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German Pages [169] Year 2014
A
Dieter Jhnig
Der Weltbezug der Künste Schelling, Nietzsche, Kant
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860014
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Dieter Jähnig Der Weltbezug der Künste
VERLAG KARL ALBER
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Zu diesem Buch: Das Leitmotiv des Buches ist die Einsicht, dass die Künste, auch die Musik, von Haus aus nicht nur Erkenntnis-Gegenstände sondern selber Erkenntnis-Quellen sind. Dieser Sachverhalt besteht aber aus einer Vielfalt von Aspekten, in der Zusammenhänge und Unterschiede zugleich im Spiel sind, was hier an drei Paradigmen: Schelling, Nietzsche und Kant, gezeigt wird. Dabei handelt es sich nicht um eine historische Entwicklung, also ein Nacheinander, sondern um das Nebeneinander gleichermaßen legitimer Gepräge. Verschiedene Weisen, den Weltbezug der Kunst zu denken, werden anhand von zentralen Textpassagen bei Schelling, Nietzsche und Kant erörtert. Eingeleitet wird dies durch grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst wie auch zu verschiedenen Zugangweisen zur Kunst. Am Ende des Buches steht eine Konkretisierung der Schelling-Thesen an Bildbeispielen, die von antiken Bildwerken über Caspar David Friedrich und William Turner bis zu Paul Klee reichen. Der Autor: Dieter Jähnig, geboren 1926 in Leipzig. Studium der klassischen Archäologie (Bernhard Schweitzer) und Philosophie in Leipzig (1947/48) und Tübingen (1949–1954). Dissertation ›Vorstudien zu Hölderlins Homburger Aufsätzen‹ (Hauptteil: Hölderlins Homer-Verständnis) bei Friedrich Beissner. Hauslehrer und Verlagslektor 1956–58. Schelling-Studien (in Überlingen) 1958–62. Seit 1963 am Philosophischen Seminar in Tübingen. – Seit 1990 wieder in Überlingen. Studien zur Erd-Geschichte. 2001–2005 Arbeit an dem 2006 erschienenen ›Burckhardt‹-Buch.
https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Dieter Jähnig
Der Weltbezug der Künste Schelling, Nietzsche, Kant
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48149-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86001-4
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Für Annemarie, meine Frau
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beilagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 18
Erstes Kapitel Unterschiede im Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst . . .
22
Zweites Kapitel Unterschiede der Zugangsweisen zur Kunst . . . . . . . . . . .
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Drittes Kapitel »Schöpfung« und Geschichte. Zu Schellings Vortrag »Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur« von 1807 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schellings Kunsterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . .
37 37 37
Zum Zusammenhang mit dem vorausgehenden Kapitel 1. Die Fraglichkeit des Anfangs in der Kunst . . . . . . . 2. Die »Form« als »positive Kraft« . . . . . . . . . . . . 3. »Schöpfung« als geschichtliche Gründung . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
42 46 57 67
Viertes Kapitel »Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose 1. Nietzsche lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Frage nach dem Ort der Kunst . . . . . . . . . . 3. Die Sprache der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
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80 80 87 96
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Inhalt
Fünftes Kapitel »Spiel« und Welt. Das »interesselose Wohlgefallen« in Kants »Kritik der Urteilskraft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gunst contra Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Existenz contra Verzehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sechstes Kapitel Bildbeispiele zu Schelling
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Verzeichnis der erwähnten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen
108 109 115
148
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
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Einleitung
»Indem wir das Wesen der Kunst als ein Mysterium auf sich beruhen lassen und ihr außer allen ihren Obliegenheiten und unabhängig davon einen metaphysischen Grund zugeben (sie wäre auch ohne dieselben vorhanden) – bleibt hier nur von ihrer Stellung in der Weltgeschichte zu reden.« 1
Mit dieser Abgrenzung schließt Jacob Burckhardt seinen Entwurf zur Einleitungsstunde des großen, viersemestrigen Kollegs zur »Kunstgeschichte« (seit den Anfängen im alten Ägypten und Zweistromland), das er am 6. Mai 1874 neben seiner seit 1858 praktizierten ›Geschichts‹-Professur in Basel begann. (Der Zyklus wurde dann, bis zum altersbedingten Abschluß, 1893, mehrfach wiederholt, von Mal zu Mal erweitert, zuletzt auf fünf Wochenstunden.) Vorausgegangen war das (zweimal wiederholte) Kolleg zur ›Griechischen Kulturgeschichte‹. Davor, zwischen 1868 und 1872, hatte Burckhardt das (posthum unter dem Titel ›Weltgeschichtliche Betrachtungen‹ publizierte) Kolleg für Hörer aller Fakultäten ›Über das Studium der Geschichte‹ entworfen und in dreimaliger Wiederholung vorgetragen. Die Fazitnotiz zur Einleitung des ›Kunstgeschichte‹-Zyklus besagt, daß der Verfasser mit dem Plan, von »der Stellung der Kunst in der Weltgeschichte« zu reden, den Freiraum wahrnimmt, der sich öffnet, wenn der fundamentale Anspruch der Wesens-Frage mit allem Respekt vor deren eigenem Recht außeracht gelassen werden kann. Das ist ein Freiraum, der – wie das aus dem zur gleichen Zeit letztmalig
›Über die Kunstgeschichte als Gegenstand eines akademischen Lehrstuhls‹, in: Jacob Burckhardt, Gesamtausgabe Bd. 13: Antike Kunst. Skulptur der Renaissance. Erinnerungen aus Rubens, hg. von Felix Stähelin und Heinrich Wölfflin, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart Berlin Leipzig 1934, S. 28.
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Einleitung
vorgetragenen Kolleg ›Über das Studium der Geschichte‹ hervorgeht – neben dem »metaphysischen« Verzicht zugleich auch ein empirischer Gewinn sein kann, in diesem Fall: gegenüber der stofflichen und methodologischen Begrenzung der Universitätsdisziplin »Kunstgeschichte«. ›Weltgeschichte‹ steht hier in der vom Verfasser geschätzten Bedeutung (von der er selber die ihrerseits begrenzte Bedeutung der gleichlautenden Forschungs- und Lehr-Disziplin abhebt). »Stellung in der Weltgeschichte«, das besagt: Stellung innerhalb desjenigen »Welt«-Ganzen »der Geschichte«, das nach jenen ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ vom Zusammenspiel »der verschiedenen Gebiete der geistigen Welt« gebildet wird. Dieses Ganze ist kein Konglomerat, keine vage Mischung, sondern der ständige – Zeiten und Regionen, Städte und Reiche prägende – Wandel in den wechselseitigen Beziehungsweisen der verschiedenen Geschichts-»Gebiete«, – in diesem Kolleg von Burckhardt nach einem triadischen Gefüge aufgegliedert: den differierenden Bezugsmöglichkeiten zwischen »Politik« und »Religion«, sowie, im Kontrast zu einer relativen Nachbarschaft jener beiden Gebiete untereinander, im Vergleich zur »Cultur« (zu der Burckhardt hier, neben den Künsten und Wissenschaften, auch diesen beiden Komponenten so fremd erscheinende Faktoren wie Technik und Verkehr zählt). Von der Kunst (in dem »Geschichts«-Kolleg: auch der Musik und der Dichtung) im Blick auf die Stellung in der Welt-Geschichte zu handeln, das besagt demnach: im Blick auf die verschiedenartigen Bezugsweisen im Nacheinander und Nebeneinander der Weltbezüge. Ein Hörer dieser »Winke zum Studium des Geschichtlichen« war der junge Friedrich Nietzsche, der (noch vor seiner Promotion in Leipzig) 1869 als Lehrer der klassischen Philologie an die Basler Universität berufen worden war. Die zweite seiner ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹ »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (entstanden 1873), die Nietzsche Burckhardt zukommen ließ, wurde von Burckhardt mit offensichtlicher Zustimmung zu diesem Schritt der Zeitkritik des jungen Kollegen aufgenommen. Selbst die seinen Dank einleitenden Vorbehalte »über die letzten Gründe, Ziele und Wünschbarkeiten der geschichtlichen Wissenschaft« zielen ja nicht auf den Verfasser, sondern teilen – mit dem Ausdruck der Bescheidung des Laien – Nietzsches Kritik. Das darauf Folgende ist, weiterhin im Ton der Zurückhaltung des dem philosophischen Fach Fernstehenden, dem Verfasser in der gemeinsamen »Sache«, mit Nietzsches Ausdruck dem 10 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Einleitung
Maßstab des »Lebens«, verbunden. (»… allein die Sache geht unser einen so nahe an …«) »Als Lehrer und Docent aber darf ich wohl sagen: ich habe die Geschichte nie um dessentwillen gelehrt, was man pathetisch unter Weltgeschichte versteht, sondern wesentlich als propädeutisches Fach: ich mußte den Leuten dasjenige Gerüste beibringen das sie für ihre weitern Studien jeder Art nicht entbehren können wenn nicht Alles in der Luft hängen soll … auch dachte ich gar nie daran, Gelehrte und Schüler im engern Sinne großzuziehen, sondern wollte nur daß jeder Zuhörer sich die Überzeugung und den Wunsch bilde: man könne und dürfe sich dasjenige Vergangene, welches Jedem individuell zusagt, selbständig zu eigen machen, und es könne hierin etwas Beglückendes liegen …« (Im Brief vom 25. Februar 1874.) 2
Weshalb hier nun mit der Berufung auf Burckhardts Konzeption einer Kunstgeschichte nach dem Maßstab ihrer Stellung in der Welt-Geschichte unter dem Verzicht auf metaphysische Grundlegungen die Spurensuche nach aktuell Gebliebenem, die Vorführung von aktuell Gewordenem bei drei Philosophen? Weil da der Gang der Philosophie Jacob Burckhardt, Briefe, Bd. V, Schwabe Basel Stuttgart 1963, S. 222 f. Werner Kaegi behandelt in dem letzten, Fragment gebliebenen Band seiner großen Burckhardt-Biographie als die letzte seiner Werk-Darstellungen die »Griechische Kulturgeschichte«. Ein ganzer (knapp vierzigseitiger) Abschnitt darin ist dem Thema »Friedrich Nietzsche als Professor in Basel« gewidmet. In der Übersicht über die vier Teile jenes Werkes beginnt der Passus zum zweiten Teil, »Die Griechen und ihre Götter«, mit einer erneuten Erinnerung an Nietzsche »und an ›Die Geburt der Tragödie‹«: »Es besteht kein Zweifel, daß nicht nur Burckhardt ein großes Kapitel in der Biographie Nietzsches bedeutet, sondern daß auch Nietzsche auf Burckhardt spürbar gewirkt hat … Burckhardt hat von der Tradition seiner Umwelt das Bild eines kanonisierten Griechentums empfangen, in dem Apollo herrschte. Und nun kam der junge Nietzsche 1869 nach Basel, der im griechischen Leben eine Macht entdeckt hatte, die er das ›Dionysische‹ nannte. Die Musik war für ihn der erste Ausdruck dieser Macht. Man kann Burckhardts zweiten Band [der ›Griechischen Kulturgeschichte‹] als Kommentar zu der ›Geburt der Tragödie‹ lesen und die ›Geburt der Tragödie‹ als Kommentar zu Burckhardts zweitem Band. Man wird zwei grundverschiedene Welten finden, die sich berühren und zeitweise durchdringen. Am Schluß wird man gestehen, daß keines der beiden Werke ohne das andere vollständig wäre.« (Werner Kaegi, Jacob Burckhardt, eine Biographie, Band VII, 1982, S. 79 f.)
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Einleitung
selbst jene Weltstellung der Kunst bezeugt, wie sie lange vor der Philosophie und dann auch immer wieder unabhängig von Philosophien der Welt-Geschichte zugehört. 3 In Schellings philosophischer Reflexion auf seine (und seiner Vorbilder wie Winckelmann) persönliche Kunsterfahrung tritt die Philosophie ausdrücklich von ihrem angestammten Begründungsanspruch zurück, um in einer rezeptiven Position der eigenen Deutungsinstanz der Künste gerecht zu werden. Mit dieser Korrektur der angestammten Weltstellung reagiert die Philosophie auf diejenige eigene der Künste, die unter dem philosophisch-wissenschaftlichen Deutungsanspruch verdrängt worden war. Der Ansatz dazu ist, auch wenn das erst aus der (geschichtsphilosophischen) Folge legitimiert werden konnte, die für sich genommen als aberwitzig erscheinende Entscheidung Schellings – in seinem ›System des transzendentalen Idealismus‹ von 1800 – die Kunst als »Organon« der Philosophie aufzunehmen. Diese Entscheidung wird zumindest als Versuch verständlich, wenn man sie, mit dem Aufbau dieses ›Systems‹, aus dem Problem heraus begreift, auf das dieses ›System‹ zugeht: den ›Idealismus‹ zur Natur-Philosophie zu erweitern, also die ›idealistische‹ Konzeption der Selbstbestimmung als den Grundzug des Weltgefüges zu verstehen. Schellings Weg dazu: die Verfassung des Fichteschen »Ich« nicht mehr als Spiegel vor der Natur stehen zu lassen, die damit zum »Nicht-Ich« deformiert worden war, sondern in der Natur den Spiegel für uns zu sehen. (Mit einem Blick auf das Evolutions-Gesetz des Schelling-Kenners K. E. von Baer:) Wir Menschen in der Welt, verschränkt in die Polarität von Höhenwachstum (Komplexität) um den Preis der Handlungsbegrenzung (der Flexibilität). Dieser Polarität entspricht das reziproke Verhältnis zwischen Wissen-Können und Wissens-Grenzen, für Schelling (im Anschluß an Kants Kritik der Urteilskraft) zugespitzt in der Erfahrung, daß sich die Lebens-Zeugnisse dank ihrer Subjekt-Objekt-Verfassung der »Nicht-Ich«-Perspektive ›klassischer‹ Naturerkenntnis entziehen. Das Problem, vor das Schelling damit gelangt: daß gegenüber dem (nach-kopernikanischen) Welt-Bild mit dem Zentrum des »Ich« in der Welt-Perspektive nur weiterzukom3 Zu den Unterschieden im Gebrauch des Namens ›Weltgeschichte‹ : Der von Burckhardt (wie in dem erwähnten Brief an Nietzsche) gemiedene Gebrauch als Lehr- und Forschungsdisziplin, von der sich die speziellen Disziplinen wie ›Religions‹- oder ›Kunstgeschichte‹ unterscheiden: hier in der üblichen Schreibweise; ›Welt-Geschichte‹ dort, wo Burckhardt mit ›Geschichte‹ das Ganze der drei ›Potenzen‹ meint.
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Einleitung
men wäre, wenn dieser Zentralismus korrigiert werden könnte. Eine Einsicht, die ›im Grunde genommen‹ eine tiefgreifende Korrektur des menschlichen Selbstverständnisses –, richtiger: des Zusammenhangs zwischen Selbst- und Weltverständnis, intendiert. Wo Schelling noch glaubte, mit seiner Transmutation der Philosophie zur Naturphilosophie lediglich auf eine Erweiterung des Idealismus hin zu arbeiten, war er selber schon an der Wende zum Realismus beteiligt, der seit den 20er/30er Jahren jenes Jahrhunderts eine neue Epoche zu prägen begann. Für Schelling hatte dieses philosophische ›Erweiterungs‹-Motiv die empirische Unterstützung in seiner frischen Erinnerung an die naturwissenschaftlichen Studien während seiner Hauslehrerzeit an der Universität Leipzig (wo seine Schützlinge studierten). Hier werden ihm die in jenen Jahren aufblühenden Forschungen zur organischen Natur in Großbritannien und Frankreich literarisch zugänglich geworden sein. Durch Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ wird ihm dabei bereits der gemeinsame Nenner dieser naturwissenschaftlichen Revolution: das Lebens-Prinzip der Evolution, vertraut geworden sein. Entscheidend daran, im Unterschied zum Prinzip der Ortsbewegung in der anorganischen Natur, das (bereits in der ›Urteilskraft‹ so benannte) »sich selbst Organisieren«, von Kant (jedem wissenschaftlichen Bedenken vorgreifend) nur in der Möglichkeitsform ausgedrückt: »zweckmäßig« gerichtet, »wie« nach Plan »erscheinend«. Dieser Sachverhalt einer (wie immer auch) gesteuerten Entwicklung war – in den verschiedensten der neuen medizinischen und (mit dem erst um 1800 gebräuchlich gewordenen Namen:) biologischen Untersuchungen – das generelle Paradigma zur Lösung des hier dominierenden Erscheinungs-Merkmals der Mannigfaltigkeit. Die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten (seit Linné), ähnlich wie der Wandel innerer organischer Prozesse, lassen sich einem Einheit ermöglichenden Rahmen zuordnen, wenn man das faktische Nebeneinander in ein vermittelndes Nacheinander ›auflöst‹. Zu Auswirkungen, Rückwirkungen also, auf die wissenschaftliche Praxis kam dieses ›naturphilosophische‹ Echo kaum. Aber, ähnlich wie im Falle einiger Avantgardisten zeitgenössischer Malerei von damals war auch die damals angelegte neue Forschungsweise bald darauf in gültig bleibender Weise fruchtbar geworden. Als ein – mit Kant zu sprechen – »Newton des Grashalms« ließe sich Darwin ansehen (wenngleich dieses neue Konzept von Wissenschaft nicht mehr das13 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Einleitung
jenige – an Newton orientierte – Kants ist). 4 Darwin, angezogen von den Erscheinungen der physiologischen wie geologischen Evolutionen, die ihn vor und während der ›Beagle-Reise‹ (1831–36) beschäftigten, begann unmittelbar nach dieser Reise, 1837, im gleichen Jahr, in dem seine früheren geologischen Studien durch die Freundschaft mit dem schottischen Geologen Lyell in der von diesem fortentwickelten Evolutions-Theorie der Erd-Entstehung aufgenommen wurden, 5 seine ›Feld‹-, Gesprächs- und Text-Erfahrungen der lebendigen Natur mit dem Plan der »Entstehung der Arten« zu erklären. Die dabei wissenschaftlich ausschlaggebende Idee der »natürlichen Zuchtwahl« (also, wie der Untertitel sagt: der »Entstehung der bevorzugten Rassen im Kampfe ums Dasein«) verdankt bekanntlich wesentliche Anregung der Theorie zur Bevölkerungsentwicklung durch den Nationalökonom Malthus. In analogem Ansatz: Erfahrung der evolutionären Verfassung ›nachvollziehbar‹ zu erklären, also die Arbeit am Aufdecken des Wandlungs-Baues, hatte wenige Jahre zuvor (von Darwin selber in die Liste seiner Vorbilder aufgenommen und seinerseits Anhänger von Schellings »Naturphilosophie«) Karl Ernst von Baer (1792–1876) in seinen Forschungen zur Entstehung des Individuums die Grundlagen der Embryologie gelegt. (Seiner Entdeckung des Säugetier-Eis [1827] könnte man für das Verständnis der Einheit der lebendigen Welt eine ähnlich umwälzende Bedeutung zusprechen wie sie Newtons Erkenntnis der allgemeinen Gravitation für das Verständnis der Einheit zwischen Erde und Himmel [irdischen und himmlischen Körpern] zukommt.) Für die Philosophie bedeutete die Begegnung Schellings mit jenen naturwissenschaftlichen Innovationen (parallel zu der politischen und der industriellen Revolution) die Aufnahme der Zeit. Erst in einem Siehe Beilage I, S. 18 Auf die innere Nachbarschaft der Geologie Lyells mit dem Wandlungsgefüge der Lebensprozesse kann hier nur hingewiesen werden. Mit Lyell (›Principles of Geology‹, 3 Bd.e 1830–33) wurde die »aktualistisch«-»plutonistische« Konzeption der Erdentstehung seines schottischen Landsmannes James Hutton (›Theory of the Earth‹, 2 Bd.e 1788–95) zu endgültiger Anerkennung gebracht, also die damals auch revolutionär zu nennende Bereitschaft, in der Erd- und damit auch Lebensentstehung unvorstellbar lange Zeiträume anzusetzen und im Gang der Geschichte sprunghaft entstehende und gewaltsam (»vulkanisch«) sich abspielende Stoffumwandlungen anzuerkennen, die der Erdgeschichte bereits das Gepräge epochaler Wendungen verliehen (und – ›aktualistisch‹ – weiterhin verleihen können). Für Hutton wird dabei sein intensives Hochgebirgsstudium in den heimatlichen ›Highlands‹ hilfreich gewesen sein.
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Einleitung
Erlanger Vortrag von 1821 ›Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft‹ erkennt Schelling angesichts der Welt-Geschichte die Tragweite jener wissenschaftlichen ›Stellungs‹-Wende, die der Sachverhalt der Vergeschichtlichung auch schon gegenüber der lebendigen Natur verlangt hat, der Abkehr nämlich von (mit Kant zu reden) der Position des Richters (KdrV B 18) über das zu Erkennende (s. Beilage II). Diese Abkehr bedeutet freilich nicht die Umkehr zum »Schüler«, sondern die Distanzierung von diesem ganzen Schema (Lehrer – Schüler; Richter – Beklagter) zu einer anderen Bezugs-Weise, derjenigen der Partnerschaft (in Freundschaft oder auch Streit). Eine so verfaßte ›Welt‹ konnte nicht mehr darin aufgehen, für die Philosophie nur ErkenntnisThema zu sein. Sie mußte vielmehr darin ernstgenommen werden, daß sie selbst erkenntnisstiftend ist. Für Schelling in diesem Vortrag: der Kontrast zwischen (wie für Newton) »konstruierbarer« Welt und (nochmals mit Kant:) »sich selbst organisierender«, also in diesem Sinne (Schelling:) »freiem« Weltgefüge. 6 Das gilt in potenzierter – aber dennoch analoger – Weise von den geschichtlichen Prozessen. Was im Kleinen (den persönlichen Entscheidungen) wie im Großen (den Epochen-Wandlungen) geschichtlich sich ereignet, kann nicht (wie z. B. die Stellung eines Planeten vor tausenden von Jahren) »konstruiert« werden, es kann nur (innerhalb des Rahmens von jeweils Möglichem – Schellings Kerngedanken dieses Vortrags mit Burckhardts ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ gelesen:) erlitten werden. Die Bedeutung von Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ wird hier an demjenigen Sachverhalt hervorgehoben, der, wie der nachträglich verfaßten ›Einleitung‹ zu entnehmen ist, den roten Faden zwischen den beiden Hälften des Werkes ausmacht, der philosophischen Problematik des den Erscheinungen der lebendigen Natur gewidmeten zweiten Teils, wie dem, der dem Gefühl des Schönen (in Natur und Kunst) gewidmet ist, der Frage nämlich nach der »Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen« (Einl. V, S. XXXV der 3. Aufl.; ähnlich Abschn. II, S. XIX f. und Abschn. VI, S. XL). Diese Frage ist Kant, im Unterschied zu den beiden ersten Kritiken, offenbar erst mit dieser Kritik zur Frage geworden. Sie bezeugt, im Angezogenwerden des Menschen von den Erscheinungen der lebendigen Natur wie des Schönen (in Natur und Kunst), obwohl für Kant kein Erkenntnis-Prozeß 6
Siehe Beilage II, S. 19f.
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Einleitung
entstehen kann, doch den Quellgrund jener Zusammenstimmung zwischen dem erkennen Könnenden (dem Menschen) und dem zu Erkennenden (der Welt), also die Möglichkeit des Wissens. Dieses Positivum, in dem das Angezogenwerden von den Erscheinungen der lebendigen Natur mit dem Gefühl des Schönen übereinkommt, ist somit die Kehrseite des Negativum: nach Kants (an Newton gemessenem) Maßstab des Erkenntnisvorgangs: diesem Naturbezirk, der Lebenswelt gegenüber, keine wirkliche Erkenntnis erlaubend. In den beiden ›klassischen‹ Kritiken genauso unbeachtet geblieben wie die Frage des Zusammenstimmens der Natur mit unserem Erkenntnisvermögen, also der Welt mit dem Geist, ist für den Kant der ›Kritik der Urteilskraft‹ – und damit eine neue, dritte »Kritik« überhaupt erst herausfordernd – der Sachverhalt, daß auch Erfahrbares unerkennbar sein kann, unübersehbar geworden. Für den heutigen Leser der ›Kritik der Urteilskraft‹ kann in diesem (wenn mir dieser Pathosklang erlaubt ist) Epiphanie-Erstaunen Kants eine Konsequenz bemerkbar werden, die den ständigen Beteuerungen der Unbeweisbarkeit (in dieser dritten Kritik) eine eigene Sprengkraft verleiht: nämlich auf beiden Seiten, der Dominanz der biologischen »Mannigfaltigkeit« gegenüber der physikalisch-monolithischen Weltverfassung ebenso wie dem »Gefühl der Lust und Unlust«, mit dem wir vom Schauspiel des Lebens ergriffen werden können, nicht nur, wie Kant zu beruhigen sucht, einen Nachtrag zu den ›klassischen‹ Entwürfen des Weltgefüges (in Theorie und Praxis) zu sehen. Vielmehr werden von dieser Urteils-Brücke 7 aus beide Brückenseiten, die Natur Newtons hier, die Freiheit des »Begehrungsvermögens« (des Willens) dort, in ihrem eigenen Gültigkeits-Anspruch zur Frage. Der BrückenBlick läßt, wie verhangen auch immer, an die Welt des Flusses denken – von der Quelle im Gebirge bis zum Meer mit neuen Ufern. Die vorliegende Schrift resultiert aus dem Zuspruch ehemaliger Schüler und Hörer, den Inhalt meiner letzten Vorlesung (vom Sommersemester 1987) an Hand ihrer und meiner Unterlagen lesbar zu machen. Im ersten Absatz von Abschnitt IX. der Einleitung, der überschrieben ist ›Von der Verknüpfung der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft durch die Urteilskraft‹, heißt es: »Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Natur; der Naturbegriff eben sowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit: und es ist in sofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen.«
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Einleitung
Nach längerem Zögern im Sommer 2007 zu einer Erinnerungsprobe gelangt, sah ich, es könnte sich lohnen, wenn auch nur unter beträchtlichen Reformen, teils erweiternd, teils kürzend. Das war, wie ich nun, nach der neuen Arbeit, weiß, nur an zwei Teilen, dem ersten und dem fünften Kapitel, nicht nötig. Neu ist schon der Titel. Das Kolleg war angekündigt als der zweite Teil eines im vorausgegangenen Semester begonnenen Teils mit dem – für beide Teile gedachten – Titel: Philosophie und Kunst. Die Erweiterung, womöglich Vertiefung, gilt zumal dem Kapitel zu der Münchner Rede Schellings vom Herbst 1807 ›Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur‹. (Im Frühjahr jenes Jahres war, mit einer Widmung an den einstigen Freund in einem Exemplar an Schelling, Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ erschienen, mit dem vernichtenden Votum gegen das sprunghaft-spekulative Philosophieren der Romantiker in der Vorrede.) Dem Freunde Dieter Rahn danke ich für unermüdlichen Zuspruch und unersetzliche technische Hilfen seit der Arbeit an diesem Text. Das Erscheinen der Schrift anzubahnen und zu realisieren ist das Geschenk meines »Jacob Burckhardt«-Kollegen Wilhelm Schlink. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses gilt mein Dank der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Herr Trabert vom Alber-Verlag Freiburg hat sich meines Manuskriptes mit spontaner Aufmerksamkeit angenommen. Überlingen, im August 2010,
D. J.
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Einleitung
Beilage I (Zu Seite 14, Anm. 4) Hier zuerst zwei Ausschnitte aus Kants Begründung, weshalb die Erscheinungen der lebendigen Natur »der Wissenschaft« unzugänglich bleiben müssen – mit dem Signum: es könne keinen Newton des Grashalms geben. (1) »Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde: sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.« (KdU, S. 337 f.; § 75, letzter Absatz). (2) »… schlechterdings kann keine menschliche Vernunft (auch keine endliche, die der Qualität nach der unsrigen ähnlich wäre, sie aber dem Grade nach noch so sehr überstiege) die Erzeugung auch nur eines Gräschens nach bloß mechanischen Ursachen zu verstehen hoffen.« (KdU, S. 353; § 77, letzter Absatz).
Nach den Bedingungen des neuzeitlichen Erkenntnis-Ansatzes (»zum sicheren Gang einer Wissenschaft« (s. Beilage II) bei Galileis Fallgesetzen sowie seines Schülers und Nachfolgers Torricellis ›Ausflußformel‹), gipfelnd in Newtons Gravitationsgesetz (wie deren – zusätzlicher – Verifikation in der ›industriellen Revolution‹ unmittelbar nach Newton) mußten sich die Erscheinungen der lebendigen Natur, also (mit Kant:) der organischen Selbstorganisation (KdU, S. 292; § 65), wissenschaftlicher Erkenntnis eben darum entziehen, weil sie »zweckmäßig«, also zielgerichtet organisiert sind und darum nicht kausal erklärbar, nicht »konstruierbar« (s. Beilage II) sind. Sie entziehen sich dank ihrer Subjekt-Objekt Struktur der Objektivierung, also dem »mechanischen Prinzip«. Mit Darwin nun ist (auch hier in der industriellen Nachvollziehbarkeit zusätzlich verifiziert) ein Weg beschritten, der, wenn nicht den gleichen, so doch einen gleichermaßen »sicheren Gang« (mathematisch 18 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Einleitung
dann auf der Grundlage der – auch schon mit Newton, parallel mit Leibniz begonnenen – Infinitesimalrechnung) auch für die Wissenschaften vom Lebendigen gebahnt: im Falle des Darwinismus: durch die Möglichkeit, in der Kombination zweier Faktoren, des erblichen der Variabilität (Mutation) mit dem Umwelt-Faktor der Auslese (Selektion) Entstehungs-Ursachen nach »mechanischen« Prinzipien zu ergründen. Die eigene Variabilität wissenschaftlicher Stringenz nach »Newton« könnte schon in der Nachbarschaft von Darwins »Selektions«-Maßstab der Stammesentwicklung mit K. E. von Baers Gesetz der Embryonalentwicklung (von 1828), also der individuellen »Erzeugung«, demonstriert werden.
