der heutigen Zeit Ausdruck finden [V, 445-449]. (Diese Ansicht teilte der junge Schelling mit Friedrich Schlegel: Siehe Schlegels „Rede über die Mythologie" in der Schrift Gespräch über die Poesie, in: Kritische F.-Schlegel-Ausgabe, II, 311-322.). Bei Nietzsche kommt m.W. der Ausdruck „neue Mythologie" nur einmal vor, in nachgelassenen Fragmenten aus der Basler Zeit, nämlich wo es sich um den Versuch des mißratenen „Reformators" der griechischen Kultur, Empedokles, handelt [IV/1, 195, vgl. 182],
23
Die Vorlesung Schellings, in der dieses Wort vorkommt, enthält zwei Hinweise auf Montesquieu [XI, 543n, 544n], der für die Dekadenzlehre bekannt ist; auch der Titel wird zitiert: „Grandeur et décadence des romains" [sic. Considerations décadence
(1734)].
sur les causes de la grandeur des romains et de leur
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Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
Sehr betont hebt Schelling den inneren Zusammenhang zwischen dionysischer Mythologie und Christus hervor [bes. XIV, 77]. Beide bedingen sich gegenseitig sie verhalten sich zueinander eben wie Peripherie und Zentrum -, so daß sich dadurch eine neue Auffassung nicht allein von der Mythologie, sondern auch von Christus und der christlichen Geschichte ergibt. 24 Beim späten Schelling ist die höchste Weisheit die „johanneische", die nicht nur jenen inneren Zusammenhang, sondern auch den wahren Sinn des Abfalls begreift. Der neutestamentliche Johannes lehrt das Sterben des Weizenkorns [Erniedrigung], aus dem neues Leben [Erhöhung] hervorsprießt. 25 Wir wollen nun die Stufen der mythologischen Entwicklung und ihre bedeutendsten Bilder und Gleichnisse zusammenfassen, so wie Schelling sie im zweiten Band der Philosophie der Mythologie [XII] und im ersten Band der Philosophie der Offenbarung [XIII] darstellt. In Ubereinstimmung mit einer Vorstellung der alten Griechen verlaufen die Stufen im allgemeinen von Morgen bis zum Abend oder von Geburt bis zum Tode. 26 Sie sollen Stufen organischer Entwicklung sein, z.B. Blühen und Verwelken, aber darunter kommen auch eigenartige Stufen vor, insbesondere der Moment „Kronos", der zweite Moment in der „morgendlichen" oder aufsteigenden Entwicklung. Er bedeutet Kontraktion, Regression, neue Verdunkelung des vorher Leuchtenden [vgl. Kap. 1.3]. Die mythologische Entwicklung als die organisch-menschliche entspricht also nur ungefähr der organischen Entwicklung in der niederen Natur. Die morgendlichen Momenten sind auch die „asiatischen": Der Moment Urania ist die babylonische, der Moment KronosHerales die phönikische, der Moment Kybele die phrygische Mythologie. 27 Die
24
25
Über Peripherie und Zentrum siehe XIII, 257, 350-354; XII, 56f; vgl. XIV, 27f, 118. Siehe die Besprechung in Kap. 11.5, Kap. 12.1. (Joh. 12,24) XI, 526; XIV, 295f; vgl. XIII, 530. Der Begriff des Verhältnisses von Dionysos und Christus gründet auf den inneren Zusammenhang alles Geschichtliches durch die Prinzipien und Schelling glaubt, ihn auch im Neuen Testament, bes. dem Johannesevangelium (z.B. der Logoslehre, vgl. Mythologie), begründet zu finden [siehe Kap. 5.4.a], Uber die „philosophische Religion", die Mythologie und Offenbarung „reell begreift", siehe XI, 568f, vgl. 255, 243ff, 260; vgl. XIII, 134; XIV, 261. - Vgl. Schellings frühphilosophischen Begriff des Christentums: siehe unten bes. Kap. 4.4.d, Kap. 5.4.a, Kap. 11.2. - „Abfall" kommt schon beim frühen Schelling vor, z.B. in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806), VII, 164-165.
26
Die Ausführung über die Mythologie in Bd. XII leitet Schelling durch eine Darstellung des Persephonemythos ein, der in seiner Ganzheit die ganze Geschichte, also alle Stufen des gefallenen Bewußtseins bis zur griechischen Gegenwart enthält [XII, 154ff; vgl. XIII, 383ff, 41 Iff]. Vgl. unten die ägyptische Isis als eine parallele Gestalt.
27
In Schellings Frühphilosophie bedeuten „asiatisch" und „oriental" im allgemeinen das „Unendliche" im Gegensatz zu den Bildungen des Unendlichen in das Endliche bei den Griechen. Dieses „mystische" Unendliche hat u.a. den Aspekt von Kybele oder Bacchus in der Spätphilosophie, d.h. die Spannung der Prinzipien im (griechischen) Weltgrund. Aber es kann auch die Offenbarung des Unendlichen in Christus bedeuten, die darum auch „oriental" ist [siehe Kap. 5.3.a]. Der
Kap. 3: D e r Mythologiebegriff beim späten Schelling
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historischen Informationen über die Mythologien stammen hauptsächlich aus griechischen Quellen. Die Momente haben philosophische Bedeutung als allgemeine Stufen oder Typen menschlicher Entwicklung; im Folgenden stellen wir die Stufen zusammenfassend dar. Das Erste, die Voraussetzung aller mythologischen Bewegung, ist die gefallene Seinsweise der dunklen, starren, wüsten, nomadischen Uranos-Zeit, die Zeit des ersten Prinzips (relativ) für sich [XII, 170-188; XIII, 385-389, 397]. Im Gestirn Uranos verloren, ist das Bewußtsein verfinstert [Kap. 3.1]. In der „vorgeschichtlichen" Uranos-Zeit findet noch keine wahrhaft mythologische Bewegung statt [XI, 232ff]; als vormythologisch gehört die Uranos-Zeit noch nicht zur eigentlichen Mythologie. Mit der ersten dionysischen „Erleuchtung" entsteht die erste Stufe der Mythologie: Urania. In dieser einer Gottheit ihrer Zeit (als in Einem) befindet sich die zwei Prinzipien in höchster ineinander-kämpfender Spannung [XII, 189-204, 236285; ΧΕΙ, 389-392, 397f]. Aber die Kraft des ersten Prinzips ist noch sehr mächtig; die verzehrende Kraft der Elemente (Feuer, Erde, Luft, Wasser) wird religiös verehrt. Die Bilder und Gleichnisse dieses Moments sind wilder (den inneren Widerspruch fühlender) Taumel, Verspotten des vergangenen, nicht mehr gefürchteten alten Gottes, 28 Aufbruch und Auflösung, und unter den Elementen zumal das Wasser als mythisches Zeichen dieser Auflösung, des Weichens des Ersten [XII, 581]. Dionysos ist dem Bewußtsein ein noch unbekannter Gott. 2 9 Die zweite Stufe ist eine reaktionäre: Kronos-Herakles als Kontraktion in die Enge und Finsternis des ersten Prinzips, aber ohne Aufgeben der fortschrittlichen (städtisch-bürgerlichen) Entwicklungen, die diesen Moment vom Uranos-Bewußtsein unterscheiden [ΧΠ, 286-349; XIII, 393-395,398]. 30 Das Bewußtsein widerspricht Zusammenhang im Unendlichen von Christus mit dem Bacchischen in der Frühphilosophie ist ein Vorbegriff der späteren Dionysoslehre [vgl. Kap. 1.3,. 2.11, 4.3, 4.4.d; Einleitung (2. Teil)]. 28
„Die Furcht und das Entsetzen v o r einer frühern Gewalt, wenn diese plötzlich zusammensinkt oder vernichtet wird, verwandelt sich natürlicherweise in H o h n und Spott gegen dieselbe" [XII, 247],
29
In einem Gebiet der Urania-Verehrung - nach Herodot in „glücklicher" (ackerbautreibender und städtischer) Arabien - erscheint Dionysos zum ersten Mal in der Mythologie als der Sohn von Urania [XII, 254, 274],
30
Die „Enge" kann bei Schelling gegensätzliche Bedeutungen haben. Erstens bedeutet sie die gute Beschrankung, z.B. als das „organisch Gefaßte" [XI, 239; vgl. X I V , 332], Sonst kennzeichnet sie den in Kontraktion
eingezogenen
Widerstand des ersten Prinzips gegen das Einwirken
des
Dionysischen [z.B. XII, 211], Ein Bewußtsein ohne reiche Vielfalt seines Inhaltes ist eng, im schlechten Sinne einfach [vgl. Kronos, XII, 286ff]. - Weil Kronos eine bei Schelling häufig vorkommende Gruppe von Bildern und Begriffen (bes. Enge, Dunkel, strenge Moralherrschaft) bedeutet, habe ich um der Kürze des Ausdrucks willen gelegentlich ein Adjektiv daraus gemacht: „kronisch".
100
Kap. 3: D e r Mythologiebegriff beim späten Schelling
sich: Nach dem Mythos erzeugt Kronos selbst den dionysischen Sohn Herakles [XII, 306]. Aber auf die Führung des relativ schwachen, nur halbgöttlichen Herakles reagiert das Bewußtsein mit Angst und hält sich an Kronos fest. Herakles kämpft heroisch, aber auch stirbt er (im griechischen Mythos) unter der vorherrschenden kronischen Macht. Die dritte Stufe ist der kriegerische ( gespannt-kämpfende) und taumelnde Kybele-Moment, wo Dionysos viel kräftigerwirkt [XII, 350-363; XIII, 395, 399-401], Wie Urania bedeutet Kybele eine Gottheit, welche die beiden ersten Prinzipien in höchster Spannung in sich vereinigt. In Kybele aber ist die Spannung produktiv: Aus ihr entstehen die vielen Götter der folgenden Mythologien; jede wahrhaft polytheistische Mythologie hat diese Spannung als ihre unmittelbare Vergangenheit. Die Bilder des Kybele-Moments sind im allgemeinen die des Urania-Moments. Die vierte Stufe ist die ägyptische als die Trennung der Prinzipien in zwei gleichmächtige Götter, Typhon (= die Kontraktion des Kronos) und Osiris, die sich - wie vorher in der einen Gestalt Kybele - in schwerem Kampf befinden [XII, 364430; XII, 401-403]. Der dionysische Osiris und der kronische Typhon - ihm kommen die Bilder und Gleichnisse von Uranos und Kronos zu - zerreißen sich und treten in die Vergangenheit. Das ägyptische Bewußtsein erlebt den Tod von Typhon in grundsätzlich derselben Weise wie das Bewußtsein die Uberwindung des Uranos im Urania-Moment erlebt, z.B. mit Hohn und Spott [XII, 387f]. Aus dem gemeinsamen Tod von Typhon und Osiris als dem fruchtbaren Grund entsteht - als eine neue Gestalt des dritten Prinzips - der freie Geist, der Gott Horos. Hier erscheint der Geist für sich zum ersten Mal in der Mythologie. Aber die ägyptische Mythologie verläuft zyklisch: Das ägyptische Bewußtsein fällt wieder unter die Herrschaft des ersten Prinzips als des wüsten Typhon zurück, Osiris tritt wieder gegen ihn auf, und der Kampf beginnt von vorne. Die Göttin Isis bedeutet das den ganzen Zyklus erleidende Bewußtsein, das in hoher Produktivität Horos gebärt, aber wieder in das typhonische Bewußtsein zurückfällt. Die nächste Entwicklung wird durch eine noch größere Uberwindung des ersten Prinzips eingeleitet; dadurch entsteht aus dem ersten Prinzip eine neue und noch hellere Freiheit und Geistigkeit [XI, 20-24; XII, 435; XIII, 405-407], Das dionysische Sinnbild des Geistes ist das Licht. Gemäß einem Bild der griechischen Mysterien sind die Zeichen der Geistigkeit in den früheren Momenten wie „Blitze", die in der vorherrschenden Dunkelheit aufleuchten und wieder verschwinden [XII, 271f]. Aber mit der hier gemeinten höheren Uberwindung wird nicht alles auf einmal hell und klar; denn hier wird gerade die Vernunft befreit, und sie kann sich mythologisch-ekstatisch in eine Richtung wenden, die das Bewußtsein wieder verdunkelt. Aus dieser Krise der Freiheit und der Geistigkeit gehen zwei neue Mythologien hervor, die nihilistische indische und die griechische.
Kap. 3: D e r Mythologiebegriff beim späten Schelling
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Die indische Mythologie - so wie die griechische - ist nur in Zusammenhang mit der ihr vorausgehenden Mythologie zu verstehen. Sie faßt die vorher aus dem Kybele-Moment erzeugten Götter auf eigene Weise auf oder sie gebärt diese als eigene Götter neu. Ihr Hauptereignis findet in der mythisch-philosophischen Umdeutung (durch die führende Kaste der Brahmanen) des vorindischen Gottes Brahma, der wie Typhon oder Kronos der Gott des ersten Prinzips darstellt, statt: Brahma, der überwundene alte Gott der Vergangenheit, wird hier nicht nur wie im geistigen ägyptischen Horos überwunden, sondern er wird noch zusätzlich - durch die noch ekstatisch-mythischeVernunft, die ihn denkt - seiner Realität entleert; er wird zu nur einer Form im Denken. Weil gerade Brahma nur abstrakt vorgestellt wird, verliert Dionysos als der Gott Schiwa - auch ursprünglich eine vorindische Gestalt -, seine Bedeutung als die Kraft der erschütternden Einwirkung auf das reale Erste. Wegen dieses „Todes", wie Schelling es nennt, des ersten materiellen Gottes [vgl. Kap. 1.3], gibt es in der indischen Geistigkeit keine reale Bewegung, sondern nur Bewegung im Denken. Alle Götter sind nur aus dem vergangenen Realen abstrahierte Formen, daher auch fixierte, starre, so wie die Kasten im indischen Leben [XII, 431498, 569-577; XIII, 403406], Ein wichtiger Begriff des indischen Nihilismus bei Schelling ist die „Widerstandslosigkeit" des vorher materiellen, nun immateriell gewordenen Gottes Brahma: Brahma scheidet aus der Wirklichkeit und tritt in das Nichtseiende, also in die reine Möglichkeit oder Potenz zurück.31 Im Schema der mythologischen Stufen bedeutet der indische Moment die zunehmende Finsternis („Dämmerung" [XII, 451]) des Abends; denn Schiwa hat kein reales Erstes mehr, auf das er neue Erleuchtung hervorbringen kann. Doch im Nihilismus ist das erste Prinzip nur auf eine Weise tot: Im abstrakten Denken erhebt sich das erste Prinzip zu neuer Herrschaft gerade als das denkende Bewußtsein selbst: Die Vernunft ist hier Machthaber, aber im mythischen indischen Bewußtsein nicht als die des Menschen selbst, sondern die Vernunft in der Gestalt von höheren Göttern, insbesondere Wischnu. Im abstrakten Denken hält diese Vernunft den realen Dionysos von sich fern. Die Bilder und Gleichnisse des Kronos-Moments kommen der hier herrschenden indisch-mythischen Philosophie zu, und zwar erst recht im Gegensatz dieser Philosophie zu dem in Indien entstehenden Buddhismus, einer real-dionysischen Religion [siehe unten]. Die griechische Mythologie entsteht aus derselben Krise wie die indische Mythologie, aber als Festhalten oder Wahrung des ersten Prinzips in dessen Uberwindung: Kronos und alle alten, vergangenen Götter werden als realer und fruchtbarer Grund der daraus wachsenden olympischen Götter religiös geehrt [XII, 575ff; 406ff], Dadurch ergibt sich die weise, griechisch-religiöse Geistigkeit, die im Festhalten der realen Göttergeschichte, des dionysischen Grundes, das abstrakte 51
Vgl. die zwei Weisen des Aperion oder Unbestimmten in Kap 3.1: als P o t e n z und als Sein.
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Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
Denken in Grenzen zu halten weiß, obwohl hier auch die philosophische Vernunft befreit wird. Wie wir oben gesehen haben [Kap. 3.2, vgl. Kap 1.3], gibt es eine Entwicklung mit regressiven Momenten auch bei den Griechen. Nach Uberschreiten des mythologischen „Mittags" in Homer findet bei den Griechen zunächst eine Anhänglichkeit an die Vergangenheit statt. Durch Bacchus (Kybele in höherer Erscheinung) werden die Griechen von dieser Gefahr bewahrt und in eine höhere Geistigkeit geführt. Dann aber geht der griechische Geist den Weg des Untergangs in die neue nihilistische alexandrinische Kultur; die Götter verlieren ihre Wirklichkeit [bes. Kap. 4.4.a]. Jedoch erhält sich bis in der christlichen Zeit die hohe Geistigkeit der Griechen in ihren Mysterien, die den Leidensweg des siegreichen Dionysos durch die ganze Mythologie hindurch bis auf den kommenden Jakchos feiern. Rom bedeutet den Untergang aller bisherigen Mythologien in den politischen Staat als das Herrschaftsgebiet des nihilistischen Menschen [bes. XIV, 152f; siehe Kap. 4.4.c].32 Der Götterglaube verblaßt, die unmythologische Vernunft tritt als die des Menschen hervor. Aber Rom vollzieht den Schritt aus der Mythologie nicht ganz; es hat in sich - wie der Kronos-Moment - noch unbezwungenes Mythologisches [XI, 544]. Den letzten Nihilismus vertritt vielmehr die chinesische Staatsreligion als die absolute Herrschaft (Monarchie) des selbstischen ersten Prinzips; Dionysos ist völlig ausgeschlossen (Mitternacht) [XII, 541-568]. Die Bilder und Gleichnisse der Uranos-Zeit - daher auch die finsteren Bilder der Kronos-Zeit beschreiben in besonderer Weise das chinesische Bewußtsein. „China" ist für Schelling nicht mehr mythologisch, es gehört nicht zum Heidentum, d.h. zur Mythologie, weil es Dionysos ganz ausschließt, also auch keine dionysische Bewegung zeigt. Das selbstische Prinzip ist allein für sich. Es gibt drei weitere geistige, doch wesensgleiche Religionen, die mitten in der Mythologie leben und Dionysos in sich haben, die sich aber gegen die Verwirrungen der Mythologie stellen: die des Mithras [XII, 196-236], des Buddhismus [XII, 465f, 499-520, 576; XIII, 405] und des Orphismus [XIII, 427-435, 496, 528; vgl. XII, 614, 667-669]. Die zeitlich erste, die Mithras-Religion, entsteht im Urania-Moment, aber durch ein Wunder des Dionysos als eine wahrhaft geistige [XII, 234]. (Sonst entsteht der Geist eist im ägyptischen Moment.) Diese Religion versteht es, das erste und das zweite, dionysische Prinzip in fruchtbarer Einheit als Mithras festzuhalten. Sie antizipiert also am Anfang der Mythologie die hohe Geistigkeit der Griechen. Der Buddhismus entsteht durch persischen Einfluß auf dem Boden der indischen Religion [XII, 500], doch ist er trotz dieses Einflusses wahrhaft indisch: gewissermaßen ähnlich wie Herakles zum Kronos-Moment gehört. Im Verwerfen der 32
Die Zeit des römischen Kaiserreichs ist auch die der letzten Erniedrigung des Dionysos, seines Untergangs in Christus. Sie ist die Zeit des Abfalls, des Zu-Boden-Fallens der reifen Frucht [bes. X I V , 152f, vgl. 61ff],
Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
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herrschenden indischen Religion der Brahmanen zieht sich der ursprüngliche Buddhismus aus den mythologischen Verwirrungen zu dem einen Gott Buddha als wesentlich demselben wie Mithras zurück. Der Orphismus [bes. XIII, 432] entsteht möglicherweise durch den Einfluß des Buddhismus oder der persischen Religion; jedenfalls ist er für Schelling von einem anderen Ursprung als der homerischen Religion der Griechen. Auch die drei wesensgleichen Religionen Mithras, Buddhismus und Orphismus erleben Entartungen zum Nihilismus; aber neben den Entartungen kann der ursprüngliche Buddhismus unter verschiedenen Umbildungen sich erhalten und verbreiten. Die höchste Bedeutung dieser gesamten Religionsform wird im Orphismus gewonnen: Nach erstem Widerstand gegen das höherführende Dionysische der griechischen Mythologie nimmt der Orphismus dieses in den Begriff seines einen Gottes Apollo auf. So macht Apollo - wie Dionysos in den Mysterien - alle Stufen der Mythologie durch und hat sie in seinem Grund. Als der höchste Begriff der Einheit wird er zum alles umfassenden, höchsten griechischen Gott [XII, 668]. Jeder geistige Gott der Mythologie hat stufenmäßig in sich den Widerstand des Ersten gegen das dionysische Prinzip. Schelling erinnert daran, daß Apollo nicht nur der gute Gott z.B. der Künste ist, sondern daß er auch „Pest und Verderben" sendet; er vereinige „widerstreitende Attribute" [XII, 668]. Sein großes Symbol ist - wie bei Mithras - die Sonne: Ihr verzehrendes Feuer (= das erste Prinzip) wird durch die Begrenzung des zweiten Prinzips zum maßvollen Guten überwunden; aber das Feuer kann auch als ein Nicht-Überwundenes hervortreten und verzehrend wirken. Fehlt aber das reale Erste, so gäbe es kein Leben: für Schelling das wesentlichste Problem im Nihilismus.
3.6 Irrtum und Moral Für Schelling ist alles, was in Folge des Falls entsteht, also die ganze Mythologie, Irrtum. Religiös heißt Irrtum auch „Sünde" oder „Abfall" von Wahrheit, aber hier ist nicht der religiöse Begriff, sondern der philosophische Begriff das Bestimmende: Irrtum bedeutet „Abirren vom Ziel", d.h. Ziel, wie Schelling erklärt, im Sinne vom Schützen, als „Centrum". Irrtum heißt daher „vom Mittelpunkt abirren" [XIV, 267], Im Fall des Urmenschen gerät das erste Prinzip aus dem Zentrum in die Peripherie des Weltseins [siehe oben; vgl. X, 186]. Die Mythologie im Ganzen ist also Irrtum als Peripherie. Aber in der Mythologie führt Dionysos die Peripherie wieder dem Zentrum zu, und zwar so, daß Peripherie und Zentrum unzertrennlich zusammengehören. Deswegen kann der Mensch, der zum Zentrum gefunden hat, auch „wieder dem Prozeß anheimfallen", d.h. in den mythologischen Prozeß zurückfallen [XIII, 336, vgl. 369; XI, 245; XII, 122], Das geschieht in Schellings
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Begriff eines irrigen, dem mythologischen Prozeß anheimgefallenen Christentums [siehe bes. den letzten Teil von Kap. 8]. In Folge des Falls oder des ersten Irrtums erscheint für den geistigen Menschen das Gesetz oder die Moral als das Bewußtsein der fehlenden Einheit: das SeinSollende, aber nicht Seiende. Die „moralisch gesetzgebende Vernunft'' sei „die in dem Seyenden selbst wohnenden Vernunft 0 [XI, 532], 33 Das Bewußtsein der fehlenden Einheit ist das des „Fluches", der für den gefallenen Menschen auf allem zerrissenen Dasein hegt [XIV, 55; vgl. XII, 64]. Seit der Urzeit der Mythologie lastet das Gesetz lieblos-schwer auf der Menschheit [siehe unten]. Zumal im Moment Kronos bestraft es das dionysische Fortschreiten, denn das Dionysische schreitet stets über das altväterliche Maß des Gesetzes hinaus [XII, 183, 187, 286ff; XI, 530f, 48 Iff]. Während in der zerrissenen Welt der Fluch des Gesetzes nie aufgehoben wird, wird das Gesetz in der Mythologie durch das dionysische Liebesprinzip gemildert, d.h. gemäß den Stufen in geistige, menschenfreundliche „Sittlichkeit" verwandelt.34 Im Grunde aber behält das Gesetz seine tödliche Kraft [bes. XI, 530f], so wie z.B. in der Strafe, die Zeus den Prometheus auferlegt [XI, 48Iff]. 35 Das Gesetz als das Sein-Sollende findet Erfüllung im Menschen Jesus als der reinen Liebe, welche die Zerrissenheit zur Einheit fügt.36 Sofern Dionysos wesentlich + A, das Liebesprinzip, ist, bedeutet seine Bewirkung der höheren mythologisch-geistigen Sittlichkeit ein Maß der Erfüllung des Sein-Sollenden. Die griechische Visionen der zukünftigen Einheit, z.B. die Jakchos-Vision, schauen nicht nur das Ideal der Einheit des Menschen mit der Natur, sondern auch das der höchsten geistig-sittlichen gesellschaftlichen Einheit der ganzen Menschheit.
33
Vernünftige Relationen wohnen der Natur inne [siehe Kap. 6.3.a]. Während der Mensch (schon als Urmensch) die höchste Gestalt des Naturwerdens ist, wohnt auch ihm die Vernunft inne. Schon das Verhalten der Tiere zeigt eine gewisse inwohnende, unbewußte Vernunft.
34
Über die Unterscheidung zwischen dem höheren „Sittlichen" (als dem Guten) und der „Moral" oder dem „Gesetz" siehe schon I, 284ff; III, 574; V, 328f. In der Spätphilosophie vgl. XII, 568; XIII, 199-202, 493. Siehe ferner XIII, 195; XI, 554-56, 480-87, 531. Beim späten Schelling hält Sophokles in Antigone den Zuschauern das unverletzliche, undurchsichtige, unfaßliche Recht vor, das keiner überschreiten dürfe [XI, 531]. Aschylus und
35
Sophokles lehren Weisheit als das Bewußtsein sowohl der Größe als auch der Schranke des Menschen [XI, 486, 528-31]. - In §9 der Geburt der Tragödie behandelt Nietzsche eine sehr ähnliche Problematik im Gegensatz einerseits vom weisen, Mäßigkeit ratenden Apollinischen und andererseits dem übermäßigen „Fluten" des höhertragenden Dionysischen. Nietzsches Beispiel ist Aschylus, der beides vertritt. 36
Das Liebesgebot Christi ab solches, d.h. als Gesetzeslehre, unterscheidet sich nach Schelling nicht wesentlich von der Gesetzeslehre der allgemeinen höheren Sittlichkeit. Für Schelling hatte z.B. beim Menschen Jesus die Gesetzeslehre „schon in besseren jüdischen Lehrern Analoges, Entsprechendes" [XIV, 232], Das Sein-Sollende ist nicht das Neue, sondern seine Erfüllung: die Tat des Zweiten in Christus. Die „Moral" des Christentums für sich, wie sie in der „rationellen" Theologie erscheint, ist nach Schelling „nichts Besonderes, nichts Auszeichnendes" [XIII, 195].
Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
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In der relativen Einheit der ersten Menschen, im Uranos-Bewußtsein, herrscht eine strenge Moral als die praktische Seite dieser ersten engen Einheit. Im reaktionären Kronos-Moment, wo das fortschreitende Dionysische auch mit Menschenopfer schwer bestraft wird, zieht sich das erste Prinzip in sich als Einheitsprinzip gegen das Dionysische zusammen und richtet dabei eine enge Gesetzlichkeit auf. Wenn im späteren Nihilismus die nur negative Vernunft an die Herrschaft gelangt, kommt zugleich als ihre praktische Seite die abstrakte Moral an die Macht. Auch in diesem Fall ist die Moral eine enge, denn die sie gestattet nur Entwicklungen, die ihrem Maß entspricht.37 Die schlechte Moralherrschaft findet sich also nicht nur im Uranos- und im Kronos-Bewußtsein, sondern auch in den Momenten des mythologischen Untergangs als der Vernunftherrschaft: im Römischen, in der indischen Philosophie, zuletzt und am reinsten in der chinesischen Religion [z.B. XII, 476, 535, 560-562; siehe Kap. 6.2.b (Anm)]. Auch der mythisch-untergehende neuzeitliche Nihilismus als der Rationalismus hat die schlechte Moralvernunft als Eigenschaft [bes. XI, 532-535, 553-556], ebenso in der christlichen Theologie [z.B. XII, 41, 104; vgl. Kap. 12.3.c]. Im Nihilismus erhebt sich der Mensch kraft seines Vernunftvermögens so sehr in das reine Denken, in abstrakte Ideen, daß die dionysische Wirklichkeit überflogen wird. Dadurch findet eine folgenreiche „Zertrennung" der in der konkreten Wirklichkeit zusammenwirkenden Prinzipien statt [z.B. XII, 104]. Das erste Prinzip als ein vernünftiges zieht sich in sich selbst, somit auch in seiner Moralvernunft, zurück.
3.7 Ironische „Satanologie" Schelling selbst verwendet das Wort „Satanologie" zwar nicht, aber als eine Parallelformulierung zur „Dionysologie" [XIII, 333] entspricht das Wort der Absicht seiner Satanslehre.38 „Der Satan ist das durch den göttlichen Unwillen gesetzte B, er ist die große Macht Gottes in der gefallenen Welt,... dieses Princip ist das eigentliche Mysterium Gottes..." [XIV, 252]. Hier ist „B" Schellings Zeichen für das erste Prinzip der Schöpfung in seinem gefallenen oder zerrissenen Zustand [Kap. 3.3 (Anm)]. Darum heißt es der göttliche „Unwille", nämlich die Verkehrung des 37
Die idealisierten Formen oder das Maß der jeweils auftretenden nihilistischen Moral sind solche, die aus einem (z.B. römisch oder indisch) gegebenen geschichtlichen Zustand entstehen, die aber verabsolutiert und für ewige gesetzliche gehalten werden. Das gewordene Vorhandene ist für Schelling grundsätzlich ein Vergangenes, daher die nihilistische Moral eine fixierte Vergangenheit.
38
In seiner Arbeit Schelling, une philosophie
en devenir [1970 1 ], II, 477, verwendet Xavier Tilliette
„Satanologie". Die Satanslehre bei Schelling befindet sich hauptsächlich in XIV, 49f, 241-278. Siehe dazu auch meine frühere Arbeit Schellings Mythologie, Kap. 4 u. Kap. 5.
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göttlichen Willens als der Einheit der Schöpfung in sein Gegenteil.39 In Beziehung zum Menschen ist Satan sozusagen ein Mehr am ersten Prinzip: Er ist das, was der Mensch schon immer (schon als Urmensch) als sein Eigenstes beherrschen zu können meint, was aber in Wirklichkeit den Menschen vielmehr schon immer in seiner Macht der Zerreißung hat. „Diabolo" hat den Sinn der „Zertrennung" [XII, 99]. Im Menschen ist er der „Versucher", der zur Verwirklichung der Möglichkeiten bewegt [XIV, 260ff]. 40 Weil all diese Möglichkeiten gerade vom Prinzip der Zertrennung ausgehen (und zwar auch wenn sie höhere Möglichkeiten bedeuten), setzen sie den üblen Zustand nur fort. Da Satan der Versucher ist, nennt Schelling ihn - in ironischer Parallele zu Dionysos selbst - den „Beweger der Geschichte", sogar den „allem Starren entgegengesetzten Geist" [XIV, 270f, 275]. Der philosophische Grundbegriff ist offensichtlich der des Apeiron als der unbegrenzten Möglichkeit [Kap. 1.1-2], aber als Macht in der Geschichte der Weltzerreißung.41 Oben haben wir gesehen, daß, wo das Unbestimmte in das eigene Sein übergeht, ihm die dionysische Grenze fehlt, so daß es grenzloses Sein wird, und zwar als ein starres und unbewegtes [Kap. 3.1]. Grundsätzlich dasselbe ist in Schellings Satanologie zu sehen: Wo auch immer eine „satanische" Möglichkeit vom Menschen in die Wirklichkeit umgesetzt wird, widersteht die neue Wirklichkeit Dionysos. Erst diese widerstehende Wirklichkeit ist der eigentliche „göttliche Unwille", auf den Dionysos kämpfend einwirkt, um, ihn überwindend, neue „satanische" Beweglichkeit einzuführen. In jedem Jetztzustand des zerrissenen menschlichen Seins enthält „B" neue Möglichkeiten, die sich aber, sofern sie Glück oder Wahrheit verheißen, in der zerrissenen Wirklichkeit als Illusionen entlarven und den „Fluch" des Sein-Sollenden nach sich ziehen. Offenbar als die Stimme des Fluches heißt Satan auch der „Ankläger" des Irrtümlichen im Bewußtsein des Menschen [XIV, 250], Der mythologische Prozeß versteht sich daher als die Wirkung nicht nur des Dionysos, sondern auch des zur „göttlichen Oekonomie" gehörenden Satan [XIV, 247,261]. Im Zusammenwirken mit Dionysos dient er ironischerweise dem Prozeß der mythologischen Hinführung zum Zentrum. Aber als die Potenz des gefallenen 39
Gott sei keineswegs „absolut und jenseits der Welt". Er sei in der Welt, aber „nur als Folge seiner N a t u r ; er ist in ihr nur als blinde Substanz" [als das gefallene erste Prinzip B], Sei er nun mit diesem seinem „Unwillen" in der Welt, so sei „die Welt, in der er mit seinem Willen seyn könnte, ...dem Stoff nach immer vorhanden..." „Hierin kann man wieder nur dem Naturalismus oder, wenn man will, dem Pantheismus, nicht Unrecht geben" [XIV, 188; vgl. Kap. 11.5]. D e r Unwillen wird zum Willen umgewendet, wo Β wieder zur Einheit gefügt wird, wo das zerrissene Sein wiederhergestellt wird.
40
In Schellings Mythologie findet sich die mythische Geschichte der versuchenden Schlange auch im Persephonemythos [XII, 160].
41
Siehe Möglichkeit und Können als Macht unten in Kap. 12.1.
Kap. 3: Der Mythologiebegriff beim späten Schelling
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Seins ist Satan immer „Lügner" [XIV, 268; vgl. XIII, 451] und immer „gefährlich" [XIV, 274]. Die böseste satanische Möglichkeit, die starre Kontraktion als das absolut selbstische Sein für sich, bedeutet zugleich den schwersten Widerstand gegen Dionysos: den Todeszustand des „chinesischen" Reiches, wo Geist und Freiheit aus dem Menschenleben völlig verschwinden [XII, 537; vgl. XIV, 263, 276]. Die für Schelling höchsten Formen von mythologischen Möglichkeiten sind die großen Griechischen, z.B. die Mysterien, wo Dionysos als herrlicher Gott des Kosmos erkannt wird. Aber auch diese höchsten Möglichkeiten überwinden die Zerreißung nicht; die Erkenntnis des Tragischen des Daseins gehört zur höchsten griechischen Erkenntnis. In der Mythologie erwächst das Geistige allein aus dem vorangehenden Grund als der Vereinigung der ersten beiden Prinzipien hervor, so wie z.B. der geistige ägyptische Horas aus dem Todeskampf von Typhon und dem dionysischen Osiris hervorgeht. Wir erinnern an Schellings einfache Formel: Subjekt ist Prädikat [Kap. 1.1-2]. Das Subjekt ist das erste Prinzip, das vom Zweiten bestimmt wird, so daß das Dritte erscheint. So meint Schelling: In Horos „ist alles Osiris", d.h. Typhon (= „alles") ist Osiris [XII, 383, vgl. 375f]. Den menschlichen Geist der zerrissenen peripheren Welt gibt es nur als Typhon-Osiris oder auch, wie man sagen darf, nur als Satan-Dionysos. Ohne dionysische Freiheit gibt es keine satanische Potenz zu den höheren Möglichkeiten und umgekehrt, und ohne beide entsteht der Geist nicht. Wie wir oben gesehen haben, wird durch die Wirkung des zweiten Prinzips der „göttliche Unwille" zum göttlichen Willen überwunden [vgl. XIV, 250, 263, 276]. Der Unterschied zwischen Unwillen und Willen wird erst evident oder anschaulich, wo der Unwille als die Weltzerreißung dem göttlichen Willen als der Einheit erkennbar gegenübersteht [vgl. bes. XIV, 278]. Damit wird zugleich auch die „Anklage", das Zeihen des Irrtums als des Zerreißungszustandes, anschaulich oder evident. Wesentlich dasselbe anschauliche Gegenüber hat Schelling in anderer Form in der durch die Umkehr korrigierten Beziehung der „negativen" zur „positiven" Philosophie. In der positiven Philosophie geht Schelling von der göttlichen Einheit als vom höchsten Prinzip aus; sowohl der Fall als auch die ganze mythologische Führung zum Zentrum gehört zur positiven Philosophie. Die negative Philosophie dagegen, wenn sie in richtiger, eingegrenzter Beziehung zur positiven verstanden wird, verhält sich zu aller anderen Philosophie als die „kritische", die z.B. mit einer schärferen Vernunft die „Zerstörung der Idee" des falschen (nihilistischen) Rationalismus vollzieht [XI, 374, 566]. Sie bezichtigt alle philosophischen Versuche, welche die Wahrheit oder die wahre Einheit nicht erreichen, des Irrtums [XI, 562566]. Die kritische Philosophie ist wesentlich Zeihen des Irrtums als Erkenntnis der
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Kap. 3: D e r M y t h o l o g i e b e g r i f f beim späten Schelling
Peripherie als solcher. 42 Für den Philosophen bedeutet die höhere Erkenntnis des „rein Seyenden" nicht, daß dieser Philosoph etwa subjektiv vom Satanischen frei wäre; denn solange der Mensch in der zerrissenen Welt besteht, ist er umgeben von bestimmten, auf den jeweiligen geschichtlichen Zustand bezogenen, „gefährlichen" Möglichkeiten, die er zu wählen oder abzulehnen hat [vgl. XIV, 251]. Der Mensch muß, oft unter innerem Kampf, in der zerrissenen Welt handeln; er muß konkrete Entscheidungen treffen, die im Weltsein unvermeidlich wieder Zerreißungszustände setzen. Er kann die Einheit als das Ideal seiner Entscheidungen und Handlungen verstehen, er kann für reale Veränderungen und Verbesserungen und damit weise für die höhere Sittlichkeit im Menschenleben arbeiten [vgl. Kap. 9 (§1)]; die Einheit selbst kann er nicht herstellen. Jedoch der philosophische Glaube der „Umkehr" erkennt die Kraft des zweiten Prinzips, das aus den Lebenskämpfen zur Wiederherstellung der Einheit - auch durch die geistige Weltbildung der Menschen - unwiderstehlich hervorgeht. Erst in Kap. 7, insbesondere aber in Kap. 12.3 werden wir Anlaß haben, Schellings Satanologie in den Vergleich mit Nietzsche einzubeziehen.
42
W i r erinnern daran, daß Sokrates f ü r Schelling der große K r i t i k e r war, dessen kritisches Nichtwissen in (eingegrenzter) Beziehung zu einem v o n Sokrates selbst nicht g e w u ß t e n Positiven stand [siehe bes. XI, 2 6 8 ; siehe Kap. 2.9, vgl. Kap. 5.1]. Wesenlich hatte Sokrates die n u r negative P h i l o s o p h i e der Eleaten u n d Sophisten, die jenes positive Nichtwissen nicht hatten, kritisch korrigiert.
4
Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen 4.1 „ Vom Ursprung der Sprache " (1869/70)
In den „Beiträgen zur Quellenforschung' in Bd. 23 (1994) der Nietzsche-Studien [S. 480-488] hat Hubert Thüring die Quellen für den wichtigen ersten Teil von Nietzsches „Vorlesungen über lateinische Grammatik" aus dem Jahre 1869/70, „Vom Ursprung der Sprache" [II/2, 185-188], identifiziert.1 Die Stellen über Sprache, Instinkt und Philosophie hat Nietzsche offenbar Eduard v. Hartmanns gerade erschienener Philosophie des Unbewußten [Berlin, 1869], nämlich dem Kapitel über den Ursprung der Sprache, entnommen; auch das Schelling-Zitat am Ende von Nietzsches „Ursprung der Sprache" ist schon bei Hartmann zitiert [S. 227]. All diese Stellen erinnern an Schelling; nach Hartmanns Angabe am Anfang des Kapitels sind sie auf Schelling zurückzuführen. Die Frage, ob es wahrscheinlich ist, daß Nietzsche allein Hartmann als Quelle benutzte, ohne bei Schelling selbst nachzuforschen, oder nicht, stellen wir hier zurück.2 Jedenfalls fügt er etwas zwischen Sprachentstehung und Philosophie ein, das bei Hartmann fehlt, das aber bei Schelling klar vorliegt: die Mythologie. Im Abschnitt „Vom Ursprung der Sprache" lehrt Nietzsche, daß die ohne bewußte Absicht entstehende Sprache ein „Erzeugniß des Instinktes" und daß der Instinkt „eins mit dem innersten Kern eines Wesens ist". „Dies ist das eigentliche Problem der Philosophie, die unendliche Zweckmäßigkeit der Organismen und die Βewußtlosigkeit bei ihrem Entstehen" [185f]. Man vergleiche wieder Schellings Satz: „Die Natur fängt bewußtlos an, und endet bewußt, die Produktion ist nicht zweckmäßig, wohl aber das Produkt" [III, 612], Nietzsches Ansicht steht in wichtigem Zusammenhang mit den früheren, in seiner Leipziger Zeit abgefaßten Notizen über Teleologie, die wir erst am Ende der vorliegenden Arbeit [Kap. 13.6] in Betracht ziehen. Nietzsche meint: „Die richtige Erkenntniß ist erst seit Kant geläufig," nämlich seit Kants Feststellungen über die bewußtlose Teleologie in der organischen Natur. Am Ende des Abschnittes „Vom Ursprung der Sprache" zitiert 1
Siehe auch Claudia Crawford, The Beginnings of Nietzsches Theory of Language [Berlin u. New York, 1988], 45.
2
In Nietzsches Vorlesungsaufzeichnungen über die „Encyclopédie der klassischen Philologie" (1870/71), im Abschnitt „Uber Religion und Mythologie der Alten", erwähnt er Schellings „philosophische Behandlung" der Mythologie, „die wieder auf Creuzer einwirkte" [II/3, 410].
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Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
Nietzsche (offenbar aus Hartmann) einen Abschnitt aus Schellings spätphilosophischer „Historisch-Kritischer Einleitung in die Philosophie der Mythologie": Z u m Schluß W o r t e von Schelling (Abt. Π. Bd. 1 [Bd. X I ] S. 52): „Da sich ohne Sprache nicht nur kein philosophisches, sondern überhaupt kein menschliches Bewußtsein denken läßt, so konnte der Grund der Sprache nicht mit Bewußtsein gelegt werden; und dennoch, je tiefer wir in sie eindringen, desto bestimmter entdeckt sich, daß ihre Tiefe die des bewußtvollsten Erzeugnisses noch bei weitem übertrifft. Es ist mit der Sprache, wie mit den organischen Wesen; wir glauben diese blindlings entstehen zu sehen und können die unergründliche Absichtlichkeit ihrer Bildung bis ins Einzelnste nicht in Abrede ziehen." [188]
Auf den Seiten 50ff derselben Arbeit befaßt sich Schelling eingehend mit Sprache und Mythologie. Dort schreibt er über die Entstehung der Mythologie, die aus dem „Leben und Wesen" eines Volkes hervorgeht [XI, 59f, 53, 66, 75ff]. „Beinahe ist man versucht zu sagen: die Sprache selbst sey nur die verblichene Mythologie, in ihr sei nur in abstrakten und formellen Unterschieden bewahrt, was die Mythologie noch in lebendigen und konkreten bewahrte" [XI, 52].3 Die Entfernung des Volkes oder der Kultur von diesem lebendigen Kern der Sprache - vom lebendigen Mythos bedeutet für Schelling die zunehmende Abstraktion eines mechanischen Denkens, dessen irrtümlichsten Ausdruck der neuzeitliche Rationalismus darstellt, wie z.B. in David Humes Ansicht über die Unwirklichkeit der Mythologie [78f]. Mit Hartmann [S. 229fJ meint Nietzsche: „Die Entwicklung des bewußten Denkens ist der Sprache schädlich. Verfall bei weiterer Kultur" [II/2, 185].4 Auch meint Nietzsche: „Die tiefsten philosophischen Erkenntnisse liegen schon vorbereitet in
5
Vgl. XII, 127-129. In der viel früheren Philosophie der Kunst steht zu lesen: „Die Idee der Götter ist nothwendig für die Kunst. Die wissenschaftliche Construktion derselben führt uns eben dahin zurück, wohin der Instinkt die Poesie in ihrem ersten Beginn schon geführt hat" [V, 391], Vgl. Kap. 1.3; siehe auch unten Kap. 13.1 .d.
4
Nietzsches erster Abschnitt unter dem Titel „Vom Ursprung der Sprache" - er hat keine Parallele bei Hartmann - lautet lakonisch: „Altes Räthsel: bei Indern Griechen bis auf die neueste Zeit. Bestimmt zu sagen, wie der Ursprung der Sprache nicht zu denken ist" [II/2, 185], Das könnte man mit Bezug auf Schellings Mythologie deuten: „Griechen bei Indern" würde heißen: Griechen, die dem indischen Nihilismus verfallen seien [vgl. Kap. 3.5]. Nach Nietzsche wäre der Ursprung der Sprache nicht „indisch" zu denken. - Man beachte auch Nietzsche über „Subjekt-Objekt": „Man denke an Subjekt und Objekt; der Begriff des Urteils ist vom grammatischen Satz abstrahirt. Aus Subjekt und Prädikat wurden die Kategorien von Substanz und Accidenz" [II/2, 185], Diese Ansicht findet sich bei Hartmann, Philosophie des Unbewußten, S. 227, der sie sehr wahrscheinlich von Schelling hatte. In Schellings „Historisch-Kritischer Einleitung in die Philosophie der Mythologie" findet man: „Was ist abstrakter als die Bedeutung der Copula im Urtheil, was abstrakter als der Begriff des reinen Subjekts, das nichts zu sein scheint; denn was es ist, erfahren wir ja nur durch die Aussage, und doch kann es auch ohne das Attribut nicht nichts seyn..." [XI, 50f; vgl. ferner VII, 341f; Vili, 213f; XIII, 217].
Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
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der Sprache" [ebd; vgl. Hartmann, 228]. Damit spricht er nur Schellings Urteil am genannten Ort nach: „In der Bildung der ältesten Sprachen läßt sich ein Schatz von Philosophie entdecken" [XI, 50]. In der Schrift Menschliches, allzu Menschliches meint Nietzsche: „Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt..." [IV/3, 185].5 In einer längeren Notiz unter den nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahre 1874 schreibt Nietzsche, „die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele" [III/4, 455]. In der ersten Sprachbildung erkennt er eine „strotzende Fülle der ersten Jugend" der sprachlichen Kräfte als der überströmenden Seele eines Volkes. Diese Kräfte erzeugten „Sprachenbildner: das waren die furchtbarsten Menschen aller Zeiten, und sie zeichnete aus, was ... Musiker und Künstler zu allen Zeiten auszeichnet: ihre Seele war größer... In ihnen sprach die allgemeine Seele mit" [ebd, 456]. Diesen Gedanken läßt Nietzsche ein Gleichnis vorangehen: Ein „Urmenschen mit hundert Köpfen", ein „mythologisches Ungeheuer" spreche mit sich selbst, bis es merke, daß es „mit sich wie mit einem zweiten, dritten, ja hundertsten Wesen reden könne". So lasse es sich „in seine Theile zerfallen, die einzelnen Menschen, weil es wusste, daß es nicht ganz seine Einheit verlieren könne: denn diese liegt nicht im Räume, wie die Vielheit dieser hundert Menschen; sondern, wenn diese sprechen, fühlt sich das mythologische Ungeheuer wieder ganz und eins" [ebd, 455f]. Zur Spätphilosophie Schellings gehört eine urmenschliche „Seele", die dem „ganzen Seyenden gleich" sei [sie „ist" alles], die aber durch den Fall in „viele Möglichkeiten" [Menschen, Kulturen] geteilt wird. Doch „gereicht eine zur Ergänzung der anderen", dadurch als durch die Gesamtheit aller Möglichkeiten wird die erste Einheit in der gefallenen Seinsweise in gewisser Weise bewahrt [XI, 528; vgl. XIII, 352], Seele ist für Schelling grundsätzlich das durch das zweite Prinzip zum Subjekt eingegrenzte erste Prinzip, aus welchem durch den Fall die vielen menschlichen Gestalten des Geistes entstehen [vgl. Kap. 3.1-3; vgl. Seele in Kap. 5.6], 5
In „Vom Ursprung der Sprache" hält Nietzsche die Frage nach dem göttlichen [daher auch mythischen] Ursprung der Sprache für berechtigt und fragt auch kurz nach deren Bedeutung in der Mythologie [II/2, 187; siehe hierüber Hubert Thürings oben genannte Mitteilungen in den Nietzsche-Studien], Wie Nietzsche berichtet, „schweigen die Völker über den Ursprung der Sprache: sie können sich Welt, Götter und Menschen nicht ohne dieselbe denken" [187]. Jedenfalls war der späte Schelling (unter dem Einfluß Hamanns) von der Ansicht des mythisch-göttlichen Ursprungs der Sprache überzeugt. Er sah in der Entstehung der Sprache zwei sich deckende Werke: von der Seite Gottes [Dionysos] ein mythisch lehrendes, von der Seite des Menschen ein mythisch oder instinktiv lernendes [bes. X, 425f]. Vgl. Schellings erste Schrift zur Entstehung der Mythologie: „Uber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt", I, 43ff, bes. 65. Vgl. ferner unten Kap. 10.
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Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
4.2 Philologie In den Vorlesungsaufzeichnungen zur „Encyclopädie der klassischen Philologie" (1871) gibt Nietzsche wichtige Hinweise auf sein Erziehungsideal in der Philologie und auf seinen Begriff des Lehrers. Dem Vergleich mit Schelling schicken wir einige Sätze aus Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) voraus: „Der Philolog steht mit dem Künstler und Philosophen auf den höchsten Stufen, oder vielmehr durchdringen sich beide in ihm. Seine Sache ist die historische Construktion der Werke der Kunst und Wissenschaft, deren Geschichte er in lebendiger Anschauung zu begreifen und darzustellen hat" [V, 246], „Wissenschaft der Kunst kann vorerst die historische Construktion derselben bedeuten. In diesem Sinne fordert sie als äußere Bedingung nothwendig unmittelbare Anschauung der vorhandenen Denkmäler. Da diese in Ansehung der Werke der Dichtkunst allgemein möglich ist, wird auch jene in der angegebenen Beziehung, als Philologie, ausdrücklich unter die Gegenstände des akademischen Vortrags gezählt. Demungeachtet wird auf Universitäten nichts seltener gelehrt als Philologie in dem zuvor bestimmten Sinne, welches nicht zu verwundern, da jene ebenso sehr Kunst ist wie die Poesie, und der Philologe nicht minder als der Dichter geboren wird" [V, 344]. In den genannten Vorlesungsaufzeichnungen meint Nietzsche, daß an der Universität der Student der Philologie durch den Idealismus seine „naiven Anschauungen von Realität" korrigieren müsse; dadurch „wird er den Muth zu großen Betrachtungen gewonnen haben u[nd] vor dem anscheinend Paradoxen nicht erschrecken: der gemeine Menschenverstand wird ihm nicht mehr imponieren" [II/3, 372], Auch für Schelling enthält das Objekt des Studiums wie die Realität selbst viele Widersprüche. Für die Philosophie hänge alles nicht „mit bloßer Vernunft" zusammen [X, 171f]. So muß es für Schelling auch einen „Muth des Entschlusses" beim Studierenden geben, so wie im Leben „bei jeder schwierigen Besteigung einer Höhe" [XI, 269; vgl. XIV, 16], Nach Nietzsche muß der werdende Philolog „den Muth haben, allein seinen Weg zu suchen" [II/3, 372]. Nach dem Ideal habe man das Klassische, die Griechen, zu begreifen, aber kein Mensch könne einem Anderen den richtigen oder wahrheitsgemäßen Begriff der Klassik und ihrer Bildung geben. Der Lehrer „kann nicht die Jugend von der Klassicität überzeugen". Diese habe den eigenen Weg des Nachdenkens über den eigenen Bildungsgang unter Vergleich mit der griechischen Bildung zu finden [366-368], Der junge Philolog müsse „fortwährend sich an der Philosophie festhalten", um „den Anspruch der Klassicität des Altertums gegenüber der modernen Welt" behaupten zu können. „Denn er spricht damit ein Urtheil. Es handelt sich um lauter principielle Sachen" [370]. Er habe seinen „Instinkt der Klassicität" philosophisch durch Gründe zu rechtfertigen; dann „darf er sich näher in das Einzelne einlassen, ohne befürchten zu müssen, den Faden zu verlieren"
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[372]. Der Philolog solle der „ideale" Lehrer der Klassik werden, welcher der „Mittler" zwischen „den großen Genien und den neuen werdenden Genien, zwischen der großen Vergangenheit und der Zukunft" sein könne [366-368].6 In alledem kann man Themen schon des frühen, aber insbesondere des späten Schelling hören, der in den „Erzeugnissen des Alterthums eine der neueren Zeit bis jetzt unerreichbar gebliebene Größe" gesehen hatte, der glaubte, daß heute „ein erhöhtes und erweitertes Bewußtseyn wieder ein Verhältniß zu den großen Kräften und Mächten, in dem sich das Alterthum von selbst befand", gewinnen sollte. Diese Kräfte und Mächte sind die der Mythologie [XI, 240]. Sie liegen nach Schelling der Wirklichkeit zugrunde, z.B. im Ursprung der Sprache. Sie sind die Grundelemente oder Prinzipien des Weltwesens, also prinzipielle Sachen, um Nietzsches Worte zu verwenden. Dionysos war die „Gewalt", die den Griechen „das Große, Bedeutungsvollste in der Kunst" lehrte, „auch die Macht, welche die Menschheit über die untergeordneten ... Stufen wie eine göttliche Hand hinweghob" [ebd].7 Dieses „erhöhte und erweiterte Bewußtseyn" will Schelling den Studenten als den Hörern seiner Vorlesungen nahelegen [z.B. XII, 673f]. Er kann es ihnen nicht geben, denn die Erkenntnis jener Prinzipien muß jeder für sich wahrnehmen, und zwar im Angesicht der entgegengesetzten Meinung des „gemeinen Menschenverstandes" oder der „gemeinen Wissenschaft", die nichts von solcher Prinzipienerkenntnis weiß noch wissen will; stattdessen will sie allein durch Beweise überzeugt werden [XI, 354-59; vgl. V, 109; siehe unten Kap. 4.4.b]. Für Schelling geht der Weg zu den Griechen durch das Suchen nach den Mächten, die noch heute, wenn auch in verborgener Tiefe, der Weltwirklichkeit zugrundeliegen. Es handelt sich um die „allgemeinen Principien..., durch welche die natürlichen und die menschlichen Dinge wie durch unzerreißbare Bande zusammenhängen, die allein wahrhaft die 6
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Nietzsche meint auch: „Das wichtigste Förderungsmittel, um für das Alterthum empfänglich zu werden, ist, moderner Mensch zu sein, aber wahrhaft mit den modernen Größen verbunden. Besonders ist das innige Vertrautwerden mit Winckelmann, Lessing, Schiller, Goethe wichtig, daß wir gleichsam mit ihnen und aus ihnen fühlen, was das Alterthum für den modernen Menschen ist. W i r müssen den Trieb, Sehnsucht erregen" [II/3, 368]. Dieselben „modernen Größen" einschließlich des jungen Goethe - bedeuten auch für Schelling Verbindung mit der Antike [z.B. Winckelmann: VII, 296; Goethe, XIII, 89], An derselben Stelle heißt es bei Schelling: „Unstreitig steht unter den Ursachen, durch welche die griechische Kunst so außerordentlich begünstigt war, die Beschaffenheit der ihr eigenthümlichen, also besonders der durch ihre Mythologie gegebenen Gegenstände oben an, die einerseits einer höheren Geschichte und anderen Ordnung der Dinge angehörten, als dieser bloß zufälligen und vergänglichen, welcher der neuere Dichter seine Gestalten zu entnehmen hat, von der andern Seite in einem inneren wesentlichen und bleibenden Bezug zur Natur standen. Was vom Standpunkt der Kunst stets empfunden worden, die N o t w e n d i g k e i t wirklicher Wesen, die zugleich Principien, allgemeine und ewige Begriffe - nicht bloß bedeuten, sondern sind, davon hat die Philosophie erst die Möglichkeit zu zeigen" [XI, 241f], Vgl. Kap. 2.12.a (die Universalia).
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Welt beherrschen" [XII, 673]. Diejenigen Menschen, welche „in der Philosophie überall nur Willkür sehen, wissen nicht, wie übrigens ganz verschiedene Individuen in ganz verschiedenen Zeiten unter völlig verschiedenen Formen doch wieder dieselben Begriffe entstanden sind, die so ihre Nothwendigkeit erweisen" [XI, 559n], Schelling will „der Poesie, wenigstens als nothwendige Grundlage, die großen Gegenstände" zurückgeben, „an welche unsere Zeit den Glauben verloren, weil ihr früher alles Verständniß derselben verloren gegangen war" [XIII, 12]. In Nietzsches Vorlesung „Encyclopädie der klassischen Philologie" liest man den Satz: „Die allergelehrtesten Bücher sind mitunter nur verwirrend und ohne Nutzen, weil jene sichere Grundlage fehlt"; er meint die „ewig gültigen Gesetze", die man im Hellenischen findet [II/3, 374]. Wie Nietzsche im Anschluß an den eben zitierten Satz schreibt, „handelt es sich um etwas Ethisches". Für denselben Inhalt verwendet Schelling das Wort „sittlich", so wie z.B. in seiner Ansicht, daß „die höchsten spekulativen Begriffe immer zugleich die tiefsten sittlichen sind, die jedem näher liegen" [XIII, 67; vgl. Kap. 3.6, Kap. 13.4]. Nach Nietzsche „befriedigt sich der Trieb der Wahrheit erst in streng logischen Operationen", wobei es aber möglich sei, daß die „ästhetischen und ethischen Bedürfnisse" des Philologen „miteinander in Feindschaft sind". Doch handle es sich in der Ästhetik „um die höchste Erhebung zum Ideal: in das die Wahrheit wieder eingeschlossen ist" [II/3, 374]. In der höchsten Erhebung sind Ethisches und Ästhetisches dasselbe. Sie trennen sich nur, wo das griechische Ideal fehlt, und bei solchem Fehlen verfällt nach Nietzsche die Wissenschaft der Gefahr, der ratio zuviel zuzutrauen [375f|. Dann hat man es mit dem zu tun, was Nietzsche in derselben Vorlesung den „Widerspruch zwischen Sein und Denken" und das „abstrakte Lehrerthum" der Sophisten nennt. Dieses „steht uns Modemen so nahe, daß wir die Abneigung Piatos und Aristoteles gar nicht begreifen" [407], Für Nietzsche scheinen das Ethische, Ästhetische und Wahre auch Liebe zu bedeuten, denn „die tiefsten Einsichten entstehen nur aus Liebe" [368]. Nach Schelling - für den „wahres Erkennen Lieben ist" [VIII, 112] - ist der „natürliche Gegensatz von Wahrheit Dichtung" [XI, 10]. Hier aber hat Wahrheit den Sinn des Lehrhaften und Doktrinellen; daher will die freie Dichtung sie von sich fernhalten, denn sie will eben Freiheit von solcher „Wahrheit". Das steht am Anfang einer Diskussion, die Schelling zum folgenden Satz führt: „Muß man doch erkennen, daß von wahrhaft poetischen Gestalten nicht weniger Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit gefordert wird, als von philosophischen Begriffen". Und weiter: „Freilich, hat man die neuere Zeit vor Augen, so ist es nur wenigen und seltenen Meistern gelungen, den Gestalten, deren Stoff sie nur aus dem zufälligen und vorübergehenden Leben nehmen konnten, eine allgemeine und ewige Bedeutung einzuhauchen, sie mit einer Art von mythologischer Gewalt zu bekleiden; aber diese wenigen sind die wahren Dichter..." [XI, 48f, vgl. 241; V, 350].
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Was bei Schelling in der Mythologie zustandekommt, z.B. die griechische Götterwelt, ist kein willkürliches Erzeugnis des Menschen, sondern eine instinktive organisch-geschichtliche Entstehung aus dem Wesen des Menschseins unter den vermittelnden Wirkungen des Dionysos. Mythologisch hat Dionysos die Bedeutung der „Erleuchtung" des gefallenen, daher verfinsterten Menschseins [XII, 270f]. Die Griechen sind die erleuchtetsten Menschen der Mythologie: Bei ihnen leuchtet am hellsten das geistliche „Licht" [vgl. XIII, 445]. Bei ihnen sei die Mythologie „zum Theil in Wahrheit verklärt", obwohl die Mythologie auch bei ihnen letzten Endes „Irrthum" und „Irrweg" bleibt.8 Am Schluß der „Encyclopädie der klassischen Philologie" faßt Nietzsche die Bedeutung der klassischen Erziehung so zusammen: Die Welt mag so düster sein: setzt man plötzlich ein Stück hellenisches Leben hinein, so hellt sie sich auf. Sie [die Hellenen] verklären die Geschichte des Altertums und sind recht eigentlich ein Zufluchtsort für jeden ernsten Menschen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen die Aufgabe der Philologie gezeigt zu haben: als ein Mittel, sich und der heranwachsenden Jugend das Dasein zu verklären [ Π / 3 , 437].
Auch für Schelling haben die Hellenen Ewigkeitswert für die ganze Menschheit, auch für die christliche [XI, 240; vgl. XIII, 406, 530; XII, 4, 148, 159], Gerade den „Emst" der Griechen - ihr Tragisches - hebt Schelling am Ende seiner Behandlung der Mythologie hervor [XIII, 529f; vgl. XII, 672f).