Beilage II (Zu Seite 15, Anm. 6) Zu Schellings Negativ-Folie der »Konstruierbarkeit« auch hier zwei Kant-Ausschnitte, diesmal aus einer – auch damals erst im nachhinein formulierten – Vorrede zur ›Kritik der reinen Vernunft‹, der »Vorrede B« zur zweiten Auflage von 1787 (die erste Auflage war 1781 erschienen); aus dem für diese Vorrede zentralen Passus über die »Revolution der Denkart«. Diese beruht, für uns rückblickend gesagt, in demjenigen neuen Grundzug von wissenschaftlichem Selbstverständnis, der das ›Moderne‹ der ›Neuzeit‹ prägt: den Erkenntnis-Anfang nämlich nicht bei den (wechselnden) Eindrücken der Außenwelt, sondern bei den (bleibenden) Begriffen, dem »a priori« Kants, zu nehmen. Kant sieht das exemplarisch an den (bei den Reibungen der Luft empirisch gar nicht möglichen) Erkenntnissen der Fallgesetze durch Konstruktion (eben dieser Gesetze) bei Galilei (sowie der Weiterführung dieser Gesetze durch Torricelli in der nach ihm benannten »Ausflußformel« der Hydrodynamik) begonnen; und in Newtons Gavitationsgesetzen vollendet. »So verschafften die Zentralgesetze der Bewegung der Himmelskörper dem, was Kopernikus anfänglich nur als Hypothese annahm, ausgemachte Gewißheit und bewiesen zugleich die unsichtbare, den Weltbau [also: den Himmel mit der Erde] verbindende Kraft (der Newtonischen Anziehung), welche auf immer unentdeckt geblieben wäre, wenn der erstere es nicht gewagt hätte, auf eine wider-
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Einleitung
sinnische, aber doch wahre Art, die beobachteten Bewegungen nicht in den Gegenständen des Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen.« (KdrV, B XXII, die Anmerkung)
In diesem ›klassischen‹ Gepräge der neuzeitlichen Physik (und Astronomie) sieht Kant auf die Wirklichkeit der Natur hin übertragen, was die Antike bereits in der Mathematik theoretisch erprobt hatte: »Dem ersten, der den gleichseitigen Triangel demonstrierte (er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sahe, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellete (durch Konstruktion), hervorbringen müsse …« (B XI f.)
»Durch Konstruktion« heißt danach nicht dasselbe wie »nach Begriffen«, sondern: nach Begriffen (a priori) selbst hineindenken und darstellen. (Wobei »konstruieren« hier natürlich nicht soviel wie ›frei Erfinden‹, ›Dichten‹ bedeutet, sondern – Beispiel Kopernikus – »hypostasieren«, mit dem Ziel der Kontrolle: ob durch die Wirklichkeit bestätigt, wie das Kant hier am Zweck des – dem primären Entwurf gegenüber sekundären – Experiments klar macht.) Die Arbeit mit »Begriffen« wäre somit nicht schon dasselbe wie das Konstruieren aus Begriffen. Diese Unterscheidung wird in der vorliegenden Schrift wichtig, weil Schelling beide Ausdrücke – und offensichtlich in der Erinnerung an Kants Gebrauch – in gegensätzlicher Betonung verwendet. Als »Begriff« bezeichnet Schelling (ganz im Unterschied zur »Konstruktion« in dem späteren Erlanger Vortrag) den intendierten Sachverhalt der Münchner Rede ›Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur‹ von 1807. Dieses Verhältnis ist (bei dem fürstlich-programmatischen Anlaß dieser Rede unübersehbar: als Kritik an der kunsttheoretischen Schul-Tradition seit der Renaissance, hier: der erinnernswerte Maßstab aller großen Kunst-Praxis) kein Abbilden, weder als Nachahmung der Natur, noch auch als Ausdruck (also Abbilden des Inneren), sondern ein Bilden, das seinen Ausgang stets (in der griechischen ›Archaik‹ nicht anders als bei Polyklet) »von Begriffen« nimmt. Es kann ja (der Beitrag des ›Naturphilosophen‹ zum Thema der Rede) auch gar kein wirkliches Abbilden der Natur geben, weil 20 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Einleitung
Lebendiges nur als Totes abbildbar wäre. Gleichwohl kann auch die bildende Kunst in einem, dem eigenen Leben der Natur angemessenen Verhältnis zu ihr stehen, nämlich dann, wenn sie analog wie die Natur, deren eigener, unbewußter Begrifflichkeit gemäß, bildet. Die drei Zeugnisgruppen in den Bildbeispielen zum Schelling-Kapitel: aus der Antike, aus den Jahren der Münchner Rede und aus dem Werk und der Lehre von Paul Klee, werden diesen »Begriffs«-Gebrauch illustrieren.
21 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Erstes Kapitel Unterschiede im Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst
Auf das Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst fällt ein Licht schon mit dem historischen Tatbestand, daß in der Philosophie über Kunst nur gehandelt wird am Anfang und am Ende dieser Geschichte. In den 2000 Jahren zwischen Aristoteles und Kant sind es nur Außenseiter, die während dieser Geschichte ohne Beachtung, ohne Wirkung geblieben sind – der bedeutendste, Giambattista Vico (dessen »Neue Wissenschaft«, erstmals 1725 in Neapel erschienen, die weitestreichende Alternative zur cartesianischen Konzeption der Wissenschaft darstellt), ist erst im 19. Jahrhundert wieder bekannt geworden und erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt man, ihn wirklich wieder zu lesen. Und wie sieht es mit der Befragung der Kunst durch die Philosophie an ihrem Anfang und an ihrem Ende selber aus, wenn man auf den philosophischen Grund dieser Beschäftigung achtet? Zunächst scheint es so zu sein, als ob am Anfang, bei Plato und Aristoteles, und dann am Ende (am Ende zumindest der klassischen Gestalt der Philosophie als Metaphysik), bei Schelling und Hegel, ein glücklicher Zufall im Spiel ist: im einen Fall zwei Griechen, die schon als Griechen, noch dazu als Bürger Athens, nicht nur von einer optimalen Fülle von Kunst umgeben waren: Götterbildern und Wettkampfstatuen, Weingefäßen mit den herrlichsten Bemalungen und Grabstelen, Tempel-Bauten mit dem vielfältigsten Tempel-Schmuck (von den Bildungen der Säulen bis zu den farbigen Akroteren), dem Vortrag der Epen, den Aufführungen der Tragödien und Komödien, dionysisch-ekstatischen und feierlich-gemessenen Reigentänzen und Gesängen: als echte Griechen waren sie damit vertraut. Und am anderen Ende der Philosophiegeschichte: der Übergang vom »subjektiven Idealismus« Fichtes zum »objektiven (das Ganze der Natur zur Sache, zur Grundlage der Philosophie erhebenden) Idealismus« Schellings, und dem Höhepunkt des »Idealismus« in der Lehre 22 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Unterschiede im Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst
vom »Willen des Geistes« bei Hegel: geleistet also von zwei Philosophen, deren Zugang zur Philosophie geprägt war vom Enthusiasmus der Erinnerung an die »Kunst-Religion« (Hegel) der Griechen, der Freundschaft mit Hölderlin und dem freundschaftlichen Umgang mit Goethe und Schiller? Doch diese geschichtliche Erfahrung in dem einen, diese persönlichen Neigungen in dem anderen Fall sind (in beiden Fällen) nicht der Grund der philosophischen Zuwendung zu den Gebieten und Aspekten der Kunst. Ich nenne zunächst den Grundzug dieser Zuwendung bei Plato und Hegel, danach die scheinbare Korrektur dieser Ausgangsbeispiele: im einen Fall durch Aristoteles, im anderen durch Schelling, um daran noch einen Hinweis auf Kant und auf Nietzsche anzuknüpfen. Unter den sehr vielartigen, sehr verschieden wichtigen Zuwendungen Platos zur Kunst seiner Zeit und zu der von ihm hoch gepriesenen Kultur des alten Ägypten, wie man sie von Herodot und aus zeitgenössischen Zeugnissen kannte, nimmt doch – sowohl in dem philosophischen Rang, den ihr Plato selber zuteilt, wie der philosophiegeschichtlichen Wirkung – die Ablehnung der Kunst im letzten Buch der Politeia den bedeutendsten Rang ein (zumindest den philosophisch bedeutendsten; für das philosophische Kunstverständnis kommt der späteren Deutung von Kunst, der Musik zumal, in den Nomoi, den Gesetzen, ein eigenes Gewicht zu). Die Politeia, dieses Hauptwerk Platos, seine Lehre von der Wahrheit des Seins: dem Eidos, der Idea, ebenso wie seine Lehre von dem Maßstab und der Verfassung des Handelns, des menschlichen Daseins: der Polis, schließt damit, daß die »Kunst« (Plato zielt dabei ab auf die Dichtung: auf die bisherige staatsgründende Rolle des großen Epos ebenso wie auf die bisherige – in den Dionysos-Festen jedes Frühjahr stattfindende – staatserneuernde Rolle der Tragödie) aus dem Staat verbannt wird. Und aus welchem Staat wird sie verbannt: aus eben dem, den diese Schrift, die Politeia, propagiert: dem Staat der »Philosophen«. Gemeint ist damit nicht, daß die professionellen Politiker durch PhilosophieProfessoren abgelöst werden sollten, sondern daß der bisherige Maßstab, der bisherige Horizont der Orientierung durch einen neuen ersetzt werden sollte. Und das ist nicht der uns gewohnte Gegensatz von Tat und Gedanke oder von pragmatisch und akademisch, sondern der von zwei verschiedenen Arten des Wissens: derjenigen, die sich im Raum der Über23 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Erstes Kapitel
lieferung bewegt und darin Altes erneuert und Neues hervorbringt (so wie beispielsweise Sophokles im Verhältnis zu Homer, oder Phidias im Verhältnis zur Archaik). Im Gegensatz zu dieser historischen Orientierung steht ein solches Wissen, das nur die eigene Begründung zuläßt, als wahr nur annimmt, was sich als wahr auch ausweisen lässt. Dieses Sich-selbst-Vergewissern, dieses Erklären-können, was gut und was nicht gut, was der Polis dienlich ist und was ihr schädlich ist: das kann der Dichter nicht (der ist auf seine göttliche Inspiration angewiesen, um etwas zu sehen und zu sagen). Das Gewußte begründen zu können, den Schein vom Wahren, den Wandel von der Dauer unterscheiden zu können. Das ist die Auszeichnung des Philosophen im Gegensatz zum Dichter. Dieser Gegensatz hat nichts mit der modernen Unterscheidung von Wissen und »Glauben« zu tun (unseren Begriff des »Glaubens« kannten die Griechen nicht), und noch viel weniger mit dem Unterschied von Ideologie und Empirie. Auf die Götter oder das Göttliche beruft sich Plato mit demselben Enthusiasmus wie die alten Dichter. Aber nach seiner Überzeugung kann der Dichter (in seinem TraumZustand) gerade nicht wissen, wo das Zeugnis der göttlichen Wahrheit aufhört und die Götter durch seine Schuld vermenschlicht werden, z. B. wie dies Plato der Ilias vorwirft, in menschliche Eitelkeit und menschlichen Zank herabgezogen werden. Um zu einer wirklich guten Polis, um zu der besten Form menschlichen Zusammenlebens gelangen zu können, muß der Orientierungsstatus des Dichters durch den des Philosophen ersetzt werden. Diese platonische Forderung sieht Hegel als in seiner Zeit erfüllt an: Auch hier versteht man alles falsch, wenn man bei Hegels Rede von der Erkenntnis des Absoluten und der Erfüllung der Politik (des Staates als der Verwirklichung des »Geistes« durch die Philosophie) an den akademischen Berufsstand des Philosophielehrers (oder überhaupt an die Privatperson »Hegel« mit allen ihren Schwächen) denkt. Der Name »Philosophie« meint das verantwortliche, das sich selbst zur Rechenschaft auffordernde und diese Rechenschaft leistende Wissen, die das Wesen des Wissens praktizierende höchste Form des Wissens: das absolute Selbstbewußtsein, das Hegel mit dem Namen »Wissenschaft« meint. Das ist keine »Theorie«, die der Praxis hintennach läuft, sondern es ist genauso die Einheit von Theorie und Praxis, wie es die Einheit von Subjekt und Objekt oder die Einheit von Geist und Staat ist. Erfüllt 24 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Unterschiede im Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst
ist diese Einheit natürlich auch jetzt noch nicht im Einzelnen, sie ist noch nicht in Wirklichkeit erlangt. Die gegenwärtige Wirklichkeit ist noch durch Widersprüche (z. B. zwischen partikularer Detail-Erkenntnis und philosophischer Logik oder zwischen bürgerlicher Moral und staatlichen Gesetzen) geprägt. Aber diese Widersprüche sind als solche schon gedacht, und das heißt: sie stehen jetzt auf dem letzten Stück des Weges zur Versöhnung. Diese von der Wissenschaft geprägte Gangart ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre eigene Entstehung in sich aufnimmt. Für Hegel ist das einerseits die Geschichte der Philosophie selbst seit Plato, andererseits die Weltgeschichte seit dem Christentum: Beides ist die eigene Geschichte, die sich jetzt – als Wissenschaft – erfüllt. Sie zu begreifen, sie zu erkennen, heißt, in ihr die Überwindung des vorausgegangenen Weltzeitalters zu erkennen: die Überwindung desjenigen Zeitalters, das Hegel geprägt sieht durch die, wie er es nennt und versteht, »Kunstreligion«, mit der er die vorplatonische (und die Platos Umgebung noch prägende) Epoche des alten Griechenland meint. Man mißversteht die grandiose und auf einer überwältigenden Fülle an Detail-Gehalt und oft auch (z. B. im Falle Homers oder dem Beginn des Romans am Ende des Mittelalters: der Artussage) auf genauer Detail-Erfahrung aufgebaute »Ästhetik« Hegels, wenn man sie so ähnlich liest wie sein Schüler, der Tübinger Philosophie-Professor Fr. Th. Vischer, seine (fünf dicke Bände umfassende) »Ästhetik« gelesen haben wollte: seht her, was sich »philosophisch« alles über die Schönheit und die Kunst zusammentragen läßt! Hegels »Ästhetik« ist, mit der Verifizierung ihres Grund-Satzes »Das Schöne ist das sinnliche Scheinen des Absoluten«, die Realisierung ihres Ziel-Satzes »Die Kunst ist nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes«. Die Wissenschaft von der Kunst (die »Ästhetik«) ist notwendig, um dieses Vergangensein nicht nur nachzuweisen, sondern überhaupt erst zu vollenden. Erst durch die Wissenschaft, erst durch die »Ästhetik«, wird das Vergangensein – in der Analyse der Entstehung und des Wandels, in der Analyse der Entwicklung – als die notwendige Konsequenz, der gesetzliche Verlauf eines Prozesses auch durchschaubar, auch entscheidbar. Und dazu gehört das Pathos der Passagen, die – im Namen der »Klassik« – in Erinnerung rufen, wie hoch die höchste Bestimmung der Kunst einstmals gewesen war. Philosophie und Kunst: das ist bei Plato wie bei Hegel – bei Plato 25 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Erstes Kapitel
als Postulat, bei Hegel als Diagnose – die Verabschiedung der Kunst durch die Philosophie. Daß Hegels Vergangenheitsthese eine Diagnose ist, zeigt das historische Faktum. Der preußische Militärstaat, der französische Zentralismus in Wissenschaft und Verwaltung, das englische System der Industriegesellschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, haben in der Tat kein Bedürfnis mehr nach Kunst. Das Pseudo-Bedürfnis der Wirklichkeits-Verkleidung durch Kunst im 19. Jahrhundert, des Lebens-Ersatzes durch Kunst im 20. Jahrhundert (»Bildung« statt Tradition, »Kreativität« statt Sensibilität) beweist nur das historische Recht von Hegels Vergangenheitsthese. Wird Plato aber – auch wenn er selber schon utopisch-prophetisch im Recht gewesen sein mag – nicht doch für sein Zeitalter durch den Schüler Aristoteles widerlegt? Wie ist der hohe Rang der WahrheitsDeutung, die Aristoteles dem Epos, der hohe Rang der Wahrheits-Findung, die er dem Drama zuspricht, mit der Dichterkritik der Politeia vereinbar, ist das nicht eher das Gegenteil? Zur Antwort darauf muß man auf die – äußerlich unscheinbare, strukturell jedoch tiefgreifende – Veränderung verweisen, die sich genau in der Zeit abspielt, die die Generation des Aristoteles von der seines Lehrers Plato trennt, also auf den Wandel am Ende des 4. Jahrhunderts. Der Reichtum, der Umfang an Kunstproduktion nimmt seitdem – in der Spätklassik und im Hellenismus – vielleicht sogar noch zu. Die große Tragödie aber ist zu Ende. Die Welt, in der die griechische Kunst ihr Lebenselement hatte, die wirkliche Polisvielfalt (nicht die von Plato erdachte Polis-Idee) begann in dem machtpolitischen Einheitsprinzip und Expansionsdrang des makedonischen Königreiches, von dem Aristoteles ja auch herkam, unterzugehen. Achtet man nicht allein auf die damals noch gleichbleibenden Fakten, sondern auf die veränderte Kunst- und Welt-Struktur, dann ist es keine übertriebene Behauptung, wenn man sagt: Die Kunst, von deren Lebens-, deren Staats-prägender Kraft Plato noch – in und mit allen Krisenzeichen – unmittelbar berührt war, war für Aristoteles – genauso wie dann für Hegel – Vergangenheit. Seine großen, unersetzbaren Deutungen von Epos und Drama sind selber schon Erinnerung. Und die ist ohne Zweifel in ihrer Ver-klärung, in ihrem Zeigen des einstigen Glanzes, des einstigen Welt-Gehaltes, eine Antithese zur Relativierung der Kunst bei seinem Lehrer, der sich noch dem Andrang ihrer Wirkung, ihrer öffentlichen Wirkung, unmittelbar zu erwehren hatte. 26 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Unterschiede im Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst
Aristoteles ist eben darum kein Einwand gegen Platos Kunst-Kritik, weil es – eine Generation nach Plato – der Glanz der alten, der vergangenen griechischen Kunst, vor allem: der attischen Tragödie und – wie noch nach dem 8. Buch von Aristoteles’ Politik – der Grundzug der alt-griechischen Musiké ist, was er in Erinnerung ruft. Diese Deutung der Vergangenheit ist kein Einwand gegen Platos Utopie der Zukunft. – Bei Hegel verbindet sich beides in einer Person: Die moderne, die »romantische« Kunst ist – genau besehen – nur der große Abgesang der Kunst. »Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.« (Eine Formulierung aus dem Ende der Einleitung zum Ersten Teil von Hegels »Ästhetik«.) Um diesen Satz in seinem Sinn und seinem Recht plausibel zu machen, muß Hegel das Vergangene selbst, jene einstmals »höchste Weise«, in ihrer Höhe zeigen. Das tut Hegels großer, für Viele eindrucksvoller (und im übrigen noch längst nicht zureichend verstandener) Hymnus auf die Plastik, das Epos und die Tragödie der Griechen, deren Kunst er als »klassisch« begreift; und womit er nicht die Form allein, sondern deren Zusammenhang mit der geschichtlichen, mit der religiösen und politischen Wirklichkeit meint. Vor diesem weltgeschichtlichen Realismus Hegels scheint nun der »Romantizismus« Schellings und der »Formalismus« Kants zu verblassen. Ob dieser Eindruck zu recht besteht: Kant ohne den geschichtlichen Gehalt der Kunst wie Hegel, Schelling ohne die aktuelle Nüchternheit Hegels, das brauche ich jetzt noch nicht zu entscheiden. Was jetzt zu erwägen ist: das ist die Frage, wieweit das philosophische Motiv der Zuwendung zur Kunst bei Hegel mit dem seiner Vorgänger Kant und Schelling vergleichbar ist. Von einem Konflikt zwischen Philosophie und Kunst scheint doch bei Kant und Schelling keine Rede zu sein. Auf diesen Schein läßt sich sogleich eine Antwort geben. Bei Plato und bei Hegel – also dem Beginn und der Vollendung der eigenen Klassik der Philosophie (der Metaphysik) – besteht das Interesse der Philosophie an der Kunst darin, sich von ihrem eigentlichen Gegner zu befreien. Für Plato wie für Hegel erweist sich die Kunst als der Antipode dessen, was sie selber suchen oder selber wollen (und das erst recht bei aller geheimen, inneren Verwandtschaft). Dieses antipodische Verhältnis wird keineswegs verlassen, es wird sogar noch unterstrichen, wenn man darauf achtet, was bei Kant und Schelling den Grund der Zuwendung zur Kunst ausmacht. Kant gelangt vor das Phänomen des Schönen und der Kunst 27 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Erstes Kapitel
(zugleich wie auch vor das der lebendigen Natur) mit der Frage, was sich eigentlich zwischen dem Subjekt, das urteilt (worüber die Kritik der praktischen Vernunft gehandelt hatte), und dem Objekt, das beurteilt wird (wovon die Kritik der reinen Vernunft gehandelt hatte), abspielt, – mit der Frage also, was es eigentlich mit dem merkwürdigen »Zwischen« für eine Bewandtnis hat, wodurch also überhaupt eine Verbindung zwischen Mensch und Dingen möglich ist. Und dabei sind ihm die beiden Phänomene: die lebendige Natur und die ›schönen Künste‹, aus dem gleichen Grund maßstabgebend, aus dem sie sich – wie Kant selbst erklärt – dem Schema der Logik, dem Anspruch ›wissenschaftlicher‹ Analyse und Synthese entziehen. Kants Kritik der Urteilskraft ist selbst – im Unterschied zu den beiden (ein Dezennium früher entstandenen) Gründungstaten seines »kritischen Geschäfts« – die erste große Tat einer philosophischen Selbstbegrenzung. Und wenn Schelling seine Aufnahme der Kunst in die Philosophie mit der Erklärung motiviert: Die Kunst sei das Organon der Philosophie, so hat er damit erstens: der Kunst denjenigen Status für die Philosophie zugewiesen, den sonst – seit Aristoteles – die Logik einnahm, und zweitens: diesen Organon-Status einem Sachbereich zugesprochen, der selbst etwas anderes ist als die Philosophie. Schelling macht mit der Konsequenz von Kants dritter Kritik Ernst, indem er den logisch-dialektischen Absolutheitsanspruch der europäischen Philosophie aufgibt und die Philosophie in einem substanziellen Sinn überhaupt begrenzt. Für ihn kann Philosophie in ihrem Verhältnis zur Kunst, in seinem späteren Werk: in ihrem Verhältnis zur Geschichte, nur noch als Faktor oder Pol in einem Kommunikationsbezug Sinn haben. Dieser Zwiespalt im Verhältnis zwischen »Kunst« und »Philosophie« verliert den mit dem Namen »Philosophie« für uns verbundenen Anschein der Unverbindlichkeit: der Unverbindlichkeit des bloß noch »Antiquarischen«, wenn man sich klar macht, was in diesem Zusammenhang »Philosophie« heißt: Der nach Kants Kritik der Urteilskraft und Schellings Frühwerk von der Erfahrung des Schönen, von der Bildung der Kunst begrenzte logisch-mathematische Grundzug der europäischen Philosophie macht jetzt das Schema der modernen Technik aus. Die »Philosophie« braucht als eine eigene ›Weltmacht‹, wie sie das bis zu Hegels Tod war, nicht mehr selber in Erscheinung zu treten (sie kann sich von den Einzel-Wissenschaften ablösen lassen), weil sie 28 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Unterschiede im Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst
sich – wie Hegel sah – in der geschichtlichen Wirklichkeit, in dem wissenschaftlichen – modern gesprochen: digitalen – Gepräge der Wirklichkeit, realisiert hat. Die Frage, die sich für einen Blick, der sich auf Hegel und zugleich auf Kant und Schelling richtet, erhebt, ist die, ob dieser Agon, dieser »Streit zwischen Philosophie und Kunst« (wie Plato ihn schon verstanden hatte) nur die Lösung Hegels zuläßt, wonach das Eine durch das Andere ersetzt werden muß, oder aber auch die Möglichkeit des späteren Kant und des frühen Schelling zuläßt, wonach das Eine das Andere braucht, der platonisch-neuzeitliche Fundierungsanspruch im Selbstverständnis von Philosophie als Wissenschaft zu einem – der Kunst, der Schönheit selber analogen – Begrenzungsanspruch im Denken selbst verwandelt würde. Diese Frage schien zu Hegels Zeit und auch noch hundert Jahre nach ihm zu seinen Gunsten entschieden zu sein: Der Anspruch dessen, was Hegel Wissenschaft nannte – das absolute Selbstbewußtsein in der Realisierung der absoluten Selbstbestimmung – war ja gerade dort zu epochaler – und bald auch zu globaler – Legitimation gelangt, wo er zwar den alten Namen »Philosophie« abgelegt hatte, aber doch nur, um den alten Willen einer von der Vernunft durchschauten, und d. h. einer von ihr selbst erzeugten Welt erst eigentlich ins Werk zu setzen, in eben jener, von Erfolg zu Erfolg, in ständig steigernder Verifikation fortschreitenden Umwandlung der Welt durch das Prinzip des absoluten Selbstbewußtseins, der Kooperation von technischem Fortschritt und Wachstum der Macht. Diesem Legitimations-Beweis des alten Glaubens an die SelbstBegründung durch den Erfolg hat Nietzsche die These gegenübergestellt, daß darin eben auch selber nur ein Glaube an den Erfolg am Werk sei, aber keineswegs seine Wahrheit. Und dieser These hat er die andere These hinzugefügt: »Das Problem der Wissenschaft könne nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden«. Man müsse erst von diesem Boden der »Erkenntnis« zurücktreten, um ihn selber noch erkennen zu können (›Geburt der Tragödie‹, KGW III-1,7). Zu dieser Art von ›Rück-Schritt‹, zu dieser Art von Rück-Tritt könne die Kunst eine Hilfestellung geben. Ein Rückschritt also, der gerade dem dient, was er scheinbar verdunkelt: der Erkenntnis, – und der gerade dort einen Ausweg ins Freie öffnet, wo das neuzeitliche Fortschrittspathos sich in sich selbst verrannt hat. – Dazu gehört auch die Konzentration auf das Prinzip der »Energie« als Weltsubstanz und 29 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Erstes Kapitel
Weltsubjekt, das die Weltmacht der Energie, die Kernenergie, freigelegt hat. Diese beiden Titanenschwestern: Energie als Sich-Erhalten im Sich-Steigern (verstanden als höchstes Prinzip, dem Maßstab menschlichen Handelns) und Energie als Substanz der Materie (verstanden als letzter Grund der Natur) sind jetzt dabei, sich wechselseitig selber aufzuheben.