4.3 Erschütterung, Zauber, Zerreißung, Vergeistigung In den folgenden Abschnitten geht es hauptsächlich um den Vergleich mit dem, was wir oben in Kap. 3.1-3 aus Schelling? Mythologie schon angeführt haben, so daß wir den Leser im voraus auf jene Abschnitte hinweisen. Bei Nietzsche beziehen wir uns auf die Vorlesungsaufzeichnungen über die „Griechischen Lyriker" (1869/70) [II/2,107-182], die „Einleitung in die Tragödie des Sophokles" (1870/71) [II/3, 7-57], und die „Encyclopädie der klassischen Philologie" (1870/71) [II/3, 341437], Nach Nietzsche entspringt die Tragödie dem dionysischen Dithyrambus als dem „Ausdruck des weintrunkenen Sichbehagens, des berauschten Optimismus".9 Dabei 8
9
Siehe die Stellen ΧΠ, 645f, vgl. 319; vgl. XI, 161,211; XIII, 180-184, 369; XIV, 263. Siehe „Irrtum" in Kap. 3.6. Hier verwendet Nietzsche das Wort „Optimismus" offenbar in einem anderen Sinne als in der Geburt der Tragödie, wo es vielmehr den falschen Optimismus des sokratisch-alexandrinischen Menschen bezeichnet, der „optimistisch" meint, mit Logik die Welt beherrschen zu können. An der eben zitierten Stelle gibt es Optimistisches im dionysischen Rausch selbst. Das findet sich auch in der Geburt der Tragödie, nämlich im Begriff der dionysischen Bejahung des Lebens.
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handelte es sich aber nicht um nur Erfreuliches: „Die Feier des Bacchus hat etwas Ekstatisches: man begehrte Erschütterung, dies ist die Quelle der Tragödie..." [ I I / 2 , 146]. „Der Cuit des Dionysos hatte immer zwei Gesichter, greller Gegensatz von Lust und Trauer..." [ebd, 158]. „Die Tragödie ist pessimistisch" und hat mit „dem wahrhaft Schrecklichen des Menschenlebens" zu tun [II/3, 10]. Die gegensätzlichen Gesichter gehören auch dadurch zusammen, daß die Schrecken oder die Erschütterung zur Lust führen, wie wir im Folgenden sehen werden. Nach Nietzsche hebt das Apollinische die Gesetzmäßigkeit und die Bedeutung des einzelnen (geistigen) Menschen hervor; „hier kommt der Einzelne zur erhobenen Stimmung"; dagegen gerät im Bacchusdienst die Masse in ekstatische Erregung. Wir wollen um des Vergleichs mit Schelling willen aus Nietzsches „Einleitung in die Tragödie des Sophokles" über das Dionysische im Ursprung der Tragödie ausführlich zitieren und ein paar besonders an Schelling erinnernde Worte hervorheben. Vergessen der Individualität... Die Natur in ihrer höchsten Kraft schließt die Einzelwesen so aneinander und läßt sie sich als eins empfinden: so daß das principium individuationis gleichsam als andauernder Schwächezustand der Natur erscheint. Je verkommener die Natur, desto mehr zerbröckelt alles in Einzelindividuen, je selbstischerer[,] willkürlicher das Individuum entwickelt ist, um so schwächer die Natur des Volkes. - ...in der Musik feiert die üppige Natur ihrer Saturnalien, in der Tragödie erstrebt sie durch Schmerz und Schrecken Selbstvergessen und Ekstasis. Die welche in den Bacchusdienst eingeweiht wurden, wurden durch Schreckbilder erschüttert, die Seele wurde außer sich versetzt. In diesem Zustande kehrte sie in andere Wesen ein, Glaube an Verzauberung war allgemein... Das Drama wurde ohne Zuschauer gespielt, weil alle mitwirkten. Das principium individuationis war durchbrochen, der Gott ό λ ύ σ ι ο ς hatte alles von sich erlöst, jeder war verwandelt. Die Affekte sind im Zustande der Ekstase verwandelt, Schmerzen erwecken Lust, der Schrecken Freude. Der Gesang und die Mimik solcher ungestüm erregter Massen waren etwas ganz Neues und Unerhörtes in der griechischen homerischen Welt, es ist etwas Asiatisches und Orientalisches das die Griechen mit ihrer ... bildnerischen Kraft, kurz mit ihrem Schönheitssinn bezwungen haben bis zur Tragödie... Es war das apollinische Volk, das den übermächtigen Instinkt in die Fesseln der Schönheit schlug: aber daß wir es mit einem Gefangenen zu thun haben, zeigt die große Behutsamkeit und Strenge der dramatischen Regel das Maaß im Genuß dieser dionysischen Festtage zeigt, wie gefährlich das Element sei, daß es die gefährlichsten Mächte der Natur seien gleichsam die Panther und Tiger, die den Wagen des Dionysos ziehen. [Π/3, l l f ]
„Optimismus" und „Pessimismus" hat Nietzsche sehr wahrscheinlich von E . Dühring und Schopenhauer übernommen. Nach Schopenhauer, W W V II, 208 (Kap. 17), ist das Christentum pessimistisch; das griechische Heidentum und das Judentum seien optimistisch.
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Nach dieser Ausführung leidet zunächst einmal die ganze Natur - so wie bei Schelling - an der Individuation.10 Die schlechte Individuation löst Bacchus zwar auf, doch nicht so, daß das Apollinische zerstört wäre; vielmehr wird das Bacchische vom apollinischen Volk „bezwungen" - überwunden - und, wenn auch in nur bedingter Weise, beherrscht.11 Daß Panther und Tiger den Wagen des Dionysos ziehen, insofern domestiziert oder beherrscht sind, findet sich bei Schelling in den Weltaltem, VIII, 337f.12 Dieses nur bedingt Beherrschte ist offensichtlich eine Kraft, die auch die neuen apollinischen Grenzen sprengen kann - auch das haben wir bei Schelling in Kap. 3.1 gesehen [vgl. Kap. 2.11.b]. Doch darf das apollinische Maß die Kraft fassen, und zwar so, daß vorherige Grenzen erweitert werden und der Mensch tragisch erhöht wird. Das kann offensichtlich nur geschehen, indem die mächtige dionysische Kraft sich ermäßigt oder indem sie einem gewissen Maß gehorcht, so daß sie nicht alles vernichtet. Nach Schelling schont das zweite, dionysische Prinzip das gefallene erste, so daß dieses sich nach und nach stufenmäßig entwickeln kann oder, was dasselbe bedeutet, so daß das dritte Prinzip als das der bestimmten Erscheinung (des Maßes) wirken kann [XIII, 288f]. Ferner ist das Bacchische auch für Schelling eine „asiatische, orientalische" Erscheinung; denn es ist wesentlich dasselbe, wenn auch in höherer Form, wie der vorgriechische Kybele-Moment [bes. XIII, 422ff, 429]. So wie bei Schelling [Kap. 3.1] bewirkt das Dionysische bei Nietzsche „Vergeistigung": „Man muß überlegen", wie Nietzsche meint, „daß das Werthvolle der religiösen Vorstellungen] erst beginnt, wenn dieser rohe Untergrund [der Naturbedeutung der Götter] überwunden und vergeistigt ist"; dies bedeutet „das allmähliche] Werden einer ethischen Gottheit" [II/3, 412] oder auch eine „Metamorphose der Götter" als das „ethischer-Werden der Götter" [415]. Die Griechen vertreten die mythologische Höhe des Vergeistigungsprozesses: „Die griechische Kunst [ist] die einzige, die die nationalen Bedingungen überwunden [hat]; hier kommen wir zuerst zur Humanität, d.h. nicht Durchschnittsmensch, sondern höchste Menschheit" [371]. Als Zeichen solcher Höhe gibt es nach Nietz10
Nach einer Notiz in Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (1870-1871) hat die Zerreißung des Dionysos Zagreus [vgl. Kap. 5.3] die Bedeutung des „eigentlichen dionysischen Leidens, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Gestein, Pflanze und Tier...; wonach also der Zustand der Individuation als der Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches betrachtet worden ist" [III/3,185.19ff]. Nach Schelling entsteht die raumzeitliche Welt der für sich seienden Einzeldinge mit dem Fall, der Zerreißung [XI, 429ff; Kap. 3.3], Der Ausdruck „principium individuationis" hat Nietzsche sehr wahrscheinlich von Schopenhauer, der es als Zeit und Raum versteht [WWV I, §23 (am Anfang)].
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Der Sieg des maßvollen Apollo bedeutet nach Nietzsche „die künstlerische Erzwingung und Bändigung der dionysischen Volkspoesie" [II/3, 16; aus derselben Vorlesung].
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Vgl. dasselbe Bild in §1 und §20 in der Geburt der
Tragödie.
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sehe in den griechischen Dionysosfeiern keine geschlechtliche Ausgelassenheit, keine „Vernichtung des Familienlebens durch das Hetärenthum" wie an den früheren Stufen der Mythologie. Vielmehr finde eine „Vergeistigung der Dionysosfeier" statt [vgl. Schelling in Kap. 3.1], die Nietzsche mit einer Szene aus Euripides' Bacchen, nämlich die dionysisch begeisterten Frauen von Theben in wunderbarer Versöhnung mit der Natur, veranschaulicht. Es gibt verwandte Gleichnisse und Bilder in der Geburt der Tragödie, die wir mit dieser Szene zusammen unten in Kapitel 5.7 - über den „Mittag" - betrachten wollen. Bei Nietzsche findet man nun auch eine „Kluft" zwischen Gott und Mensch: Sophokles wisse von ihr, deren Erkenntnis bedeute Sophrosyne [II/3, 415]. Die großen Tragödien überwinden die Kluft nicht, aber sie führen zum „Glauben an die Transscendenz": „Momentan ging dem Griechen die Anschauung einer ganz verklärten Ordnung der Dinge auf". Sicher ist die eben erwähnte Szene der NaturVersöhnung in Euripides' Bacchen eine solche Vision, sowie auch die JakchosVision der Eleusinischen Mysterien, die ebenso wunderbar die höchste Einheit aller Wesen bedeutet. Nach Nietzsche fordern die Athener von Sophokles, daß er ihnen sage, „er habe den Dionysos gesehen" [ebd, 12f].13 Nach Nietzsche ist im Gegensatz zu den Griechen der moderne Mensch „in Stücke gerissen" [II/3, 371]. Bei den Griechen gebe es die Einheit der Kunst mit der Religion, „während die Modemen [diese] trennen". Heute sei die Einheit der antiken Kunst mit dem Staat etwas Fremdartiges; seit der Aufklärung rede man vielmehr von Emanzipation und Individuum [ebd; vgl. Kap. 3.3].14 Unten werden wir die Natur solcher modernen Zerreißung - offensichtlich bedeutet sie den modernen Individualismus - näher betrachten [Kap. 4.4.b]. In einer Anmerkung zur „Einleitung in die Tragödie des Sophokles" schreibt Nietzsche mit Bezug auf Aristophanes: „Man darf nicht den Komikern recht geben, die über das Schlechterwerden der Welt klagen" [II/3, 17]. Doch ist für Nietzsche so wie für Schelling - die Welt seit den Griechen schlechter geworden (herab13
Schellings „Anschauen" wäre hier wieder in Betracht zu ziehen. An einer Stelle in der Spätphilosophie zitiert Schelling Xenophons Sokrates: „Bis du die Gestalten der Götter siehest, genüge dir ihre Werke zu betrachten und sie zu verehren" [XIV, 175], Vgl. die „Anschauung der heiligen Geheimnisse" in den Mysterien [XIII, 448], Der ungeduldige Schüler wolle das Ziel gleich sehen, aber er müsse lernen, zu glauben [XIII, 216], Vgl. das Sehen des Gottes als Christus: XIV, 117f, vgl. 154,162,164,176,192. Vgl. bei Nietzsche das Sichtbarwerden des Dionysos in der „Klage der Ariadne" in Nietzsches Dionysos-Dithyramben des Jahres 1888 [siehe Kap. 12.6.a],
14
An derselben Stelle redet Nietzsche von einem den heutigen Menschen fremden Begriff der „Humanität" oder des „idealen Menschen", der „mit den .Grundrechten' nichts zu thun hat" [II/3, 371]. Vermutlich meint er die Grundrechten des modernen Staats. Darin darf man eine Verwandtschaft mit Schellings Begriff der staatlichen Grundrechten als der „thatsächlichbestehenden rechtlichen Ordnung", welche die freie Menschheit zwar ermöglicht, aber diese selbst nicht definiert, erkennen [XI, 536ff, vgl. 549f]. Siehe über den Staat in Kap. 6.4.C und Kap. 9.
Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
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gekommen). Das werden wir im Folgenden bestätigt finden. Aber wenn dies nun der Fall ist, warum sollte man „den Komikern nicht recht geben"? Vielleicht weil Nietzsche an ein „optimistisches" als ein dionysisches Prinzip glaubt, das auch die Moderne zu überwinden und zu nutzen weiß. 4.4
Geschichtliches
4.4.a Mythische Entwicklung In einer Anmerkung in der „Encyclopädie der klassischen Philologie" nennt Nietzsche Stadien des „Prozesses der Metamorphose" im Götterglauben: „1. Naturgewalten, 2. ethische Mächte, 3. künstlerische Vervollkommnungen zu Menschheitsidealen. 4. (Vermenschlichung) Es werden Phantasme daraus. 5. Endlich allegorische Hüllen". Am Rande neben diesen Punkten schreibt er: „Alle diese Standpunkte verharren und sterben nicht ab. Nun denke man sich das Gewimmel etwa um das erste Jahrhundert!" [II/3, 416]. Dieselbe Abfolge findet man auch bei Schelling: 1. Die Naturgewalten als Götter ist die Stufe Urania oder der Titanen [XII, 196f]. 2. In der sich entwickelnden Mythologie werden die Götter stets geistiger und damit auch ethischer oder menschlicher, z.B. Herakles unter der Herrschaft des Kronos. 3. Die künstlerische Vervollkommnung geschieht insbesondere durch Homer, dessen poetische Götter ideale Menschen sind [ΧΠ, 650f, 660, 666].15 4. Die griechischen Mysterien wissen, daß die olympischen Götter nur Schein seien und daß sie vergehen werden [XIII, 511]; in der christlichen Zeit werden sie zu Fabeln [XIV, 175]. In derselben Zeit findet die wahre, irrtumsfreie „Vermenschlichung" statt: die Metamorphose des Dionysos in Christus. Darüber meint Schelling: „Wenn die Sachen selbst kommen, verschwinden die bloßen Schatten derselben", d.h. die mythologischen Götter verschwinden [XIV, 175]. 5. Sodann werden die Götter im Neuplatonismus allegorisiert [XI, 257f; XIII, 501]. Schließlich sieht Schelling „alle früheren" Momente der Mythologie im Rom der Kaiserzeit zusammenfließen, aber ohne die Glaubensüberzeugung der früheren Zeiten [XIV, 151; vgl. XI, 545; XII, 230].
15
„Als umschriebene, begrenzte Begriffe erscheinen sie [die olympischen Götter] auch durchaus in bestimmten Gestalten, und zwar in menschenähnlicher Gestalt, als welche allein der In-SichKehrung, der Wiederaufrichtung [des ersten Prinzips] ins Geistige angemessen ist" [XII, 650]. Sie sind für Schelling auch „Repräsentanten nothwendiger, ewiger, bleibender ... Begriffe": daher vergehen sie mit dem Götterglauben nicht [XIII, 406], Als geistige Wesen sind sie Bilder des menschlichen Lebens.
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Kap. 4: M y t h o l o g i s c h e s aus N i e t z s c h e s Basler Vorlesungen
4.4.b Das neue Zeitalter der alexandrinischen Wissenschaft Nach Nietzsches Schrift Sokrates und die Tragödie aus dem Jahre 1870 ist Sokrates „Vorbote und Herold der Wissenschaft" und „Vater der Logik, die den Charakter der reinen Wissenschaft am allerschärfsten darstellt" [III/2, 37], Nach der Geburt der Tragödie ist er der „Stammvater" der noch heute bestehenden alexandrinischen Kultur tIII/1, 112.15 (§18), 99.12 (§16)].16 Bei Schelling findet man eine ähnliche Ansicht: Er nennt Sokrates den „Verkünder einer neuen Zeit, gleichsam eines Evangeliums des Wissens und der Erkenntniß" [XII, 560f]. Aristoteles sei das „Haupt der alexandrinischen Epoche" der Wissenschaft, einer während Jahrhunderte andauernde Periode, die sich bis in Schellings Gegenwart erstreckt [XI, 357-359]. Wie Schelling aus verschiedenen Stellen in Aristoteles' Metaphysik entnimmt, entstand in der Folge von Sokrates und Piaton eine dialektische oder diskursive „Gemeinwissenschaft": „was wir heutzutage ein System des gemeinen Menschenverstandes nennen würden". Die Gemeinwissenschaft war nach der Ansicht des Aristoteles nicht fähig, sich aus dem Bereich der „Meinung" zu erheben, weil sie die einfachen Prinzipien des Wissens nicht erkannte, diese nicht einmal suchte, und weil sie stattdessen allein demonstrative Beweise bringen wollte. „Weil jede seine eigene Weise hatte, jeder Unterschied bloß ein individueller seyn konnte, in einem Wettstreit, wo eigentlich jeder gleiches Recht und gleiches Unrecht hatte, und nur das Maß von Scharfsinn und Uebung, das jedem zukam, den Ausschlag gab" [XI, 357f]. Nach Schelling steht Aristoteles dieser neuen Gemeinwissenschaft dennoch sehr nahe, da er selbst maßgebend an der experimentierenden Wissenschaft teilnahm. In ihrer Gesamtheit verstand Aristoteles die Wissenschaftslehre, auch die diskursive, viel besser als jeder gemeine Forscher und vermochte wie kein Anderer, sie zu lehren. Daher heißt er für Schelling das „Haupt" der „alexandrinischen Epoche" der Wissenschaft [XI, 357359, 382]. In Schellings Beschreibung der Wissenschaft seiner Zeit erkennt man solche Gemeinwissenschaft in der Arbeit des „gemeinen Haufens roher und bloß handwerksmäßiger Gelehrten" [XI, 89],17 Schon in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums aus dem Jahre 1803 hat Schelling diese gemeine Art der Wissenschaft kritisch beschrieben. „Der Verstand, den die Unphilosophie den gesunden nennt, da er nur der gemeine ist, verlangt gleichsam die bare und klingende Münze der Wahrheit und sucht sie ohne Rücksicht auf das Unzureichende seiner Mittel zu verschaffen" [V, 268]. Das Mittel sieht Schelling vor allem in der Logik als einer „rein formalen" Wissenschaft 16
Ü b e r Sokrates siehe Kap. 2.9 und Kap. 5.1. Siehe auch die „Superfötation des Logischen" bei Sokrates in Kap. 5.6.
17
Vgl. X I , 355, 364; XIII, 109f, 178. Siehe auch V, 440.
Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
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und „ganz empirischer Doktrin, welche die Gesetze des gemeinen Verstandes als absolute aufstellt, z.B. daß von zwei contradiktorischen entgegengesetzten Begriffen jedem Wesen nur einer zukomme" [V, 267-270; vgl. Kap. 6.3]. Nach Nietzsches „Encyclopädie der klassischen Philologie" wird in Folge des Sokrates der Mensch zum Maß aller Dinge und mit Aristoteles „wird das Erkennen an sich Ziel".18 Die Peripatetiker „verwenden ihre Energie auf die Wissenschaft: auf ihrem Fundament erblüht dann in Alexandria u[nd] überall jene enorme Welt der Forschung, von der wir durch das Mittelalter getrennt wurden und an die erst wieder mit der Renaissfance] angeknüpft wurde" [H/3, 409]. Nietzsche hat auch den Begriff der handwerksmäßigen Gelehrten: „Es ist viel Kärrnerarbeit zu allen Zeiten nöthig: aber die Kärrner müssen sich dann auch gebieten lassen. Versuchen sie selbst zu bauen, wehe ihnen und der Wissenschaft! - Wer nichts weiter als Kenntnisse und gesunden Menschenverstand mitbringt, der ist zu ausgezeichneten Kärrnerdiensten noch zu brauchen, aber zu nichts mehr. Er ist kein prädestinirter Philolog, weil er kein Philosoph und unkünstlerisch ist" [II/3, 376, vgl. 367]. Nietzsche redet auch über die „Massen" der Kenntnisse in der Forschung heute: „Auf die Massen kommt es viel weniger an als auf das ,Wie?'. Die Gelehrsamkeit darum mit dem Harnisch verglichen, der den Schwachen niederdrückt. Es darf keiner mehr wissen als er schleppen kann, ja als er leicht und schön tragen kann" [ebd, 392], Man vergleiche den späten Schelling: ...alle einzelnen Kenntnisse, und zwar je ausgedehnter sie sind u m so mehr, erhalten ihren wahren W e r t h erst von der Kraft eines überlegenen Geistes, der sie zu einem wissenschaftlichen Ganzen zu verbinden, zu einem großen Sieg des Geistes über die Masse, zur Verwirklichung wahrhaft universeller, weltumfassender Gedanken zu verwenden weiß. Und wahrlich die Probleme, welche gerade der gegenwärtigen Zeit vorliegen, fordern auf Dringendste und täglich dringender Geister, die nicht in Einzelheiten untergehen, die auch Massen von sich widersprechenden Erscheinungen und Thatsachen nicht rathlos gegenüberstehen, sondern in sich selbst die Kraft und die Mittel finden, diese zu überwältigen, sich über ihnen, frei von ihnen zu erhalten, und sie zu einer wahren Schöpfung zu vereinigen. 1 9 [ΧΠ, 672f]
Man vergleiche auch die folgenden Zitate: Nach Nietzsche „kommt bei Aristoteles der praktische Trieb der Philosophie zum Stillstand: das Erkennen an sich wird Ziel..." [II/3, 408]. Nach Schelling „erreicht die antike Philosophie in Aristoteles
18
In Nietzsches Vorlesung „Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge" wird „der Cultus des Individuums, der Mensch sich selbst als Maaß" dem Sophisten Protagoras zugeschrieben [II/4,
19
Der letzte Satz drückt Schellings Begriff des „über" als der Freiheit aus: Siehe unsere Diskussion über Nietzsches Begriff des Ubermenschen in Kap. 12.1. Das „Verbinden" des Vereinzelten zu
151.33],
einem Ganzen im obigen Zitat erinnert an einen ähnlichen Begriff in Wagner in Bayreuth·, siehe den ersten Teil von Kap. 10.
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Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
ihren Gipfel, die mit dieser ... Verbindung des Logischen mit dem Wirklichen endete" [XIII, 106].
4.4.c Rom Nach Nietzsches „Encyclopädie der klassischen Philologie" fand in der Zeit der Erscheinung des Christentums eine „allgemeine Zersetzung des Heidenthums" statt [II/3,417]. Man strebte nach einer „Urreligion" [416 (Anm)] und suchte „durch das Aufheben der nationalen Götter und Gleichstellung fremder Götter eine Universalreligion zu begründen: insofern eine ähnliche Tendenz, wie die des Römerreichs". Nach Nietzsche war das Resultat Furcht und Angst, schwärmerische Abstinenz neben der schrecklichsten Ausschweifung, Zauber und Magie, systematischer Unglaube in den gebildeten Schichten [ebd, 416f]. All das findet sich in Schellings Darstellungen der Zeit des Untergangs des sich erschöpfenden Heidentums im römischen Kaiserreich, auch z.B. das Suchen nach einer Urreligion durch Rückschritte zum Orientalischen als dem mythologisch Ältesten und Primitivsten [XI, 544f; XII, 225-30; XIV, 152f; vgl. VII, 379].20 Nach Nietzsche hat sich die römische Religion durch die „Entnationalisierung" ihrer Götter die „Grundbedingung ihrer Weltherrschaft" geschaffen. Sie habe die griechisch-römischen Götter verbreitet und „hat Aussicht auf Erfolg, das ganze Erbe des griechischen Geistes anzutreten". „Diese Selbstentäußerung ist ein Zeichen ihrer ungeheueren politischen Begabung. Sie verstehen zu siegen, indem sie sich akkommodieren" [II/3,419]. An einer anderen Stelle findet Nietzsche bei den Römern „die Großartigkeit einer unegoistischen Tendenz, der sich jeder opfert: dann das Pathetische u[nd] gravitas" [ebd, 369]. „Selbstentäußerung" und „unegoistisch" sind gewiß ironische Ausdrücke für eine Religion, die nach der Geburt der Tragödie das Volk dem Staat - dem Empfänger ihres Opfers - unterwirft und die gewaltsame Welteroberung rechtfertigt [III/1,129; siehe Kap. 5.2 (Rom)]. Aber darum sind jene Ausdrücke sinnvoll: Die Römer opfern sich dem Staat. Der römische Staat sei in 20
In Nietzsches „Encyclopädie der klassischen Philologie" liest man: „So ist dem Christenthum nicht nur die allgemeine Zersetzung des Heidenthums günstig, es zeigen sich auch vielfache Annährungen und Vorbereitungen. Besonders wichtig, daß die Götter jetzt entnationalisirt wurden: sodann das allgemeine Vorurteil zu Gunsten des Orientalischen" [II/3, 417f]. In Schellings Philosophie der Kunst steht zu lesen: „Ehe noch das Christen thum seine Macht nach Rom erstreckt hatte, schon unter den ersten Kaisern, war diese sittenlose mit orientalischem Aberglauben erfüllt, ... die Orakel der Götter hatten ihr Ansehen verloren, noch eh' sie gänzlich verstummten". Der „Weltgeist" habe in der „Weltherrschaft Roms zuerst die Geschichte als Universum angeschaut"; in Rom wurde „den Stoff aller Klimate und Völker" vermischt [V, 427f].
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seiner Ganzheit „Templum" [II/3, 418].21 Nach Nietzsche gefällt Cicero als Künstler das „Asiatische": „das war echt römisch" [III/4, 368.5]. Bei Schelling hat der Begriff der Selbstentäußerung verschiedene Bedeutungen.22 Die hier geeignete Bedeutung findet sich in seiner Darstellung des wegen mangelnden Ichbewußtseins relativ „selbstlosen Seyns" der Uranos-Zeit. In dieser hochmonarchischen Zeit (Uranos ist Alleinherrscher) hat eine strenge und alles umfassende Gesetzlichkeit das Bewußtsein in engen Grenzen gehalten [XI, 391], Über die Römer meint Schelling etwas Ähnliches: Sie opfern den freien Geist dem staatlichen Absolutismus [Kap. 3.5], Die Konflikte zwischen Plebejer und Patrizier konnten nach Schelling „an dem großen Gang des Staates" nichts ändern. Der Staat „konnte nicht so gewollt, und nie mehr überhaupt kann der Staat Zweck seyn, ohne vom Gedanken der absoluten Ein- d.h. der Weltherrschaft erfüllt und getrieben zu seyn." In diesem Staat war die Person, der einzelne Mensch, „das höchste Augenmerk" der ausführlichen Gesetzgebung. Schelling hebt dann auch hervor, daß das römische Priestertum eine Staatswürde war [XI, 543f], Nietzsche sieht die römische Religion als „strenge Observanz der Gebräuche" bis ins kleinste Detail. „Auch für die Privatreligion gilt der Besitz, Weinberge, Acker, ja das Haus ist nach diesen Gesetzen limitiert." „Diese italische Religion mit ihrer Lust an der Abstraktion und der juristischen Scheidung der Götterrechte wäre bald erstarrt..." Für den Römer ist „die ganze Natur durch starre Linie zerteilt". „Die ganze Vorstellung, die die Natur in Linien zwingt, ist ein Produkt der Ebene! Vermutung daß ein langes Zusammenleben der Italiker in der Poebene stattfand" [II/3, 418f]. Die eben zitierten Ausdrücke: die Erstarrung, das strenge und detaillierte Gesetz in Zusammenhang mit der Abstraktion und mit der religiösen Lust dazu, auch die Entsprechung zwischen der natürlichen Ebene und der römischen Religion - all das fällt im Vergleich mit Schelling auf. Denn bei Schelling sind das Starre und das strenge Gesetz Zeichen der Herrschaft des ersten Prinzips, also insbesondere der starren und monarchischen Momente Uranos und dem Kronos [z.B. XII, 641], Weil 21
Vgl. Nietzsche in den Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen: „Die Römer sind aus demselben Grunde keine Künstler aus dem sie keine Philosophen sind. Das Allgemeinste, das sie [die Römer] wahrhaft nachfühlen, ist das Imperium..." In einer Anmerkung zum ersten Satz heißt es: „Hierüber die römische Mythologie. ... Die alten Griechen ohne normative Theologie. Jeder hat das Recht zu dichten und zu glauben, was er will" [II/4, 215]. - Diese scharfe Gegenüberstellung des unfreien (normativen) römischen Imperiums und der freien Griechen findet man auch bei Schelling, wie wir unten sehen werden.
21
Bekannt ist zumal die Selbstentäußerung als das Aufgeben der eigenen Gottheit durch Dionysos in seinem Uber- oder Untergang zur Menschheit des Knechtes Jesus [Kap. 3.2-3], Man findet auch die „Selbstentschlagung" des Philosophen, der im Suchen nach Gott seine Selbstheit loszuwerden versucht [XIII, 251-253; XI, 556f; vgl. Kap. 9 (§5)].
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bei Schelling die mythologischen Hauptmomente ungefähr den Hauptstufen des Naturwerdens und -Untergangs entsprechen, redet er auch von entsprechenden Bildern für die mythologischen Stufen in der Natur. So findet man, daß die „wüste" Herrschaft des ersten Prinzips der Dimension der flachen unorganischen „Breite" entspricht [XI, 444; XII, 356]. Daß die (rationalistische) Abstraktion für Schelling ein Zeichen der in Rom untergehenden Mythologie ist, wissen wir [Kap. 3.5]. Schon die Freiheitsschrift von 1809 redet von einem „Zerfall" des Mythischen, wobei Rom das Wiedereintreten des „Chaos" bedeutet, d.h. „den Moment, wo die Erde zum zweitenmal wüst und leer wird", als die Zeit der Christusoffenbarung [VII, 379], Wesendich dieselbe zeitliche Entsprechung von mythologisch-römischem Abfall und der Christus-Offenbarung findet man in der Spätphilosophie [XIV, 152f; vgl. XIII, 410], Nach der Spätphilosophie zeigt Rom noch gewisse Zeichen der Mythologie, d.h. der Wirkungen des Dionysos, so daß Rom keine reine Erscheinung des ersten Prinzips darstelle [siehe Kap. 12.4]. Dennoch gilt Rom für Schelling als Erscheinung der Herrschaft des ersten Prinzips [vgl. Kap. 6.3.c].
4.4.d Das Christentum In der „Encyclopädie der klassischen Philologie" redet Nietzsche von „der alles verzehrenden Bedeutung des Religiösen im Beginn des Christenthums, das die Kultur und den Staat negirte". Diese „übermäßige Einzelentwicklung" 23 des Religiösen vergleicht Nietzsche mit dem übermäßigen Wissen der neuzeitlichen Menschen, welche die politischen, religiösen und künstlerischen Triebe verkümmern lassen. Den Gegensatz sieht er in der „Harmonie" all jener Triebe bei Äschylus [II/3, 370]. Das „Verzehrende" jenes einseitig Christlich-Religiösen findet eine Parallele in Schellings frühen Philosophie der Kunst: Das Christentum als Religion der Unendlichkeit „vernichtet" die Endlichkeit als die Formen der griechischen Religion [V, 432f], Das hatte die griechische Tragödie, welche auch das Unendliche [siehe Kap. 2.11.a] erfuhr, nicht getan. Nach der Philosophie der Kunst ist die ideale Religion die in der Moderne noch unerreichte harmonische Vereinigung der heidnischen Endlichkeit mit der christlichen Unendlichkeit in einer neuen Mythologie [V, 448ff, 467f]. 24 Im Griechischen kommt das „mystische" Unendliche z.B. im Prometheus-
23
Vgl. die vorplatonischen Philosophen bei Nietzsche als die „Einseitigen" [II/4, 214], siehe Kap. 2.1. Vgl. auch die sokratisch-alexandrinischen Einseitigkeit des Denkens und die „Superfötation des Logischen", Kap. 5.6.
24
In der Philosophie der Kunst schreibt Schelling von einem „Abfall" des Heidentums als der Religion
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mythos vor, doch in „begrenzter" Weise [V, 419f], Was die griechische Tragödie vereinigen konnte - Endlichkeit und Unendlichkeit -, das soll auch in der neuen Mythologie vereinigt werden. In der Spätphilosophie denkt Schelling noch immer an diese Vereinigung, nämlich als die Einheit von Peripherie und Zentrum. Nietzsche fährt fort: Dann die Frage zu berühren über Heidnisch u[nd] Christlich: diesen zu entgegnen, daß es keine eigentliche Scheidung ist: die Urfrage ist, pessimistisch oder optimistisch gegen das Dasein. Sowohl im Christenthum als im Heidenthum giebt es die ernsthaftesten Stellungen, zB. die Mysterien, der Untergrund der Tragödie, Empedokles; das ganze 6te Jahrhundert: während in der Verweltlichung der Kirche und ihren staatlichen Ansprüchen ein heidnisches, dh. optimistisches Element liegt. Warnung vor dem Ausdruck .griechische Heiterkeit'. 2 5 [Π/3, 370]
Bei Schelling findet man nicht nur keine eigentliche Scheidung zwischen Heidnisch und Christlich, sondern auch jene Urfrage. Denn Schelling sieht in der Herrschaft der nur negativen Philosophie das moralische „Seyn-Sollende aber nicht Seyende", das sich darum auch negativ gegen das bestehende Dasein verhält. In Nietzsches kurzen Bemerkungen zur Religionsgeschichte des Mittelalters und der Renaissance in der „Encyclopädie der klassischen Philologie" liegen zwei Hauptgedanken von Erstens „brachte die Renaissance einen Bruch hervor, an dem wir Alle zu leiden haben: von jetzt ab gibt es Gebildete und Ungebildete in Europa". Offensichtlich verwendet Nietzsche wiederum das mythische Bild des „Bruchs" für die Zerreißung in der neueren Wissenschaft.26 Der zweite Gedanke ist dieser: „Religionen sterben nicht, sie transfigurieren sich bloß". Er sieht „römische Mythologie in vielen Zügen" des italienischen Katholizismus [II/3, 348]. Beim späten Schelling findet man den folgenden Satz: „Wie hat sich an die Stelle des Christenthums im Lande der Hierarchie selbst [Italien]... eine moderne Mythologie gesetzt!" [XIV, 316; vgl. XI, 259]. Das „Sich-Transfigurieren" der Religionen bei des Prinzips der Endlichkeit oder der Erde, die nötig war, um die alte Geschichte abzubrechen und die neue, christliche, die der Religion des Prinzips der Unendlichkeit, beginnen zu lassen [V, 424]. 25
Vgl. „Ernst" oben in Kap. 4.2; siehe auch in Kap. 5.6. - Vgl. bei Nietzsche auch den schlechten Sinn der Verweltlichung, nämlich das römische Reich: Siehe unten Kap. 5.2.a (vgl. den Schlußteil von Kap 10). An der eben zitierten Stelle bei Nietzsche bedeutet „Verweltlichung" einen Begriff wie die griechische „Endlichkeit" in Schellings Philosophie der Kunst. - Uber ein „heidnisches" Element in der Kirche redet auch der späte Schelling [XI, 259f]; vgl. Kap. 8 (Christentum).
26
In einer Anmerkung hebt Nietzsche die Bedeutung des Individuums und dessen Freiheit in der Vorgeschichte der Renaissance hervor: „Parteikämpfe entwickeln das selbstbewußte Talent. Alles auf Macht und persönliche Tüchtigkeit gerichtet" [II/3, 348]. Vgl. Schellings bekannten Vorbehalt über die (moderne) demokratische Machtentfaltung, daß sie nämlich leicht „der Preis eines mächtigen Wollens und eines großen Talents" wird. „Denn in dem Verhältniß, als die Persönlichkeit, wir nothwendig auch das Talent befreit..." [XI, 543],
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Nietzsche könnte Schellings Begriff der Beziehung vom dionysischen Heidentum und Christentum beschreiben [Kap. 3.3, 3.5]. Nietzsches kurze Ubersicht über die Geschichte der deutschen Philologie seit dem Humanismus hat als Hauptstationen Reformation, Orthodoxie und Aufklärung. In der Reformation „verschlang der Ernst der religiösen Interessen" den Humanismus, obschon „ein Verkehr mit den Alten übrigblieb, um die Bibel zu verstehen..." [II/3, 364]. In der Interpretation der Reformation ist diese Ansicht zwar keine ungewöhnliche, aber eine ähnliche Ansicht findet man jedenfalls in Schellings Begriff des vielmehr religiösen als wissenschaftlichen Interesses der Reformation [XI, 264].27 Sie erinnert an das Einseitige des Religiösen bei der ersten Erscheinung des Christentums [oben], Nietzsche beschreibt die Wirkung der Orthodoxie wie folgt: „Jetzt trat eine Starrheit des protestantischen Dogmatismus heraus, bei dem alles erfror. Ungeheure Verödung durch den 30jäh[rigen] Krieg" [II/3, 365]. Das entspricht Schellings mythischer Schilderung der „mechanischen", „dürren", gesetzlichen protestantischen Orthodoxie [X, 403; XIV, lOOf]. Die Worte „starr" und „erfroren" kennzeichnen bei Schelling den Zustand, in welchem das erste Prinzip das zweite, dionysische, ausschließt, wie wenn die Wärme vom Wasser ausgeschlossen wird und das starre Eis zurückbleibt [XII, 167]. Auch die Ode ist ein Bild des ersten Prinzips im Ausschließen des Dionysos [XII, 182; vgl. XIII, 224]. Auf Schellings mythischen Begriff der Orthodoxie werden wir noch zurückkommen [bes. Kap. 12.3.c, 12.4],
4.5 Aus Nietzsches Vorarbeiten zur „Geburt der Tragödie" Daß die Geburt der Tragödie zum größten Teil aus früheren Arbeiten zusammengesetzt wurde, ist bekannt. Die Abschnitte §1-§10 entsprechen im allgemeinen dem Vortrag Die dionysische Weltanschauung aus dem Jahre 1870. Zur Vorbereitung dieses Vortrags wurden offensichtlich zwei andere, sich nahe verwandte Schriften aus demselben Jahre verwendet: Die Geburt des tragischen Gedankens und Das griechische Musikdrama. Im Folgenden behandeln die Abschnitte 3.5.a-d hauptsächlich Inhalte dieser zwei Schriften, die Abteilungen 3.5.e-g Inhalte der Schrift Die dionysische Weltanschauung,28 27
Trotzdem ist die Reformation für Schelling ein mehrdeutiges Ereignis: Siehe unten Kap. 9 (am
28
All diese Arbeiten finden sich in III/2 der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken. In Zusammenhang mit gewissen Inhalten werden wir uns zusätzlich sowohl auf nachgelassene
Schluß).
Fragmente Nietzsches aus derselben Zeit [bes. III/3] als auch auf die Geburt der Tragödie [III/1 ] beziehen. Inhalte aus einer anderen Schrift Nietzsches aus dem Jahre 1870, nämlich Sokrates und die Tragödie, werden in Kap. 5.1 betrachten.
Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
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4.5.a Zauber In der Schrift Das griechische Musikdrama steht zu lesen: Dieses Drama beginne, „indem der Mensch außer sich ist und sich selbst verwandelt und verzaubert glaubt. Im Zustand des .Außer sich Seins', der Ecstase ist nur ein Schritt noch nöthig: wir kehren nicht wieder in uns zurück, sondern gehen in ein anderes Wesen ein, so daß wir uns als Verzauberte geberden" [III/2, llf]. Für dieselbe Sache verwendet Schelling dieselben Ausdrücke [Kap. 3.2-3]. Sehr ähnlich verwendet Nietzsche den Begriff „Zauber" in der Geburt der Tragödie. „Nach der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes [des Apollinischen und des Dionysischen] fühlte ich eine starke Nöthigung, mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen: denn erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein [und]... das Uiproblem der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zu können..." [III/l, 100 (§15)]. Nach Schelling gedeutet, beschreibt Nietzsche den Schritt von Bezauberung als dem Zustand der Ungegenständlichkeit zu entzaubertem, gegenständlichen Verstehen. Er hat eine höhere, geistigere Stufe der Erkenntnis erreicht. An einer anderen Stelle in der Geburt der Tragödie erklärt Nietzsche, daß der tragische Mythos weder den griechischen Dichtern noch den griechischen Philosophen „durchsichtig" geworden sei, so daß dieser Mythos bei den Griechen nicht „seine adäquate Objektivation" finde. Nietzsche selbst aber begreift ihn „aus dem vertieften Anschauen und Uberschauen des Ganzen" [III/l, 105 (§17)]. Hier hat er wieder denselben Begriff wie Schelling gebraucht, um die Befreiung vom mythischen Zauber zu schildern, nämlich die Freiheit der Anschauung, der Objektivität. Nach Nietzsche ist es sogar Schiller und Goethe nicht gelungen, „jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt" [III/l, 127 (§20)]. Aber Nietzsche hat sie erbrochen, er hat die Geistesfreiheit.29 Bei Nietzsche ist der dionysische „Rausch", der Selbstvergessen bewirkt, ein bezauberter, ekstatischer Zustand [z.B. III/2, 46]. Nach der Geburt der Tragödie verschwinden in der dionysischen Überflutung der apollinischen Welt „Grenzen und Maassen" [III/l, 37.8]. Bei Schelling gehen im Vergessen Unterschiede und Bestimmungen in das Unterscheidungs- und Bestimmungslose unter, so daß sie nicht mehr erkannt werden [XIII, 208; vgl. XI, 409]. Der Grundbegriff ist das Apeiron als das Unbestimmte [Kap. 1.1-2; vgl. Kap. 8 (§1)]. 29
Vgl. bei Schelling die höchste Freiheit als (objektive) philosophische Erkenntnis im Zentrum oder in der Umkehr [XIV, 278]; hierüber bes. unten in Kap. 10; siehe auch Kap. 3.7. - Im allgemeinen sieht Schelling „die Methode, welche zum Gesetz ihres Fortschreitens eben dieses hatte, daß was im ersten Anlauf als Subjekt oder Princip erscheint, im folgenden Moment zum Objekt geschlagen Nichtprincip wird" [XI, 334], Siehe „Methode" in Kap. 11.5.
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Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
4.5.b Lösung der Glieder In der Geburt des tragischen Gedankens schreibt Nietzsche: ...in der älteren Musikperiode hatte die eine Hauptgattung, die ruhige, auch den Beinamen der .dithyrambischen', zum Beweise, dass der dionysische Dithyrambus in seinen ersten kunstmässigen Nachahmungen sich zu seinem Original, der Freudenhymne der dionysischen
Masse verhielt, wie die steifen ägyptisirenden
Götterbilder der älteren
griechischen Kunst zu der im Homerischen Epos geschauten olympischen Götterwelt. J e kräftiger aber der apollinische Kunstgeist heranwuchs, um so freier durfte auch der Brudergott Dionysos seine Glieder lösen; zur selben Zeit als der erstere zum vollen gleichsam unbeweglichen Ausdrucke der Schönheit kam, in der Zeit des Phidias, deutete der andere in der Tragödie die Welträtsel und Weltschrecken und sprach in der tragischen Musik den innersten Naturgedanken, das Weben des Willens in und über allen Wesen aus." [ Π Ι / 2 , 76]
Zunächst einmal findet man bei Schelling eine Parallele zwischen Phidias und der Tragödie, nämlich der von Äschylus.30 An derselben Stelle findet man, daß die spätere Kunst sowohl in der Skulptur als auch in der Tragödie (Sophokles) über diese als eine vorherige Stufe fortschreitet. Das sind Inhalte von Schellings Kunstgeschichtlichen Anmerkungen zu J.M. Wagners Bericht über die äginetischen Bildwerke (1817) [IX, 160f]. Sodann findet man in Schellings Philosophie der Mythologie eine Auslegung der Entwicklung der Bildhauerkunst als von den zunächst steifen bis zu den beweglichen Götterbildern. Nach griechischem Mythos hat Dädalos, der Begründer der griechischen Bildhauerkunst, den Göttern „fortschreitende" Beine gegeben. Schelling erinnert an Plutarchs Erzählung eines analogen ägyptischen Mythos über die zusammengewachsenen Beine des Amun, die Isis löst [XII, 652661]. An einer anderen Stelle erwähnt Schelling den alten Apollo von Amyklä, dessen Beine „auf eine solche Weise eingewickelt sind, daß er sich nicht bewegen, nicht schreiten kann" [XII, 379]. Nicht nur bedeutet diese Entwicklung für Schelling den Fortschritt der Freiheit, sondern auch vertreten die Bilder mythologische Stufen: Der Stein und das Starre sind Bilder des ersten Prinzips, das vor Dionysos zu weichen hat. Bei Schelling ist die befreiende göttliche Kraft in der Mythologie die dionysische. In Nietzsches Geburt des tragischen Gedankens wild Dionysos der „Befreier" genannt [III/2, 78]. In der Schrift desselben Jahres, Die dionysische Weltanschauung, weist Nietzsche - wie freilich auch schon bei Friedrich Creuzer zu finden ist - darauf hin, daß Dionysos ό λ ύ σ ι ο ς , Löser, Befreier, heißt [III/2, 50], Bei Schelling steht es in Zusammenhang mit der Ausführung über Dädalos, daß Dionysos der Gott ist, 50
Die Geburt der Tragödie selbst scheint dem Moment Äschylus in der Entwicklung der griechischen Tragödie zu entsprechen. Siehe Kap. 5.6 (am Schluß) und Kap. 5.7.
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der die Zeus-Götter von ihren Voraussetzungen als den alten Göttern „löst", sie in Freiheit setzt, somit ό λ ύ σ ι ο ς genannt wird [XII, 661].31
4.5.C Bacchus und die Orphiker Nach der Geburt des tragischen Gedankens sah sich die delphische Priesterschaft vor die Aufgabe gestellt, die von der anstürmenden neuen Gottheit Bacchus bedrohte apollinische Herrschaft aufzufangen.32 Das tat diese orphische Priesterschaft, die Verehrer des Apollo, indem sie „die tiefe Einwirkung des neuen Cult auf sociale Regeneration durchschaute und ihn gemäss ihrer politisch-religiösen Einsicht förderte, indem der apollinische Künstler mit bedachtsamer Mässigung aus der revolutionären Kunst der Bacchusdienste lernte..." [III/2, 76]. Bei Schelling sind die Orphiker zunächst die konservativen Gegner des BacchusKultus [XIII, 427ff], aber nicht, weil sie das dionysische Prinzip überhaupt verwerfen. Nach Schellings Auslegung sind die Orphiker grundsätzlich die griechischen Vertreter der wesensgleichen Mithras- oder Buddha-Religion [ebd, 432]; all ihre Götter (Mithras, Buddha, Apollo) haben das dionysische Prinzip in sich [ΧΠ, 210,501; siehe Kap. 3.5]. Die Orphiker stellen sich gegen das Bacchische nur, weil es die althergebrachte Ordnung des Lebens umwirft; es handelt sich wesentlich oder grundsätzlich um den Gegensatz zwischen einem alten ehrwürdigen und einem 31
In den Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie findet man beide Varianten des Namens: Dionysos (griechisch) und Dionysus (lateinisch). In der Geburt der Tragödie und in den folgenden Schriften schreibt Nietzsche gewöhnlich „Dionysus", aber die andere Schreibweise findet sich auch später, wie z.B. in den viel späteren Dionysos-Dithyramben. Schelling sieht den Ursprung des Namens in der konkreten Gestalt des olympischen Gottes Dionysos, Sohn der Semele, der bei den Griechen unter asiatischem Einfluß später als Bacchus hervortrat [XIII, 424f]. Für diesen Dionysos verwendet Schelling gewöhnlich den Namen Bacchus. „Dionysos" bezeichnet bei Schelling gewöhnlich das zweite Prinzip der Mythologie, den kosmischen Gott der Eleusinischen Mysterien, der seinen Namen von jenem ersten konkreten Dionysos hat [XIII, 427, 431, 436]. Der lateinische Name „Dionysus" kommt in Schellings Mythologie m.W. nach nur einmal vor, nämlich als der andere Name für Bacchus bei Cicero [XIII, 517, vgl. 425], In der Geburt des tragischen Gedankens gebraucht Nietzsche beide Schreibarten, vielleicht mit der Absicht, zwischen dem geschichtlichen G o t t Bacchus, als Dionysus, und dem kosmischen Gott der Mysterien, Dionysos, zu unterscheiden: Siehe III/2, 76.15, 83.17, 86.19. N u r an der Stelle 80.14 scheint sich die Regel nicht zu halten, wo nämlich auf Silen, den Begleiter des Bacchus - hier „Dionysos" -, hingewiesen wird. In der vorliegenden Schrift werden wir in der Regel „Dionysos" schreiben, es sei denn, daß „Dionysus" beim Zitieren von Nietzsche vorkommt.
32
So wie Schelling [XIII, 469f] sieht auch Nietzsche Bacchus in Zusammenhang mit dem Sieg der Griechen über die Perser, nämlich in der Geburt der Tragödie [III/l, 128 (§21)]. Vgl. bei Schelling die Unterstützung der Perser gegen die Athener durch den Orphiker Onomakritos [XIII, 478, 469],
130
Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
neuen verwirrenden Dionysos. Nach Schelling vertraten die ursprünglich geistigen Mithras-Verehrer eine gute, menschliche Ordnung des Lebens, z.B. in der Pflege der Natur und auch durch Gesetzbücher; zugleich haben sie die stets fortschreitende Mythologie wegen der darin vorkommenden unbeherrschten Erscheinungen des Bösen (Kronos, Typhon) verworfen [XII, 224f]. Die griechischen Orphiker haben sich mit ihrer Opposition gegen Bacchus grundsätzlich auch so verhalten. Aber mit der Zeit gelangten sie zur Bereitschaft, den neuen Mythos in das Orphische aufzunehmen, um eine neue, fortschrittlichere apollinische Ordnung herzustellen [XIII, 478f, 433; XII, 668; vgl. Kap. 2.11.a, Kap. 3.1], Wir können auf ein Beweisstück für Nietzsches Bekanntschaft mit Schellings Begriff des Orphismus und des Buddhismus hinweisen. Es befindet sich unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten aus der Zeit Ende 1870 bis April 1871, in Bd. III/3, S. 159.10: „Orpheus, antimythologisch, buddhistisch. [Darunter:] Pythagoras, wie Heraklit, verwirft die dionysischen Orgien." Der Vermerk stammt offensichtlich aus der Besprechung des Orphismus im Bd. III der Philosophie der Offenbarung [XIII], S. 432 und S. 434. Auf S. 432 heißt es: „Das Orphische ist in der griechischen Bildung eben das, was auf einer früheren Stufe die Mithrasidee oder der Buddhismus [ist] - also eigentlich das antimythologische Prinzip." Auf S. 434 steht: „Pythagoras hat die bacchischen Orgien und was dazu gehört gewiß nicht weniger als Herakleitos verworfen..."33
4.5.d Die Mittelwelt Nach der Geburt des tragischen Gedankens - so wie auch nach §7 der Geburt der Tragödie - empfindet der Bacchant die alltägliche Welt mit „Ekel". Aus dionyischem Rausch zurückkehrend, empfindet er den schweren Bruch zwischen jenem Bewußtseinszustand und der alltäglichen Welt. Es gibt aber eine „Mittelwelt", die im Zwischenraum zwischen dem bacchischen Rausch und der bestehenden Kunst entsteht und diese beiden in sich vereinigt, wodurch die Weltverneinung des Ekels umgebogen oder gebrochen wird. So wie auf der Bühne im Schauspiel wird der dionysische Rausch künstlich in der Rolle des dithyrambischen Chors gespielt.
35
In Nietzsches Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen findet man eine Ausführung über den Orphismus [ I I / 4 , 220n], die in wesentlichen
Punkten mit Schellings Ansicht
übereinstimmt: Der Orphismus stand neben H o m e r (als eine andere Religionsform) und war im Widerspruch mit dessen Geist [Schelling, XIII, 422-435; vgl. oben]; bei Hesiod seien Anklänge an den Orphismus zu vernehmen [Schelling, XII, 592-595]; Onomakritos suchte, die orphische Lehre und den Volksglauben in Übereinstimmung zu bringen [Schelling, XIII, 478, vgl. 469], Daß Nietzsche an derselben Stelle im Orphismus eine „unverwüstliche Lebenskraft" und (darum) einen „tiefen Gehalt" findet [ebd], entspricht Schellings dionysischem Begriff des Orphismus [Kap. 3.5].
Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
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„Vom Standpunkt der apollinischen Welt war das Hellenentum zu heilen und zu sühnen. Apollo[,] der rechte Heil- und Sühngott[,] rettete den Griechen von der hellsehenden Ekstase und dem Ekel am Dasein..." [III/2, 87f], So wurde die Tragödie in der künstlichen Darstellung des Dionysischen geboren [vgl. Kap. 5.2.a]. Man beachte zunächst die folgende Parallele bei Schelling. Sie stammt aus den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), wo Schelling das „sichtbare Drama" der menschlichen Geschichte als eine Tragödie beschreibt. Uber dieses Drama meint Schelling, daß es als ein „Mittleres" zwischen den ideellen Bildern der Poesie in uns und der „Plastik" der Natur außer uns entstehe: I m Menschen entsteht ein Mittleres, nämlich das sichtbare Drama, weil dieses seine geistigen Schöpfungen zugleich in der Wirklichkeit darstellt. Daher die Geschichte am besten als eine große Tragödie anzusehen ist, die auf der Trauerbühne dieser Welt aufgeführt wird, wozu sie die bloßen Bretter hergibt, indeß die Handelnden, d.h. die darauf vorgestellten Personen, von einer ganz anderen Welt sind. In jener Welt ist alles, was in dieser ist, nur auf poetische, d.h. geistige Weise, und kann darum viel vollkommener, auch auf geistige Art, mitgeteilt werden (der Geist ganz Gesicht, ganz Gefühl). D o r t sind die Urbilder, hier die Abbilder [VII, 480; vgl. XI, 206]. 34
Nach Schellings spätphilosophischer Mythologie sind die Urbilder die „Vorstellungen" der Mythologie, die aus dem „theogonischen Grund" hervorwachsen: „Es sind die ursprünglichen, die an sich theogonischen Kräfte, deren Streit im menschlichen Bewußtseyn die mythologischen Vorstellungen erzeugt"; darum ist die Mythologie eine Art von „Inspiration" [XII, 130, vgl. XIII, 173]. Die mythologischen Vorstellungen werden in der Symbolik der Kunst äußerlich nachgebildet p a i , 248ff], In der Geburt der Tragödie läßt Nietzsche ein sehr ähnliches Schema erkennen. Zunächst einmal sind die Mythen aus dem dionysischen Grund hervorwachsende Vorstellungen [z.B. III/l, 141, 150]. Sodann findet man damit in Zusammenhang die „Mittelwelt" als die Darstellung des Mythos im tragischen Drama: „Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen Welt des Mythus sei" [III/l, 130 (§21); vgl. III/3, 392; vgl. Kap. 2.11.a]. 34
Sowohl bei Schelling [z.B. XI, 468, 543; XIII, 6] als auch bei Nietzsche [IV/1, 39] findet man das „Schauspiel" der menschlichen Geschichte. Um dieselbe Zeit der Abfassung der Stuttgarter Privatvorlesungen hat Schelling einen Begriff des ekstatischen Wahnsinns entworfen, den er mit der Wirkung der Hypnose vergleicht, nämlich in der Schrift Clara oder Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Dieser Wahnsinn entsteht durch die Nähe des Menschen zum Göttlichen. Schelling gebraucht auch mythische Worte, um die Erfahrung zu beschreiben: „entzückt", „hingerissen", „trunken" [IX, 72]. Die Verwandschaft mit der Erfahrung der bacchischen Orgien ist offenbar.
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Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
In der Geburt des tragischen Gedankens schreibt Nietzsche über die Höhe der Erkenntnis bei Sophokles: „Auf dieser Stufe der Erkenntniss gibt es nur zwei Wege, den des Heiligen und den des tragischen Künstlers; beide haben gemein, daß sie bei der hellsten Erkenntniss von der Nichtigkeit des Daseins doch fortleben können, ohne in ihrer Weltanschauung einen Riss zu spüren". Den Riß spüren sie nämlich nicht, weil der „Schein", die Vorstellung, sie darüber erhebt [III/2, 91, vgl. 62]. 35 Bevor wir den Vergleich ziehen - den Vergleich in der Sache des Risses kennen wir schon -, betrachten wir einen weiteren, ergänzenden Inhalt bei Nietzsche. Für Nietzsche steht die tragische Kunst in Zusammenhang mit dem Buddhismus: „Der Illusionshintergrund der Tragödie ist der der buddhistischen Religion" [III/3, 125]. Für Schelling ist der ursprüngliche Buddhismus nicht nur wesensindentisch mit der Mithraslehre, sondern er stammt auch geschichtlich von dieser ab und hat daher denselben Ursprung wie die Mitraslehre [XII, 500]. Dieser Ursprung liegt in der Urania- oder Titanen-Zeit der Mythologie: Mithras bedeutet das Vermögen, die furchtbaren und widersprüchlichen Kräfte der Urania-Zeit geistig zu beherrschen, um dem Leben eine gute Ordnung zu geben [bes. XII, 234; vgl. Kap. 5.2.a]. Nun geht es für Schelling bei der Entstehung der Tragödie um die Erfahrung wesentlich desselben Entstehungsgrundes, nämlich des bacchischen Weltgrundes, und um wesentlich dieselbe geistige Beherrschung des Grundes durch die tragische Kunst. Daß nach Nietzsche jener „Hintergrund" gerade „Illusion" bedeutet, ließe sich bei Schelling gut verstehen, denn, wie wir schon gesehen haben [Kap. 3.1, vgl. 2.11.b], erkennt Schelling im mythischen Weltgrund die irrige Folge der ersten „Täuschung", des Falls des Urmenschen. Uber Hesiods Begriff der Göttin Apate, „Betrug", bemerkt er, daß sie „die Ur-Täuschung bedeutet, diejenige von der alle nachfolgenden, von der das ganze täuschungsvolle Leben des seinem Urseyn entfremdeten Menschen seinen Ursprung hat" [XII, 148]. Nach Nietzsche empfinden der Heilige und der tragische Künstler den Ekel „als Mittel zum Schaffen, sei dies nun ein heiliges oder ein künstlerisches" [III/2, 91, vgl. 62], Was die Kunst betrifft, denkt man wieder an die „Mittelwelt". Nietzsche gibt aber keinen Hinweis auf das Schaffen des Heiligen. Man könnte etwa an die heiligen Ordnungen oder Vorschriften für das Leben bei den Buddhisten und Orphikern, auch den Pythagoreern denken. 36 Nun wird nach Nietzsche in der Vision oder
35
Vgl. „Schein" in Kap. 6.3.a.
36
In Schellings Mythologie hat „heilig" allgemein die Bedeutung des (vom Unheiligen) „Abgesonderten" [XII, 101; XI, 373]. Die Buddhisten z.B. „sonderten sich von einer der Entzweiung und Zerstreuung hingegebenen Welt ab", d.h. sie zogen sich zu dem Einen als Buddha zurück [XII, 502]. - In Nietzsches Vorlesungen über die vorplatonische Philosophie läßt die Besprechung des Pythagoras an einen solchen Heiligen denken: Pythagoras gewann Einfluß „als Gründer eines abgesonderten, an strenge Ritualgesetze gebundenen Ordens... E r tritt uns entgegen als religiöser Reformator: ganz sicher ist[,] daß er mit den Orphikern in der Lehre von der Seelenwanderung
Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
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Vorstellung des tragischen Dichters das Leben an die Quelle des Daseins zurückgeführt, wo es durch tragische Weisheit geläutert und wie neu geboren wird. Dadurch wird jener Riß durch das Dasein nicht geheilt, so wie es auch nicht durch das Werk des Heiligen geheilt wird. Doch heißt es bei Nietzsche, daß in beiden Werken der „Schein" oder die Vorstellung den Menschen von Schrecken und Ekel befreit. Die „Glorie der Weisheit" umhülle sie [III/2, 90f]. Diese Weisheit ist offensichtlich die geistig-apollinische, eine Weisheit, welche die dionysisch-musikalischen Universalien als die Grundwahrheiten [Kap. 2.11.a] mit dem alltäglichen Dasein weise vermittelt. An derselben Stelle, wo Nietzsche von der „Glorie der Weisheit" redet, findet man, daß gerade da „die Illusion, der Wahn auf seiner Höhe ist" [91, vgl. 62], Unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (Sommer 1870 - Januar 1871) findet man diese Notiz: „Indem die Tragödie eine Welterlösung ahnen läßt, gibt sie die erhabenste Illusion: die Freiheit vom Dasein überhaupt" [III/3, 124]. Man denkt etwa an die selige Vision des alten Odipus, den Schlußteil von Sophokles' Odipus zu Kolonus, oder an die Jakchos-Vision der Eleusinischen Mysterien. In demselben Zusammenhang gibt es einen weiteren Vergleich. Nietzsche schreibt: Jetzt wird es nicht mehr unbegreiflich dünken, dass derselbe Wille, der als apollinischer die hellenische Welt ordnete, seine andre Erscheinungsform, den dionysischen Willen in sich aufnahm. Der Kampf beider Erscheinungsformen des Willens hatte ein ausserordentliches Ziel, eine höhere Möglichkeit des Daseins zu schaffen und auch in dieser zu einer noch höheren Verherrlichung - durch die Kunst - zu kommen. [ΙΠ/2, 91]
Apollo, der Geist der Griechen, nimmt Dionysos in sich auf: Dasselbe meint Schelling im Begriff der Vereinigung des ersten Prinzips mit dem zweiten, dionysischen Prinzip im griechischen Apollo als dem Dritten; alle drei Prinzipien sind für Schelling geschichtliche Potenzen, daher Willen [Kap. 3.1]. 37 Nach Schelling ist Apollo in seiner letzten Bildung „durch alle Stufen [der griechischen Mythologie] hindurchgegangen" und hat dadurch die verschiedenen geschichtichen, stufenmäßigen Dionysien in sich aufgenommen, so daß er den höchsten griechischen Begriff der Einheit des Ganzen bedeutet [XII, 668, vgl. 210]. Die Phrase „höhere
u[nd] gewissen religiösen Observanzen übereinstimmte... In der tieferen Deutung des längst geheiligten Dienstes der chthonischen [uralt-vergangenen („untergründigen")] G ö t t e r sucht er sein Heil. E r lehrte die irdische Existenz als einen Zustand der Buße für alte Frevel begreifen... Der Fromme, in geheimnißvollen Feiern geweiht, der sein ganzes Leben hindurch heilige Gebräuche befolgt, kann aus dem Kreise ewigen Werdens ausscheiden" [ I I / 4 , 254f; vgl. den Ausdruck „abgelegenes Heiligthum", ebd, 263.30], 37
Wir erinnern daran, daß für Schelling der apollinische Geist die zwei ersten Prinzipien an sich hat [Kap. 2.11 .b, 3.1, 3.5], Über „Erscheinungsformen des Willens" bei Nietzsche im Vergleich mit Schelling siehe Kap. 6.3.a.
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Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
Möglichkeiten des Daseins" könnte daher Schellings eigener Ausdruck für die dionysisch-apollinische Wirkung sein.
4.5.e Der Weltgrund als Wahrheit Auch in der Schrift Die dionysische Weltanschauung geht es um die Mittelwelt zwischen der apollinischen Schönheit, der Beherrschung durch das Maß, und dem widersprüchlichen Inhalt dionysischer Erfahrung. Hier aber wird die Beziehung zwischen dem Weltwesen einerseits und der künstlerischen Gestaltung andererseits näher bestimmt. Der dionysische „Rausch des Leidens ... dringt in der Allmacht seines Wesen[s] in die innersten Gedanken der Natur, er erkennt den furchtbaren Trieb zum Dasein und zugleich den fortwährenden Tod alles ins Dasein Getretenen; die Götter, die er [der Rausch] schafft, sind gut und böse, ähneln dem Zufall, erschrecken durch plötzlich auftauchende Planmäßigkeit, sind mitleidlos und ohne die Lust am Schönen."38 Diese Götter aus dem Grund der Natur standen den schönen olympischen gegenüber. Nie war ... der Kampf zwischen Wahrheit [als die des Naturgrundes] und Schönheit größer als bei der Invasion des Dionysosdienstes [d.h. Bacchus]: in ihm enthüllte sich die Natur und sprach von ihrem Geheimniß mit entsetzlicher Deutlichkeit, mit Ton, dem gegenüber der verführerische Schein fast seine Macht verlor. Aus Asien entsprang dieser Quell: aber er mußte in Griechenland zum Strome werden, weil er hier zum ersten Male fand, was ihm Asien nicht geboten hatte, die reizbarste Sensibilität und Leidensfähigkeit gepaart mit der leichtesten Besonnenheit und Scharfsichtigkeit. Wie rettete Apollo das Hellenenthum? Der neue Ankömmling wurde in die Welt des schönen Scheins, in die Olympierwelt, hinübergezogen: es wurde ihm viel von den Ehren der angesehnsten Gottheiten, des Zeus z.B. und des Apollo, geopfert. [ΙΠ/2, 54f]
Wie wir schon gesehen haben, ist der „besonnene" (nüchterne, geistige) Apollo ein Schellingscher Begriff, wie z.B. im „Geheimniß der wahren Poesie", nämlich „in demselben Augenblick trunken und nüchtern zu seyn" [vgl. Kap. 4.5.g]. Der wichtigste Inhalt des obigen Zitates ist aber die „Wahrheit" des dionysischen Weltgrunds. Sie hat die Bedeutung der Zerstörung der apollinischen Illusionen; sie fordert eine noch höhere Überwindung durch das Apollinische. Man kann aber einsehen, daß der Weltgrund jede aus ihm entstehende apollinische Scheinwelt des Heils zerstören muß, auch z.B. die olympische (wie in §9 der Geburt der Tragödie): Denn die tragische Wahrheit des Grundes muß die Wahrheit über den aus ihm 38
Die innersten „Gedanken" der Natur (so wie auch die überraschende „Planmäßigkeit") weisen auf Begriffe hin, die philosophsch zu denken wären [vgl. z.B. die Musik in Kap. 2.11 .a]. U b e r den „Trieb zum Dasein" und „Lust" siehe Kap. 6.3.a; vgl. Kap. 6.4.a. Vgl. „Zufall" in Kap. 6.2.c.
Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
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hervorwachsenden Schein enthalten. Dies ist auch Schellings Ansicht: Keine apollinische Idee, kein göttlicher Geist, weder Apollo noch Jakchos, kann die Zerreißung und den Tod aufheben. Die widersprüchlichen Kräfte des Grundes vertreten diese Wahrheiten als unüberwindliche, ewig feststehende.
4.5.f Ein Kreuz unter Rosen Nietzsche schreibt: „Der Grieche kannte die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins, aber er verhüllte sie, um leben zu können: ein Kreuz unter Rosen versteckt nach dem Goethischen Symbol" [III/2, 52], 39 Man vergleiche Schelling: „Die homerische Götterwelt schließt stillschweigend ein Mysterium in sich, und ist über einem Mysterium, über einem Abgrund gleichsam errichtet, den sie wie mit Blumen zudeckt" [XII, 649]. Das verborgene Mysterium, der Abgrund, ist der Weltgrund, der später mit Bacchus in neuer Erscheinung in die griechische Wirklichkeit einbricht. Das Gleichnis der Blumendecke besagt bei Schelling die herrliche griechisch-homerische Uberwindung der vergangenen alten Götter, die in Homers Dichtung zum Grunde der blühenden, poetischen griechischen Welt werden [siehe Kap. 5.3]. In der Geburt der Tragödie spricht Nietzsche einen sehr ähnlichen Gedanken aus: Die schrecklichen titanischen Mächte wurden „überwunden, jedenfalls verhüllt"; „aus der ursprünglichen titanischen Götter-ordnung des Schreckens wurde durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen" [III/l, 32 (§3)].40 Bei Schelling sind Rosen - sie kommen in Zusammenhang mit der dionysischen Kybele-Verehrung vor - ein Zeichen der Kultur [XII, 362; vgl. Rosen in Kap. 12.2.b].
39
Vgl. folgendes aus Nietzsches nachgelassenen Fragmenten aus der Zeit 1 8 6 9 / 7 0 : „Die griechische Götterwelt ist ein wehender Schleier, der das Furchtbarste verhüllte.... Ein Kreuz unter Rosen umhüllt, wie Goethe in den Geheimnissen" [III/3, 77],
40
Die Kunst ist nach Nietzsche zur „Ueberwindung" der „Naturwirklichkeit" gegeben [ I I I / l , 147 (§24), vgl. 151, 95], Vgl. bei Schelling die Kunst „im weiten Sinne der Griechen": Prometheus verleihe den Menschen die „Behandlung des Feuers", somit eröffne er ihnen „den Weg zu allen K ü n s t e n " . Dazu gehört z.B. der „Gebrauch aller Mittel, sich v o r der Unbill der Witterung zu schützen" und die Kunst, „die Thiere sich dienstbar zu machen" [XI, 484f],
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Kap. 4: Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen
4.5.g Der Höhepunkt im Nebeneinander von Besonnenheit und Rausch Nach Nietzsches Schrift über die Dionysische Weltanschauung „spielt" in der Tragödie „der Künstler mit dem Rausche". Dieser Zustand läßt sich nur gleichnißweise begreifen, wenn man ihn nicht selbst erfahren hat: es ist etwas Ahnliches, wenn man träumt und zugleich den Traum als Traum spürt. So muß der Dionysosdiener im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander zeigt sich das dionysische Künstlerthum. Dieses Nebeneinander kennzeichnet den Höhepunkt des Hellenenthums... [ Ι Π / 2 , 47f]
Dieser „Höhepunkt" hat große Ähnlichkeit mit Schellings „Geheimniß der wahren Poesie": „in demselben Augenblick trunken und nüchtern zu seyn" [Kap. 3.4]. Man vergleiche auch den folgenden Satz aus Schellings System des transzendentalen Idealismus·. Als Transzendentalphilosoph sei „man immer zugleich das Angeschaute (Producirende) und das Anschauende" [III, 351]. Als „apollinische" Begeisterung enthält jenes Geheimnis für Schelling das Trunkene der dionysischen Begeisterung einerseits und andererseits das Nüchterne der geistigen Besonnenheit. Solches „Nebeneinander" - um Nietzsches Wort zu gebrauchen - von Trunken und Nüchtern bezeichnet für Schelling die Höhe der hochgeistigen griechischen Kunst, z.B. Homer [siehe Kap. 5.3].41 Nach der Gehurt der Tragödie gibt es, z.B. in der Tragödie, den griechischen Künstler, der „zugleich Rausch- und Traumkünstler" sei: „als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und •wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand, d.h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde offenbart" [HI/1, 26f (§2)]. Dieser „Traum" - die mythische Vorstellung des Künstlers - bedeutet noch keine objektive Nüchternheit, aber dazu gibt er, wie der alte Mythos selbst, den nötigen Anfang; denn auch er schafft die „Mittelwelt". Für eine spätere Geistigkeit liefert er den Stoff für eine besonnene und wahrhaft apollinische Kunst.
41
Vgl. in der Geburt der Tragödie·. Euripides sei der „erste Nüchterne unter lauter Trunkenen" [III/1, 83; vgl. 123.34]. Als ein nur Nüchterner gehörte er auch für Schelling zur Zeit der werdenden alexandrinischen Wissenschaft.
5 Problembereiche in der „Geburt der Tragödie" (1872) 5.1 Sokrates als Fortschritt In der folgenden Diskussion haben wir es hauptsächlich mit der Geburt der Tragödie zu tun; außerdem wollen wir eine vorbereitende Schrift Nietzsches über Sokrates, nämlich Sokrates und die Tragödie aus dem Jahre 1870 [III/2, 22-41], in den Vergleich einbeziehen. Während in beiden Schriften wesentlich dieselben Ansichten vorkommen, lassen gewisse Ausdrücke der früheren Schrift bedeutsame Zusammenhänge erkennen. Wir knüpfen an die Besprechung über Sokrates in Kap. 2.9 an [vgl. Kap. 4.4.b], Der Sokrates der Schellingschen Spätphilosophie und der Sokrates der Geburt der Tragödie scheinen zunächst Gegensätze zu sein. Bei Schelling ist Sokrates der „wahre Dionysos der Philosophie" POI, 284]. Dagegen erkennt Nietzsche „in Sokrates den Gegner des Dionysus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt..." Aber Nietzsche grenzt diese Gegnerschaft auf bedeutende Weise ein: „Insofern der Kampf [des Sokrates] gegen das Dionysische der älteren Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus, den neuen Orpheus..." [HI/1, 83f (§12)]. Bei dieser älteren Kunst handelt es sich für Nietzsche vor allem um die große Tragödienkunst von Aschylus und Sophokles, eine Kunst, die durch die neue Wissenschaftlichkeit, insbesondere wie Euripides sie in der neuen Tragödie vertritt, zerstört wird. Darum ist diese Gegnerschaft ernst zu nehmen.1 Trotzdem stellt sich die 1
Schellings Ansicht über Euripides ist sehr ähnlich wie die von Nietzsche. In der Philosophie der Kunst schreibt er, daß es „für das ganze Wesen der Tragödie zerstörend" sei, wenn Götter, so wie bei Euripides, „durch ihre bloße Dazwischenkunft heilen können", denn so sei das Uebel selbst nicht mehr ein wahrhaft tragisches; der deus ex machina sei „eversiv" [zerstörend] für das Wesen der Tragödie [V, 703]. Nach Schelling verändert Euripides die Mythen auf eine oft frevelhafte Weise; darum führe er zur Erklärung die Prologe ein, die nur einen anderen Beweis für den Untergang der tragischen Kunst darstellen. Euripides wende „die stärkeren Mittel materiellen Reizes" an; er sei „groß in der Darstellung der Leidenschaft". „In dem Bestreben, dem groben Sinne zu schmeicheln, und diesen gleichsam zu beruhigen, sinkt er nicht selten zu den gemeinsten Motiven herab, die etwa ein moderner Dichter und zwar von den schlechtesten brauchen könnte, z.B. daß er die Electra zuletzt den - Philades heiraten läßt" [ebd, 709f; vgl. Kein, 59f]. In Euripides' Tragödie Electra spricht Philades kein Wort, er ist nur Waffenbruder des Orest. In der Geburt der Tragödie [§17] schreibt Nietzsche in ähnlicher Weise von der Abschwächung des Mythos und von den affektierten, heftigen Leidenschaften in den Euripideischen Tragödien, auch vom Held der Schaubühne bei Euripides und den Schriftstellern nach ihm: „Man suchte nach einer irdischen Lösung der tragischen Dissonanz; der Held, nachdem er durch das Schicksal hinreichend gemartert
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Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
Frage, ob es vielleicht in der „sokratischen" Folgezeit der Wissenschaft ein Dionysisches der Kunst gäbe, das sich mit Sokrates vertragen würde. Bei Schelling ist Dionysos selbst als Vermittler des Höheren gerade auch Zerstörer [z.B. XII, 634]. Jede Stufe in Schellings Mythologie ist in irgendwelchem Maß auch eine dionysische Erscheinung und unter sich befinden sich die Stufen gewöhnlich im Streit. Dies stimmt insbesondere für den Gegensatz zwischen der indischen Religion - ihr unwirksames dionysisches Prinzip ist Schiwa - und dem Buddhismus, der das Dionysische in kräftiger, realer Weise in sich hat: Die indische Religion versuchte, den neuen Buddhismus (kronisch) auszumerzen [XII, 507, 514]. In Schellings Mythologie ist der dionysische Fortschritt immer ein umstrittener, manchmal auch ein schwer umkämpften In der Darstellung der Erscheinung des Bacchus und dessen Wirkung hebt Schelling die Gegnerschaft der Orphiker hervor. Das bedeutet nicht, daß die Orphiker nichtdionysischer Natur waren - vielmehr hatten sie Dionysisches in sich [Kap. 3.5] -, doch im Interesse der alten Kultur bekämpften sie das Bacchische: Die Oiphiker waren der Ansicht - die Schelling für begründet hält -, daß die sich immer neu entwickelnde Mythologie nur fortschreitende Verwirrung bedeutete; dadurch wurden böse Mächte entbunden, die durch die orphische Ordnung gebunden waren. Aber die Opposition hatte keinen Erfolg; dazu zitiert Schelling den bekannten Mythos der Zerreißung des widerstehenden Orpheus durch die bacchischen Mänaden [XIII, 430f]. Nach Schelling waren die Orphiker wesentlich eine konservative Kraft, die erst durch Kämpfe lernten, das neue Dionysische zu begreifen und in die eigene Begriffe einzuordnen [Kap. 3.2]. Daß sie dies konnten, hing mit ihrer eigenen dionysischen Natur zusammen [Kap. 3.5, Kap. 4.5.C],
Bei Nietzsche sind die Richter von Athen, die Sokrates verurteilen, gleichsam die Mänaden, die Sokrates zerreißen. Diese Richter vertreten die alte sozial-politische und künstliche Ordnung gegen Sokrates' fortschrittlichen Geist, in dessen Folge Schlechtes und Verwerfliches erscheint, nämlich die aufbrechende sokratischalexandrinische Kultur [Kap. 4.4.b]. Sokrates schreitet über das alte Dionysische hinaus und wird von dessen Mänaden zerrissen. Wäre nun Sokrates eine dionysische Gestalt, so könnte man an den Mythos der Zerreißung des dionysischen Zagreus in §10 der Geburt der Tragödie erinnert werden: Aus dieser Zerreißung in die Vielheit entstanden schließlich die homerisch-olympischen Götter, eine viel höhere Erscheinung des Dionysischen [III/l, 68]. In seiner Vorlesung über die vorplatonischen Philosophen erklärt Nietzsche: „Orpheus [ist] das irdische Abbild des in dem Hades herrschenden Dionysus, des war, erntete in einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen einen wohlverdienten Lohn. Der Held w a r zum Gladiator geworden..." [III/l, 110], Den Ausdruck „tragische Dissonanz" findet man auch bei Schelling [X, 116].
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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Zagreus.2... Orpheus [wird] von den Mänaden, Zagreus von den Titanen zerrissen" [Π/4, 220]. In Schellings Darstellung der Mysterien bedeutet Zagreus die (relative) Einheit der alten Zeit als eine durch die Fortschritte der neuen Zeit nun verlorene Einheit, die in Jakchos wiederhergestellt werden sollte [XIII, 482; vgl. XII, 273]. Die Parallele zu Orpheus liegt auf der Hand [vgl. Kap. 4.5.c]. Nietzsche selbst sieht Sokrates als den Vertreter eines Fortschrittes, der nie rückgängig gemacht wurde und auch nicht rückgängig gemacht werden sollte, auch wenn dieser Fortschritt auf dem Weg nach unten in die noch heute herrschende sokratisch-alexandrinische Kultur führte [§17-§23]. Die Geburt der Tragödie ist „aesthetische Wissenschaft" [21 (§1)], eine Wissenschaft, die ihren sehr korrekturbedürfigen Anfang gerade im „aesthetischen Sokratismus" des Euripides hatte [81 (§13)]. Um als Voraussetzung einer wirklich höheren Kultur - dessen Zeichen die Tragödie und die ästhetische Wissenschaft wären, - zu dienen, hat die sokratischalexandrinische Kultur dionysisch besiegt oder überwunden zu werden. In den folgenden Abschnitten wollen wir eine Reihe von Parallelen zu Schelling aufweisen, die mit dem Begriff solcher Uberwindung zu tun haben. Wie in der Geburt der Tragödie beginnt Nietzsche die Diskussion in der früheren Schrift Sokrates und die Tragödie nicht mit Sokrates selbst, sondern mit Euripides: „Der Todeskampf der Tragödie heißt Euripides" [III/2, 25], Aber in dieser Schrift ist Nietzsches Urteil über Euripides bemerkenswert freundlicher als in jener. „Was man aber auch für böse Einwirkungen von ihm ableitet, immer ist dies festzuhalten, daß Euripides mit bestem Wissen und Gewissen handelte und sein ganzes Leben in großartigerWeise einem Ideale geopfert hat." Sein Einsatz für dieses Ideal offenbare sich sogar als „der Heldengeist der alten marathonischen Zeit" [III/2, 28]. 3 Das „Ideal" kann eigentlich kein anderes als die Verständigkeit sein. So gesehen ist das Ideal dasselbe wie das Ergebnis der Mythologie bei Schelling: die Freiheit des Geistes, die Welt begreifend zu durchdringen oder sie wissenschaftlich zu verstehen [siehe z.B. XI, 516ff; III, 295ff]. Nur kommt es darauf an, wie der Geist die Welt und sich selbst versteht.4 2
Bei Schelling ist Dionysos Herr der mythischen Unterwelt [XII, 435ff, 474]. Im Kampf mit dem Widersacher [dem Ersten] geht er unter, aber sein Untergang ist produktiv oder fruchtbar: Aus seiner Vereinigung mit dem Ersten im Grunde - als aus einem Keim - entstehen neue, höhere Götter in der Erscheinungswelt. Dadurch drückt sich seine Herrschaft aus. Gehörte dem Ersten die Herrschaft im Grunde, so würde der Grund nur alles in die dunkle Zerstörung (Kontraktion des Ersten) zurückziehen.
3
Vgl. Schellings Ansicht der Beziehung zwischen dem „bei Marathon streitenden Aeschylos" und der Entwicklung griechischer Geistigkeit [XIII, 469].
4
In Sokrates und die Tragödie schreibt Nietzsche: „Bei Euripides ist der Dichter zum Halbgott geworden, nachdem derselbe durch ihn aus der Tragödie verbannt war" [III/2, 28]. Offenbar ist der neue Halbgott der menschlich-verstehende Geist. Denselben Ausdruck „Halbgott" findet man in der Geburt der Tragödie, nur ist in dieser Arbeit der neue Halbgott der „dämonische" Mann
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Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
Nach der Geburt der Tragödie ist die auch heute herrschende alexandrinischwissenschaftliche Kultur durch Glauben an die „Logik" gekennzeichnet [bes. §15]. Logik ist nach dem allgemeinen Begriff die Methode des Schlußverfahrens, und diesen Sinn hat die Logik in der Geburt der Tragödie [vgl. Kap. 6.3.a]. Uber die Gefahren der Logik in der Wissenschaft und über ihre Beziehung zur Philosophie hatte sich schon der junge Schelling zumal in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums sehr kritisch geäußert [siehe Kap. 4.4.b]. In der Spätphilosophie greift er Aristoteles' Kritik an der Gemeinwissenschaft auf: Jeder einzelne Forscher machte die ihm richtig dünkenden Subjekt- und Prädikatverküpfungen; so wurde die Zahl der Ansichten fast unbegrenzt erhöht. „Nur das Maß von Scharfsinn und Uebung, das jedem zukam, gab den Ausschlag" [XI, 356-359; vgl. V, 269f). In solcher Vereinzelung erkennt man die wissenschaftliche Zerreißung, welche durch die Moderne nur fortschreitet. Denselben Zusammenhang zwischen dem selbstischen Ich und der Wissenschaft scheint sich bei Nietzsche zu finden: Alexandrinische Wissenschaft stehe „im Dienst des höheren Egoismus" [III/l, 111 (§17)]. In Sokrates und die Tragödie liest man über die Tragödie in der Zeit vor Euripides, also bei Aschylus und Sophokles folgendes: „Denn das ist eben das Wunderbare jener ganzen Entwicklung der griechischen Kunst, daß der Begriff, das Bewußtsein, die Theorie noch nicht zu Worte gekommen war..." [III/2, 32]. Sodann heißt es: „Weil niemand die Weisheit der alten Kunsttechnik hinreichend in Begriffe und Worte umsetzen konnte, leugnete Sokrates und mit ihm der verführte Euripides jene Weisheit" [ebd, 34.2-5]. Im Urteil über die nicht zureichenden Begriffen scheint Nietzsche mit Sokrates und Euripides übereinzustimmen; also nicht das Begreifen als solches, sondern nur das unzureichende Begreifen der Tragödie scheint problematisch zu sein. Das scheint Nietzsche auch in der Geburt der Tragödie zu meinen, nämlich wo er von einer Wissenschaft schreibt, welche die alte Tragödie (und somit alle echte Tragödie) richtig zu begreifen versteht [vgl. III/l, 105f (§17); siehe auch Kap. 4.5.a]. Offensichtlich haben Nietzsches Bemerkungen über einen „musiktreibenden Sokrates" eine Wissenschaft im Auge, welche die alexandrinische Wissenschaft überwunden hat und die Tragödie und ihre universale Musik in einer Weise begreift, die diese nicht zerstört, sondern ihr wahrhaftig
Sokrates [III/l, 86], der die neue alexandrinische Kultur einführt. Auch für Schelling ist der freie Geist wie ein Halbgott. Nach Schelling hat Aristoteles' Nous - für Schelling das griechischphilosophische Muster des neuzeitlichen Geistesbegriffs - nichts Gleiches als nur Gott als „die allein ganz selbst seyende Natur". Darum nennt Schelling den Nous das „Gegengöttliche" (ά ν τ ί θ β ο ν ) , das sich „auch an Gottes Stelle setzen Könnende" [XI, 460], Schelling sieht in Aristoteles die höchste Gestalt der damals anbrechenden wissenschaftlichen Zeit; er lehrte nach Schelling nicht nur den „Gegengott", sondern - damit in Zusammenhang - er befreite auch die Philosophie vom Mythischen [XIII, 100; siehe auch Kap. 4.4.b], Vgl. Schopenhauer als „Halbgott" bei Nietzsche und den Ausdruck „Halbgott" bei F.A. Lange - in Kap. 13.3.b.
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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entspricht [III/l, 92, 98 (§14f); vgl. III/2, 132], Der Musiktreibende würde ja auch „in" der Musik sein: Er könnte im demselben Augenblick durch die Musik dionysisch trunken, aber als Wissenschaftler apollinisch nüchtern, Angeschautes und Anschauendes, sein. Der Schluß ist naheliegend, daß mit seiner „aesthetischen Wissenschaft" Nietzsche selbst den weise gewordenen, musiktreibenden Sokrates darstelle. In Nietzsches nachgelassenen Fragmenten steht zu lesen: Der musiktreibende Sokrates wäre ein „künstlerisch produktiver Sokrates", ein „eigenartiger Typus", der, in einer „neuen Verschmelzung des Apollinischen und des Dionysischen, auch eine ganz neue Kunstwelt inaugurirt" [III/3, 235 (Winter 1870-71 Herbst 1872)]. Nach Nietzsche ist der Prometheus des Aschylus nur eine Maske des Dionysos, der wie Prometheus den Menschen „höher und höher, weiter und weiter" trage [ΙΠ/1,67 (§9)]. Aschylus ist auch Zerstören Nach Nietzsche besitzt er das „herrliche .Können' des grossen Genius, ...den derben Stolz des Künstlers", der „olympische Götter wenigstens vernichten" könne [ebd, 64]. Daß er Götter „vernichten" kann, bezieht sich sicher auf die Weissagung des äschyleischen Prometheus über den Untergang der olympischen Götter. 5 Das Können, Götter zu vernichten, besitzt auch Nietzsches Sokrates. Es gehört zum Dionysischen, apollinische Ordnungen wie alte Götter zu zerstören. Sokrates könnte also bei Nietzsche für eine dionysische Maske gehalten werden, wenn er nämlich ein „Höheres" und „Weiteres" vermittelte. Das scheint Nietzsche in der Geburt der Tragödie, vor allem im Begriff des „musiktreibenden Sokrates", zu bezwecken. Dann nämlich bejaht Nietzsche die von Sokrates herstammende Wissenschaft, wenn sie das falsche Logische zu überwinden weiß und die höhere Möglichkeit erreicht. Man könnte vielleicht sagen: Durch die positive tragische, dionysische Wirklichkeit wäre die negative Herrschaft der Vernunft verdrängt; in der entsprechenden postiviten Wissenschaft würde man die dionysische Wirklichkeit zu begreifen versuchen. So wäre sie ästhetische Wissenschaft oder, um Schellings Titel zu gebrauchen, Philosophie der Kunst. Für Schelling führt Sokrates wohl „weiter", aber kaum „höher", denn er führt die Philosophie vielmehr nach unten in die verwirrende Mannigfaltigkeit des bürgerlich-wissenschaftlichen Lebens. Schelling zieht eine Parallele zum Wirken des 5
Vgl. bei Schelling die Vorsehung des Untergangs der Olympier als das Geheimnis der Mysterien und den Verrat des Geheimnisses durch Aschylus' Prometheus: XIII, 504f, 509; vgl. V, 708f. Man beachte auch die folgende Parallele: Nach Nietzsche stellt die „arische" Vorstellung des Sündenfalls im Prometheus-Mythos als den Frevel durch die eigene Tat des einzelnen Menschen dar [III/l, 66 (§9)]. Schelling redet von einem „Stammvater" des „japetischen, prometheischen, auch in dieser Hinsicht kaukasischen Geschlechts ... dessen T h a t . . . den Menschen von Gott schied, und ihm die Welt eröffnete, worin er frei von Gott und für sich war" [XI, 502, vgl. 481ff; V, 708f]. Für Schelling macht die Selbstbestimmung durch die eigene Tat das Wesen des Geistes aus [XI, 402, 418-421, 462],
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Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
Dionysos: Sokrates habe „die Philosophie von dem Himmel auf die Erde geführt, gewiß in keinem andern Sinn, als in welchem durch die Wirkung des Gottes, dem er gleicht, die Religion aus den Regionen des Himmels, des Unendlichen und überall Einen, auf die Erde, den Schauplatz des mannichfaltigen und wechselnden Lebens herabgekommen war..." Schelling meint die dionysische Wirkung, die von den „astralen" Anfängen der Mythologie bis in das freie Leben der Griechen und ihrer Wissenschaft leitete. Nach Schelling führte Sokrates die Philosophie in die „Freiheit des verständigen, unterscheidenden, auseinandersetzenden Wissens, in welchem allein ein Aristoteles möglich war" [XII, 284]. Schellings „dionysischer" Sokrates ist eine höchst ironische Gestalt. Man könnte sagen, Sokrates habe die Zerrissenheit des Daseins nur verschlimmert; aber gerade das gehört für Schelling zur ironischen Wirkungsweise des Dionysos [Kap. 3.2],6 Nach der Geburt der Tragödie gehört es zu den Erscheinungen der sokratischalexandrinischen Kultur, daß „das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt". Dadurch aber vernichtet diese Kultur die Religion. Zugleich ist sie für Nietzsche der Ausdruck einer natürlich-geschichtlichen Notwendigkeit: „Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeblich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden.... Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt werden..." [III/1, 70 (§10)]· Dasselbe Thema beschäftigt schon den jungen Schelling. In den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums entspricht die „bloß historische", „pragmatische", „empirische" Betrachtung der Geschichte einem schlechten heutigen Kulturzustand, demselben Kulturzustand jenes „gemeinen Verstandes" unter der Herrschaft der Logik [V, 225f, 233f, 300f, 309f]. Solche Geschichtsbetrachtung werfe das Wesen, den eigentlichen Kern, weg, während die vergänglichen, hinfälligen,
6
An derselben Stelle schreibt Schelling auch folgendes: „Man kann weder des Dionysos noch des Sokrates gedenken, ohne an den Aristophanes erinnert zu werden. Gewiß erschien auch Dionysos zuerst in verachteter und den stolzen Geistern ägerlicher Gestalt, wovon die Spur noch in Aristophanes ist. Auch Sokrates, wie das Todesurteil beweist, ... konnte seiner Zeit nur als ein sie verwirrender Geist erscheinen, und Aristophanes zürnt ihm nur, weil er in ihm die ganze Macht jenes Princips erkennt, vermöge dessen in Folge eines unaufhaltsamen Uebergangs eben damals auch in der Entwicklung des Staats und des öffentlichen Lebens das Einfache und Einartige der alten Zeit einer mehr und mehr verwirrenden Mannichfaltigkeit und Vielartigkeit der Verhältnisse Platz machen mußte" [XII, 284], Vgl. Nietzsche über Aristophanes' politische Zugehörigkeit zu einer „reaktionären Oligarchie" [ I I / 5 , 166].
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bloß äußerlichen Formen der Geschichte, die Schale, behalten werden. Im Gegensatz zu solcher Geschichtsbetrachtung will der junge Schelling die „universelle Mythologie" wiederfinden [VI, 67]. In den Weltaltern hält er das Ideal einer Wissenschaft vor, die so sehr mit dem lebendigen Wesen der Wirklichkeit übereinstimmt und von diesem lebt, die darum so durchaus natürlich sein wird, daß „die Wahrheit wieder zur Fabel und die Fabel zur Wahrheit wird" [VIII, 200, 202], Man findet beim späten Schelling eine sehr ähnliche Ansicht: Die christlichen „Geschichten und Mythen" [XIV, 231-233] werden insbesondere in der modernen Wissenschaft - und zwar auch der christlich-orthodoxen - zu Gegenständen einer nur vernünftigen Behandlung, welche die wahren „Fakten" zu nur historischen „Aeußerlichkeiten" macht [bes. XIV, 219f]. Somit sind diese ein Symptom dessen, was Schelling auch sonst als Wesen der herrschenden Kultur nachweist, nämlich des Nihilismus. Nach der Spätphilosophie sind jene wahren „Fakten" keine „dürre" Summe von empirisch-historischen Ereignissen, sondern Wahrheiten, die der Welt ewig zugrundehegen, eben die Prinzipien [XIII, 136]. Im geschichtlichen menschlichen Bewußtsein leuchten sie existentiell-geistig wie „Blitze" [XIV, 219, 118, lOOf]. Tatsachen sind sie im aktiven Sinne des lebendigen Zusammenwirkens der Prinzipien [vgl. Kap. 2.11.a]. In der Geburt der Tragödie wird um der Zerstörung der falschen alexandrinischen Kultur willen der tragische Naturgrund bacchisch-erschüttemd wiedererweckt. Wie ein Sturmwind fegt er alles Tote der Kultur weg [III/1,128 (§20)]. Dies ist das Werk der Geburt der Tragödie selbst. Der Leser soll die tragische dionysische Wirklichkeit, aus welcher das tragische Leben ewig hervorsproßt, erfahren. Sehr ähnlich steht es bei Schelling, der insbesondere in den Jugendschriften - um der Wiederherstellung der richtigen Beziehung zur Natur und der Mythologie willen - die Kultur der denkerischen Abstraktionen heftig angreift.7 Bei beiden Philosophen handelt es sich um das Aufleben des Gottes, den die alexandrinische Kultur getötet hat. Nach dem jungen Schelling ist die neuzeitliche Welt „durch die Zurückziehung ihres Lebensprincips erstarrt" [V, 109], d.h. in der Spätphilosophie: durch die (kronische) Verdrängung des Dionysos. Weder für Schelling noch für Nietzsche soll das Neuerscheinen des Dionysos die Wissenschaft vernichten: Vielmehr soll die nüchterne Wissenschaft die trunkene, bezauberte dionysische Erfahrung wirklichkeitstreu begreifen.
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Siehe z.B. Über das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt aus dem Jahre 1802, V, 108 ff.
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5.2 Buddhismus und Griechentum 5.2.a Buddhismus Nach §7 der Geburt der Tragödie bedeutet der Buddhismus die Gefahr der „Willensverneinung" in der griechischen Tragödie: Der Hellene, der „in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte ebenso wie in die Grausamkeit der Natur" schaue, sei „in Gefahr, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen;" „ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich - das Leben" [III/1, 52], Nietzsches Buddhismusbegriff ist aber kein eindeutiger. In den nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahre 1872 schreibt er: Indem die Tragödie eine Welterlösung ahnen läßt, giebt sie die erhabenste Illusion: die Freiheit vom Dasein überhaupt. Hier ist Nothwendigkeit des Leidens - aber ein Trost. Der Illusionshintergrund der Tragödie ist der der buddhistischen Religion. Hier zeigt sich Seligkeit im Erkennen des höchsten Wehes. Darin triumphirt der Wille. Er sieht seine schrecklichsten Configurationen als den Born einer Daseinsmöglichkeit an. [ΠΙ/3, 124f]
Nach diesen Worten ist der Buddhismus keine Willensvemeinung, sondern der „Hintergrund" der Tragödie und darum der Kunst, und er ist der „Born einer Daseinsmöglichkeit". In den nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahre 1871 findet man die folgende Notiz, die auch von keiner Verneinung des Willens redet: Sonderbare Erzählung über Buddha, der in der Feier des Frühlingsanfanges, da mit dem zugleich der siegreiche Kampf des Stifters der Lehre gegen die falschen Lehren überhaupt festlich begangen wird — [unleserliche Worte in Nietzsches Text]. Hier giebt er sich dramatischen Vorstellungen hin. Priester in orgiastischer Trunkenheit und Ausgelassenheit: Buddha selbst über seine Erlösung unzähliger Menschen, acht Tage lang weltliche Ergötzungen. [ΙΠ/3, 393]
Bei Schelling findet man neben einem ursprünglichen Buddhismus auch eine bestimmte Entartung dieser Religion. Der ursprüngliche Buddhismus ist nach Schelling der mit der ersten Mithraslehre wesensgleiche Buddhismus [siehe Kap. 3.5, 4.5.c].8 Das diesen beiden geistigen Religionen Wesentliche entsteht am Anfang der Mythologie, in der Zeit des ersten Kampfes der Prinzipien, im Urania-Moment, in der Zeit der Titanen. Diesen hoch taumelnden, trunkenen Moment halten beide Religionen fest, und zwar in geistiger Weise, so daß auch ihre Menschen in demselben Augenblick trunken und nüchtern wären. Aber sie treten in keine höhere mythologische Entwicklung fort, sie lassen sich nicht auf die werdende Vielheit und Verwirrung der Mythologie ein. Nach Schelling ist die Maja des ersten Buddhismus mit Urania wesentlich verwandt [XII, 234, 515-517, 641]. Sie ist bei Schelling, um 8
Vgl. die trunkenen Frühlingsfeste der Mithras-Verehrer bei Schelling: XII, 212f.
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mit Nietzsches Worten zu sprechen, auch für den Buddhisten der „Born einer Daseinsmöglichkeit". So wie die ersten Mithras-Verehrer beteiligen sich die ursprünglichen Buddhisten an der dionysischen Überwindung des widerstehenden Ersten, dadurch wird das Leben ermöglicht.9 Schelling unterrichtet auch über einen weit- und willensverneinenden Buddhismus: Um Eingang in China zu finden, mußte der Buddhismus „in einen ganz abstrakten Pantheismus gewissermaßen ausarten" [XII, 510]. Der Buddhismus als die „Fo-Lehre", wie er historisch in China vorkommt, ist für Schelling wesentlich Nihilismus, denn nach ihrem Begriff bedeutet Buddha die „Annihilation des Subjekts = Annihilation des Objekts" [XII, 565].10 Darum aber ist dieser Buddhismus vielmehr mit Schellings Begriff der indischen Religion als mit dem ursprünglichen Buddhismus verwandt: Der Nihilismus als Form der Religion kennzeichnet das Indische [siehe XIII, 403406, vgl. XII, 212], In der Geburt der Tragödie stellt Schopenhauer das Muster desjenigen Buddhismus dar, den Nietzsche den „indischen" nennt [siehe unten], nämlich des weit- und willensvemeinenden Buddhismus.11 Im zweiten Band von Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, Buch IV, Kap. 41, stehen am Schluß die Worte: ...willig sterben, gern sterben, freudig sterben, ist das Vorrecht des Resignirten, D e s s e n , der den Willen z u m L e b e n aufgiebt u n d verneint. D e n n nur er will w i r k l i c h u n d nicht bloß scheinbar sterben, folglich braucht u n d verlangt er keine F o r t d a u e r seiner Person. D a s D a s e i n , welches w i r kennen, giebt er willig auf: w a s i h m statt dessen wird, ist in unsern A u g e n nichts; weil unser Daseyn, auf jenes bezogen, nichts ist. D e r Buddhaistische G l a u b e nennt jenes N i r w a n a , d.h. E r l ö s c h e n [ W W V Π, 6 2 9 ] , 1 2
Für Schopenhauer gibt es wesentlich nur einen Buddhismus und nach Schopenhauers Ansicht ist das eben Zitierte nicht nur die Lehre des Buddhismus, sondern auch des ihm wesensgleichen indischen Brahmanismus. Am Schluß des §20 der Geburt der Tragödie verwendet Nietzsche „Indien" als ein Bild oder Gleichnis der heutigen, von der abstrakten Logik beherrschten sokratischalexandrinischen Kultur. Dies entspricht, wie wir schon gesehen haben, des späten 9
Die Selbstüberwindung und die Pflege der Natur, die Schelling in Zusammenhang mit der Mithrasverehrung erwähnt, wäre auf den ursprünglichen Buddhismus zu übertragen [XII, 21 Off, 225, 500f],
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Solchen buddhistischen Nihilismus unterscheidet Schelling einerseits von der Taolehre [XII, 562565] und andererseits von einem Buddhismus, der Nirwana (als „Freiheit von aller äußeren Existenz") und Weltsein in liebevoller Beziehung denkt [XII, 519f], Vgl. ähnliche Begriffe des Buddhismus in Nietzsches nachgelassenen Fragmenten aus dieser Zeit: III/3, 104.20 (vgl. 109.18: „indischer" Selbstmord); 111.14; 112.4; 391.13; III/4, 54.3. Siehe auch II/4, 294.24. „Ich gehe unter, aber die Welt dauert fort", so heißt es im vorigen Abschnitt bei Schopenhauer. Vgl. Schellings Darstellung dieses Gedankens als eines schwermütigen stoischen: XI, 476f.
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Schellings Begriff des heute herrschenden - mythologisch „indischen" - Nihilismus. An derselben Stelle fordert Nietzsche den Leser auf, unter dem Einfluß des Dionysos „von Indien nach Griechenland" zu ziehen [III/l, 128]. Nach dem folgenden §21 der Geburt der Tragödie hat man von den Griechen zu lernen, wie „jedes bedeutende Umsichgreifen dionysischer Erregungen" nicht in die Verneinung des konkreten Lebens, sondern vielmehr in die apollinische Bejahung und Erneuerung dieses Lebens führe. Sodann schreibt Nietzsche: V o n dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhismus, der um überhaupt mit seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden, jener seltenen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum eine Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der Zwischenzustände [des alltäglichen Lebens] durch eine Vorstellung zu überwinden. Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten Geltung der politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das römische Imperium
ist.
Zwischen Indien und R o m hingestellt und zu verführerischer Wahl gedrängt, ist es dem Griechen gelungen, in classischer Reinheit eine dritte F o r m hinzuzuerfinden... [HL/l, 129; meine Hervorhebung]
Wie wir oben gesehen haben [Kap. 4.4.c], gibt es klare Parallelen zwischen Nietzsches und Schellings Begriff des römischen Imperiums. Für Schelling sind das Römische und Indische Erscheinungsformen der Herrschaft des ersten Prinzips, beide treten „aus" der Beziehung zum real Dionysischen. Bei den Griechen bewirkt für Schelling der dionysische Orgiasmus den mythischen „Mittag" [Kap. 5.7], die produktive Uberwindung der alten Götter; daraus erwächst ihre leiblich-geistige Kultur [XIII, 406]. Dieses Erwachsen der Kultur bedeutet kein Austreten aus der dionysischen Wirkung, sondern entspricht bei Schelling vielmehr dem Ideal der „apollinischen" Begeisterung in der Kunst: „im demselben Augenblick trunken und nüchtern zu seyn". 13 In §21 der Geburt der Tragödie ist die Rede davon, daß während das griechische Volk „durch mehrere Generationen von den stärksten Zuckungen des dionysischen Dämon bis in's Innerste erregt wurde", es doch auch „gleichmässig" das Apollinische erfuhr, so daß die dionysische Erregung in die Bildung griechischer Kultur führte [III/l, 128f]. In Schellings Interpretation der indischen Mythologie, deren Geburt auch in der geistigen Krise der morgendlichorgiastischen dionysischen Uberwindung stattfindet, stirbt der alte Gott des ersten Prinzips (Brahma) weg, er verschwindet, „verwest" [XIII, 403-405]. Das Ergebnis stellen die Abstraktionen des indisch-geistigen Denkens dar, eines Denkens, das
13
Über Orgiasmus und Orgien bei Schelling siehe bes. XII, 351f; vgl. 422f, 446, 633; XIII, 447, 458; siehe auch unten Kap. 11.5. Vgl. XIII, 508: Kirchenväter gebrauchen das Wort „Orgien" für die Mysterien der Kirche.
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seinen realen Grund verloren hat und darum wesentlich Nihilismus ist. Die Entstehung der indischen Vernünftigkeit würde für Schelling den Weg „aus" dem gespannt-produktiven Kampf der Prinzipien in das „Nichts" des Nihilismus darstellen. Am Anfang von §18 in der Geburt der Tragödie spricht Nietzsche von drei Kulturen: die (heute herrschende) sokratisch-alexandrinische, die künstlerische der apollinischen Griechen, und die „buddhaistische" als die des metaphysischen Trostes, „dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst" [ΠΙ/1,111 (§18)]. In der Geburt der Tragödie geht es darum, daß gerade eine neue buddhistische Kultur - die von Wagners tragischen Opern eingeführte des metaphischen Trostes - in die heutigen Zustände einbricht und daß dadurch die herrschende sokratisch-alexandrinische Kultur überwunden wird. Hier ist kein „indischer" Buddhismus, keine Sehnsucht, in das Nichts ertragen zu werden, gemeint, sondern vielmehr jener „Hintergrund" der Tragödie als der „Born einer Daseinsmöglichkeit", nämlich der dionysische Grund. Man hat einzusehen, daß die Erfahrung des Grundes, z.B. im Bacchischen, einen Moment der kritischen Verneinung enthält, die grundsätzlich in eine von zwei verschiedenen Richtungen ausgeht: entweder in die „indische" Welt- und Willensvereinung, die aus dem Orgaismus hinaustritt, oder in die tragische Kunst, für welche mitten in den dionysischen Erschütterungen die tragische „Mittelwelt" aufgeht [Kap. 4.5.d]. In §7 der Geburt der Tragödie beschreibt Nietzsche die Rückkehr aus der dionysischen „Verzückung" in die „alltägliche Welt": Man erkenne eine „Welt, die aus den Fugen ist". „Die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv... Jetzt verfängt kein Trost mehr, ...das Dasein wird ... verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins...: es ekelt ihn" [III/l, 52f], Gerade da, in der Krise des „Ekels" oder der hellen Kritik an der bestehenden Welt, muß entweder die konsequente Welt- und Willensverneinung, die indisch-buddhistische, eintreten, oder es müssen Vorstellungen (die „Mittelwelt") der tragischen Kunst aufgehen, welche die tragische, willensbejahende Urfreude am Grunde, den metaphysischen Trost, einführen. In diesem Fall wird nicht aus den dionysischen Wirkungen hinausgetreten, sondern diese werden als Erfahrung des Grundes festgehalten. Nietzsche beschreibt eine Krise, die große Ähnlichkeiten mit der Krise hat, aus welcher bei Schelling die Geburt der indischen Mythologie einerseits und andererseits die Geburt der griechischen Mythologie hervorgeht [Kap. 3.5]. In der Erfahrung des dionysischen Grundes verneint der Mensch die Welt des Alltags. An derselben Stelle in der Geburt der Tragödie, wo er aus Tristan den „Schwanengesang" der in der Gefahr der Welt- und Selbstverneinung schwebenden Isolde zitiert, schreibt Nietzsche über Wagner „Sein ungeheurer dionysischer Trieb
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verschlingt diese ganze Welt der Erscheinungen, um hinter ihr und durch ihre Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse des Ur-Einen ahnen zu lassen". Das nennt Nietzsche eine „Rückkehr zur Urheimat" [III/l, 137.33 (§22)]. Die Rückkehr bedeutet eben die Verneinung der Welt des Alltags. Schelling redet von Menschen, die, wie „die Mystiker aller Zeiten", den „Weg rückwärts" aus den Verwirrungen der mythologischen Welt betreten [XI, 186; XII, 481], Die Buddhisten gehen zum Anfang der Mythologie, zum dionysischen Grund als dem Ursprung des Lebens zurück, zur Urania [vgl. XII, 506, 516]. Um die gespannten Kräfte des Anfangs zu erleben, mußte der Grieche keinen mystischen Rückweg betreten: In Bacchus kamen sie mythologisch zu ihm. In der Schrift Richard Wagner in Bayreuth kennt Nietzsche Vergleiche, die über große Zeiträume begriffliche Parallelen vorweisen: Wagner gleiche Aschylus, Schopenhauer Empedokles [TV/1,18 (§4)].14 Obwohl der Vergleich SchopenhauerEmpedokles auch in das Tragische gründet [vgl. Kap. 2.6], ist der Vergleich WagnerAschylus für den Begriff einer neuen und verheißungsvollen Geburt der Tragödie bedeutsamer. Insbesondere geht es um die Bedeutung von Aschylus in der griechischen Entwicklung und um eine parallele Bedeutung der Kraft der Tragödie für die Kultur von Nietzsches Zeit. In seiner Schrift Kunstgeschichtliche Anmerkungen zu J.M. Wagners Bericht über die äginetischen Bildwerke (1817) sieht Schelling organische Stufen in der Entwicklung der Tragödie: Aschylus versteht er in Verwandtschaft mit dem kräftigen Bacchischen als wie mit dem grünen Stamm der Pflanze. An der nächsten Stufe wird das Aschyleisch-Bacchische in der höheren Schönheit der Sophokleischen Tragödien überwunden [IX, 160f]. In der Philosophie der Kunst hatte Schelling Sophokles die „Blüte" der Tragödie genannt [V, 71 Of]. Nietzsche scheint eine ähnliche Entwicklung zu meinen: die höhere Stufe wäre die der hellenischen und künstlerischen Kultur der „Schönheit" [III/l, lllf]. 1 5 In den nachgelassenen Fragmenten (Ende 1870 - April 1871) schreibt er: „Sophokles als der Triumph des tragischen Gedankens und Besiegung des äschyleischen Dionysusdienstes" [III/3, 215]. Nach dem späten Schelling gibt es in der neueren deutschen Geschichte eine Kraft wie die äschyleisch-bacchische, nämlich in der Gestalt von Jakob Böhme, der sich in vorausgehender Beziehung zur späteren deutschen Philosophie [XIII, 119124] wie Urania zu den späteren Göttern verhält. Nach Schellings Parallelisierung
14
Dort heißt es auch, daß Kant den Eleaten gleiche. Vgl. Schelling in einer Würdigung zum Tode von Kant im Jahre 1804: „Der alte heitere Parmenides, wie er bei Plato geschildert wird, und der Dialektiker Zeno hätten freundlich in ihm [Kant] ihren Geistesverwandten erkannt, hätten sie seine künstlich gearbeiteten Antinomien erblickt, diese bleibenden Siegeszeichen über den Dogmatismus und ewigen Propyläen der wahren Philosophie" [VI, 7], Siehe auch Kap. 2.4, Kap. 6.2.a.
15
Vgl. unten am Schluß von Kap. 5.6 das Bild der Pflanze aus der Geburt der Tragödie; vgl. auch Kap. 5.7.
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gleicht Böhme dem griechischen Philosophen Heraklit, während Heraklit Urania gleicht poil, 106; XII, 283].16 Die großen Typen - aber auch der bestimmte Weg der Entwicklung, an dem sie teilhaben und den sie vertreten - wiederholen sich über Zeiten [vgl. Kap. 6.2.a]. Die Geburt der Tragödie selbst scheint das Aschyleisch-Bacchische oder - um Nietzsches Wort zu gebrauchen - das Buddhistische als Erfahrung des Weltgrundes, nicht das höhere Griechische zu vertreten. Sie kennt keinen anderen Schöpfer als die ursprüngliche Urmutter, welchen Schöpfer Nietzsche mit dem Schöpfer des Heraklit vergleicht: Er baut den „Sandhaufen" auf und wirft ihn wieder ein [111/1, 149.15 (§24); vgl. II/4, 273].17 Wie Nietzsche das meint, werden die apollinischen Illusionen wie Sandhaufen eingeworfen. Alles Apollinische als das, was man für eine schöne Wahrheit hält, wird kraft des Widerspruchs in seinem Grunde als Illusion entlarvt und zerstört. Die Wagnersche Weltverneinung wird in den mythischen Vorstellungen, die aus dem Grund wachsen, umgewendet, so daß der metaphysische Trost entsteht und die tragischen Menschen weiterleben wollen. Auf die Frage, ob aus der Wagnerschen Tragödie eine neue und höhere apollinische Kultur der „Schönheit" hervorwachsen könne oder nicht, gibt die Geburt der Tragödie keine klare Antwort, auch wenn sie mit dem Beispiel der Griechen die erste Möglichkeit nahelegt. Die Griechen haben die Schrecken des Weltgrundes „durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls verhüllt..."; „aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens wurde durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt" [III/1, 32 (§3)]. In der ganzen Schrift wird das Thema der Uberwindung ständig wiederholt. Am Schluß heißt es, die Kunst sei ein „metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt", und solche Überwindung sei „Verklärungsarbeit" [147 (§24)]. Aber was heißt Uberwindung und Verklärung, wenn alles Höhere und Schönere schließlich nur „Illusion" bedeutet? Dem Leser gibt Nietzsche lieber eine Frage als eine Antwort: „Was verklärt der tragische Mythus, wenn die Kunst die Erscheinungswelt unter dem Bild des leidenden Helden vorführt? Die .Realität' dieser Erscheinungs16
17
Nach Schelling drückt Böhme „den Dualismus der Kräfte in der mit sich selbst ringenden, sich selbst gebärenden wollenden ... Natur aus". Das sei ihm „Intuition und wie unmittelbare Eingebung der Natur" [XIII, 123]. Böhme sei der Anschauung trunken, er „taumelt" [XIII, 122], Vgl. oben Kap. 2.3 über Heraklit, auch in Schellings Weltaltern. Nach dieser Schrift konnten sich die widersprüchlichen Elemente oder Prinzipien des Weltgrunds vor dem Zustandekommen einer dauerhaften Schöpfung nicht vereinigen, vielmehr wollte jedes Element „an einer und derselben Stelle seyn" und somit sich allein als Dasein behaupten. Dazu hatte jedes „gleiches Recht" [VIII, 229, 232], Man vergleiche Nietzsches Satz in der Geburt der Tragödie: „Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt" [§9: III/l, 67].
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weit am wenigsten, denn er sagt uns gerade: .Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer Leben! dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!'" [147].18 Offenbar soll der Leser das eigene Leben als ein tragisches erkennen.
5.2.b Nüchtern und Trunken Nach Nietzsche hat der Mensch der sokratisch-alexandrinischen Kultur den Gott Dionysos verbannt; dadurch ist dieser Mensch „nüchtern" geworden [111/1, 122.32, 123.33 (§19); vgl. 83.6 (§12)]. Schon im römischen Reich entwickelte er sich zur „extremen Verweltlichung": Er erlebt kein Weltekel. Für diesen Menschen wirkt der dionysische „Rausch" heilsam; dadurch erfährt er eine verheißungsvolle Entweltlichung im Erlebnis des schöpferischen und belebenden Grundes. Das nur „Nüchterne" des sokratisch-denkenden Geistes wird in die dionysische Erregung eingetaucht und so verwandelt. Nietzsche stellt die Uberwindung der Nüchternheit mit der Metapher des Weins dar. Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmittel es den Griechen ermöglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei der ausserordentlichen Stärke ihrer dionysischen und politischen Triebe, weder durch ein ekstatisches Brüten, 1 9 noch durch ein verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu erschöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sie ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Wein hat, so müssen w i r der ungeheuren, das ganze Volksleben errengenden, reinigenden und entladenden Gewalt der Tragödie eingedenk sein. [ΙΠ/1, 129f (§21)]
Wir haben eine sehr ähnliche Wein-Metapher bei Schelling oben gesehen [Kap. 3.1]. Wir erinnern auch daran, daß nach Schelling das erste Prinzip des menschlichen Seins, wenn es ohne Einwirkung des Dionysos bleibt oder diese Einwirkung ausschließt, ganz öde und nüchtern ist. In der Mythologie wird dieses Prinzip durch das zweite, dionysische affektiert, es „weicht", so daß der Mensch mit jeder höheren Stufe geistiger wird. Der griechische Geist gleicht dem Wein, der in seiner Ver18
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Vgl. Schelling über die Forderung der Wendung des rationellen, nur negativen Philosophen zur positiven Philosophie: „Hier heißt es: Tua res agitur" [XIII, 171], In der ersten Fassungen von Schellings Weltaltern - sie stammen aus der Zeit 1810 -1813 - kommt das Wort „brüten" in einem sehr ähnlichen Zusammenhang vor. Über das erste mythologische Werden liest man: Es „brütet das in diesem Widerstreit existierende Wesen wie in schweren, aus der Vergangenheit aufsteigenden Träumen: bald aber mit wachsendem Streit riehen wilde Phantasien durch sein Inneres, in denen es alle Schrecknisse seines eignen Wesens empfindet". Das Wort „brüten" findet sich nur in der ersten Urfassung der Weltalter, die erst 1946 veröffentlicht wurde [hg. v. M. Schröter, München, 19662, S. 41]. In der Fassung der Weltalter, die in den von K.F.A. Schelling herausgegebenen Gesamtwerken veröffentlicht wurde, findet man an der nun umgeschriebenen Stelle das Wort „Orgasmus"; sonst findet man auch „Brunst" [VIII, 336, 330],
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geistigung rot,flüssig,wärmend, lebensspendend wird, und zwar weil er seine Kraft im Grunde bewahrt. Das muß der dionysische Mensch wohl beachten: Diese Urkraft könnte mit verheerenden Konsequenzen aus dem Grund in die Wirklichkeit treten. Aber mit der Wein-Metapher lehrt Schelling vor allem die Bedeutung des Grundes für eine gute, menschenfreundliche Kultur. Der nur nüchterne Mensch, der in denkerischen Abstraktionen über den dionysischen Grund hinausgeht und die Verbindung mit diesem verliert, verliert zugleich die lebensfreundliche dionysische Stimmung. Allzu natürlich verbreitet er mit kühlem Denken seine lebensunfreundliche moralische Herrschaft. Am Schluß von §5 der Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche: „Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Märchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspielerund Zuschauer" [III/1, 43f]. Darin erkennt man wieder den Versuch, den Rausch und die Besonnenheit (das Trunken- und Nüchternsein) im demselben Augenblick zu vereinigen [Kap. 4.5.g]. Es handelt sich nicht nur um die dionysische Begeisterung, sondern auch - so wie bei Schelling [Kap. 3.4] - um das Wissen um diese Begeisterung.
5.3 Nietzsches Abhängigkeit von Schelling in der Auslegung der Götter der Eleusinischen Mysterien In seiner Arbeit Das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Schelling [Berlin, 1935] weist Otto Kein darauf hin, daß für Schelling wie für Nietzsche die Entzweiung und Versöhnung der Prinzipien bei den Griechen durch dieselben mythologischen Gestalten anschaulich werden, was Kein für einen bemerkenswerten Zufall hält [27ff]. In §10 der Geburt der Tragödie findet man in der Auslegung der Eleusinischen Mysterien den zerrissenen Zagreus (den alten Dionysos), Demeter und Jakchos (den kommenden Dionysos) in denselben Stellungen und mit denselben Bedeutungen, die sie bei Schelling haben. Jakchos bedeutet die Erlösung als die wiederhergestellte Einheit [Kap. 3.3] - ein für die Auslegung der Geburt der Tragödie besonders interessantes Thema. Manfred Frank hat die Abhängigkeit Nietzsches von Schelling in der Auslegung der Dionysoslehre der Eleusinischen Mysterien in §10 der Geburt der Tragödie vermutet: Der kommende Gott (1982), 34446, und Gott im Exil (1988), 55-58. Franks Vermutung ist gewiß richtig.2® Unter den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches
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N a c h Franks Hinweis: Bei Schelling findet XIII, 480f, Parallelen bei Nietzsche, I I I / l , 68.9-20;
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Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
(1870-71) findet man eine Notiz, die sie bekräftigt. Wie Nietzsche meint, bedeute Jakchos als der wiedergeborene Dionysos das „Ende der Individuation". D i e I n d i v i d u a t i o n - d a n n die H o f f n u n g auf W i e d e r g e b u r t des einen D i o n y s u s . A l l e s wird dann D i o n y s u s sein. D i e Individuation ist die M a r t e r des G o t t e s - k e i n E i n g e w e i h t e r t r a u e r t m e h r . D a s e m p i r i s c h e D a s e i n ist etwas, w a s nicht sein sollte. D i e F r e u d e ist m ö g l i c h in H o f f n u n g auf diese W i e d e r h e r s t e l l u n g . - D i e K u n s t ist eine s o l c h e s c h ö n e Hoffnung. Δ ι ό ν υ σ ο ς ώ μ η σ τ ή ς u n d ά γ ρ ι ώ ν ι ο ς = Ζ α γ ρ ε ύ ς . I h m opfert T h e m i s t o k l e s v o r der Schlacht bei S a l a m i s drei J ü n g l i n g e . [ Ι Π / 3 , 160.6-13; ( E n d e 1870-April 1871)]
Die Quelle für die letzten zwei Sätze ist offensichtlich der erste Band der Philosophie der Offenbarung [XIII], (1) die letzte Zeile von S. 467f: „Für Δ ι ό ν υ σ ο ς ώ μ η σ τ ή ς scheint man auch Δ ι ό ν υ σ ο ς ά γ ρ ι ώ ν ι ο ς gesagt zu haben, der wilde, menschenfeindliche Dionysos"; (2) auf S. 468: „Das Prädikat ώ μ η σ τ η ς [der rohes Fleisch ißt] paßte durchaus nicht für den zweiten Dionysos, den wohlthätigen, menschenfreundlichen, wohl aber paßt es auf den Zagreus, denn dieser ist allerdings der wilde, von diesem erzählt Plutarch im Leben des Themistokles Folgendes: diesem seien vor der salaminischen Seeschlacht drei von Aristides gemachte Gefangene gebracht worden, sehr schön anzusehende ... Jünglinge, Schwestersöhne des Xerxes," die Themistokles nach Aufforderung der Menge schließlich „dem wilden Dionysos" opferte. 21 Auf Schellings Darstellung des Zerreißungsmythos der Mysterien dürfte sich die „Individuation" als die „Marter" des Gottes bei Nietzsche beziehen [Schelling, XIII, 477ff; siehe oben Kap. 3.3]. Schellings Satz „alles ist Dionysos" steht auf S. 463 desselben Bandes. Mit der Zukunftsform des Spruches bezieht sich Nietzsche, wie Schelling selbst den Satz meint, auf Jakchos als den Erlösergott der Zukunft. Jakchos bedeutet den idealen apollinisch-dionysischen Gott, der die individuierte Welt zur Einheit fügt. 2 2 All dies findet sich auch in einer anderen, ausführlichen Notiz Nietzsches in den nachgelassenen Fragmenten (Ende 1870 - April 1871) [III/3, 184.21-187.17]. Darin führt er in Parallele zu Schelling [XIII, 456] auch die „Epopten" als die Eingeweihten der höchsten Stufe der Mysterien an. Nur in ihrer Hoffnung auf Jakchos „giebt es Schelling, XIII, 483-485, hat Parallelen bei Nietzsche, I I I / l , 68.22-69.7. 21
Bei Fr. Creuzer gibt es vergleichsweise nur sehr verstreute und unvollständige Parallelen:
Symbolik
u. Mythologie [1836-43 3 ], IV, 94, 188, 192. 22
Vgl. bei Schelling: „alles ist Osiris", der ägyptische Dionysos [XII, 383], Die Bedeutung ist dieselbe: Typhon (das erste Prinzip der Mythologie) und Osiris sterben im Zweikampf und treten in die Unterwelt; an ihrer Stelle entsteht Horos, der neue Herrscher der „Oberwelt", aus dem Grund Osiris-Typhon als seiner Voraussetzung. H o r o s ist, was Typhon und Osiris sind, aber als ihre Vereinigung und als das in der ägyptischen Mythologie höchstmögliche Maß der wiederhergestellten Welteinheit. Typhon oder das erste Prinzip ( = alles) ist Osiris: So gibt es das Dritte, Horos [siehe auch XII, 634].