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Zweites Kapitel Unterschiede der Zugangsweisen zur Kunst
(Vorbemerkung) Innerhalb des akademischen Fachbereichs ›Philosophie‹ braucht die Beschäftigung mit dem Fachgebiet ›Ästhetik‹ – historisch oder aktuell, kritisch oder systematisch – keine Legitimation. Wozu aber lohnt sich, um der Sache, also der Kunsterfahrung, des Umgangs mit den Künsten willen, eine Erörterung der dabei gebrauchten, der dabei leitenden Vorstellungen von Kunst? Erörtern besagt hier: die Vorgaben hervorzuheben, die mehr oder weniger unbefragt den verschiedenen Arten und Weisen des Umgangs zu Grunde liegen, um damit in der Verschiedenartigkeit eine Orientierung zu gewinnen. ›Erörtern‹ also als Aufsuchen, Aufzeichnen der Karte innerhalb des ›Hauses‹ (des oikos) der Kunst-Welt: Zugänge im Stehen vor –, im Gehen mit – oder auch: im Selber-Treiben von Kunst. Eine unterschwellige Vorgabe leitet schon den – neueren – Gebrauch des Namens »Kunst«: zwar für alle »schönen Künste« geltend, klingt er doch, im unreflektierten Brauch, nach dem Muster des Bildes, des Gemäldes. Erst im ausdrücklichen Bedenken, z. B. im Rückbezug beim Umgang mit anderen Künsten, Musik oder »schöner Literatur«, könnte die Fraglichkeit jener Ausgangsvorgabe spürbar werden – wenn diese eben nicht so fraglos am Werke wäre: »Was für ein Bild hatte der Autor vom Ganzen seines Dramas?« »Was wird in dieser Symphonie dargestellt?« Würde aber eine Erweiterung der Vorgaben an Hand andersartiger Felder (Lektüre, Konzertsaal) gegenüber dem Museum (dem »Bildwerk«) genügen? Oder müßte – mit oder ohne einen solchen Anstoß – nicht bereits die generelle Orientierung am »Bild«, auch im Hinblick auf die Bilder selber, zur Frage werden? Das ist Schellings Frage, Ausgang und Grundlage seiner Rede »Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur« am 12. Oktober 1807, dem Namenstag des neuen Bayernkönigs Ludwig I., in München. Schellings Antwort: auch das Bild, jedenfalls als große Kunst, ist 31 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Zweites Kapitel
nicht nur Wiedergabe von Wirklichkeit oder Erdachtem, vielmehr gerade insofern ein Fall von Kunst, daß es selber etwas gibt: nämlich, wie er das formuliert: so etwas wie »Begriffe«. Und er denkt dabei an die Anfänge der großen ›Bildkunst‹, der figürlichen Plastik an und vor den Tempeln im alten Griechenland und deren Verwandtschaft mit dem Anfang der großen Epen bei Homer: die ja selber für die griechische Welt Epochen-stiftend waren, also selber als eigener Anfang auch Anfang-gebend. Schelling kann schon hier als Zeichen gelten, wo es um die Verschiedenartigkeit der Zugänge zur Kunst im menschlichen Leben (noch unabhängig von philosophischer Reflexion) geht. In seiner Distanz vom ästhetischen Maß des Bildens als Nachbilden oder Ausdrücken spricht sich seine und seiner Tübinger Freunde Orientierung an Winckelmann aus: die griechische »Kunst«: die epochale Stiftung von Freiheit – für Schelling gelesen zusammen mit den damaligen (um 1790) in Tübingen aus Paris eintreffenden Nachrichten. Beides im Rahmen ihrer, dieser Studenten, Bestreben, das Studium der altgriechischen Kultur mit dem Geist des Alten und Neuen Testaments zu versöhnen, konzentriert bei Homer dort, in den Psalmen und ihrem Lieblingsevangelisten Johannes hier. Am Anfang der Logos, am Anfang die Ordnung des Chaos. (Winckelmanns eigene Zeitgebundenheit in seinem geschichtlichen Entwicklungsschema: die »primitiven« Anfänge seien nur Vorbereitung auf die »klassische« Blüte, mußte Schelling ablehnen.) Zwischen einer Vorgabe wie der von Kunst als äußerer oder innerer Wiedergabe, und einem solchen Paradigma wie der des »Begriffe«(des Orientierung-) Stiftens besteht ein Unterschied wie – beispielsweise – innerhalb der Zugänge zur Natur zwischen Erlebnis und Element. Das Erlebnis muß nicht falsch sein, aber es wird falsch, wenn es, wie das »Bild« in der ästhetischen Theorie, zum Maßstab der Sache wird. Die Elemente sind insofern »Konstanten«, als sie dem jeweiligen Gefüge der Erscheinung zugrunde liegen. Auf solche elementaren Sachverhalte, Prototypen von Kunst im Hinblick auf deren Unterschiedlichkeit, hinzuweisen, ist hier beabsichtigt. (Ob das, wie hier, gerade drei sein müssen, kann dabei offenbleiben, wenn nur die »elementare« Verschiedenartigkeit überhaupt dabei einleuchtet.)
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Unterschiede der Zugangsweisen zur Kunst
(A) Allen dreien dieser Prototypen ist gemeinsam, daß sie in ihrer wechselseitigen Beziehung sowohl Akzente des Widerstreits als auch der Ergänzung aufweisen. Das Feld der bildenden Künste, in der »Bild«-Vorgabe vertreten durch Malerei (auch die Plastik wird ja generell nicht als »Plastik«, sondern als »Bildwerk«, Arbeit des »Bildhauers« aufgefaßt), ist mental verkörpert in den öffentlichen und privaten Kunstsammlungen und Ausstellungen; Inbegriff: das Museum (obwohl dazu auch Sammlungen außerkünstlerischer Natur oder zumindest mit außerkünstlerischer Dominanz gehören, wie z. B. in München das »Deutsche Museum«). Der Wortsinn, Namensklang »Museum« prägt den Gebrauch von Kunst in Reden wie von den »Kunstschätzen« etwa in Dresden oder Florenz, oder dem »Kunstreichtum«. Mit »Kunst am Bau« sind graphische, malerische und plastische Werke (Zeichen) der »Bildhauerkunst« gemeint. Dieser Museums-Charakter, hier wertfrei gebraucht (»antik«, »alt«, »modern«, »die Moderne vorbereitend«), ist ein Grundzug aller in einem Museum aufgestellten oder angebracht werden könnenden Kunst. Ihr entspricht, im Umgang, das dominierende Zugangsmotiv der Bildung. Ganz anders die »Dichtkunst« (die »schöne Literatur«). Hier ist der Grundzug der Begegnung nicht das Wahrnehmen von Aufgestelltem, sondern das Angezogenwerden (im Guten wie im Schlimmen) von Bewegendem, paradigmatisch: im Schauspiel (im »Drama«), neuerdings auch: im künstlerischen Film. Daß man auch mit einem musealen Bildungsinteresse ins Theater (ins Kino) gehen kann, ist ein sekundäres Motiv zum primären »Ereignis« der Aktion. Dieses primäre Motiv im Zugang zur Poesie gilt auch für das Lesen, – das im Falle von Dichtung einstmals ein Derivat des Gesprochen-, des Gesungen-, des Gespieltwerdens war. »Kunst« im Falle von bildender Kunst: Gegenstand von Bildung (Bildung in der Bedeutung von produktivem Bilden, »Schaffen«, wie des rezeptiven Sich-Bildens); im Falle der schönen Literatur: Subjekt von Handlung (mit dem in diesem Fall typischen Grenzfall der Erziehung). Ein ganz anderer Grundzug des Wahrnehmens, Aufnehmens zeichnet die »Tonkunst« aus. Zwei Aufnahmeweisen: Oper, Konzert, in der Kirche die Begleitung der Messe einerseits, das selber Singen und selber (Mit-)Musizieren (in der Kirche: die von allen gesungenen, 33 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Zweites Kapitel
gegebenenfalls mitgesungenen Choräle) andererseits. Also das Hören in einem, das Singen und Spielen im anderen Fall. Im Unterschied zum Paradigma der Bildung im erstgenannten Feld der Kunst, zum Paradigma der Handlung (Erziehung) im zweiten, möchte ich hier (trotz des abfälligen Klangs im modernen Namensgebrauch) für die beiden Seiten der Musik den Ausdruck Genuß gebrauchen. Von Haus aus dominierte in diesem Substantiv dieselbe Bedeutung, die für uns auch noch im verbalen Gebrauch mitklingt. »Genießen«: etwas wohltuend zu eigen haben, das Wohlgefühl, Erstrebtes ergreifen zu können. (Vgl. Friedrich Kluge, Ethymologisches Wörterbuch, 1975, S. 248.) Genuß also als ein Name für die Auszeichnung der Erfahrung von Musik als des jeweiligen Vollzugs dieser Sache. (Auch der Partitur-Leser hört doch das Geschriebene, Gedruckte.) (B) Diese Unterteilung in Prototypen läßt sich auf eine kategoriale Unterscheidung hin zuspitzen. Im Falle des Typus Museum die Orientierung im Rahmen der Überlieferung, der generelle Zug der Bewahrung, die Zuwendung zur Vergangenheit. (›Moderne Kunst‹ als Ausstellungs-, als Sammlungstitel – das sagt schon der Name: ein Sonderfall der prinzipiell »historischen« Vorstellung von Kunst.) Den Grundcharakter dieser Konzeption von Kunst kann man in der Gestalt einer gesteigerten, maximalen Verfassung von Bewahrung als das Merkmal der Monumentalität ausmachen: »Kunst« mit der lokalen Bestimmung des Museums, in der idealen Gestalt des Monuments. (Das gilt auch von so minimalen Gebilden wie den griechischen Münzen aus der Mitte des 5. Jahrhunderts oder, zum Beispiel, von dem von Jacob Burckhardt hoch geschätzten »Salzfaß«, dem 23 cm hohen Tischaufsatz Benvenuto Cellinis im Kunsthistorischen Museum Wien von 1540.) Im Falle der »schönen Literatur« mit deren Prototyp des Theaters (des Schauspiels) läßt sich als kategorialer Grundzug das Merkmal der Handlung (in der griechischen Wortbedeutung von drama) begreifen, und damit von Haus aus der Anspruch auf Veränderung. (Der im Gang der Handlung bewegende Zug der Veränderung gehört ja in der künstlerischen Gestaltung auch den »klassischen« Dramen Schillers zu, ebenso wie Wagners »Ring« oder den »Meistersingern«.) Im Falle der Musik dominiert der Akt des Spielens, der Akt des Hörens. Es steht hier, mit alter wie zeitgenössischer Musik, mit dem Volkslied wie dem Kinderlied weder das Aufnehmen von Überliefer34 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Unterschiede der Zugangsweisen zur Kunst
tem noch die Bewegung vom Einen zum Anderen im Mittelpunkt, sondern das Spielen um des Spielens willen, die Präsenz von Schönem um dieses »Daseins« willen. (Angelus Silesius’ Rose: »… sie blühet, weil sie blühet …«, Cherubinischer Wandersmann, Erstes Buch, Nr. 289, Reclam 1984, S. 69.) In diesem Sachverhalt des Vollzugs – nicht seiner Entstellung in der Verschleierung oder der Suspendierung von Gesolltem oder Verlangtem – kann hier dem Monument und dem Drama das Merkmal des Schmucks gegenübergestellt werden. (C) Die verschiedenartigen Verfassungen (Merkmale) in unseren Zugängen zu – und Umgängen mit Kunst stehen, so wie jetzt erst einmal hervorgehoben, konträr zueinander: Bildung, Erziehung, Genuß; Monument, Drama, Schmuck; Bewahrung, Veränderung, Vollzug. Was dieser Lage gegenüber ein erneutes Studium der Fragen bringen kann, die sich einigen Philosophen im Zusammenspiel von lebendiger Kunsterfahrung mit der Überlieferung philosophischer Generalthemen der Logik und Ethik gestellt haben, möchten die folgenden Kapitel zu Schelling, Nietzsche und Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ zu zeigen suchen. Diese Versuche vorwegnehmend läßt sich die Liste der Zugangsvielfalt (in anderer Verteilung) um eine dritte Spalte: die Frage-Wege und deren Horizonte erweitern. I Das Kunstwerk (mit dem Prototyp der Malerei): das Problem der mimesis. Wie reimen sich »Schein« und »Wahrheit«? II Der Künstler (mit dem Prototyp des Dichters, des Schriftstellers): das Problem der poiesis. Wie ist der Anspruch (oder das Ideal) des »Schöpferischen« vereinbar mit dem Sachverhalt geschichtlichen Wandels? III Das selber künstlerische (nicht nur handwerkliche oder technische) Tätigsein, wie im Singen und Musizieren oder Tanzen: das Problem der musike. Wie kann die autarke Verfassung des Schönen (das Spiel der Sprache als Gesang) mit der Genese der Welt zusammenhängen?
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Zweites Kapitel
Zugangsweisen (Prototypen) Art
A Prototypen
I MUSEUM Bildende Künste (Malerei)
II Literatur (Dichtung)
B Merkmale
MONUMENT
Gegenstand von BILDUNG
Bewahrung von Wirklichkeit
THEATER (Schauspiel, Film)
DRAMA
Subjekt von HANDLUNG
Veränderung von Wirklichkeit
C Fragen/ Horizonte (Kunstwerk) MIMESIS
Schein ~ Wahrheit (Künstler) POIESIS
Schöpfung ~ Geschichte
(Indikator von Erziehung) III Musik (Tanz)
GESANG (Musizieren)
SCHMUCK
Vermittlung von GENUSS
Erzeugung von Seiendem
(Teilnehmer) MUSIKE
Schönheit (Spiel) ~ Welt
in Steigerung oder Suspendierung, in Verklärung oder Verschleierung
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Drittes Kapitel »Schöpfung« und Geschichte. Zu Schellings Vortrag »Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur« von 1807
Einleitung I
Schellings Kunsterfahrung
Der Münchner Vortrag ›Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur‹ handelt seinem Sachgebiet nach von der Malerei und der Bildhauerei. In diesem wörtlichen Sinn von »bilden« ist der Titel »bildende Künste« zu verstehen, an die Architektur ist dabei nicht ausdrücklich gedacht. Und sein Problem ist der Begriff der Nachahmung, also die für die bildenden Künste in ihrer Praxis seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Herrschaft gelangte Kunstdoktrin und in der Ästhetik für genau weitere 100 Jahre (nämlich bis zum Beginn der modernen Kunst in den Jahren zwischen 1905 und 1907) maßgeblich gebliebene Kunstkategorie. Schelling entwickelt die Frage, indem er die Nachahmungsdoktrin der bildenden Künste in Bezug setzt zu dem Autonomiegedanken, den die Kunsttheorie und Kunstphilosophie kurz vor ihm am Vorbild der Dichtung in die Diskussion gebracht hatte. Danach ist das Grundelement der Kunst die Einbildungskraft, also die schöpferische Phantasie. Im Anschluß besonders an englische Vorbilder ist dieser Gedanke die epochemachende Tat Kants, also die 1790, genau zu Beginn von Schellings (Hegels und Hölderlins) Tübinger Studienzeit erschienene ›Kritik der Urteilskraft‹. Die Wirkung dieses Buchs in der Ausbildung dessen, was man die »deutsche Klassik« und den großen Anfang der »Romantik« nennt, verfolgte Schelling, indem er in eigener sachlicher und persönlicher Verbindung mit Goethe und Schiller einerseits, in Freundschaft mit den beiden Schlegels andererseits, daran selbst beteiligt war. Schelling nahm in diesem Münchner Vortrag von 1807, in diesem damals zur Hochburg des Klassizismus in Deutschland avancierten 37 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
neuen Kunstzentrum, einen Konflikt auf, der zwar sozusagen in der Luft lag, aber von den beiden Polen, die ihn bildeten, jeweils durch Verharmlosung des Gegenpols verschleiert wurde: Die Dichter, die Vertreter des »Schöpferischen« in der Kunst (bis zu einem gewissen Grade auch die Musiker), hatten von vornherein nur mit der eigenen, der »hervorbringenden« Natur des Menschen selbst zu tun. (Der Naturforscher und Italienreisende Goethe machte da eine Ausnahme.) – Und die Maler hatten es bei der für ihr Metier entscheidend gewordenen Frage: wonach sich die Schulung in der bildenden Wiedergabe von Bildern (Porträt, Landschaft, Geschichte, Mythologie) zu richten habe, von vornherein nur mit etwas immer schon Vorgegebenen zu tun: – sei es der natürlichen Natur, der unmittelbar sichtbaren Welt in der Form von Landschaften, Stilleben, Porträts und historischen Begebenheiten, oder aber einer künstlerisch vorgegebenen, einer selber schon vorbildlich gestalteten »Natur«, der mythologisch oder poetisch erhöhten Natur in Gestalt der alten (griechischen, römischen oder italienischen) »Klassiker«. Es gab für die Theorie der bildenden Künste nur den Streit, welche Art von Nachahmung die bessere sei: die Nachahmung der »Natur« oder die Nachahmung der »Antike«. Und »Antike« hieß dabei, geläuterte, geklärte, kurz gesagt: humanistische »Natur«. Die klassizistische Vorbildlichkeit der Antike, das ist ja nicht die beliebige Entscheidung für eine bestimmte »Stil«-Art, sondern die Entscheidung dafür, sich die höchsten, die reinsten Ausprägungen von Naturwahrheit, die es innerhalb der Kunst gibt, zum Muster zu nehmen. (Und dabei ist der höchste, maßgebende Wirklichkeitsbereich die menschliche Gestalt.) Diese Gemeinsamkeit der unter sich im Streit befindlichen Positionen der bildenden Kunst um 1800, des (mit dem Rationalismus verbundenen) Naturalismus und des (mit dem Aufkommen des historischen Bewußtseins verschwisterten) Klassizismus, kann man sich klar machen aus der gemeinschaftlichen Ablehnung dessen, was man damals im Ton des verwerflichsten Übels »Barock« nannte. (Das spanische Wort hatte ursprünglich den Sinn »unregelmäßige Perlen«, im 18. Jahrhundert die Bedeutung gewonnen »sonderbar«, »verrückt«.) Diese unmittelbar vorausgehende Kunst, die noch weithin bestehende, sozusagen etablierte Art von Kunst, galt 1. als »unnatürlich«: barock = schwülstig, überladen (so wie für manche Leute heute noch), und 2. auch als un-künstlerisch, nämlich die Wahrheit des Menschen, die Natur des Menschen gewaltsam verändernd und verkleidend. In beiden 38 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schöpfung« und Geschichte
Fällen also, der uns umgebenden Natur wie der uns überlieferten Antike gegenüber, als eine Verfremdung der Natur. In dieser Befreiung von einer im Verlauf des 18. Jahrhunderts in der Tat zu einer Sanktionierung bestehender Herrschaftsverhältnisse gewordenen Art von Kunst, in dieser Kritik am Normierenden, Bedrückenden, beruht der Zusammenhang von Winckelmanns Verehrung der alten Griechen mit der gleichzeitig im Gang befindlichen Vorbereitung der Französischen Revolution; in eine Formel gebracht: der Zusammenhang dieser deutschen Berufung auf die Antike mit Rousseaus Berufung auf die Natur. Schellings Angriff nun vierzig Jahre nach Winckelmann auf den Naturalismus und den Klassizismus – das Gemeinsame dieser feindlichen Brüder könnte man vielleicht als »Optizismus« kennzeichnen –, dieser Angriff wird zugleich auch ein Angriff auf den poetologischen Geniebegriff, der Vorstellung also von Kunst als einer »Schöpfung«: nämlich ein Phantasieprodukt herstellen. Man könnte diesen (an der Poetik orientierten) Begriff von Kunst – im Unterschied zu dem des Optizismus – Kreativismus nennen. Der Optizismus hat sein Manko in Platos altem Einwand: wozu brauche ich außer der Wirklichkeit selbst noch ein »Bild«, eine Nachahmung, eine Spiegelung von eben dieser Wirklichkeit? Der Kreativismus hat sein Manko darin, daß er um den Preis der Relevanz erkauft ist. Während in Frankreich Geschichte gemacht wird, werden in Deutschland Gedichte gemacht. Das Schöpfertum der Kunst (der Dichtung, der Musik) ist so sehr »autonom«, daß sich außerhalb dieser Kunst-Welt niemand getroffen zu fühlen braucht. Mit Moral und mit Erkenntnis darf – wie Kant betont hat – das Genieprodukt nicht verwechselt werden. Schelling macht nun die Nachahmungstheorie in einer solchen Weise zum Problem, daß damit auch die Schöpfungstheorie korrigiert wird. Er stellt die Doktrin der Nachahmung in einer solchen Weise in Frage, daß auch der Ästhetizismus des Kreativitätsgedankens fraglich wird. Das Ausgangs- und Leitproblem der Rede also: das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur. Für den Leser ist da die erste Frage: wodurch kann sich der Philosoph Schelling überhaupt dazu berufen fühlen, ein solches Problem anzugehen? Es gibt eine sehr naheliegende Antwort darauf (sie reicht nur nicht zu), nämlich: Schellings großes Interesse an den bildenden Künsten. Schelling wurde bald nach dieser Rede, 1808, der erste General39 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
sekretär der neugegründeten Bayrischen Akademie der Künste. In dieser Eigenschaft war er an einer Kunsterwerbung Bayerns beteiligt, die seither das Glanzstück der Münchner Glyptothek ist: die Fragmente der Giebelfiguren des spätarchaischen Aphaia-Tempels von der Insel Aegina, die Aegineten. Sie waren 1812 unter abenteuerlichen Umständen zunächst (nach der Ausgrabung) nach Rom gekommen. Dort hatte der Würzburger Maler Martin Wagner, der mit Schelling bekannt war, eine Beschreibung der Fragmente gemacht, und diese Beschreibung wurde mit einem umfangreichen Kommentar von Schelling veröffentlicht, um für diese Erwerbung in der Öffentlichkeit Verständnis zu schaffen. (Aus dem sehr fragmentarischen Zustand, in dem diese Giebelgruppen erhalten waren, hatte man sie – dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend – vom berühmtesten Bildhauer der Zeit, Thorwaldsen, in Rom »ergänzen« lassen. Aus dieser Verkleidung sind sie – nach langem Streit – erst neuerdings wieder (1972) befreit worden und stellen nun das kostbarste Zeugnis einer griechischen Giebelkomposition dar, das es, neben den Parthenon-Fragmenten in London, außerhalb Griechenlands gibt. Der Erbauer der Münchner Glyptothek, der große Klassizismus-Baumeister Münchens, Leo von Klenze, war später mit Schelling befreundet.) Viel früher, im Spätsommer des Jahres 1798, unmittelbar vor Beginn seiner Professur, die er auf Betreiben Goethes in Jena bekommen hatte, hielt sich Schelling sechs Wochen in Dresden auf, und zwar in erster Linie der Galerie wegen, wo er, zusammen mit Leuten, die er dort kennengelernt hatte, in diesen sechs Wochen jeden Vormittag verbrachte (nachmittags war man in den Antikensammlungen): Diese Leute waren: ständig A. W. Schlegel und Caroline – damals noch Schlegels, später dann Schellings Frau – und zeitweise Novalis und Friedrich Schlegel. (Eine Vorstellung von diesen Gesprächen kann man durch die Romantiker-Zeitschrift ›Athenäum‹ bekommen, die in dem mittleren der drei erschienenen Bände, also in II. von 1799, ein umfangreiches, von A. W. Schlegel und Caroline verfaßtes »Gespräch«: »Die Gemälde« enthält.) Ebenso wichtig für Schellings hohes Maß an damals möglicher Detailkenntnis in den bildenden Künsten dürfte aber seine Kenntnis der Wirkungen und Beurteilungen der antiken Bildkunst durch die Griechen selbst gewesen sein, so wie sie Schelling durch seine umfassende Kenntnis der antiken Literatur vertraut war – und: sein von der Freundschaft mit Hölderlin noch ganz besonders inspiriertes Studium 40 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schöpfung« und Geschichte
von Winckelmanns ›Geschichte der Kunst des Altertums‹ während seiner Tübinger Studienzeit. Jedoch: diese kunstgeschichtlichen Detailkenntnisse reichen nicht zu für die Frage, was Schelling denn zu diesem Eingreifen in einen sozusagen innerkünstlerischen Diskussionsstand legitimiert hat, sein Eingreifen also in das, was man (aus dem Rückblick) die ›Krise der bildenden Kunst um 1800‹ nennen kann. 8 Entscheidend für dieses Eingreifen in eine – an den theoretischen Debatten sichtbar werdende – allgemeine Ratlosigkeit im Begriff der bildenden Künste (ganz im Unterschied zur Praxis der Dichtung und Musik der gleichen Zeit!), – entscheidend dafür ist die Überzeugung Schellings, daß der Grund des Übels in einem zweifachen Fundamentalirrtum liegt (zwei Irrtümer, die beide den immanent ästhetischen Bereich transzendieren). Das Erste: ein Irrtum über die Entstehung von Kunst; das Zweite: ein Irrtum über das, was das vermeintlich Nachzuahmende, die »Natur«, die Wirklichkeit selber ist. Nach diesen beiden Seiten hin, dem, was nachahmt, und dem, was nachgeahmt werden soll, entwickelt Schelling seine These, daß es so etwas wie »Nachahmung« für die Kunst, auch für die bildenden Künste, gar nicht geben kann. Die Kunst: ist nicht von solcher Art, daß sie durch Nachahmung entstehen kann. Und die Natur: die Wirklichkeit (das, wie Schelling traditionsgemäß sagt, »in Wahrheit Seiende«) ist nicht von solcher Beschaffenheit, daß sie überhaupt nachgeahmt werden könnte. In der Ausführung dieses Grundgedankens lassen sich drei spezielle Resultate unterscheiden: 1. Der Zusammenhang zwischen der Nicht-Nachahmbarkeit der Wirklichkeit und einem jeweils schöpferischen Anfang von Kunst; 2. Schellings Konzeption vom Kunstwerk selbst als einer Duplizität entgegengesetzter Kräfte; 3. Die in dieser Beschaffenheit gründende geschichtliche Wirkung von Kunst. Ich möchte die Argumentation von Schellings Münchner Rede so wiedergeben, daß ich dieses Schelling-Kapitel – unabhängig vom Gang der Formulierung im Anschluß an den Aufsatz Theodor Hetzers von 1932 – ›Francisco Goya und die Krise der Kunst um 1800‹ – im ersten der beiden Bände ›Vorträge und Aufsätze‹ von 1957; in der Sammlung ›Schriften Theodor Hetzers‹, hg. v. Gertrude Berthold, Bd. 9, Stuttgart 1989, S. 141–162.
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Drittes Kapitel
Rede – im Hinblick auf die genannten Resultate in die folgenden drei Schritte gliedere: 1. Schellings Naturbegriff und der Beginn von Kunst (die Fraglichkeit des Anfangs in der Kunst); 2. Die »Form« als »positive Kraft« (ein Titel, der erst aus der Erläuterung deutlich werden kann); 3. »Schöpfung« als geschichtliche Gründung.