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zerspaltenen Welt..." Uber die in den Mysterien begriffene und bildhaft dargestellte Zerreißung und die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Einheit schreibt Nietzsche: In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandteile der tiefsinnigsten Weltbetrachtung zusammen: die Grunderkenntniß von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes alles Übels, das Schöne und die Kunst als die Hoffnungf,] daß der Bann der Individuation zu zerreißen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.... Die ganze Institution der Mysterien zielte darauf hin, nur dem diese Einsicht in Bildern zu geben, der vorbereitet sei... In diesen Bildern aber erkennen wir alle jene exzentrischen Stimmungen und Erkenntnisse wieder, die der Orgiasmus der dionysischen Frühlingsfeste fast auf einmal und neben einander erregte: die Vernichtung der Individuation, das Entsetzen über die zerbrochene Einheit, die Hoffnung einer neuen Weltschöpfung, kurz die Empfindung eines wonnevollen Schauders, in dem die Knoten der Lust und des Schreckens zusammengebunden sind. Als sich jene ekstatischen Zustande in die Mysterienordnung eingesponnen hatten, war die größte Gefahr für die apollinische Welt beseitigt, und jetzt konnte [Apollo]... und Dionysos ihren sichtbaren Bund schließen, zur Erzeugung des gemeinsamen Kunstwerks, der Tragödie... [ΠΙ/3, 186],
Dieser Abschnitt faßt Nietzsches eigene Ansicht der Beziehung zwischen dionysischer Erfahrung und apollinischer Kunst offenbar zusammen. Der „Urgrund" ist eben der zerrissene Dionysos: daher der Widerspruch im Grunde, Lust und Schrecken.23 Durch die „exzentrischen" Vermittlungen entstehen die seligen Visionen und Bilder der höchsten Kunst. All das hätte Schelling selbst schreiben können. Was wäre für Nietzsche das „Zentrum"? Was würde für Nietzsche der Hoffnung der Mysterien auf die Wiederherstellung der Einheit entsprechen? In einem anderen Fragment aus derselben Zeit scheint Nietzsche eine ähnliche Beziehung wie Schelling zwischen der „Weisheit" der Mysterien und den olympischen Göttern zu sehen. Nach Nietzsche hatte der Grieche eine „unerschütterliche gläubige Sicherheit" im „metaphysischen Mysterienwesen", das „in der Tiefe" seiner Kunst fortwirkte, „während er mit seinen olympischen Göttern in freier Weise, bald spielend, bald zweifelnd, umging" [III/3, 184], Nach Schelling hat die griechische Mythologie die alten Götter „beschworen und als Vergangenheit sich unterworfen", während sie in den Mysterien „das [dritte] Princip der vollendeten geistigen Religion [Jakchos] als Zukunft setzt". Daraus ergab sich ein „völlig freies Verhältniß" des Geistes zu den olympischen Göttern der Gegenwart. In der freien homerischen Poesie „ist das eigentlich Reale in die Tiefe gesunken", die Götter haben „keinen Anspruch auf höhere Wahrheit, als die [die] wir auch dichterischen 23
So wie Schelling [XIII, 445] zitiert auch Nietzsche aus Plutarchs Beschreibung der symbolischen Vorgänge der Eleusinischen Mysterien: Es gebe zuerst Irrgänge und Schrecknisse, dann breche ein wundervolles Licht hervor [II/3, 414]. Vgl. Kap. 3.1.
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Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
Gestalten zusprechen" [XII, 646f]. Aber damit war für den Griechen das „Reale", das immerwährende „Mysterium", keineswegs verloren: In den Eleusinischen Mysterien wußte der Grieche von der fortwährenden Überwindung des Mysteriums als der Göttin Demeter in ihrer primitiven Gestalt, d.h. als Urania, des mythologischen Grundes. In den Mysterien war dieses Mysterium der Gegenstand „einer immerwährenden Pflege, Begütigung und nie aufhörenden Versöhnung" [XII, 641, 648; vgl. XIII, 406ff, 442], Man wußte von dieser Begütigung und beteiligte sich in der Praxis des Lebens an der immerwährenden Pflege, aber die Kraft oder Potenz der Uberwindung, Versöhnung und Pflege war Dionysos [Kap. 3.1]. „Die Mysterien selbst sind nichts anderes als die Celebration dieser - nicht einmal für immer geschehenen, sondern immerwährenden Begütigung der Demeter..." [XII, 632f]. 24 Gerade in solchem praktischen Wissen um die ganze Bedeutung dieser Begütigung des mythologisch-menschlichen Grundes durch Dionysos bestand die Weisheit der Griechen. Solange es festgehalten wurde, konnte kein Nihilismus entstehen.
5.4 Der Zusammenhang des Christlichen mit dem Dionysischen 5.4.a Aus nachgelassenen Fragmenten §12 der Geburt der Tragödie endet mit der Vertreibung von Dionysos durch Sokrates: Der Gott „rettete sich in die Tiefen des Meeres, nämlich in die mystischen Fluthen eines die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus". Was ist der Geheimkultus? Bei allem Anspruch auf weltreligiöse Bedeutung haben die griechischen Mysterien die Welt kaum überzogen. Der Buddhismus war kein Geheimkultus, darum kommt er nicht in Frage. Das Christentum, das bei seinen nächtlichen Versammlungen in den Katakomben des römischen Reiches mindestens teilweise als Geheimkultus angesehen werden darf, erschien erst vierhundert Jahre nach dem Tod des Sokrates. Vielleicht hätte man aber an einen eher sachlichen Zusammenhang der Mysterien und des ersten Christentums zu denken. 25 Der späte
24
Das „begütigende" Prinzip ist das zweite [XIII, 226], Vgl. Urania, den mythologischen Grund, in Kap. 2.1 l . b : D e r Grund selbst ist der „alte" Dionysos, d.h. die primitive, erste Einheit der Prinzipien. Dieser widersprüchliche Weltgrund verschwindet nicht mit der höheren Entwicklungen, sondern er ist die treibende Urkraft der Schöpfung selbst in der gefallenen Welt. Jede höhere Stufe setzt die niedrigere voraus und zwar so, daß die niedrigere, obwohl „in die Tiefe" gesunken, dennoch realer Grund ist. Dionysos oder das zweite Prinzip ist im primitiven Grunde, aber auf der Stufe der Griechen kann er zugleich den Grund pflegen, versöhnen, begütigen.
25
U n t e r Nietzsches Schriften aus seiner Zeit im Gymnasium zu Pforta findet man diesen Satz: „Leise, aus der Tiefe aufsteigend, in liebevollen Akkorden kündet sich das Christenthum an, nicht in himmelstürmenden Todfülle, sondern bescheiden und weltumschlingend" [ B A W II, 64].
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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Schelling hat das Urchristentum als Keim oder Samenkorn begriffen, aus dem die Pflanze des geschichtlichen Christentums in der Welt erwächst [XIV, 295-98]; der Keim war seine Vorgeschichte, in der es für die Augen der Weltgeschichte noch verborgen war [XIV, 155; XI, 232ff], In den nachgelassenen Fragmenten aus der Zeit der Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie äußert sich Nietzsche zum Thema Griechentum und Christentum. Im Folgenden führen wir seine Gedanken numeriert an, um nachher den Vergleich mit Schelling zu ziehen. Die erste Notiz stammt aus der Zeit September 1870 bis Januar 1871, die ihr folgenden Notizen haben das Datum Ende 1870 bis April 1871: 1. „Mit der orientalisch-christlichen Bewegung überschwemmte das alte Dionysosthum die Welt, und alle Arbeit des Hellenenthums schien vergebens. Eine tiefere Weltanschauung, eine unkünstlerische, brach sich Bahn" [III/3, 122], 2. „Die hellenische Welt des Apollo wird allmählich von den dionysischen Mächten innerlich überwältigt. Das Christenthum fand sich bereits vor" [III/3, 145]. 3. JDas Johannesevangelium aus griechischer Atmosphäre, aus dem Boden des Dionysischen geboren; sein Einfluß auf das Christenthum, im Gegensatz zum Jüdischen" [III/3,147]. 4. (Das unmittelbar folgende Fragment führt ein Konzept an): „I. Die Geburt des tragischen Gedankens II. Die Tragödie selbst III. Untergang der Tragödie IV. Johannes." 5. „Die absolute Mystik, obschon sie Namen und Anstoß aus dem Orient bekommt, zeigt doch in dem durchaus griechischen Erzeugniß des Johannesevangeliums sich als die Frucht desselben Geistes, aus dem die Mysterien geboren waren" [III/3, 164]. 6. „Shakespeare. Erfüllung des Sophokles. Das Dionysische ist rein in Bildern aufgegangen. Die Weglassung des Chors war ganz berechtigt: aber man ließ zugleich das dionysische Element schwinden. Dieses flüchtet sich in die Mysterien. Es bricht im Christenthum hervor und gebiert eine neue Musik. - Aufgabe unserer Zeit: die Kultur zu unserer Musik zu finden!" [III/3, 201f; meine Hervorhebung]. 7. (Schließlich der folgende Abschnitt aus einer längeren Ausführung mit dem Titel „Inhalt der Abhandlung" - offensichtlich einer projektierten Fassung der Geburt der Tragödie:) „Die griechische Heiterkeit ist die Lust des Willens, wenn eine Stufe erreicht ist: sie erzeugt sich immer neu: Homer, Sophokles, das Johannesevangelium - drei Stufen derselben. Homer als Triumph der olympischen Götter über die titanischen Grauenmächte. Sophokles als der Triumph des tragischen Gedankens und Besiegung des äschyleischen Dionysusdienstes. Das Johannesevangelium als Triumph der Mysterienseligkeit, der Heiligung" [III/3, 215; vgl. 44.8, 287.9],
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Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
Es ist bei Schelling bekannt, daß nach seiner spätphilosophischen Mythologie die große Erwartung und Hoffnung der Eleusinischen Mysterien, d.h. die vom kommenden Gott Jakchos, in Christus seine Erfüllung findet. Er sagt z.B., daß „der natürliche Uebergang vom Heidenthum zum Christenthum ... wirklich die griechischen Mysterien sind" [XIII, 410]. Auch ist bekannt, daß nach Schellings Ansicht das Johannesevangelium das geistige Evangelium ist [bes. die letzte Vorlesung in XIV]. Darin ist auch die „Einheit" ein wichtiges Thema. 26 Dieses Evangelium enthält auch die bedeutsamsten Symbole für Schellings Auffassung des Zusammenhangs des dionysischen Griechentums und des Christentums: das Licht, das Brot des Lebens, der Weinstock, die Reben, der Wein, das Samenkorn, das, um Frucht zu tragen, in der Erde sterben muß [bes. XIV, 295f]. 27 In der Philosophie der Kunst redet Schelling vom Christentum als einer „orientalischen" Religion [V, 422-428; vgl. 298, 304]. Das Orientalische bedeutet das „Mystische" - auch im Griechischen [siehe Kap. 1.3] - als das Unendliche des Göttlichen, nämlich im Gegensatz zum Eingehen des Göttlichen in die endlichen Formen, als die vielen Götter, der Griechen [V, 42lf]. Das Unendliche sprengt jeden Versuch, es durch ein endliches Symbol aviszudrücken, kein Symbol kann es fassen; deshalb ist der Orientale „mit seiner Einbildungskraft ganz in der übersinnlichen oder Intellektualwelt" [V, 422]. 28 Mythologisch sind seine bedeutendsten Aus-
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27
28
Vgl· Joh· 17,20-23: Die Frühchristen sind eins in Christus, wie der Vater in Christus und Christus im Vater ist. Bei diesem Ineinander könnte man bei Schelling an das zauberhafte Ineinandersein von -A und +A [Kap. 3.2] und an das verwandte „Anziehen" des „rein Seyenden" (Christus) durch den Menschen [Kap. 3.4] denken. Vgl. auch Joh. 16,33: „ich habe die Welt überwunden". Man könnte an andere mögliche frühromantische und romantische Quellen für den Zusammenhang Dionysos-Christus denken, z.B. an Hölderlin, in dessen Werken die Verbindung nur dichterisch (Wein-Symbolik) dargestellt wird. Über den Begriff bei Hölderlin siehe Maria Behre, „Des dunkeln Lichtes voll" - Hölderlins Mythokonzept Dionysos [München, 1987], 152-164. Vgl. Friedrich Creuzers Begriff der Beziehung zwischen Heidentum und Christentum in Symbolik und Mythologie [3. Ausg. 1836-43], IV, 767-776 (bes. 770): Die Verwandtschaft zwischen den „grundverschiedenen" Religionen Heidentum, Judentum und Christentum besteht darin, daß dieselben Ideen in je verschiedener und eigener Weise aufgefaßt werden. (Vgl. ferner bei Creuzer I, 261, 171f, 238, 294f.) Creuzers Begriff der religiösen Ideen erinnert eher an Fichtes Auffassung in der Anweisung zum seligen Leben [Werke, Berlin, 1845/46, V, 401ff], die freilich auch das Johannesevangelium als höchste Weisheit versteht. - Siehe ferner die Diskussion bei Manfred Frank, Der kommende Gott, bes. die letzte Vorlesung. Siehe über das Unendliche bei Schelling bes. Kap. 2.11.a und den zweiten Teil unserer Einleitung. Im Gedanken des Unendlichen lauert eine Gefahr: Die Intellektualität als Denken der Beziehung zum göttlichen Unendlichen stellt die Möglichkeit eines nur negativen, nur rationellen Denkens der Gottheit her, und auch findet solche Entartung für Schelling notwendig statt: Siehe Kap. 1.3, Kap. 2.4 (Dogmatismus), Kap. 3.5, bes. Kap. 9 (im Schlußteil) über die Beziehung des Christentums zum neuzeitlichen Rationalismus. Die Entartung ist sehr ähnlich wie der Ubergang des ursprünglichen Buddhismus in den nihilistischen Buddhismus [Kap. 5.2],
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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drücke, z.B. das „reine Licht", allgemein oder universal [V, 426f].29 Christus hat das Unendliche wie kein Anderer vor ihm geoffenbart [bes. V, 298]. Auch die allgemeine Menschenliebe Christi, die, keine Grenzen kennend, die barbarische Menschheit einschließt, wäre oriental. Nach der Philosophie der Kunst kommt das orientalische Unendliche oder Mystische auch bei den Griechen vor: in der „lyrischen Kunst" und der Tragödie, in den Mysterien und in den (bacchischen) Orgien [V, 421]. (In Kap. 4.3 sahen wir, daß für Nietzsche das Bacchische ein „Orientalisches" in der griechisch-homerischen Welt darstellte [II/3, llf], so wie der späte Schelling es in Zusammenhang mit der Kybele-Verehrung verstand.)30 In der Schrift Philosophie und Religion (1804) sagt Schelling, daß das Christentum aus dem Heidentum selbst entstand, und zwar „dadurch, daß es die Mysterien öffentlich machte" [VI, 66], Die höheren „Stufen" der Religion als „Triumphe" oder Siege zu verstehen [Nietzsche, Nr.7], scheint dasselbe wie die „Überwindung" der niedrigeren Stufen zu bedeuten. Daß nach Nietzsche eine „Besiegung des äschyleischen Dionysosdienstes" bei Sophokles stattfindet, findet man bei Schelling in der Schrift Über die äginetischen Bildwerke [siehe Kap. 5.2.b]. Die Entwicklungslinie von Sophokles zu Shakespeare, die Nietzsche erwähnt [Nr. 6], findet sich bei Schelling in der Philosophie der Kunst vorgezeichnet [V, 500, 705ff]. Dort hofft Schelling auf einen neuen Sophokles, der „in der gleichsam sündlichen Kunst" Shakespeares eine Versöhnung bringen werde [725f]. Nach derselben Schrift handelt es sich bei dieser Hoffnung um den Gedanken, daß der moderne Mensch die „Musik" der „Universalien", der realen Ideen, lerne [siehe Kap. 2.11.a]. Bei Nietzsche [Nr. 6] heißt es: Das Dionysische breche im Christentum hervor und „gebiert eine neue Musik". Nietzsche scheint eine dionysisch-christliche Musik zu meinen. Nach der Philosophie der Kunst gehören Christus und Christentum noch grundsätzlich in die Mythologie, sofern der Begriff des Christentums als wesentlich des orientalischen Unendlichen mythologischen Ursprungs ist. In der Spätphilosophie werden Mythologie und Christus mit bedeutenderer Konsequenz unterschieden [Kap. 3.3]. Aber die Mythologie findet durch Christus zu ihrem gesuchten Zentrum, und zwar so, daß der Zusammenhang der beiden ewig feststeht [bes. Kap. 11.5, Kap. 12.1], Nach Schellings Spätphilosophie aber wäre es denkbar, Christus als nur eine neue Stufe der Mythologie zu verstehen. Das erklärt er so: „... man möchte etwa 29
50
Die christliche Kirche hat als Symbol den „alles in sich aufnehmenden Ocean" [V, 434]. In dieser Zeit sah Schelling Griechentum und Christentum als einseitige Religionsformen, die im Ideal vereinigt werden [V, 446ff; vgl. V, 120]. In der Spätphilosophie ist dieses Ideal im Begriff der Einheit von Peripherie und Zentrum enthalten [Kap. 3.5, bes. Kap. 12.1], Siehe Kap. 3.5. Sowohl nach Schelling als auch nach Nietzsche bewirkt Bacchus eine höhere „Vergeistigung" der Griechen, d.h. offenbar eine höhere Intellektualität. Siehe Kap. 3.1, Kap. 4.3.
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Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
versuchen, das Christenthum nur als eine Continuation oder eigentlich als das nothwendige Ende des mythologischen Prozesses darzustellen, ohne daß ein Unterschied wäre zwischen Mythologie und Offenbarung." Dann könnte man sich vorstellen, wie Schelling weiter ausführt, daß im Leiden und Sterben des Christus der mythische Dionysos nun in die Vergangenheit zurückgetreten wäre, und daß nun das „Dritte" [etwa Jakchos] als die hochgeistige „Wiederherstellung der ganzen ursprünglichen Einheit" herbeikäme [XIV, 230]. Schelling weist diese Vorstellung zurück [ebd, 231, 241], nämlich weil dadurch gerade keine Wiederherstellung der Einheit erreicht wäre: Die Zerreißung geht zu tief, als daß die Wiederherstellung als nur der Schluß der sich natürlich entwickelnden Mythologie erreicht werden könnte [Kap. 3.3]. Bei Nietzsche [siehe oben Nr. 7] ist es bemerkenswert, daß die Stufe der „Heiligung", die der Tragödie des Sophokles folgt, in den Mysterien als dem Johannesevangelium und nicht etwa im Jakchos-Mythos der Eleusinischen Mysterien gefunden wird. Aber man darf vermuten, daß der Zusammenhang des Johannes mit den Mysterien zugleich den Zusammenhang des Christus mit der Jakchos-Verheißung bedeutet.31
5.4.b Erlösung als Problem in der „Geburt der Tragödie" In der Geburt der Tragödie kann man sozusagen Reste der Absicht finden, das Christentum als weitere Entwicklung des Dionysischen darzustellen. In §11 schreibt 31
In ihrer Besprechung von Nietzsches Auslegung der Mysterien in §10 der Geburt der Tragödie in: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Gehurt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Kap. 1 12) [Stuttgart, 1992], hebt Barbara v. Reibnitz Manfred Franks Geschichte des „kommenden Gottes" in der Frühromantik hervor, ohne Franks oben zitierte Vermutung über Nietzsches Abhängigkeit von Schelling zu erwähnen [Kap. 5.3], Zugleich findet Reibnitz bei Nietzsche eine Verbindung der Eleusinischen Mysterien mit gewissen christlichen Traditionen. Wie Reibniz schreibt: „Die Uberwindung der Vereinzelung wird mit der Geburtsstunde des Messias assoziiert. Aus dem Erlebnis der Einheit erwächst die neue Religion." „Nietzsches Vision von Dionysos als einheitsstiftenden Gott, dessen Kult die Menschen aus Entfremdung und Zerrissenheit wieder zusammenschließt, scheint mir an diese Tradition anzuknüpfen, vor allem in der ... johanneisch inspirierten Konzeption des Einheits-Mysteriums." Reibnitz zitiert dann den oben zitierten Satz aus Nietzsches Fragmenten, „das Johannesevangelium aus griechischer Atmosphäre, aus dem Boden des Dionysischen geboren", als Beleg dieser johanneischen Konzeption. Daüber schreibt sie: „Diese interpretatio dionysistica des Johannesevangeliums belegt... aus welchen Quellen sich Nietzsches Auffassung des Dionysischen speist" [271]. Reibnitz weist gewiß mit Recht auf die hohe Bewertung des Johannes in der Frühromantik hin [bei H. Timm, bes.: Der Geist der Liebe. Die Ursprungsgeschichte der religiösen Anthropologie (Gütersloh, 1978)], aber bei ihrer daneben geäußerten Meinung über die „antichristliche Zielsetzung" der Tragödienschrift [255] bleibt jenes Urteil in ihrer Auslegung trotzdem rätselhaft.
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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Nietzsche über die römische Kultur der Kaiserzeit: „Dieser [falsche] Schein der .griechischen Heiterkeit' war es, der die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so empörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuss - nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung" [III/l, 74]. Hier wird das frühe Christentum offensichtlich in Zusammenhang mit Dionysischem (Ernst und Schrecken) gestellt; interessanterweise handelt es sich nicht nur um das Urchristentum, sondern auch um die „vier ersten Jahrhunderte". Man vergleiche wieder Schelling, der die Kirche der nachkonstantinischen Zeit in „petrinischen" Verirrungen sieht [XI, 546; XIV, 310f; siehe hierüber bes. Kap 8 (Schluß)]. Nach §17 der Geburt der Tragödie ringt der Geist der Musik in der griechischen Lyrik und Tragödie „nach bildlicher und mythischer Offenbarung", dann verschwindet dieses Ringen „gleichsam von der Oberfläche der hellenischen Kunst: während die aus diesem Ringen geborene dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunderbarsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ernstere Naturen an sich zu ziehen" [III/l, 106]. Vielleicht versteht Nietzsche unter „Metamorphosen" und „Entartungen" auch das Christentum. Beides würde bei Schelling Entsprechung finden [Kap. 3.5, Kap. 4.4.d]. Im abschließenden §25 der Geburt der Tragödie liest man: „Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann..." [III/l, 151]. Das hatte Nietzsche früher in der Schilderung von Raffaels Bild der Auferstehung veranschaulicht: „...er zeigt uns, mit erhabenen Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde..." [III/l, 35 (§4)]. Der frühe Schelling hatte vom alles treibenden Widerspruch, der auch zur Kunst und Philosophie treibt, der späte Schelling von den dionysischen Erschütterungen, Schrecken und Schmerzen, die zur höchsten Möglichkeit der Mythologie führen, gesprochen.32 Die Lage des Dürerschen „Ritters mit Tod und Teufel" bezeichnet Nietzsche als hoffnungslos [ΙΠ/1,127 (§20)]. Das paßt freilich zu dem Bild des Schöpfers, der die „Sandhaufen" seiner Schöpfung immer wieder einwirft. Aber was sollte es bedeuten, daß „alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, vor dem untrüglichen Richter Dionysos einmal erscheinen müssen wird"? [124 (§19)]. Nietzsche scheint doch etwas Anderes zu meinen als nur den Untergang des Daseins in den titanischdionysischen Grund. Nach Johannesevangelium 5,22.27 ist der untrügliche Richter Christus. Warum verwendet Nietzsche gerade das Bild von Dionysos als „Rich-
32
Über Schellings Ausführungen über Raphael siehe unten Kap. 5.6 (Anm).
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Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
ter"?33 Nietzsche ruft aus: J e t z t wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden. ... Rüstet euch zum harten Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes!" [128 (§20)]. Aber was für ein Wunder wird es geben, wenn der Weltgrund, der die „Sandhaufen" einwirft, die einzige Wahrheit ist und alles Höhere nur Illusion bedeutet? Unter den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches aus der Zeit Sommer-Herbst 1873 findet man die folgende Darstellung als „unsere Lehre": „Das Bewußtsein wird nur durch immer höhere Illusionen gefördert und entwickelt. Wir stehen deshalb mit unserem .Bewusstsein' so niedrig (verglichen mit den Griechen), weil unsre Illusionen niedriger und gemeiner sind, als die ihrigen. ... Illusionen sind übrigens nur der Ausdruck für einen unbekannten Sachverhalt" [III/4, 257f], Es handelt sich um ein Nichtwissen: auf einmal befinden wir uns wieder bei Sokrates [siehe oben Kap. 2.9]. Schelling nennt Sokrates' „überschwengliches" Nichtwissen eine „docta ignorantia, eine ignorance savante" [XIII, 98; XI, 268]. Mit positivem Wissen um das, was Nietzsche den „Sachverhalt" nennt, weiß Schelling auch um die Illusion, um den Irrtum, der Mythologie, die trotzdem zur Wahrheit gehört [siehe Kap. 3.5, bes. Kap. 12.1]. In der Geburt der Tragödie steht zu lesen, daß wir Menschen die Kunstwerke des dionysischen Ur-Einen seien, daß aber „unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches ist, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie, einen ewigen Genuss bereitet". Damit macht Nietzsche wiederum ein irgendwoher gewußtes kritisches Nichtwissen bekannt: Im Kunstwissen kennen wir jenes Wesen nicht. Wie Nietzsche an derselben Stelle ausführt, wissen wir von jenem Wesen durch den Mythos als nur in einem Gleichnis, d.h. im Grunde eben so wenig, „wie die auf Leinwand gemalten Krieger von der Schlacht wissen, die sie darstellen". 34 Gemäß seinem Wissen des Nichtwissens bemerkt er: Diese Begrenztheit unserer Erkenntnis zu erkennen, bedeute „unsere Erniedrigung ««¿Erhöhung" [III/1, 43 (§5); Nietzsches Hervorhebung]. Dieser letzte Ausdruck ist bemerkenswert nicht allein dadurch, weil er christlichen Ursprungs ist - wer sich erniedrigt wird erhöht werden (Mat. 23,12) -, sondern auch und insbesondere im Hinblick auf seine Bedeutung in Schellings Spätphilosophie [Kap. 1.2, bes. Kap. 3.3]. Er faßt bei Schelling sowohl die Geschichte 33
34
In der Geburt der Tragödie beschreibt er schon den dionysischen Rausch mit christlichen Bildern: „die entfremdete, feindliche, unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit dem verlorenen Sohn, dem Menschen" [25 (§1)]. Vgl. Schelling in der Schrift Über das Verhältnis der bildenden Künste zur der Natur aus dem Jahre 1807: Die bloßen Nachahmer der Natur, die in dieser das Leben verleugnen, haben die Natur „als ein völlig todtes Bild" aufgefaßt: „ein hohles Gerüste von Formen, von dem ein ebenso hohles Bild auf die Leinwand übertragen oder in Stein ausgehauen werden sollte" [VII, 293f].
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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von Fall, Mythologie und schließlich auch die Wiederherstellung der Einheit zusammen. In §10 der Geburt der Tragödie, wo Nietzsche den Mythos des kommenden Gottes Jakchos erzählt, schreibt er auch folgendes: „In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandtheile einer tiefsinningen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragödie zusammen: die Grunderkenntniß von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit" [III/l, 68f]. In all seinen Schriften schildert Nietzsche die tragische Zerrissenheit des Lebens; über die „freudige Hoffnung" der Wiederherstellving der Einheit gibt er hier und dort höchstens nur rätselhafte Andeutungen - als ob er es als seine Aufgabe versteht, sozusagen der „exzentrische" Führer zu sein, der seinen Leser zu solch einer Hoffnung erst zu erziehen hat: die Aufgabe des Dionysos [vgl. Kap. 3.5, Kap. 5.3].
5.5 Neugeburt aus dem dionysischen Grund In der Geburt der Tragödie zielt Nietzsche offensichtlich auf eine Neugeburt des dionysischen deutschen Wesens und somit einer neuen deutschen Kultur aus dem tragischen Grund. In §19 schreibt er: „Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen Frondienste der Omphale erschlafft" [III/l, 123]. Derselbe dionysische Mythos findet sich auch bei Schelling [XII, 340-42], Bei Nietzsche steige die deutsche Musik - als ein „aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigender Dämon" - „aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes" [III/l, 123]. Es ist Nietzsches Hoffnung, daß diese Musik die Erweckung des „deutschen Ritters" bedeuten wird, der in einem Abgrund „schläft". Das Gleichnis von Schlafen, Träumen und Erwachen - es entspricht der Vorstellung des Werdens des Geistes in den griechischen Mysterien - findet man in Schellings Weltaltern als Begriff der Vorgänge in der mythischen Geburt des Menschen, Vorgänge, die vom Grund aufwärts führen.35 Im folgenden Passus aus den Weltaltem, den wir um des Vergleichs mit Nietzsche willen ausführlich zitieren, geht es zunächst um die erste Scheidung der Urkräfte des Grundes:
35
In der Geschichte der neueren Philosophie lobt Schelling Leibniz für die Ansicht, daß die „Welt der unorganischen und insgemein todt genannten Körper eine schlafende Monaden welt" sei. „Die Seele der Pflanzen und der Tiere war ihm die bloß träumende Monas, die vernünftige Seele erst die wachende". Darin sieht Schelling „den ersten Anfang, das eine Wesen der Natur in der notwendigen Stufenfolge seines zu-sich-selbst-Kommens zu betrachten" [X, 54]. Vgl. Kap. 1.2.
162
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
D i e wirkende Potenz äußert sich nicht gleich mit voller Gewalt, sondern als ein leises Anziehen, wie das, was dem Erwachen aus tiefem Schlummer vorangeht; mit zunehmender Stärke werden die Kräfte im Seyn schon zu dumpfem, blindem Wirken erregt, mächtige, und weil ihm die sanfte Einheit des Geistes fremd ist, formlose Gestalten steigen auf; nicht mehr in jenem Zustand der Innigkeit oder des Hellsehens, noch von seligen, die Zukunft vorbedeutenden Visionen verzückt, ringt das in diesem Widerstreit existierende Wesen wie in schweren, aus der Vergangenheit, weil aus dem Seyn, aufsteigenden Träumen; bald mit wachsendem Streit ziehen jene Geburten der Nacht wie wilde Phantasien durch sein Inneres, in denen es zuerst alle Schrecknisse seines eignen Wesens empfindet.... Inzwischen nimmt der Orgasmus der Kräfte immer mehr zu und läßt die zusammenziehende Kraft die gänzliche Scheidung, die völlige Auflösung fürchten. Indem sie aber ihr Leben frei gibt, sich gleichsam als schon vergangen erkennt, geht ihr selbst die höhere Gestalt ihres Wesens und die stille Lauterkeit des Geistes wie im Blitz auf... [ V m , 336; vgl. V, 124; VI, 68-70; ΧΠΙ, 445]
Bei Nietzsche haben die Bilder vom Schlafen, Träumen und Erwachen eine sehr ähnliche Bedeutung. In der Geburt der Tragödie liest man: Zu unserem Tröste aber gab es Anzeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Abgrunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu geben, daß dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten dionysischen Mythus in selig-ernsten Visionen träumt. Glaube niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er Drachen tödten... [ΠΙ/1, 149f (§24)]
Ahnliche Bilder verwendet Nietzsche in §23: »Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen". „Der erste dionysische Lockruf 1 sei der „zarte" Choral Luthers, der wie die Vogelstimme das „Nahen des Frühlings" töne [142f]. Der Drache bedeutet offensichtlich den zu überwindenden Gegensatz der heutigen sokratisch-alexandrinischen Kultur.36 „Diese unsere so fragwürdige Cultur hat bis jetzt mit dem edlen Keme unseres Volkscharakters nichts gemein" [142.29]. Für Nietzsche hat das deutsche Wesen offenbar denselben dionysischen Grund wie die griechische Tragödie. Unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten dieser Zeit liest man: „Die germanische Begabung, die zuerst in Luther, dann wieder in der deutschen Musik ans Licht kam, hat uns wieder mit dem Dionysischen vertraut gemacht..." [III/3, 287]. Luther, Siegfried, Herakles: In der Geburt der Tragödie sind sie alle Bilder grundsätzlich desselben Dionysos, der im deutschen Wesen, wenn heute nur
36
Vgl. bei Schelling den mythischen Drache als ein Bild des Bösen: X I V , 277f; auch XII, 537.
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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schwächlich, vorhanden ist und der die Deutschen aus der geistigen Gefangenschaft führen soll.37 Unter den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches (Winter 1870-71 Herbst 1872) findet man den Satz: „Der Mythus der Germanen ist dionysisch" [ΠΙ/3,252]. Dieselbe Deutung des deutschen Wesens findet sich bei Schelling. In der Schrift Die Gottheiten von Samotbrake (1815) sieht er im dionysischen Wesen des deutschen Mythos die kräftige Spannung der Prinzipien, und zwar mit Bezug auf die mythologische Schilderung der Altdeutschen in der Germania des Tacitus [VIII, 356]. In der Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (des Jahres 1872) ruft Nietzsche aus: „Deutsch! Jetzt lernte er den Tacitus verstehen..." [III/2, 241]. Nietzsche deutet Luther als deutschen Herkules [III/l, 145; vgl. III/2, 241]. In der Spätphilosophie deutet Schelling die Reformation als „That des deutschen Volkes", das damit ein Idol „zerstörte" [XI, 546]. Schelling denkt gewiß an Luther, wahrscheinlich als Bild des Herakles. 38 Der späte Schelling sagt, daß das Christentum „in den Deutschen von Natur zu seyn scheint" [XIV, 316]. Das meint er sicher als einen ironischen Hinweis auf den dionysischen Grund des mythischen deutschen Wesens.
5.6 A ndere Bilder und Gleichnisse Schelling? Philosophie der Kunst (1802-1805) enthält viele Lehren über die Formen der verschiedenen Künste, z.B. der Lyrik und des Epos, die man im Vergleich mit verwandten Begriffen in der Geburt der Tragödie untersuchen könnte. In dieser Hinsicht aber ist Schellings Arbeit ein Dokument der Literaturwissenschaft der Frühromantik und des damaligen Jenaer Schlegelkreises; eine Untersuchung der Parallelen mit der Geburt der Tragödie müßte insbesondere die Arbeit von Friedrich und A.W. Schlegel berücksichtigen. Für die vorhegende Arbeit würde solch eine Untersuchung zu weit führen; wir wollen nur einige Zusammenhänge kurz erwähnen.39 Am Schluß der Philosophie der Kunst steht ein Hinweis auf die Oper von
37
Vgl. in Wagner in Bayreuth den Grund, auf welchem „allein jene eigentlich und einzig deutsche Heiterkeit Luther's, Beethoven's und Wagner's erwachsen kann..." [IV/1, 52.5 (§8)]. Siehe unten Kap. 10 (§8).
38
Die Verwendung mythologischer Bilder für die Auslegung der Geschichte des Christentums kommt bei Schelling häufig vor [siehe Kap. 8 (Christentum)]. Schon in der Reformation wurde
39
Luther als Herkules dargestellt. Siehe z.B. Mythographie der frühen Neuzeit. Ihre Anwendung in den Künsten, hg. v. Walther Killy [Wiesbaden, 1984], Nach der Philosophie der Kunst ist unter allen Arten der Dichtung die Lyrik am wenigsten dem „Zwang" einer Regel unterworfen: „die kühnsten Abspränge von der gewohnten Gedankenfolge sind ihr erlaubt..." „In dem Epos waltet vollkommene Stetigkeit, im lyrischen Gedicht ist diese aufgehoben, wie in der Musik..." [V, 640]. In der Zeit der aufblühenden lyrischen Gesänge sei „die im Epos noch geschlossene Knospe gebrochen"; „die freiere Bildung des Lebens entfaltet sich" [V,
164
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
heute als „nur eine Karrikatur" des Dramas des Altertums, in dem alle Künste Musik, Tanz, Poesie - vereinigt waren; jedoch sei es heute die Oper, die „uns am ehesten zur Aufführung des alten mit Musik und Gesang verbundenen Dramas zurückführen könnte" [V, 736]. Das findet Parallelen in der Geburt der Tragödie [§19ff] so wie ja auch im „Gesamtkunstwerk" Richard Wagners.40 In den folgenden Abschnitten wollen wir Parallelen zwischen Schelling und Nietzsche in der Verwendimg von mythologischen Bildern und Gleichnissen nachweisen. Wie wir schon gesehen haben [Kap. 4.1, Kap. 2.1] entsteht die Mythologie und daraus die Philosophie - für beide Philosophen mit der Entstehung der Sprache selbst. Nach Schelling haben die mythologischen Bilder in allen Sprachen trotz vieler Unterschiede grundsätzlich dieselbe Bedeutung. Am Ende von Schellings „Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie'' liest man hierüber folgendes: Es wird für die Philosophie der Kunst unerläßlich, es wird sogar eine ihrer ersten Aufgaben seyn, sich mit den Gegenständen der künstlerischen und dichterischen Dar-
40
642], Diese Zeit ist die bacchische in der griechischen Kultur. Weiter entsprechen die Stufen der Musik, vorzüglich Rhythmus und Melodie, den Stufen der griechischen Architektur: dem Dorischen, dem Ionischen, dem die beiden anderen vereinigenden Korinthischen. Das Dorische entspricht dem „rhythmischen Charakter" der alten griechischen Leyer, „dessen Erfindung einige dem Apollon ... zuschreiben" [V, 593-97; vgl. 492-96]. In der Entwicklung der hellenischen Kultur geht das Dorische mit dem homerischen Epos zusammen; die Wandlung in der Architektur entspricht der revolutionären, republikanischen Wendung der Lyrik [421, 641; vgl. IX, 166; XII, 594], All das findet Parallelen in den Ausführungen über dieselben Themen in der Geburt der Tragödie, wo die Lyrik des Archilochos die Bedeutung einer bacchischen Revolution in einer starr gewordenen dorischen Kultur hat [bes. III/1, 36-38 (§4); siehe auch §2, §5]. Aber bei alledem hätte man die Literaturgeschichte der Brüder Schlegel zu berücksichtigen, die in diesen Beziehungen Einfluß auf die Philosophie der Kunst hatten [siehe unsere Einleitung], Wie Ernst Behler mitteilt, war „die Konzeption griechischer Literatur" bei Nietzsches Lehrer in Leipzig, Friedrich Ritsehl, „das Programm Friedrich Schlegels": Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. I [Paderborn, 1979], S. LXXXV. Vgl. beim späten Schelling die „Volkspoesie" als Produkt der Mythologie [XI, 60, vgl. 52ff], Nach der Philosophie der Kunst ist der heutige Choral „die einzige, obgleich höchst verstellte Spur der alten Musik" [497], Sehr ähnlich steht es in der Geburt der Tragödie im Zusammenhang des antiken dionysischen Volkslieds [44f (§6)] mit dem Choral der deutschen Reformation [143 (§23)]. - Der Abschnitt der Philosophie der Kunst über die Malerei, über „Schein" und „Helldunkel" - mit Raphael an der Spitze der malerischen Kunst überhaupt - [V, 517ff, 537, 559f], stellt einen Gedankenzusammenhang dar, der sehr an Nietzsches Besprechung bes. des Gemäldes von Raphael in §4 der Geburt der Tragödie erinnert. Nach dem System des transzendentalen Idealismus geht es im Kunstwerk um die „Befriedigung" des Gefühls eines unendlichen Widerspruchs. „Der äußere Ausdruck des Kunstwerks ist also der Ausdruck der Ruhe, und der stillen Größe, selbst da, wo die höchste Spannung des Schmerzes oder der Freude ausgedrückt werden soll" [III, 620], Das entspricht Nietzsches Meinung über das Raphael-Gemälde in der Geburt der Tragödie [III/1, 35], Vgl. Raphael an anderen Stellen bei Schelling, VII, 309, 318ff.
Kap. 5: Problem bereiche in der „Geburt der Tragödie"
165
Stellungen zu beschäftigen. Hier wird es unvermeidlich seyn, eine aller bildenden und dichtenden Kunst vorausgehende, ursprünglich, nämlich auch den Stoff erfindende und erzeugende Poesie gleichsam zu fordern. Etwas aber, das sich als eine solche ursprüngliche, aller bewußten und förmlichen Poesie vorausgehenden Ideenzeugung ansehen läßt, findet sich eben nur in der Mythologie. ...[diese] verhält sich zu allen späteren freien Hervorbringungen als eine solche ursprüngliche Poesie. In jeder umfassenden Philosophie der Kunst wird daher ein Hauptabschnitt die Natur und Bedeutung, insoweit auch die Entstehung der Mythologie erörtern müssen, wie ich in meinen vor fünfzig Jahren gehaltenen Vorträgen über Philosophie der Kunst ein solches Kapitel in sie aufgenommen hatte, dessen Ideen in den späteren Untersuchungen über Mythologie häufig reproducirt wurden. [XI, 241]
Auch in der Geburt der Tragödie handelt es sich um die Wiedergewinnung der sprachlichen Originalität. Wie Nietzsche schreibt, sei die Metapher „für den echten Dichter ... ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt" [III/l, 56 (§8); vgl. Kap. 6.7]. 41 Das ist auch Schellings Ansicht. Aber die Ubereinstimmung zwischen Nietzsche und Schelling erstreckt sich auch auf sehr viele einzelne Bilder und Gleichnisse. Die „Kühle" der Vernunft ist eine bis in die Antike zurückreichende Metapher, die in der Literatur der deutschen Frühromantik häufige Anwendung findet. Schelling legt ihre Bedeutung wie folgt aus: Mythisch bezieht sich „kalt" wesentlich auf die Ausschließung der zweiten, dionysischen Potenz, so wie die Wärme von einem Körper ausgeschlossen wird: bei völliger Ausschließung „erstarrt" das Wasser, es wird Eis [XII, 167]. Die abstrakt-rationale Erklärung der Wirklichkeit ist für Schelling „kalt", mitunter auch „frostig". Schon dadurch, daß sie von der Wirklichkeit abstrahiert - dies tut jede nüchterne wissenschaftliche Vernunft -, aber insbesondere sofern sie an der Wirklichkeit vorbeigeht und in ihrer Abstraktionen lebt, ist die Wissenschaft „kalt". Schließt sie das wirkliche Dionysische, das Leben selbst, aus, so erstarrt sie in den kalten Abstraktionen. Schelling führt eine allzu abstrakte als eine „frostige" Erklärung eines Wissenschaftlers an: In heiliger Wut entmannten sich Priester der Urania-Zeit darum, weil sie nach diesem Wissenschaftler (Creuzer) „die gegen die winterliche Sonnenwende abnehmende Zeugungskraft der Sonne symbolisch ausdrücken oder darstellen" wollten [XII, 249; vgl. X, 138; XIII, 501]. Man findet eine sehr ähnliche Verwendung von „Kälte" bei Nietzsche in Zusammenhang mit der auf Logik gebauten sokratisch-alexandrinischen Kultur. In §18 der Geburt der Tragödie bezeichnet Nietzsche die existentielle Lage des theoretisch-sokratischen Menschen der Neuzeit als einen „Eisstrom" [III/l, 115].
41
In Nietzsches Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophie findet man: „Sehr griechisch die Gleichnißrede, die die Lehren mehr andeutet als ausspricht" [II/4, 224].
166
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
Die Dialektik, welche die sokratische Zeit kennzeichnet, „kann allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen" [90 (§14)].42 Das Drama des Euripides enthält „kühle paradoxe Gedanken" und Affekte, die „erstarren" können [80 (§12)]. Nietzsche kann „kühl" auch für den Schauspieler in der Tragödie gebrauchen, der das Spiel und sich selbst im Spiel apollinisch-besonnen als Schein beschaut [ebd; vgl. Kap. 4.5.g]. Das Erstarren kehrt in Nietzsches Bild der „ägyptischen Steifigkeit und Kälte" wieder [66 (§9)]. In Schellings Mythologie haben die „versteinerten" Götterbilder der ägyptischen Kunst noch nicht die freie Beweglichkeit der griechischen [XI, 24; vgl. Kap. 4.5.b, Kap. 4.4.c]. Nach der Geburt der Tragödie gibt der Hellene, während er sich im Sterben der Tragödie nun dem sokratischen „Optimismus" zuwendet, den Glauben an die Unsterblichkeit auf und wird zum „Greisen" £111/1, 66 (§11)]. Dies bedeutet die verhängnisvolle Losreißung vom lebendigen Wurzel im tragischen Weltgrund, die mit dem Zeitalter der alexandrinischen Wissenschaft stattfindet. Bei Schelling findet sich folgendes: Wenn man den Glauben an die Seele aufgebe, wird man „schon in der Jugend greisenhaft" [XI, 477]. Seele ist für Schelling das positive Wirkliche der Existenz, das Lebendige am Menschen schlechthin, zugleich der Zusammenhang des Menschen durch sein Empfindungsvermögen mit allem Wirklichen der Natur; so ist es das reale Gegenteil des nur Gedachten [XI, 313-320, 402-408, 516ff]. Er definiert Seele als das erste Prinzip, das durch das zweite Prinzip in sein „Ansich" zurückgebracht, d.h. zur wirklich existierenden Potenz, zum Können überwunden worden ist, also zum Menschen geworden ist. Aber die ganze Natur ist nach Maß „beseelt": Sie läßt stufenweise Uberwindungen des (für sich unbestimmten) Ersten erkennen (Pflanzen, Tiere, Menschen) [XIII, 473f], Insofern definiert sich der gefallene Weltgrund auch als gefallene Beseelung, nämlich als die gespannte, durch den Prozeß der Uberwindung gekennzeichnete Beziehung der Prinzipien zueinander in allem real Existierenden. Die gefallene Seele als jenes „Ansich" ist das menschliche Subjekt, dessen seelisches Können in das mythologische Geistwerden übergeht und schließlich zum selbstbewußten Ichsein, zum Geist wird [vgl. Kap. 3.1-3; vgl. Seele in Kap. 4.1 und in Kap. 9 (§5)]. Den modernen, nur theoretischen Menschen der sokratischen Kultur nennt Nietzsche „den ewig Hungernden" [III/l, 116.5 (§18); vgl. 142.17.31 (§23)]. Dieser Mensch lebt in seinen wissenschaftlichen Abstraktionen und hat wenig bis nichts von tragischer Wirklichkeit. Bei Schelling ist „Hunger" ein Bild der Potenz als der 42
Bei Schelling steht die „Helle" in Zusammenhang mit der mythologisch-dionysischen Erleuchtung. Man findet sie am griechischen „Mittag", aber auch in der mythologischen Krisis, aus welcher nicht nur das Griechische, sondern auch die indische Verdunkelung als die nihilistische „Verwesung" des ersten, materiellen Prinzips entsteht [z.B. XIII, 445, 403ff]. Siehe unten Kap. 5.7. Vgl. die LichtMetapher in Kap. 8.
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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Möglichkeit im Geist des Menschen, die nach Verwirklichung, nach Sein „hungert" [XI, 294,206]. Für Schelling verhält sich das Denken in seiner natürlichen Negati vität wie Potenz oder Möglichkeit zur Wirklichkeit [z.B. XIII, 64f]. So braucht es nur noch einen Schritt, um den theoretischen Menschen, der seine Existenz auf negatives Denken gründet, den „ewig Hungernden" zu nennen. Nach Nietzsches Sokrates und die Tragödie sterben die Gestalten der Tragödie an dem, was im neuen sokratischen Zeitalter das Typische bildet; nämlich an einer „Superfötation des Logischen" [III/2, 38.11]. In der Geburt der Tragödie beschreibt dieser Ausdruck die „logische Natur" des Sokrates selbst [III/l, 86.32 (§13)].43 Das Wort „Superfötation" bedeutet Überernährung, Hypertrophie, Aufschwellung. Bei Schelling findet man ein ähnliches Bild, nämlich den „Schwulst" oder die „Aufgeblasenheit" der Vernunft: Mit Hinweis auf eine Stelle bei Plutarch 44 bezieht er den Ausdruck auf die (negative) Vernunft der Sophisten und Eleaten, die Sokrates mit einer noch strengeren, schärferen negativ-logischen Dialektik zerstört [XIII, 97; XII, 284], An anderen Stellen redet Schelling von der „Aufgeblasenheit" der nur negativen Vernunft, die aus sich selbst (dem Denken allein) die Wirklichkeit philosophisch erklären will [z.B. XII, 41; XIII, 80]. In Nietzsches Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten findet man die „hypertrophische Aufschwellung" der heutigen „historisch und genetisch" Gebildeten, die an „gelehrter Fettsucht" leiden [II/2, 19 7]. 45 Häufig nennt die Geburt der Tragödie die sokratische Kultur „abstrakt", d.h. von Begriffen beherrscht, die von der Wirklichkeit abgehoben sind. Der Mensch der sokratischen Kultur hat nach Nietzsche nichts „Schweres" zu verantworten, er flüchtet vordem „Emst" des Daseins [HI/1, 74 (§11)]. Der Emst ist ein Merkmal des dionysisch erweckten oder tragischen Menschen, der die Schwere des Daseins tief empfindet und für den daher die tragische Schwermut und die Neigung zur Weltverneinung sehr nahe liegt. 46 Nietzsche nennt Sokrates „ernst", wo dieser seine „göttliche Berufung" (der Verneinung) geltend macht [87.11 (§13)]. Bei Schelling sind Ernst und Schwermut Kennzeichen des ersten Prinzips des Menschen.47 In
43
Nach Nietzsches Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen stellt jeder in der Reihe der Philosophen einen „einseitigen" Typus dar: Kap. 2.1, vgl. Kap. 2.9 (Sokrates), Kap. 4.4.b.
44
De Genio Socratis, §580. Vielleicht ungewöhnlich ist Schellings Übersetzung von Plutarchs Wort τ ΰ φ ο ς als „Schwulst", „Aufgeblasenheit"; gewöhnlicher ist z.B. „Nebel". Vgl. aber H. Frisk, Griechisch etymologisches Wörterbuch, Bd. II [Heidelberg, 1970], 949f.
45
Vgl. Nietzsche schon in seiner Leipziger Zeit (1867/68): In der literarhistorischen Arbeit der Gegenwart gebe es „Hypertrophie des Studiums (ebenso wie der Hermeneutik)" [BAW, III, 331].
46
Siehe die Stellen III/l, 107 (§17); 112.3 (§18); 118.27, 124.13 (§19); 125.26, 128.9 (§20). „Sowohl im Christenthum als im Heidenthum giebt es die ernsthaftesten Stellungen zB. die Mysterien..." [II/3, 370],
47
Die Schwere im Menschen ist im Grunde dasselbe wie die des ersten Prinzips in der Natur. Als Zeichen des ersten Prinzips ist sie ein wichtiges Thema in Schellings früher Naturphilosophie. In
168
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
seinem ganz eigenen Grunde - dem ersten Prinzip für sich - ist das menschliche Leben bei Schelling sozusagen tödlich ernst, wie man dies z.B. auch an der ernsten, engen Gesetzlichkeit erkennt, wo das erste Prinzip die Vorherrschaft über dem zweiten hat [Kap. 3.6]. Auch das Tragische und der Weltgrund, auf den es sich bezieht, sind für Schelling „ernste" Sachen [z.B. XIII, 529f], Die griechischen Mysterien sind „ernst" [XIII, 442; vgl. in Kap. 2.1, ferner in Kap. 4.2], Nach Nietzsche gibt es in der abstrakten Wissenschaft eine „Universalität der Wissensgier", wodurch „ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesamten Erdball, ja mit Ausblicken über die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems", gespannt worden ist. Etwas später in demselben Abschnitt [§15] gebraucht er das Bild des Netzes wieder: Er redet von den „immer weiteren Ringen" einer Erkenntnis, welche „die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht", und von der „Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen" [III/1, 96f]. In Schellings Geschichte der neueren Philosophie findet man dieselbe bildliche Veranschaulichung der Ansprüche der negativen Hegeischen Logik: Aber eben damit stellt sich auch das Logische als das bloß Negative der Existenz dar, als das, ohne welches nichts existiren könnte, woraus aber noch lange nicht folgt, daß alles auch nur durch dieses existirt. Es kann alles in der logischen Idee seyn, ohne daß damit irgend etwas erklärt wäre, wie z.B. in der sinnlichen Welt alles in Zahl und Maß gefaßt ist, ohne daß darum die Geometrie oder Arithmetik die sinnliche Welt erklärte. Die ganze Welt liegt gleichsam in den Netzen des Verstandes oder der Vernunft, aber die Frage ist eben, wie sie in diese Netze gekommen sey, da in der Welt offenbar noch etwas anderes und etwas mehr als bloße Vernunft ist, ja sogar etwas über diese Schranken Hinausstrebendes. [X, 143f]
Nietzsches Verwendung des Bildes ist zwar nicht ganz dieselbe wie bei Schelling, aber es handelt sich doch grundsätzlich um denselben Gedanken. 48 Nach der Geburt der Tragödie wird die jetzige Kultur durch „Verödung", „Sand", „Staub", „Erstarrung" gekennzeichnet [III/1, 127 (§20)]. Der moderne Mensch ist in einer „Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That" [144 (§23)]. Sein Leben ist ein „heimathloses Herumschweifen" [ebd]; er schifft auf einem „weiten, wüsten Wissensmeer" [112.31 (§18)]. Bei Schelling findet man zwar nicht Sand und Staub, aber doch die sonstigen Zeichen der Wüste in wesentlich demselben Zusammen-
48
den Stuttgarter Privatvorlesungen des Jahres 1810 kennzeichnet die Schwermut das Tiefste der Natur [VII, 465f; vgl. XII, 439]. Vgl. auch die Verwandtschaft von Ernst und Schwere in der Mythologie der Spätphilosophie [vgl. XII, 185f], An der oben zuletzt zitierten Stelle in der Geburt der Tragödie redet Nietzsche von einem „Mechanismus der Begriffe, Urteile und Schlüsse" in der alexandrinischen Wissenschaft der falsch eingeschätzten Logik. In der eben zitierten Arbeit schreibt Schelling von der Unfähigkeit der „bloßen Mechaniker", d.h. der negativen Rationalisten, Hamanns Gedanken zu begreifen [X, 171],
Kap. 5: Problembereiche in der „Geburt der Tragödie"
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hang. Wo das dionysische Prinzip ausgeschlossen wird, wird nach Schelling die Welt leblos, öde, leer [vgl. XIII, 224, 238]. Das geschieht auch im neuzeitlichen Nihilismus als einer vom negativen Denken beherrschten Kulturwelt: „Es kommt einmal dahin, wo der Mensch... von allem Wirklichen sich frei zu machen hat, um in eine völlige Wüste alles Seyns zu fliehen, wo nichts irgendwie Wirkliches, sondern nur noch die unendliche Potenz alles Seyns anzutreffen ist, der einzige unmittelbare Inhalt des Denkens, mit dem dieses sich nur in sich selbst, in seinem eignen Aether bewegt" [XIII, 76, vgl. 80]. Damit hängt es zusammen, daß „in unserer Zeit so viele Heimathlose" seien, die „nirgends Ruhe finden" [XIV, 150]. Die Wüste - auch das wüste Meer [XII, 314] - als das Schrankenlose kennzeichnet bei Schelling auch das Vorgeschichtliche der Mythologie, nämlich die „ewige" Zeit des Gottes Uranos, in der das Bewußtsein stets das Gleiche, das „wüste Unendliche" [XII, 654], zum Inhalt hatte. Daher bedeutet Uranos zugleich die „Enge" solch eines Bewußtseins [XII, 211, vgl. 453; XI, 177]. Mit ähnlicher Anwendung kann die „Enge" bei Schelling auch das heutige nihilistische Bewußtsein kennzeichen [XII, 7]. Nach Nietzsche bannt die heutige Kultur den Menschen in „einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben" [III/l, 111 (§17); vgl. 70.4 (§10)]. Wo Dionysos auf diese moderne Wüste wirkt, entsteht nach der Geburt der Tragödie ein den Sand gewaltig bewegender Sturmwind, der eine rote Staubwolke aufwirbelt [128.3 (§20)]. Rot ist bei Schelling die Farbe des Gottes der Wüste, des Typhon/Kronos, d.h. des mythologischen Gottes, der die schwerste Kontraktion des für sich seienden ersten Prinzips darstellt [XIV, 136; vgl. XIII, 436]. In der Geburt der Tragödie läßt Nietzsche nach dem Sturmwind „aus der Tiefe" ein „goldnes Licht" strahlen, an dem ein „grünes Gewächs" erscheint. Bei Schelling gleicht das mythische Gold, das die kronischen Phöniker in der Erde suchten, dem ersten Prinzip [ΧΠ, 310; vgl. XIII, 417; ΧΠ, 183, 315], Das Gold bedeutet den hohen Wert des ersten, realen Prinzips, das nach Schellings Ansicht für das wirkliche Leben zwar in den Grund überwunden werden muß, das aber keineswegs wie im Nihilismus verlorengehen darf; denn das wirkliche Leben erwächst nur aus diesem Grund. 49 Das „grüne Gewächs" in Nietzsches Gleichnis wäre bei Schelling das kräftige Erwachsen des Geistes, das aus dem überwundenen, festgehaltenen realen Grund entspringt. Die Reihe dieser Bilder bei Nietzsche dürfte sogar Schellings morgendlichaufsteigende mythologische Stufen zusammenfassen: Das Erste ist die Wüste oder die Unbeweglichkeit, welche der dionysische Sturmwind erschüttert und bewegt; als Ergebnis strahlt das goldene geistige Licht aus dem Grund. Der Grund wird 49
Bei Schelling gleicht z.B. Persephone dem ersten Prinzip als dem Saatkorn, das in der Erde stirbt, damit die Frucht erwächst. Die Frucht ist Demeters Kind Jakchos, der zukünftige Herrscher und der geistigste aller Götter [XIII, 413-415, 484f; XII, 638],
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freundlich und lebensspendend, weil Dionysos Herr der Unterwelt ist [XII, 375f]. So spendet die Tiefe bei Schelling das Leben. Es scheint aber der Absicht der Geburt der Tragödie zu entsprechen, daß noch keine Blüte oder Frucht auf jenem „grünen Gewächs" erscheint; denn nur andeutend und rätselhaft weist die Geburt der Tragödie über die Stufe der Geburt selbst hinaus auf eine mögliche Blüte - eine neue apollinische Kultur - hin. Die mythologische Stufe der Arbeit, wie man sagen könnte, ist die der bacchischen Wiederentdeckung des Grundes in der äschyleischen Tragödie (vgl. die Beziehung Aschylus-Sophokles in Kap. 5.2.b). Gleichsam wie Aschylus das teilnehmende Publikum in die leidende Größe des Prometheus führte, so führt Nietzsche den Leser in den Schrecken des dionysischen Grundes zurück, nicht damit der Leser vor Schreck erstarre, sondern damit er an die dionysische Kraft der Tragödie glauben lerne. Nach Nietzsche hat Aschylus „das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus dem Tartarus ans Licht geholt" [ΙΠ/1, 69 (§10)]. Das tut Nietzsche selbst in der Geburt der Tragödie, so wie es Schelling in den Weltaltem getan hatte. Erst in Schellings letzten Werken aber findet man sowohl seine Deutung des TartarusMythos [XIV, 290] als auch die Lehre vom Festhalten dieses Grundes als der Tiefe, aus dem alles Wirkliche und alles wirklich Gute erwächst [bes. XII, 436].