II
Zum Zusammenhang mit dem vorausgehenden Kapitel
Wir haben in unserem Umgang mit Kunst, in unserem alltäglichen Reden von Kunst ganz verschiedenartige Leitbilder. Leitbilder, die sich untereinander sogar widerstreiten. Diese Leitbilder stehen selber in einem Zusammenhang mit Grundgedanken philosophischer Kunsterörterungen – nur daß diese ihrerseits von der Widersprüchlichkeit weithin frei sind und, vor allem, diese Leitbilder selber ausdrücklich zur Frage machen: zur Frage nach ihrem Ort und ihrem Recht. – Man kann drei solcher Leitbilder und dazugehöriger Prototypen im Umgang mit Kunst unterscheiden. Dabei kommt es aber weniger auf die Zahl an als vielmehr darauf, die Vielartigkeit, die Verschiedenartigkeit überhaupt wahrzunehmen. Auch können die Prototypen nur so etwas wie Akzent-Verschiedenheiten markieren: bei jedem Prototyp eines Leitbildes sind die anderen Leitbilder mit im Spiel. Die maßgebliche Bedeutung im Sprachgebrauch von »Kunst«: Kunsthändler, Kunsthandwerker, Kunstunterricht, Kunsthochschule, Kunstwissenschaft, ist am Prototyp der Bildkünste, und von da wieder primär an Malerei und Plastik orientiert. Das Leitbild ist hier die Kunstsammlung, Galerie und Museum. – Ein dazu fast konträres Leitbild stellt das Theater dar: wenn man an Sophokles oder Aristophanes, an Shakespeare oder Schiller, Brecht oder Beckett, aber auch an große Filmregisseure, Eisenstein oder Chaplin, Pasolini oder Antonioni denkt: hier ist »Kunst« nicht in erster Linie Monument: Gegenstand von Bildung, sondern Engagement: Subjekt von Verwandlung, Initiative zu Erziehung. Der Prototyp ist hier das Drama – die eigene Dramatik aller Dichtung (»Homers« Epen waren nicht idyllisch, sondern auf ihre Weise, auf epische, auf erinnernde Weise: in höchstem Maße auch dramatisch.). – Von diesen beiden Leitbildern (die unter sich schon gegensätzlich sind) unterscheidet sich die eigene Betätigung 42 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schöpfung« und Geschichte
von Kunst im Singen, im Tanzen, im Selber-Musizieren. Und hier dominiert nicht die Bildung und auch nicht die Erziehung, sondern der Genuß. Das Leitbild entspricht hier der Vorstellung von Kunst als Schmuck. Während Kunst als Monument Bewahrung von Wirklichkeit ist, als Erziehung Veränderung von Wirklichkeit, ist sie als Schmuck Vollzug von Wirklichkeit – sei es als Steigerung oder als Ersatz (in der Suspendierung der sogenannten Alltagsgegenwart), als Verklärung oder als Verschleierung. Mit diesen verschiedenen Prototypen und Leitbildern läßt sich nun ein anderer Grundaspekt philosophischen Interesses, philosophischen Denkens an Kunst verbinden: Kunst als Bild ist das Paradigma für die Frage des Schein-Charakters der Kunst, als Frage gefaßt nach ihrem Verhältnis zur Wahrheit: Ist das Bild einer Sache (das Bild eines Gottes, das Bild eines Vorgangs, das Bild eines Wunsches) ein bloßer Schein oder ein Aufschein, Offenbarung, Epiphanie? eine Grundfrage Hegels und Nietzsches. Kunst als Dichtung ist das Paradigma für die Frage des Schöpferischen der Kunst, als Frage gefaßt: Wie verhält sich große, »kreative« Kunst, das Werk des »Genies«, zum Vorgegebenen, zum Gang der Wirklichkeit selbst; wie verhält sich Kunst so gefaßt zur Geschichte? Auch eine Grundfrage Hegels; und die Grundfrage Schellings. – Im ersten Fall denkt man paradigmatisch an das Kunst-Werk, im zweiten Fall an den Kunst-Schaffenden (den Künstler). Man kann aber auch (zu Beginn der Ästhetik im 18. Jahrhundert sogar in erster Linie und nun in der Beachtung der Wirkungsgeschichte innerhalb der Kulturwissenschaften), – man kann auch an die KunstBetrachtung, an die Rezeption von Kunst denken, mit dem alten Sprachgebrauch zu reden: an den »Geschmack«. Dann steht die Schönheit (der Spiel-Charakter der Kunst) im Vordergrund. Die philosophische Frage lautet hier: Was hat das Spiel der Kunst mit dem Ernst der Welt zu tun? Das ist die Grundfrage Kants und dann erneut wieder Nietzsches. Ich möchte demgemäß (im Gedanken daran, daß diese Übersicht in der Ausführung Gesicht und Gehalt gewinnt) die drei Einzelteile (also Kapitel 3, 4 und 5) in der angegebenen Weise benennen, wobei die Reihenfolge jetzt aus unserer heutigen größeren Nähe oder Ferne zu der jeweiligen Frageweise resultiert. Schelling: »Schöpfung« und Geschichte. Nietzsche: »Schein« und Wahrheit. Kant: »Spiel« und Welt. 43 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
Die Verschiedenartigkeit der Leitbilder gibt jeder dieser Fragen das Fragegewicht: nämlich, was kann das eine mit dem anderen zu tun haben? Z. B.: ist die Einseitigkeit der Produktionsästhetik (also der Genieästhetik des 19. Jahrhunderts) wirklich überwunden, wenn wir zusätzlich noch eine Rezeptionsästhetik anfügen? Ein Anstoß, sich solchen Fragen älterer Philosophie zuzuwenden, ist gerade der Zweifel an der Verselbständigung eines einzelnen dieser drei Aspekte. Schelling gelangt zu seiner Leitfrage: nach dem Verhältnis zwischen dem schöpferischen Charakter der Kunst und dem Ort der Kunst in der Geschichte, indem er das poetische Leitbild der Kunst: den Prototyp von Kunst als Subjekt von Aktion, als Phantasie, mit dem bildnerischen Leitbild der Kunst: dem Prototyp von Kunst als Gegenstand von Bildung, als Ausdruck, als Gestaltung, konfrontiert. Die Frage, ob die Kunst in der Tat so etwas ist, was mit dem alten Begriff des »Schöpferischen« oder dem modernen (»wissenschaftlicher« klingenden) der »Kreativität« gemeint ist, diese Frage wird ja noch nicht zu einer wirklichen Frage, wenn sie lediglich unter der formalen Alternative abgewickelt wird: Nachahmung oder Schöpfung, Rezeptivität oder Spontaneität, Heteronomie oder Autonomie, Traditionsbewahrung oder Neubeginn. Eine wirkliche Frage entsteht ja erst, wenn man darüber nachdenkt, wie eine möglicherweise schöpferische Verfassung der Kunst vereinbar ist mit einer naturhaften oder historischen Verbindlichkeit, d. h.: wenn man fragt, ob die Kunst, wenn sie »schöpferisch« ist, zugleich auch »wirklich« ist: etwas mit der sich als Natur und als Geschichte abspielenden Wirklichkeit zu tun hat. Ohne diese Fragen ist es sozusagen keine Kunst, von künstlerischer Kreativität zu reden, man kann sich dann auf die Produktionen und auf deren Innovationswert innerhalb der Ästhetik, innerhalb einer künstlerischen Eigenwelt, beschränken. Die Kunst könnte dann getrost hervorbringen, sie könnte dann getrost (in dem ursprünglichen Sinn dieses griechischen Wortes) »pofflhsi@« (poiesis) sein, aber eben auch nur, wie das neuzeitliche Verständnis des Wortes »Dichtung« sagt: die Hervorbringung einer Traumwelt, die poiesis von Sachen, die niemand ernst zu nehmen braucht, nicht Wahrheit, sondern Dichtung. Wenn Kunst etwas mit Wirklichkeit zu tun hat, wenn sie auch außerhalb einer ästhetischen Innenwelt eine – wie Hegel sagt – »hohe Bestimmung« zumindest ausüben könnte, oder – wie Hegel überzeugt ist – auch wirklich einstmals ausgeübt hat, dann würde das doch viel eher einleuchten, wenn man nicht an ihren pofflhsi@ –, sondern an 44 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schöpfung« und Geschichte
ihren mfflmhsi@-Charakter denkt, daran, daß sie etwas Gegebenes, etwas Vergangenes oder auch etwas Kommendes, etwas Noch-nicht-Wirkliches, aber Wirklich-werden-Könnendes oder Wirklich-werden-Wollendes ins Bild bringt. Eine wirklichkeitsbezogene, eine geschichtliche Verbindlichkeit läßt sich doch viel eher von ihrer Abbildhaftigkeit, von ihrer Ausdrucksfähigkeit als von ihrer Dichtungs-kraft, ihrer Hervorbringungsfähigkeit erwarten, also von dem, was nach landläufiger Meinung ihren »Realismus«-Aspekt ausmacht. Dieses ganze Dilemma, das man in den meisten Fällen umgeht, indem man jeweils einen der beiden Begriffe gesondert untersucht, nimmt Schelling auf, indem er beide Begriffe – und zwar beide Begriffe zugleich – angreift. Er kritisiert die poetische Schöpfungs-Theorie, indem er die bildnerische Nachahmungs-Theorie aus den Angeln hebt. Die Münchner Rede nimmt die Anstöße, die von der damaligen bildenden Kunst ausgingen, auf: die beiden Strömungen, die sich damals, im offiziellen Kunstbetrieb und Kunstgespräch – teils von Frankreich, teils von England und Deutschland ausgehend – auszubilden begannen: eine neue Form des Klassizismus und eine neue Art von Realismus, die man vielleicht besser Naturalismus nennen sollte. Dem Naturalismus und dem Klassizismus ist eines gemeinsam: die Orientierung der Kunst (der Kunst-Kritik ebenso wie der KunstSchulung) am Prinzip der Nachahmung. Im Falle des Naturalismus: die Nachahmung des nur optisch Vorgegebenen, der »Natur«; im Falle des Klassizismus die Nachahmung des historisch Vorgegebenen, bestimmter alter, zum maßgeblichen Muster avancierter Formen der Kunst selbst. Und diese zum Muster gestempelten Vorbilder (die späte »Klassik« der Griechen, die Hochrenaissance Italiens) galten eben darum als Muster, weil sie die höchste, die als optimal erachtete Form von Naturnachahmung darzustellen schienen. (»Natur« dabei – der humanistischen Tradition gemäß – primär als menschliche Natur verstanden.) Dieses Verhältnis zu seiner Gegenwart nimmt Schelling nun in dem Vortrag durch drei (nicht ausdrücklich ausgesprochene, aber dem Ganzen zugrundeliegende) Fragen auf, aus denen sich der Vortrag aufbaut: Die erste Frage: Ist die Wirklichkeit (die »Natur«) überhaupt von solcher Beschaffenheit, daß sie nachgeahmt werden kann? Die zweite Frage: Wie verhält sich die Kunst, wenn sie nicht Abbildung (Nachahmung oder Ausdruck) sein kann, zur Wirklichkeit? 45 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
Und drittens: Kann sie dann ein mehr als ästhetisches Interesse beanspruchen? Worin besteht ihre Wahrheit? Nach diesen drei Fragen läßt sich dieses Schelling-Kapitel in die Abschnitte einteilen: 1. Die Fraglichkeit des Anfangs in der Kunst (Schellings Naturbegriff und der Beginn von Kunst); 2. (ein Titel, der auf Schellings Deutung des Gestalt-Charakters der Kunst anspielt) Die »Form« als »positive Kraft«; 3. (die Frage, inwiefern das »Schöpferische« geschichtsverbindlich sein kann) »Schöpfung« als geschichtliche Gründung.
1. Die Fraglichkeit des Anfangs in der Kunst Schelling gründet seine Argumentation auf zwei Überlegungen: 1. Was ist mit dem Gedanken des Naturnachahmens eigentlich für ein Anspruch gestellt? Und 2. Wie verhält sich das, was man über die Geschichte der griechischen Kunst weiß (was man auch damals schon darüber wußte), zu den Nachahmungstheorien? (Die griechische Kunst hier darum, weil sie ein abgeschlossenes, bekanntes und überschaubares Beispiel von Kunstgeschichte darstellt.) Bei dem ersten Argumentationspunkt dürfen wir uns durch die Einfachheit, die offenkundige Simplizität des Tatbestandes, bei dem Schelling ansetzt, nicht irritieren lassen. Nachahmung der Natur – das könnte doch, wenn man mit dem eigenen Anspruch ernst macht, offensichtlich nur bedeuten: Nachahmung dessen, was das Nachzuahmende selbst in Wahrheit ist. Was die Natur – was ein Stück Natur – in Wahrheit ist, das kann nun aber doch, im kleinsten wie im größten Sinn, nur ihr Leben sein. Via negationis leuchtet das, so ganz im allgemeinen, sofort ein: Wenn jemand (um ein zu jener Zeit naheliegendes Beispiel zu nennen) irgendeine Heldentat der alten Römer so natürlich und vielleicht auch schon historisch richtig, wie es nur möglich ist, wiedergibt: hat er dann damit schon das, was den Staatsmann und seine Gegner oder Freunde beschäftigte, das, was zur Entscheidung stand und was da entschieden wurde, hat er dieses in Wahrheit Wirkliche gemalt? Oder ist in diesem Fall – grundsätzlich gesagt – nicht der 46 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schöpfung« und Geschichte
gleiche Einwand zu machen, den Plato gegen seinen kline-Maler macht? Also den Maler, der das Abbild einer Lagerstatt malt, auf welchem Abbild doch niemand liegen kann? Einer solchen gemalten Lagerstatt, einem solchen gemalten Tisch (an dem niemand speisen kann), entspricht im Falle eines der großen Historienbilder aus der Zeit des Klassizismus (z. B. im Paris der Revolution) das Verhältnis zwischen den da »wiedergegebenen« Figuren, Gerätschaften und Gebäuden und der »wirklichen« Aktion, der wirklichen Entscheidung, dem wirklichen Schrecken, dem wirklichen Sieg. Was hier den kline-Maler Platos mit dem Historienmaler des 18. Jahrhunderts in der gleichen Natur-ferne verbindet, das läßt sich am besten an einem dritten Beispiel, am Beispiel eines lebendigen Dinges, am Beispiel der organischen Natur demonstrieren: Hat jemand, der ein Pferd oder eine Landschaft malt, damit, daß er den Schimmel oder das Gebirge so natürlich wie möglich wiedergibt, wirklich die Natur wiedergegeben? – in diesem Fall also: die Landschaft, das Lebensschicksal jenes Pferdes, die Atmosphäre, den Duft, das Bewegliche und auch Vergängliche, die Zeit und den Raum jenes Gebirges? So wie man auf dem gemalten Sessel nicht sitzen kann, so wie man vom Anblick der gemalten Schlacht nicht mit betroffen ist (vielleicht auch, in älteren Zeiten, nicht mit entflammt wird), noch mehr zugespitzt: von der gemalten Kugel nicht selbst getroffen werden kann, so kann der gemalte Baum weder wachsen, noch seine Blätter – im Sturm oder im Herbst – verlieren. Ein nachgeahmtes, ein nachahmbares Stück Natur ist nicht die Natur, sondern eben selber schon ein falsches »Bild« der Natur. Ein »völlig totes Bild war ihnen die Natur«, sagt Schelling von solchen Beispielen, solchen Akademiebeispielen, an die er ablehnend denkt, »ein totes Bild von Formen, von dem ein ebenso totes Bild auf die Leinwand übertragen oder in den Stein eingehauen werden sollte«. Wenn nun, um dem Dilemma, das Falsche statt des Wahren abzubilden, zu entgehen, eine vorbildliche alte Kunst zum Muster für die Nachahmung erhoben wird, dann wird – sagt Schelling – die unwahre Vorstellung von Natur damit noch lange nicht überwunden. Ja, sie wird sogar besiegelt. »Nur schöne Gegenstände und auch von diesen nur das Vollkommne soll er wiedergeben. So wurde der Grundsatz näher bestimmt, aber ebendamit behauptet: in der Natur sei das Vollkommne mit
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Drittes Kapitel
Unvollkommnem gemischt, das Schöne mit Unschönem. Wie sollte nun der, dem zu der Natur kein andres Verhältnis als das dienstbarer Nachahmung zukam, das eine von dem andern unterscheiden? Die Art der Nachahmer ist, daß sie die Fehler ihres Urbildes eher und leichter als seine Vorzüge sich aneignen, weil jene faßlichere Handhaben und Merkzeichen darbieten; und so sehen wir auch, daß von Nachahmern der Natur in diesem Sinn das Häßliche öfter und selbst mit mehr Liebe nachgeahmt worden ist als das Schöne.« (Schelling 1807, S. 6)
Auch dort also, wo man das Prinzip des Klassizismus (und Schelling nimmt hier Winckelmann, den Begründer des neueren Klassizismus nicht aus), die Antike, zum Vorbild für die künstlerische Arbeit aufstellt, um die pure, die bloße (Häßlichkeit und Schönheit vermischende) »Wirklichkeit« zu übertreffen, auch dort ist man von dem falschen Begriff der Natur noch nicht losgekommen. Man hat, wie Schelling nun definitiv formuliert, die von Haus aus lebendige, d. h. die »schaffende Natur« zu etwas »Totem« herabgesetzt, wenn man »Natur« als ein bloßes Produkt ansieht. Man verschließt sich dem »Leben« der Natur, d. h. für Schelling: man verschließt sich der eigenen Produktivität der Natur. (Schelling 1807, S. 7) Gegen diesen Fehler schon im Ansatz von »Realität« kann auch das »ideale« Kunst-Vorbild nichts helfen. Waren in der Natur-Nachahmung »die Formen« der Wirklichkeit »tot für den toten Betrachter«, so waren es jetzt, in den »klassischen« Kunst-Vorbildern, deren zum Muster erhobene Formen »nicht minder«. »Der Gegenstand der Nachahmung wurde verändert, die Nachahmung blieb. An die Stelle der Natur traten die hohen Werke des Altertums, von denen die Schüler die äußere Form abzunehmen sich befleißigten, doch ohne den Geist, der sie erfüllte. Jene sind aber ebenso unnahbar, ja sie sind unnahbarer als die Werke der Natur, sie lassen dich kälter noch als jene, wenn du nicht das geistige Auge hinzubringst, die Hülle zu durchdringen und die wirkende Kraft in ihnen zu empfinden.« (Schelling 1807, S. 7)
Warum sind die »hohen Werke des Altertums« noch unnahbarer als die der Natur? Die Antwort darauf gibt die zweite seiner Ausgangsüberlegungen, die Frage: wie fängt denn Kunst in jeder ihrer großen 48 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schöpfung« und Geschichte
Epochen eigentlich an? Die Frage also: was sagt die eigene Entstehung von Kunst über die Nachahmung der Natur im allgemeinen und die Nachahmbarkeit (die Musterhaftigkeit) der großen Kunst im besonderen? Hier erhebt Schelling gegen den – für ihn wie seine Generation weithin zum Vorbild gewordenen – Winckelmann einen grundlegenden Einwand. So bewundernswert, so hilfreich Winckelmann für die eigene Befreiung geworden war: dadurch daß er mit seinem Bild der Griechen (ähnlich wie Kant mit seinem Gedanken des Selbst-Bewußtseins) seiner Zeit den Mut gegeben hat, sich zu sich selbst zu befreien, daß er also in den Griechen Vorbilder der Mündigkeit erkannte, so hilfreich er in dieser Erklärung der griechischen Klassik ist, so fraglich ist für Schelling die Überzeugung Winckelmanns, daß die Entwicklung zur Klassik ein eindeutiger Fortschritt war, ein Aufstieg von noch kindlicher Unbeholfenheit zur Zeit des »älteren«, des »strengen Stils«, über eine erste Annäherung an die Natur in der Hoheit des »großen Stils« bis zur Erfüllung der höchsten »Naturwahrheit« in der Anmut und der Grazie des »schönen Stils«, also der Zeit des Praxiteles und Lysipp, der Zeit um Alexander d. Gr., auf die danach noch in der Spätzeit des alten Griechenland (mit Droysen: dem »Hellenismus«) und ähnlich – für damalige Augen – wie im »Barock« eine Zeit des Verfalls folgte, – das Schema also eines Aufstiegs der Kunst von primitiven Anfängen zu »klassischer« Mustergültigkeit in Gestalt vollendeter Natur-Nachahmung. Ohne die von Winckelmann gezeigten Stilmerkmale bezweifeln zu wollen, bestreitet Schelling das zugrundeliegende Prinzip der Entwicklung. So eng sich Schelling also in seiner Kenntnis an Winckelmann hält (später dann auch – nach Napoleons Feldzug in Ägypten – an das neue Bild des alten Ägypten), so entschieden entfernt er sich von dem Schema einer einfachen Höher-Entwicklung vom Primitiven zum Vollkommnen. Im Falle der Kunst gehört Allergrößtes – von Epoche zu Epoche jeweils neu – auch schon den Anfängen zu. In seiner späten »Philosophie der Mythologie«, seiner Erörterung des Zeitalters vor dem weltgeschichtlichen Einschnitt, den wir (mit Karl Jaspers) die »Achsenzeit« nennen können, sieht Schelling das Gepräge dieser Frühzeit verkörpert in der Monumentalität ihrer Gesänge und Bauten wie den homerischen Epen oder den ägyptischen Pyramiden. Und wenn er daneben auch an südindische Bauten wie die Höhlentempel von Ellura oder den Küstentempel von Mahabalipuram 49 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
denkt (die, wie wir wissen, aus viel späterer Zeit, dem 7. und 8. Jahrhundert n. Chr., stammen), so gehören die doch auch einem großen Anfang, dem der Hindu-Welt Indiens, zu. Das gesamte Spätwerk Schellings ist von der Überzeugung geleitet, daß wir, wir heutigen (wir modernen) Menschen, die Schwelle von der eigenen Gegenwart in die Zukunft nur meistern können, wenn uns die Herkunft dieser Gegenwart verständlich wird; und das besagt für Schelling: die erste große epochale Wandlung, wie er sie in dem Umschlag von dem älteren »mythischen« zu dem neueren (auch unsere »Moderne« noch leitenden), durch das eschatologisch-geschichtliche Denken der Offenbarungsreligionen vorbereitete Weltalter sieht. Worin eigentlich der Anfang der »Hochkulturen« bestand – mit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht und damit Seßhaftigkeit, dem ersten Eingriff des Menschen »in die Natur« (nach der Bibel: dem Verlust des »goldenen Zeitalters«), – das hat Schelling bis zu allerletzt in seiner nie abgeschlossenen »Philosophie der Mythologie« bedrängt. Der Passus, aus dem die Hinweise auf die ersten großen Zeugnisse menschlicher Baukunst, Bildhauerkunst und Dichtkunst stammen, zielt auf den Grundgedanken dieser »Philosophie der Mythologie«: »Nimmt man Geschichte im weitesten Sinn, so ist die Philosophie der Mythologie der erste, also nothwendigste und unumgänglichste Theil einer Philosophie der Geschichte.« (Was da Schwierigkeit und Wichtigkeit zugleich bedeutet, das faßt Schelling in eine These, deren Brisanz sich bis heute nicht gemindert hat.) »Eine Philosophie der Geschichte, die der Geschichte keinen Anfang weiß, kann nur etwas völlig bodenloses seyn und verdient den Namen der Philosophie nicht.« (Philosophie der Mythologie, WBG 1976, S. 237)
Anfang der Geschichte: das ist für Schelling nicht der Beginn eines archäologisch oder schriftlich überlieferten Rückblicks (historia rerum gestarum), sondern (als res gestae) der Beginn eines geschichtlichen Gepräges innerhalb des Natur- und Menschheitsverlaufs. Schellings Umgrenzungsbezeichnung »mythologisch« zielt einerseits auf die mit der »Achsenzeit« beginnende nach-»mythische« Phase, die Schelling durch die am europäischen Christentum orientierte »Gegenwart« ausgezeichnet sieht, andererseits auf die vor- und damit, am Wortsinn gemessen, un-geschichtliche Zeit (wie sie uns in der langen Phase des 50 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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Jäger-, Sammler- und Wander-Daseins des Homo Sapiens vor dem Seßhaftwerden bekannt geworden ist). Diese »globalen« Unterscheidungen von »Weltzeiten« sieht Schelling durch tiefer greifende Unterschiede geprägt als nur durch nach- und nebeneinander wechselnde »Kulturen«. Und dafür steht ihm für den (strukturellen) Anfang von »Geschichte« das Auftreten der ersten großen Bauten ein. »Die Zeiten unterscheiden sich voneinander nicht durch bloßes Mehr oder Weniger sogenannter Kultur, ihre Unterschiede sind innere, sind Unterschiede wesentlicher oder qualitativ verschiedener Prinzipien, die sich einander folgen, und deren jedes in seiner Zeit zur höchsten Ausbildung gelangt.« – »Werke wie die indischen und ägyptischen Monumente entstehen nicht wie Stalaktytenhöhlen durch die bloße Länge der Zeit; dieselbe Gewalt, die nach innen die z. T. kolossalen Vorstellungen der Mythologie erschuf, brachte nach außen gewendet die kühnen alle Maßstäbe der späteren Zeit übersteigenden Unternehmungen in der Kunst hervor.« (a. a. O. S. 239 und 240)
Was hier, im Spätwerk, auf das Ganze der Kunst seit ihren Anfängen angewandt ist, das erklärt Schelling in der Münchner Rede – so, wie in der Spätwerkstelle von Homer die Rede ist, – am Gang der griechischen Kunst. Die »erhabene Schönheit«, also die »Klassik«, sei von Winckelmann nicht nur als höchstes, sondern »als einziges Maß« genommen worden. Man habe, wenn man so denke, »den tiefen Grund«, auf dem jene »erhabene Schönheit« ruht, übersehen. »Kein leicht hingesätes Korn, nur ein tiefverschloßner Kern konnte es sein, aus dem das Heldengewächs entsproß. Nur mächtige Bewegungen des Gefühls, nur tiefe Erschütterung der Phantasie durch den Eindruck allbelebender Naturkräfte konnten der Kunst die unbezwingliche Kraft einprägen, mit der sie von dem starren, verschloßnen Ernst der Bildungen früher Zeiten bis zu den Werken überfließender sinnlicher Anmut stets der Wahrheit getreu blieb und die höchste Realität geistig erzeugte, welche Sterblichen vergönnt ist.« (Schelling, 1807, S. 19)
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Das Entscheidende also, entscheidend für die Frage dieser Rede: die Nähe zur Wahrheit ist von Anfang an vorhanden. D. h. aber, das, was dem neueren Beobachter als noch-nicht-wahr erscheint, nämlich noch nicht den Naturprodukten ähnlich, das läßt sich nach Schellings Einsicht durchaus schon als der Wahrheit der Natur gemäß erkennen. Die Frage ist nur, ob der Maßstab der Nachahmung dazu legitimiert ist, über den Gehalt an Wahrheit, über die Nähe zur Wirklichkeit zu entscheiden. Daß am Anfang – oder an den Anfängen (für die Neuzeit versucht Schelling Ähnliches an Michelangelo zu zeigen) –, daß an den Anfängen keine Nachahmung der Natur steht, ist noch lange kein Beweis dafür, daß da nicht ein Bezug zur Natur besteht. Wenn der Anfang etwas anderes ist als ein Mangel, der erst in der weiteren Entwicklung überwunden wird, worin besteht dann das Kennzeichen des Anfangs? Worin besteht dann der Bezug zur Natur? Um in diesem Punkt Schellings Kunstgedanken einzusehen, muß man sich seinen natur-philosophischen Grundgedanken klarmachen; seine Erklärung also dessen, was er das »Leben« der Natur nennt. Der Ansatzpunkt läßt sich mit zwei Sätzen bezeichnen: 1. Schelling geht aus von einem Phänomenmerkmal der organischen Natur; er übernimmt die Bestimmung der organischen Natur, die Kant in der »Kritik der Urteilskraft« gibt: ein Lebewesen ist so organisiert, daß es sich – obwohl ohne Bewußtsein – so verhält, als habe es ein Wissen von dem, was es will. Es ist produktiv und d. h.: es geht nicht in seiner Gegenständlichkeit auf. Ein Baum z. B. hat erstens aus dem Keim sich selbst hervorgebracht; er ist zweitens imstande, sich durch die Wurzeln und das Laubwerk ständig selbst als Individuum zu regenerieren; und drittens schließlich, durch die Bildung neuer Keime, sich selbst als Art zu reproduzieren. (KdU, § 64) Er ist – nicht als Selbst-Bewußtsein, wohl aber als Selbst-Erzeugung – nicht bloß Objekt, sondern SubjektObjekt. Diese Übernahme von Kants Grundbestimmung des Organismus ist das eine. Das andere, Punkt 2, ist die Erweiterung der Bedeutung dieses Sachverhalts. Für Kant ist das Phänomen der organischen Natur ein Grenzfall. Zentrum der Natur-Erkenntnis bleibt für ihn die pure Objektivität, die anorganische Natur der Physik (und Astronomie). Schelling setzt die Verfassung der organischen Natur als das generelle Prinzip der Wirklichkeit an, in dem gerade umgekehrt die Ortsbewegung und die Energieumwandlung der anorganischen Natur nur noch Grenzfälle sind. – Das ist philosophiegeschichtlich gesehen: der Ansatz 52 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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von Leibniz, und aktuell gesehen: der Schritt von der physikalischenergetisch orientierten Naturerkenntnis des 17. und 18. Jahrhunderts zu der biologisch-informativ orientierten Naturerkenntnis seit Darwin und mit der Genetik. In der Münchner Rede kennzeichnet Schelling die Natur als »werktätige Wissenschaft«. »Werktätig« steht für den produktiven Charakter der Selbsttätigkeit in der (modern gesprochen) Selbststeuerung (mit Kant: Selbstorientierung). Eben diese Seinsweise der Lebendigkeit ist offenkundig nicht abbildbar, nicht als »Bild« zu fassen, – überhaupt nicht: »zu fassen«. Das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur darf also nicht dem Werk als einem Objekt, als etwas vor dem Maler, vor dem »Betrachter« Stehendem, gelten, es muß der »Werktätigkeit« gelten. Hier ist also ein »Verhältnis«, ein Verhalten gefordert, das im Unterschied zum Vor-stellen ein Mit-gehen sein müßte. Auf diesen Anspruch zielt Schelling ab, wenn er das Werktätigsein der Natur selbst als »Wissenschaft« bezeichnet. Ähnlich wie Kant in der »Kritik der Urteilskraft« das Vermögen eines Lebewesens, sich selbst zu »organisieren«, in eine Analogie zur Vernunft setzt, erhebt Schelling hier den Anspruch, dieses Sich-selbst-ins-Werk-setzen, dieses (modern formuliert) Sichselbst-steuern eines Lebewesens sei als eine zwar unbewußte, aber gleichwohl unserem Bewußtsein analoge Art von »Wissenschaft« zu begreifen. Wie schwer dieser an den Zeugnissen organischer Natur so offenkundige Sachverhalt in seiner »Tätigkeit« zu erkennen ist, zeigt Kants »Kritik der Urteilskraft«. Für Kant bleibt die Lebenswelt, die Natur der Organismen, unserem Erkenntniswillen verschlossen. Das berühmte Beispiel der »Kritik der Urteilskraft« im Hinblick auf den Unterschied dieses Bereichs der Natur zur Erkenntnislehre der »Kritik der reinen Vernunft«: es könne keine menschliche Vernunft oder auch andere höhere endliche Vernunft auch nur die Erzeugung eines Grashalms zu verstehen hoffen. Es könne keinen »Newton« des »Grashalms« geben (KdU §§ 75 und 77). Im Zeitalter der Informatik ist der Umgang mit »werktätiger Wissenschaft« zu einer Bedingung der Alltagsbewältigung geworden – im Ernst wie im Spiel. Mit der Erweiterung des Titels »Wissenschaft« vom Erkenntnismittel zum Erkenntnisthema nimmt Schelling den Erkenntnisanspruch auf, der angesichts des neuen großen Wissensfeldes der Naturwissenschaften: der lebendigen Natur – in Medizin, Chemie und 53 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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Botanik – damals allenfalls nur an den Kontroversen der Beteiligten zu ahnen war. (Der einheitliche Name für dieses Feld: »Biologie«, wurde erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts gebräuchlich.) Schelling (geboren 1775 in Leonberg) war aufgewachsen in der kleinen Ortschaft Bebenhausen, einer mittelalterlichen Klostergründung, damals evangelisches »höheres Seminar« und fürstliches Jagdzentrum, versteckt in einem ganz besonders abwechslungsreichen Waldgebiet des »Schönbuchs«, der großen Waldregion zwischen Tübingen und Stuttgart. Sein Vater war als evangelischer Geistlicher Professor für orientalische Sprachen an dem Kloster-Seminar; ein Schwager, Superintendent Faber in Neuffen, war »feuriger Anhänger« Oetingers, des damals mit seiner Naturphilosophie wirkungsreichsten der Schwäbischen Pietisten. 9 – Vom Herbst 1790 (im Alter von fünfzehneinhalb Jahren aufgenommen) bis zum Sommer 1795 war Schelling im Tübinger »Stift«; unter seinen Stubengenossen waren Hölderlin und Hegel. Die Philosophie wurde mit Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1781) auch für die Studenten des Evangelischen Stifts zur dominanten Wissenschaft; und diese erste der Kantischen »Kritiken« wurde von ihnen gelesen als theoretische Untermauerung der Nachrichten, die im Stift mit Enthusiasmus aus Paris empfangen wurden. – Von Tübingen kam Schelling im Frühjahr 1796 als Hauslehrer nach Leipzig. In den zweieinhalb Jahren, die er dort verbrachte, hatte er mit dem mitgebrachten Interesse dort auch die günstige Gelegenheit zum Studium zeitgenössischer Forschungen an Erscheinungen der organischen Natur, die sich hauptsächlich – der Daseinsweise dieses Be-
Zu Bebenhausen in Schellings Jugendzeit: H. J. Sandkühler (Schelling, Sammlung Metzler 1970, S. 63) nach der Darstellung von G. L. Plitt, zu Beginn der dreibändigen Biographie Plitts ›Aus Schellings Leben. In Briefen‹, 1869/70: »Schelling kommt aus einer traditionsreichen schwäbischen Pfarrersfamilie. Sein Vater war Leonberger Pastor, bevor er 1777 Professor am Höheren Seminar des Bebenhauser Klosters (bei Tübingen) wurde. Der junge Schelling wächst auf im Traditionskreis der ›Schwabenväter‹ : Schellings Vater ein ›Schüler Bengels im weiteren Sinn‹, sein Schwager, der Spezial-Superintendent Faber in Neuffen, ein feuriger Anhänger Oetingers (Plitt I, S. 4). Schelling erhält seine Schulbildung zunächst in der deutschen Schule von Bebenhausen, wo er achtjährig alte Sprachen lernt, ab 1785 an der Lateinschule in Nürtingen (deren Möglichkeiten bald nicht mehr zureichen) und – mit 12 Jahren für eine Klosterschule zu jung – wieder in Bebenhausen mit älteren Seminaristen.« – Zur Bedeutung Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) für Schelling sei hier auf die Studie von Ernst Benz, ›Schellings theologische Geistesahnen‹ (1955) verwiesen.