5.7 Mittag und Untergang In der Vorlesung „Einleitung in die Tragödie des Sophokles" (1870/71) führt Nietzsche als Beispiel der griechischen „Vergeistigung" der Dionysosfeier [Kap. 4.3] eine Szene aus Euripides' Bacchen an. Hier erzählt ein Bote, daß er in der Mittagshitze mit den Herden auf die Bergesspitze hinaufziehend drei Frauenchöre bemerkt habe, sittsam am Boden liegend oder gegen die Tannenstämme gelehnt.... Sie sprangen auf, ein Muster edler Sittsamkeit, Mädchen junge und ältere Frauen springen auf... Einige nehmen Rehe und junge wilde Wölfe auf den Arm, und säugten sie. Epheukränze, Eichenzweig und Winden setzt man sich auf, eine nimmt den Thyrsos, schlägt an den Felsen, woraus sofort Wasser sprudelt... Andre rühren nur mit den Fingerspitzen den Boden und schneeweiße Milch sprudelt hervor. ... Also eine ganz verzauberte Welt, die Natur hat ihr Versöhnungsfest mit dem Menschen gefeiert, alles ist ekstatisch und dabei doch würdevoll edel. [Π/3, 14]
Auch Schelling schildert die griechisch-bacchische Versöhnung des Menschen mit der Natur [Kap. 3.1]. Hierüber erzählt Schelling eine andere griechische Szene: das Einschlafen des Naturgottes Pan in der Helle und Hitze des stillen Mittags [XIII, 440]. Jedes dieser Bilder ist für Schelling mythologisch bedeutsam. Die Wärme ist die geistig-dionysische [vgl. den Wein, Kap. 3.1; vgl. XII, 359]; Pan ist die alte, gefürchtete Gestalt des ersten Prinzips, dessen friedliches Schlafen die Uberwindung
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des Eisten in den Grund bedeutet; das Bewußtsein ist mit dem alten Gott versöhnt. In Schellings Darstellung der griechischen Mysterien ist der Lichtglanz ein Bild der dionysischen Kraft der Uberwindung oder Besiegung des ersten Prinzips, nämlich als „Glanz" des aufgehenden Geistes, das höchste Resultat der mythologischen Erleuchtung [XIII, 445]. Im Hinblick auf diese Metapher fällt es auf, daß Nietzsche im obigen Zitat die Szene aus Euripides' Bacchen leicht ändert: Bei Euripides [L. 678f] findet die Szene nicht zu der Mittagszeit, sondern am Vormittag bei den ersten Strahlen der Sonne statt. Dagegen in Nietzsches Erzählung der Szene spielt sie sich mittags - „in der Mittagshitze" - ab. In §5 der Geburt der Tragödie entwirft Nietzsche das Bild des von Dionysos berauschten Lyrikers, Archilochus, in der Mittagssonne auf hoher Alpentrift im Schlaf niedergesunken. Das Bild entnimmt Nietzsche offenbar demselben Abschnitt der Bacchen des Euripides, nur hat Nietzsche den Stoff sehr frei umgestaltet. In der Fassung in der Geburt der Tragödie berührt Apollo den begeisterten Lyriker, so daß dieser „gleichsam Bildfunken, lyrische Gedichte, um sich sprüht" [III/l, 40]. Die Berührung durch Apollo hängt offensichtlich mythologisch mit dem Mittag zusammen. In der vorbereitenden Schrift Die dionysische Weltanschauung heißt es über diese Szene: „Es ist der rechte Moment... jetzt schläft Pan, jetzt ist der Himmel der unbewegte Hintergrund einer Glorie, jetzt blüht der Tag" [III/2, 50f, 78]. Daß der Dichter am Mittag poetisch produktiv wird, entspricht bei Schelling dem im höchsten dionysischen Moment sich entfaltenden „Blühen" des freien Geistes, der aus der griechischen Uberwindung des Ersten hervorgeht. In Ubertragung der mythischen Bilder sieht Schelling die hellenische Wissenschaft ihren „höchsten Blütenstand" mit Piaton, dem „Dichter der Philosophie", erreichen, und zwar am „Mittagspunkt" der Entwicklung dieser Wissenschaft. Er habe wie im Traum die selige Vision der Ideen gesehen [XI, 380f; vgl. V, 711]. Aber die Konsequenz ist eine nihilistische: nur die Ideen sind wahr. Bei Schelling ist das Ergebnis des Lichtereignis des mythologischen Mittags kein eindeutiges: Der Geist kann in greichische Freiheit blühen, aber er kann auch seine Freiheit nihilistisch verspielen. Denn im freien Geist wird die freie Vernunft des Geistes entbunden, und von ihr kann der hohen Freiheit der Griechen und ihrer Visionen sehr leicht tödliche Wunden geschlagen werden. Das erkennt man auch in Schellings bemerkenswerter Beschreibung der herrlichen poetischen homerischen Götterwelt: Der Ernst und die Strenge der früheren Zeit sind aus diesen Bildungen gewichen; nur die gemilderte Größe ist geblieben; diese Bildungen machen keinen Anspruch mehr auf religiöse Realität; das eigentlich Reale ist in die Tiefe gesunken. D i e griechischen Götter sind das, was nach der höheren Betrachtungsweise eines wissenschaftlich- oder poetischverklärten Gemüths die Dinge der Sinnenwelt sind; sie sind wirklich nur noch Erscheinungen, nur Wesen einer höheren Imagination, sie machen keinen Anspruch auf
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höhere Wahrheit, als die wir auch dichterischen Gestalten zusprechen. Aber darum können sie nicht als selbst poetisch erzeugte betrachtet werden; diese nur noch dichterische Bedeutung kann wohl das Ende des Processes seyn, aber nicht der Anfang. Diese Gestalten entstehen nicht durch Poesie, sondern sie verklären sich in Poesie; die Poesie selbst entsteht erst mit ihnen und in ihnen. [ΧΠ, 646f]
Die Poesie ist keine Abstraktion, aber ihre Figuren können abstrakt gedacht und gedeutet werden. 50 Nach Schelling hat man von den Griechen und ihrer Poesie das Geheimnis des wahren Gewinns der mythologischen Prozeß zu lernen: Man darf den widersprüchlichen Leidensweg, der real-geschichtlich die Olympier erzeugt hat, nicht vergessen oder verdrängen, vielmehr muß er als mythologische Erinnerung an die geschichtliche Entstehung festgehalten werden. Solches Festhalten sieht man im Persephonemythos der Eleusinischen Mysterien in seinem ganzen Umfang von Urania bis zur Geburt von Demeters Sohn Jakchos [vgl. Kap. 5.3]. Nur so hütet sich der Geist in seiner mittäglichen Helle vor der Vernunft und ihrer Auflösung der Wirklichkeit in nihilistische Abstraktionen, d.h. in Begriffe, die sich von ihrem realen Ursprung im Wirklichen gelöst haben, um nun von der Vernunft aus die Wirklichkeit zu überschatten. Der Abfall des Geistes von der griechischen Höhe findet für Schelling schon früh, freilich auch bei Piaton statt: Die abstrakten Ideen werden für die wirklichen Wahrheiten gehalten, die sich nur mit vermindertem Wahrheitsgehalt in den Erscheinungen der geschichtlichen Welt zeigen. 51 Das Sterben des griechischen Mythos bei Nietzsche erweckt einen ähnlichen Eindruck wie jene - wie man sagen könnte - poetische Schwäche der Blüte der homerischen Mythen bei Schelling. In §10 der Geburt der Tragödie schreibt er folgendes mit Bezug auf den Untergang, in der Zeit der Geburt der Tragödie, der früher in Homer blühenden olympischen Götterwelt: Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neugeborene Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie gezeigt, mit einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufglänzen fällt er zusammen, seine Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des Alterthums nach den von allen Winden fortgetragenen, entfärbten und verwüsteten Blumen. [ΠΙ/1, 70]
Man vergleiche bei Schelling den folgenden Passus in der Philosophie der Kunst: „Wie aber in der plastischen Kunst die nach dem hohen und strengen Stil hervorgehende harmonische Schönheit eine Blüte war, die gleichsam nur auf einem Punkte erreicht werden konnte, und dann wieder welken, ...so ist dasselbe auch in der dramatischen Kunst geschehen, in der Sophokles der wahre Gipfel ist, auf den gleich Euripides folgt, welcher weniger Priester der ungeborenen und ewigen, als Diener der
50
Vgl. die neuplatonische allegorische Auffassung der Götter in Kap. 4.4.a.
51
Siehe z.B. XI, 392f; vgl. X I V , 333; siehe oben Kap. 1.3, Kap. 2.10.b.
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zeitlichen und vergänglichen Schönheit ist" [V, 711; vgl. IX, 160].52 In der unaufhörlich fortschreitenden weiteren Entwicklung geht es für Schelling wie für Nietzsche abwärts: in die alexandrinische Kultur. Ein anderes Gleichnis aus der Geburt der Tragödie·. „Der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, hat sich über die Nachwelt hin ausgebreitet, gleich einem in der Abendsonne immer grösser werdenden Schatten" [III/l, 93 (§15)]. Wir haben die untergehende Richtung des sokratischalexandrinischen Zeitalters - für Schelling in den Nihilismus - schon vorher gesehen. Schelling hat eine Zwischenstufe: den Nachmittag als die Zeit der Reife und der Sammlung der reifen Früchte in die Scheune.53 Der „Abend" bedeutet bei Schelling die Zeit des Nihilismus als des „dämmernden" geistigen Lichtes [Indien: XII, 451], Nietzsches sokratisch-alexandrinische Kultur gleicht bei Schelling dem Abend des Nihilismus, der Zeit der längerwerdenden Schatten. Der Abend ist die Zeit des Abfalls der Frucht zu Boden, wo sie verwest. Am Schluß des ersten Bandes der Philosophie der Offenbarung sagt Schelling, daß das griechische „Bewußtseyn des nothwendigen Endes" [der griechischen Welt] einen „wohlthätigen und versöhnenden Schatten ... auf die bunten und mannichfaltigen Gestalten desselben wirft", einen Schatten, „der es auch uns noch möglich macht, mit den Hellenen gleich zu fühlen und zu denken" [XIII, 529]. Mit einem Gleichnis der Tageszeiten stellt Nietzsche den tragischen Wagner in die Position des Abends: „Aus dem dionysischen Grunde ist eine Macht emporgestiegen, ...die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben" 52
53
Mit jener letzten Verwüstung im Nietzsche-Zitat, nämlich mit der „Entfärbung", vgl. Schellings Bemerkung über die ganz nüchterne, Dionysos ausschließende chinesische Lehre des Konfuzius, welche die Gesetzlichkeit des ersten Prinzips allein für sich vertritt: Sie sei „frei von aller mythologischen Farbe" [XII, 561], In Schellings mythischer Deutung des Aristoteles, der Piaton folgt, wie die „Grammatik" der Blüte der „Poesie" folgt. Die Grammatik „sammelt die goldene unter dem Sonnenschein des Himmels und dem befruchtenden Einfluß der Nacht herangewachsene Frucht in die Scheunen und verarbeitet sie zum allgemeinen Gebrauch" [XI, 381, 557]. Nach einer anderen Stelle gelangt der Philosoph zur Reife, wenn er als Geist „zur Seele" wird, d.h. wenn er am Schluß der negativen philosophischen Entwicklung aus dem bloß Begrifflichen oder Ideellen in realexistentielle Beziehung zum Realen tritt [siehe unten Kap. 9 (§5)]. Reifsein ist die letzte philosophische Voraussetzung der Umkehrung zur positiven Philosophie [XI, 557ff], Die reife Frucht fällt zu Boden und verwest. Schelling zitiert aus Hamann: „Das Samenkorn unserer natürlichen Weisheit muß verwesen, in Unwissenheit vergehen, damit aus diesem Tode, aus diesem Nichts das Leben und Wesen einer höheren Erkenntniß hervorkeime und neugeschaffen werde" [XI, 526; Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten, 2. Abschnitt (siehe J.G. Hamann erklärt, hg. v. F. Blanke u. K. Gründer, [Gütersloh, 1956ff], II, 147f; vgl. I, 40f)]. Das ist „johanneische" Weisheit (vgl. Joh. 12, 24ff). Vgl. Umkehr und Nichtwissen: Kap. 1.2, Kap. 2.9. - „Untergang" kann auch bloß Tod bedeuten: den nihilistischen „Abend" und die „chinesische" Nacht. Hierüber bes. Kap. 12.4.
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[ΠΙ/1,123 (§19)]. Diese Stellung von Wagner entspricht sowohl bei Schelling [Kap. 3.1] als auch bei Nietzsche der Stellung der Tragödie in der Geschichte der griechischen Kultur. Durch die tragische Rückführung zum dionysischen Grund blüht die untergehende griechische Kultur noch herrlicher denn je zuvor, dann geht sie in die Verwelkung unter.
6 Andere Schriften Nietzsches aus dieser Zeit1 6.1 „ Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten "(1872) 6.l.a. Der mythologische Plan der Schrift Die Schrift hat zwei wesentliche Inhalte: erstens das Bildungsideal und die Kritik an der heutigen Bildung, zweitens den Plan der Geschichte, der einer mythologischen Entwicklung entspricht. Es wird eine Reihe von Ereignissen entsprechend dem Tagesablauf geschildert, die mit Mitternacht und dem nahen Anbruch eines neuen Tages durch die Ankunft der „Bildungssonne" endet. Mit Ausnahme des regressiven Moments Kronos sind in Schellings Mythologie die Stufen der „morgendlichen" Momente von Urania bis zur ägyptischen Mythologie [Kap. 3.5] voll von dionysischer Produktionskraft [vgl. XIV, 25]. Das stimmt insbesondere für die zwei Momente Urania und Kybele, die unter dem Einfluß des Dionysos das alte Reale des ersten Prinzips (und dessen altväterliche Moral) auflösen; diese beiden Momente sind auf das Werden einer neuen, zukünftigen, aber noch unbekannten Wirklichkeit gerichtet. Ihre Zeichen sind die Orgien als taumelnde, trunkene Feste. Im großen Umbruch taumelt das Bewußtsein der Zukunft unwissend entgegen. Mit einer „wilden, zerreißenden Musik" versucht es im Moment Kybele, die „Agonie" seines Zustandes zu überspielen [XII, 362]. In Nietzsches Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten gibt es einen sehr kurzen vormittäglichen Moment, der Schellings Moment Kybele zu entsprechen scheint, wie wir gleich sehen werden. Nietzsches Geschichte - Nietzsche hat darin die Hauptrolle des Erzählers beginnt mit einem Sommertag am Rhein, um die Mittagszeit, am Schluß des Studiensemesters. Es findet ein Fest der Studentenverbindung statt. Nach dem Essen und einer musikalischen „Produktion" verläßt der Erzähler das lustige Beisammensein in der Begleitung eines Freundes, der mit ihm das geistige Ideal der gegenseitigen Anregung und Vertiefung in das Studium teilt. „Unmittelbar nach dem geheulähnlichen Schlußaccord" der Musik „verschwanden wir beide durch die Thüre: hinter uns klappte gewissermaßen ein brüllender Abgrund zu. [§] Plötzlich erquickende, athemlose Naturstille. Die Schatten lagen schon etwas breiter, die 1
Die in Kap. 6 besprochenen Schriften sind in den nachgelassenen Fragmenten der Zeit inhaltlich reflektiert und teilweise auch skizziert [III/3 (1869-1872) und III/4 (1872-1874) passim].
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Sonne glühte unbeweglich, aber schon niedergesenkt, und von den grünlich glitzernden Wellen des Rheines her wehte ein leichter Hauch über unsere heissen Gesichter" [III/2,147]. Nach Schelling gedeutet: Der Taumel des Vormittags ist nun vorbei, die plötzliche Stille bezeichnet ein Neues: Der Abgrund ist zugedeckt worden, Pan schläft, das Blühen des Tages beginnt [Kap. 5.7, vgl. 4.5.f], Die Freunde besteigen eine schöne Höhe oberhalb des Rheins, wo später die Verbindung sich versammeln soll. Sie wollen das Schießen mit Pistolen üben. Ihr Ziel ist ein an einem Stumpf eingeschnittenes Pentagramm. Als sie mit der Übung beginnen, ist es schon eine spätere Nachmittagsstunde geworden. Sie werden unterbrochen von einer anderen Gruppe, die sich schon vorher unbemerkt auf der Höhe befand: einem alten und berühmten Professor der Philosophie, dessen Hund, und einem jüngeren Begleiter des Professors. Der Philosoph hat sich anscheinend aus Verdrossenheit über das Bildungswesen der Zeit in die Einsamkeit zurückgezogen. Seine hervorragende Eigenschaft ist die des scharfen Kritikers, und Nietzsche legt ihm die eigene Kritik an den Bildungsanstalten der Zeit in den Mund. Bei dieser ersten Begegnung auf der Höhe meint der Professor, die zwei Studenten duellieren, wogegen er protestiert; außerdem haben sie die Stille seines Gesprächs mit seinem Begleiter schwer gestört. Der Begleiter des Professors gibt bekannt, daß „ein bedeutender Freund dieses bedeutenden Mannes noch diesen Abend hier eintreffen will"; darum wollen sie den Platz nicht verlassen [III/2, 151]. Die Gruppen trennen sich, aber bleiben in der Nähe. Als die Abendwolken sich röten und dann immer mehr verblassen, wenden sich die Gedanken der Studenten ihrer eigenen Erziehung zu: Sie hatte einen guten Anfang, aber nun hat sie eine leichtsinnige Zwischenstufe erreicht. Die zwei Freude erkennen sich als bloß stolze, zukunftslose Nichtsnutze, als bisher selbstzufriedene Ergebnisse der Bildung der Gegenwart. Die Studenten belauschen nun das Gespräch des Philosophen und seines Freundes. Der Philosoph spricht viel Wahres über die schlechte Bildung der heutigen Gymnasien und Universitäten. Bei sich vertiefender Dunkelheit in der Natur verbreitet sich auch Mutlosigkeit und Dunkel des Gemüts, als die vernichtende Wahrheit über die Bildungsanstalten gesprochen und gehört wird. Der Philosoph lobt „die Führer und Mystagogen der klassischen Bildung, an deren Hand allein der richtige Weg, der zum Alterthum führt, gefunden werden kann" [177]. Aber solche Führer gehören nun einer vergangenen Zeit an. Der Philosoph und sein Begleiter verstummen ob der traurigen Lage [184]. Nach einer Pause redet der Begleiter von seiner Bereitschaft zu ernstem Kampf und Opfer. Aber das Gespräch wendet sich unaufhaltsam wieder dem Dunkeln zu: der völlig falschen Erziehungspolitik des heutigen, zur Hegeischen Philosophie geneigten Staats. Die Gegenwart sei eine „Wüste" [205.18]. Der Philosoph malt die Lage der Erziehung mit den dunkelsten sokratisch-alexandrinischen Farben der Geburt der Tragödie. Indessen sind die zwei
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Gruppen, der Professor mit seinem Begleiter und die etwas abseits mithörenden Studenten, von der „völligen Schwärze der Nacht" umgeben. „Plötzlich wurde er stumm: er hatte soeben, mit fast mitleidiger Wendung wiederholt: ,wir haben keine Bildungsanstalten, wir haben keine Bildungsanstalten!' - da fiel etwas, vielleicht ein Tannenzapfen, unmittelbar vor ihm nieder, bellend stürzte der Hund des Philosophen auf dieses Etwas zu: - so unterbrochen, hob der Philosoph den Kopf und fühlte mit einem Male die Nacht, die Kühle, die Einsamkeit. ,Was machen wir doch! sagte er zu seinem Begleiter: es ist ja finster geworden. Du weißt, wen wir hier erwarten: aber er kommt nicht mehr. Wir waren umsonst so lange hier: wir wollen gehen'" [210]. Unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten aus dieser Zeit gibt es ein vorbereitendes, nur fragmentarisches Konzept dieser Schrift und anschließend eine anders gestaltete Beschreibung des jetzt erreichten Standes der Geschichte. Hier heißt es nämlich: „Mitternachtsglocke" und „schmerzlicher Verzicht auf den alten Freund". Die anderen Studenten der Verbindung sind schon angekommen, und die mitternächtliche Finsternis wird noch mit einem Fluch aus ihrem gemeinsamen Mund vertieft: „Höhnisches Abziehen der Studenten, pereat diabolus atque irrisores" [ΙΠ/3,266]. Anscheinend reagieren sie damit auf des Philosophen vernichtendes Urteil, eines, das ihn in die Trennung (= Bruch, Riß) von den Bildungsanstalten und ihren Studenten, zugleich in die Einsamkeit seiner Gedanken getrieben hat.2 Wir kehren zu Nietzsches Erzählung zurück. Auf einmal wollen die zwei sich abseits stillhaltenden, alles mit innerer Teilnahme belauschenden Studenten dem alten Professor für die einsichtigen Wahrheiten über die Bildung ihren Dank erweisen, aber durch die plötzliche Überraschung mißlingt der Versuch; der Philosoph denkt an einen „räuberischen Uberfall". Bellend will sein Hund die zwei Studenten wieder angreifen [211]. Nun nehmen auch die Studenten am Gespräch über die Bildung mit dem Philosophen teil. Dann wird unten auf dem Rhein den Fackelzug der Studentenfreunde gesehen. Der Erzähler äußert seine Ahnung, daß der erwartete Freund des Philosophen „mit allen diesen Fackeln zu Ihnen heraufkommen wird" [212], Das Gespräch geht weiter. Man stellt sich vor, daß sich heute eine kleine Schar von ernst gesinnten Studenten bilden könnte, die in der Erziehung weit über das Gewöhnliche hinausstreben; sie würde nicht einzelne sein, sondern sich gegenseitig stärken. Aber bald unterbricht der Philosoph das Gespräch: er glaubt, der erwartete Freund kommt nicht, obschon dieser „toll genug" sei, „auch wohl um Mitternacht" einzutreffen. 2
Vgl. Nietzsche in den nachgelassenen Fragmenten dieser Zeit (Sommer-Herbst 1873): „Ich kann mir Schopenhauer nicht an einer Universität denken: die Studenten liefen vor ihm davon und er selbst liefe vor den Mit-Professoren davon." [III/4, 323
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Er hatte mit dem erwarteten Freund ein Zeichen abgemacht, aber er glaubt nun, vergebens darauf zu warten [223f|. „Der Tag durfte [dem Professor] als verloren gelten: und ihn gleichsam von sich abschüttelnd hätte er gewiß auch gern das Andenken an unsere Bekanntschaft ihm hinterdreinwerfen mögen" [225]. Plötzlich steht er still: „Ein farbiger Lichtschein und ein knatterndes, schnell verhallendes Getöse" bannt die Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe. Der Philosoph hört das Signal des Freundes: „eine langsame melodische Phrase", verstärkt durch die vielen Stimmen der Studenten. Der erwartete Freund kommt, vom Fackelzug der Sänger begleitet. Der Professor bittet die zwei Pistolenschützen, als Antwort den Rhythmus der Melodie mit ihren Pistolen zu wiederholen. Fünf Schüsse sollten abgegeben werden, aber „eine Sternschnuppe kam, unmittelbar nach dem dritten Schuß, pfeilschnell heruntergeflogen, und fast unwillkürlich ertönte der vierte und fünfte Schuß zugleich, in der Richtung ihres Niederfalls" [225f], Das Gespräch wird mit neuer Energie weitergeführt. Uber die Studentenbegleitung des Freundes ist der Philosoph enttäuscht; viel lieber würde er den Studenten aus dem Weg gehen und allein mit dem kommenden Freund ein ernstes Gespräch führen [227f]. Sein Begleiter führt des Professors Ton der ablehnenden Resignation vor der Studentenschar auf die Richtigkeit seines kritischen Urteils über die Universitätserziehung zurück. Es ist noch Zeit, bis jene Schar die Höhe bestiegen hat: Eifrig regen die anderen drei Gesprächsteilnehmer den Professor zu einer letzten Ausführung über die Erziehung an. Im Gegensatz zu ihm selbst hat seine Kritik in den anderen keine düstere Stimmung gemacht; bei den zwei Studenten gibt es vielmehr Hoffnung, Mut und Begeisterung für den eigenen Bildungsweg und die Aufgabe der Bildung überhaupt. Diese letzte Ausführung, mit welcher die Schrift abschließt, lenkt auf die Notwendigkeit von Führern in der Erziehung, insbesondere von „einem wirklichen Genie", das das ganze Bildungswesen von neuem ordnet [243]. Die Geschichte endet, noch bevor der erwartete Freund in Begleitung der freudigen Studenten ankommt. Das gemeinte „wirkliche Genie" - für diesen Begriff gibt es auch Parallelen bei Schelling^ - ist mit großer Wahrscheinlichkeit der erwartete Freund, der kommende Dionysos in konkreter Erscheinung. In der Schrift wird die vom Philosophen dargestellte ideale Bildungswelt mit einem „Sonnensystem" verglichen, dessen „Bildungssonne" die Geister nährt und reift [206.9, 215.22, vgl. 202.21]. Auch diese 3
Nach Schellings P h i h s o p h i e d e r K u n s t ist das Genie „das inwohnende Göttliche" im Künstler, der die „Kunstwelt" herstellt. „Jedes wahre Kunstwerk ist ein absolut nothwendiges; ein solches, das gleicherweise seyn und nicht seyn konnte, verdient diesen Namen nicht" [V, 460f], Vgl. Kap. 9 (am Anfang).
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Sonne bezeichnet offensichtlich den erwarteten Freund des Philosophen, dessen Ankunft im Fackelzug offenbar das Hocherfreuliche eines neuen Tages bedeutet.4 Das Wunderbare am erwarteten Freund des Philosophen wird durch das unerklärte Jauchzen der Studenten erhöht; ein himmlisches Zeichen, auf die Erde fallende Sternschnuppen, verkündet seine Ankunft. Von der rätselhaften Melodie, die der Philosoph mit dem Freund als Kennzeichen abmachte, wissen wir nur die fünf Schläge, die in der Antwort der Pistolen „fast unwillkürlich" zu vier Schlägen verkürzt wurden. Diese Zahlen müssen Bedeutung haben. Bei Schelling hat man es schon immer mit den drei Prinzipien zu tun; bei Nietzsche haben wir Prinzipien und Zahlen in den Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophie gesehen [Kap. 2.1, 2.8]. In der vorliegenden Geschichte Nietzsches ist der erwartete Freund des Philosophen eine konkrete Gestalt, so wie die Gestalten dionysischer Mythen bei Schelling ( z.B. Herakles). Bei Schelling stellen konkrete Menschen eine vierte Ursache dar, nämlich die Seele; diese bedeutet die Vereinigung der drei ersten Prinzipien oder Ursachen als Prinzipien des physischen Kosmos - an einem bestimmten Menschen [XI, 402ff; vgl. Kap. 5.6]. 5 Bei Schelling ist die fünfte Ursache (nach aristotelischer Tradition) der menschliche Geist, der als eigene Ursache auftritt, wenn die Seele als das je eigene Ich der Selbstheit gesetzt wird, was erst im Fall des Menschen stattfindet [XI, 418ff; vgl. Kap. 3.1]. Damit hätte man eine mögliche Deutungsweise der Zahlen in Nietzsches Geschichte. Nach dem Ablauf der Schüsse scheint der kommende Freund eine Fünf - ein (gewöhnlicher) menschlicher Geist - zu sein, aber die letzten zwei Schüsse, die Vier und Fünf, tönen zusammen. Man könnte also fragen, ob nicht der Erwartete vielleicht wider Erwarten ein Mensch wäre, in dem ursprüngliche Seele und eigener Geist in völliger Harmonie wären. Dieses Wunder gibt es bei Schelling nur einmal, in Dionysos' letzter Metamorphose, Christus; nur in ihm wird die selbstische Wirkung des Falls überwunden [Kap. 3.3].6 Seine Erscheinung sieht Schelling als das Aufgehen eines Lichtes in ernster, dunkler Nacht [XIII, 529f], So könnte man bei 4
Vgl. bei Schelling die Fackel des Jakchos, das Symbol der mit Jakchos aufgehenden neuen Zeit [XIII, 489], Die hohe Bedeutsamkeit der Ankunft des Genies erkennt man durch eine Information der gleichzeitigen Schrift Nietzsches, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen,
nämlich
daß seit Piaton die Philosophie die „Einheit der Kultur" oder ein kulturelles „Sonnensystem" nicht mehr bewirkt; sie hat also keine Bildungssonnen hervorgebracht [III/2, 303f, vgl. 364f]. 5
Nach Schellings Hinweis ist für die Pythagoreer die Vier die „Zahl des Geschöpfs" und des „Brunnquells der ewig fließenden Natur" [XIII, 348]. Das steht in Zusammenhang mit Aristoteles' Bestimmung der vierten Ursache als Seele [XI, 399f]. Vgl. Plutarch, De E apud Delphos, 391ff.
6
Christus erfüllt die Forderung einer höchsten Seele (Weltseele) in der gefallenen Schöpfung, indem er das selbstische Für-Sich-Sein des Geistes überwindet und dadurch die Vermittlung aller Stufen der Schöpfung zur Einheit ermöglicht [XI, 415].
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Nietzsche vielleicht auch die Meinung des Professors am Anfang der Geschichte, daß die zwei Studenten duellierten, deuten: Sie schössen auf ein Pentagramm, Symbol des gefallenen oder zerrissenen menschlichen Geistes, das auf ein Symbol des erschöpften Lebens eingeschnitten war: sie schössen auf einander. Die vernichtende Kritik des Professors spiegelt die nächtliche Verfinsterung der heutigen Bildung wider. Sein Bildungsideal ist offensichtlich griechisch; auch zeigt er sich mit der Natur verbunden [III/2, 208]. Aber der alte Professor ist nur Kritiker. Die Bilder, mit welchen Nietzsche ihn beschreibt, findet man bei Schelling in Zusammenhang mit dem ersten Prinzip der Mythologie; nach Schelling gedeutet, hatte die eigene Kritik den Professor in den Nihilismus verleitet. Auch der bellende und beißende Hund des Philosophen ist ein Sinnbild der verzehrenden Kraft seiner Kritik. 7 Nietzsche läßt den Philosophen sagen, daß in der Nähe eines wahren Philosophen „die Luft scharf und klar, der Boden trocken und hart ist" [212], Mit seiner scharfen, harten, trockenen Kritik verhält sich der alte Philosoph in Nietzsches Geschichte wie der sokratische Denker, der den irrigen Gegensatz mit einer besseren Vernunft vernichtet. Ein trockener, harter Boden ist unfruchtbar, so wie die sokratische Kritik allein für sich nur zerstörend, also unfruchtbar ist [vgl. Schelling, XIII, 11; siehe oben Kap. 2.9, Kap. 4.1]. Für die zwei Studenten aber wirkt die Kritik ganz anders: Sie erzeugt Freude, Hoffnung, Zukunft. 8 In Schellings Mythologie entsteht neue Schöpfung nie bloß durch Vernichtung oder Zerstörung. Der Boden muß noch dionysisch aufgebrochen und empfänglich, materiell, gemacht werden, damit die Samen der Zukunft wachsen können. Nietzsches Bild vom harten Boden ist ein anderes als das der fruchtbaren Tiefe in der Geburt der Tragödie, aus welcher am goldenen Licht das Grün steigt [Kap. 5.6]. Eindrucksvoll schildert Nietzsche die sich mit der Nacht vertiefende dunkle Stimmung des Philosophen, der, zuletzt tief in schwarzen Gedanken versunken, von einem „Etwas", vielleicht einem fallenden Tannenzapfen, auf einmal erweckt wird. „Etwas-Seyn" ist ein Ausdruck Schellings, einer, den er in wichtiger Weise für das Reale oder Materielle in seiner spätphilosophischen Unterscheidung von nur negativem Denken und Wirklichkeit verwendet [X, 104, vgl. 99ff; vgl. Kap. 3.1].9
7 8
9
Vgl. bei Schelling den H u n d des Zeus, der Prometheus die Leber auffrißt: XI, 482. Nach einem wichtigen Aspekt scheint der alte Professor für Nietzsche nicht wie Sokrates zu sein: In §15 der Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche, daß ein „theoretischer" Mensch wie Sokrates, so wie der Künstler, durch sein Genügen am „Vorhandenen" vor der „praktischen Ethik des Pessimismus" geschützt werde [III/1, 94], Auch nach der Geburt der Tragödie erzieht Sokrates edle Jünglinge „zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius" [IH/1, 97 (§15); vgl. Kap. 11.5]. Vgl. bei Schelling Sokrates als Hebamme: „Er gebäre nicht mehr, wohl aber helfe er zu gebären" [IX, 239], Vgl. eine Stelle in der Geschichte der neueren Philosophie: Das Subjekt (als Potenz des Seins) geht in das Sein über oder „verendlicht sich (sich zu Etwas macht)" [X, 99f; vgl. Kap. 3.1].
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„Was Etwas ist, muß widerstehen. Das Wort Gegenstand selbst, mit dem wir das Reelle in unserer Erkenntniß bezeichnen, sagt eigentlich nichts als Widerstand..." [ΧΙΠ, 206]. Das widerstehende Etwas ist eben das, was Dionysos zum fruchtbaren Grund überwindet. Man beachte Nietzsches Bild des Tannenzapfen: Mit diesem wirklichen Etwas wird der alte Philosoph aus seiner negativen Gedankenwelt - in welcher die Bildungswelt durch das kritische Urteil nihilistisch vernichtet wird - in die Wirklichkeit zurückgerufen, eben dort zurück, wo der erwartete Freund mit den Studenten die Höhe besteigt. Grundsätzlich dasselbe könnte man im „räuberischen Anfall" der Studenten sehen: Bei Schelling bedeutet der „Raub" (aristotelisch) die Verneinung einer Seinsweise, also hier etwa des nur Negativen an der Kritik des Professors [XI, 288, 302-307; siehe auch Kap. 12.2.a (Anm)].
6.1.b. Die Bildung In den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums aus dem Jahre 1803 legt Schelling sein Ideal der Akademien ausführlich dar. Die zweite Vorlesung hat den Titel „Die wissenschaftlichen und sittlichen Bestimmungen der Akademien", die dritte heißt „Die ersten Voraussetzungen des akademischen Studiums". In diesen Vorlesungen gibt es viel Klagen über den schlechten Zustand der Wissenschaft in den Akademien, die „Pflanzschulen" und „Bildungsanstalten" sein sollten [V, 235]. Heute aber folgen sie der nur „historischen", empirischen Methode, welche die Wissenschaft „zerstückelt" und den Stoff nur als Vergangenheit betrachtet [V, 227]. In Wahrheit aber „geht doch die Wissenschaft auf Gründung einer Ewigkeit mitten in der Zeit" [224]. Von der Seite der Form aus betrachtet, sei die Wissenschaft eine Kunstart, und wie bei jeder Kunst müsse der Künstler die Form aus sich heraus „produciren". (Im Folgenden wollen wir Schelling ausführlich zitieren, um weiter unten den Vergleich mit Nietzsche zu ziehen.) Nicht in der gegebenen und besondern Form, die nur gelernt seyn kann, sondern in eigenthümlicher, selbstgebildeter, den gegebenen Stoff reproduciren, vollendet auch erst das Aufnehmen selbst. Lernen ist nur negative Bedingung, wahre Intussusception [sc. Verinnerlichung] nicht ohne innere Verwandlung in sich selbst möglich. Alle Regeln die man dem Studiren vorschreiben könnte, fassen sich in der einen zusammen: Lerne nur, um selbst zu schaffen. Nur durch dieses göttliche Vermögen der Produktion ist man wahrer Mensch, ohne dasselbe nur eine leidlich klug eingerichtete Maschine. Wer nicht mit demselben höheren Antrieb, womit der Künstler aus einer rohen Masse das Bild seiner Seele und der eignen Erfindung hervorruft, es zur vollkommenen Herausarbeitung des Bildes seiner Wissenschaft in allen Zügen und Theilen bis zur vollkommenen Einheit mit dem Urbild gebracht hat, hat sie überhaupt nicht durchdrungen. [V, 241; vgl. VIO, 202; vgl. Kap. 4.2]
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Kap. 6: Schriften aus der Zeit der „Geburt der Tragödie"
So gebe es einerseits keine Kluft zwischen Wissen und Handeln [237], andererseits „bildet lebendige Wissenschaft zur Anschauung" [243]. In Schellings Spätphilosophie werden all diese Begriffe wesentlich beibehalten, wenn auch teilweise neu gedeutet; z.B. wird in der Spätphilosophie „das göttliche Vermögen der Produktion" als Wirkung des dionysischen Prinzips begriffen [z.B. XIV, 25], Schellings Äußerungen zur Bildung und den Universitäten in der Spätphilosophie finden sich hauptsächlich am Anfang oder am Schluß bestimmter Vorlesungsreihen, wo er die Studenten persönlich anredet. Er hebt die geistige Freundschaft hervor, durch welche die Studenten sich beim Lernen ergänzen. Das Talent wird durch Charakter geadelt, der „sich nur im Kampf bei gemeinschaftlichen Streben nach Einem Ziel bildet" [XIII, 23f]. „In den Weihestunden dieser glücklichen Zeit werden die großen Entschlüsse gefaßt, die Ideen empfangen, die nachher in die Wirklichkeit hervortreten sollen: hier muß jeder die Aufgabe seines Lebens finden und erkennen" [XIII, 28]. Das Beste sei, „das bessere Gefühl in nichts zu verleugnen" [XIII, 24]. Als Lehrer will Schelling den Studenten beim Lernen „nutzen", denn jeder müsse selbst den Zusammenhang mit den „allgemeinen Principien" finden, den Prinzipien nämlich, „durch welche die natürlichen und die menschlichen Dinge wie durch unzerreißbare Bande zusammenhängen, die allein wahrhaft die Welt beherrschen" [XII, 673f]. In diesem Zusammenhang könne man in der Philosophie „das Mittel der Heilung für die Zerrissenheit unserer Zeit" erkennen. Sie sucht die Ganzheit des Bewußtseins wiederherzustellen, obwohl manche dies nicht wollen [XIII, 364f]. In Nietzsches Erzählung findet man sehr ähnliche Anliegen. Instinktartig suchen der Erzähler und sein Freund ihren Weg zu finden, aber, da sie dazu keine richtigen Lehrer finden, werde manchmal „ihr suchenden Instinkt durch berauschende Mittel übertäubt" [III/2, 242]. 10 Die falsche, zersetzende Lehr- und Lernmethode des Bildungswesens nennt Nietzsche in dieser Schrift häufig die „historische", die er verwirft, weil sie z.B. „den naturgemäßen Trieb paralysiert" [234]. Man sollte die drei Stufen der Leiter zur Bildung erkennen: die Griechen, Philosophie und Kunst 10
Man beachte die mythische Sprache an der folgenden Stelle bei Nietzsche, wo der alte Philosoph über die „sogenannte deutsche Arbeit" des Gymnasiasten redet: „Man muß nur denken, was in einem solchen Alter, bei der Produktion einer solchen Arbeit, vor sich geht. Es ist die erste eigne Produktion; die noch unentwickelten Kräfte schießen zum ersten Male zu einer Krystallisation zusammen; das taumelnde Geföhl der geforderten Selbständigkeit umkleidet diese Erzeugnisse mit einem allerersten, nie wiederkehrenden, bedrückenden lauber. Alle Verwegenheiten der Natur sind aus ihrer Tiefe hervorgerufen, alle Eitelkeiten, durch keine mächtigere Schranke zurückgehalten, dürfen zum ersten Male eine litterarische Form annehmen..." [III/2, 171; meine Hervorhebung], Vgl. dieselben Begriffe und Worte bei Schelling: Kap. 3.2, vgl. Urania u. Kybele in Kap. 3.5, Kap. 2.11 .b. Nietzsches Worte scheinen die dionysische schöpferisch-produktive Kraft im Aufbruch des Urania- oder Kybele-Moments, aber als eine frustrierte, zu beschreiben.
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[236]. Die Universität habe die „Selbständigkeit" zu erzeugen: „...das Individuum muß seiner Ansichten und Absichten zeitig froh werden, um ohne Krücken, allein gehen zu können. Deshalb wind es schon frühe zur Produktion und noch früher zu scharfer Beurteilung und Kritik angehalten" [230]. „Ein künstlerisches Denken, Lernen, Streben, Vergleichen" sollte an der Universität gefördert werden; der akademische Jüngling sollte „in strenger künstlerischer Zucht gehalten werden" [235]. Auch sollte man die instinktive Beziehung des jungen Menschen zur Natur nicht stören: In ihr „muß er gleichsam sich ... wiedererkennen; so wird er unbewußt das metaphysische Einssein aller Dinge an dem großen Gleichnis der Natur nachempfinden..." [208; vgl. Kap. 4.1]. Durch die strenge Methode im Studium der alten Sprachen erwachen nach Nietzsche „der wissenschaftliche Sinn, die Lust an strenger Kausalität der Erkenntniß, die Begier zum Finden und Erfinden..." [230]. In Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums liest man: „Ich kenne keine Beschäftigungsart, welche mehr geeignet wäre, im früheren Alter dem erwachenden Witz, Scharfsinn, Erfindungskraft die erste Uebung zu geben, als die vornehmlich mit den alten Sprachen." Alle „Erfindungsfähigkeit" bestehe in der „Fertigkeit, die Möglichkeiten zu erkennen", und diese wird in Studium der Sprache geübt [V, 246].11 Nach Nietzsche sollen sich die nach echter Bildung strebenden Studenten kämpfend zusammenfinden und sich gegenseitig stärken [III/2, 220, 223, 242], Aber beim Zustand der Bildungsanstalten finden sie die richtigen Lehrer oder Führer nicht, sie „verkümmern in der Wildniß" und seien die „ewig hungernden" [239; Kap. 5.6]. Doch gebe es trotz der heutigen Bildimg eine „ewige Ordnung" der Geister, „zu der mit naturgemäßer Schwergewichte die Dinge immer wieder hinstreben"; sie „will gerade jener Kultur störend und vernichtend entgegenarbeiten". Diese Ordnung enthält die wahren Lehrer, die „prädestinirten Führer", die nach „einer Art von ρ ristabilì rter Harmonie" den Studenten gegeben werden [242], Man vergleiche bei Schelling die „prästabilirte Harmonie", die nach dem System des transzendentalen Idealismus „zwischen der freien und der bewußtlos producirenden Tätigkeit", d.h. zwischen dem freiem Handeln und der Natur, stattfinde [III, 500; vgl. Kap. 1.2]. Man könnte die Sache bei Nietzsche etwa so auslegen: Nietzsches Studenten wären die instinktiv Suchenden der bewußtlos produzierenden Tätigkeit; die richtigen Lehrer wären die ihnen entsprechende Freiheit. Wie der Philosoph in Nietzsches Geschichte findet, zerstöre die falsche Bildung „die Wurzeln jener aus dem Unbewußtsein des Volkes hervorbrechenden höchsten und edelsten Bildungskräfte, die im Gebären des Genius und sodann in der richtigen Erziehung und Pflege derselben ihre mütterliche Bestimmung haben" [III/2, 191]. 11
Vgl. auch Schopenhauer,
Parerga und Paralipomena II,
Kap. 25: „Ueber Sprache und Worte".
Kap. 6: Schriften aus der Zeit der „Geburt der Tragödie"
184
Dieses U n b e w u ß t e ist offenbar der natürliche Instinkt, der, wie m a n v e r m u t e n darf, auch i m Suchen der Studenten w i r k t .
6.2 6.2.a.
„Die Philosophie
im tragischen
Zeitalter der Griechen
"
Morgendliche E n t w i c k l u n g v o n Thaies bis A n a x a g o r a s
Inhaltlich stellt die Schrift fast dieselbe Reihe der P h i l o s o p h e n dar, die in den „Vorlesungen ü b e r die v o r p l a t o n i s c h e n P h i l o s o p h e n " b e s p r o c h e n w e r d e n [ o b e n K a p . 2], D e r Plan der Darstellung ist aber m y t h o l o g i s c h u n d sehr ähnlich wie Schellings m y t h o l o g i s c h e r E n t w u r f der Geschichte dieser Philosophie. D e r späte Schelling schreibt: „Was aber die Philosophie betrifft, so hat Aristoteles s c h o n a u f m e r k s a m g e m a c h t auf die ganz analoge Succession v o n P r i n c i p e n in der Mythologie u n d in der P h i l o s o p h i e " [ X I , 332]. In Schellings Philosophie der Mythologie findet m a n die folgende A u s f ü h r u n g ü b e r die m y t h o l o g i s c h e n Stufen der griechischen Philosophie [vgl. die Stufen in Kap. 3.5]. Und da ich einmal an die Analogie erinnert habe, welche der Gang der mythologischen Entwicklung mit dem jeder großen Entwicklung hat, so will ich noch die Bemerkung hinzufügen, daß es nicht schwer seyn würde, selbst in der Geschichte der griechischen Philosophie, deren Anfänge, weil man sie ganz zufällig zu nehmen pflegt, wenig zusammenzuhängen scheinen, einen ähnlichen Weg der Entwicklung nachzuweisen. Denn z.B. jene ersten griechischen Philosophen, die man mit dem Namen der Physiker zu belegen pflegt, was waren sie anders als Verehrer der Elemente [ = Urania], in denen sie das Allgemeine der Dinge zu erkennen glaubten, Gegner des Anthropomorphismus in der Volksreligion? Noch der tiefsinnige Geist des Herakleitos ist ganz dem ewig lebendigen, welterzeugenden Feuer beschäftigt, das er in abwechselnden Pausen entbrennen und wieder erlöschen l'äßt. In den Eleaten zieht sich der [Kosmos] in den Begriff des abstrakten Allgemeinen oder Einen zusammen. Aber eben damit war der Gegensatz der Vielheit geschärft, man könnte den Zeno den Kronos der Philosophie nennen, weil er alles in der Unbeweglichkeit zu erhalten strebte und gegen die Vielheit kämpfte. Bis zu den Eleaten geht die vordionysische Zeit der griechischen Philosophie. Der Zerstörer jener Einheit, der Mann, dessen Erscheinung in der Geschichte des philosophirenden Geistes keine geringere Epoche macht, als welche in der mythologischen Bewegung die Erscheinung des Dionysos [Bacchus] gemacht hat,... ist jene dämonische Mann - Sokrates... [ΧΠ, 283f]. 1 2
12
Offenbar meint Schelling die „vordionysische" Zeit im relativen Sinne des Wortes. In Schellings Mythologie erscheint Dionysos als eine wirklich kräftige konkrete Gestalt erst nach dem M o m e n t Kronos: im Osiris der Ägypter, im Dionysos-Bacchus der Griechen. Im M o m e n t K r o n o s erscheint er in der relativen Schwäche des Herakles.
Kap. 6: Schriften aus der Zeit der „Geburt der Tragödie"
185
Wenden wir uns Nietzsches Schrift zu, so beginnt Nietzsche mit dem, was bei Schelling der Vorstufe der mythologischen Bewegung, Uranos als der ersten Dunkelheit, gleicht [Kap. 3.4]. Denn die ersten zwei Philosophen gehören noch, wie Nietzsche schreibt, zur „Nacht": Thaies und Anaximander. „Als Mathematiker und Astronom, hatte Thaies sich gegen alles Mythische und Allegorische erkältet, und wenn es ihm nicht gelangt,] bis zu der reinen Abstraktion ,Alles ist Eins' ernüchtert zu werden, und er bei einem physikalischen Ausdrucke [d.h. nach Nietzsche: .alles ist Wasser'] stehen blieb, so war er doch, unter den Griechen seiner Zeit, eine befremdliche Seltenheit" [III/2,309]. „Alles ist Eins" ist nach Nietzsche der erste Satz der Philosophie; er entspringe der „mystischen Intuition" aller Philosophen; er sei ein „magisch anziehendes Ziel" [307].13 Mit ihm ahnt der Mensch „die letzte Lösung der Dinge und überwindet, durch diese Ahnung, die gemeine Befangenheit der niederen Erkenntnißgrade" [311]. Von vorherigen Darstellungen sind uns die Bilder und ihr Zusammenhang bei Schelling bekannt: Dunkelheit, Kälte und Nüchternheit kennzeichnen die Herrschaft des ersten Prinzips. Das „magisch anziehende Ziel" erinnert an einen Satz in der Philosophie der Kunst: Die „magische Ansicht der Dinge" sei eine „unvollständige Ahndung des höheren und absoluten Vereins aller Dinge" [V, 450]. 14 Mit Nietzsches „reiner Abstraktion": „Alles ist Eins" kann man Schellings spätphilosophische Selbstkritik in der Geschichte der neueren Philosophie vergleichen: Das „Absolute" als das an sich Eine war eine „Abstraktion" [X, 99, vgl. 131f; vgl. Nietzsche in Kap. 4.1]. Die scheinbar widersprüchliche Beziehung zwischen „Alles ist Eins" als Abstraktion und als „magisch anziehendem Ziel" dürfte auch in Schellings Spätphilosophie eine Parallele finden: Die „erste" oder negative Philosophie formuliert oder erzeugt die wichtigsten Fragen, deren Lösungen sie zwar sucht, aber selbst nicht findet [z.B. XI, 526], auch die nach der Einheit. Bevor er zur nächsten Gestalt in der Reihe fortschreitet, stellt Nietzsche eine allgemeine Regel über den philosophischen Versuch, das Eine zu begreifen, auf. Wir heben gewisse Worte kursiv hervor: Der Philosoph sucht den Gesamtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen: während er beschaulich ist wie der bildende Künstler, mitleidend, wie der Religiöse, nach Zwecken und Kausalitäten spähend, wie der wissenschaftliche Mensch, während er sich zum Makrokosmos aufschwellen
13
fühlt, behält er
Vgl. Schelling in der Methode des akademischen Studiums: „Von Pythagoras an und noch weiter zurück bis auf Plato herab erkennt sich die Philosophie selbst als eine exotische Pflanze im griechischen Boden..." [V, 346], Die Bemerkung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Ausführung Schellings über die erste, „mystische" Philosophie der Griechen: siehe oben Kap. 1.3.
14
Beim späten Schelling ist derselbe Gedanke im Mythos des „goldenen Zeitalters" als der vorgeschichdichen Zeit der Gleichheit und Einheit enthalten, das in der Zukunft mit Jakchos wiederhergestellt werden soll [XII, 273; XIII, 477, 482],
186
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dabei die Besonnenheit, sich, als den Wiederschein der Welt, kalt zu betrachten, jene Besonnenheit, die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andere Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin, in geschriebenen Versen zu projiciren weiß. Was hier der Vers für den Dichter ist, ist für den Philosophen das dialektische Denken: nach ihm greift er, um sich seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrificiren. [TU/2, 311]
Das Wort „petrificiren'' hat offenbar die Bedeutung der Wirkung der vom Philosophen abgeschriebenen Begriffe: Durch die Abschrift verlieren sie ihre Lebendigkeit im eigentlichen Begreifen [vgl. Piaton im Phaidros, §273 Eft]. Sie sind „nur" Begriffe geworden und dadurch, als nur für sich, auch leblose, erstarrte Abstraktionen. Die „Aufschwellung'' der Wissenschaft ist uns schon bekannt [Kap. 5.6 (über Sokrates)]. Im Zitat ist auch ein anderes Bild, dem wir schon begegnet sind: Der Philosoph ist bezaubert und schaut sich besonnen als Bezauberten an [Kap. 4.5.g]. Nur ist er hier sozusagen allzu besonnen, denn er petrifiziert die Verzauberung mit kalter Dialektik. Anaximander stellt nach Nietzsche die Frage, wie doch, wenn es überhaupt eine ewige Einheit gebe, die Vielheit möglich sei? Er entnehme die Antwort „aus dem widerspruchsvollen, sich selbst aufzehrenden und verneinenden Charakter dieser Vielheit" [315]. Die Existenz aller Dinge der Vielheit bei Anaximander sei nur schuldige, ungerechte Existenz. Sie vergeht auch, weil nur das „wahrhaft Seiende" als das völlig unbestimmte Urwesen, aus dem alles entsteht, allein das Recht des Seins hat. Diese, wie Nietzsche meint, „schwermütige" Lehre werde auch von Schopenhauer in seiner Lehre von der Schuldigkeit und Sterblichkeit aller Menschen vertreten [312f]. In Schellings Mythologie gibt es an der Stufe Uranos - der ersten Wirklichkeit nach dem Fall des Urmenschen - eine Vielheit, die für das Bewußtsein noch keine echte Vielheit ist, sondern nur das „gebrochene" Eine darstellt [XII, 171f, 178; Kap. 3.3]. Wie Schelling schreibt: „Das eigentlich Gewollte ist nicht die Vielheit, diese ist das immer Negirte, das Gewollte ist das Eine"; dieses „verzehrt" das gebildete Sein (läßt es in das Eine aufgehen) [ebd., 177, 175]. 1 5 Bei Schelling ist das Wasser das Zeichen der mythologischen Stufe Urania [XII, 203; X I , 153; X I V , 171f]. Nietzsche läßt Anaximander gerade die „Vorstufen des Wassers" vertreten: Das Weiden beginne mit der Ausscheidung aus dem Einen einer ersten Zweiheit, nämlich „Warm und Kalt" [III/2, 322]. Nietzsche redet auch von einer „Mutter" bei Anaximander: Das Urwesen [das Eine] des Anaximander sei der „Mutterschoß aller Dinge" [III/2,313.26]. Aber dieser „Mutterschoß" bedeutet noch
15
Vgl. auch die strenge Moral als Eigenschaft der Uranos-Zeit [Kap. 3.5], Schellings kurze Bemerkungen über den Islam alseine Religion, welche den ersten G o t t Uranos noch verehrt: D e r Islam zerstöre die Bildungen einer späteren Zeit als das Unrechte [ X I , 167f].
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keine gespannte aufschwellende Verschwängerung des Einen mit der echten Vielheit zukünftiger Wirklichkeiten, noch keinen Aufbruch und keine Auflösung, sondern vielmehr nur die noch „unberechtigte", veraeinte Vielheit. Man beachte den späten Schelling: Die Uranos-Zeit sei der vorgeschichtliche „Keim" aller Möglichkeiten der folgenden Geschichte. Schelling kann sogar sagen, daß der Uranos-Moment mit der echten Vielheit der Zukunft „schwanger" sei [XII, 188; XI, 232ff]. Aber in Uranos ist dies nur Potenz. Für Schelling ist die erste wirkliche (materielle) Mutter der Mythologie die Urania, der Anfang der dionysischen Bewegung.16 Nietzsche sagt: „Mitten auf diese mystische Nacht... trat Heraklit aus Ephesus zu und erleuchtete sie durch einen göttlichen Blitzschlag" [316.5]. Bei Schelling ist der „Blitz" in der Dunkelheit ein Zeichen der mythologisch-morgendlichen Erleuchtung als des Werdens des Geistes [XII, 271f; vgl. XIII, 445].17 Nietzsche erkennt das Fortschreiten über den vorigen Moment hinaus in der „Rechtfertigung des Werdens" bei Heraklit: Heraklit „leugnete überhaupt das Sein", also auch das vorherige Eine. Nirgends sei bei Heraklit ein „Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein Bollwerk im Strome". Nach Heraklits Anklage gebrauchen die Menschen die Namen der Dinge, als ob sie eine „starre" Dauer hätten, aber nach Heraklit ist selbst der Strom nicht dasselbe [316fJ. Bei Heraklit sei die Vorstellung dieser Welt „furchtbar und betäubend" [319]. In Schellings Mythologie sind diese Bilder Zeichen des Umbruches der Urania-Zeit, wo der alte Uranos „weicht" und wie das Wasser fließend wird [vgl. XII, 246f].18 Sie sind auch Bilder des Weltgrundes in der Geburt der Tragödie. Wie Nietzsche schreibt, entstehe die Welt für Heraklit im „Mischkrug", im steten Ringen der Gegensätze, wo bald dieses, bald jenes siege: Genau das meint Schelling in den Weltaltern über das erste Ringen der Prinzipien; dabei erwähnt er auch Heraklit [VIII, 229ff]. 19 Auch der späte Schelling hat die Welt der Urania16
Im Abschnitt über Anaximander in den Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen nennt Nietzsche das Apeiron den „Mutterschoß des fortwährenden Entstehens" [II/4, 241]. Das Apeiron oder Subjekt der Mythologie f ü r sich ist bei Schelling das erste Prinzip, das Prinzip der UranosZeit. Bei Schellings philosophischer Deutung des Uranos-Mythos handelt es sich um die erste noch formlose, eben noch unbestimmte Materie, die noch nicht zur wirklichen Materie einer Entwicklung geworden ist. Vgl. X, 104.
17
„Hier werden schon einzelne Blitze selbst jener höchsten Potenz, die der Geist selbst ist, die Nacht des Bewußtseyns leuchtend durchbrechen, aber von dieser auch beständig wieder verschlungen werden' [XII, 271(1
18
Vgl. Schellings Bemerkung in Zusammenhang mit Heraklit: „Daß alles weicht oder alles immer wieder Platz macht, beschreibt im Grunde nur die Vernunftwissenschaft, die allerdings auch bei nichts bleibt, sondern, was soeben als Subjekt bestimmt war, ist im nächsten Moment zum Objekt geschlagen, also weicht es in der That..." [XIII, 96].
19
In den Weltaltern liest man: „Ewig erzeugt sich der Gegensatz, um immer wieder von der Einheit verzehrt zu werden, und ewig wird der Gegensatz von der Einheit verzehrt, um immer neu
188
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Vergangenheit als den Weltgrund begriffen [siehe Kap. 2.11.b]. Hesiods Begriff des guten Streits, die Göttin Ens [vgl. Schelling, XII, 623], wird nach Nietzsche bei Heraklit zum Weltprinzip erweitert; wesentlich griechisch sei der „Wettkampf" der Gegensätze [III/2, 319f], Parmenides, das „Gegenbild" des Heraklit, ist nach Nietzsches Darstellung „gleichsam aus Eis und nicht aus Feuer geformt"; er „gießt ein kaltes, stechendes Licht um sich aus". Der entscheidende Moment seines Lebens sei der einer „allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion" [330]. Bei Schelling [siehe Kap. 5.6] bezeichnen diese Bilder und Begriffe sowohl die nur negative Philosophie als auch die mythologische Philosophie der Inder, die durch grundsätzlich dieselbe negative Vernunft die Definitionen und Stellungen der Götter bestimmt. Nun aber erwartet man gemäß Schellings mythologischen Stufen gleich nach Urania/Heraklit nicht die indische Mythologie, sondern den Moment Kronos. In der Tat aber sind die Momente Kronos und Indien bei Schelling parallele Stufen, nämlich in der Unterdrückung des Einflusses des zweiten, dionysischen Prinzips, so daß das erste Prinzip für sich - indisch durch die Herrschaft des abstrakt-vernünftigen Geistes - in Erscheinung tritt. Somit kennzeichnen beide, sowohl Kronos als auch den indischen Nihilismus, die Bilder des ersten Prinzips in dessen Ausschließlichkeit gegen Dionysos: Beide Momente sind kalt, starr, nüchtern. Oben haben wir gesehen, daß schon Schelling selbst - in seiner mythologischen Auffassung der Folge der griechischen Philosophen - die Eleaten unmittelbar nach Heraklit folgen läßt [XI, 283]. Er nennt den Eleaten Zeno den „Kronos der Philosophie". An einer anderen Stelle sieht Schelling Parmenides in Zusammenhang mit der indischen Philosophie. 20 Nietzsche wiederholt: Parmenides sitze „so blutlos wie eine Abstraktion" im Spinnengewebe seiner Formeln.21 „Die Spinne will doch das Blut ihrer Opfer; aber der parmenideische Philosoph haßt gerade das Blut seiner Opfer, das Blut der von aufzuleben. Dieses ist die Feste..., der Herd des beständig sich selbst verbrennenden und aus der Asche wieder neu verjüngenden Lebens. Dies das unermüdliche Feuer..., durch dessen Dämpfung, wie Heraklit behauptet, das Weltall erschaffen worden, und das als ein in sich selbst laufendes, sich immer rückwärts wiederholendes und wieder vor sich gehendes einem der Propheten [Ezekiel] im Gesicht gezeigt worden..." [VIII, 230]. 20
Es handelt sich um eine gleichlautende Lehre bei Parmenides und bei Krischna in der Bagavadgita, nämlich daß das Nichtseiende nie sein könne [XII, 487] (wir zitieren die Stelle unten). In den Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen schreibt Nietzsche, daß Parmenides' Satz, „das Nichtseiende könne nicht sein", eine „kühle Abstraktion" sei, nicht „eine mythische Überzeugung von der pantheistischen Einheit, noch eine ethische Verachtung der Welt als eines flüchtigen Traums" [II/4, 295], Diese Uberzeugung und Verachtung könnten Hinweise auf die indischmythische Philosophie sein.
21
Vgl. Schelling: Aristoteles „fährt zerstörend durch die [abstrakte] platonische Ideenlehre, als wäre sie Spinnengewebe" [XI, 382].
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ihm geopferten Empirie." Auf einmal wird die indische Philosophie erwähnt: Parmenides' abstrahierende Weltflucht sei nicht die „Weltflucht im Sinne indischer Philosophen, zu ihr forderte nicht die tiefe religiöse Uberzeugung von der Verderbtheit[,] Vergänglichkeit und Unseligkeit des Daseins auf, jenes letzte Ziel, die Ruhe im Sein, wurde nicht erstrebt, als das mystische Versenktsein in eine allgenügende entzückende Vorstellung..." [III/2, 338f], Dieses Bild findet Entsprechung in Schellings Darstellung des indischen Mystikers im „exaltirten Gefühl" der Versenkung als Wiedervereinigung mit Gott [XII, 479f; XI, 186]. Schelling schreibt über das Sein bei Parmenides, daß es „unfruchtbar", „öde und wüst", „todt" sei; mit ihm „ist nichts anzufangen" [XIII, 224]. Dies sind offenbar Bilder des Kronos. Uber den Zustand des Bewußtseins in diesem mythologischen Moment heißt es bei Schelling: „Der Verstand kann das blinde Princip noch nicht bewältigen, sondern umgekehrt, die blinde Gewalt nimmt den Verstand gefangen, verstarrt und versteinert ihn, wie z.B. die stereometrisch regelmäßige Bildung der Krystalle ein solch vernarrter und versteinerter Verstand ist" [XII, 290], Nach Nietzsche sei die Natur bei Parmenides „durch logische Starrheit ganz petrificirt und fast in eine Denkmaschine verwandelt" [III/2, 330.33]. Nietzsche beendet seine Behandlung von Parmenides mit einer Ausführung über dessen Schüler Zeno [341ff], wobei es am Schluß heißt: „Das Denken und jenes knollig-kugelrunde, durch und durch todt-massive und starr-unbewegliche Sein müssen, nach dem Parmenideischen Imperativ, zum Schrecken aller Phantasie, in Eins zusammenfallen und ganz und gar dasselbe sein" [344]. „In Eins zusammenfallen": Das beschreibt dieselbe „kronische" Kontraktion der Welt in das Eine, die Schelling bei den Eleaten findet. Nach Nietzsche flüchtet Parmenides „in die starre Todesruhe des kältesten, Nichts sagenden Begriffs, des Seins" [338]. Damit hat Nietzsche offensichtlich dasselbe im Auge, das Schelling mit der Negativität solcher Begriffe meint, denn „das Sein" kann nur ein Begriff des Denkens sein [vgl. XI, 349ff]. Man vergleiche Schellings spätphilosophische Kritik an Hegels Logik: Hegel stelle „die abstraktesten Begriffe" wie „Werden, Daseyn usw" voran; „Abstrakta aber können doch natürlicherweise nicht eher daseyn, ...als das ist, wovon sie abstrahiert sind: ein Werden kann nicht eher seyn als ein Werdendes, ein Daseyn nicht eher als ein Daseyendes" [X, 140f]. 22 Ganz so versteht Nietzsche Parmenides:
22
Vgl. einen anderen Satz Nietzsches aus dieser Schrift: „Aber Niemand vergreift sich ungestraft an so furchtbaren Abstraktionen, wie das .Seiende' und das ,Nichtseiende' sind; das Blut erstarrt allmählich, wenn man sie berührt" [III/2, 333]. In derselben Kritik an Hegel (in der Geschichte der neueren Philosophie) nennt Schelling solche Abstrakta, die nach Hegel „Begriffe" heißen, nur „frostige Metapher" von Begriffen [X, 138], Hegel stelle in der Logik das „reine Seyn" allem anderen voran, aber nach Schelling „ist es eine Unmöglichkeit, Seyn überhaupt zu denken, weil es kein Seyn überhaupt gibt..." [X, 133; vgl. XII, 40 (Anm)]. In den Vorlesungen über die
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Die Erfahrung bot ihm nirgends ein Sein, wie er es sich dachte, aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß es existiren müsse... Nun hat Aristoteles gegen alle ähnlichen Schlußverfahren bereits geltend gemacht, daß die Existenz nie zur Essenz, das Dasein nie zum Wesen des Dinges gehöre. Gerade deshalb ist aus dem Begriffe „Sein" dessen essentia eben nur das Sein ist - gar nicht auf eine existentia des Seins zu schließen. Die logische Wahrheit jenes Gegensatzes „Sein " und „Nichtsein " ist vollkommen leer, wenn nicht derzu Grunde liegende Gegenstand, wenn nicht die Anschauung gegeben werden kann, aus der dieser Gegensatz, durch Abstraktion, abgeleitet ist, sie ist, ohne dies Zurückgehn auf die Anschauung, nur ein Spiel mit Vorstellungen... Denn das bloße logische Knterium der Wahrheit, wie Kant lehrt, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntniß mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft, ist zwar die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit·, weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrthum, der nicht die Form, sondern den Inhalt betrifft, kann die Logik durch keinen Probirstein entdecken. . . P Die Worte [was „ist" oder was „nicht ist"] sind nur Symbole für die Relationen der Dinge untereinander und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit: und gar das Wort „Sein" bezeichnet nur die allgemeinste Relation, die alle Dinge verknüpft, ebenso das Wort „Nichtsein". Ist aber die Existenz der Dinge selbst nicht nachzuweisen, so wird die Relation der Dinge unter einander, das sogenannte „Sein" und „Nichtsein" uns auch keinen Schritt dem Lande der Wahrheit näher bringen können. Durch Worte und Begriffe werden wir nie hinter die Wand der Relationen, etwa in irgend einen fabelhaften Urgrund der Dinge, gelangen.... [ΙΠ/2, 339f; meine Hervorhebung]
Diese Lehre ist ganz wie die in Schellings spätphilosophischer Unterscheidung - die auch unter Berufung auf Aristoteles gemacht wird - zwischen positiver und nur negativer, nur logischer Philosophie [z.B. XI, 313ff; XIII, 100-105].24 Als Schellings
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vorplatonischen Philosophen schreibt Nietzsche, daß die Lehre des Parmenides „eine sehr kühle Abstraktion aus dem Begriff des Seienden" sei [II/4, 295]. An dieser Stelle habe ich die folgenden Worte weggelassen: „Sobald man ... den Inhalt [der Wahrheit] für die logische Wahrheit des Gegensatzes ,das was ist, ist; das, was nicht ist, ist nicht", sucht, so findet man in der That keine einzige Wirklichkeit, die nach jenem Gegensatze streng geartet wäre; ich kann von einem Baume sowohl sagen: ,er ist', im Vergleiche mit allen übrigen Dingen, als ,er wird' im Vergleich zu ihm selbst in einem anderen Zeitmomente, als endlich auch ,er ist nicht' z.B. ,er ist noch nicht Baum', so lange ich etwa den Strauch betrachte" [340.10-18], Vgl. Schelling: Uber die indische Krischnalehre in der Bhagavadgita, nämlich daß „dem Nichtseyenden nie Seyn, also auch nie dem Seyenden nicht Seyn werden", bemerkt Schelling, daß sie an „den beinah gleichlautenden Satz des Parmenides erinnert, wo ebenfalls gesagt ist, daß das nicht Seyende nie seyn könne" [XII, 487]. Das ist als philosophischer Vorwurf gemeint und zwar in demselben Sinne wie oben bei Nietzsche. Vgl. z.B. folgendes bei Schelling: „Die Vernunft kann aus sich ... keine gegenwärtige Existenz, z.B. die Existenz dieser Pflanze oder dieses Steins, einsehen oder beweisen. Will sie (die Vernunft) ein wirkliches Seyn, will sie irgendein von sich aus, im Begriff, demnach als bloß Mögliches, gefundenes Objekt als ein wirkliches, so muß sie sich der Autorität der Sinnen unterwerfen; denn das Zeugniß der Sinnen ist nichts anderes als eine Autorität, weil wir dadurch erkennen, was aus
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Lehre könnte sie sogar nicht genauer formuliert werden, sie ist Schellings Lehre. In der vorliegenden Arbeit ist sie keine Neuheit [bes. Kap. 1.1-2]; auf bestimmte Begriffe wie die Relation und die Logik werden wir unten in Kap. 6.3 eingehen. Im voraus zitieren wird aus Schelling folgendes: „So gut es einen Weg vom Logischen zum Empirischen, gibt es einen Weg, vom Empirischen zum Logischen, zum dem in der Natur eingebornen und einwohnenden Logischen zu gelangen" [XIII, 103]. Die Logik ist für Schelling ursprünglich in den Relationen der anschaulichen Natur. Nietzsche schreibt auch folgendes über die Eleatische Lehre: D a sollte einem doch klar werden, wie wenig wir mit solchen Begriffen das H e r z der Dinge berühren oder den Knoten der Realität aufknüpfen: während Parmenides und Zeno umgekehrt an der Wahrheit und Allgültigkeit der Begriffe festhalten und die anschauliche Welt...als eine Objektivation des Unlogischen und Widerspruchsvollen verwerfen. Sie gehen bei allen ihren Beweisen von der gänzlich unbeweisbaren, ja unwahrscheinlichen Voraussetzung aus, daß wir in jenem Begriffsvermögen das entscheidende höchste Kriterium über Sein und Nichtsein, das heißt über die objektive Realität und ihr Gegenteil, besitzen: jene Begriffe sollen sich nicht an der Wirklichkeit bewähren und corrigiren, wie sie doch aus ihr thatsächlich abgeleitet sind, sondern sollen im Gegentheil die Wirklichkeit messen und richten und, im Falle eines Widerspruchs mit dem Logischen, sogar verdammen. [ΙΠ/2, 343]
Auch bei Schelling handelt es sich im falsch verstandenen rationalen Vermögen der Philosophie um einen vermeintlichen „Besitz" [Kap. 3.3] und daher, wie Nietzsche an dieser Stelle weiter schreibt, um „richterliche Befugnisse" über die Wirklichkeit. 25 Das „Verdammen" der Wirklichkeit erinnert an Schellings Begriff des Zusammenhangs zwischen Moral und negativem Rationalismus [Kap. 3.5]. Anaxagoras ist die nächste Gestalt in Nietzsches Darstellung der Entwicklung der vorsokratischen Philosophie. Sein bedeutendster Begriff ist der „Nous, der „Geist". Der Nous „herrscht über" die Dinge, er „besitzt allein die Herrschaft über die Welt" [III/2, 358]. Unten werden wir sehen, wie sehr diese Bestimmung dem Begriff des aristotelischen Nous als des Geistes bei Schelling entspricht. Aber vorher: Welchen mythologischen Moment würde Anaxagoras vertreten? Für Schelling kommt die erste Erscheinung des Geistes im ägyptischen Moment vor (im geistigen Gott Horas), dem letzten der bis zu den Griechen aufsteigenden „morgendlichen" Momente der bloßen Natur [als dem begriffenen Wesen] der Dinge, also aus der Vernunft nicht einzusehen ist, die gegenwärtige Existenz, die hier seyende Pflanze" [XIII, 171]. 25
Vgl. bei Hegel den Begriff als „Eigenthum" des denkenden Geistes: Phänomenologie des Geistes, Bd. Π der Jubiläumsausgabe der Werke [Stuttgart, 1964], z.B. 37. - Vgl. Nietzsche in den nachgelassenen Fragmenten (Sommer 1872 - Anfang 1873): „Es handelt sich nicht um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine Beherrschung. ... Die beherrschende Philosophie hat aber auch das Problem zu bedenken, bis zu welchem Grade die Wissenschaft wachsen darf: sie hat den Werth zu bestimmen!" [III/4,12],
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der Mythologie. Ob man es in Nietzsches Darstellung des Anaxagoras mit diesem Moment oder mit dem griechisch-geistigen „Mittag" zu tun hätte, stellen wir vorläufig zurück; denn die Hauptsache ist, daß der Geist nun erscheint. Schon früher stellten wir fest [Kap. 5. In], daß Schelling den Nous des Aristoteles als den Geist auffaßt. Nach Schelling? Darstellung hat dieser Nous zwei Seiten oder Stufen: eine physische (seelische), die passiv im aufnehmenden Verhältnis zu der Welt steht und in verminderter Weise auch in den Tieren vorkommt, und eine „selbstwirkende, thätige, Wissenschaft erzeugende", theoretische Seite. Nach Schellings Auffassung ist es das Bedeutsamste am Nousbegriff, daß bei Aristoteles diese zweite Gestalt des Nous weder physisch ist noch aus dem physischen Nous erwächst, sondern „von Außen, demnach als etwas der Seele Fremdes, hinzu und hineinkomme", daß daher diesem zweiten Nous für Aristoteles „eine separable Existenz, eine ewige und unverderbliche Natur zukommt." „Er allein ist göttlich" [XI, 455f]. Diesen Nous begreift Schelling als Geist, d.h. als das Selbstsein der existierenden Seele, das Ich. Geist sei „ursprünglich nur das Wollen der Seele, die in die Weite und in die Freiheit verlangt"; der Geist habe sich „im Ich" [XI, 461f, vgl. 41922], So wie er am Ende der Mythologie erscheint, findet sich der Geist vor die Aufgabe gestellt, das Weltsein wissenschaftlich mit dem Verstand durchzudringen, d.h. im Erkennen den Widerstand des Seins gegen den Geist zu überwinden und seiner dadurch „Herr zu werden" [XI, 463; vgl. XIII, 334]. Nur so bewährt es sich als Geist. Wie wir bei Schelling gesehen haben [Kap. 3.3], zerreißt der Urmensch in seinem Fall die Einheit der Schöpfung, eben dadurch, daß er das Selbstsein setzt; am Ende des mythologischen Prozesses wird dieses zum Geist als dem freien Selbstsein der einzelnen Menschen. Aber auch der freie Geist setzt die Zerreißung fort [Kap. 3.4]. Schelling schreibt: „Geist ist, was frei gegen das Seyende, es auch zertrennen kann". Das heißt, er kann im reinen Denken das fruchtbare Mitwirken der Prinzipien hindern [siehe Kap. 3.6-7]. Der Geist sei das „sich vom Seyenden (Materiellen) losreißend Könnende oder wirklich Losgerissene" [XI, 402]. Er kann im abstrakten Denken sein Leben führen: Dadurch reißt er sich von der wirklichen Materie los. Ebenso ist nach Schelling der denkende oder theoretische Nous bei Aristoteles zu verstehen: Um sein nur theoretisches Sein zu behaupten, reißt sich der Nous von der Materie und vom nur Seelischen los und beansprucht eine Seinsweise in vermeintlicher denkerischer Freiheit von diesen. Nun kehren wir zu Nietzsche zurück. Fast allen Gedanken im folgenden Zitat sind wir in Kap. 2.6-7 (über Anaxagoras und Demokrit) schon begegnet - auch der „empirischen Betrachtung" der Gehirnfunktion -, aber noch nicht dem Begriff der „Loslösung" in Zusammenhang mit dem Geist. [In der Erklärung der Bewegung] vermeinte Anaxagoras, eine außerordentliche Hilfe und Rettung in jenem sich selbst bewegenden und sonst unabhängigen Nous zu finden: als
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dessen Wesen gerade dunkel und verschleiert genug ist, um darüber täuschen zu können, daß auch seine Annahme im Grunde jene verbotene causa sui involvirt. Für die empirische Betrachtung ist es sogar ausgemacht, daß das Vorstellen nicht eine causa sui, sondern die Wirkung des Gehirnes ist, ja ihr muß es als eine wunderliche Ausschweifung gelten, den „Geist", das Gehirnerzeugnis, von seiner causa zu trennen und nach dieser Loslösung noch als existirend zu wähnen. Dies tat Anaxagoras; er vergaß das Gehirn,... und dekretirte den „Geist an sich". Dieser „Geist an sich" hatte Willkür, allein von allen Substanzen Willkür - eine herrliche Erkenntniß! Er konnte irgendwann einmal mit der Bewegung der Dinge außer ihm anfangen... [ΠΙ/2, 354; meine Hervorhebung]
An einer anderen Stelle nennt Nietzsche diese Willkür den „freien Willen" [366.9], 26 In der „Loslösung" hält sich der Geist für seine eigene Ursache. Nietzsches Kritik an Anaxagoras' Nous ist sehr ähnlich wie Schellings Kritik an dem Nous des Aristoteles. Nach Nietzsche erreicht die Freiheit bei Anaxagoras nicht die begriffliche Höhe, die sie bei den späteren Philosophen Piaton und Aristoteles hat. „In dem Hauptsatze hat Parmenides ihn sowie alle jüngeren Philosophen und Naturforscher unterjocht. Sie alle leugnen die Möglichkeit des Werdens und Vergehens, wie es sich der Sinn des Volks denkt27 und wie es Anaximander und Heraklit, mit tieferer Besonnenheit, und doch noch unbesonnen, angenommen hatten" [346]. Offensichtlich kann Anaxagoras den wahren Fortschritt bis zur echten Freiheit nicht verwirklichen, er bleibt von dem (kronischen) Eleatismus „unterjocht". Nach Schellings Begriff würde dies die Bedeutung haben, daß der Geist bei Anaxagoras noch nicht die griechische Höhe der Philosophie erreicht habe, sondern vielmehr der ägyptischen Mythologie und deren Unterwerfung unter die alte Macht entspreche. Nach Schellings mythologischem Schema wird erst Sokrates die Kronos-Macht des Parmenides über die Philosophie „zerstören" und dieser den Ubergang in die höhere geistige Freiheit ermöglichen [XII, 283; XIII, 97-100; XI, 380f],
6.2.b. Das Gleichnis vom Gestirn Auffallend in der Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ist eine Reihe von Gleichnissen und Bildern, die mit Sonne und Sonnensystemen zu tun haben. Dies sind auch für Schelling wichtige Bilder. Im Folgenden betrachten wir zunächst Schelling und kommen dann auf Nietzsches Schrift zurück.
26 17
Vgl. Freiheit und Willkür bei Schelling: III, 576, vgl. 589, 576-579, 589, 633; VII, 382f. Der Volkssinn muß also Wirkliches wissen. Vgl. Schelling in der Geschichte der neueren Philosophie: Der Gedanke seiner früheren Philosophie, daß Gott dem Werden unterworfen sei, „stößt die angenommene Begriffe zu sehr vor dem Kopf, als daß es je auf allgemeine Zustimmung rechnen könnte" [X, 124, vgl. 123].
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In Schellings Mythologie erscheint „Gestirn" in verschiedenen Zusammenhängen, aber immer bedeutet es eine Erscheinungsweise des ersten Prinzips, gewöhnlich als das Erste für sich, d.h. im Ausschließen des zweiten Prinzips. Z.B. ist es das Zeichen des Bewußtseins der vormythologischen Uranos-Zeit und ihrer „astralen" Religion [XII, 170ff; vgl. Kap. 3.3]. Aber „Gestirn" bezeichnet auch den Geist als das selbstseiende Ergebnis der Mythologie, das als Feuer des Geistes „aufgerichtete" erste Prinzip (z.B. als Losreißung vom Grund) [XI, 468-475, 560]. Schließlich ist die entschieden anti-dionysische „chinesische" Religion bei Schelling auch eine „astrale", also gestimartige Wirklichkeit.28 Hier werden wir uns nur mit den ersten zwei Bedeutungen zu befassen haben; das Chinesische werden wir erst später in unsere Betracht einbeziehen [Kap. 8, Kap. 12.4]. Man hat es bei Schellings Definition des ersten „Astralen", Uranos, mit einer wichtigen Differenzierung zu tun: Er nennt es ungeistig, weil es im astralen UranosSein verloren ist, und doch geistig, weil es sich vor dem dionysischen Einfluß nicht „materialisiren", d.h. nicht zur Materie des Werdens (des dionysischen Wirkens) machen will [XII, 189], Denn Geist ist für Schelling gerade ein Ungebeugtes, ein eigenes Feuer. An einer anderen Stelle weist er darauf hin, daß bei Aristoteles „Gestini" die noch keinem Werden und damit keinem höhern Wesen unterworfene Materie bedeutet; es sei das „immaterielle" Erste oder Materie, die nicht zu Materie geworden sei. Weil das Gestirn nicht [durch Dionysos] zur Materie gebeugt sei, sei es für Aristoteles „noch aufrecht" [XI, 333, 352, vgl. 430]. All das gilt nun auch ironisch für den selbstseienden menschlichen Geist am Ende der Mythologie. Nach Schelling ist schon das „eigentliche Gestirn" das „eigentliche und wahre Selbst des nur so genannten Weltkörpers" [XII, 175]. Gestirne sind nach Schelling die „am wenigsten der Materialisirung unterworfenen Subjekte" und „selbst noch gleichsam als Principe und relative immaterielle Wesen ... mit dem reinen Feuer des innen noch ungebrochenen Willens leuchtend" [XI, 492], Sie seien „stolze Lichte des Himmels", und „heroische Schöpfungen, die nichts vom Menschen wissen und in der eignen Größe sich selbst genug sind" [XI, 494]. Das Bewußtsein der astralen Uranos-Zeit, des ersten Menschengeschlechts, nennt Schelling auch ein „stolzes" [XIV, 209]. Auch die Stufe Urania, obwohl sie ein anfänglich-weichende, unter dem Einfluß des Dionysos taumelnde und daher relativ materielle ist, ist auch noch 28
Die chinesische Religion nennt Schelling „religio astralis in rempublicam versa": astrale Religion in den [absoluten] Staat gewendet [XII, 531]. Hier nämlich behauptet sich das „Gestirn" - die erste Seinsweise des gefallenen ersten Prinzips -, als das „Centrum" der irdischen Wirklichkeit, zumal im Kaiser. Dieser sei „der Weltherrscher, weil die Mitte, das Centrum, die Macht des Himmels in ihm ist... Der chinesische Kaiser ist der schlechthin einzige, weil in ihm wirklich die Macht des Himmels ruht, von welcher alle himmlischen Bewegungen abhängen, gleich wie durch diese alle irdischen Bewegungen bestimmt sind. ...in seinen Gedanken, seinem Wollen, seinem Thun bewegt sich die ganze Natur mit" [XII, 535]. So wäre der Kaiser wie die Sonne selbst.
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relativ „astral" und hat daher noch immer die Bedeutung eines astral „verzehrenden" Einen [bes. XII, 197f]. Wie wir oben gesehen haben, ist für Schelling der Geist, der am Ende der Mythologie erscheint, das eigene Prinzip, die eigene Ursache. Der Geist unterwirft sich keinem Anderen, sondern er sei „selbst sein Anfang, seine eigene That..Λ d.h. sein eigenes Wollen [XI, 402, 420, 468]. Nach Aristoteles, wie Schelling anführt, sollte sich der Mensch so weit wie möglich „verunsterblichen, um dem Theil gemäß zu leben, der von uns das Beste ist; denn körperlich nicht ins Gewicht fallend, ist er an Macht und Würde über alles, und scheinen möchte es doch, daß ein jeder eben dieses ist". Es sei das, wie Schelling hinzufügt, „was in einem jeden Er selbst ist, eben dieses, der Geist" [XI, 479f], Nach Schelling ist der Geist „das einzige Unbezwingliche in der Natur,... das Feuer, das nicht erlöschet" [XI, 468f]. Nach einer anderen Stelle handelt es sich um „das an sich verzehrende, das nie sterbende Feuer, das in jedes Menschen Brust, und das eigentlich der Geist, das Bewegende, Treibende ist, das Princip seines Lebens" [XII, 472], In seinem Wesen ist der Geist das gefallene erste Prinzip, das „Gestirn", das sich - nach seiner Unterwerfung in der Mythologie unter dem zweiten Prinzip - am Ende der Mythologie in neuer Form zunächst in der Gestalt der geistigen Götter, zuletzt aber in der geistigen Besonnenheit des einzelnen Menschen (und des Philosophen) wieder aufrichtet [bes. XII, 577; ΧΙΠ, 482,484]. „Feuer" (Wille) ist die innerste Natur des Geistes, dessen tiefste Neigung und Instinkt Dionysos' stets weiterführendem Einfluß zunächst und vielleicht auch andauernd widersteht [vgl. XI, 492f]. Der freie Geist selbst lebt für Schelling mythologisch. Denn alles, was wirklich lebt, bewegt sich, was sich aber bewegt, bewegt sich nach den Stufen der Entwicklung: Diese sind in typischer oder archetypischer Weise in der Mythologie enthalten [vgl. Schellings „Methode": Kap. 11.5]. Der Geist kann sich gleichsam gestirnartig, also unbewegt, verhalten; aber er kann auch unter dem Erleiden des dionysischen Einflusses „weichen" und sich dem weiterführenden Dionysos unterwerfen. Unterwirft er sich der dionysischen Einwirkung nicht oder entzieht er sich dieser, so kommen ihm die Gleichnisse zu, die in der Mythologie den Zustand des ersten Prinzips ohne die befruchtende Wirkung des zweiten beschreiben: öde, wüst, starr, kalt. Am Ende der Entwicklung erscheint die griechische Stufe: Dionysos ist Herrscher des „Feuers" geworden, er hat das erste Prinzip bezähmt. Hier wird das Feuer zur segnenden Sonne des geistigen Mittags. Der entsprechende Gott ist Apollo, wie vor ihm der geistige Mithras: Im guten Sonnengott ist die gestirnartige Kraft des ersten Prinzips dionysisch zum Guten gewendet [XII, 211, 214, 668]. Dadurch ist Apollo für Schelling der höchste griechische Begriff [XII, 668]; er bedeutet sogleich die Größe der griechischen Kultur. Nun ziehen wir den Vergleich mit Nietzsche.
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An den Anfang der Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen stellt Nietzsche den Gedanken des notwendigen Zusammenhangs eines Philosophen mit seiner Kultur dar [vgl. Kap. 4.2], Allein die Griechen belehren uns über eine solche Notwendigkeit; die Kultur der Hellenen „rechtfertigt" die Philosophie, weil sie wisse, „warum und wie der Philosoph nicht ein zufälliger, beliebiger, bald hierbald dorthin versprengter Wanderer ist". Wenn er keine nur „zufällige Erscheinung" sei, dann „leuchtet er als ein Hauptgestim im Sonnensystem der Kultur" [III/2, 303]. Er wäre, wie man sagen könnte, wie Apollo. Die nächste Erwähnung des Gestirns kommt in der Besprechung von Heraklit vor: Bei Heraklit sei die höchste Erscheinung der Natur „das Feuer, z.B. als Gestirn" [ΙΠ/2,325.32], Aber Heraklit selbst ist für Nietzsche astral: „Solche Menschen leben im eigenen Sonnensystem, darin muß man sie aufsuchen. Auch ein Pythagoras, ein Empedokles behandelten sich selbst mit einer übermenschlichen Schätzung, ja mit fast religiöser Scheu..." [328].29 Aber im Unterschied zu diesen führe kein „Band des Mitleidens" Heraklit „zu den anderen Menschen, zu deren Heil und Errettung" [328], Er sei „Einsiedler" in der Einsamkeit der „wildesten Gebirgsöde", ein „Gestirn ohne Atmosphäre" (nach Schelling gedeutet: ohne die dionysische Bedingung des Lebens). „Sein Auge, lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen". Er wendet sich von dem, was rings um ihn ist, mit Ekel ab, weil es für ihn nur Wahn und Verkehrtheit sei [328]. In seiner Einsamkeit sei er auch stolz: „Wenn es bei einem Philosophen zum Stolz kommt, so giebt es einen großen Stolz". 30 Heraklit verhalte „sich selbst gegen die gleichartigen Begabungen ausschließend und feindselig".31 „Die Mauer seiner Selbstgenügsamkeit muß von Diamant sein, wenn sie nicht zerstört und zerbrochen werden soll, denn alles ist gegen ihn in Bewegung." „Er hat [besitzt] die Wahrheit: mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehen können. Es ist wichtig von solchen Menschen zu erfahren, daß sie einmal gelebt haben" [327f]. Das dritte Vorkommnis des Gestirns in Nietzsches Schrift findet sich in der Besprechung des Anaxagoras, nämlich im Bild der Kreisbewegung des Nous - seine Natur „hat etwas Mythologisches" -, in deren Folge eine Einheit entsteht, die sich
29
Nach Schellings Mythologie ist der Mensch (so wie hier Heraklit) immer ein Gleichnis seines
30
Gottes [XII, 125, 299; XIII, 379, 388], Nach Nietzsches Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophie gibt es neben dem intuitiven (anschauenden) Stolz des Heraklit auch einen „Stolz der logischen Erkenntnis" (Parmenides), welche eine „ganz verschiedene Form einer übermenschlichen Selbstverehrung" als bei Pythagoras und Heralikt darstellt [II/4, 263], Auch Plato sei „stolz" [214.11]. Vgl. oben bei Schelling, außerdem bei Schelling auch die „stolze Kunst der Zahl" [XI, 485].
31
„Ausschließen" verwendet Schelling häufig für den Zustand, in welchem das erste Prinzip das zweite von sich fernhält, es ausschließt [z.B. XII, 167], Vgl. das Ideal der Gemeinschaft in der Bildung in der Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten,
Kap. 6.1.a.
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dem Bildungsideal am Anfang der Schrift nähert. Nietzsche stellt die Sache wie folgt dar Als erster Vinter der Reihe der besprochenen Philosophen sieht Anaxagoras ein wahres Ziel der Schöpfung. Das Wohin der Bewegung, die vom Nous oder dem Weltgeist frei in Gang gesetzt wird, sei „das Allerheiligste bei Anaxagoras". Erst in ferner Zukunft und „durch ungeheuren Prozeß" der kreisenden Weltbewegung wird es erreicht. Anaxagoras sieht die Weltbewegung, den ungeheuren Prozeß der Scheidung des Gleichen und Ungleichen, als Tat des Nous, der durch seine eigene frei angefangene Bewegung die Materie in Kreisbewegung setzt. Dadurch werden die Teile „künstlerisch" geordnet [361-63]. Am Ziel wird „Heimath" und „großer Friede" sein, und nie wieder wird es „Zerspaltenes" noch „Zerteiltes" geben [359]. Nach Schelling gedeutet: erst der Geist erblickt in der Zukunft das begehrte Ziel der Einheit, so wie z.B. die Eleusinischen Mysterien dies in der Jakchos-Vision tun. Nach Nietzsche fand der Nous Nachahmung unter seinen menschlichen Verehrern, unter „Freigeistern" (z.B. Euripides), die nach dem Nous lebten. Es gab einen Menschen unter diesen, der sich vor allen anderen auszeichnete, nämlich Perikles. Er war „der mächtigste und würdigste Mensch der Welt". 32 Bei ihm habe sich der Nous „das schönste und würdevollste Gehäuse gebaut", so daß er das „Bild des Nous" und „gleichsam die sichtbare Menschwerdung der bauenden bewegenden ausscheidenden ordnenden überschauenden künstlerisch-undeterminirten Kraft des Geistes" war. Der Nous sei in ihm „in größter Fülle" erschienen.33 So war dann die Wirkung des Perikles auf das Volk „das Gleichnisbild jener kreisförmigen Urbewegung" des Weltgeistes, d.h. sie ordnete das Volk [364f]. Perikles wäre eine „Bildungssonne" oder wie ein Zentrum, das eine Peripherie ordnet. In der Philosophie der Offenbarung schreibt Schelling, daß das Wirken des Heiligen Geistes bei Maria vor der Geburt Jesu - der Geist kam über Maria und heiligte sie - dem Wirken des Nous bei Anaxagoras gleiche: Der Nous kam über die Weltstoffe und „brachte sie in Ordnung" [XIV, 178].
6.2.c Andere Parallelen Am Anfang von Nietzsches Schrift findet man die Worte „gefährlich" [299.1] und „zufällig" [303.18] mit Bezug auf die Lage des Menschen, wo der notwendige Zusammenhang zwischen dem (vermutlich eine gute Ordnung bewirkenden) Philosophen und der Kultur fehlt. „Zufällig" und „gefährlich" sind sehr bedeutsame
32
In welchem Sinne mächtig? Sehr wahrscheinlich im Sinne des Besitzes, des Herr-Werdens über das Entgegenstehende.
33
Nietzsche beschreibt Perikles mit auffallend dionysischen Bildern: Als Bild des Nous habe Perikles in seiner Rede „gedonnert, geblitzt, vernichtet und erlöst" [1II/2, 364.13].
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Worte bei Schelling. Für Schelling ist die menschliche Existenz „zufällig" und darum auch „gefährlich", sofern dem Menschen die Entschiedenheit der Uberwindung seines Schicksals, des Zufälligen, fehlt. Das für den Menschen nur zufällig Daseiende könnte ebenso gut nicht sein: Sozusagen im Zwischenraum der offenen Möglichkeiten ergibt sich die Gefahr für diesen Menschen. Im nur Zufälligen gibt es nach Schelling nichts Wahres [XIII, 183]; die Wahrheit muß durch die Überwindung des Zufalls erkämpft werden. 34 Nietzsche bespöttelt die Religionswissenschaftler, die, beunruhigt über den griechischen Polytheismus, glauben, diese „tiefsinnige und herrliche" Religion auf eine „reinere", aber damit auch „beschränkte", barbarische Form der Religion zurückführen zu müssen [300.31]. Das entspricht Schellings Ansicht der Sache: Der Polytheismus der Griechen in all dessen herrlichen Vielheit ist das fortschrittlichste Ergebnis der dionysischen Uberwindung der ersten, einfachen Gestalten des einzigen Gottes der orientalischen Religionen. Kraft der dionysischen Uberwindung entfalten sich die im ersten Einen enthaltenen höheren Möglichkeiten, die schönen olympischen Götter - die „universio" in höchster Herauswendung [Kap. 2.11.b]. Nach Nietzsche waren die in ihren besten Zeiten unphilosophischen Römer, so wie die philosophischen Griechen, ein „gesundes" Volk gewesen; dagegen seien die „Köpfe" der heutigen Deutschen „erkrankt". Die Philosophie selbst mache nicht gesund, vielmehr verstärke sie nur die im Volk schon gegebene Gesundheit oder Krankheit [III/2, 298f]. Nietzsche aber erklärt nicht, was ein Volk krank oder gesund machen würde. Dieses Rätsel könnte vielleicht seine Lösung bei Schelling finden. Nach Schelling ist etwas „stark und gesund", wenn es von nur einem Prinzip beherrscht wird, dagegen ist das, was von zwei Prinzipien beherrscht wird, „krank und schwach" [XI, 148; vgl. XIV, 282f], Das Menschengeschlecht der Uranos-Zeit, das „nur im ersten [astralen] Prinzip gelebt" hatte, „lebte stolz und ungekränkt" [XIV, 209]. Rom ist für Schelling im Wesen „monarchisch im höchsten Sinne" [XI, 543f]. Damit weist Schelling sehr wahrscheinlich auf die wesentliche Vorherrschaft des ersten Prinzips bei den Römern hin, welche Vorherrschaft daher eine ähnliche Gesundheit bedeuten würde. Gerade die sich im Werden befindende Mythologie ist nach Schelling die Z á t der Krankheit [XI, 222; XIII, 186; XIV, 144; vgl. Kap. 12.4]. Die Griechen aber faßt Schelling als ein Volk, das in vielen Weisen die Krankheit überwunden hat. Ihre Uberwindung findet kraft des griechischen Dritten, d.h. kraft 34
Über das Zufällige (das Zweifelhafte) bei Schelling siehe XIII, 60, 68f, 79,158, bes. 208; XI, 363, 423, 538 (Uberwindung des Zufalls); vgl. VI, 26. Uber Schellings Begriff der „Gefahr" des AndersSein-Könnens: XI, 395; XII, 90; XIII, 158, 183; XIV, 14. Der böse Geist ist gefährlich: XIV, 268, 271, 274. Auf Zufall und Gefährlichkeit werden wir unten zurückkommen [bes. Kap. 10, vgl. Kap. 13.6.a],
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ihres herrschaftlichen apollinischen Geistes, statt. Insofern wären auch sie „gesund" als von einem, dem dritten, Prinzip beherrscht [vgl. schon II, 13].
6.3 „ Umgedrehter Piatonismus" und die Schrift „ Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" 6.3.a „Umgedrehter Piatonismus" Unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten aus der Zeit der Geburt der Tragödie und der Unzeitgemäßen Betrachtungen befinden sich, gruppenweise unter den Fragmenten verstreut, philosophische Versuche mit der Unterscheidung von Sein (oder Seiendem) und Schein. 35 Die Grundlage für solch eine Unterscheidung darf man bei Nietzsche in der Vorlesung über die vorplatonsichen Philosophen [Kap. 2.2], nämlich bei der Bestimmung des Apeiron bei Anaximander als des „wahrhaft Seienden" und als „Dings an sich", sehen, wie wir im Folgenden zeigen werden [vgl. Kap. 2.11.a, 4.5.d-e, 6.2.a]. So verschieden sie sein mögen, können all diese Versuche unter einem Titel Nietzsches, der unter den Fragmenten vorkommt, zusammengefaßt werden: „Meine Philosophie umgedrehter Piatonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel" [III/3, 207.14]. Nach diesem kurzen Satz folgt eine längere Ausführung: Die Visionen des Ureinen können ja nur adäquate Spiegelungen des Seins sein. Insofern der Widerspruch das Wesen des Ureinen ist, kann es auch zugleich höchster Schmerz und höchste Lust sein: das Versenken in die Erscheinung ist höchste Lust: wenn der Wille ganz Außenseite wird. Dies erreicht er im Genius. In jedem Moment ist der Wille zugleich höchste Verzückung und höchster Schmerz: zu denken an die Idealität von Träumen im Hirn des Ertrinkenden - eine unendliche Zeit und in eine Sekunde zusammengedrängt. Die Erscheinung als werdende. Das Ureine schaut den Genius an, der die Erscheinung rein als Erscheinung sieht: dies ist die Verzückungsspitze der Welt. Insofern aber der Genius selbst nur Erscheinung ist, muß er werden: insofern er anschauen soll, muß die Vielheit der Erscheinungen vorhanden sein. Insofern er eine adäquate Spiegelung des Ureinen ist, ist er das Bild des Widerspruchs und das Bild des Schmerzes. Jede Erscheinung ist nun zugleich das Ureine selbst: alles Leiden[,] Empfinden ist Urleiden, nur durch die Erscheinung gesehen, lokalisirt, im Netz der Zeit. Unser Schmerz ist ein vorgestellter: unsre Vorstellung bleibt immer bei der Vorstellung hängen. Unser Leben ist ein vorgestelltes Leben. Wir kommen keinen Schritt weiter. Freiheit des Willens, jede Aktivität
35
Ich behandle nur eine Auswahl dieser Fragmente, die sich in Bd. III/3 (Herbst 1869 - Herbst 1872) und Bd. III/4 (Sommer 1872 - Ende 1874) befinden. Der thematische Zusammenhang der Notizen gestattet die vorliegende Gruppierung. Im Folgenden werde ich die genauere Datierung der einzelnen Fragmente gewöhnlich nicht notieren.
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ist nur Vorstellung. 3 6 Also ist auch das Schaffen des Genius Vorstellung. Diese Spiegelungen im Genius sind Spiegelungen der Erscheinung, nicht m e h r des Ureinen: als Abbilder des Abbildes sind es die reinsten R u h e m o m e n t e des Seins. Das wahrhaft Nichtseiende - das Kunstwerk. Die anderen Spiegelungen sind nur die Außenseite des Ureinen. Das Sein befriedigt sich im vollkommenen Schein. [ Ι Π / 3 , 207f; meine Hervorhebung]
In der folgenden Diskussion beziehen wir uns hauptsächlich auf Schellings System des transzendentalen Idealismus [vgl. Kap. 1.1-2]. Im Hinblick auf Nietzsches Phrase im obigen Zitat, „das Ureine schaut an", ist an die intellektuelle Anschauung in dieser Arbeit zu erinnern: Das Subjekt der intellektuellen Anschauung ist wie ein Ureines, das in und mit der Anschauung alles Werdende produziert [III, 369f; Kap. 1.1 (Anm)]. Das Subjekt ist das, was sich im Prozeß zum Ich entwickelt; jedoch ist es auch nur eines unter vielen solchen Subjekten (sich entwickelnden Ichseienden). Also muß den vielen endlichen Subjekten ein absolutes Subjekt zugrundehegen, dessen Dasein sie darstellen [III, 48 Iff]. In Schellings Naturphilosophie ist dieses Subjekt das Eine als der absolute Entstehungsgrund der Prinzipien, aus deren produktiven Kampf alles entsteht. Für das Ich als Selbstbewußtsein (den zu-sich-gekommenen Geist [Kap. 1.2]) herrscht die Anschauung im empirischen Sinne, als die Anschauung des vorhandenen (gewordenen) Objektiven, vor; die produktive intellektuelle Anschauung wird erst in der philosophischen Rekonstruktion erkannt. Im obigen Nietzsche-Zitat schaut das Ureine den Genius der Erscheinungswelt an, während dieser die (objektive) Erscheinungswelt anschaut. Die zwei Stufen könnte man durch Schelling auslegen: das Anschauen des Ureinen dürfte die Mensch- und Weltproduktion sein; der Genius dürfte Schellings Genius der Kunst sein, der im menschlichen Künstler und durch ihn zur Bildung des anschaulichen Kunstwerkes als - wie Nietzsche schreibt - der „Verzuckungsspitze der Welt" wirkt [Kap. 1.1-2], Schelling leitet alle Vorstellungen des Ich- wie des Weltseins aus dem Empfinden ab, das selbst als Produkt des allem zugrundeliegenden Streites der Prinzipien begriffen wird [III, 399ff. (bes. 404406), 41 Iff, 534]. Daraus entsteht überhaupt alles Werden [383]. Das Unbegrenzte „erleidet" das Begrenzende [435, 503], also den Widerspruch. In der Anschauung oder Produktion begrenzt das begrenzende Prinzip das Unbegrenzte in stets weiteren Entwicklungen zum „äußeren" Objekt, zunächst als einem nur empfundenen Ding, sodann als einem vorgestellten. Am Ende des Prozesses entsteht das selbstbewußte Subjekt gegenüber dem Objektiven. Für dieses Subjekt ist auch der eigene Organismus Vorstellung und - wie alle (objektive)
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Warum schreibt Nietzsche hier von der „Freiheit" des Willens? Vgl. Schelling im System des transzendentalen Idealismus: „Wir erblicken in der objektiven Welt nichts außer uns Vorhandenes, sondern nur die innere Beschränktheit unserer eigenen freien Thätigkeit" [III, 379]. Hier bezeichnet Freiheit die Natur des Subjekts in dessen ursprünglicher Unendlichkeit, die auch Wille heißt [Kap. 3.1], Vgl. Freiheit in Kap. 13.6.b.
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Vorstellungen - „außer uns" als den Subjekten [497f]. 37 Der unaufhörliche Widerspruch im Grunde des Werdens ist das Treibende aller sich entwickelnden Prozesse des Werdens überhaupt [z.B. 430]. Aus der Weltproduktion abstrahiert die Wissenschaft die in der Produktion vorhegenden Begriffe und ihrer Relationen und mit diesen auch die in der Natur vorliegende Logik. 38 Nietzsche schreibt: „Der Schmerz, der Widerspruch ist das wahrhafte Sein. Die Lust, die Harmonie, ist der Schein" [III/3, 210.23]. Bei Schelling erreichen die widersprüchlichen Urkräfte in einem Produkt „Harmonie" [III, 621], nämlich im genialen Kunstwerk, in dessen „Spiegel" das Leben „zurückgestrahlt" werde [III, 627, vgl. V, 463], Der Künstler erleidet den „Schmerz" des Widerspruchs, dadurch wird er zur künstlichen Produktion getrieben [617, 622]. Wo mit seinem Werk die harmonische Vereinigung erreicht wird, fühle er sich „überrascht und beglückt", er sehe sie „gleichsam als freiwillige Gunst einer höheren Natur an, die das Unmögliche durch sie möglich gemacht hat". 39 Dieses Höhere im Künstler sei das „Genie" [615f, 618; vgl. Kap. 1.1-2], 37
Vgl. grundsätzlich denselben Gedanken („außer uns") in der spätphilosophischen Geschichte der neueren Philosophie, X, 113. Vgl. aus Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (1873): „Man redet von den geologischen und darwin(istischen) Vorgängen: da denkt man das Subjekt als ewig. Es ist auch völlig unmöglich es wegzudenken. Unwillkürlich nimmt alle Naturwissenschaft die Einheit des Subjekts, seine Ewigkeit und Unveränderlichkeit an. Unser Gehirn, unsere Auge ist bereits ein extra nos oder praeter nos ... das Gehirn selbst ist ein Theil dieser Empfindungen und Vorstellungen. Nicht das Gehirn denkt, sondern wir denken das Gehirn..." [III/4, 201f]. Das ist die Lehre des unendlichen Subjekts, das alles produziert, im System des transzendentalen Idealismus. Vgl. F.A. Lange in Kap. 13.5.
38
Über die Logik bei Schelling: ΠΙ, 360, 513, 520f; XIII, 103. - Vgl. Nietzsche in den nachgelassenen Fragmenten: „Der Wille zu charakterisiren: seine Methode zum Vernünftigen zu kommen. Wesen der Materie absolute Logik" [III/4, 119 (Sommer 1872 - Anfang 1873)]. (Vgl. Schelling über die Materie unten.) Im letzten Satz Nietzsches wäre die Logik vermutlich „absolut" in dem Sinne, daß die Logik keine höhere Quelle (z.B. die reine Vernunft) als jenes Wesen der Materie hätte. Im System des transzendentalen Idealismus entspricht die Logik in den Dingen dem Werden der intelligiblen Wirklichkeit oder der „Intelligenz" aus dem Grundkampf der Prinzipien. Im gefallenen Sein der Spätphilosophie hätte solch eine Logik von dieser Seite her auch eine gefallene Natur. Z.B. erscheint die (zerrissene) Natur für das gefallene Bewußtsein „zwecklos" [XIII, 363], Vgl. Zweck und Zwecklosigkeit bes. in Kap. 13.6. - Die Logik als Wesen der Materie steht bei Nietzsche in offenbarem Gegensatz zur abstrakten, rationellen und auch lügnerischen Logik, zumal in der Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne [Kap. 6.3.b]. Wiederum ist bei Schelling die abstrakte Logik für sich in der nur negativen Philosophie von ihrer Voraussetzung in der Natur losgerissen [siehe Kap. 4.4.b, Kap. 6.2.a].
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Vgl. aus Nietzsches Fragmenten (1871): „Wenn die zwingende Kraft des künstlerischen Triebes" im Griechen wirke, „dann muß er schaffen und sich jener Noth der Arbeit unterziehen. ... Das lustvolle Staunen über das Schöne [im Kunstwerk] hat ihn nicht über den Werdeprozeß verblendet, der ihm wie alles Schaffen in der Natur erschien, als eine gewaltige Noth, als ein gieriges Sich-Drängen zum Dasein" [III/3, 352.21ff],
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Nach dem System des transzendentalen Idealismus wirkt das Genie in zwei Vorgängen der Kunst, erstens in der objektiven Schönheit: „Wo Schönheit ist, ist der unendliche Widerspruch im Objekt selbst aufgehoben." „Das Unendliche endlich dargestellt ist Schönheit" [III, 620], Zweitens in der Erhabenheit, wo das Unendliche im Kunstwerk das Uberwiegende ist: Das Erhabene „setzt alle Kräfte des Gemüts in Bewegung, um den die ganze intellektuelle Existenz bedrohenden Widerspruch aufzulösen"; die Auflösung tritt „unerwartet" in der „ästhetischen Anschauung" des Betrachters ein [621]. Nach der etwas späteren Philosophie der Kunst ist das Erhabene die „Einbildung des Unendlichen in Endlichen"; nur müsse das künstliche Symbol, das die hier herrschende Unendlichkeit ausdrücken soll, wegen dessen Unangemessenheit „lügen" und „heucheln" [V, 46 lf]. Die erhabenste geniale Kunst ist die Tragödie: „Der tapfere Mann, in dem Moment, wo alle Kräfte der Natur und des Verhängnisses auf ihn zugleich feindlich eindringen, geht in dem Moment selbst des höchsten Leidens zur höchsten Befreiung und zu einer überirdischen Lust über" [V, 464]. „Der äußere Ausdruck des Kunstwerks ist der Ausdruck der Ruhe, und der stillen Größe, selbst da, wo die höchste Spannung des Schmerzes oder der Freude ausgedrückt werden soll" [III, 620]. Wie man sagen könnte, bestehe nach der Absicht des Systems des transzendentalen Idealismus das wirklich Wahre im Grunde der streitenden Prinzipien, während dessen - wie Nietzsche schreibt - „adäquate" Erscheinung die Unendlichkeit des Werdens darstelle. Das „rein Objektive" als die Materie ist nach Schelling „Schein" \ind das Ding sei der „Wiederschein" des ihm zugrundeliegenden Streites [III, 368f, vgl. 565, 569]. So wie Nietzsche redet der junge Schelling von nur einem Willen: im Urwollen sei ein „Dualismus der Principien" [I, 395]. Nach dem System des transzendentalen Idealismus ist der eine „Wille" die „Thätigkeit" der ganzen Produktion [III, 533f].40 Auch in Schellings Spätphilosophie bedeutet der alles treibende Streit der Prinzipien ein Ureines: Wie wir in der Mythologie gesehen haben, bilden für Schelling die streitenden Willen der zwei ersten Prinzipien eine Einheit im widersprüchlichen Weltgrunde (Urania); im Realen der Mythologie - d.h. wo die Prinzipien nicht nihilistisch getrennt werden - wirken sie immer zusammen [Kap. Kap. 2.11, Kap. 3.1]. Was aber aus dem mythologischen Grund erwächst, kann den Widerspruch und die Zerrissenheit des Seins nicht aufheben. Alles Höhere muß seinem Grund entsprechen; letztenendes wird es als Illusion zerstört, es geht unter. 41 40
Nach dem System des transzendentalen Idealismus sind die Prinzipien im letzten Grunde nur Eines [III, 479ff],
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Nietzsche: „Die Unendlichkeit ist die uranfängliche Thatsache: es wäre nur zu erklären woher das Endliche stamme. Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich, d.h. eine Täuschung. Wie kann man von einer Bestimmung der Erde zu reden wagen!" [III/4, 52], Vgl. bei Schelling die Zwecklosigkeit der Natur [Kap. 3.3].
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Nietzsches philosophische Versuche im „umgedrehten Piatonismus" haben es auch mit dem sinnlichen Entstehen der Erkenntnis, d.h. mit der Empfindung, zu tun. D i e E m p f i n d u n g ist nicht Resultat der Zelle, sondern die Zelle ist Resultat der Empfindung, d.h. eine künstlerische Projektion, ein Bild. D a s Substantielle ist die E m p findung, das Scheinbare der Leib, die Materie. Anschauung wurzelt auf Empfindung. Notwendiges Verhältnis zwischen Schmerz und Anschauung: das Fühlen ist nicht ohne Objekt möglich, das Objekt-Sein ist Anschauung-Sein. Dies der Urprozeß: der eine Weltwille ist zugleich Selbstanschauung: und er schaut sich als Welt: als Erscheinung. [ΠΙ/3, 211f]
Auch diese Ansichten können wir durch das System des transzendentalen Idealismus auslegen. Daß das Objekt-Sein „Anschauung-Sein" sei, erklärte sich aus dem Begriff der intellektuellen Anschauung als der Produktion des Objekts [Kap. 1.1]; aber nach Schelling kann dies nicht empirisch demonstriert werden [III, 370]. Für das empirische Anschauen ist die Ordnung gerade umgekehrt: „Die Realität der Empfindung beruht darauf, daß das Ich das Empfundene nicht anschaut, als durch sich gesetzt. Es ist Empfundenes, nur insofern es das Ich anschaut als nicht gesetzt durch sich" [ΠΙ, 406, vgl. 403f]. So wurzelt die empirische Anschauung, wie man sagen könnte, auf Empfindung. Heißt die Empfindung bei Nietzsche das „Substantielle" in Beziehung zu den aus ihm hervorwachsenden Bildern, so läßt sich auch dies bei Schelling begründen: Die Substanz ist das in der [Produktion der] Zeit Beharrende [III, 472f], nämlich als „der Stoff, welcher durch die Empfindung in die Natur gesetzt ist" [496, vgl. 520]. 42 Auch unter Nietzsches nachgelassenen Schriften steht zu lesen: „Die ganze Materie ist nur die Außenseite: in Wahrheit lebt und wirkt etwas ganz Anderes. Unsere Sinne sind aber das Produkt der Materie und der Dinge, ebenso unser Geist. Ich meine: man muß von der Naturwissenschaften aus zu einem Ding an sich kommen. Der übrigbleibende Wille - wenn man den erkennenden Intellekt wegrechnet" [III/4, 120]. 43 Bei Schelling ist die Produktion der Materie eine Stufe, aus welcher 42
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Eine Folge von Schellings Lehre der Produktion im System des transzendentalen Idealismus ist der Raum als „erfüllter" Raum [III, 468f, 522; vgl. auch Schopenhauer, WWV II, 379]. Nietzsche schreibt: „Es giebt keine Leere, die ganze Welt ist Erscheinung, durch und durch, ohne Zwischenraum" [ΠΙ/3,212.14 (Fragmenten, Ende 1870 - April 1871)]. In derselben Notiz Nietzsches steht zu lesen: „Zeidos: in jedem kleinsten Zeitpunkt Anschauung der Welt: wäre die Zeit wirklich, so gäbe es keine Folge" [212.2]. Dies könnte man durch dieselbe Schellingsche Produktionslehre erklären: Die Zeit sei erst durch Begrenzung gesetzt (konstituiert), daher sei das erste Setzen der Grenze „außerhalb der Zeit" [III, 375]. „In jedem Moment aufs neue" wird der erste Gegensatz, der sich ewig im Werden entwickelt, gesetzt. Dies sei der „letzte Grund aller Bewegung", der „Grundsatz einer dynamischen Physik" [ebd, 488], Vgl. bei Nietzsche „Ding an sich" als Apeiron und dies als das „wahrhaft Seiende" in Kap. 2.2. -
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alle späteren Stufen des Werdens einschließlich der Dinge und zuletzt des Geistes entstehen [z.B. III, 452f; vgl. Kap. 1.2]. Im System des transzendentalen Idealismus bedeutet das „Ding an sich" der Objekte die „begrenzte Thätigket" von diesen in der werdenen Produktion, d.h. das Objektive ensteht durch den Widerspruch der Prinzipien [III, 424f]. Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt ist nicht ursprünglich, vielmehr ist sie das Resultat des Prozesses. Das Ursprüngliche sind die streitenden Prinzipien, die dem Prozeß zugrundeliegen und ihn antreiben. In der Philosophie der Kunst liest man: „Da die Formen der Kunst überhaupt die Formen der Dinge an sich sind, so sind die Formen der Musik nothwendig Formen der Dinge an sich oder der Ideen ganz von ihrer realen Seite betrachtet" [V, 501; siehe Kap. 2.11.a]. Auch hier bedeutet das Ding an sich die der objektiven Erscheinung zugrundeliegenden Formen ihres Werdens. Im System des transzendentalen Idealismus sind diese die Produktionsstufen, welche der Erscheinung vorausgehen und sie herstellen, und unter diesen ist die erste Stufe der erste Widerspruch der Prinzipien. Für Schelling wäre es also nicht nur annehembar, wenn man im antreibenen Widerspruch der Prinzipien als dem Willen [III, 533f] das „Ding an sich" sehen wollte, sondern dies wäre auch gefordert. Auch für diese Arbeit darf „Ding an sich" als Wille das dem Prozeß Zugrundeliegende bezeichnen [vgl. Wille oben]. Nach dem System des transzendentalen Idealismus entstehen das Ding und die Empfindung des Dings in der Produktion zusammen [z.B. III, 404, 452f], und zwar so, daß die Sinne [das Gehirn] durch die Produktion fortschreitend konstituiert werden. Im Anschluß an die zuletzt zitierte Stelle bei Nietzsche liest man: „Es ist möglich, die Empfindung materiell zusammenzusetzen: wenn man nur den organischen Stoff erst materiell erklärt hat. Es ist eine grenzenlos zusammengesetzte Geschichte, die einfachste Empfindung: kein Uiphänomen. Da ist Gehirnthätigkeit, Gedächtniß usw. nöthig, nebst Reflexbewegungen aller Art." In der darauf folgenden Notiz liest man: „Das Gehirn die höchste Leistung der Natur" [III/4, 120]. Man nehme noch ein Zitat aus den Fragmenten Nietzsches hinzu: „Wenn ... Empfindung, Gedächtniß, Reflexbewegung zum Wesen der Materie gehört, dann
Vgl. bei Schopenhauer das Kapitel über die Materie in W W V II, 378ff. Schopenhauer schreibt: „ W i r können F o r m ohne Materie vorstellen; aber nicht umgekehrt: weil die Materie, von der F o r m entblößt, der Wille selbst [Ding an sich] wäre, dieser aber nur durch Eingehen in die Auschauungsweise unseres Intellekts, und daher nur mittelst Annahme der F o r m , objektiv wird" [383]. Während die Materie „das Band der Welt als Wille mit der Welt der Vorstellung" und die räumliche „Sichtbarkeit" des Willens sei [381, 385], gibt es sie für Schopenhauer ohne die ihr aus dem Intellekt hinzukommenden, apriorischen Formen des Intellekts nicht. Als ein dem Objektiven abstrahierter Begriff sei sie das „absolut Träge, Unthätige, Formlose, Eigenschaftslose, welches jedoch der Träger aller Formen" u.s.w. sei [380], Vgl. dagegen Nietzsche: „Die Qualitäten scheinen nur bestimmte modificirte Thätigkeiten einer Materie zu sein. Je nach Maaß- und Zahlproportionen auftretend" [ I I I / 4 , 59.5 ( Sommer 1872 - Anfang 1873)].
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reicht die Erkenntniß der Menschen viel tiefer ins Wesen der Dinge" [III/4, 58.4]. Wiederum kann man das System des transzendentalen Idealismus zum Vergleich heranziehen: Der „Dualismus von Geist und Materie, oder aller reale Gegensatz zwischen Geist und Materie" sei dadurch aufgehoben, daß der Geist „die Materie, nur im Weiden erblickt, ist" [III, 453; vgl. in der Spätphilosophie X, 111-114]. In der Rekonstruktion des Philosophen erkennt der Geist seinen Werdensweg. An einer anderen Stelle schreibt Nietzsche: „Das eigentliche Material alles Erkennens sind die allerzartesten Lust- und Unlustempfindungen..." [III/4, 36.3]. Auch dieser Dualismus der Empfindungen könnte man durch Schelling begründen: Erstens empfindet die Empfindung die Begrenzung des Subjekts als des Unendlichen und diese Begrenzung ist der allem Dasein zugrundeliegenden Widerspruch; zweitens wissen wir schon [Kap. 2.11.b, Kap. 3.1], daß beim späten Schelling der Widerspruch in Grunde nicht nur Schmerz, sondern auch „Wonne" und „Lust" bedeutet [vgl. Lust bei Schelling oben]. Beides stammt vom Wirken des zweiten Prinzips, das das erste „begütigt" [XIII, 226]. 44 Wieder Nietzsche: Wenn Widerspruch das wahrhafte Sein, die Lust der Schein ist, wenn das Werden zum Schein gehört - so heißt die Welt in ihrer Tiefe verstehen den Widerspruch verstehen. Dann sind wir das Sein - und müssen aus uns den Schein erzeugen. Die tragische Erkenntniß als Mutter der Kunst. 1. Alles besteht durch die Lust; deren Mittel ist die Illusion. Der Schein ermöglicht die empirische Existenz. Der Schein als Vater des empirischen Scheins: das also nicht das wahre Sein ist. 2. Wahrhaft seiend ist nur der Schmerz und der Widerspruch. 3. Unser Schmerz und unser Widerspruch ist der Urschmerz und der Urwiderspruch, gebrochen durch die Vorstellung (welche die Lust erzeugt). 4. Das ungeheure künstlerische Vermögen der Welt hat sein Analogon in dem ungeheuren Urschmerz. [ Π Ι / 3 , 212f; meine Hervorhebung]
Nach Schelling gedeutet: Das Sein ist das Unbegrenzte (Apeiron), das Erste am Menschen, das im Widerspruch Schmerz erfährt [vgl. Kap. 3.1, Kap. 1.1-2]. „Aus" dem Ersten, aber „durch" die Lust - die Wirkung des „begütigenden" zweiten Prinzips - wird alles erzeugt [Kap. 1.1, Kap. 2.1], Auch der Schein (die Lust) als
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Siehe oben Kap. 1.2, Kap. 2.11.b, Kap. 3.1, Kap. 4.3. - Unter Nietzsches Versuchen in den Fragmenten (1871) mit dem Begriffspaar Lust und Unlust finden sich folgendes über den Ursprung der Sprache, wo es Lust in der Erfahrung des Grundes selbst gibt: „Alle Lust- und Unlustgrade Äußerungen eines uns nicht durchschaubaren Urgrundes - symbolisiren sich im Tone des Sprechenden... Insofern jener Urgrund in allen Menschen derselbe ist, ist auch der Tonuntergrund der allgemeine und über die Verschiedenheit der Sprachen hinaus verständliche". Der Tonuntergrund sei die „Urmelodie", auf welchem Fundament sich die Gebärdensymbolik entwickle [III/3, 379]. Siehe die Entstehung der Sprache in Kap. 4.1, vgl. Kap. 2.1 l.a.