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reichs der Natur gemäß – auf die Entstehungs- und Entwicklungsprozesse richteten. 10 Exemplarisch seien dafür hier nur zwei für Schelling besonders wichtig gewordene Forscher genannt: Der schottische Arzt John Brown (1735–1788) mit seiner Erklärung der Lebensäußerungen aus dem polaren Bezug zwischen innerer Reizbarkeit und von außen kommender Reizerfahrung. Sowie der in Bebenhausen (1765) geborene Chemiker und Botaniker Karl Friedrich Kielmeyer. Der war seit 1792 Professor für Chemie an der Stuttgarter Karls-Schule, seit 1796 Professor für Chemie und Botanik in Tübingen, seit 1817 Direktor der KöniglichWissenschaftlichen Sammlungen in Stuttgart. Eine 1793 an der Karls-Schule gehaltene Rede Kielmeyers »Über das Verhältnis der organischen Kräfte« ist für Schelling wegweisend geworden. Kielmeyer versucht darin, die Lebensfunktion der Lebensprozesse zu erklären an dem Zusammenspiel einer Trias organischer Kräfte: Empfindung, Bewegung und Selbsterhaltung, wobei die Selbsterhaltung (in Ernährung und Ausscheidung, in Wachstum und Fortpflanzung), also die »Selbstreproduktion« des Organismus – als Individuum wie als Gattung – zugleich das generelle Lebensmerkmal ist. Mit dieser Lehre von den »organischen Kräften« ist Kielmeyer (in der Nachbarschaft von Blumenberg in Göttingen und Johann Meckel in Halle) zum Schulgründer der Epigenese-Lehre Friedrich August Wolffs (1738–1794) geworden, die dieser um die Mitte des 18. Jahrhunderts (damals noch kaum beachtet) aus seinen Studien der Epigenese von Hühner-Embryos gewonnen hatte. »Entwicklung« besagt danach, bei Tieren wie Pflanzen, die (unbewußt, ungewollt) planmäßige (planähnliche) Differenzierung einfacher Materie zu komplizierten Strukturen.11 (Dabei konnte freilich aus der als sicher erkannten Epi10 Trotz meiner Bitte an den Leser, mir den Verzicht auf neuere Literatur nachzusehen, sei an dieser Stelle die wunderbare Schelling-Biographie von Xavier Tilliette genannt. (Die deutsche Ausgabe, von 2004, ist eine vom Autor erweiterte Fassung der französischen Erstausgabe von 1999.) Hier wird innerhalb des zweiten und des dritten Kapitels (»Reise- und Lehrjahre«, »Jena und die Gilde der Romantiker«, S. 43–100) Schellings frühe Beschäftigung mit zeitgenössischen Zugängen zur lebendigen Natur, den vielerlei Zeugnissen der Evolution, eingehend erörtert, – mit besonderer Beachtung der Anstöße durch Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ und des Zusammenspiels mit Goethe. 11 Vgl. dazu den Begriff des »Plans« in der Genetik, hier nach einem Vortrag von Gerhard Schramm: »Idee und Materie in der modernen Biologie«, Bremen 1963. »Bekanntlich wird bei der Vererbung nicht etwa die Struktur in verkleinerter Form wiedergegeben, sondern nur der Plan, d. h. die Anweisung, wie ein solches Lebewesen geformt
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genese, also der Entwicklung des Organismus, auf eine Evolution des Tier- und Pflanzenreiches nur versuchsweise geschlossen werden. 12 ) Schellings Einsicht in das »erkenntnistheoretische« Problem, das sich mit dieser neuen Faktenlage stellte, gilt jedenfalls für den gesamten Bereich der lebendigen Natur: Es bedarf einer Erweiterung unseres Erkenntnisverfahrens, um der bauplan-mäßigen Eigenständigkeit in der Evolutionsgesetzlichkeit des Organismus, vom Ei angefangen, entsprechen zu können. Schellings eindeutig bedachter Kennzeichnung »Wissenschaft« für den komplexen Sachverhalt lebendiger Natur gehört das Beiwort zu, mit dem jenes eigene (unbewußte, ungewollte) Planungs-Vermögen der Natur von Schelling benannt wird: die Einheit eines Organismus sei die Einheit eines »Begriffs«. Für das Problem der Münchner Rede ist mit diesem Terminus der Schlüssel des Problems genannt: Wie kann die Kunst in ein Verhältnis zu einer Naturerscheinung gelangen, wenn das verlangt, in ein Verhältnis zu deren eigener Begrifflichkeit zu gelangen? Schellings Beitrag zur Philosophie der Kunst ist zwar nicht denkbar ohne seinen persönlichen Umgang mit älteren und neueren Zeugnissen der verschiedenen Künste, aber der Schlüssel steckt in seiner Aufnahme des damals zu aktuellem Ansehen gelangten neuen Studienfeldes, der chemischen und organischen Prozesse. In seiner Teilnahme,
werden soll (S. 7). »Alle Lebewesen entstehen nach einem vorgegebenen Plan.« (S. 12) »Es ist offensichtlich, daß die Idee, wie eine bestimmte Pflanze oder ein Tier zu bauen ist, im Wechsel der Generationen das einzig Bleibende darstellt, sie ist tatsächlich das einzige Seiende, während die Körper, in denen die Urbilder sich wiederspiegeln, sich verändern und wieder vergehen.« (S. 9 f.) (Dies mit Absicht aus der Zeit der Vorbereitung der modernen Genetik, wo, ähnlich wie im Falle der Quantenmechanik bei Heisenberg, das Brückenbewußtsein im Verständnis der Tragweite auch im Nachhinein noch hilfreich sein kann; in diesem Fall aber auch zur Erinnerung an den Autor (1910 bis 1969), der seit 1953 Direktor des MPI für Virusforschung in Tübingen war.) 12 Zu den hier erwähnten Aspekten der Lebensforschung sei auf die »Geschichte der Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen« von Stephen F. Mason (Stuttgart, Kröner; »History of Science« 1953) verwiesen, besonders die Abschnitte zur »Evolution«, zur »Deutschen Naturphilosophie« und zur »Embryologie«: S. 394–444. Zu K. F. Wolff und Kielmeyer: S. 434–439, s. im Zusammenhang mit Schelling und dem Ausdruck »Bauplan« Lorenz Oken: Mason S. 422–431. – Über John Brown (S. 65), C. F. Wolff (S. 428) und Kielmeyer (S. 341): Lexikon der Naturwissenschaftler, Heidelberg, Berlin (Spectrum) 1996.
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das besagt: mit den Verständnismitteln antiker und zeitgenössischer Philosophie. Es ist seine »Naturphilosophie« (richtiger formuliert: die Orientierung seiner Philosophie an damals zugänglichen Themen und Entwürfen der Forschung), die ihm in seiner »Kunstphilosophie« dazu verhalf, die damals herrschende und ja auch heute noch weit verbreitete Vorstellung, »Kunst« sei dem Wesen nach so etwas wie Wiederspiegelung, zu überwinden. Die Münchner Rede hat bereits in ihrem Ansatz ein Resultat: die Befreiung von der Denkerwartung, bildende Künste (und damit deren Vorbild für das Verständnis von »Kunst« überhaupt) müßten in ihrem Verhältnis zur Natur Bild-kunst sein, Mimesis.
2. Die »Form« als »positive Kraft« Die Nicht-Nachahmbarkeit der Natur (der Wirklichkeit) bedeutet nicht: daß die Kunst der Natur den Rücken kehren müßte, etwa gar, daß sie »abstrakt« sein müßte oder auch nur – wie nach der Meinung einer Reihe von Romantikern –, daß sie sich in die Innerlichkeit der puren Phantasie zurückziehen müßte. Sie muß nur ein anderes Verhältnis zur Natur als das der Nachahmung finden: sie muß – mit einer modernen Formulierung gesprochen – nicht nach der Natur hervorbringen, sie muß wie die Natur hervorbringen. – In einer unvergleichlichen Einheit des eigenen Werkes und der eigenen Interpretation (den großen Bauhaus-Vorlesungen) ist das das Prinzip Paul Klees. Die folgende Stelle aus der Münchner Rede Schellings könnte fast im Wortlaut auch von Klee stammen. In diesem Stück der Münchner Rede vom September 1807 ist unmißverständlich gesagt, daß für Schelling der Unterschied zwischen unbewußter und bewußter Hervorbringung – dessen Mißachtung Hegel in seiner (im Frühjahr 1807 erschienenen) »Phänomenologie«-Vorrede der damaligen Schelling-Mode zum Vorwurf macht – daß für Schelling diese Unterscheidung gerade die Grundlage seines Interesses an der Kunst ist. »Die Lage des Künstlers gegen die Natur sollte oft durch den Ausspruch klargemacht werden, daß die Kunst, um dieses zu sein, sich erst von der Natur entfernen müsse, und nur in der letzten Vollendung zu ihr zurückkehre. Der wahre Sinn desselben scheint uns kein anderer sein zu können als folgender. In allen Naturwesen zeigt
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sich der lebendige Begriff nur blind wirksam: wäre er es auf dieselbe Weise im Künstler, so würde er sich von der Natur überhaupt nicht unterscheiden. Wollte er sich aber mit Bewußtsein dem Wirklichen ganz unterordnen und das Vorhandene mit knechtischer Treue wiedergeben: so würde er wohl Larven hervorbringen, aber keine Kunstwerke. Er muß sich also vom Produkt oder vom Geschöpf entfernen, aber nur um sich zu der schaffenden Kraft zu erheben und diese geistig zu ergreifen. … er verläßt das Geschöpf, um es mit tausendfältigem Wucher wiederzugewinnen, und in diesem Sinn allerdings zur Natur zurückzukehren.« (Schelling 1807, S. 13 f.)
Wer Schellings Rede mitgelesen hat, wird bemerkt haben, daß ich eine Formulierung ausgelassen habe: von der Forderung, sich zu der schaffenden Kraft zu erheben und diese geistig zu ergreifen, sagt Schelling: »Hiedurch schwingt er sich in das Reich reiner Begriffe …«
Das meint also kein Transzendieren, das ist gerade kein »Idealismus« (oder »Platonismus«), sondern der Aufschwung zu den Kräften und Gesetzen, die den eigenen Lebenszug, das eigene Handlungsvermögen, den eigenen Tat-Charakter eines Lebe-Wesens – eines Menschen, einer Gesellschaft, eines Volkes – ausmachen. Eine bündige Formel für das von Schelling gemeinte Verhältnis der Kunst zur Natur findet sich bei Paul Klee, wenn dieser sagt, daß beide, Natur und Kunst, sich nur von ihren »Enden« her, also in ihren Resultaten annähern dürften, um in Wahrheit, d. h. in ihrer nicht objektiv fixierbaren Substanz in ein Verhältnis zu gelangen. (Siehe dazu hier den Abbildungsteil.) Annäherung in den »Enden« – das besagt: Entfernung zu Beginn. Und das wiederum bedeutet: Beginn aus eigener Gesetzlichkeit, Beginn aus eigener »Begrifflichkeit«. »Die Lage des Künstlers gegen die Natur sollte oft durch den Ausspruch klargemacht werden, daß die Kunst, um dieses zu sein, sich erst von der Natur entfernen müsse, und nur in der letzten Vollendung zu ihr zurückkehre.« Das also ist der Anspruch in Schellings Rede, den ich von seinem Naturbegriff her und auf seinen Kunstbegriff hin in dem ersten Abschnitt beschrieben habe. Wenn von der Natur zu sagen ist, daß sie gar nicht nachgeahmt werden kann, dann ist die Konsequenz für die Kunst: daß diese nur so in ein Verhältnis zur Natur gelangen kann, daß sie aus Eigenem beginnt. Wenn die Natur ihre Wahrheit darin hat, sich selbst 58 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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hervorzubringen, dann kommt die Kunst in dem Maße der Natur nahe, wie sie selber das ist, was die Griechen mit poiesis meinten, und worauf unser Wort schöpferisch abzielt. Damit entsteht aber die Frage, wie denn die Kunst, wenn sie in der Tat aus Eigenem beginnt und etwas Eigenes, etwas In-sich-selbst-Stehendes zustandebringt: in welcher Weise sie dann dennoch mit der Welt – mit der Natur und mit der Gesellschaft – in einem Bezug stehen kann. Das ist der Inhalt dieses zweiten Abschnitts, der von seinem Resultat her die Überschrift hat »Die Form als ›positive Kraft‹«. Der Kernpunkt von Schellings Überlegung besteht hier in einer Gegenposition zu dem klassizistischen Begriff von Kunst als einer Mäßigung. Nicht daß Schelling das gerade Gegenteil behaupten würde, etwa so, daß er sagte: die Kunst soll nicht »apollinisch«, sondern »dionysisch« sein, vielmehr so: daß er dem ganzen Begriff des Maßes in der Kunst, also (mit Nietzsches Terminus) dem Begriff des »Apollinischen«, eine neue Bedeutung gibt. Das ist mit seiner These von der Form als einer »positiven Kraft« gemeint. In der Form, in dem Gestaltcharakter aller Kunstbildung eine negative Kraft zu sehen, das war ein in Schellings Umkreis in seiner Generation naheliegender Gedanke. Ist die »Größe« der »klassischen Form« nicht eben eine solche »stille Größe«, die den Strom des Lebens fest hält? Die Form also, die in ihrer Statik die Dynamik des Lebens, die Bewegung des Geistes negiert? Was war denn der Aufbruch gegen den Formenkanon des französischen Klassizismus im Sturm und Drang, was wurde jetzt, mit Schellings Generation, zum Impuls der Romantik? Damals: der Kampf gegen eine lebensfremde, eine lebensfeindliche Regel, jetzt: die Distanzierung von dem zwar rezeptiv bewundernswerten, aber alle eigene Produktivität lähmenden Mäßigungs-Ideal der eigenen Lehrer. Daß Schelling diesen Impuls annimmt, ohne ihm folgen zu müssen, das gibt ihm innerhalb der Kunst-Philosophie der deutschen Klassik und Romantik seinen eigenen Rang. In der Form, in dem Gestaltungsgesetz einer griechischen Statue, eines Madonnenbildes von Raphael, einer barocken Fuge etwas Negatives, etwas Einschränkendes zu sehen, das mußte sich einer Generation aufdrängen, die das in Wahrheit Wirkliche, die Seele allen Lebens in der Unendlichkeit des Suchens und des Wollens, in dem Strömen der Sehnsucht, in dem Prozeß des Begehrens erblickte. Vor dem Gedanken der Wirklichkeit als einer »schaffenden Kraft«, einer in der Energie und der Bewegung der Hervorbringungs-Aktionen bestehenden Hand59 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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lung, vor dem überhaupt nicht »Bestehenden«, sondern im Sturm des Entstehens oder Hauch des Vergehens sich vollziehenden Lebens muß alles formale Fixieren, muß alles Festlegen in die Greifbarkeit und Sichtbarkeit einer bestimmten Gestalt, kurz gesagt: der skulpturale Grundzug der Kunst als ein Einschließen, als ein Fesseln, als ein lebensfeindlicher Dogmatismus erscheinen. Die Form scheint in ihrer Statik die Negation des Lebens in seiner Dynamik zu sein, in ihrer Vereinzelung die Negation der Einheit. Wenn man den Widerspruch, der sich für einen Vergleich zwischen Kunst und Leben für die Reflexion ergeben kann, so umschreibt, dann läßt sich der – von Schelling hier lediglich referierte – Gedanke von der Form als einer Negation der Wirklichkeit für uns am einfachsten durch die zwei Intentionen des Sturm und Drang und der Romantik illustrieren, die selber der Kunstgeschichte (die Musik und Literatur eingeschlossen) angehören, aber in ihr doch so etwas wie einen Protest gegen das eigene, das künstlerische Element der Kunst darstellen: die Polemik gegen die Künstlichkeit der »Barock«-Musik in den Bekenntnissen zum »Ausdruck der Natur« in der Musik um 1750, der Kampf gegen das Regelwerk des französischen Rationalismus und Klassizismus in dem Aufstand des Sturm und Drang, die Distanzierung von dem »Kunst«-Charakter der Kunst in der Romantik. Im Falle der Romantik wissen wir von Hegel, daß es sich da in der Tat um so etwas wie eine Selbstaufhebung der Kunst durch die Kunst handelte. Und wir können ihm das auch abnehmen, in den beiden antagonistischen Tendenzen der Romantik: einerseits – primär in der Literatur der Frühromantik (wie den beiden Schlegels oder Novalis) die Abkehr von der künstlerischen »Form« auf dem Wege eines Übergangs zur Philosophie; andererseits, im Falle der etwas späteren romantischen Musik (seit 1820–30): die Abkehr von der künstlerischen »Form« auf dem Wege zu einer Expression der Emotion (wie das innerhalb der Philosophie Schopenhauer zu zeigen sucht). Von solchen Fällen einer KunstVerfremdung in der Kunst selbst wird das überlieferte (und auch substanziell zur Kunst gehörige) Merkmal des Formalen bekämpft: als eine Fesselung des Lebens, eine Negierung dessen, was man den »Geist« und die »Seele« der Natur nennen könnte. Dieser negative Begriff der Form ist verkörpert im Kunstideal des Klassizismus: Das Spezifische der »Form« läßt sich als Maß begreifen. Das Kunstideal des Klassizismus (seine Meinung von derjenigen alten Kunst, die er zu seinem Vorbild deklarierte, also derjenigen, nach der er 60 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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sich selber nennt oder nach der er genannt wird: den »klassischen« Kunstformen) drückt sich in der Forderung aus: Kunst hat als Kunst maßvoll zu sein. Und das wiederum wird von diesem Kunstideal so verstanden: daß Kunst von den Extremen, daß sie vom Übermaß abzusehen hat. Sie hat (mit dem damaligen Alternativbegriff zu Maß und Mäßigung zu reden) sich von den Leidenschaften fernzuhalten. Schelling, vom Sturm und Drang noch in seiner Studienzeit berührt, mit den Begründern der Romantik z. T. eng befreundet, reagiert nun anders als diese – damals ihre und die kommende Zeit ins Wort, ins Bild, in den Klang hebenden – Vorgänger und Freunde auf den klassizistischen Begriff von Kunst. Er nimmt dem Klassizismus den Begriff von »Form« und »Maß«, der von den philosophischen und literarischen Kunstkritikern bekämpft wird (unter den Philosophen vor Schelling Fichte, nach ihm Hegel) – er nimmt dem Klassizismus diesen Begriff von »Form« und »Maß« nicht ab. Um Schellings Kritik an diesem »Formbegriff« seiner (und weithin auch noch unserer) Zeit in ihrem konkreten Ansatz zu begreifen, ist es angebracht, darauf zu achten, woran er selber denkt, wenn er von Kunst spricht: In der Dichtung ist das neben den homerischen Epen und dem (damals schon vorliegenden) I. Teil von Goethes »Faust« in erster Linie das Ganze der uns bekannten griechischen Tragödien, ein großer Teil der (damals gerade von dem Freunde August Wilhelm Schlegel übersetzten) Werke Shakespeares und, noch innerhalb der Dichtung, Dante (ein Stück seiner Vorlesung zur »Philosophie der Kunst«, über Dante, hielt Schelling selbst für so wichtig, daß er es – unter dem Titel »Über Dante in philosophischer Beziehung« – gesondert veröffentlichte). Von daher, in diesem Horizont: der großen epischen und der großen tragischen Dichtung, in der denkbar weitesten Entfernung also von ästhetischer Idyllik und ästhetischer »Entlastung«, befaßte er sich (so gut es damals und so gut es für ihn ging) mit den Abbildungen, Nachbildungen und Beschreibungen der großen griechischen Plastik und (wie z. B. in der Dresdner Galerie) der großen italienischen und holländischen Malerei. Seine anti-klassizistische These auf eine Formel gebracht, besagt: in einem Punkt braucht man den Klassizisten nicht zu widersprechen: große Kunst zeichnet sich durch das Merkmal der Schönheit aus. Aber dieses Merkmal wird mißverstanden, es ist in sein Gegenteil verkehrt, wenn man das als harmlose Abwesenheit des Leidens und der Leiden61 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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schaften denkt, die für den Menschen die Wirklichkeit ausmachen. Und vollends falsch wäre die bildende Kunst gedeutet, wenn man ihr (wie der Erneuerer einer deutschen Literatur, wie Lessing, um seiner Apologie der Dichtkunst willen 13 ) unterstellt: sie müsse, ihrer optisch-statischen Präsenz zuliebe, von leidenschaftlicher Dynamik absehen. Eine solche Theorie verkennt – und zwar in jeder Kunst – das Wesen der Form, die Substanz der Schönheit. Ein Mißverständnis ähnlich dem heutigen Glauben, die große Kunst seit dem späten 19. Jahrhundert, das Kunstzeitalter also seit Baudelaire und Van Gogh, dem Ring der Nibelungen und dem Tristan, sei signiert, wenn man es das Zeitalter der »nicht-mehr-schönen-Künste« nennt: so als seien der Ödipus des Sophokles oder das Purgatorio und das Inferno des Dante, eine attische Grabstele oder die späten Selbstbildnisse Rembrandts in dem gleichen pervertierten Sinn des Wortes »schön« wie die Schattenkunst des Klassizismus und des Biedermeier »schöne Kunst«: abendliche Erholung von der Arbeit, Freizeitgestaltung am Wochenende, »Entlastung«. Gegen diesen ästhetisch pervertierten Begriff von Schönheit als der säuberlichen Alternative zur Häßlichkeit polemisiert Schelling mit der These: die Form, der Grundzug der Schönheit, sei eine der Gewalt der Leidenschaft nicht ausweichende, sondern sie aufnehmende, ihr standhaltende eigene Kraft, eine eigene Welt-Potenz also, deren eigener Rang gerade davon abhängt, wie groß die Kraft der zerreißenden Mächte ist, die sie als die maß-gebende Potenz jeweils mäßigt. »Hier stellt sich uns nun jene bekannte Vorschrift der Theorie dar, welche verlangt, die Leidenschaft in dem wirklichen Ausbruch so viel wie möglich zu mäßigen, damit die Schönheit der Form nicht verletzt werde. Wir glauben aber diese Vorschrift vielmehr umkehren und so ausdrücken zu müssen, daß die Leidenschaft eben durch die Schönheit selbst gemäßigt werden solle. Denn es ist sehr zu befürchten, daß auch jene verlangte Mäßigung verneinend verstanden werde, da die wahre Forderung vielmehr ist, der Leidenschaft eine
13 Zu Lessings »Laokoon« (»über die Grenzen von Malerei und Poesie«), eine Theorie, an der ja nicht nur das Mißverständnis von Plastik, sondern auch der neue (nach-barokke) Ansatz von Zeit: als linearer Ablauf, denkwürdig ist, sei hier verwiesen auf die beiden diesbezüglichen Stücke in dem Buch von Dieter Rahn, »Die Plastik und die Dinge. Zum Streit zwischen Philosophie und Kunst«, Freiburg 1993, S. 65 f. und 148 f.
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»Schöpfung« und Geschichte
positive Kraft entgegenzusetzen. Denn wie die Tugend nicht in der Abwesenheit der Leidenschaften, sondern in der Gewalt des Geistes über sie besteht: so wird Schönheit nicht bewährt durch Entfernung oder Verminderung derselben, sondern durch die Gewalt der Schönheit über sie. Die Kräfte der Leidenschaften müssen sich also wirklich zeigen.« (Schelling 1807, S. 23)
Man kann hier daran erinnern, daß die erste abendländische Dichtung, der Gesang vom »Zorn des Achill«, noch weitergehend ist: ein Gesang sogar vom Streit der Götter; und daß Themen solcherart: die Erinnerung an das Äußerste von empörenden oder ekstatischen Ereignissen, auch den Inhalt der großen, meist in den Tempeln angebrachten griechischen Skulptur auszeichnete. »Die Kräfte der Leidenschaften müssen sich also wirklich zeigen.«
Diese Klassizismus-Kritik Schellings wird zwei Generationen später von Nietzsche erneuert. Und auch da wieder in dem berechtigten Bewußtsein, mit einer solchen Kritik gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Nietzsche hat dabei (zwischen 1870 und 1890) die gleiche Argumentation – nur in den Formulierungen verschärft – und er bezieht den inzwischen aufgenommenen (sich selbst schon für einen Antipoden des Klassizismus haltenden) wissenschaftlichen Realismus in den kritisierten Begriff von »Maß« und »Mäßigung« mit ein. Das geschieht besonders in späteren Rückblicken auf seinen Frühwerk-Gedanken von der Duplizität des Dionysischen und Apollinischen. Der Grundzug von Kunst, den Schelling durch das Merkmal der Form oder des Maßes gekennzeichnet sieht, deckt sich mit den Merkmalen dessen, was Nietzsche »Apollinisch« nennt: das große, durch die Klarheit seiner Form in einen eigenen Stand gebrachte, in einen eigenen Raum von anderen abgehobene Werk. Von dieser – typisch »klassischen« oder typisch griechischen – Verfassung von Kunst erklärt nun Nietzsche: sie ruhe – in der gleichen Weise, wie die Werke jeweils groß sind, – auf einem »dionysischen Untergrund«. Und diesen Sachverhalt nicht zu sehen, sich durch die Ruhe der Form auch zum Urteil über die Substanz dieser Werke und dieser Kultur verleiten zu lassen, das macht er den Griechen-Verehrern seiner Zeit zum Vorwurf. Dazu hier nur zwei Zitate aus dem Spätwerk. In dem Kapitel der »Götzendämmerung« (von 1888), das die 63 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
Überschrift hat: »Was ich den Alten verdanke«, sagt Nietzsche (im 3. Abschnitt): »In den Griechen ›schöne Seelen‹, ›goldene Mitten‹ und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa in ihnen die Ruhe in der Größe, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern – vor dieser ›hohen Einfalt‹ … war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. … ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaßregeln, um sich voreinander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. … Man hatte es nötig, stark zu sein: die Gefahr war in der Nähe –, sie lauerte überall. Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Not, nicht eine ›Natur‹ gewesen.«
Und in einem längeren Aphorismus über den Antagonismus des Apollinischen und des Dionysischen aus dem Frühjahr des letzten Arbeitsjahres lautet der letzte Absatz: »Diese Gegensätzlichkeit des Apollinischen und Dionysischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Rätsel, von dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu erraten, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte: der dionysische Grieche nötig hatte, apollinisch zu werden: das heißt, seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, so wenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte, – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg.« (WzM 1050, KGW VIII, 14 [17])
In einer Schrift wenige Jahre nach der Münchner Rede – die nicht mehr kunstphilosophisch, sondern geschichtsphilosophisch ausgerichtet ist –, in den »Weltaltern« von 1812/13, macht Schelling den Gedanken von der Form als einer positiven Kraft an einem Sachverhalt klar, der unmittelbar nichts mit Kunst zu tun hat, der vielmehr die Verfassung des Menschen überhaupt betrifft. Was in dem Bereich der Münchner 64 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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Rede »Leidenschaft« und »Maß« hieß, das heißt hier nun »Wahnsinn« und »Verstand«. Das Wort »Wahnsinn« dabei – im Sinne der griechischen Begriffe mania und enthousiasmos – als das dem Verständigen, Sinnhaften Entgegenstehende gemeint: das Nicht-Sinnige, in der Wortprägung ähnlich wie Schelling seit der Freiheitsschrift das selber nicht mehr als Grund Faßbare den »Un-grund« nennt. In dieser Duplizität von »Wahnsinn« und »Verstand« verdeutlicht sich die antipodische Struktur, wie sie Schelling in den früheren Schriften der Kunst zugesprochen hat, – auf die sich seine ganze Kunst-Philosophie gründet; und die er (selber grundlegend) in dem Schlußstück seines »Systems des transzendentalen Idealismus« von 1800 entwickelt hat: seine Konzeption der schönen Künste als der Duplizität einer bewußten Kraft und einer bewußtlosen Kraft. (In ihr gründet auch Schellings Gedanke des Geschichtsbezugs der Kunst.) Die »Weltalter«-Stelle hat nun den Vorzug, die Rangstellung dessen, was Schelling damals wie später »Verstand« nennt, in seinem Verhältnis zu den »bewußtlosen« Kräften besonders deutlich zu bezeichnen – und damit dem Mißverständnis vorzubeugen, das sich an Schellings Beachtung der »unbewußten« Aspekte bei der Entstehung und bei der Erfahrung von Kunst geheftet hat: der Meinung, wenn jemand nicht Rationalist ist, dann könne er nur Irrationalist sein. Historisch formuliert: wenn Schelling in der Kunst nicht Klassizist ist, dann muß er – ein Romantiker sein; wenn er in der Philosophie das Bewußtlose ernst nimmt, dann muß er ein Vorläufer Schopenhauers sein. Die »Weltalter«-Stelle findet sich in dem Fragment von 1813. Die Art, wie Schelling das Verhältnis der beiden Kräfte zueinander darlegt, klingt zuerst wie eine Bestätigung der irrationalistisch-romantischen Schelling-Deutungen, denn diese bewußtlose (und damit »blinde«) Kraft wird hier als die »Grundkraft« alles ursprünglichen Schaffens deklariert, – und es sieht auf den ersten Blick so aus, als solle das ganze Beispiel von einem Vorrang des Unbewußten über das Bewußte zeugen. Dieser Anschein vergeht aber, wenn man das Stück mit der Frage liest, was denn hier »Grundkraft« heißt. Man sieht dann nämlich, daß eine gewisse Bevorzugung jener »Grundkraft« im Ton der Darstellung nichts daran ändern kann, daß sie gerade nicht jene »höhere Kraft« ist. Schelling sagt in diesem Passus der »Weltalter«: »Die Grundkraft alles anfänglichen und ursprünglichen Schaffens muß eine bewußtlose und nothwendige seyn, da eigentlich keine
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Drittes Kapitel
Persönlichkeit einfließt; wie in menschlichen Werken desto höhere Kraft der Wirklichkeit erkannt wird, je unpersönlicher sie entstanden. Wenn in dichterischen oder andern Werken eine Eingebung erscheint, so muß auch eine blinde Kraft darin erscheinen; denn nur diese ist der Eingebung fähig. Alles bewußte Schaffen setzt ein bewußtloses schon voraus, und ist nur Entfaltung, Auseinandersetzung desselben. Nicht umsonst haben die Alten von einem göttlichen und heiligen Wahnsinn gesprochen. … Nicht umsonst wird der Wagen des Dionysos von Panthern oder Tigern gezogen; denn es war dieser wilde Taumel der Begeisterung, in welchen die Natur vom Anblick des Wesens geräth, den der uralte Naturdienst ahndender Völker in den trunkenen Festen bacchischer Orgien gefeiert. … Die größte Bestätigung dieser Beschreibung ist, daß jener sich selbst zerreißende Wahnsinn noch jetzt das Innerste aller Dinge, und nur beherrscht … durch das Licht eines höheren Verstandes, die eigentliche Kraft der Natur und aller ihrer Hervorbringungen ist. … Wo aber kein Wahnsinn, ist freilich auch kein rechter, wirkender, lebendiger Verstand (daher auch der todte Verstand …); denn worin soll sich der Verstand beweisen als in der Bewältigung, Beherrschung und Regelung des Wahnsinns?« (Erste Gesamtausgabe von 1856 ff., 8, 337–339) (S. dazu in dem zweiten der beiden »Schelling«-Bände des Verf. den Abschnitt II / 4 »Intuition und Reflexion«, S. 138–172.)