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„Vater" des empirischen Scheins dürfte hier das höhertreibende zweite Prinzip vertreten [vgl. „Schein" bei Schelling oben]. Die Lust „erzeugt" nach Nietzsche die Vorstellung, welche den Urwiderspruch bricht, also nach Schelling: das Zweite erzeugt aus dem Ersten das Dritte als die Vereinigung der beiden ersten Prinzipien [siehe Erzeugung in Kap. 11.5]. Aus solcher Einsicht in die Wahrheit des Seins ergibt sich bei Nietzsche nicht nur die tragische Erkenntnis des Urschmerzes und der Illusion der Scheinwelt, sondern auch die Erkenntnis des „ungeheuren künsterlischen Vermögens der Welt": der Kraft des Streits der Prinzipien zur produktiven Erzeugung des Scheins. Nach Schellings Diskussion über die homerischen Götter wurzelt die freiheitliche homerische Götter-Poesie darin, daß der mythologische Grund, aus welchem diese Poesie hervorwächst, fortwährend zum produktiven Grund überwunden wird [Kap. 5.3 (am Schluß)]. In dieser Diskussion seht auch folgendes zu lesen: ...wodurch sollte der Lust, diese an sich poetischen Welt, die als eine zweite Schöpfung über der ersten, und dieser analog, sich erhob, wodurch sollte der Lust, diese ideale Welt immer mehr auszudehnen und endlich die ganze Natur und selbst alle Geschäfte des Lebens in sie aufzunehmen, Schranken gesetzt werden? Ein Stamm solcher Lebenskraft, einmal gepflanzt, konnte ins Unendliche Schößlinge treiben. [ΧΠ, 669]
Die homerisch-poetischen Gestalten „sind wirklich nur noch Erscheinung, nur Wesen einer höheren Imagination..." [XII, 647]. Sie sind nur „Schein" [XIII, 512], aus der Lust zum Schein poetisch imaginiert. Die homerische Poesie entsteht für Schelling offenbar durch eine „apollinische" Begeisterung - der Dichter ist „in demselben Augenblick trunken und nüchtern" -, wobei gerade die Lust nicht das Nüchterne, sondern das Trunkene, das begeisternde Dionysische darstellt. Am Schluß des längeren Zitates aus Nietzsches Fragmenten, mit dem wir diesen Abschnitt [Kap. 6.3.a] begonnen haben, steht: Die „Abbilder des Abbildes" seien „die reinsten Ruhemomente des Seins. Das wahrhaft Nichtseiende - das Kunstwerk. Die anderen Spiegelungen sind nur die Außenseite des Ureinen. Das Sein befriedigt sich im vollkommenen Schein" [III/3, 208]. Dies würde bei Schelling die homerische Poesie beschreiben, welche, wie alle wahre Poesie, „gleichsam das Erzeugniß einer über alle ihre wesentlichen Interessen beruhigten Zeit" sei; „die Poesie sei [mit Schiller gesagt] für die Glücklichen" [XIII, llf],
6.3.b „Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" Die kurze Arbeit ist in vielen Weisen ein Stück des „umgedrehten Piatonismus". Oben haben wir gewisse tragende Begriffe in Nietzsches Erkenntnislehre aus Darstellungen in Schellings System des transzendentalen Idealismus ableiten können. Das
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können wir auch bei wichtigen Begriffen in der Schrift Über Wahrheit und Lüge, wie wir im folgenden zeigen wollen. Nietzsche schreibt: Ein Wort wie Stein sei „die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten". „Von dem Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache außer uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde".45 Die Härte des Steins sei „nur eine ganz subjektive Reizung" [III/2, 372]. Die Dinge seien „Nervenreize" in ein Bild übertragen, „Ding an sich" bezeichne nur die „Relationen" der vorgestellten Dinge zu den Menschen [373.6].46 Mit Schelling verglichen, paßt all dies zu den Parallelen, die wir oben [Kap. 6.3.a] schon gezeigt haben. So wie Nietzsche redet Schelling im System des transzendentalen Idealismus vom „Ding an sich" auch als „Relationen", nämlich des Objektiven zum Ich: „Relation" sei die „Grundkategorie" aller Beziehungen der objektiven Produktion oder der Dinge zum Menschen [III, 504, bes. 519f]. 47 Nietzsche führt auch aus, daß die Wortbildung ursprünglich durch Metapherbildung aufgrund von Zeit- und Raum-Vorstellungen stattfinde. Darüber bemerkt er: Alles Wunderbare, das wir gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum Mißtrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und 45
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Vgl. Schelling im System des transzendentalen Idealismus: „Wir erblicken in der objektiven Welt nichts außer uns Vorhandenes..." [III, 379], Auch die Kausalität gehört zur Produktion [III, 470ff], Vorbilder für diese Sätze - nur nicht für die Grundlosigkeit der Schließung auf eine „Ursache außer uns" - liegen in der Schrift des Gustav Gerber vor: Die Sprache ah Kunst [Bromberg, 1871], die Nietzsche benutzt hat, wie Anthonie Meijers und Martin Stingelin in Nietzsche-Studien Bd. 17, 1988, 350-368, belegen. In der folgenden Diskussion [369ff] bei Meijers wird die Aufnahme von Begriffen aus Gerber wesentlich dadurch erklärt, daß Nietzsche bei Gerber einiges gefunden hatte, das zu seiner grundsätzlich Langeschen Ekenntnislehre paßte und das er nutzen konnte. N u r sehe ich nicht ein, daß Nietzsches Erkenntnislehre eine Langesche wäre. Die in Kap. 6.3.a untersuchten Erkenntnislehre ist keine von F.A. Lange herstammende; auch die oben eben zitierten Worte über keine Ursache „außer uns" weisen nicht auf Lange hin [vgl. Lange in Kap. 2.7, Kap. 13.6]. Aber ich stimme mit Meijers darin überein, daß Nietzsche bei Gerber Nützliches für die Darstellung seiner Erkenntnislehre gefunden hat. Vgl. Kap. 6.3.a, vgl. Nietzsche, III/4, 154.8. - Freilich kann eine Konstruktion von abstrakten Begriffen auch als ein Gewebe von Relationen verstanden werden [siehe Kap. 6.2.a (Parmenides)]. Vgl. Schellings Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806): „Das reine Compositum [der Dinge], oder die Relation für sich, wäre als ein bloßes Ens imaginationis ohne alle Realität, und könnte nicht gesehen wenden ohne das Positive, das in ihm widerleuchtet" [VII, 172, vgl. 194]. Vgl. Schellings Selbstkritik in der spätphilosophischen Geschichte der neueren Philosophie über seine frühphilosophische Lehre vom Werden Gottes: „Die ganze Vorstellung jenes Prozesses und jener Bewegung ist eine selbst illusorische"; sie redete „von den Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen" [X, 124f],
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Raum-Vorstellungen. Diese aber produciren wir in uns und aus uns mit jener Nothwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, dass wir in allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen begreifen; denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen, und die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in den Dingen. ... Dabei ergiebt sich allerdings, dass jene künstlerische Metapherbildung, mit der in uns jede Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der Begriffe construirt werden sollte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung der Zeit- und Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern. [ΙΠ/2 379-380; meine Hervorhebung],
Nach dem System des transzendentalen Idealismus gehören die von Nietzsche genannten Verhältnisse und Vorstellungen zum „Produciren" (z.B. Zahl: III, 521f). Mit den Empfindungen werden die zahlenmäßigen Formen als die werdende Welt produziert. In derselben Arbeit findet man, daß bei der Rekonstruktion der Produktion der Philosoph die Produktion „nachahmt": „Wenn die erste Construktion der Philosophie Nachahmung einer ursprünglichen ist, so werden alle ihre Construktionen nur solche Nachahmungen seyn" [III, 396f]. Nietzsches Verwendung des Wortes „Nachahmung" im „Bau der Begriffe" scheint keine andere zu sein. Schelling redet z.B. vom „Sinnbild" der Zeit als eine Linie [ebd, 467; vgl. über die Sprache in Kap. 4.1], In Nietzsches Arbeit wird die illusorische Natur vermuteter Wahrheit hervorgehoben. Dies ist für uns kein neues Thema [vgl. z.B. Kap. 2.12, Kap. 4.2]. Nur die besondere Ausdrucksweise in Über Wahrheit und Lüge interessiert hier: Zwischen Wahrheit und Lüge, daher auch zwischen Moral und Unmoral, gebe es keinen wesentlichen Unterschied. Wahrheit gibt es nur als eine auf gewohnheitsmäßige Konventionen gebaute „Herrschaft der Abstraktion"; die abstrakten Begriffe sind rationalistisch von der Metaphersprache abgezogenen und somit „entfärbt" worden [III/2, 375].48 Während die Kunst behauptet, keine Wahrheit zu sein, steht sie dem Ursprung der Sprache als Metapherbildung nahe [38 Iff; vgl. Kap. 4.1], Der Mensch hat aber das Bedürfnis nach einer illusorischen Fixierung des Unterschieds zwischen Wahrheit und Lüge: Zur Selbsterhaltung hat er nur den Vorteil seines Intellekts, den er aus Selbstinteresse zur Verstellung verwende, so daß sein Leben von Anfang an auf Betrug beruhe. Im Krieg aller gegen alle [vgl. Kap. 6.4.c] finde er Sicherheit im „Herdenweise"-Existieren. Der Friedensschluß zur Herdenexistenz bedeute die Fixierung der Wahrheit. Das Menschenleben ruhe dennoch auf dem „Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen, in der
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Vgl. bei Schelling den Zusammenhang der nur negativen Vernunft mit der Moral: Kap. 3.6. Vgl. aus Nietzsches Fragmenten (1872-73): „Woher das Wahrheitspathos in der Lügenwelt? Aus der Moral" [ I I I / 4 , 76.6],
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Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend" [370f]. Diese Einsicht habe der Mensch nicht, der unter der „Herrschaft der Abstraktionen" lebt. Er nenne sich zwar „reich", aber seine Wahrheit sei immer nur Lüge: „für diesen Zustand wäre gerade ,arm' die richtige Bezeichnung" [371; vgl. „Hunger" in Kap. 5.6]. Teilweise sind tins diese Begriffe und Bilder schon aus vorherigen Diskussionen bekannt, aber im allgemeinen passen sie in das Schellingsche Bild des gefallenen selbstischen Menschseins, das stets in Täuschungen lebt. Auf die Grundlage des Staats und den Begriff der Begierde gehen wir unten ein [Kap. 6.4]. Nietzsche stellt den „vernünftigen" Menschen dem „intuitiven", anschauenden Menschen gegenüber, „der letztere ebenso unvernünftig, als der erstere unkünstlich ist". „Beide begehren über das Leben zu herrschen" [383; vgl. „Besitz"]. Nach Nietzsche ist der intuitive Mensch besser daran, sofern er „Erhellung, Aufheiterung, Erlösung", wenn auch viel Leid erlebe, und im Leiden sei er „trostlos" [383f]. Nach Schelling gedeutet: Der intuitive Mensch lebt in der dionysischen Wirklichkeit und wird wie Schellings Künstler [Kap. 1.1-2] leidend vom Widerspruch getrieben. Der vernünftige Mensch dagegen erfindet auch tröstliche abstrakte Gedanken [vgl. unten Schopenhauer], Wieder Nietzsche: Der „große Bau der Begriffe" unter der „Herrschaft der Abstraktionen" zeige die „starre Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und athmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist" [376; vgl. Kap. 6.2.a: Parmenides]. Durch das Vergessen der „primitiven Metapherwelt" werde der Strom der Vorstellungen „hart und starr" [377.26]. Der Denker sei wissenschaftlich „ernüchtert" [381.28]. Die Abstraktion „verflüchtigt" die anschaulichen Metaphern; so werden diese zu starren Begriffen [381.4]. Das Wort „verflüchtigen" gebrauchte Nietzsche auch in der Darstellung des Parmenides [Kap. 6.2.a], In den Weltaltem hatte Schelling dasselbe Wort für grundsätzlich dieselbe Sache, die schlechte Wirkung des abstrakten Denkens, gebraucht [VIII, 343]. Man beachte auch Nietzsches folgende Ausführung. ...wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig nimmt sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur aus; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt. Es ist nichts so verwerflich und gering in der Natur, was nicht durch einen kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens sofort wie ein Schlauch aufgeschwellt würde... [369; meine Hervorhebung]
Auch nach Schellings Spätphilosophie wäre die Mücke ihr eigenes „Zentrum" der Welt, denn infolge der Weltzerreißung fehlt jedem Weltwesen die Vermittlung in
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die jeweils höheren Stufe: Jedes falle in sich zurück, jedes sei „egoistisch" [XI, 419, 422; XIII, 363], Dadurch gibt es nach Schelling die erste „Ausdehnung", d.h. „turgor", Aufschwellung, der lebendigen Wesen [XI, 447], Hätte die Mücke das Erkenntnisvermögen, so würde sie, wie Schellings „aufgeblasenen" Sophisten und Eleaten, „wie ein Schlauch" aufschwellen: Mit dem Vermögen der Begriffe wäre sie zum Denker geworden. „Aufgeblasenheit" ist symptomatisch für die Unfähigkeit, über sich hinauszufinden [siehe dieselben Bilder in Kap. 5.6]. Nach Schopenhauer ist das Insekt das „Zentrum" der Natur, sofern jedes Individuum „der ganze Wille zum Leben" sei; „hierauf beruht der Egoismus jedes Lebenden". Von der „Peripherie" aus sagt jedoch die Natur: „Das Individuum ist nichts", und sie vernichtet es [WWV II, 744 (Kap. 46)]. Wäre das Insekt denkend, so hätte man aus Schopenhauer noch zu ergänzen, daß das Subjektsein ewig zum Schopenhauerschen Ding an sich gehört. So würde es sich „als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens empfinden, welches, als Bedingung des Objekts, der Träger eben dieser ganzen Welt ist und der furchtbare Kampf der Natur nur seine Vorstellung, es selbst in ruhiger Auffassung der Ideen, frei und fremd allem Wollen und allen Nöten" [WWV, 1,276 (§39); vgl. II, 474-76], Dies wäre für Nietzsche ein abstrakter „Trost" auch für die vernünftige Mücke [siehe „trostlos" oben; vgl. Kap. 13.3.b].
6.4 „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern " (1872) 6.4.a „Über das Pathos der Wahrheit" In den Vorreden begegnet man vielen Inhalten, die wir schon im vorigen Kapiteln behandelt haben; z.B. ist die erste Vorrede eine Zusammenstellung von Themen, die in den Schriften Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne und Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen behandelt werden. Es kommen aber auch andere Themen und Ausdrücke vor, die wir in den Vergleich einbeziehen wollen. Nach der ersten Vorrede läßt die „Begierde" der „Eigenliebe" den Menschen nach Ruhm, nach Größe suchen [111/2, 249]. Die unter sich kämpfenden großen Geister stellen die Kultur gegen den Widerstand des gemeinen Haufens her, aber sie selbst sind sehr verschieden: Einer gehe „stolz und stoisch durch dieses Leben" [vgl. Kap. 6.2.b], ein anderer „mit Tiefsinn", ein dritter „mit Erbarmen" [250f]. Gemeinsam lehren sie aber, daß „die Kunst mächtiger als die Erkenntniß ist, denn sie will das Leben, und jene erreicht als Letztes nur - die Vernichtung" [251, 254]. Die Wahrheit sei zu grausam, als daß man sie ohne die Kunst der Illusion ertragen könne [254], und die sogenannte Wahrheit der großen Philosophen sei nur ihre Eigenliebe [251].
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Im Vergleich mit Schelling fällt die „Begierde" auf.49 Nach dem späten Schelling ist das Wesen der zerrissenen Welt „Begierde" [XI, 468; vgl. Kap. 3.3]. Das erkennt man auch in seinem Begriff des „Hungers" der nichtseienden Möglichkeit nach Verwirklichung [XI, 294] und im „feurigen" Wollen des menschlichen „Seynkönnens" [XIII, 207, vgl. 282f; XI, 148], Weil alle Wesen die fehlende Einheit instinktiv suchen, sind sie die ewig Hungernden, die immer Begehrenden.50 Die produktiv-kämpfende Spannung der Potenzen in den mythologischen Orgien nennt Schelling ein Begehren [XII, 352], Damit in Zusammenhang versteht sich auch der Begriff der „Krankheit" als „Sucht", insbesondere in der Mythologie.51 Die „Sucht" läßt begehren, suchen; durch Dionysos' Einwirken sucht die Mythologie primitivunbewußt oder auch bewußt die höhere Entwicklung [vgl. Kap. 3.7]. Das platonische Gute sei bei Piaton das „Begehrenswerthe" [XI, 560 Anm],
6.4.b „Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten" In dieser Vorrede schreibt Nietzsche über die „Vernichtung" der höheren Bildungsanstalten durch die heutige Kultur [III/2, 256.4]. Das Thema behandelt er ausführlich in der Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten [Kap. 6.1]. An einer Stelle schreibt er von einem wissenden Nichtwissen: In eine neue, zukünftige Bildung wolle er den Leser führen, aber er „wagt" es „nur von dem Nichtwissen und von dem Wissen des Nichtwissens aus, zu ihm zu reden" [257.10].52 Er redet persönlich mit seinem Lesen „Du bist mein Leser, denn du wirst ruhig genug sein, um mit dem Autor einen langen Weg anzutreten, dessen Ziele er nicht sehen kann, an dessen Ziele er ehrlich glauben muß, damit eine spätere, vielleicht ferne Generation mit Augen sehe, wonach wir, blind und nur vom Instinkt geführt, tasten" [ebd, 256]. Schelling schreibt von der „Ungeduld des Schülers", der „gleich das Ziel zu sehen" verlangt. Man habe ihn auf das Wort von Aristoteles hinzuweisen, daß der 49
In der dritten Vorrede, Der griechische Staat, redet Nietzsche von der „unersättlichen Gier zum Dasein" und dem „ewigen Sichwidersprechen in der Form der Zeit" [III/2, 262.29]. Nach der Geburt der Tragödie ist die Natur „Wollen", „Begierde", „Sehnsucht" [III/l, 47 (§6)]. Mit denselben Worten beschreibt Schelling die Natur als den mit Leben schwellenden Urkampf der Prinzipien. Über „Begierde" siehe z.B. in der Freiheitsschrift, VII, 376, 395; in den Weltaltern, VIII, 234. Über „Sehnsucht" siehe z.B. in den Weltaltern VIII, 240.
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In seinen Basler Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen bemerkt Nietzsche, daß Heraklit für die „begehrende Dürftigkeit" der nach dem ewigen Urfeuer hinstrebenden Dinge auch „Hunger" setzen konnte [II/4, 276], Vgl. den Willen zur Macht in Kap. 12.1. Siehe Schelling, XIV, 282f; vgl. XI, 148, 222; XII, 167, 315-20, 339-342 Vgl. unsere Besprechung des Nichtwissens in Kap. 1.2, Kap. 2.9, Kap. 5.4.b.
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Lernende glauben müsse, und zwar bis das Ziel erreicht sei. So ruft dann Schelling aus: „Vertrauen Sie auf den Erfolg!" [XIII, 216], In der Philosophie sei „jedes Anfangen im gewissen Sinne ein Glaube an das Ende, das noch nicht gesehen wird" [XIV, 15]. Ferner „ist jeder Instinkt mit einem Suchen des Gegenstandes verbunden, auf den er sich bezieht"; er sei ein „Greifen und Tasten" [XI, 76].
6.4.C „Der griechische Staat" In dieser Vorrede gibt es einen Inhalt, den Nietzsche in den vorherigen Schriften nur berührt hat. Wir fangen mit Schelling an, um nachher den Vergleich mit Nietzsche zu ziehen. Nach Schellings Spätphilosophie stammt die Wurzel der staatlichen Herrschaft von der Weltzerreißung her: Jeder ist für sich ein eigenes Zentrum, jeder will selbst Herrscher sein. Unter diesen Zuständen wird der kräftigste Mensch zürn natürlichen Herrscher; ein Volk selbst entsteht durch die Herrschaft des Herrschers, der sich Verwandtschaft, Stamm, zuletzt mehrere Stämme unterwirft. Am Ende der Mythologie entstehen die mit Weisheit geordneten Verhältnisse geistig-sozialer Gesetzgebung, die den „Krieg aller gegen alle" verhindern; nur damit entsteht die Möglichkeit persönlicher Freiheit [XI, 536-40]. An einer anderen Stelle schreibt Schelling über die Unterwerfung der Menschen in der noch zu seiner Zeit praktizierten Sklaverei, und zwar mit Schmerzen über die schlimme Unmenschlichkeit [XI, 512-515]. Wo es die persönliche Freiheit gibt, besteht sie für Schelling im Hinausgehen über den Staat, „gleichsam jenseits des Staats" als der rechtlichen Ordnung [XI, 551], Der Staat ermöglicht das geistige Leben. Für Schelling kann der Staat die natürliche, von der ursprünglichen Zerreißung herstammende Herrschaftsordnung nicht in ihrem Grunde aufheben, jedoch kann er und soll er die Reform und die fortschrittliche Entwicklung der Freiheit fördern. Nur die Revolution am Grundsatz selbst muß scheitern, „wie die Natur wohl verschönert, aber nicht anders gemacht werden kann, als sie ist, die bleiben muß, solange diese Welt besteht" [XI, 551]. Schelling verurteilt als Illusion den „Vernunftstaat", nämlich als das Ziel politischen Strebens derjenigen, die im Namen der allgemeinen Gleichheit den „Himmel auf Erden" einrichten wollen. 53 In der
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Vgl. bei Schelling das Ideal der Gleichheit im Mythos des goldenen Zeitalters als Erinnerung an die Zeit des Uranos, wo es noch keine (bürgerlichen) Unterschiede unter den Menschen gab. Nach Schelling war damit die Hoffnung auf eine ideale Zukunft, wo die Unterschiede wieder aufgehoben wären, eng verwandt. E r sieht das mythische Ideal des goldenen Zeitalters als Vorzeichen der republikanischen Verfassungen der Griechen [XII, 187, 273, 593f; XIII, 388], Im Vernunftstaat wäre für Schelling mit den neuen Herrschern die Moral an der Macht [vgl. Kap. 3.6]. Vgl. die Unterscheidung zwischen „Moral" und dem wahren Staatsbegriff schon in Schellings System des
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gefallenen Menschheit würde die selbstische Selbstheit die nur vermeintlich „reine" Vernunft zu nutzen wissen [XI, 537ff]. In seiner Gegenwart war nach Schellings Dafürhalten der Begriff des Vernunftstaats nicht völlig entfaltet; erst mit der Zeit sollen die darin liegenden Möglichkeiten an den Tag gebracht werden. Schon heute aber entstehe daraus nicht nur die Feindschaft gegen die natürliche Größe, sondern auch die „reine unverhüllte Individualität" [XI, 537-39; XII, 282; vgl. Kap. 3.4, Kap. 4.4.b]. In der Schrift Der griechische Staat stellt Nietzsche fest: „ohne Staat, im natürlichen bellum omnium contra omnes, kann die Gesellschaft überhaupt nicht in größerem Maaße und über das Bereich der Familie hinaus Wurzel schlagen" [ÏÏI/2,266.9]. Er hebt die Gewalt der durch Kämpfe errungenen Überlegenheit und ihrer Ordnung hervor: Durch blutigen Krieg unterwerfe der Mächtige seinen Feind, um diesen in seinen Dienst zu zwingen. „Die Gewalt giebt das erste Recht, und es giebt kein Recht, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung[,] Usurpation[,] Gewaltthat ist." Mit Sieger und Besiegtem gibt es bei den Griechen auch die Sklaverei. „Hier sehen wir wiederum, mit welcher mitleidlosen Starrheit die Natur, um zur Gesellschaft zu kommen, sich das grausame Werkzeug des Staates schmiedet..." [ebd, 264], In der Geburt der Tragödie werden für die Zukunft Katastrophen vorausgesagt, die im Namen der allgemeinen Gleichheit aus der modernen Verkennung jener natürlichen Grundlage der menschlichen Gesellschaft entstehen [III/1, 113ff (§18§19)]. Die Ansicht wird in der vorliegenden Vorrede untermauert: „Aus der Verzärtelung des neueren Menschen sind die ungeheuren socialen Nothstände der Gegenwart geboren, nicht aus dem wahren und tiefen Erbarmen mit jenem Elende..." [III/2, 263.7]. Nietzsche scheint über den Staat hinauszuschauen: „Man sollte doch denken, daß ein Wesen, welches in die Entstehung des Staates hineinschaut, fürderhin nur in schauervoller Entfernung von ihm sein Heil suchen werde" [265.3]. Aber der Staat selbst dient einem höheren Zweck: Sein Ziel sei „die olympische Existenz und immer erneute Zeugung und Vorbereitung des Genius" [270.18]. Schelling weist auf die aristotelische Forderung der Muße für die „Besten" der Ermöglichung geistiger Arbeit - als erste Aufgabe des Staats hin [XI, 549]. Auch sieht er in der „Zeugung" von wirklichen Philosophen die Aufgabe seiner Lehrtätigkeit [siehe bes. Kap. 11.5, vgl. Kap. 9]. Es gibt einen anderen Inhalt in Nietzsches Vorrede, den wir in Betracht ziehen wollen, nämlich Bemerkungen über griechische und christliche Gerechtigkeit. Nietzsche schreibt:
transzendentalen
Idealismus [III, 583; vgl. V, 312-316], Siehe auch Kap. 11.4.
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Wenn
wirklich
die Kultur im Belieben
eines Volkes stünde, wenn
hier
nicht
unentrinnbare Mächte walteten, die dem Einzelnen Gesetz und Schranke sind, so wäre die Verachtung der Kultur, die Verherrlichung der A r m u t des Geistes, die bilderstürmerische Vernichtung der Kunstansprüche des Geistes mehr als eine Auflehnung der unterdrückten Masse gegen drohnenartige Einzelne: es wäre der Schrei des Mitleidens, der die Mauern der Kultur umrisse; der Trieb nach Gerechtigkeit, nach Gleichmaaß des Leidens würde alle anderen Vorstellungen überfluten. Wirklich hat ein überschwänglicher G r a d des Mitleidens auf kurze Zeit hier und da einmal alle D ä m m e des Kulturlebens z e r b r o c h e n ; ein Regenbogen der mitleidigen Liebe und des Friedens erschien mit dem ersten Aufglänzen des Christenthums, und unter ihm wurde seine schönste Frucht, das Johannesevangelium geboren. [ΠΙ/2, 2 6 2 ] 5 4
Obwohl beide mit Mitleid zu tun haben, unterscheidet Nietzsche zwischen dem Sturm des Mitleidens als dem gewaltigen Trieb nach Gerechtigkeit und dem friedlichen und liebevollen „Regenbogen" des ersten Christentums [vgl. Kap. 5.4.a].55 Die Unterscheidung ist für die folgende Besprechung in Nietzsches Text bedeutsam. Um sie besser begreifen zu können, greifen wir vorher den Inhalt von gewissen Notizen aus den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches (Sommer 1871 - Frühjahr 1872) auf. Dort liest man: „Das Christenthum kennt ja keine Gerechtigkeit". An derselben Stelle schreibt Nietzsche, daß bei den Griechen der Neid stärker als bei anderen Völkern ausgeprägt gewesen sei; darum sei die Gerechtigkeit bei ihnen auch wichtiger [III/3,428f], Nun paßt diese Ansicht zu dem, was gleich vorher aus dem Griechischen Staat zitiert wurde: Der „Trieb nach Gerechtigkeit" ist der nach dem „Gleichmaaß des Leidens", nämlich damit der Neid selbst Ausgleich findet. So könnte man den Schluß ziehen, daß, weil das (erste) Christentum den Neid nicht kennt, es auch keine Gerechtigkeit kenne. Darin könnte die Lösung der rätselhaften Beziehung im obigen Nietzsche-Zitat zwischen dem urchristlichen „Regenbogens der mitleidigen Liebe" und jenem anderen Mitleid aus dem völkischen Trieb nach Gerechtigkeit liegen.56
54
55
Vgl. unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (1871): III/3, 353f; vgl. 254.5. Siehe über das Johannesevangelium in Kap. 5.4.a. Vgl. Schelling in der Philosophie der Kunst: „Ueber diesem finstern Abgrund erschien als das einzige Zeichen des Friedens... das Kreuz, gleichsam der Regenbogen einer zweiten Sündflut, wie es ein spanischer Dichter nennt..." [V, 429],
56
Vgl. auch folgendes aus Nietzsches nachgelassenen Fragmenten: „Alle Rechenschaft und alles Recht ... kommt aus einem Gleichgewicht der Egoismen: gegenseitige Anerkennung sich nicht schädigen. ... Liebe und Recht Gegensätze. ... Das Vorausnehmen von möglichen Unlustempfindungen bestimmt die Handlung des rechtlichen Menschen: Er kennt empirisch die Folgen der Verletzung des Nächsten, aber auch der Verletzung seiner selbst. Dagegen ist die christliche Ethik der Gegensatz: sie beruht auf dem Identificiren seiner selbst mit dem Nächsten, anderen wohltun ist hier ein Sich-Selbst-Wohltun, mit anderen leiden ist hier gleich dem eignen Leid. Liebe ist mit einer Begierde zur Einheit verbunden" [III/4, 38 (Sommer 1872- Anfang 1873)].
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Nach dem letzten Satz im obigen Zitat, eben dem vom „Regenbogen der mitleidigen Liebe" im ersten Christentum, schreibt Nietzsche weiter: Es giebt aber auch Beispiele, daß mächtige Religionen auf lange Perioden hinaus einen bestimmten Kulturgrad versteinern und alles, was noch kräftig weiter wuchern will, mit unerbittlicher Sichel abschneiden. Eins nämlich ist nicht zu vergessen: dieselbe Grausamkeit, die wir im Wesen jeder Kultur fanden, liegt auch im Wesen jeder mächtigen Religion u n d überhaupt in der N a t u r der Macht, die immer böse ist; so daß wir ebenso gut es verstehen werden, wenn eine Kultur mit dem Schrei nach Freiheit oder mindestens Gerechtigkeit ein allzuhochgethürmtes Bollwerk religiöser Ansprüche zerbricht. [ΙΠ/2, 262; vgl. m/3, 354]
Schellings Kritik am geschichtlichen Christentum ist eine sehr ähnliche. Zwar suche sein Begründer „nicht das Seine" und „erscheint darum als unvermögend", sein Wesen sei „lautere Liebe" [XIII, 220f; Kap. 3.3, siehe auch Kap. 11.4]. Aber das Christentum mußte aus dem von Christus gestifteten vorgeschichtlichen Keim in die geschichtliche Welt als die Wirkungssphäre des Bösen fortschreiten [XIV, 295298], wo es auch in die Irre ging. In der Zeit nach Konstantin verstand sich die Kirche zusehends als weltliche Macht und vermengte sich mit den Machtverhältnissen von Politik und Staat; sie wurde repressiv und gestattete keinen weiteren Fortschritt [XIV, 310f; XI, 546], bis in und mit der Reformation neue Freiheitsbewegungen die alte Ordnung umwarfen [siehe hierüber Kap. 8 und den Schlußteil von Kap. 9].57 57
Nach dem Neuen Testament ist der Urchrist wie sein Herr „Diener" der Anderen; in der Sprache des Neuen Testaments ist er δ ο ύ λ ο ς : Knecht oder Sklave (z.B. 2. Kor. 4,5). In der Schrift Der griechische Staat schreibt Nietzsche, daß die Sklaverei dem ursprünglichen Christentum weder „anstößig" noch „verwerflich" war [III/2, 263.13; vgl. III/3, 355.19], was auf jenes obige Fehlen der „Gerechtigkeit" im Urchristentum hinzuweisen scheint. Unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (Winter 1870-71 - Herbst 1872) findet man auch: „Das Christenthum hat gegen die Sklaverei keine andere Abneigung als gegen Ehe und Staat. Etwas ganz verschiedenes ist Emanzipation" [III/3,277.1], Vgl. den Aufsatz des Nietzsche-Freundes und Theologen Franz Overbeck: „Uber das Verhältnis der alten Kirche zur Sklaverei im römischen Reich", in seinen Studien zur Geschichte der alten Kirche [Schloß-Chemnitz, 1875; Neuauflage Darmstadt, 1965], Overbeck erläutert zunächst den urchristlichen Begriff des Sklaven als des Dieners, dann belegt er gerade die Verschlechterung der Kirche im späteren römischen Reich. Nach Overbeck lebte die erste Kirche dieser Welt „entrückt", d.h. schon in der von Christus beherrschten Welt - ihr „Weltbild" ist ihr „Herr" [225] -, wo jeder Christ als „Sklave" im Dienst des Anderen zu leben versuchte. [Nach Schelling gedeutet: „Alles ist Christus".] Die staatlichen Ordnungen, einschließlich der Sklaverei, waren der eisten Kirche „gleichgültig" weil „unwirklich" [226]. Als die Kirche aber nach Konstantin zur Weltmacht wurde, traf in ihrem Bewußtsein die Ordnung sowohl des Staats als auch der natürlichen Welt, in denen es die Unterwerfung der Menschen in der Sklaverei gab, mit ihrem Ideal des christlichen Sklavendienstes unbedenklich zusammen. Das Resultat war eine Kirche, die nicht nur die „weldiche" Sklaverei billigte, sondern bald selbst die Leibeigenschaft praktizierte. Die Tendenz der Kaiser seit Hadrian, den Zustand der Sklaven durch gesetzliche Regelung zu mildern,
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6.4.d „Das Verhältnis der Schopenhauerschen Philosophie zu einer deutschen Kultur" Nietzsche betrachtet wieder die heutige Bildung. Heute sei der Gebildete vor allem „historisch" gebildet, wodurch er nur „Trivialitäten und Nichtigkeiten" als Inhalt seiner Bildung habe; das „Wesentliche" werde verpaßt. „Ihr könnt zu Tausenden über eine Epoche herfallen - ihr werdet nachher hungern wie zuvor und euch eurer Art angehungerter Gesundheit rühmen dürfen" [III/2, 274; vgl. Kap. 6.4.a]. Auch nach dieser Vorrede ist die heutige Wissenschaft durch abstrakten Rationalismus gekennzeichnet. Infolge solcher „Philisterhaftigkeit" entstehen „ein verwirrtes Geschrei" und „ein so gliederverrenkendes Getümmel", daß der Denker „in die einsamste Wildniß flüchtet - dorthin wo er sehen darf, was jene nie sehen werden, wo er hören muß, was aus allen Tiefen der Natur und von den Sternen her zu ihm tönt" [ebd, 275]. Beim späten Schelling findet man auch eine Flucht in die Einsamkeit, wo das vernommen wird, was in der Menschengesellschaft nicht vernommen werden kann. In der Einsamkeit habe der Mensch „Bezug zum Tiefsten"; er sei im „contemplativen" [anschaulichen] Zustand [XIV, 138f; vgl. Kontemplation in Kap. 9 (§5)]. Wie Nietzsche weiter schreibt, berede sich der Denker in dieser Einsamkeit mit „großen Problemen" wie mit „Gespenstern", die an ihn heranschweben, so daß er ihren „kalten" Atem spüre [275]. Man erinnere sich an die kalte Nüchternheit des Denkens bei Schelling [z.B. Kap. 6.2.a]. Wieder Nietzsche: Für ihn [den heutigen Gebildeten] verwandeln sich diese Gespenster in Begriffsgespinste und hohle Klangfiguren. Nach ihnen greifend wähnt er die Philosophie zu haben, nach ihnen zu suchen klettert er an der sogenannten Geschichte der Philosophie herum - und wenn er sich endlich eine ganze Wolke von solchen Abstraktionen und Schablonen zusammengesucht und aufgethürmt hat - so mag es ihm begegnen, daß ein wahrer Denker mit ihm in den Weg tritt und sie - wegbläst [275],
Mit dem letzten Wort, „wegbläst", hat Nietzsche denselben Ausdruck gebraucht, den Schelling - Plutarch zitierend - als die Tat des Sokrates gegen die Eleaten verwendet: „Er blies den Schwulst der Eleaten und der nur von ihnen herkommenden Sophisten scherzend und spielend wie einen Rauch hinweg" [XII, 284; siehe oben Kap. 5.6]. Nietzsche läßt Schopenhauer diese Tat gegen die heutige deutsche Bildung vollbringen. Nietzsche nennt ihn „den einzigen Philosophen" der „deutschen Kultur", d.h. der Erscheinung, die „sich jetzt als .deutsche Kultur' brüstet" [275f].58 wurde in der nachkonstantinischen Kirche vergessen. Allein im Mönchtum versuchte sich die Kirche jene andere, urkirchliche Welt rein zu erhalten. 58
Vgl. Nietzsche in den nachgelassenen Fragmenten (Sommer 1872 - Anfang 1873): Schopenhauer
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6.4.e „Homers Wettkampf" „Der moderne Mensch fürchtet nichts so sehr an einem Künstler als die persönliche Kampfregung, während der Grieche den Künsder nur im persönlichen Kampfe kennt" [III/2, 284]. Der Hellene gedeihe erst durch den Kampf, durch Neid und Ehrgeiz. Nietzsche bezieht sich auf Hesiods Unterscheidung eines guten und eines schlechten, tödlichen Streits, so nämlich der zwei Erisgöttinnen [ebd, 280; vgl. Kap. 6.2.a]. Im guten Kampf fordere jeder den anderen zum Wetteifer auf. „Je größer und erhabener aber ein griechischer Mensch ist, um so heller bricht aus ihm die ehrgeizige Flamme heraus, jeden verzehrend, der mit ihm auf gleicher Bahn läuft" [ebd, 281f]. Auch bei Schelling findet man das verzehrende Feuer des menschlichen Geistes, der eifersüchtig das Seine begehrt [Kap. 6.2.b]. Nach Nietzsche handelt sich um eine „verzehrende Eifersucht" und eine „ungeheure Begierde" [ebd, 281; vgl. Kap. 6.4.a]. Auch die großen Geister, die Genien, „reizen sich gegenseitig zur That, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten" [ebd, 283]. „Der Mensch, in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität, in Regungen[,] Thaten und Werken hervorwachsen kann" [ebd, 277]. Jener „Doppelcharakter" der Natur hat vermutlich dieselbe Bedeutung wie die Zweiheit des dionysischen Grundes in der Geburt der Tragödie [vgl. in Kap. 2.11.b]. Man beachte auch den Begriff des „fruchtbaren Bodens". Darin könnte man Schellings Begriff der Uberwindung des an sich grausamen und widerstrebenden realen Prinzips in den dionysisch-fruchtbaren Grund erkennen; daraus wächst das Humane - für alle Zeiten musterhaft bei den Griechen - blühend und fruchttragend hervor [Kap. 3.1]. Nach Homers Wettkampfhaben die Griechen einen „Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust an sich", die „Neigung zum blutigen Krieg" [ebd, 277.16]. Wo dieser Zug erscheint, „erleichtert sich die zusammengedrängte und geschwollene Empfindung: der Tiger schnellte hervor..." [278.16]. Bei Schelling begegnet man dem Bild solcher Schwellung im „Turgor" des mythischen „Orgiasmus", wo die Prinzipien gegeneinander hochgespannt, aber ununterschieden ineinander sind, so wie bei den Titanen [XII, 619] oder auch der Kriegsgöttin „sammelt alle Elemente, die zur Beherrschung der Wissenschaft noch taugen. Er k o m m t auf die tiefsten Urprobleme der Ethik und der Kunst, er wirft die Frage vom Werthe des Daseins auf." Bei ihm so wie bei Wagner „rüsten sich die tiefsten Eigenschaften des germanischen Geistes... zum Kämpfe: wie bei den Griechen. Wiederkehr der Besonnenheit" [III/4, 13]. Auf der vorherigen Seite steht zu lesen: „Werth Schopenhauers, weil er naive allgemeine Wahrheiten in's Gedächtniß ruft: er wagt es, sogenannte .Trivialitäten' schön auszusprechen. Wir haben keine edle Popularphilosophie, weil wir keinen edlen Begriff von peuple publicum haben" [III/4, 12],
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Kybele [352, 364, vgl. 397]. Solch hohe Spannung kann auch wahnsinnige Grausamkeit bedeuten [XII, 363; vgl. VIII, 324-326, 33η. „Was liegt", fragt Nietzsche, „als Geburtsschooß alles Hellenischen, hinter der homerischen Welt'" Nur „Nacht und Grauen", die Erzeugnisse „einer an das Gräßliche gewöhnten Phantasie" [III/2,278f, 279.2], Jene Zeit sei die der Titanen und der „Kinder der Nacht" (nach Hesiod). Nietzsche weist aber noch hinter die Zeit der Titanen zurück, wo die schon „schwer" zu atmende Luft Hesiods durch die Einmischimg der „finstren Wohllüstigkeit" der Etrusker „verdichtet und verfinstert" werde [279]. Nach Schelling hat die Lehre der „schwermüthigen" Etrusker über ihren Gott Janus wesentlich denselben Inhalt wie das Hesiodsche Chaos als die Götternacht, aus der alle Götter entstehen und in der sie wieder verschwinden [XII, 598; XIII, 511], Man vergleiche ein anderes Bild in Homers Wettkampf. Jene „Verdichtung" sei ein „Erpressen" der Mythenwelt [279.13]. Diese geht offenbar in die Verdichtung unter, so wie in die Götternacht. Schon in seinen frühen Werken begriff Schelling das erste, allem zugrundeliegende Prinzip der Mythologie als die alles in sich einbeziehende, alles in Einem konzentrierende Schwerkraft, die ewige Nacht [z.B. IV, 200, 266, 278; vgl. XII, 21 lf]. Wie Nietzsche schreibt, seien die Hesiodschen Kämpfe der Titanen, mit jener ersten Finsternis verglichen, „wie eine Erleichterung". Offensichtlich bedeuten diese Kämpfe eine erste Uberwindung der Schwerkraft jener „Verdichtung", so wie bei Schelling die Uberwindung des Uranos im ersten mythologischen Moment Urania oder der Titanen stattfindet.
6.5 Über Verstellung und Ironie bei Nietzsche und Schelling Ab und zu gibt Nietzsche Winke, daß er nicht alles völlig offen ausspricht, daß der Leser nach dem tieferen Sinn suchen sollte. In der Vorrede Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten findet man den folgenden Satz über den idealen, „ruhigen" Lesen „Ein solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, er versteht doch das Geheimniß zwischen den Zeilen zu lesen..." [III/2, 256]. Am Schluß der Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten fällt der bemerkenswerte Satz: „An meinem Gleichnisse aber deutet euch, was ich wohl unter einer wahren Bildungsanstalt verstanden haben möchte..." [III/2, 244.4; siehe Kap. 5.6]. Wie wir häufig gesehen haben, ist die Rede der Gleichnisse und Bilder bei Nietzsche wesentlich dieselbe wie bei Schelling; für Schelling ist sie keine willkürliche Rede, sondern Rede aus dem Ursprung der Sprache im noch fortlebenden Wirken der Mythologie [Kap. 4.1]. In Nietzsches Schrift Die Philosophie im tragischen Z£italter der Griechen findet man diesen Satz: „Wie aber ein Philosoph undeutlich, mit Absicht schreiben sollte ... ist völlig unerklärlich: falls er nicht Grund hat, Gedanken zu verbergen..."
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Nietzsche weist auf Schopenhauers Aufforderung zur Vorbeugung von „möglichen Mißverständnissen" in „Angelegenheiten des gewöhnlichen praktischen Lebens" hin. 59 Dann bemerkt er: ...wie d e n n sollte m a n i m schwierigsten, abstrusesten, k a u m erreichbaren Gegenstande des Denkens, den Aufgaben der P h i l o s o p h i e , sich u n b e s t i m m t , ja räthselhaft ausdrücken dürfen 5 Was aber die K ü r z e anbetrifft, so gibt J e a n Paul eine gute Lehre. „Im G a n z e n ist es recht, w e n n alles G r o ß e - v o n vielem Sinn f ü r einen seltnen Sinn - n u r k u r z u n d (daher) d u n k e l ausgesprochen w i r d , damit der k a h l e Geist es lieber f ü r U n s i n n erkläre als in seinen Leersinn übersetze." [ Ι Π / 2 , 326Í] 6 0
Sowohl diese wie auch viele andere Inhalte bei Nietzsche lassen an eine ironische Schreibweise denken, die sicher mit viel Mythologischem verflochten ist. Schelling nannte seine spätphilosophische Mythologie ein „Labyrinth" [XIII, 377]. Darin hängt seine in vieler Weise schwierige Methode auch mit seiner Ansicht zusammen, daß in einer wirklichen Philosophie „bloße Mechaniker gar nicht richten können" [X, 171f], Er verlangt vom Leser das „eigene selbstthätige Denken" [XIII, 23]. In seinen Vorlesungen zeigt sich Schelling - wie Nietzsche - als einen sehr bewußten philosophischen Pädagogen. Bei Schelling stellt die Mythologie ein Bild dionysischer Irrwege dar, die ihren tiefsten Ursprung in der „Verstellungskunst" oder der „Ironie" des göttlichen Künstlers haben, der „stets durch das Gegentheil seine Absichten ausführt". „Gott wird in sich nicht ein anderer, wenn er gleich sich verstellt und ein anderer scheint" [ΧΠΙ, 272,304f; XII, 90]. In der letzten Tiefe des Ursprungs der Schöpfung als ihrer Potenz [-A: vgl. Kap. 3.2] ist er selbst das gefallene erste Prinzip, das aus sich als Materie durch die Mythologie hindurch das Werden der Götter unter dem Einwirken des Dionysos hervorbringt.61 Ironisch wirken „Satan" als das „Mys59 60
61
Siehe Parerga und Paralipomena II, §283. Vgl. Franz Overbecks Schrift Über die Anfänge der patristischen Literatur [Historische Zeitschrift 48, 1882; 2. Aufl. Separatheft Darmstadt, 1966, hier nach der 2. Aufl. zitiert, 62f]. Overbeck erklärt die pädagogische Methode des Klemens von Alexandrien in den Stromateis: „Nur unter der umschließenden Hülle von Sätzen, welche ihren verborgenen Sinn nur den dazu reifen und sich darum bemühenden Leser erkennen lassen ... will Clemens die Wahrheit mittheilen; sie soll, wie der eßbare Kern der N u ß ... nur dem der die harte Schale zu erbrechen versteht, sich dem Leser seines Werkes erschließen." „Wenn wir überhaupt die unbedingte Eigentlichkeit der Mythologie in Bezug auf den Begriff der Götter behaupten, so verbindet sich uns damit der bestimmte Begriff, daß den Göttern wirklich Gott zu Grunde liege, Gott also die wahre Materie und der letzte Inhalt der mythologischen Vorstellungen sey" [XII, 120n]. Im Apeiron „setzt Gott sich selbst" zur Materie (Hypokeimenon); „denn nur auf diese Weise gibt er sich selbst zugleich den Stoff seines Wirkens" [X, 276; vgl. XIII, 342]. In seiner Besprechung der mythologischen Urania zitiert Schelling einen Satz des Clemens von Alexandrien: „Das Unaussprechliche Gottes ist der Vater [nach Schellings Zeichen: -A], aber das uns Verwandte in ihm wurde Mutter, liebend wurde der Vater weiblich" [XII, 195],
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terium Gottes" [Kap. 3.7] und Dionysos zusammen. Dionysos' stets weiter führende Verneinung des jeweils aus dem ersten Prinzip entstandenen Jetztzustandes wirkt für den mythologischen Menschen verwirrend und manchmal beängstigend [z.B. XII, 300]. „Die Gottheit ... besteht in der Kraft dieses Widerspruchs - dieser Absurdität, wenn man will, zugleich der bejahende und verneinende zu seyn..." [XIV, 25]. Während die Verstellungen schwere und erschütternde Probleme stellen, sollen sie den Weg nicht versperren; vielmehr fordern sie stets zu neuem Kampf um eine neue Zukunft und den kommenden Gott heraus. Gerade die Erschütterung macht den „Weg" der Bewegung zu einem wirklichen: Er soll wirklich von hier wegführen [vgl. XII, 84f].
7 „David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller" (1873) Im Nachwort zum „Philologischen Nachbericht" am Schluß seiner Ausgabe von Nietzsches Werken fragt Karl Schlechta: „Wenn Nietzsche kein System hat,... was ist jenes Gleichbleibende, welches das Gesamtwerk so vehement durchzieht, daß jeder Teil nur wie die Variation ein und desselben trostlosen Grundthemas anmutet' ... Mit welcher Säure ist die Welt dieses Denkers übergössen, daß sie wie eine Mondlandschaft vor uns liegt?"1 Im bisherigen Vergleich Nietzsche-Schelling scheint es in der Tat ein solches System zu geben, den Zusammenhang dessen, was wir - aus dem Vergleich gesprochen - das Gefallensein der Welt in gespanntem Widerspruch zwischen Hoffnung und Illusion nennen können. Die Kultur seiner Gegenwart scheint für Nietzsche wirklich fähig, die Welt mit Säure zu übergießen, sie in eine Mondlandschaft zu verwandeln. Mit der Schrift David Strauß haben wir zum ersten Mal Anlaß, Schellings „Satanologie" in den Vergleich einzubeziehen [Kap. 3.7]. Es ist daran zu erinnern, daß in den morgendlichen, aufsteigenden Momenten der Schellingschen Mythologie die Götter im großen und ganzen fortschreitende Gestalten sind; der Einfluß des Dionysos nimmt bis auf den griechischen „Mittag" zu. In den „abendlichen" Momenten aber, d.h im Nihilismus und unter der Herrschaft des nihilistisch denkenden Geistes, schließt das erste Prinzip das zweite, dionysische zunehmend aus [vgl. Kap. 6.2.a]. Als der Einfluß des Dionysos - und damit die Freiheit - schwindet, wird der Zustand des Menschen zunehmend finsterer. Die Verhältnisse der Menschenwelt werden fester, härter, gesetzlicher, das Bewußtsein wird nüchterner und kälter. „Mitternacht" ist die tiefste Verfinsterung, der wüste Todeszustand des Lebens im Leben [vgl. Kap. 6.1.a]. Das erste Prinzip errichtet in der Dunkelheit seines letzten Untergangs, im „chinesischen" Bewußtsein, ein geistloses Reich [vgl. Kap. 6.2.b (Anm)]. Am „Abend" und in der „Nacht" der Schellingschen Mythologie wird also nicht allein die Freiheit zunehmend vermindert, sondern mit ihr verschwinden auch die vielen „satanischen" Möglichkeiten des menschlichen Geistes. In der Schrift David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller bezieht sich Nietzsche auf Strauß' letzte Arbeit, seinen Abschied vom Christentum: Der alte und der neue Glaube [Leipzig, 1872]. In dieser Arbeit sieht Nietzsche nur das Typische an der gegenwärtigen Bildung, auch an der Bildung der christlichen Gegner, die Strauß für „satanisch" halten. Sowohl wegen seiner früheren kritischen Werken 1
Werke in drei Bänden [München, 19665], III, 1436.
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über die Geschichte des Christentums als nun auch wegen der Verwerfung des Christentums werde Strauß von seinen christlichen Gegnern für einen Agenten des Teufels gehalten. Nietzsche aber würde „keineswegs unzufrieden sein, wenn es [bei Strauß] ein wenig satanischer zuginge" [III/l, 170 (§3)]. Nietzsche will „Dämonen zitieren, die aus unserer Zeit geflohen sind" [200 (§8)].2 Denn in der Wirklichkeit von David Strauß sei der Boden gleichsam „mit Asche überdeckt, alle Gestirne verdunkelt; jeder abgestorbene Baum, jedes verwüstete Feld ruft... .Unfruchtbar, Verloren!'" [196 (§7)]. Die Straußsche Lehre, wie überhaupt „das Didaktische heute", breite sich „in weiten Abstraktionen" aus, und zwar „zu voller Schleiermacherischer Zerblasenheit" [220 (§11)]. Wiederum kreuzen dieselben Worte und Bilder bei Nietzsche auf, die bei Schelling den Nihilismus kennzeichnen. Nach Nietzsche hat der Kritiker Strauß von Kant nie gelernt, „wie wenig durch die Vernunft über das Ansich der Dinge auszumachen ist" [187 (§6)].3 Das hatte als Resultat, daß Strauß unkritisch der Hegeischen Vernunftphilosophie folgte. Seine ganze Arbeit über „den alten und den neuen Glauben" zeigt „austrocknende Oede und Verstaubtheit". „Die äusserste Nüchternheit und Trockenheit, eine wahrhaft angehungerte Nüchternheit erweckt jetzt bei der gebildeten Masse die unnatürliche Empfindung, als ob eben diese das Zeichen der Gesundheit wäre, so dass hier gerade gilt, was der Autor [Tacitus] des Dialogus De Oratoribus [§23] sagt: ,illam ipsam quam iactant sanitatem non firmitate sed ieiunio consequuntur'" [222 (§11)]. Der Zusammenhang des Hungers mit der Nüchternheit könnte eine Erklärung in Schellings Auffassung des leeren rationalen Begriffs finden, der bloß Potenz, daher „arm" ist und nach Wirklichkeit „hungert" [Kap. 5.6]. Auch Schelling gebraucht das lateinische Wort „jejune", um nämlich eine abstrakt trockene, völlig nüchterne Erklärung einer Textstelle zu beschreiben [XIV, 329; vgl. XII, 351]. An derselben Stelle beklagt sich Nietzsche über die rationalistische Umkehrung der Priorität der [realen] Natur vor dem [abstrakten] Namen dessen, was „Gesundheit" wäre. Solche verkehrte Priorität der Namen oder auch der Begriffe vor der Wirklichkeit haben wir auch schon vorher gesehen [bes. Kap. 6.3]. Strauß' „neuer Glaube" unterscheidet sich nach Nietzsche keineswegs von der rationalen Wissenschaft: „Er zieht arm und schwächlich daher, dieser exstimulirte Glaube: uns fröstelt ihn anzusehen" [206f (§9)]. „Wäre nur diese Nüchternheit wenigstens eine streng logische Nüchternheit..." [222 (§11)]. Bei Schelling ist dies wesentlich Sokrates' Anklage gegen die Sophisten und Eleaten: Während Sokrates 2
Vgl. die „Dämonen" beim späten Schelling: Sie sind die durch die Mythologie gewordenen Mächte, d.h. die vorherigen Götter, die ihren Ort nun im Grunde oder Wesen auch des modernen Bewußtseins haben [XIV, 237-239,282-290]. Satan „umlagert" den menschlichen Willen mit allen ihm zur Verfügung stehenden dämonischen Möglichkeiten [XIV, 271].
3
Vgl. unter den nachgelassenen Fragmenten (1873): III/4, 191. Auf den Seiten 191ff geht es allgemein um Strauß; offenbar gehört dies zur Vorbereitung von David
Strauß.
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sie unkritisch findet, ist seine Dialektik auch scharf und nüchtern, sie ist wahrhaft kritische Wissenschaft [Kap. 2.9, Kap. 5.1]. Nietzsche schreibt: Würde Strauß mit sehenden Augen in die Wirklichkeit schauen, ohne von ihr ständig „optimistisch" zu abstrahieren, so müßte er die Bedenklichkeit und Heillosigkeit des Daseins, die „ernsten und schrecklichen" Probleme erkennen, die „von den Weisen aller Jahrtausende" behandelt worden seien [III/l, 213 (§10)]. Strauß aber scheine es erlaubt, „ein Leben auf Fragen zu verschwenden, deren Beantwortung im Grunde nur dem, der einer Ewigkeit versichert wäre, wichtig sein könnte." „Rings umstarren ihn ... die schrecklichsten Abstürze, jeder Tritt sollte ihn erinnern: Wozu? Wohin? Woher?" [198 (§8)].4 Nur halb-bewußt finde er sich mit dem „Ernste des Daseins" ab [200.4]. Das Universum, das Strauß religiös verehrt, sei ein „starres Räderwerk". „Seht zu", ruft Nietzsche, „dass seine Räder euch nicht zermalmen!" [195 (§7), vgl. 185.4]. Nach Nietzsche will Strauß seinen Gottesbegriff dem Rationalismus entnehmen, aber auf den besseren Rationalismus höre Strauß nicht. Lichtenberg habe z.B. darauf hingewiesen, daß, von dieser Welt auf den Schöpfer zurückzuschließen, zu dem Gedanken führen müsse, daß der Schöpfer seine Sache nicht recht verstand. Wäre Strauß hier ehrlicher, so müßte er sich „dann doch zugeben, dass unsere Welt eben nicht der Schauplatz der Vernunft, sondern des Irrens sei, und dass alle Gesetzmässigkeit nichts Tröstliches enthalte, weil alle Gesetze von einem irrenden und zwar aus Vergnügen irrenden Gott gegeben sind" [194 (§7)]. Die Parallelen bei Schelling haben wir bereits früher nachgewiesen. Während Strauß vom „Urquell" des Universums als Quell „alles Lebens, aller Vernunft und alles Guten" redet, erinnert Nietzsche daran, daß aus dem Universum auch „aller Untergang, alle Unvernunft, alles Böse" fließe. „Wie sollte dies [das Universum], bei einem solchen widersprechenden und sich selbst aufhebenden Charakter, einer religiösen Verehrung würdig sein und mit dem Namen ,Gott' angeredet werden dürfen...?" [192 (§7)]. Nietzsches Frage bezieht sich offensichtlich auch auf den widersprüchlichen und tragischen Weltgrund der Geburt der Tragödie.5 Nach Nietzsche kennzeichnet Strauß' „Bildungsphilisterei" die ganze heutige Kultur. Sie sei „der giftige Nebel aller frischen Keime, die ausdorrende Sandwüste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen Geistes" [163 (§2)]. Die 4
Vgl. unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (1873) einen sehr "ähnlich lautenden Satz über den „wissenschaftlichen Menschen" [III/4, 219.1], Dort schreibt Nietzsche weiter: „Er benimmt sich wie der stolzeste Müssiggänger des Glücks: als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantierter Besitz" [219.7]. Vgl. den „Besitz" bei Schelling [Kap. 3.4; vgl. Nietzche in Kap. 6 (passim)].
5
Vgl. unter Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (1873) über Strauß: „Die Vernunft des Universums als Religion festzuhalten, ist sehr unvernünftig und jedenfalls ungefähr so toll, wie zu behaupten, daß eins gleich drei sei - ein Glaube" [III/4, 203.14].
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Großstädte seien Hochsitze der Philisterkultur, 6 so daß man dort mit einer „Laterne" diejenigen suchen müßte, die „einer reinen Hingabe an den Genius" fähig wären [200 (§8)]. Die Verdunkelung entspricht Schellings Bild des indischen Nihilismus. Nach Nietzsche erfindet jeder unter den heutigen Deutschen seinen „curiosen Privatglauben, um mit jedem anderen Glauben dissentiren zu können" [203], Solche Individualisierung - Zerrissenheit - aufgrund nur des eigenen Gutdünkens findet man sowohl bei Schelling als auch bei Nietzsche als Kennzeichen der Gemeinwissenschaft [Kap. 4.4.b]. Nach Nietzsche feiert die heutige Philisterkultur einschließlich der christlichen Gegner den „klassischen" Wert von Strauß' Arbeit [203f (§8)]. Die Gegner sind also in Wirklichkeit keine Gegner. Diese Kultur „jauchzt" in Ubereinstimmung mit Strauß, daß nichts Kulturelles zu wünschen übrig sei: „So leben wir, so wandeln wir beglückt" [175 (§4)]. Durch Wiederholung hebt Nietzsche das Jauchzen" hervor: „So jauchzt der Philister" [ebd]. Schelling geht auf Jauchzen" ein: Das Wort stammt von Jakchos" und steht in den Eleusinischen Mysterien in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geburt dieses zukünftigen Erlösers [XIII, 486]. Man könnte sagen, daß für Nietzsche der Philister ein Antijakchos, ein Antigenie, sei; denn er jauchzt im tiefsten Irrtum für das Gegenteil des Jakchos und des Genies. Nach Nietzsche stellt Strauß sich selbst als die „Centraimonade" auf, um welche das Universum „allein schwingen dürfe" [184 (§6)]. Insofern wäre er auch das zentrale Gestirn, um das sich die Bildungswelt drehte [Kap. 6.1.a, 6.2.b, 5.3]; aber solches Können hat er für Nietzsche keineswegs. Am Schluß der Schrift gebraucht Nietzsche das Bild vom Umwerfen der Götzenbilder, die auf „tönernen Beinen" stehen. Nach diesem Bild steht das Straußsche Idol auf Beinen allein aus Ton. Im alttestamentlichen Buch Daniel 2,33 bestehen die Füße des zermalmten Standbildes aus Ton und Eisen [hierüber Schelling, XIII, 27]. Früher im Leben von Strauß, wie Nietzsche schreibt, in den besseren Tagen der Arbeit Das Leben Jesu [18351], wurde Strauß' „Gelehrten- und Kritiker-Natur, das heisst der eigentliche Straussische Genius", wirksam; aber in der Schrift Der alte und der neue Glaube sei dieser verschwunden. Früher „zwang sein Ernst zum Ernst" [215 (§10)]. Für Schelling gehört es zur höchsten Würde des negativen Denkens, Kritik zu sein. Sie hat die Fähigkeit, nicht nur den leeren Rationalismus zu vernichten, sondern auch den Menschen dorthin zu führen, wo er ernstlich „vor dem Riß" stehe [XII, 673; XI, 560ff], Aber Nietzsches Urteil über den früheren, kritischen Strauß ist kein eindeutiges. Man vergleiche die folgenden Zitate aus Nietzsches nachgelassenen Fragmententen 6
In den nachgelassenen Fragmenten aus der Zeit Sommer 1872 - Anfang 1873 redet Nietzsche von den „Phöniziern in den Hauptstädten" [III/4, 93.12; vgl. 92.28], In Schellings Mythologie sind Phönizer, d.h. Philister, das führende Beispiel der Verehrer des Kronos [XII, 286ff],
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(Sommer 1872 - Anfang 1873): „Wir dulden nicht jeden, dass er uns etwas vorphilosophirt, z.B. nicht David Strauß dem nicht zu helfen ist, wenn er aus seiner spezifischen historisch-kritischen Luft heraustritt" [III/4, 10.5]. Jedoch „ist es ein lapsus von Strauß, ein Leben Jesu zu geben. Er mußte sich auf die historische Arbeit beschränken" [192.29]. Hier macht Nietzsche keinen Unterscheid zwischem dem jungen Strauß des Lebens Jesu und dem alten Strauß. „Strauß hat gewähnt, das Christentum zu zerstören, in dem er Mythen nachweisen wollte. Aber das Wesen der Religion besteht gerade darin, mythenbildende Kraft und Freiheit zu besitzen. Widersprüche mit der Vernunft und der heutigen Wissenschaft sind sein Trumpf. Er ahnt nichts von der fundamentalen Antinomie des Idealismus und von dem höchst relativen Sinn aller Wissenschaft und Vernunft" [ebd., 191]/ Im Leben Jesu meinte Strauß zwar noch nicht, das Christentum zu zerstören, sondern es auf Hegeische Weise aufzuheben [siehe bes. den Schlußteil], aber in jener Arbeit hatte er von dem, was Nietzsche das „Wesen der Religion" nennt, auch nichts merken lassen [vgl. Kap. 13.2.a]. Wieder Nietzsche: „Er sieht nirgends, wo die Probleme liegen. Er nimmt das Christentum, die Kunst immer in der niedrigsten demokratischen Verkümmerung und widerlegt dann. Er glaubt an die moderne Kultur - aber die antike war eine viel größere und doch ist das Christentum darüber Herr geworden. 8 Er ist kein Philosoph. ... Er ist kein Künstler. Er ist ein Magister. Er
7 8
Die „Antinomie" wäre m.E. die zwischen Vernunft und Wirklichkeit. Vgl. eine sehr ähnliche Kritik an Strauß bei Franz Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Kultur [18731, 19032, hier zitiert nach der Reproduktion der 2. Ausgabe Darmstadt 1974, 112ff, bes. 116]. Während Overbeck dem Jugendwerk von Strauß wegen des „wesentlichen Dienstes", das es „der Theologie als Wissenschaft" geleistet habe, seine Anerkennung zollt, greift er Den alten und neuen Glauben ebenso scharf wie Nietzsche an. Aber diese Anerkennung ist selbst mehrdeutig, sofern das, was nach Overbeck im neuen Werk von Strauß fehlt - nämlich die Darstellung der weltverneinenden „Lebensansicht" des ersten Christentums [111] -, auch in seinem Jugendwerk fehlte, und nach Overbeck ist „Theologie als Wissenschaft" - auf jeden Fall wie sie in der theologischen Wissenschaft seiner Zeit vertreten wird - dem Christentum als Religion lebensfeindlich [109f]. Nach Overbeck wird eine wahrhaft kritische Theologie das Christentum gegen alle Theologien zu wehren haben, welche es „zu vertreten meinen, indem sie es der Welt accommodieren, und, durch Gleichgültigkeit gegen seine Lebensbetrachtung, entweder es zu einer toten Orthodoxie ausdörren, welche es aus der Welt schafft, oder zur Weltlichkeit herabziehen und darin verschwinden lassen" [110], Man könnte solches „Herabziehen" als Wirkung der neuzeitlichen „Gemeinwissenschaft", wie Schelling und Nietzsche diese definieren, verstehen [oben Kap. 4.4.b]. M.E. liegt der Schlüssel zu Overbecks rätselhafter Schrift im Begriff der „Lebens-" und „Weltbetrachtung" des ersten Christentums, welche, die „sündige" Welt verneinend, die Mythen und Dogmen „wie ein Stamm das Laub" hervorgetrieben habe [71]: Nicht nur das betrachtete Leben, sondern auch die betrachtete Welt ist Christus, denn der Christen „Weltbild ist ihr Herr" [siehe Overbeck in Kap. 6.4.C (Anm)]. In Schellingscher Weise könnte man sagen: „Alles ist Christus". Vgl. die dionysische Weltverneinung - als Verneinung der (zerrissenen) Alltagswelt in der Geburt der Tragödie, siehe Kap. 5.2.a; vgl. Kap. 8 (Christentum).