Der Verstand hat darin seinen ebenso hohen wie unersetzlichen Ort, daß er die Bändigung des Verstandlosen ist. In dem gleichen Sinn handelt Schelling in der Münchner Rede von dem Verhältnis zwischen Form und Leidenschaft. Das Maß hat darin sein ebenso hohes wie unersetzliches Gewicht, daß es die Mäßigung des Maßlosen ist. »Die Bestimmtheit der Form ist in der Natur nie eine Verneinung, sondern stets eine Bejahung. Gemeinhin denkst du freilich die Gestalt eines Körpers als eine Einschränkung, welche er leidet, sähest du aber die schaffende Kraft an, so würde sie dir einleuchten als ein Maß, das diese sich selbst auferlegt, und indem sie als eine wahrhaft sinnige Kraft erscheint. Denn überall wird das Vermögen eigener Maßgebung als eine Trefflichkeit, ja als eine der höchsten angesehen. Auf ähnliche Weise betrachten die meisten das Einzelne als
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verneinend, nämlich als das, was nicht das Ganze oder alles ist: es besteht aber kein Einzelnes durch seine Begrenzung, sondern durch die ihm einwohnende Kraft, mit der es sich als ein eignes Ganzes, dem Ganzen gegenüber behauptet.« (Schelling 1807, S. 16)
Und kurz danach: die Konsequezenz des Natur-Vergleichs für das, was Schelling von der Kunst sagen will: »Wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Entäußerung ist, so muß der Künstler zuerst sich selbst verleugnen und ins Einzelne hinabsteigen, die Abgeschiedenheit nicht scheuend, noch den Schmerz, ja die Pein der Form.« (Schelling 1807, S. 17)
3. »Schöpfung« als geschichtliche Gründung Schellings Gedanke von der »Form« als einer »positiven Kraft« sagt schon dem Wortlaut nach: sie ist etwas anderes als eine »negative Kraft«: sie muß nicht darin aufgehen, die Dynamik des Lebens, die Universalität des Geistes, den Schmerz des Leidens, die Gewalt der Leidenschaft zu fesseln – und damit zu tilgen. In Schellings Anerkennung der Gestalt im Namen des Lebens, in dieser Einsicht in den Weltbezug des bildenden Begrenzens steht Schelling der »Klassik« näher als der »Romantik«: der Weimarer Klassik der Dichtung, der Wiener Klassik der Musik, – unter seinen Generationsgenossen: dem, was Hölderlin oder Kleist mit dem »West-östlichen-Divan« oder der großen Dramatik Schillers verbindet, dem, was Beethoven mit Mozart (aber nicht mit Wagner) verbindet. In einen weiteren Horizont gestellt: er nimmt hier teil an derjenigen nordalpinen Tradition der Kunst, die – bei Dürer wie bei Händel (und selbstverständlich auch Bach), bei Balthasar Neumann wie bei dem späteren Goethe, bei Hölderlin wie bei Nietzsche – ihr Eigenes fand in der Anerkennung des »Südens«: dem Maß, das das »mittelmeerische Denken« prägt, von dem der Nordafrikaner Camus in seinem Buch »L’homme révolté« (»Der Mensch in der Revolte«) spricht, dem »Süd-Motiv« Gottfried Benns.
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Drittes Kapitel
»Mittelmeerisch«: Ach, aus den Archipelagen, da im Orangengeruch selbst die Trümmer sich tragen ohne Tränen und Fluch, strömt in des Nordens Düster, Nebel und Niflheim, Runen und Lurengeflüster mittelmeerisch ein Reim: Schließlich im Grenzenlosen eint sich Wahrheit und Wahn, wie in der Asche der Rosen schlummert der Kiesel, Titan, dein aber ist das Schreiten, dein die Grenze, die Zeit, glaube den Ewigkeiten, fordre sie nicht zu weit, aus ihrer halben Trauer, rosen- und trümmerschwer, schaffe den Dingen Dauer –, strömt es vom Mittelmeer.
(Hier: nach der Ausgabe »Statische Gedichte«, Die Arche in Zürich 1948, S. 56 / Lizenzdruck: Limes Wiesbaden) Schellings Gedanke von der Form als »positiver« (die Energien des Lebens in Sprache verwandelnden) Kraft ist die Konsequenz seines Ausgangsgedankens zur Kunst: dem Gedanken, das Kunstwerk, das große Kunstwerk – dessen Größe sich in einer dem Natur-Ding ähnlichen Autarkie, der Unabhängigkeit von allem subjektiven Ausdruck, bezeugt –, dem Gedanken, daß diese Größe des großen Werkes darin beruht, daß hier zwei einander entgegengesetzte Kräfte (oder »Potenzen«) am Werk waren: eine, wie Schelling sagt, bewußte und eine bewußtlose Kraft. Diesen Kontrastbezug (den Schelling zuerst im Abschlußteil seiner ersten in sich abgeschlossenen Veröffentlichung, 68 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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dem »System des transzendentalen Idealismus« von 1800 entwickelt hat) erläutert er im letzten der beiden Teile des Spätwerks, der »Philosophie der Offenbarung«, in seiner Antwort auf die Frage, was eigentlich mit der alten biblisch-mythischen Redewendung von der Welt als einer »Schöpfung« Gottes gemeint sein kann, an dem Vermögen des »Schaffens« von Kunstwerken: Einer »blinden, ihrer Natur nach schrankenlosen Produktionskraft« steht eine »besonnene, sie beschränkende und bildende … Kraft in demselben Subjekt entgegen … in demselben Augenblick zugleich trunken und nüchtern zu seyn, dieß ist das Geheimniß der wahren Poesie. Dadurch unterscheidet sich die apollinische Begeisterung von der bloß dionysischen. Einen unendlichen Inhalt in der vollendetsten, d. h. in der endlichsten Form darzustellen, das ist die höchste Aufgabe in der Kunst.« (Im 4. Band des vierteiligen Spätwerks, S. 25 f.)
Es ist nun denkwürdig, daß diesem Anklang an Nietzsche im Wortgebrauch, das Apollinische im Unterschied zum bloß Dionysischen, in Nietzsches Formulierung: im Unterschied zum »barbarisch Dionysischen«, während das »griechisch Dionysische« nach Nietzsches Überzeugung immer schon auf diese »apollinische« Einheit des Entgegengesetzten hin tendiert (verwirklicht zuletzt in den großen Tragödien des alten Griechenland) –, daß dieser Anklang im Wortgebrauch einer Verwandtschaft in der Sache auch bei demjenigen Kronzeugen entspricht, auf den sich Nietzsche in der Schlüsselstelle seiner Tragödien-Schrift beruft. Das ist der 5. Abschnitt dieser Schrift, der das Wesen der Kunst überhaupt am Paradigma einer scheinbar ganz besonders »dionysischen« Form von Kunst, nämlich der Lyrik (mit der wiederum an den Leidenschaftlichsten der ältesten griechischen Lyriker: Archilochos, gedacht ist) darlegt. Nietzsche beruft sich dabei auf eine Äußerung Schillers gegenüber Goethe, nämlich aus den Tagen der »Zurüstung« seiner Arbeit an seinem »Wallenstein« (Brief vom 18. März 1796 aus Jena) mit der Frage an Goethe, wie bei ihm ein Drama entstehe. Bevor ich darauf eingehe (auch schon mit dem Gedanken an das folgende Kapitel über Nietzsche), ein Blick auf eine spätere, aber denselben Sachverhalt ansprechende Äußerung Schillers über Schelling in seinem Briefwechsel mit Goethe (vom 27. März 1801, noch aus Jena, aber schon mit dem Gedanken an die Übersiedlung nach Weimar). 69 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
Der Form nach handelt es sich um eine – freundschaftlich gemeinte – Kritik. (Goethe und Schiller waren sich in der Zuneigung zu dem jungen Philosophen, der Goethes Liebe zur Natur, Schillers Interesse an Sophokles und Shakespeare teilte, einig.) In Wahrheit ist es eine tiefgreifende Bestätigung von Schellings Gedanken. Der Brief beginnt mit einem kurzen Resumé des Aufenthalts in Jena im Frühjahr 1801. Schiller spricht erst von seiner dichterischen Arbeit und dann von seinem persönlichen Umgang in Jena. Und dazu sagt er: »Auch von der hiesigen Welt habe ich, wie es mir immer geht, weniger profitiert, als ich geglaubt hatte; einige Gespräche mit Schelling und Niethammern waren alles«. (Im vorhergehenden Brief an Goethe nennt er die beiden »meine zwei Philosophen«.) Und um den Hintergrund der Kritik zu sehen, lohnt sich ein Zitat aus einem Brief Schillers an Schelling, nachdem er das Buch, von dem hier die Rede ist, »Das System des transzendentalen Idealismus«, von Schelling bekommen hatte, ein Brief vom 1. Mai 1800: »Da Sie selbst in Ihrem System ein so enges Band zwischen Philosophen und Poeten flechten, so lassen Sie dies auch unsere Freundschaft unzertrennlich knüpfen«. Bei dem Bericht an Goethe handelt es sich um eine – wie Schiller meint – konträre Auffassung über das Verhältnis zwischen Anfang und Ende in der künstlerischen Arbeit. Schiller schreibt (am 27. März 1801 aus Jena): »… Erst vor einigen Tagen habe ich Schelling den Krieg gemacht wegen einer Behauptung in seiner Transcendentalphilosophie, daß ›in der Natur von dem Bewußtlosen angefangen werde um es zum Bewußten zu erheben, in der Kunst hingegen man vom Bewußtseyn ausgehe zum Bewußtlosen.‹«
Schiller meint damit eine Bemerkung aus dem letzten (der Kunst gewidmeten) Abschnitt des Transzendentalsystems. Schelling formuliert darin (§ 1) das Fazit eines Vergleichs von Kunst-produkten mit Naturprodukten: »Die Natur fängt bewußtlos an und endet bewußt«. Das soll heißen: ein Tier, ein Gewächs weiß bei seinem Entstehen nicht, worauf es aus ist; aber was dann entsteht, hat den Charakter eines »bewußt« (eines willentlich) Entstandenen: es ist (wie Leibniz – und dann, in der »Kritik der Urteilskraft«, Kant – hervorgehoben haben) zweck-mäßig eingerichtet. Umgekehrt der von Schiller beanstandete Satz: »Das Ich in der Tätigkeit, von welcher hier die Rede ist [also der 70 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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künstlerischen Tätigkeit], muß mit Bewußtsein [d. h. subjektiv] anfangen [das Selbstbewußtsein ist auf jeden Fall beteiligt] und im Bewußtlosen oder objektiv« enden. Und das heißt nach dem Kontext: Ein Bild, ein Bau, ein Gedicht, ein Lied – diese Gebilde bestehen (im Unterschied zu einem Handwerksprodukt) unabhängig von dem hervorbringenden Subjekt. Schiller räumt hier auch ein: es sei Schelling »zwar hier nur um den Gegensatz zwischen dem Natur- und dem Kunstprodukt zu thun, und in so fern hat er ganz recht.«
Ich gebe Schillers Äußerung erst einmal im Zusammenhang wieder, um dann erst das Mißverständnis (das zu dieser Äußerung den Anstoß gegeben hat) zu klären. Daß Schillers Erfahrung der künstlerischen Hervorbringung im ganzen und vor allem in dem entscheidenden Punkt: dem Sinn der »Vereinigung« des »Bewußtlosen« mit dem »Besonnenen«, Schellings Konzeption bekräftigt und erhellt, wird schon aus dem (polemisch gemeinten) Zitat klar werden: »Ich fürchte aber, daß diese Herren Idealisten ihrer Ideen wegen allzuwenig Notiz von der Erfahrung nehmen, und in der Erfahrung fängt auch der Dichter nur mit dem Bewußtlosen an, ja er hat sich glücklich zu schätzen, wenn er durch das klarste Bewußtseyn seiner Operation nur soweit kommt, um die erste dunkle Totalidee seines Werks in der vollendeten Arbeit ungeschwächt wieder zu finden. Ohne eine solche dunkle, aber mächtige Totalidee die allem technischen vorhergeht, kann kein poetisches Werk entstehen, und die Poesie, däucht mir, besteht eben darin, jenes Bewußtlose aussprechen und mittheilen zu können, d. h. es in ein Objekt überzutragen. Der Nichtpoet kann so gut als der Dichter von einer poetischen Idee gerührt seyn, aber er kann sie in kein Objekt legen, er kann sie nicht mit einem Anspruch auf Nothwendigkeit darstellen. Ebenso kann der Nichtpoet so gut als der Dichter ein Produkt mit Bewußtseyn und mit Nothwendigkeit hervorbringen, aber ein solches Werk fängt nicht aus dem Bewußtlosen an, und endigt nicht in demselben. Es bleibt nur ein Werk der Besonnenheit. Das Bewußtlose, mit dem Besonnenen Vereinigt macht den poetischen Künstler aus.«
Schelling hätte dieser Erfahrung nur zustimmen können, ja sich ganz wesentlich bestätigt fühlen müssen. Im Fortgang jenes § 1 erklärt er 71 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
auch ausdrücklich: der »Trieb« zur Hervorbringung sei »unwillkürlich« und ebenso ende auch »nach den Bekenntnissen aller Künstler« die »ästhetische Produktion«. Wenn Schelling im Vergleich zur Natur bei der Kunst von einem Anfang mit Bewußtsein spricht, so ist das demgegenüber kein Einwand, denn was im Falle der Kunst, im Falle der menschlichen Hervorbringung von »Werken«, als ein »Trieb« wirkt, das ist, wie Schelling ausführlich darlegt, eben kein Natur-Trieb, keine Schwächung oder gar Dispensierung des Bewußtseins, sondern eine Steigerung des Bewußtseins. Es ist der Vollzug dessen, was Schelling später den Grundwiderspruch in allem Seienden nennt: nämlich der zwischen der Intention zur Selbsttätigkeit, zur Freiheit, und zur Selbst-Erkenntnis, zur Objektivität: Wie kann das freie Handeln sich als frei erkennen, wenn doch Erkennen heißt, vorstellbar werden, also Notwendigem begegnen? Dieser Grundwiderspruch, die Differenz zwischen Freiheit und Natur überhaupt, spielt sich ab als die menschliche Geschichte; und sie wird in ihrer Widersprüchlichkeit, in ihrem Widerstreit eigens erfahren als der Trieb zum (künstlerischen) Schaffen. »Trieb« also nicht in dem – späteren – psychologischen Sinn des Wortes, sondern als das unausweichliche Verlangen zu einem Sprechen, Bilden, Bauen, Theater-spielen, Tanzen, in dem der Widerspruch zwischen Naturnotwendigkeit und Selbsttätigkeit (für Augenblicke) überbrückt wird. Es ist das Bewußtsein einer fehlenden Einheit, was zu dem Trieb, die Einheit herzustellen, führt. Es ist demnach ein Höchstmaß von Bewußtsein, was den »unwillkürlichen«, den über das bloß Machbare hinausreichenden »Trieb« zur Arbeit im Falle von Kunst in Gang bringt. Daß Schiller eben diesen Sachverhalt im Sinn hat, wird klar, wenn man fragt, warum denn das Bewußtlose – wie er in dem Brief an Goethe sagt – ausgesprochen und mitgeteilt, warum es denn in-einObjekt-übertragen werden soll. Warum will der Dichter denn »die erste dunkle Total-Idee« »ungeschwächt wiederfinden«? Kommt dieses Verlangen als etwas Nachträgliches zu der ersten Empfindung der »Idee« hinzu? Oder liegt nicht eben darin, daß das, was Schiller hier »Idee« nennt, von sich aus auf einen Zustand des Ausgesprochenseins hin tendiert? In dieser Tendenz zum Werk, darin also, daß es eben die »Idee« seines Werkes ist, liegt der Grund, daß diese »Idee« kein bloßes Gefühl – ebensowenig wie ein bloßer Gedanke –, sondern, wie Schiller sagt, eine »mächtige Idee« ist. Was hier von Schiller »dunkle Total72 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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Idee« genannt wird, das meint Schelling, wenn er in der Mitte des ersten Paragraphen (Band 3, S. 616) erklärt, der Anspruch, der die Tätigkeit des Künstlers leite, sei »ein Widerspruch«, »der den ganzen Menschen mit allen seinen Kräften in Bewegung« setze. Wie wenig man da mit bloßer Psychologie, mit bloßer Anthropologie weiterkommt, wie nahe man eben bei dem ist, worin scheinbar die »Schöpfungs«-kraft, die »Einbildungs«-kraft des Künstlers der Kontinuität der Geschichte, also dem überindividuellen Gang der Wirklichkeit entzogen ist, das läßt sich einer früheren Äußerung Schillers in seinem Briefwechsel mit Goethe entnehmen. Es ist eine Äußerung, mit der Schiller eben das, was er in dem Einwand gegen Schelling die »erste dunkle Total-Idee des Werkes« genannt hat, unabhängig von der Vieldeutigkeit des Wortes »Idee« bezeichnet, – ein Stück, das nicht auf einen Philosophen bezogen ist, wohl aber auf einen Philosophen gewirkt hat: Nietzsche nämlich geht im 5. Abschnitt seiner Tragödienschrift darauf ein, wo er klar machen will, daß alle Kunst, auch eine so leidenschaftlich-lyrische wie die des Archilochos, mehr ist als ein Ausdruck des Subjekts. Im Hinblick auf Schelling ist dieser Briefpassus durch die Klärung des »bewußtlosen« Faktors der Kunst hilfreich, um so mehr, als Schiller sich damit auf die Entstehung seines »Wallenstein« bezieht, diesen Inbegriff also eines »Ideen-Dramas«. Dieser kurze Brief aus dem Anfang des zweiten Jahres dieser Freundschaft mit Goethe, »Jena, den 18. März 1796«, lautet: »Seit Ihrer Abwesenheit ist es mir noch immer ganz erträglich gegangen, und ich will recht wohl zufrieden seyn, wenn es in Weimar nur so continuiert. Ich habe an meinen Wallenstein gedacht, sonst aber nichts gearbeitet. Einige Xenien hoffe ich vor der merkwürdigen Constellation noch zu Stande zu bringen – Die Zurüstungen zu einem so verwickelten Ganzen, wie ein Drama ist, setzen das Gemüth doch in eine gar sonderbare Bewegung. Schon die allererste Operation, eine gewisse Methode für das Geschäft zu suchen, um nicht zwecklos herumzutappen, ist keine Kleinigkeit. Jetzt bin ich erst an dem Knochengebäude, und ich finde, daß von diesem, eben so wie in der menschlichen Struktur, auch in dieser dramatischen alles abhängt. Ich möchte wissen, wie Sie in solchen Fällen zu Werk gegangen sind. Bey mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine
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Drittes Kapitel
gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bey mir erst die poetische Idee.«
Am Anfang steht eine »musikalische Gemüthsstimmung«. Und »Anfang«, das heißt hier bleibende »Methode«, bleibende Gangart, bleibende Ton-Art: der ständige Maßstab dessen, was in der Ausführung das Ganze ausmacht, was der Vielfalt der Dialoge, dem Wechsel der Handlungs-Schritte die Einheit verleiht. Schillers Rede von der »musikalischen Gemüthsstimmung«, dem rhythmischen Gefüge also des Anfangs, kann uns dabei helfen, die antiken Äußerungen über den Anfang von Dichtung zu begreifen, die behaupten, der Dichter sage, was er höre. Am Anfang steht danach nicht ein subjektives Erfinden, sondern ein Auf- und Annehmen. Nur ist eben gerade das kein Widerspruch zu dem, was spätere Zeiten mit dem biblischen Begriff des »Schöpferischen« zu umschreiben suchen. Das antike Vorbild für den Anfang einer Dichtung, der Beginn von Hesiods »Theogonie«: der Dichter, der auf dem Berge von den Musen angerufen wird, deutlicher noch: der von ihnen wachgerufen wird. Das Hören ist nichts Erlernbares. Aber es ist erst recht nicht (dazu wäre es in der Tat ein Widerspruch) ein »Schaffen« im Sinne des technischen Produzierens, also ein Machen. Als Hörender kann der Dichter gleichermaßen »Poet«, Her-vor-bringender, sein, wie »Architekt«: Vermittler von Handlungsmaßstäben im Gang der geschichtlichen Wirklichkeit. Die »ästhetische« Hervorbringung kann, im großen wie im kleinen, geschichtsgründend sein, weil das Anfangen hier selbst ein Antworten ist. Das Resumé der Erläuterung von Schellings Gedanken der »Form als einer positiven Kraft« war hier nun schon die Einleitung des letzten Schelling-Abschnitts: Schöpfung als geschichtliche Gründung. Ich erinnere an die Beispiele zu Anfang der bildenden Kunst bei den Griechen: die homerischen Epen, die geometrische Keramik, die ersten Statuen junger Mädchen und junger Männer (Grabstelen und Weihegaben). Was die Tat der Kunst hervorruft, das ist ein – von der Verfassung der wirklichen Geschichte geweckter – Anspruch zu einer neuen Sprache. Diese Sprache, die Sprache des Tempels, des Standbildes, des Epos im Beispiel Griechenlands, zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: eines, das von diesen Künsten selbst reflektiert und ausgesprochen 74 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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wurde (von Plato dann in seine Erklärung der menschlichen Erkenntnis übernommen wurde): was wir Kunst nennen, ist nach dieser altgriechischen Erfahrung in ihrem grundlegenden, alle Kunstgattungen prägenden Dichtungscharakter Erinnerung (mnemosyne, anamnesis). Das andere – dazugehörige – Merkmal, das nur erst den Nachfolgern, also uns, im Rückblick, zum Bewußtsein kommt: In dieser Erinnerung, in diesem Darstellen des aus alten Zeiten berichteten Zorns des Achill, der Leiden des Odysseus (diesen beiden ständig aktuellen Urformen dessen, was »Leidenschaft« des Menschen sein kann), – in diesem ZurSprache-Kommen des Erlittenen, Zur-Sage-Werden der Vor-Zeit, ereignet sich Zeit. In der Mäßigung des titanischen Übermaßes durch jenes »Bilden«, das wir »Kunst« nennen, ereignet sich die Maßgabe, die einem neuen Handeln Orientierung gibt. Diese dichtende und bauende, bildende und fügende Erinnerung einer weltgeschichtlichen Vor-Zeit entwirft in den Rhapsoden-Vorträgen des Epos wie im Giebel-»Schmuck« der Tempel oder den Tragödien-»Spielen« Wegzeichen der Gegenwart. Dieses Verhältnis der Kunst-Form zum Geschichts-Gang meint Herodot, wenn er sagt, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter gegeben (poiein). Schellings Gedanke von der Zugehörigkeit der Kunst zum Gang der wirklichen Geschichte in ihrem eigenen »poetisch«-»schöpferischen« Wesenszug läßt sich erläutern an seiner Berufung auf die antike Selbstdeutung dieses Bezuges. Sie konzentriert sich in einem zweifach formulierten Kontrastbezug: dem Zusammenhang von »Form« und »Chaos« in der Theogonie Hesiods; dem Geflecht von »Wesen«, »Grund« und »Existenz« (des Wesens) in Schellings »Schöpfungs«Verständnis. An diese Trias sei im Gedanken an das Ganze dieses Schelling-Kapitels kurz erinnert. Das Entscheidende: Der Terminus »Grund« hat hier nicht die Bedeutung von Quellgrund, von Ursache, sondern die von Anstoß, von Provokation. Ohne den Kontrast zur Dunkelheit würde Licht nicht als Licht leuchten. Bei diesem Beispiel wirkt die Rede wie ein Pleonasmus: »Licht« ist doch Leuchten. Ja, aber ohne das NichtLicht der Nacht bliebe das Licht nur ein Gedanke, es wäre nicht, was es – seinem »Wesen« nach – ist. Oder: es »ist« eben nicht. Sein und Schein sind hier dasselbe. In einer Formulierung aus Schellings »Philosophie der Kunst«: Das Licht »wird offenbar und erscheint nur im Kampfe gegen die Nacht, welche als der ewige Grund alles Daseyns, 75 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
selbst nicht ist, obgleich sie durch ihre beständige Gegenwirkung sich als Macht beweist« (5, 541). Für die Natur (die »physis«) im ganzen sieht Schelling die »gründende« Ermöglichung des – vom »Wesen« der Natur (der »physis«) her erforderlichen – »Existent«-Werdens, also In-Erscheinung-Tretens, in dem Negativ-Prinzip der »Schwerkraft« angelegt. In einer schon zur Ausbildung des Spätwerks gehörigen Vorlesung »Zur Geschichte der Philosophie« von 1827 verdeutlicht Schelling diese Trias (diese triadische Vergeschichtlichung der traditionellen Ontologie) am Flug des Vogels: »Die Kraft des Adlers im Flug bewährt sich nicht dadurch, daß er keinen Zug nach der Tiefe empfindet, sondern dadurch, daß er ihn überwindet, ja ihn selbst zum Mittel seiner Erhebung macht.« (10, 177).
Zum Urbild dieses triadischen Kontrastbezugs dessen, was wir einfach die Welt nennen können, ist die griechische Mythologie für Schelling darin geworden, daß hier die konträr-provokante »Grund«-Macht nicht so erfahren wird, daß sie durch die mächtigere »Wesens«-Macht (den olympischen Götterkreis) beseitigt wird, sondern, wie Schelling sagt, nur »verdrungen«, also verwandelt und damit erhalten wird, eigens als Grundelement (im Doppelsinn des Wortes:) »erkannt« wird. Der Kontrastbezug der olympischen Form zum titanischen Chaos: die Titanen bleiben nach der Überwindung durch die (für Schelling eigentlichen) Götter nicht nur lebendig, sie sind nach dieser Wandlung zum eigentlichen und so bleibenden »Grund« geworden, ja, damit sogar »ehrwürdig«. Man »versetzte« sogar, wie Schellings Gewährsautor, K. Ph. Moritz, betont, »das goldene Zeitalter unter die Regierung des Saturnos« (»Götterlehre«, nach der Ausgabe 1795, Nachwort hier: Wilhelm Haupt; F. A. Herbig, Berlin, München, Wien o. J., S. 21). Schellings Wiedergabe dieses Kernstücks der Hesiodischen Theogonie (mit der Berufung auf K. Ph. Moritz’ »Götterlehre«) sei hier um der diagnostischen Präsenz willen, nur wenig gekürzt, im Ganzen vorgelegt (§ 30 der »Philosophie der Kunst«; 5, 394 f.): »Die vollkommenen Götterbildungen« konnten »erst erscheinen …, nachdem das rein Formlose, Dunkle, Ungeheure verdrungen ist. In
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»Schöpfung« und Geschichte
diese Region des Dunkeln und Formlosen gehört noch alles, was unmittelbar an … den ersten Grund des Daseyns erinnert … Als der gemeinschaftliche Keim der Götter und Menschen ist das absolute Chaos Nacht, Finsterniß … Es muß eine Welt unförmlicher und ungeheurer Gestalten versinken, ehe das milde Reich der seligen und bleibenden Götter eintreten kann … Die ersten Geburten aus den Umarmungen des Uranos und der Gäa sind noch Ungeheuer, hundertarmige Riesen, mächtige Cyclopen und die wilden Titanen, Geburten, vor denen sich der Erzeuger selbst entsetzt und sie wieder in den Tartaros verbirgt. Das Chaos muß seine eignen Geburten wieder verschlingen. Uranos, der seine Kinder birgt, muß verdrungen werden, es beginnt die Herrschaft des Kronos. Aber auch Kronos noch verschlingt seine eignen Kinder. Endlich beginnt das Reich des Zeus, aber auch dieses nicht ohne vorhergegangene Zerstörung. Jupiter muß die Cyclopen und die hundertarmigen Riesen befreien, damit sie ihm gegen Saturn und die Titanen beistehen, und erst nachdem er diese Ungeheuer und die letzten Geburten der über die Schmach ihrer Kinder zürnenden Gäa, die himmelstürmenden Giganten und das Ungeheuer, an dem sie ihre letzten Kräfte verschwendet, den Typhöeus besiegt hat, klärt sich der Himmel auf, Zeus nimmt ruhigen Besitz vom heitern Olymp, an die Stelle aller unbestimmten und formlosen Gottheiten treten bestimmte, bezeichnete Gestalten, an die Stelle des alten Okeanos Neptun, des Tartaros Pluto, an die Stelle des Titanen Helios der ewig jugendliche Apoll. Selbst der älteste aller Götter, Eros, den die älteste Dichtung zugleich mit dem Chaos seyn ließ, wird als Sohn der Venus und des Mars wieder geboren und eine begrenzte [umgrenzte] bleibende Gestalt.«
Schellings Einsicht in das Verhältnis zwischen Kunst und Geschichte gehört zu denjenigen Gedanken, die noch immer darauf warten, überhaupt erst einmal anzukommen. Wir sind noch immer gefesselt von dem Schema: entweder Ursache oder Wirkung. Schellings Befreiung von diesem Schema möchte mit dem Titel »Schöpfung als geschichtliche Gründung« angezeigt sein. Vertraut ist dieser Sachverhalt der Erfahrung von Kunst selbst (wie z. B. noch für Bach), die nur den Kunsttheorien (nach Bach) verschlossen blieb: daß das Hervorgehen von Kunst weniger ein Machen als ein Antworten ist. Der griechische Mythos von den Musen zeugt davon ebenso wie Hesiods »Theogonie«. 77 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Drittes Kapitel
Die olympische Götterwelt (Zeus, Apollon, Athena): eine Antwort auf das »Titanische«, das Elementare, das Chaotische, das verwandelt bewahrt blieb. Die eigene Stellung der Kunst in der Geschichte, die durch keine Sublimierung, wie etwa durch die Wissenschaft, ersetzbar ist, entspricht dem, worin überhaupt die Neuanfänge, die Umschläge in der Geschichte der menschlichen Kulturen bestehen. In der bildenden-bauenden Interpretation des natürlich Vorgegebenen, in der Überwindung qua Verwandlung des Titanischen zu Sprache, Klang und Stand werden Handlungs-Maßstäbe errichtet, gelangt das Verbindende, gelangt etwas jeweils Einheitliches zur Existenz, und d. h.: es kann Einheit-stiftend werden. Das »Streit«-Verhältnis, das Schelling als die Eigenart des Unterschieds von Wesen und Grund und als die Grundlage des jeweiligen Existierens von Einheit hervorhebt, bedeutet, daß es ein solches Existieren wie das der »Kunst« niemals als einen Dauerzustand geben kann. Was als Kunst – und gar als etwas (wie Schelling sagt) Höchstes in der Kunst – zur Existenz gelangt, gelangt eben auch nur in dem Akt und als der Akt des Umschlags, das heißt in dem ausdrücklichen Bezogensein auf den darin zur eigenen Unterlage gemachten »Grund« zum Dasein. Solche Umschlagspunkte verlieren ihre Wendungskraft, sie verlieren ihren Daseins-Zug, wenn sie zu einem Dauerzustand (oder zum Ideal eines Dauerzustandes) »institutionalisiert« werden, z. B. zu Normen eines Lehrbetriebs. Mit diesem Gedanken glaubte Schelling 1807 in München aus der Krise, in der damals die bildenden Künste durch die Dogmatisierung eines »klassischen« Stils und des vermeintlich »Natürlichen« geraten waren, Ansätze zu einer Befreiung aufzeigen zu können: Nicht etwa die Theorie eines neuen »Stiles«, wohl aber das Bewußtmachen einer – die Kunst-Praxis lähmenden – falschen Theorie eben in dieser Praxis: Was Ihr für ewige Vorbilder haltet, das hat seine wahre Größe eben darin, daß es selber nicht nachahmbar ist. Was Kunst und was Natur heißt, das muß in dem sich ständig wandelnden Verhältnis zwischen Vorgegebenem und Fehlendem je und je hervor-gebracht werden. Es ist auch in den bildenden Künsten eine Sache von poiesis. Die Einsicht in die eigene Geschichtlichkeit der Kunst und den eigenen Geschichtsbezug der Kunst hat in mancher Hinsicht Nietzsche erneuert und noch zugespitzt. Mit einer Äußerung Nietzsches gegen dasselbe klassizistische Mißverständnis des Klassischen möchte ich die78 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schöpfung« und Geschichte
ses Schelling-Kapitel beschließen: Nietzsches Einwand gegen die Verwechslung der Differenzialität geschichtlicher (epochaler) Anfänge mit der Simplizität evolutionärer (»natürlicher«) Anfänge. Sie steht am Beginn der Tragödienschrift, Nietzsches Beitrag also zu einem neuen Verständnis der griechischen Klassik. Diesen Zielgedanken der Schrift (der Erstlingsschrift des damals jungen Basler Philologen), seine These vom »dionysisch«-musikalischen Erscheinungs-Element der griechischen Tragödie, leitet Nietzsche mit einer geschichtlichen Erklärung zur Anfangszeit der griechischen Kultur ein, seiner Kritik an der damals noch geläufigen Vorstellung von der »homerischen Naivität«. (Auf spätere Erinnerungen Nietzsches an diesen Eingangsgedanken der Tragödien-Schrift im Spätwerk hatte ich im vorigen Abschnitt über »die Form als positive Kraft« schon verwiesen, hier S. 63f.) Es ist der 3. der 25 Abschnitte der »Geburt der Tragödie«, darin der letzte Absatz. In diesem Fall dient Schiller nicht als Vorbild, sondern als Zeuge des zu Kritisierenden: mit seiner Unterscheidung nämlich des »Naiven« vom »Sentimentalischen«. In diesem Abschnitt hat Nietzsche im Blick auf den poetischen Charakter des Anfangs der griechischen Kultur zum erstenmal seinen Gedanken vom Verwurzeltsein des »Apollinischen« im »Dionysischen« dargelegt. »Hier muß nun ausgesprochen werden, daß diese von den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort ›naiv‹ in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Kultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen müßten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseaus sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. Wo uns das ›Naive‹ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Kultur zu erkennen, welche immer erst ein Titanenreich zu stürzen und Ungetüme zu töten hat und … über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muß.« (In der Kröner-Ausgabe der »Geburt der Tragödie«, 1964, S. 60, bei Reclam, 1952, S. 31)
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Viertes Kapitel »Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
1.
Nietzsche lesen
Die Überschrift dieses ersten Abschnitts entspricht dem Vortragstitel, mit dem Mazzino Montinari seine (1982 erschienene) Vortragssammlung eingeleitet und betitelt hat. 14 Dieser Vortrag wurde im Januar 1982 am Wissenschaftskolleg in Berlin, im Februar danach auf Einladung des Philosophischen Seminars im Festsaal der Universität in Tübingen gehalten. Hier möchte mit diesem Titel nicht nur das Nietzsche-Kapitel dieses Buches eingeleitet sein, sondern mit seinem Autor auch an den 1986 früh verstorbenen Gesprächspartner des Verf. erinnert werden. Als Motto jenes Vortrags kann das Bekenntnis gelten, mit dem Montinari seine Hommage an den »einzigartigen und geistig gleichrangigen Freund Nietzsches, den Freigeist und Theologen Franz Overbeck in Basel«, schließt. Dieser Freund schrieb bei Gelegenheit von Nietzsches Tod: »Nietzsche ist der Mensch, in dessen Nähe ich am freiesten geatmet und demgemäß auch meine Lungen für den Gebrauch im Bereich menschlichen Daseins, zu dem in Beziehung zu treten mir überhaupt beschieden gewesen ist, am erfreulichsten geübt habe. Seine Freundschaft ist mir im Leben zu viel wert gewesen, als daß ich noch Lust verspürte, sie mir durch irgendwelche posthume Schwärmerei zu verderben.« (Franz Overbeck)
»Wer in Nietzsches Nähe nicht freier zu atmen vermag, dem ist es abzuraten, Nietzsche zu lesen.« (Montinari, S. 2 f.) Der ›Anspruch‹ des Titels wäre auch bei Plato oder Kant am Platz, im Falle Nietzsches resultiert diese Forderung aber offensichtlich schon 14
Mazzino Montinari: Nietzsche lesen. Berlin und New York: de Gruyter 1982.
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
aus dem Ernst der Editionsarbeit. Der Autor Nietzsche, der sich in der Exklusivität seines eigenen philosophischen Anspruchs in einem extremen Maß nicht verstanden oder mißverstanden fühlte, gibt zu vorschnellem Feststellen – von ihm Gesagtem oder über ihn Gemeintem im pro und contra – selber Anlaß. Auch steht dem Lesen – nicht nur zu vorschnellem Schon-zu-wissen-Glauben, sondern auch zu vorschneller Distanz – ein ganzer Hinderungskomplex im Weg: das Pathos der Verkündigung im Spätwerk; der Anschein der Widersprüchlichkeit im Basler Frühwerk; die emotionale Anziehungskraft des Dichters (und Musikers) vor dem historischkritischen Argumentieren in den Leitbildern des »Willens zur Macht«, der »Umwertung aller Werte«, dem »Übermenschen«; der Anschein der Widersprüchlichkeit im Nebeneinander von Wahrheitssuche und Wahrheitsleugnung; das Anziehungs- oder auch Abstoßungspotential der Poesie wie in Nietzsches Versuch, durch Gehalt und Gestalt des ›Zarathustra‹ die Grenzen des direkt zu Sagenden zu überwinden. Bei Nachlaßnotizen mit dem Gedanken des »Willens zur Macht« kann das Lesen der Aphorismen (oder Aphorismus-Pläne) ebenso vor unkritischer ›Affirmation‹ dieses Leitbildes bewahren wie vor blinder ›Kritik‹. Einsicht und Irrtum sind hier – für ein einäugiges Durchlesen oft undurchsichtig – verquickt. So wenig Nietzsches Glaube, mit dem ›Willen zur Macht‹ ein überzeitliches Weltprinzip entdeckt zu haben, früheren Epochen und fremden Kulturen gegenüber trägt, so hilfreich ist dieser Gedanke doch für das Verständnis der modernen (dieser jetzt global gewordenen) Weltzeit. Das Geflecht von Wahrheitssuche und Wahrheitszweifel von Anfang an, seit der Basler Skizze ›Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn‹ (von 1873) spiegelt die Grenzen der Versuche Nietzsches, das Geahnte zu fassen, das Gesehene zu sagen. Rang und Schicksal Nietzsches sind bestimmt durch den Wechsel von Einklang und Streit zwischen ›angeborener‹ poetisch-musikalischer Begabung und philologisch-historischer Schulung. Das Element dieses Kontrast-Bezuges: die Sprache; das (im Deutschen) große Vorbild Nietzsches: Luther. Ein Problem besonderer Art für den Leser ist die Teilbarkeit von Nietzsches Werk in drei Perioden, von Nietzsche selber autorisiert. 15 Für den
15
Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen (1935),
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Viertes Kapitel
Interpreten wird damit das Trennende eher betont als das Verbindende. Hier zuerst ein Blick auf die Unterscheidungsmerkmale. Das Frühwerk entspricht nahezu ganz den Jahren der Lehrtätigkeit des jungen Nietzsche in Basel. Im Februar 1869: die Berufung des damals 24jährigen als Professor der klassischen Philologie. Im September 1875 (kurz vor dem 31. Geburtstag): der Manuskriptabschluß der letzten veröffentlichten ›Unzeitgemäßen Betrachtung‹ : ›Richard Wagner in Bayreuth‹ ; seit dem Wintersemester 1875/76 der Beginn der schweren Migräne-Anfälle und damit der Zweifel an der Möglichkeit, die Lehrtätigkeit fortzusetzen. Trotz Zunahme der Beschwerden mit den damit bedingten Unterbrechungen der Lehrtätigkeit konnte Nietzsche noch drei Jahre an der Universität bleiben. Zum Sommersemester 1879 mußte er aber die Entlassung beantragen (Vorlesungen mit Seminaren, sowie das zur Universität gehörige ›Pädagogikum‹). Gleichzeitig lernte er (zunächst in St. Moritz) das seinen Leiden Linderung versprechende Oberengadin kennen. In dieser letzten Basler Zeit hatte die neue Arbeitsphase mit der Aphorismensammlung »Menschliches, Allzumenschliches« begonnen. Insofern deckt sich Nietzsches Aufenthalt in Basel nicht genau mit der ersten Arbeitsperiode. Man kann von dieser aber doch als von der ›Basler Zeit‹ sprechen, weil diese im Ganzen von der Arbeitsweise und dem Arbeitsmilieu der Universitätsarbeit geprägt war. Die Lehre prägte Nietzsche in diesen Jahren auch im umgekehrten Sinn, als selber Lernenden, unter drei epochalen Vorbildern. Aus den Schriften: Schopenhauer (schon in Leipzig eine breitere Kenntnis des 1819 und 1843 erschienenen Hauptwerks). – Mit den Besuchen, den Gesprächen in Tribschen: Richard Wagner (nach einer persönlichen Begegnung auch hier schon am Ende des Studiums in Leipzig). – Und in der (in diesem Fall bis zuletzt von Nietzsche als Glück empfundenen) kollegialen Nachbarschaft mit Jacob Burckhardt. Die mittlere Periode. Eine neue Werk- und Lebensphase begann zwischen 1876 und 1879. Ausgelöst von der gesundheitlichen Notlage mit dem Abbruch der Lehrtätigkeit, ist sie gekennzeichnet von der Wendung in der Art der Arbeit: nach der Dominanz des Lehrens (und Belehrung Empfangens) nun die Dominanz der Kritik (der Kulturkritik, der Zeitkritik zumal) in den Themen; dem Wechsel von Argumendarin: 2. Aufl. 1956, S. 20–30. – Karl Jaspers: Nietzsche (1936), darin: Nietzsches ›Selbstauffassung seines Weges‹.
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
tationsfolgen zur Präsenz der Aphorismen in der Form. Davon geprägt: die drei ersten unverkennbar ›Nietzscheschen‹ Schriften: ›Menschliches, Allzumenschliches‹ (Band I 1878, Band II 1880), ›Morgenröte‹ (1882), ›Fröhliche Wissenschaft‹ (1882). Die Zunahme der MigräneAnfälle zwischen 1875 und 1876 war begleitet von der Erschütterung angesichts der Wirklichkeit der (im August 1876 eröffneten) Festspiele in Bayreuth vor dem Hintergrund der Idee, wie sie Nietzsche in der kurz zuvor abgeschlossenen ›Unzeitgemäßen Betrachtung‹ ›Richard Wagner in Bayreuth‹ entwickelt hatte. Am 6. August 1876, während der Generalproben zum ›Ring‹, an die Schwester: »Ich muß alle Fassung zusammennehmen, um die grenzenlose Enttäuschung dieses Sommers zu ertragen.« (Hier nach Schlechta, Nietzsche-Chronik, 1975, S. 56.) Zur dritten Periode. Zwischen der ersten und der zweiten Periode steht – trotz des mehrjährigen Nebeneinanders der unterscheidenden Merkmale – doch eben diese Verschiedenartigkeit, wie sie zwischen der letzten ›Unzeitgemäßen Betrachtung‹, dieser grandiosen Auslegung der Bayreuth-Idee (entstanden 1875/76), und der ersten Aphorismussammlung ›Menschlich, Allzumenschliches‹ (begonnen 1876), doch auch fast gleichzeitig hervortritt. Der Übergang von der mittleren zur letzten Periode ist zwar temporal deutlicher markiert: 1882 ›Die fröhliche Wissenschaft‹, 1883 der erste Teil von ›Also sprach Zarathustra‹ ; das Neue in der späten Phase ist mit dem ›Zarathustra‹-Versuch aber nicht angemessen markiert, allenfalls indirekt: mit dem Scheitern dieses Versuchs eines Dimensionswechsels; die nächsten abgeschlossenen Schriften sind ›Jenseits von Gut und Böse‹ (1886) und die ›Genealogie der Moral‹ (1887). Wie der ›Zarathustra‹ aber stehen auch diese Werke stärker, entschiedener als die früheren Aphorismen-Sammlungen unter dem Maßstab der eigenen Philosophie. Die Werke wie auch die Notizen und Entwürfe sind jetzt geprägt vom Grundton der Verkündigung. Das Ausmaß der Verschiedenartigkeit dieser Perioden zeigt sich am Akzentuierungswandel des Paradebeispiels in Nietzsches Umgang mit Kunst und Künsten: dem Theater. In den Jahren des Basler Frühwerks: Nietzsches neuartige Interpretation der attischen Tragödie im Wechselspiel mit dem Studium der beiden künstlerisch bedeutendsten Werke Wagners, dem ›Tristan‹ und der ›Ring‹-Trilogie. In beiden Fällen: im Gedanken an das Dionysos-Theater am Fuße der Akropolis wie in der damaligen Planung von ›Bayreuth‹. Das Aufzeigen der83 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Viertes Kapitel
jenigen Aspekte des ›Theaters‹, in denen Nietzsche den Rang von Kunst überhaupt verkörpert sah: ihren nicht Informations-, sondern Offenbarungs-Charakter. – In der mittleren Periode: das Geißeln der ›theatralischen‹ Wirklichkeits-Verschleierung in den Denk- und Umgangsformen der Gründerzeit. Das Musikdrama Richard Wagners: jetzt das Signum des theatralischen sich-selbst-Belügens der ganzen Epoche in pompösen »Kunstreligionen«. – Und schließlich im Spätwerk, paradigmatisch für die polemische Rolle der Kunst in dieser Zeit: Nietzsches eigene dramatisch-theatralischen Versuche, wie in den Reden Zarathustras, das Verkünden auch in Bildern und im Klang der Sprache. Sind das nun Zeichen dreier Felder, dreier Wege, die aufzunehmen, wahrzunehmen hieße, sie in je verschiedenen Abteilungen zu erörtern, so wie man Autoren und Epochen unterscheidet? Oder aber bezeugt nicht schon das Zarathustra-Beispiel eine Erneuerung der Basler Kunsterfahrung? Und muß die Polemik gegen Wagner, die mit der generellen Zeitkritik der mittleren Periode verbunden ist, die frühere Zuwendung negieren? Wie steht es denn ›in Wahrheit‹ mit Nietzsches Frage nach der Wahrheit? Die (von Nietzsche nicht veröffentlichte) Skizze von 1873, also aus der Mitte der Basler Zeit (zwischen ›Tragödienschrift‹ und den ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹), ›Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn‹ liest sich wie der Kern eines bis zuletzt noch zugkräftigen Wegzieles. Das gilt sowohl von der These: »die Wahrheit«, das sei in dem traditionellen Gebrauch dieses Begriffs nur eine unbewußt dem Lebensnutzen dienende Illusion, entstanden aus dem Glauben, es könne uns Menschen unabhängig von dem steten Lebenswandel möglich sein, so etwas wie eine davon unabhängige Substanz der Dinge zu erkennen, während wir doch nur mit uns jeweils dienlichen Namen umgehen, also mit »Wahrheit« in Wahrheit nur die Relation der Dinge zu uns hin bezeichnen. »die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind …« (Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1, KGW III-2, 374 f. 16 ) Zitiert wird nach der Ausgabe Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, hier die III. Abteilung, Zweiter Band, Berlin New York: de Gruyter 1973, S. 374 f.; abgekürzt: KGW III-2, 374 f.
16
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
In Wahrheit unterscheiden wir wahr und falsch nach dem Schema gut und schlecht. »Die Menschen fliehen … das Betrogenwerden nicht so sehr, als das Beschädigtwerden durch Betrug. Sie hassen … auf dieser Stufe im Grunde nicht die Täuschung, sondern die schlimmen, feindseligen Folgen gewisser Gattungen von Täuschungen. In einem ähnlichen beschränkten Sinne will der Mensch auch nur die Wahrheit. Er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit; gegen die reine folgenlose Erkenntniss ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt.« (KGW III-2, 372)
So also schreibt Nietzsche ein Jahr nach der Tragödien-Schrift mit deren Einsicht in die Rolle von Chor und Maske für die »dionysische« Vergegenwärtigung des (mit Schellings Ausdruck) in Wahrheit Seienden. Noch vor der Wendung von der ›Basler‹ Dominanz der Lehre zur generellen Kritik steht diese nicht veröffentlichte Skizze im Zeichen einer fundamentalen Verständnis-Kritik. »Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubthier-Gebiss zu führen versagt ist. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rükken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst …« (Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1, KGW III-2, 370).
Nietzsche lesen, das verlangt im Hinblick auf die Phasen-Teilung mit dem Wechsel die daran beteiligte Kontinuität zu sehen, im Falle des Theaters die in dessen Wesen angelegte Zweideutigkeit von Aufdecken und Verhüllen. Mit dem Kontrastgedanken des Titels, wonach das Urteil über Wahrheit und Lüge in Wahrheit nach einem moralischen Maßstab gefällt 85 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Viertes Kapitel
wird, erinnert jene Skizze von 1873 an den Grundzug der Philosophie Schopenhauers. Im Blick darauf wird ein Zusammenhang jener Basler Skizze auch mit Nietzsches Spätwerk erkennbar. Gegenüber der Unterscheidung »der Welt« selber zwischen »Wille« und unseren Versuchen, sie zu begreifen, der »Vorstellung«, gilt es für Schopenhauer, den Zusammenhang zwischen theoretischer Täuschung und praktischer, nämlich der Lebenserhaltung dienender Notwendigkeit dieser (in Wahrheit: irrigen) Vorstellung zu erkennen: der Notwendigkeit nämlich, von der Erkenntnis des wahren, nämlich schrecklichen Willens-Wesens der Welt verschont zu bleiben. Es stellt sich also der paradoxe Zustand heraus, daß die Welt als Wille einerseits zu verneinen ist, andererseits aber, in dem zum Leben treibenden Zug dieses Willens uns Menschen, als den mit der Gabe des Verstandes versehenen Lebewesen, die lebenserhaltende Kraft zur Wirklichkeitstäuschung verliehen worden ist. Mit diesem Grundzug seines Grundgedankens nimmt Schopenhauer (von ihm selber wohl kaum durchschaut) in vernichtend klingender Schelte der Philosophie Fichtes, Schellings und Hegels deren Rezeption des ›klassischen‹ Kant auf, wonach das Objektivitäts-Kriterium des Erkenntnisstrebens von den moralischen Maßstäben des Handelns geleitet wird, das ›Wahre‹ also (mit Plato gesprochen) den Ideen des Guten entspricht. Schopenhauer hat auf dieses ›pessimistische‹ Weltverständnis mit einer säkularisierten Religionsphilosophie zu antworten versucht. Theoretisch: in seiner Aufnahme romantisch-mimetischer Kunstanschauungen mit dem Ziel einer Immunisierung der Macht des WeltWillens, – einmal durch dessen Spiegelung in den Botschaften der BildKunst, zum anderen, noch entschiedener, durch dessen Nachahmung in der Dynamik der (romantischen) Ton-Kunst. Praktisch: in den Handlungen des Mitleids (anderen gegenüber) und (an sich selbst) der Askese – als den beiden zumindest momentanen Entmächtigungen der Willens-Macht. Nietzsche verwandelt diese pädagogisch-missionarische Antwort Schopenhauers auf den von ihm durchschaut geglaubten Pessimismus des Welt- und Daseins-Willens bekanntlich in ein heroisches Bekenntnis zu dieser Welt in seinem Gedanken des »Willens zur Macht«, also – mit Heidegger zu sprechen – des Willens zum Willen. (Der neuzeitliche Grundzug der Arbeitsmoral, mit Max Weber; die »totale Mobilmachung«, mit Ernst Jünger.) Die später, am See von Silvaplana er86 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
langte Idee eines zeitlosen Zeitengesetzes jener Epochen-Einsicht: die Idee der »ewigen Wiederkunft«. Aber mit dieser Zuspitzung der Willens-»Seele« Nietzsches in den herausragenden, den (wenn das zu sagen erlaubt ist) laut tönenden Akzenten des Spätwerks, den Hauptwerk-Plänen, sind die leisen Töne der »zum Singen« berufenen »Seele« nicht verstummt, die Seligkeit bei der ›Uraufführung‹ des Siegfried-Idylls in Tribschen noch von Basel aus; das bleibende Glück der Nähe zu Burckhardt bis zum Ende. Die Neigung zur Stille, wie sie Nietzsches eigenes Lesen seit der Tragödien-Schrift begünstigt hat: die Lektüre der von Aischylos und Sophokles überlieferten Texte mit dem Gedanken an den Raum des Chores, die musikalische Verbindung also zwischen Bühne und Zuschauer, – zwischen Bühne und Teilnehmer an dem in und mit dem Spiel auf der Bühne in Wahrheit (wie exemplarisch beim Ödipus) sich Ereignenden. Dieses eigene, hörende Lesen (modern gesprochen: die Texte in der Dimension der ›Kontexte‹ aufnehmend) half Nietzsche, das Rätsel der Dionysos-Weihe des Aufführungsortes, also die Überlieferung des spezifischen Festcharakters dieser Spiele, zu erkennen. Was Nietzsche in seiner Hoffnung auf eine Erneuerung der attischen Tragödie während der Planung ›Bayreuths‹ (veröffentlicht in der ›Unzeitgemäßen Betrachtung‹ ›Richard Wagner in Bayreuth‹) – irrtümlich – erwartete, war die Übertragbarkeit dessen, was den Enthusiasmus der Zuschauer – Zuhörer – bei der Aufführung so schrecklicher Begebenheiten wie in jenen Spielen wecken konnte, war dieser Gedanke an den Wirkungshorizont jener ›Kunst‹ im Hinblick auf die Bürger der Polis. – In dem folgenden Abschnitt dieses Nietzsche-Kapitels möchte ich (wie am Ende des Schellingkapitels) erneut an Schillers wiederholte Äußerung gegenüber Goethe über den »Anfang« der Arbeit an seinem ›Wallenstein‹ erinnern; der Blick aber nun unter der Frage, was der »Schein« mit Wahrheit zu tun haben kann, wird den damaligen Beitrag zu Schellings Erörterungen des »Anfangs« in der Kunst ergänzen.
2.
Die Frage nach dem Ort der Kunst
Hier, noch einmal, die spätere (ausführlichere) der beiden Äußerungen Schillers zur Frage des Anfangs eines »Kunstproduktes«, in diesem Brief ausgelöst durch eine These seines in Jena zum Freund geworde87 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Viertes Kapitel
nen Kollegen Schelling in dessen kurz zuvor erschienenem ›System des transzendentalen Idealismus‹. In dem der Kunst gewidmeten Schlußkapitel dieses Systems erklärt Schelling (wie Schiller an Goethe referiert), daß »in der Natur von dem Bewußtlosen angefangen werde um es zum Bewußten [zur Objektivität] zu erheben, in der Kunst hingegen man vom Bewußtseyn ausgehe zum Bewußtlosen«. Zu diesem Ziel: der Autarkie des vollendeten Werks gegenüber dem Bewußtsein des Autors, wird sich Schiller mit Schelling einig gefühlt haben, nicht aber mit dessen Formulierung des Anfangs; das sei idealistische Spekulation: »… in der Erfahrung fängt auch der Dichter nur mit dem Bewußtlosen an, ja er hat sich glücklich zu schätzen, wenn er durch das klarste Bewußtseyn seiner Operationen nur so weit kommt, um die erste dunkle Total Idee seines Werks in der vollendeten Arbeit ungeschwächt wieder zu finden. Ohne eine solche dunkle, aber mächtige Totalidee die allem Technischen vorhergeht, kann kein poetisches Werk entstehen, und die Poesie, däucht mir, besteht eben darin, jenes Bewußtlose aussprechen und mittheilen zu können, d. h. es in ein Object überzutragen. Der Nichtpoet kann so gut als der Dichter von einer poetischen Idee gerührt seyn, aber er kann sie in kein Object legen, er kann sie nicht mit einem Anspruch auf Nothwendigkeit darstellen. Eben so kann der Nichtpoet so gut als der Dichter ein Produkt mit Bewußtseyn und mit Nothwendigkeit hervorbringen, aber ein solches Werk fängt nicht aus dem Bewußtlosen an, und endigt nicht in demselben. Es bleibt nur ein Werk der Besonnenheit. Das Bewußtlose, mit dem Besonnenen Vereinigt macht den poetischen Künstler aus.« (An Goethe, aus Jena am 27. März 1801, zweiter Absatz)
Die Wiederholung der »Anfangs«-Erfahrung nach fünf Jahren fruchtbarster Freundschaft mit Goethe unterstreicht das Gewicht dieser Erfahrung. Die Situation kommentiert es. In jener frühen Äußerung, bald nach dem Beginn dieses Briefwechsels mit Goethe, war der später philosophisch formulierte Sachverhalt der »Totalidee« noch in seiner elementaren musischen Verfassung ausgesprochen worden, – worin wohl auch der ›zündende Funke‹ für Nietzsche lag, während das schwerwiegende Beispiel des ›Wallenstein‹-Dramas ebenso von der Grenze her (›Ideendichtung‹) die exemplarische Tragweite markiert, 88 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
wie dann an dem Lyriker Archilochos für Nietzsche die exemplarische Grenze »subjektiver Dichtung«. Diese erste der beiden Äußerungen Schillers (vom 18. März 1796 aus Jena) gebe ich hier sogleich in Nietzsches eigenem Zitat wieder (innerhalb des 5. Abschnitts der ›Geburt der Tragödie‹, der Anfang dort im zweiten Absatz). »Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung (›Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee‹).« (Die Geburt der Tragödie, KGW III-1, 39. In der Kröner-Ausgabe die S. 67.)