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zeigt den magisterhaften Typus der Bildung unsrer Bourgeoisie. Das Bekenntnis [Der alte und der neue Glaube] ist eine Überschreitung seiner Grenze: der Gelehrte ist zu Grunde gegangen, dadurch daß er Philosoph scheinen wollte" [ebd, 192]. Nietzsche scheint zu meinen, daß Strauß auch vor der Schrift Der alte und der neue Glaube wesentlich nur ein gelehrter „Magister" der heutigen Kultur war, also einer, den die Kritik an der historischen Bildung in der folgenden „Unzeitgemäßen Betrachtung" trifft. Der späte Schelling bezichtigt den früheren Strauß - zwar ohne ihn zu nennen, aber an der Sache ist er zu erkennen - des schlechten historischen Rationalismus: „Es bliebe also nur noch etwa übrig, die historische Existenz eines Christus zuzugeben, aber das Höhere, mehr als gemein Historische seiner Person auf ganz subjektive Weise historisch erklären zu wollen, daß man sagte: die Person des Religionsstifters sey von seinen Anhängern mythologisch behandelt, mit Mythen umgeben und verherrlicht worden. Indem ich diesen Ausweg erwähne, der in den letzten Jahren so viel Applaus gefunden, wird man mir, hoffe ich, zutrauen, daß ich diesen Ausweg nicht erst durch die jüngsten Versuche kennengelernt habe." „Wie könnte ich nun diejenigen einer Rücksicht werth halten, die ohne eine Spur von Selbständigkeit in der Philosophie" sei, sondern von den „unfertigsten Sätzen" einer vorgegebenen Philosophie [Hegel] einen „vollkommen schülerhaften Gebrauch" und diesen Gebrauch außerdem mit einem „eminent philisterhaften Verstand" machen? [XIV, 231]. „Was nun aber die Hypothese selbst betrifft, die Hypothese mythischer Verherrlichung des Lebens Jesu (an die nicht bloß ich, sondern viele vor mehr als 40 Jahre gedacht haben),9 so wird wohl jeder zugeben, daß durch Sagen oder Mythen nur ein Leben verherrlicht wird, das, zuvor durch Thaten oder wie immer ausgezeichnet, ohnedies schon in eine höhere Region gerückt war" [ebd, 232],
9
Vgl. die Philosophie der Kunst: „Der Verfasser des Evangeliums Johannis ist von den Ideen einer höheren Erkenntniß begeistert...; die anderen erzählen im jüdischen Geist und umgeben seine [Christi] Geschichte mit Fabeln, die nach Anleitung der Weissagungen im A.T. erfunden waren. Sie sind apriori überzeugt, daß diese Geschichten sich so ereignet haben müssen, da sie im A.T. vom Messias prophezeit sind..." [V, 426, vgl. 302], Das ist die Ansicht auch von Strauß.
8 „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874)
Nietzsche sieht die alles-wissende Historie der heutigen Wissenschaft in gegensätzlichem Verhältnis zu dem für das Leben notwendigen „Vergessen" des Unhistorischen. Die schlechte Historie des „reinen Wissens", d.h. die vermeintlich rein vernünftige Historie der modernen Historiker, sieht er in Zusammenhang mit der (Philister-) Kultur der Neuzeit, die wegen ihrer Leblosigkeit keine eigentliche Kultur sein kann. In all den Schriften aus dieser Zeit greift Nietzsche die falsche Kultur an, und in jedem Angriff übt er, wie er sie in dieser Schrift nennt, „kritische Historie", die als Motiv die Befreiung von dem bedrückenden leblosen Zustand hat pn/1, 254 (§2)]. Der Tod drücke das Siegel auf die Erkenntnis, daß das „Dasein nur ein ununterbrochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen" [III/l, 245; vgl. den ewigen Wechsel in der Geburt der Tragödie]. Nach Nietzsche ist die Erkenntnis des ewigen Werdens, während sie jenes „ununterbrochene Gewesensein" vor Augen hat, ein „historisches" Empfinden. Nicht historisch zu empfinden, heißt, die schreckliche Wahrheit vergessen zu können. Wer sie nicht vergessen könne, „glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, ... [denn er] sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens" [ebd, 246]. Schelling versteht das Vergessen im Zusammenhang mit dem Begriff der Ungegenständlichkeit. Das erste Prinzip für sich ist das Unbegrenzte, darum wesentlich Ungegenständliche, wie im Uranos-Bewußtsein der Mythologie und noch in hohem Maß im Moment Urania und der Titanenzeit. Wo etwas vergessen wird, geht es wieder in das Grenzlose und Bestandslose unter und ist nicht mehr Gegenstand des Bewußtseins. Bei Schelling trägt z.B. der Sündenbock des Alten Testaments die Sünden in die Wüste, wo sie vergessen werden [z.B. XIV, 140; vgl. XIII, 252], Man vergleiche Nietzsches Ausdruck: Das Vergessene fließe fort „wie eine graue ununterbrochene Flut" [III/l, 258.23 (§2)]. Man hat es in der Geburt der Tragödie mit grundsätzlich demselben Gedanken zu tun: „Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Massen, ging... in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen" [III/l, 37 (§4); vgl. 150.17].
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Kap. 8: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben"
Nietzsche schreibt: „Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört" [III/l, 246].1 In Schellings Mythologie wäre dieses Dunkle vornehmlich das, was Schelling das „vorgeschichtliche" Prinzip der Uranos-Zeit nennt: Es enthält wie im organischen Keim alle Möglichkeiten, die durch dessen Zusammenwirken mit Dionysos werden können [Kap. 6.2.a (am Anfang), vgl. Kap. 3.1]. Nietzsches Begriff des „Unhistorischen" scheint auch ein Vorgeschichtliches zu bedeuten. Man beachte die folgende Ausführung. ...wir werden also die Fälligkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu k ö n n e n , für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen, insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann. Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, u m mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden. Es ist wahr, erst dadurch, daß der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene z u m Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Uebermasse von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen. [ΙΠ/1, 248f; meine Hervorhebungen]
In Schellings Begriff der Vorgeschichte [XI, 232ff] geht es um das erste Prinzip vor der Erleuchtung durch Dionysos, vor der mythologischen Bewegung oder Entwicklung. Unter den Prinzipien ist es das „wichtigere" oder das schwere Prinzip; das zweite hat keine Schwere; das dritte Prinzip hat seine Schwere vom Ersten. Das Leben entsteht für Schelling „aus" dem ersten als dem materiellen Prinzip, dem organischen Keim.2 Was Nietzsche die „umhüllende Atmosphäre" oder die „umschliessende Dunstwolke" nennt, findet eine Parallele in Schellings Bild des 1
2
Nach Schelling hat Homer hat die schweren, dunklen Götter der Vergangenheit vergessen [XII, 648], Die Kraft, die das Vergessen bewirkte, war die dionysische, die in die homerische Schöpfung führte und dadurch das Alte zur Vergangenheit setzte [vgl. Kap. 5.3, Kap. 3.2], - Vgl. das Vergessen in Nietzsches Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, III/2, 375, und dazu noch Die Geburt der Tragödie·. „Immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen", auch in der rationalistischen alexandrinischen Kultur [III/l, 111.23 (§18)]. In der Freiheitsschrift meinte Schelling folgendes über den Anfang aller Entwicklung aus dem organischen Keim: „Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht.. Der Mensch wird im Mutterleibe gebildet; und aus dem Dunkeln des Verstandlosen (aus Gefühl, Sehnsucht, der herrlichen Mutter der Erkenntnis) erwachsen erst die lichten Gedanken" [VII, 360]. Vgl. Nietzsche in der Schrift Das griechische Musikdrama aus dem Jahre 1870: „Alles Wachsen und Werden im Reiche der Kunst muss in tiefer Nacht vor sich gehen" [III/2, 6],
Kap. 8: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie f ü r das Leben"
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„schwülen Himmels" der vormythologischen Uranos-Zeit, der „über die Welt zieht" und das später Werdende „in der Stille und Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, in einem Zustand von Vorbereitung für die künftige lebensvolle Bewegung erhielt" [XII, 188; vgl. Kap. 6.2.a]. Nietzsche läßt innerhalb jener Dunstwolke durch die „Einschränkung des unhistorischen Elements" Blitze aufleuchten. In Schellings Mythologie entfalten sich die Möglichkeiten des ersten Elements durch die Einwirkung des begrenzenden zweiten Prinzips, Dionysos, und zwar so, daß Blitze leuchten: Die morgendlich-aufsteigenden mythologischen Momente sind wie „Blitze, die in der Dunkelheit leuchten" [XII, 271; vgl. XIII, 445]. Die dionysische „Erleuchtung" des Ersten ist zugleich der „Anfang" der Mythologie [bes. XI, 239]. Wo das schwere, dunkle Erste nur für sich ist, kann es „nichts anfangen".3 Nach Nietzsche gibt es nun eine Art von „historischen" Menschen, die zu vergessen wissen. Ihr „Blick in die Vergangenheit drängt sie zur Zukunft hin", und ihre „Beschäftigung mit der Geschichte steht nicht im Dienste der reinen Erkenntniss, sondern des Lebens". Solche Menschen „glauben, daß der Sinn des Daseins im Verlaufe eines Prozesses immer mehr ans Licht kommen werde, sie schauen nur deshalb rückwärts, um an der Betrachtung des bisherigen Prozesses die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft heftiger zu begehren" [III/1, 251]. Nietzsche bejaht diese Menschen. Diese Gruppe hat es mit der „Aufgabe der Geschichte" zu tun, zwischen den Genien der Geschichte, den „zeitlos-gleichzeitigen", die „Mittlerin zu sein und so immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben und Kräfte zu verleihen" [313 (§9); siehe Erzeugung in Kap. 11.5]. Daneben stellt Niètzsche den wegen der Unterschiedlichkeit der Darstellungen sehr zweideutigen Begriff des „überhistorischen" Menschen. Nach Nietzsches erster Darstellung will der überhistorische Mensch nicht als geschichtlicher Mensch weiterleben. Er könne zu keiner „Mitarbeit" mehr an der Geschichte „verführt" werden; das heißt, er will nicht mehr handeln. Das Leben empfinde er als ekelhaft; es sei völlig „erkannt" und dadurch zugleich für unrecht und unrein gehalten [250, 252 (§1)]. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - für diesen Menschen sind sie dasselbe [252], Was Nietzsche insbesondere interessiert, ist das Entstehen dieser Haltung „als mögliches Resultat historischer Betrachtungen", d.h. als Resultat der modernen historischen Bildung [250.16]. Durch diese Bildung könne es Verdruß an der Geschichte und zuletzt am Leben selbst geben, eine „Weisheit", die Nietzsche in Gegensatz zum Leben stellt [253]. Das Wesentliche an diesem Begriff des Uber3
»Anfang" steht bei Schelling im Zusammenhang mit der Bewegung als „einem Ausgehen von Sich - oder von da, w o er ursprünglich ist" [XIII, 276]. „Der Anfang also ist in dem allein aus sich selbst ein anderes werden Könnenden und darum ursprünglich dem Werden unterworfen" [XI, 398]. Für sich allein hat das erste Prinzip keine Möglichkeit, anders zu werden: Mit ihm sei „nichts anzufangen", denn es gebe „kein Mittel, von ihm hinweg - oder mit ihm weiter zu kommen" [XIII, 223], Es fehlt ihm Dionysos. Vgl. XI, 279; vgl. Kap. 3.1.
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historischen kennen wir schon, nämlich als die Schopenhauersche Willensverneinung [Kap. 5.2.a]. Nietzsche schreibt diesem überhistorischen Menschen die „Silenenweisheit" zu: „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zu Grunde geht. Drum besser wär's, dass nichts entstünde" [III/l, 265.26, 252]. Auch bei Schelling findet man diese schmerzliche Weisheit, nur ist sie bei Schelling nicht die der Silenen, sondern die sich mit denselben Worten ausdrückende Weisheit des Chors in Sophokles' Ödipus zu Kolonus (Z. 1225) [XI, 556n]. 4 Am Schluß der Schrift aber stellt Nietzsche einen anderen Sinn des Uberhistorischen dar: Mit dem „Unhistorischen" zusammen wirkt es als Gegenmittel gegen die „historische Krankheit". Uberhistorisch seien die „Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden gibt, zu Kunst und Religion" [326 (§10)]. Erst in Beziehung zu diesen realen Mächten kann es nach Nietzsche das Genie geben [vgl. Kap. 2.11.a]. Das erinnert an Schellings Begriffe der prinzipiellen, daher ewigen Grundlagen der Natur und des inneren Zusammenhangs von Kunst und Religion. In seiner spätphilosophischen Geschichte der neueren Philosophie steht zu lesen, daß sich in der Tragödie als höchstem Werk der Dichtkunst „jenes Höchste als Genius der Kunst manifestiert." „Ist nun die Kunst das Objektivste menschlicher Thätigkeit, so ist die Religion die subjektive Seite derselben..." [Χ, 118].5 In den nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahre 1871 schreibt Nietzsche: „Kunst und Religion [sind] im griechischen Sinne identisch" [III/3, 323.9]. 6 Die zwei Begriffe des Überhistorischen sind ähnlich wie die zwei Begriffe des Buddhismus in der Geburt der Tragödie [Kap. 5.2.a]: Der eine Begriff ist auf die Wirklichkeit bezogen, die zweite entsteht sozusagen aus der nihilistischen Entgleisung des ersten. Bei Schelling ist der Begriff „über" ein Begriff des Geistes und seines wissenschaftlichen Verstehens: Der Geist wird von Dionysos zur Freiheit gebracht, und in Freiheit ist er „über" dem Gegenstand [hierüber Kap. 12.1], Wie wir aber wissen, kann der Geist sich mit seiner Wissenschaft von seinen realen Voraussetzungen völlig losreißen [Kap. 6.2.b], er kann nihilistisch werden. In Zusammenhang mit jener ersten, weltverneinenden Bedeutung des Uberhistorischen stellt Nietzsche die folgende These auf: „Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt: denn er hat in ihm ... überhaupt den
4
An derselben Stelle weist Schelling auf Aussagen über das menschliche Elend bei H o m e r hin [Iliad.
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Siehe oben Kap. 1.2 über den Zusammenhang von Kunst und Religion; vgl. auch den Schlußteil
17,446, Odyss. 18,130], von Kap. 9. 6
Darum gehören der Künstler und der Heilige griechisch zusammen: „In den großen Genien und Heiligen kommt der Wille zu seiner Erlösung. Griechenland ist das Bild eines Volkes, das ganz jene Intention des Willens erreicht... hat" [III/3, 209.8 (Fragmente, Ende 1870 - April 1871)].
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ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden..." [III/1, 253]. Nietzsche hebt das hervor, was der späte Schelling als die kronisch-tödliche Herrschaft des nur negativen, nur rationalen Denkens kennt [vgl. Kap. 6.2.a]. Der „irdisch umdunkelte Horizont" wäre bei Schelling das Reale als wesentlich das erste Prinzip ohne die nihilistische Auflösung in Ideen. Wieder Nietzsche: „Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluss... Die historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Cultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zukunft-Verheissendes, also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird und nicht selber herrscht und führt" [III/ 1, 253]. Diese höhere Kraft wäre für Schelling Dionysos, der in kämpfender Spannung mit dem realen Ersten die Strömung wirklichen Lebens nicht nur hervorgehen läßt, sondern sie auch führt. Die Geschichte soll dieses Wirkliche begreifen und nicht in Begriffe der nur negativen Wissenschaft verschwinden lassen.
§2 -§3 In den Abschnitten §2 und §3 behandelt Nietzsche drei Arten der Historie, die auf je eigene Weise dem Leben dienen: die monumentale, die antiquarische und die kritische. Die antiquarische Historie bewahrt und verehrt das Vergangene [261.6]. Die kritische Historie will eine als lästig empfundene Vergangenheit „zerbrechen", „vernichten" [265.13.33]. Der monumentale Historiker „bemächtigt sich der Vergangenheit" [260.27], Die drei Arten der Historie werden aufeinander bezogen: Die Notwendigkeit der kritischen Historie entsteht als Korrektur des Fehlers der antiquarischen; denn diese unterschätzt in ihrer Verehrung des Vergangenen das Weidende und ist allzu geneigt, das Leben im Interesse des Alten zu „mumisiren", wodurch der Baum des Lebens stirbt [264]. Die kritische Historie hebt solche Anhänglichkeit an der Vergangenheit auf. Ihrerseits führt für den Einsichtigen die kritische Historie in die monumentale, d.h. in den Versuch der „starken Kunstgeister", Großes zu schaffen [259.12]. Diese Kunstgeister „pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinkt, eine zweite Natur an" [266.19]. Nietzsches drei Arten der Historie entsprechen in richtiger Ordnung drei Stufen in Schellings Mythologie. Das Antiquarische gleicht der Stufe des ägyptischen Bewußtseins, das dem vergangenen Gott Typhon anheimfällt. Der im Kampf mit Osiris vergangene Typhon zieht das ägyptische Bewußtsein unwiderstehlich mythischzeitlich in die typhonische Wüste zurück; das Vergangene tritt als zauberhaft herrschende Gewalt in die Gegenwart wieder ein. Auch Nietzsches Verwendimg des
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Wortes „Mumisieren" für die antiquarische Historie läßt an diese Parallele denken.7 Nietzsches Begriff der kritischen Historie findet bei Schelling ihre Parallele in der hellen dionysischen Licht-Krisis der Mythologie als der vollen Geburt des Geistes, aus welcher nach der ägyptischen die griechische und indische Mythologien entstehen. Durch diese Krisis wird der alte Gott (das Erste) mythologisch überwunden; er bleibt ein vergangener [XII, 586f; XIII, 405]. In der Geschichte der griechischen Philosophie ist wesentlich dieselbe Parallele das „zerstörende" kritische Denken des Sokrates, für Schelling des „Dionysos der Philosophie" [XIII, 97; vgl. Kap. 6.2.a, Kap. 5.1, Kap. 2.9], Nietzsches „monumentaler" Historiker, der große Künstler, ist mehr als nur der zerstörende Kritiker, er ist Schöpfer. Er gleicht bei Schelling der mythologischen Stufe der Griechen, die den Grund oder den vergangenen Kronos real zu nutzen wissen. Sie verstehen es, (nach einem Bild aus Plutarch) „Saiten aus Typhons Sehnen" für die Kunst einer neuen Musik zu machen [XII, 436f]. Auf dieses mythologische Bild kommen wir unten (§5) zurück. Für Schelling gehören die drei Stufen zu ein und demselben geschichtlichen Prozeß und jede Stufe setzt die vorherige voraus. Nach dem griechischen Ideal ist das nun überwundene Kronische oder Typhonische (als das erste Prinzip) festzuhalten und auch im Grunde zu verehren (siehe unten §5). Der Grieche baut aus dem überwundenen Ersten eine neue, geistige Welt. Nach Schelling verstehen die Griechen, vor allem in den Mysterien, daß die Geistigkeit als Ergebnis der mythologischen Geschichte entstanden sei und immerwährend auf einem Grund beruhe, den sie ehrfürchtig in weiser Erinnerung als fruchtbaren Grund festzuhalten wissen. Nach Nietzsche lernt der monumentale Historiker aus dem Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit, daß „das Grosse, das einmal da war, jedenfalls möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird" [256.23; vgl. III/4, 245.3]. Grundsätzlich denselben Gedanken haben wir bei Schelling gefunden: „Jede Kunst und jede Philosophie [ist] mehr als einmal, soweit es jederzeit möglich gewesen" [XI, 257; siehe Kap. 3.5, Kap. 6.2.a]. Nach Nietzsche wollen solche Menschen „um jeden Preis leben" [255.30]. Sie fordern und kämpfen für das Große [255.19]. Dieses kräftige Wollen - es heißt auch ein „Können" [261.2] - nennt Nietzsche ein „Begehren" [Kap. 6.4.a] oder auch einen „Hunger" [267.13 (§4)]. Solchen Hunger nach Verwirklichung des möglichen Großen will Nietzsche - wie schon z.B. in der Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten [Kap. 6.1] - in den
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Bei Schelling findet man das Wort „Mumie" in der Besprechung der chinesischen Religion, d.h. des dunkelsten, schwersten religiösen Bewußtseins als eines geistlosen, darum toten [XII, 557; vgl. 571], Auch in der Geschichte der neueren Philosophie gebraucht Schelling das Bild der Mumie: „Was bei J. Böhme noch lebendig ist, ist bei ihm [St. Martin] abgestorben, nur gleichsam noch das Cadaver, die einbalsamirte Leiche, die Mumie eines ursprünglich Lebendigen..." [X, 190].
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heutigen Menschen hervorrufen. Vernichtend kritisiert er das heutige Betrügen der Jugend, der man einrede, „es gebe keine andere Möglichkeit, als eben unsere jetzige höchst leidige Wirklichkeit" [322.29 (§10)]. In §4 ruft Nietzsche - wie Schelling vor ihm - zur „Vernichtung der modernen Gebildetheit zugunsten einer wahren Bildung" [271.2; vgl. 274.3; Kap. 6.1, Kap. 6.4.d]. Am Schluß von §3 wirft Nietzsche ein Rätsel auf: Die künstlerischen Schöpfer der neuen Natur sollten wissen und in diesem Wissen einen Trost finden, daß „auch jene erste Natur irgendwann einmal eine zweite Natur war und dass jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird". Das Rätsel könnte man mit Bezug auf Schelling lösen: Die erste Natur als die nun im Geist überwundene war an einer früheren Stufe selbst das Ergebnis dionysischer Uberwindung eines Vorausgehenden, darum eine zweite. Die neue, siegende Natur aber zeigt sich mit der Zeit als nur wieder eine überwindungsbedürftige - als eine apollinische Illusion -, darum als eine erste. Die Zerreißung des ersten Prinzips macht jede neue Stufe in der zerrissenen Welt zum Objekt der dionysischen Überwindung.
$4 Am Anfang von §4 blickt Nietzsche zusammenfassend auf die „Dienste" der drei Arten der Historie am Leben - zumal als Dienste an Gegenwart und Zukunft zurück und stellt sie in Gegensatz zu der modernen Art der Historie, die von „einer Schaar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern" geschrieben wird. Die Historie im Dienst des Lebens zu sehen, ist nach Nietzsche „die natürliche Beziehung einer Zeit, einer Cultur, eines Volkes zur Historie". Solche natürliche Bezie-
hung sei hervorgerufen durch Hunger; regulirt durch den Grad des Bedürfnissess, in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft... " Nietzsche fügt hinzu: „das Alles ist einfach, wie die Wahrheit einfach ist, und überzeugt sofort auch den, der sich dafür nicht erst den historischen Beweis sich führen lässt" [III/1, 267]. Das (von mir) kursiv Hervorgehobene wollen wir mit Schellings Prinzipienlehre vergleichen [siehe Kap. 1.1-2, vgl. Kap. 3.1]. Man beachte zunächst Nietzsches Ausdruck „Hervorgerufen durch Hunger". Bei Schelling ist „Hunger" mit dem Begriff des Anfangs verwandt, nämlich so: Die Bewegung als Anfang des Seins geht von der Potenz als dem nur Möglichen in das Sein über, die Möglichkeit „hungert" nach dem Sein.8 Bei dem freien Geist bedeutet
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„Aller Anfang liege im Mangel, die tiefste Potenz, an die alles heftet, sei das Nichtseyende, und dieses der Hunger nach Seyn" [XIII, 294; XI, 288], Anfang, Leere, Mangel und Hunger bilden bei Schelling eine Wortgruppe. „Alles Wollen ist eigentlich eine Leere, ein Mangel, gleichsam ein Hunger" [XIII, 206], - Siehe ferner Kap. 9 (§5), vgl. Kap. 3.1.
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solcher Anfang den Übergang aus freiem, sich beherrschendem Seinkönnen in die gewollte Verwirklichung des Möglichen und Gewollten. Nach dem Hunger folgt bei Nietzsche das, was der Wirkung des zweiten und dritten Prinzips beim späten Schelling entspricht: „regulirt durch den Grad des Bedürfnisses, in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft". Bei Schelling ist das zweite Prinzip das der Begrenzung und daher, wie man auch sagen könnte, des Grades. Das geistige dritte Prinzip kommt nicht von außen, sondern wohnt dem Prozeß inne; aber sein Werk ist das Festhalten des vom Zweiten Begrenzten, so daß es besteht und für sich erscheint, ohne in der Flut des Werdens weggeschwemmt zu werden. Zum obigen Begriff des „Einfachen" bei Nietzsche: Schelling stellt die nur subjektive, in allerlei Täuschungen irrende Prozedur der alexandrinischen „Gemeinwissenschaft'' [Kap. 4.4.b] den „einfachen" Wahrnehmungen des Aristoteles gegenüber, nämlich den Wahrnehmungen der Prinzipien oder der Ursachen, die „nicht durch eine Kette von Schlüssen", sondern nur durch „unmittelbare Erkenntniß" oder „direkte Wahrnehmungen" erkannt werden [XI, 349-355]. Man könnte meinen, daß weil Nietzsche es an der zitierten Stelle mit Prinzipien zu tun hätte, er darum von einem „Einfachen", das ohne historische Beweise überzeugte, rede.9
S* In §5 schreibt Nietzsche, die modernen Philosophen seien „gleichsam concrete Abstracta", „Form ohne nachweisbaren Inhalt" [279.5.11] und „Neutra", für welche auch die Geschichte ein „Neutrum" sei [280.8]. Sie „blasen" sich „zu Objektivität auf" [280.18], All diese Bilder und Begriffe finden Entsprechungen bei Schelling, zumal in seiner Darstellung der indischen Mythologie: Das „Neutrum" findet man als den abstrakten Gottesbegriff „Brahm", der „an die Stelle des verlorenen Gottes gesetzt" worden ist [XII, 447, 495]. Über Hegel schreibt Schelling: „Diese Philoso9
Am Schluß dieser Behandlung von §4 wollen wir noch einige darin vorkommende Bilder in Betracht ziehen. Der moderne Mensch schleppe „eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum" [268.25, vgl. 269.19]. Er sei mit allerlei Fremden erfüllt, so daß sein „Inneres" eine „chaotische" Formlosigkeit darstelle, sein „Äusseres" dagegen nur „Convention" sei [268.29.34, 269.12], Für Schelling ist die Formlosigkeit ein Zeichen der mythischen Wüste. In seiner Spätphilosophie findet sich häufig die Unterscheidung des „inneren" Wesens und der „äußeren" Erscheinung [z.B. XI, 548; XIII, 31]. Bei Schelling findet man auch den folgenden Vers Goethes, den Schelling als Kommentar an so viel menschlichen Bestrebungen nach dem „höchsten" Wissen zitiert: „O glaube mir, der manche tausend Jahre an dieser harten Speise [ = das Erste] kaut, daß von der Wiege bis zur Bahre kein Mensch den alten Sauerteig verdaut" [XIII, 14]. Vgl. die „Verdauung" als Bild der Vergeistigung oder der Verklärung des Materiellen in den VIII, 284f.
Weltaltern,
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phie, die sich zur positiven aufbläht, während sie ihrem letzten Grund nach nur negativ seyn kann, habe ich ... lange zuvor bestritten" [XIII, 80; vgl. Kap. 5.6]. Das am Schluß von §5 angeführte „Ewig-Weibliche", das nach Nietzsche den „Eunuchen" - den Neutren, den modernen Philosophen - „fernsteht" [280], bedeutet sehr wahrscheinlich die „Urmutter" der Geburt der Tragödie. Nach Schellings Auffassung gleicht die Materie - als das unter Dionysos' Einfluß weichende erste Prinzip der Mythologie - der Urania als der realen mythischen Urmutter der Götter, oder vielmehr ist diese Mutter die Materie in der Form der Mythologie [Kap. 2.11.b., 3.1, 3.5].10 Nach Schellings Ansicht verschwindet sie in der indischen Philosophie als produktiver Grund, so daß nur Formen übrigbleiben [bes. XII, 445]. Weil für Schelling auch die moderne Philosophie wesentlich denselben nihilistischen Charakter hat, würde auch für ihn das „Ewig-Weibliche" den modernen Philosophen „fernstehen". Nach Nietzsche ist das „Ewig-Männliche" die Geschichte [280]. Bei Schelling stellt die Geschichte die fortschreitende Uberwindung des Ersten dar; Dionysos ist die Kraft, die das widerstehende erste Prinzip zur Materie oder Mutter der höheren Bildungen überwindet, so daß sie diese und den Prozeß überhaupt erzeugt. Die begrenzende Wirkungsweise des zweiten, dionysischen Prinzips ist für Schelling wesentlich Tat, darum für Schellings Begriff männlich.11 Durch ihre Abstraktion würden die „Eunuchen" diese Beziehung vermissen lassen, sie wären nicht geschichtlich Wirkende.12 In §5 gibt es nun auch diese bemerkenswerte Ausführung über denselben Zustand der Wissenschaft. Es scheint fast unmöglich, dass ein starker und voller T o n selbst durch das mächtigste Hingreifen in die Saiten erzeugt werde: sofort verhallt er wieder, im nächsten Augenblicke bereits klingt er historisch zart verflüchtigt und kraftlos ab. 1 3 Moralisch
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Vgl. Nietzsche in den nachgelassenen Fragementen (Ende 1870 - April 1871): „In ihm [dem Weib] träumt die zukünftige Generation. Das Weib ist mit der Natur näher verwandt als der Mann und bleibt sich in allem Wesentlichen gleich. Die Cultur ist hier immer etwas Äußerliches, den der Natur ewig getreuen Kern nicht Berührendes..." [III/3, 179.19-23], Darauf auch fogendes: „Das hellenische Weib, als Mutter, mußte im Dunkel leben... Es mußte wie eine Pflanze vegetiren, in engem Kreise..." [180.2-5]. In Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie aus dem Jahre 1801 steht zu lesen: „Das männliche Geschlecht ist durch die ganze Natur das belebende oder zeugende. Dem weiblichen ist... die Ausbildung ... übertragen" [IV, 209]. Vgl. auch XI, 511. Vgl. folgendes beim späten Schelling: „Denn eine freie That ist etwas mehr, als sich im bloßen Denken erkennen läßt.... Es ist leicht einzusehen: nur Entschluß und That könne eine eigentliche Erfahrung begründen. Denn wenn z.B. in der Geometrie Erfahrung keinen Platz hat, so ist dies eben darum, weil hier alles durch reines Denken vollbracht werden kann, weil hier kein Geschehen vorauszusetzen ist. Umgekehrt, alles, was nicht durch reines Denken zu Stande zu bringen ist, d.h. worin ich Erfahrung zulasse, muß ein durch freie That Begründetes seyn" [ XIII, 113f]. Nach Schellings Weltaker hat das „Feuer des geistigen Denkens" das Reale „verflüchtigt", die Welt
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ausgedrückt, es gelingt euch nicht mehr das Erhabene festzuhalten, eure Thaten sind plötzliche Schläge, keine rollenden Donner. 14 Vollbringt das Grösste und Wunderbarste: es muss trotzdem sang- und klanglos zum Orkus [Reich der Toten, der Schatten] ziehen. Denn die Kunst flieht, wenn ihr eure Thaten sofort mit dem historischen Zeltdach überspannt. Wer dort im Augenblick verstehen, berechnen, begreifen will, wo er in langer Erschütterung das Unverständliche als das Erhabene festhalten sollte, mag verständig genannt werden, doch nur in dem Sinne, in dem Schiller von dem Verstand der Verständigen redet: er sieht Einiges nicht, was doch das Kind sieht...; dieses Einige ist gerade das Wichtigste. ... Das macht: er hat seinen Instinct vernichtet und verloren, er kann nun nicht mehr, dem göttlichen Tiere" vertrauend, die Zügel hängen lassen, wenn sein Verstand schwankt und sein Weg durch Wüsten führt. [ΠΙ/1, 275.33-276.22; meine Hervorhebung]
Das Zitat enthält viele an Schelling erinnernde Ausdrücke und Zusammenhänge. Das Reich der Schatten [der Formen], die Wüste, auch das „göttliche Tier" [Kap. 3.1] - das sind uns schon bekannte Gleichnisse und Bilder. Im Vergleich mit Schelling fällt insbesondere das „Festhalten des Erhabenen in langer Erschütterung" auf. Bei Schelling is das „Erhabene" ein Ausdruck besonders der Philosophie der Kunst. Wie wir oben [in Kap. 2.11.a] festgestellt haben, entspricht das Erhabene beim späten Schelling dem realen mythologischen Grund. Die „Erschütterung" ist bei Schelling das Zeichen des dionysischen Wirkens [Kap. 3.1, vgl. Kap. 4.3], Welche ist nun jene „lange Erschütterung" bei Nietzsche? Vermutlich die Krise der modernen historischen Wissenschaft selbst. Bei Schelling ist daran zu erinnern, daß erst der frei gewordene Geist das Vermögen hat, sich von den realen Voraussetzungen (Natur und Geschichte) seiner Existenz loszureißen und sich in eine Welt des Denkens zu erheben. Im Folgenden betrachten wir Schellings spätphilosophischen Begriff des „Festhaltens"; dadurch können wir auch die „Erschütterung", die das Festhalten des Ersten nötig macht, deutlicher begreifen.15 In der Erfahrung der Uberwindung des ersten realen Prinzips durch das erschütternde zweite dionysische Prinzip müsse das geistige Bewußtsein jenes Prinzip „mit aller Macht festhalten, sich seiner als des widerstrebenden bewußt bleiben, nicht etwa es ganz aufgeben und verlieren" [XII, 435]. Dadurch wird das Festgehaltene zum fruchtbaren „Grund" [436], wie dies vorzüglich in der griechi„in nichts aufgelöst" [VIII, 342f], Vgl. Nietzsches Gebrauch des Wortes in Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen·, siehe oben Kap. 6.2.a. 14
Vgl. bei Schelling die „Donnerschläge des Genies, die ein ganzes Gebiet zusammengehöriger Begriffe zugleich erschüttern und befruchten" [XIV, 325]. In Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (Sommer 1872 - Anfang 1873) findet man diese allein für sich stehende Notiz: „Das Erhabene festhalten zu können!" [III/4, 11.12], Dasselbe wird etwas später mit Hervorhebung wiederholt [14.12],
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In der Geschichte der neueren Philosophie findet man als allgemeine Regel: „Das folgende Moment muß immer das vorhergehende als seine unmittelbare Basis [Grund] festhalten" [X, 113, vgl. 130, 135],
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sehen Mythologie stattfindet, aber in der indischen Mythologie nicht: Brahma [das erste Prinzip] sei „ein gleichsam verschollener und vergessener Gott" [441]. Das nötige Festhalten veranschaulicht Schelling mit Bezug auf Plutarchs De Iside et Osiride [bes. §40 u. §55]: Hermes - er ist das höchste, alles vereinigende Bewußtseyn im ägyptischen Göttersystem, zugleich der Erfinder der Tonkunst - Hermes habe dem Typhon die Sehnen durchschnitten (ihn seiner Macht und Stärke beraubt), aber er habe eben dieser dem Typhon ausgeschnittenen Sehnen sich als Saiten bedient; dadurch, fügt Plutarch hinzu, sollte angezeigt werden, daß der alles in Eins fügende Geist aus Widerstrebendem Einklang hervorgerufen habe; bestimmter, meint er, wäre zu sagen: jene Vorstellung zeige an, daß der alles in Eins fügende Geist die verderbliche Macht nicht zerstört sondern ihre Stärke, ihre Energie selbst zu höherem Einklang, zur Herstellung einer alles in Harmonie auflösenden Einheit benutzt habe. [ΧΠ, 436f] 16
Manchmal redet Schelling von der Uberwindung selbst als von der „Zerstörung" des falsch Bestehenden, aber das meint er immer im eben erklärten Sinne, d.h. nicht als die völlige Vernichtung des Ersten. Nach einer Stelle in der Spätphilosophie, wo Schelling über die „Zerstörung" der Bildung seiner Zeit redet, gibt es nach langer „Erschütterung" als dem Prozeß der Uberwindung eine (festhaltende) „Wiederherstellung" der „das menschliche Leben zusammenhaltenden Principien". Wörtlich heißt es: Bei der Zerstörungsarbeit oder in der „allgemeinen Erschütterung wird eine Zeit lang nichts Festes mehr seyn, an das man sich anschließen ... könnte" [XIII, 9f]. Der Sinn scheint derselbe wie jenes obige Festhalten „in langer Erschütterung" bei Nietzsche. Man beachte auch folgendes aus §10 der Schrift Nietzsches: „Das Leben selbst bricht in sich zusammen und wird schwächlich und muthlos, wenn das Begriffsbeben, das die Wissenschaft erregt, dem Menschen das Fundament aller seiner Sicherheit und Ruhe, den Glauben an das Beharrliche und Ewige, nimmt" [III/l, 326.26]. Das würde bei Schelling die Wirkung des Nihilismus, der keine Arbeit des Festhaltens leistet und den realen Grund verliert, beschreiben.17 16
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Vgl. auch die folgenden Stellen bei Schelling: Das ägyptische Bewußtsein als ein geistiges „hält noch immer an jenem Mittelpunkt fest, um den sich doch eigentlich alles bewegt und der festgehalten werden muß, damit der Prozeß selbst nicht seinen Sinn und seine theogonische Bedeutung verliere" [XIII, 403], Die griechische Mythologie halte das Erste fest [XII, 577]. Sie „gibt den untergehenden Gott nicht schlechthin auf, sondern bewahrt ihn als geistigen zugleich, und gelangt so zur wahren Vollendung" [XIII, 405]. „Das [griechische] mythologische Bewußtseyn hält in den späteren Momenten stets die früheren fest" [XIII, 472, vgl. 415; XII, 435; XI, 517], An einer späteren Stelle schreibt Nietzsche, in „chaotischen" Verhältnissen haben die Griechen sich auf ihre echten Bedürfnisse zurückbesonnen, um wieder „von sich Besitz" zu ergreifen [III/l, 329.20 (§10)]. Hier ist das Besitzen offensichtlich eine Art des „Festhaltens" [vgl. Schelling, XI, 290, 317]. Siehe Schellings Begriff des Besitzes, Kap. 3.4.
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Wir beachten oben im demselben längeren Nietzsche-Zitat [III/1, 275f] das Bild des „göttlichen Thieres". Mit Hinweis wieder auf Plutarch sieht Schelling den Esel als Symbol des Typhon; auch als bezähmtes Tier sei er „ungelehrig, bizarr, stöckisch", „widerstrebend und störrisch'' [XII, 366]. Wie Schelling bemerkt, ist der Esel auch das (gezähmte) Reittier des griechischen Silenos, der selbst eine Gestalt des gezähmten ersten Prinzips darstellt: Nach Schelling zeigt sich das erste Prinzip in Silenos „abgespannt", „lässig", „weich geworden" und „friedlich". „So wird Silenos selbst nicht von dem kriegerischen Roß, sondern dem Esel, dem Thier des Friedens, getragen" [ΧΙΠ, 438]. Nun wieder Nietzsche: Nach obigem Zitat kann der moderne Gebildete dem Tier nicht mehr vertrauen, er kann bei den Fragen nicht „die Zügel hängen lassen" - um sich etwa vom Instinkt leiten zu lassen. Das Tier wäre bei Schelling wie das verschwundene Erste der indischen Philosophie. Wo es real ist, grenzt Dionysos es zu solch einer Bestimmung ein, daß es etwas Bestimmtes will. Das Bild vom (griechischen) Festhalten, bzw. vom (indischen) Verlieren des Fundaments, des Grundes, kehrt in den letzten Abteilungen der Schrift Nietzsches wieder. In §9 heißt es: Für den heutigen Bildungsmenschen „weichen Grund und Boden ins Ungewisse zurück"; für sein Leben „gibt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefäden..."; alle Fundamente werden „rasend-unbedacht zersplittert und zerfasert" [III/l, 309, vgl. 326]. 18
§6 Nietzsche befaßt sich mit dem Gedanken einer Geschichte, deren „Werth gerade der ist, ein bekanntes, vielleicht gewöhnliches Thema, eine Alltags-Melodie geistreich zu umschreiben, zu erheben, zum umfassenden Symbol zu steigern und so in dem Original-Thema eine ganze Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit ahnen zu lassen". „Dazu gehört aber vor Allem eine grosse künstlerische Potenz, ein schaffendes Darüberschweben, ein liebendes Versenktsein in die empirischen Data, ein Weiterdichten an gegebenen Typen - dazu gehört allerdings Objektivität, aber als positive Eigenschaft" [III/l, 288], Dem Zusammenhang ist zu entnehmen, daß der Gegensatz zu dieser Objektivität die nur vermutete Objektivität der modernen Gebildeten ist, d.h. die vorher angeführte abstrakte, neutrale, leblose Objektivität. Offensichtlich ist die „positive Eigenschaft" eine auf die Wirklichkeit gerichtete. Ein „schaffendes Darüberschweben" kommt bei Schelling in seiner Beschreibung des geistigen ägyptischen Kunstgottes Thot (= Hermes), den „Gott des auseinander18
In §10 liest man: „Das Uebermass von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen" [ I I I / l , 325]. Vgl. die plastische Kraft oben in §4. Nach Schelling gedeutet, wäre sie der Geist.
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setzenden und unterscheidenden Denkens", vor: Thot „schwebt über" den Formen und der Substanz der ganzen Gottheit der Ägypter [XII, 414]. Bei Schelling ist der freie Geist immer „über" dem, von dem er frei ist [siehe Kap. 12.1]. In der Geschichte der neueren Philosophie schreibt Schelling: „Die Philosophie darf sich aber nicht bloß mit dem Höchsten abgeben, sie muß, um wirklich alles befassende Wissenschaft zu seyn, das Höchste mit dem Tiefsten wirklich verknüpfen. Wer die Natur als das schlechthin Ungeistige zum voraus wegwirft, beraubt sich dadurch selbst des Stoffes, in und aus welchem er das Geistige entwickeln könnte. Die Kraft des Adlers im Flug bewährt sich nicht dadurch, daß er keinen Zug nach der Tiefe empfindet, sondern dadurch, daß er ihn überwindet, ja ihn selbst zum Mittel seiner Erhebung macht" [X, 177]. Nietzsche gibt die folgende Erklärung zum Begriff einer „künstlerischen" Geschichte: Das „völlige Versunkensein in die Dinge" bedeute nicht, daß das „innere Bild", das der schaffende Künstler dabei schaue, „das empirische Wesen der Dinge wiedergebe", als ob sich in diesem schöpferischen Moment die Dinge auf dem Menschen als einem reinen Passivem „abphotographirten". Solcher Aberglaube wäre nach Nietzsche „eine Mythologie und eine schlechte obendrein". Vielmehr hat man einzusehen, daß die Kunst aus „dem kräftigsten und selbstthätigsten Zeugungsmoment im Innern des Künsders" entsteht. Für die Geschichtsschreibung bedeutet dies die Zeugung einer dramatischen Arbeit, die kein „historisch wahres" Gemälde wäre, sondern einem „künstlerisch wahren" Gemälde entspreche [286]. Bei Schelling wäre solche „schlechte Mythologie" die indische, insofern als diese es nur mit fertig gewordenen Formen, keineswegs mit neuer Schöpfung zu tun hat [ΧΠ, 456f]. Mit dem Nihilismus verschwindet der Grund in den gewordenen Formen, die als solche so fixiert wie die in einer Photographie wären. Für das „künstlerisch wahre Gemälde" haben wir schon Parallelen bei Schelling gefunden: Solch eine Kunst würde in der Geschichtsschreibung die in der Geschichte wirkenden Kräfte als deren inwohnende Begriffe an den Tag bringen. Schon beim jungen Schelling sucht die wahre Kunst, die im Dasein enthaltenen Ideen schöpferisch auszudrücken [Kap. 1.1, Kap. 2.10.b]. Die Kunst, die Nietzsche meint, steht in größtem Gegensatz zu der Historie der modernen Gebildeten, die Nietzsche als „kalt", „trocken", „unbetheiligt" und „nüchtern" beschreibt [ΠΙ/1, 288f]. Diese Historie maße sich an, durch sogenannte Objektivität ein „gerechtes" Urteil über die Geschichte abgeben zu können. Nach Nietzsche ist diese Zumutung eine ganz irrige. Nur wenige Menschen haben den „reinen Willen gerecht zu sein, und selbst von diesen wieder die Wenigsten die Kraft, gerecht sein zu können" [283].19 Nur „das ehrwürdigste Exemplar der Gat19
Die Wahrheit über Welt und Menschenleben wäre vermutlich die, welche die entsetzlichen und verdrängten Tatsachen der in jedem Fall herrschenden Zerreißung an den Tag brachte (vgl. das
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tung Mensch" sei befugt, Gericht und zwar Weltgericht zu halten; er sei ein „armer" Mensch, der „den Trieb und die Kraft zur Gerechtigkeit" besitze. Ihm gegenüber stellt Nietzsche den falschen Richter als einen moralischen „kalten Dämon der Erkenntniss". Jenes ehrwürdigste Exemplar „will Wahrheit, doch nicht als kalte folgenlose Erkenntniss, sondern als die ordnende und strafende Richterin, Wahrheit nicht als egoistischen Besitz des Einzelnen, sondern als die heilige Berechtigung, egoistischer Besitzthümer zu verrücken, Wahrheit mit einem Wort als Weltgericht" [282f], Sehr wahrscheinlich ist dieser Richter derselbe wie die „Bildungssonne" früherer Schriften [Kap. 6.1.a, Kap. 6.2.b] oder das zukünftige Genie, dessen Weg Nietzsche in diesen Schriften bereitet. Nach dem Aspekt der Armut scheint er Schellings Christus ähnlich [Kap. 3.3]. Nietzsches Rede vom Egoismus der Einzelnen und ihrem „Besitz" erinnert an Schellings Ansicht des in selbstischen Vereinzelung zerissenen Zustandes der Menschen als der Subjekte des zur Wiederherstellung der Einheit erhebenden Werkes des zweiten Prinzips [Kap. 3.4].
§7-§70: Von Indien bis China Der ungebändigte historische Sinn müßte das menschliche Leben vernichten, weil er „so viel Falsches ... Unmenschliches, Absurdes, Gewaltsames" an den Tag bringen würde, daß die „Illusions-Stimmung", die das Leben nötig habe, zerstieben müßte: „Nur in Liebe, nur umschattet von der Illusion der Liebe, schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben an das Vollkommene und Rechte. Jedem, den man zwingt, nicht mehr unbedingt zu lieben, hat man die Wurzeln seiner Kraft abgeschnitten" [292 (§7)]. Man darf schließen, daß die Wurzeln den dionysischen Grund bedeuten und daß aus ihnen die Illusion (wie die apollinische Illusion in der Geburt der Tragödie) erwächst. Nietzsche redet auch vom „Reifwerden" des Menschen im Leben: Es verlange einen „umhüllenden Wahn" [294], Aber unter der Herrschaft der modernen historischen Bildung können die Menschen der Zukunft, die Jugend, nicht reifen. Sie werden nach Nietzsche durch die Erziehung entwurzelt, aus dem Leben gerissen und unwiderstehlich, „wissenschaftlich-magisch", in die abstrakte historische Bildung über das Leben hineingeEntsetzliche in der dionysischen Erkenntnis in der Geburt der Tragödie [III/l, 53.17]). Vgl. folgendes aus Nietzsches nachgelassenen Fragmenten (aus der Zeit Sommer 1872 - Anfang 1873): „Es genügte ein ehrliches W o n des edlen Zöllner, um in unserer gelehrten Pöbel-Republik fast einstimmig verfehmt zu werden" [III/4, 39.1-3, vgl. 39.4-11]. Der Zöllner ist offenbar der Mensch des Lukasevangeliums 18,9ff. - Vgl. eine andere Notiz Nietzsches aus den nachgelassenen Fragmenten (September 1870 - Januar 1871): „Buddha: ,lebt ihr Heiligen, indem ihr eure guten Werke verheimlicht und eure Sünden sehen läßt'" [III/3, 111.14; vgl. 180.5-6],
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zogen. Sie werden durch ein „allzu helles, allzu plötzliches, allzu wechselndes Licht geblendet". »Der junge Mensch wird durch alle Jahrtausende gepeitscht... So aber, wie der junge Mensch durch die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern, so hören wir Konzerte" [295]. Der Ausdruck „wissenschaftlich-magisch" hätte nach Schellingscher Auslegung [siehe „Zauber" in Kap. 3.2, Kap. 4.5.a] nicht allein die Bedeutung, daß die Wissenschaft die Jugend „anziehe", sondern eben auch die, daß die Wissenschaft für die Jugend zu massenhaft, ungegenständlich, unübersehbar, nicht denkbar, wäre. Das Bewußtsein wäre vielmehr in ihrem enormen Inhalt verloren [Kap. 4.2]. Der Jugend fehlte die Objektivität, die ein richtiges Urteil über ihren Wert ermöglichte. Zur Metapher des Lichtes bei Nietzsche: Nach Schellings Schilderung aus antiken Quellen wird in den Eleusinischen Mysterien das mythologisch-geschichtliche Ereignis des Aufgehens des Geistes durch das wechselnde, zuletzt hell leuchtende Licht symbolisch dargestellt. Der Geist „bricht aus dem Innersten des Bewußtseyns wie in einem verzehrenden Glanz hervor" [XIII, 445], Gerade in dieser Geburt des Geistes und seines Vermögens des Denkens geschieht für Schelling die Krisis der Mythologie, wo der griechische Geist es versteht, das Erste „festzuhalten", der indische aber nicht. Jene Blendung bei Nietzsche würde dort geschehen, wo die Vernunft wegen des hellen Lichtes des geistigen Könnens das konkrete Wirkliche in Gedanken verflüchtigt. Nach Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums werden die Studenten zu seiner Zeit wie geistige Mumien einbalsamiert [V, 262], Am Schluß der Schrift Nietzsches kehrt dasselbe Licht in anderer Gestalt wieder: Die heutige Wissenschaft werfe den Menschen „in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens hinein" [326.20 (§10)]. Nach einer anderen Stelle „taumelt" dieser Mensch in einer „hoffnungslosen skeptischen Unendlichkeit". Unmittelbar darauf mahnt Nietzsche: „Halten wir nur erst das Land fest" [320 (§10); vgl. 323.16]. Es handelt sich um das Festhalten des Realen in den Erschütterungen des geistigen Denkens, sonst „taumelt" der Mensch - gleichsam wie ein Planet ohne seine Sonne - in leerer Unendlichkeit. 20 Nach Nietzsche sind die jungen Menschen heute, an allen Sitten und Begriffen zweifelnd, „heimatlos" geworden [295.33 (§7)]. Wiederum verwendet Nietzsche ein Bild, das in wesentlich demselben Zusammenhang bei Schelling vorkommt: „Heimathlos" sind für Schelling die Menschen in der Wüste der Neuzeit [XIV, 150]. Mit Hinweis auf eine Prophezeiung bei Hesiod findet Nietzsche die „abgeblassten" heutigen Menschen „graubehaart geboren"; ihnen gebühre eine „greisenhafte"
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Nach Schelling ist auch das indische Bewußtsein „einem völligen Taumel" hingegeben [XIII, 403]. Vgl. „Chaos" als die unendliche Potenz aller Möglichkeiten, „leeren Raum" [XII, 596f]. Vgl. Kap.
1.1-2.
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Beschäftigung wie die moderne historische Bildung [299.17 (§8); vgl. 321.6]. Bei Schelling findet man in einem ähnlichen Zusammenhang die Rede von „schon in der Jugendzeit greisenhaften Leuten". 21 So wie in der Schrift David Strauß \Yaç. 7] greift Nietzsche die christliche Theologie der modernen historischen Bildung - zumal des Hegelianismus - scharf an [292294 (§7)]. Jetzt noch will sie es kaum merken, dass sie..., wahrscheinlich sehr wider Willen, im Dienste des Voltaireschen écrasez steht" [292.31]. Das Christentum werde in reines Wissen „aufgelöst und dadurch vernichtet"; aber dieselbe Folge „kann man an allem, was Leben hat, studieren" [293.29]. Die Hegelianer unterscheiden die „Idee des Christenthums" von dessen mannigfach unvollkommenen Erscheinungsformen. Dabei meinen sie, „es sei wohl gar die .Liebhaberei der Idee', sich in immer reineren Formen zu offenbaren, zuletzt nämlich als die gewiss allerreinste, durchsichtigste, ja kaum sichtbare Form... Hört man aber diese allerreinlichsten Christenthümer sich über die früheren unreinlichen Christenthümer aussprechen, so hat der nichtbeteiligte Zuhörer oft den Eindruck, es sei gar nicht vom Christenthume die Rede..." Um diesen Eindruck zu veranschaulichen, bringt Nietzsche zwei nach seiner Auffassung typische Ansichten eines typischen modernen Theologen vor: Erstens, das Christentum sei die Religion, die sich „in alle wirklichen und noch einige andere bloss mögliche Religionen hineinempfindet"; zweitens, die wahre Kirche sei die, welche „zur fliessenden Masse wird, wo es keine Umrisse gibt, wo jeder Theil sich bald hier, bald dort befindet und alles sich friedlich untereinander mengt". Dann fragt Nietzsche, ohne selbst die Antwort zu geben: „Woran sollen wir denken?" [293]. Wir dürfen antworten: An Schellings Begriff des Nihilismus. Für Schelling geht im Nihilismus das materielle oder reale Prinzip, auch als das Geschichtliche oder Konkrete des Christentums, in Formen oder Ideen ganz auf, so wie z.B. bei einer Gleichsetzung des vermeintlich wahrhaft Indischen mit dem vermeintlich wahrhaft Christlichen durch den rationalistischen theologischen Moralismus [XII, 476, 72ff; XIII, 500; XIV, 150], Die „fliessende Masse" bei Nietzsche wäre die nach Schelling ganz „widerstandlose", also ganz in die ideellen Formen oder Begriffen verschwindende Materie, so wie der indische Gott Brahma in Formen verschwindet. Die widerstandslose Materie ist nur Potenz, das Gegenteil von Wirklichkeit: Sie ist alles Mögliche, auch als des nur Gedachten [XII, 445, 596; Kap. 3.5; vgl. Kap. 12.3.a]. Nietzsche stellt fest: Wenn man das Christentum „in 21
Schelling erzählt aus Cicero über die Bestreitung der Wirklichkeit der Seele durch einen Greis. Wie Schelling schreibt: Wer heute ein philosophisches Gespräch über diese Sache verfassen wollte, „würde zeitgemäß handeln, den Vertreter einer solchen abgelebten Weisheit aus dem jüngeren Kreis frühzeitig abgestandener und schon in der Jugend greisenhafter Leute zu wählen, an denen die Zeit keinen Mangel hat" [XI, 477]. Siehe über dieselbe Stelle bei Schelling oben in Kap. 5.6.
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reines Wissen um das Christenthum auflöst", wird es „vernichtet" [293.28]. Das ist auch Schellings Ansicht. Am Schluß von §7 und am Anfang von §8 spürt Nietzsche bei den modernen Gebildeten eine Ahnung des „Untergangs" dessen, was für sie das Tragende in der Bildung gewesen sei [298.19.31]. Am Anfang von §9 heißt es, diese Gebildeten leben „in einer historisierenden und gleichsam abendlichen Stimmung" [308.3]. Auch dieses „Abendliche" entspricht Schellings Begriff des Nihilismus [Kap. 3.5]. Der folgerichtige weitere Untergang führt bei Schelling in die tiefe Dunkelheit des „chinesischen" Bewußtseins [vgl. Kap. 3.7]. In §8 erwähnt Nietzsche das Chinesische. Voraus geht ein neuer scharfer Angriff auf Hegel, dessen Gott „durch die Geschichte gemacht wird": Dieser Gott wurde in Hegels „Hirnschalen durchsichtig und verständlich" und „ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines Werdens, bis zu jener [ideellen] Selbstoffenbarung, emporgestiegen". Der von Hegel gelehrte Weltprozeß oder die „Macht der Geschichte" führe zu „nackter Bewunderung des Erfolges" und zum „Götzendienste des Thatsächlichen", d.h. der heute gewordenen, bestehenden Kultur der historischen Bildung [304f]. Darauf folgt diese Ausführung: Wer aber erst gelernt hat, vor der „Macht der Geschichte" den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein J a " zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte, in welchem irgend eine „Macht" am Faden zieht. Enthält jeder Erfolg in sich eine vernünftige Nothwendigkeit, ist jedes Ereigniss der Sieg des Logischen oder der „Idee" - dann nur hurtig nieder auf die Kniee ...! Was, es gebe keine herrschenden Mythologien mehr? Was, die Religionen wären im Aussterben? Seht euch nur die Religion der historischen Macht an, gebt Acht auf die Priester der IdeenMythologie und ihre zerschundenen Kniee! Sind nicht sogar alle Tugenden im Gefolge dieses neuen Glaubens? ... Ist es nicht Grossmut, auf alle Gewalt im Himmel und auf Erden zu verzichten [Matth. 28,18], dadurch dass man in jeder Gewalt die Gewalt an sich anbetet? [ΙΠ/1, 305]
Das würde bei Schelling den Untergang des Nihilismus in die Nacht der chinesischen Religion beschreiben, wo der Geist sich aufgibt, wo er seine innere und damit auch seine äußere Freiheit dem fixen Mechanismus chinesisches Absolutismus als Opfer bringt [Kap. 3.5]. In §9 heißt es bei Nietzsche - wir zitieren wiederum zwecks des Vergleichs ausführlich -: Es ist gewiss die Stunde einer grossen Gefahr: die Menschen scheinen nahe daran zu entdecken, dass der Egoismus der Einzelnen, der Gruppen oder der Massen zu allen Zeiten der Hebel der geschichtlichen Bewegung war; zugleich aber ist man durch diese Entdeckung keineswegs beunruhigt, sondern man decretirt: der Egoismus soll unser Gott sein. Mit diesem neuen Glauben schickt man sich an, mit deutlichster Absichtlichkeit die
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kommende Geschichte auf dem Egoismus zu errichten: nur soll es ein kluger Egoismus sein, ein solcher, der sich einige Beschränkungen auferlegt, um sich dauerhaft zu befestigen, der die Geschichte deshalb gerade studirt, u m den unklugen Egoismus kennen zu lernen. Bei diesem Studium hat man gelernt, dass dem Staate eine ganz besondere Mission in dem zu gründenden Weltsysteme des Egoismus zukomme; er soll der Patron aller klugen Egoismen werden, u m sie mit seiner militärischen und polizeilichen Gewalt gegen die schrecklichen Ausbrüche des unklugen Egoismus zu schützen. Zu dem gleichen Zwecke w i r d auch die Historie...in die gefährlichen, weil unklugen, Volksmassen und Arbeitergeschichten sorglich eingerührt, weil man weiss, dass ein Körnlein v o n historischer Bildung im Stande ist, die rohen und dumpfen Instincte und Begierden zu brechen oder auf die Bahn des verfeinerten Egoismus hinzuleiten. [ΠΙ/1, 3 1 7 f ]
Das beschreibt „chinesische" Zustände bei Schelling, den absoluten Egoismus des ersten Prinzips, wie Schelling ihn zumal in der Gestalt des chinesischen Kaisers ausgedrückt findet. Jede Wirkung des Dionysos ist ausgeschlossen, der Kaiser und seine klugen Berater, die Gelehrten, herrschen, und alle Anderen unterwerfen sich der fixierten, von der aufmerksamen Polizei streng bewachten Ordnung. Der Mensch hat klug zu sein, sich anzupassen [XII, bes. 532-34]. Nach Nietzsche zwingt die heutige Bildung den jungen Menschen, sich „auf sich selbst, in den kleinsten egoistischen Bezirk zurückzuziehen", wo er „verdorren und trocken" werden muß [319.28]. Bei Schelling besagen „verdorren und trocken" eben das Ausschließen des Dionysos durch das selbstische Prinzip. Über den geschilderten Zustand kommentiert Nietzsche: „Christlich ausgedrückt: so ist der Teufel der Regent der Welt und der Meister der Erfolge und des Fortschrittes; er ist in allen historischen Mächten die eigentliche Macht, und dabei wird es im Wesentlichen bleiben - ob es gleich einer Zeit recht peinlich in den Ohren klingen mag, welche an die Vergötterung des Erfolges und der historischen Macht gewöhnt ist" [317; vgl. 305.15]. So steht die Sache auch bei Schelling. Wie Schelling aus dem Neuen Testament zitiert, sei Satan - die Macht der Weltzerreißung - „Fürst dieser Welt" [XIV