Nietzsche führt diese Äußerung Schillers zum Verständnis seiner Frage an, wo Kunst überhaupt hingehört. Der Sinn dieser Frage: ist der Rahmen einer Antwort schon angemessen bestimmt, wenn man davon ausgeht: ein Ausdruck des Künstlers, – vielleicht noch gesteigert: ein ›Genieprodukt‹ ? Ist Kunst überhaupt ein Produkt? Für den AusdrucksMaßstab der Kunst wäre das Urbild (im Falle der Dichtkunst) die Lyrik. Nietzsches Frage in diesem Eingangspassus: wie ist denn der Lyriker »Künstler«? Nietzsches Beispiel dafür, Urbild ›par excellence‹ für ihn, der, wie er betont, als ganz besonders »wild« und »leidenschaftlich« geltende unter den ältesten Lyrikern: Archilochos. Ein Präzedenzfall auch im ganzen der Dichtungsgeschichte (der europäischen zumindest) für das, was in dem neuen Begriff von ›Kunst‹ den ›Künstler‹ kennzeichnet. In der Lyrik generell, in einem Lyriker wie Archilochos individuell: der Ursprung von Kunst im Künstler – wenn nicht für alle Künste exemplarisch, so aber doch für einen von zwei Polen, an dessen anderem Pol die am augenfälligsten ›objektiven‹ Künste, in der Dichtung das Epos, in den bildenden Künsten die Architektur stehen würden. Nietzsches Einwand gegen diesen ganzen Orientierungsmaßstab: Kunst ist stets nur so weit Kunst wie sie von Subjektivität entfernt ist. Im Gedanken daran, daß nach der »neueren Ästhetik« mit Archilochos 89 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Viertes Kapitel
dem »objektiven« Künstler (wie Homer) der erste »subjektive« entgegengestellt sei, erklärt Nietzsche: »Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom ›Ich‹ und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie der ›Lyriker‹ als Künstler möglich ist: er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer ›ich‹ sagt und die ganze chromatische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt.« (KGW III-1, 38 f. Kröner 66.)
Mit diesem antiken Kronzeugen vermeintlich ›subjektiver‹ Dichtung beruft sich Nietzsche in dieser Vorbereitung seiner Genealogie der attischen Tragödie auf den damals bereits zu einem der aktuellen Klassiker gewordenen Dichter, den Autor des ›Wallenstein‹. Der Dramen-(und Balladen-)Dichter handelt zwar gewiß nicht von seinem »Ich«, aber doch von Ideen, die seine Kunst »objektiviert«. An Schillers Zeugnis: am Anfang stehe nicht die »poetische Idee«, sondern eine »musikalische Gemütsstimmung«, die in aller Objektivierungsarbeit erhalten bleiben muß, sieht Nietzsche das Verbindende beider Pole, des enthusiastisch Ergriffenen wie des erinnernd Fügenden: Der (bleibende) Anfang besteht nicht in dem, was er ausdrückt, sondern in dem, was ihn anspricht. Im Gedanken also an die Ausführung seines Titelthemas ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹, sieht Nietzsche mit diesem Zeugnis eines modernen Dramatikers eine Brücke zwischen den poetischen Polen von Epik und Lyrik aufgerichtet. Der Absatz, der mit dem Schiller-Zitat beginnt, schließt mit der Vorbereitung auf Archilochus. »Das ›Ich‹ des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine ›Subjectivität‹ im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Lykambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus und die Mänaden …« (KGW III-1, 40. Kröner 68).
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
Wie Schiller in der späteren seiner beiden »Anfangs«-Reflexionen (hier S. 88) die Fähigkeit des Dichters darin sieht, »die erste dunkle Total Idee seines Werks« »in ein Object überzutragen«, ist für Nietzsche (mit seinem Titelgedanken) die am »lyrischen Genius« hervortretende »dionysisch-musikalische Versenkung« bei dem Dichter mit der ›apollinischen‹ Gabe des Bilden-könnens verbunden. Dieses duale Vermögen, hier zuerst an der Lyrik demonstriert, finde seine »höchste Entfaltung« in den »Tragödien und [vielleicht schon an eigne Versuche denkend] dramatischen Dithyramben« (KGW III-1, 40). Das Fazit der Archilochus-Erinnerung: »In Wahrheit ist Archilochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende Mensch Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein kann.« (KGW III-1, 41. Kröner 69).
Während Schopenhauer, wie Nietzsche referiert, »als das eigentümliche Wesen des Liedes« die Empfindung eines »Kontrastes« zwischen dem Subjekt des blinden Wollens »als Affekt, Leidenschaft, bewegter Gemütszustand« und dem »sich seiner bewußt werden als Subject des reinen, willenlosen Erkennens« ansieht (KGW III-1, 42. Kröner 70), erklärt Nietzsche: »Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann.« (KGW III-1, 43. Kröner 71).
In dieser Frontstellung gegen die Reduktion des Kunstbereichs auf die Subjektivität als einer höheren (oder phantastischen) Produktivität des Individuums (modern gesagt: als einer Angelegenheit der Anthropologie) ist der contra-meta-physische Schlachtruf Nietzsches zu lesen (die Hervorhebungen von Nietzsche): 91 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Viertes Kapitel
»nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.« (KGW III-1, 43. Kröner 71).
Wo – wie bei Homer oder im ›West-östlichen Divan‹, bei Archilochus oder bei Beckett – das Bilden und Spielen selber Welt-Spiel ist, stehen wir, die Leser, die Hörer, die Zuschauer, die Mitspielenden selber im Spiel der Welt statt gebannt oder getrieben von dem zu sein, was Hölderlin das »Geschmiedet«-Sein »ans eigene Treiben« nennt. 17 Wie wenig Nietzsche in dem, was er – für uns so mißverständlich – »ästhetisch« nennt, ein Privileg der Künste sieht, wird sich dann an den Aphorismen aus dem Spätwerk zeigen lassen: Was die Dichtung, die Malerei, die Musik zu ›sagen‹ haben, ist nur darum ›Kunst‹, nur darum ›schön‹, weil es der eigenen (mit Nietzsches Wort) »ästhetischen« Struktur der Welt entspricht. Ein jedes der Pferde des Phidias aus dem Fries und den Giebeln des Parthenon ist doch nicht darum ›schön‹, weil dieser Künstler es so schön ›gemacht‹ hat, sondern darum, weil er ausgesprochen hat, wie schön ein Pferd ist. Was Erhart Kästner an Ländern und Bewohnern Griechenlands zeigt, Camus an dem Wohn-Raum des Mittelmeers, das weist auf diesen Zusammenhang von Schein und Wahrheit im Gefüge der Welt. Von den Küsten, den Zonen zwischen Land und Meer in Südfrankreich handelt das berühmte Gedicht Valéry’s: ›Le Cimetière marin‹ (Der Friedhof am Meer, 1920) 18 . In einer Äußerung über dieses Gedicht bringt Valéry die Erfahrung, wie ein solches Gedicht uns anspricht, mit dem, was für ihn den Arbeitsanfang ausgemacht hat, auf einen Namen: Er schreibt in einem Aufsatz mit dem Titel ›Dichtkunst und abstraktes Denken‹ (1939, in der Aufsatzsammlung ›Zur Theorie der Dichtkunst‹, Insel-Verlag 1962, S. 167), über dieses umfangreiche (24 sechssilbige Strophen enthaltende) Gedicht: »Mein Gedicht ›Le Cimetière marin‹ hat in mir mit einem gewissen Rhythmus begonnen, nämlich mit dem der französischen zehnsilbigen Verse, die in je vier und sechs Einheiten aufgeteilt sind. Ich hatte noch keine einzige Idee, die diese Form hätte füllen können. Nach
›Der Archipelagus‹, Verse 241–246. Paul Valéry: Gedichte. Französisch und Deutsch …, übertragen durch Rainer Maria Rilke, Rowohlt 1962, S. 18–25. 17 18
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
und nach fixierten sich verschwommene Worte, die näher und näher ein Thema umgrenzten, und die Arbeit – eine sehr langwierige Arbeit – nötigte sich auf.«
Was wir Empfindungskraft nennen ist in diesem Gedicht der Zusammenhang von rhythmischem Anfang und – bleibend – rhythmischer Einheit, eine besondere Befähigung also des Hörens. Eines Hörens allerdings, das zugleich eine besondere Sensibilität des Sehens einschließt – so wie im Falle des ›blinden Sängers‹ Homer der Bau des großen Epos der Gesang dessen ist, was dem inneren, dem er-innernden Sehen des Dichters aufgegangen ist. Nietzsche sagt von seiner Arbeit in der allerletzten, schon pathologisch überspannten, Schrift ›Ecce Homo‹ über dasjenige seiner früheren Bücher, dessen pseudo-poetische Bild-Form er ja selber auch nur als Versuch gelten ließ, ›Also sprach Zarathustra‹ : »– Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im andren Falle will ich’s beschreiben. – Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der That die Vorstellung, bloss Incarnation, bloss Mundstück, bloss medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Thatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine nothwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das Bedürfniss nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maass für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen de-
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Viertes Kapitel
ren Druck und Spannung …« (Ecce Homo, Abschnitt über ›Also sprach Zarathustra‹, n. 3: KGW VI-3, 337 f.).
Der übersteigerte Duktus dieser Rede braucht uns nicht daran zu hindern, ihr zu entnehmen, worin die Substanz eines solchen Werkes wie dem ›Zarathustra‹ zu suchen ist. Sicher nicht in einer von dem Gang der Gedanken abstrahierten ›Form‹, wohl aber in einer die Gedanken selber bewegenden ›Ton-Art‹. Man könnte – mit einer Kennzeichnung, die Merleau-Ponty für die malerische Einheit eines Bildes von Cézanne verwendet – von der einheitlichen vibration sprechen. Diese Überlegung kann helfen, eine Lehre aus dem Beispiel des ›Zarathustra‹ zu ziehen, die von den Einwänden, die dieses Buch mit Recht hervorruft, unbehelligt bleibt: Ist dieser Versuch denn damit schon erfaßt, daß man nur fragt, ob er in dem, was da steht, gut oder schlecht, geglückt oder mißglückt ist? Erkannt ist dieses Buch doch erst, wenn man es zusammensieht mit Nietzsches geschichtlicher Stellung am Ende der europäischen Metaphysik, wenn man in der mißglückten Realisation auch die schon mit dem Versuch markierte Wendung mitsieht: Nietzsches Stellung am Ende jener frühen Wendung, die damit begann (in Plato’s ›Politeia‹), die Kunst auf die Seite der Unwahrheit, der Wirklichkeitsfremdheit hin abzudrängen. Am Ende dieses Weges gelangt ein Denker zu der Überzeugung, daß die Sprache nicht nur ein Medium, sondern das Element der Wahrheit ist. Daß er dabei, in jenem Buch, die Grenzen zwischen Denken und Dichten (zum Schaden beider) verwischt hat, ist kein Einwand dagegen, daß er doch den Ort der Dichtung wieder freizulegen angefangen hat, nämlich als Sprache ein Weg menschlichen Weltzugangs zu sein. In einer (oben schon berührten) Stelle aus dem ›Versuch einer Selbstkritik‹ zur ›Geburt der Tragödie‹ aus der Spätzeit klingt diese spätere Erkenntnis des substantiellen Zusammenhangs von Wahrheit und Sprache in Nietzsches Distanzierung von der ›Form‹ dieses Frühwerks an: »hier sprach – so sagte man sich mit Argwohn – etwas wie eine mystische und beinahe mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt. Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!« (›Die Geburt der Tragödie‹, KGW III-1, 9)
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Im Hinblick auf seinen Begriff der »Schönheit« als eines »Überflusses« sagt Nietzsche von dem der Schönheit entsprechenden »ästhetischen Zustand« im Spätwerk (wobei uns das Problem, ob für das, was Nietzsche hier sieht, die Titulierung der Sprache als eines »Mitteilungsmittels« zureicht, nicht zu stören braucht): »Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen. … Die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen, sogut als die Gebärden- und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Culturmensch-Vermögen sind subtrahirte aus volleren Vermögen.« (Nachgelassene Fragmente Anfang 1888 – Anfang Januar 1889, KGW VIII-3, 88 f.)
»Ästhetik« – dabei denkt Nietzsche (den griechischen Wortsinn im Ohr) an das Verhältnis der Kunst zum »Leben«. In diesem Verhältnis fällt der Kunst die Verfassung des Scheins zu. Nietzsche sieht – seit zweieinhalb Jahrtausenden (von Ausnahmen wie Vico abgesehen) zum ersten mal wieder –, daß sich in dieser Art des Scheins das Leben anfänglich, und immer wieder anfänglich, abspielt. Ton, Gebärde, Blick: was Nietzsche hier »Mitteilungsformen« nennt, das sind ja doch die Auftrittsformen, die Aufführungs-Zustände, die – nach der Einsicht jenes Frühwerks – das Festspiel, das Theater der attischen Tragödien ausgemacht haben. Es ist der Masken-Schein, der, mit seinen selber noch lebendigen Analogie-Zeugnissen verglichen wie den Masken-Tänzen der ›Naturvölker‹, das Zur-Gegenwart-Gelangen dessen ist, was zwischen Tod und Leben steht. Es ist jenes erregend-unheimliche, mitreißende Erscheinen, das dem Festereignis des Tragödienspiels für die attische Polis den Charakter eines Dionysos-Festes gab. Daß die Sprache – wie Foucault und Derrida zeigten – die Fähigkeit des Verhüllens, also des ›Maskierens‹ im modernen Sinn des Wortes: der Maskerade, der Verkleidung hatte, und so epochenprägend werden kann, das ist die Kehrseite, die Schatten-Seite ihres Wesenszuges, den der alte Grundzug des Theaters (noch bis zum Barock) ausmachte: Es kommt zum Spiel, es wird Ereignis, was sich uns in der Alltagswirklichkeit, im Laufe des Jahres, im Laufe des Tages unter dem Anspruch 95 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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der Wirklichkeit ständig verhüllt. Daß die Kunst auch nur ›Theater‹, nur ›Maske‹ als Ver-kleidung sein kann, gründet via negationis darin, daß sie zuerst das Kleid des Zeigens, das Theater des Aufscheinens ist. Dieser Doppelsinn von Kunst, von Schein ist Nietzsches Lebensstachel. Die weltgeschichtliche Umschlagsschwelle liegt im 17. Jahrhundert. Innerhalb des ›Barock‹ die ›Aufklärung‹ durch Descartes und Leibniz. Wie im Wechsel der Wirkungsdimension des Theaters so tritt nun auch im Gebrauch des Wortes ›Schein‹ die Bedeutung von Täuschung, Illusion in den Vordergrund. Und dafür liegt der Maßstab in dem Erscheinungselement, das man den Urschein nennen könnte, dem Sinnen-Schein, dem ›Auge‹ und dem ›Ohr‹. Gegen dieses Element der Täuschung die Wahrheit frei zu legen: das ist die ›moderne‹ Methode seit Descartes; die Grundlage, die Ermöglichung täuschungs-freier Empirie: die Mathematik seit Galilei. Für Foucault stand die Faszination des 17. Jahrhunderts in einer Nachbarschaft zur Faszination durch Nietzsche. Nur sah Foucault, in beiden Fällen, nicht den Zwiespalt, in den sich der ›Schein‹ des Fortschritts in der Aufklärung bereits für Nietzsche zur »Dialektik« der Aufklärung zurück-verwandelt hatte. Für Nietzsche machte dieser Zwiespalt den eigenen Anspruch der Sprache aus. Die Frage nach dem Sprach-Charakter der Künste war darum einer seiner Wege. Ein Feld auf diesem Weg: vor dem Hintergrund der Kontroverse Wahrheit-quaWissenschaft contra Schein-qua-Sinnentäuschung, die Achtung auf das Rand-Extrem der Künste: den Schmuck – mit dem Gewahrwerden des Überschuß-Charakters der Sprache. – Dazu nun der dritte Abschnitt mit Aphorismen aus der mittleren und letzten Periode.
3.
Die Sprache der Kunst
Der Ort der Kunst: die Sprache, die Sprache als die Kommunikation zwischen Angesprochenwerden und diesen Anspruch zur Sprache bringen. Diese duale Einheit von Hören und Klingen erläutert Nietzsche in seiner Kritik an der Subjektivitäts-Theorie der Lyrik. Auch in dieser vermeintlich subjektiven Dichtungsgattung spricht nicht das Subjekt (das Individuum des Dichters), sondern der »Ton«, der »Rhythmus«, in dem sich ihm, dem Dichter, ein Zug der Welt zugesprochen hat. Wenn Nietzsche sagt, der Dichter sei nur »Medium« dessen, was 96 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
er höre, dann ist dessen Sprache – das Gedicht, der Gesang – gerade nicht mehr Medium, sondern selber Spiel der Welt. Der Schein der Bühne kann zur Gegenwart dessen werden, was sonst, im Andrang der ›Wirklichkeit‹, verhüllt ist. So die Einsicht des Gräzisten, des Wilamowitz-Schülers und Nietzsche-Kenners Karl Reinhardt in seinen Studien zu Sophokles und Aischylos. Was Nietzsches Tragödienschrift geöffnet hat, ist eine Erfahrung vom Theater, die Rilke in seinem ›Malte Laurids Brigge‹ angesichts des griechisch-römischen Theaters von Orange (s. Abb. 1 und 2) aufruft. Vorausgegangen sind Notizen über die »Tage der avignonischen Christenheit« (unter König Karl VI.) mit der Frage: was denn Handlung ist: Kann es nicht Zeiten geben, wo die Passion zur eigentlichen Handlung wird, der gegenüber das, was wir für Handeln halten, oft ›nur Theater‹ ist. »Wir entdecken wohl, daß wir die Rolle nicht wissen, wir suchen einen Spiegel, wir möchten abschminken und das Falsche abnehmen und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stück Verkleidung an, das wir vergessen. Eine Spur Übertreibung bleibt in unseren Augenbrauen, wir merken nicht, daß unsere Mundwinkel verbogen sind. Und so gehen wir herum, ein Gespött und eine Hälfte: weder Seiende noch Schauspieler.«
Im Unterschied dazu der junge Lyriker Malte: »Das war im Theater zu Orange. Ohne recht aufzusehen, nur im Bewußtsein des rustiken Bruchs, der jetzt seine Fassade ausmacht, war ich durch die kleine Glastür des Wächters eingetreten. Ich befand mich zwischen liegenden Säulenkörpern und kleinen Althaeabäumen, aber sie verdeckten mir nur einen Augenblick die offene Muschel des Zuschauerhangs, die dalag, geteilt von den Schatten des Nachmittags, wie eine riesige konkave Sonnenuhr. Ich ging rasch auf sie zu. Ich fühlte, zwischen den Sitzreihen aufsteigend, wie ich abnahm in dieser Umgebung. Oben, etwas höher, standen, schlecht verteilt, ein paar Fremde herum in müßiger Neugier; ihre Anzüge waren unangenehm deutlich, aber ihr Maßstab war nicht der Rede wert. Eine Weile faßten sie mich ins Auge und wunderten sich über meine Kleinheit. Das machte, daß ich mich umdrehte. Oh, ich war völlig unvorbereitet. Es wurde gespielt. Ein immenses, ein übermenschliches Drama war im Gange, das Drama die-
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Viertes Kapitel
ser gewaltigen Szenenwand, deren senkrechte Gliederung dreifach auftrat, dröhnend vor Größe, fast vernichtend und plötzlich maßvoll im Übermaß. Ich ließ mich hin vor glücklicher Bestürzung. Dieses Ragende da mit der antlitzhaften Ordnung seiner Schatten, mit dem gesammelten Dunkel im Mund seiner Mitte, begrenzt, oben, von des Kranzgesimses gleichlockiger Haartracht: dies war die starke, alles verstellende antikische Maske, hinter der die Welt zum Gesicht zusammenschoß. Hier, in diesem großen, eingebogenen Sitzkreis herrschte ein wartendes, leeres, saugendes Dasein: alles Geschehen war drüben: Götter und Schicksal. Und von drüben kam (wenn man hoch aufsah) leicht, über den Wandgrat: der ewige Einzug der Himmel. Diese Stunde, das begreife ich jetzt, schloß mich für immer aus von unseren Theatern. Was soll ich dort? Was soll ich vor einer Szene, in der diese Wand (die Ikonwand der russischen Kirchen) abgetragen wurde, weil man nicht mehr die Kraft hat, durch ihre Härte die Handlung durchzupressen, die gasförmige, die in vollen schweren Öltropfen austritt. Nun fallen die Stücke in Brocken durch das lochige Grobsieb der Bühnen und häufen sich an und werden weggeräumt, wenn es genug ist. Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den Straßen liegt und in den Häusern, nur daß mehr davon dort zusammenkommt, als sonst in einen Abend geht. (Laßt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir einen Gott haben: dazu gehört Gemeinsamkeit. Jeder hat seine besonderen Einfälle und Befürchtungen, und er läßt den andern so viel davon sehen, als ihm nützt und paßt. Wir verdünnen fortwährend unser Verstehen, damit es reichen soll, statt zu schreien nach der Wand einer gemeinsamen Not, hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu sammeln und anzuspannen.)« (›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹, in: Sämtliche Werke, 6. Band, Frankfurt/M.: Insel 1966, S. 921 f.) 19
Nietzsches Infragestellung der ›Wahrheit‹, diese Relativierung des philosophisch-wissenschaftlichen Gewißheitsmaßstabs hat für das Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst eine Befreiungskonsequenz. Wieweit Rilke Nietzsches kontroverse Äußerungen zum Theater bekannt waren (etwa durch Vermittlung Lou Andreas-Salomés), habe ich nicht eruieren können.
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Indem die alte Hierarchie von Schein und Wahrheit fraglich wird, gelangt der Schein der Kunst sowohl als auch der bloße Sinnenschein der Welt – der Schein der Schönheit – in einen anderen Fragehorizont als den der Einordnung und Unterordnung in den einen Horizont des philosophischen oder wissenschaftlichen Forschens. Die aisthesis der Kunst, der Schönheit und so auch der Natur (in Farben, Formen, Bewegungen) kann nicht mehr darin aufgehen, ein Residuum des ›Wahren‹ (und des ›Guten‹) zu sein, wozu die Kunst auch dann noch gestempelt wird, wenn man ihr mit Methoden der Erkenntnis (oder der Moral) den Status der Autonomie zubilligt. Gerade dann wird der Schein des Schönen erst recht zum bloßen Randgebiet und Überfluß gegenüber der ›eigentlichen‹ Wirklichkeit – nicht anders als dies die Pseudoarbeit der Bildungsreise oder die Entlastung des Opernbesuchs nach getaner Arbeit ohnehin schon immer tun. Der Ort des ›schönen Scheins‹ im Leben, in der Welt, im Ganzen der Geschichte wird mit der Einzäunung in die Autonomie endgültig ausgeklammert. Nietzsche sieht, daß die Frage einer philosophischen Beachtung der Kunst nicht der Streit zwischen Heteronomie und Autonomie der Kunst als eines Deutungs-Themas ist, sondern die Entscheidung darüber, ob Kunst überhaupt darin aufgeht (und davon bestimmt werden kann), ein Deutungs-Thema zu sein: ein Tatbestand, den wir – als Philosophen, als Theoretiker, als Wissenschaftler – immer schon zu unserem Urteilsstoff zurechtgemacht haben, indem wir entweder das Bewegliche fixieren und ihm damit seinen eignen Sinn der Zeiteröffnung nehmen, oder indem wir das Ständige (das aufrecht Stehende) verflüssigen und ihm damit seinen eignen Sinn der Raumerrichtung rauben. Beides, die methodisch-wissenschaftliche Fixierung nicht anders als die philosophisch-dialektische Verflüssigung, hat die Kunst, schon indem sie sie als Deutungs-Thema begreifen, neutralisiert. Wir reden vom Schönen (oder auch von »nicht mehr schönen Künsten«), ohne noch daran zu denken, daß die Dimension des Schönen der Eros ist. Die griechische Einsicht – die Plato noch im Sinn hat, wenn er das Staunen (das thaumázein, das Außer-sich-sein) des Philosophen als eine Steigerung der erotischen Mania ansieht (im ›Phaidros‹); und den philophischen Weg aus der dóxa (dem trüben Schein) des Irrtums in die alétheia (den Glanz) der Wahrheit an dem Hingerissenwerden des Liebenden vom Anblick der Schönheit des Geliebten demonstriert (im ›Symposion‹), also an demjenigen anderen, älteren Sinn des griechischen Wortes dóxa, mit dem die Griechen den hellen 99 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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Schein meinten, in dem das je und je Vollkommene leuchtet, die dóxa des Ruhmes. Diesen Sinn, diesen Raum der Schönheit, den die vorplatonischen Griechen in ihrer Kunst ebenso praktizierten wie reflektierten – und damit den Raum teilten mit anderen Kulturen früher und später, wie der italienischen Renaissance und dem europäischen Barock, – diese eigene Wahrheit des Scheins sieht Nietzsche, indem er auf dessen Analogie in der Natur-Schönheit achtet. ›Beachten‹ auch hier: wahrnehmen, was sich zeigt, statt sofort zu fragen: wozu?, ›was bringt es?‹ Wenn wir uns das Phänomen der Formen- und Farben-Steigerung im Blühen der Gewächse, in den Gestaltungen und Bewegungen von Tieren (den Gesängen von Vögeln und mancher fliegenden Insekten in besonderer Weise), die mit dem Eros verbunden sind, – wenn wir uns auf deren Gegenwart einlassen, die Erscheinungs- und Bewegungsfülle nicht sofort auf deren Nebenwirkungen (wie den Erfolg des Stärkeren bei einigen Tierarten) und Nachwirkungen (die Zuchtwahl und damit Arterhaltung und Stammesentwicklung) reduzieren, dann würde es uns leichter fallen, bei dieser – von externen Zielen und Trieben wie Hunger und Angst gerade wesenhaft freien – Formungs- und Bewegungsvielfalt auch mit der Frage nach dem Sinn bleiben zu können, statt, was da ist, mit Ursachen davor oder Zwecken danach zu transzendieren. Zur Optimierung der Lebens-Weise wie in der Ekstase des Turniers oder des sportlichen Wettkampfs gehört die Optimierung der Lebens-Formen, der Farben und Gestalten, des Blühens, Singens, Tanzens, – was eben darin optimal ist, daß es nicht (zumindest nicht in erster Linie) um externer Erfolge willen ausgeübt wird. 20 Ein umfangreicher Aphorismus Nietzsches aus dem Frühjahr 1888 beginnt: »Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit die Transfigurationskraft des Rausches geht? Die ›Liebe‹ ist dieser Beweis, das,
Der Unterschied des Gesichtspunkts diesen gleichen Tatbeständen gegenüber macht den Unterschied zwischen zwei so gleichermaßen vorbildlichen Zoologen wie Konrad Lorenz und Adolf Portmann aus. (Von Portmann hier: ›Die Tiergestalt‹, 2. Auflage von 1960; und ›Neue Wege der Biologie‹, auch erstmals 1960, mit dem Kapitel ›Die Erscheinung – Vom Sinn der lebendigen Gestalt‹.)
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
was Liebe heißt, in allen Sprachen und Stummheiten der Welt.« (KGW VIII-3, 91)
»Liebe«, erklärt Nietzsche hier, »finden wir als größtes Stimulanz des Lebens«; aber das sei mehr als ein bloßes Imaginieren von Stärke, mehr als bloßes »Werte«-Setzen: »Und nicht nur daß sie das Gefühl der Werthe verschiebt … Der Liebende ist mehr werth, ist stärker. Bei den Thieren treibt dieser Zustand neue Stoffe, Pigmente, Farben und Formen heraus: vor allem neue Bewegungen, neue Rythmen, neue Locktöne und Verführungen. Beim Menschen ist es nicht anders. Sein Gesammthaushalt ist reicher als je, mächtiger, ganzer als im Nichtliebenden. Der Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu.« (KGW VIII-3, 91 f.)
In den Gestaltungssteigerungen, die in der Natur zumeist mit dem »Zustand« der »Liebe« verbunden sind, sieht Nietzsche ein »natürliches«, ein »biologisches« Analogon dessen, was ihn dazu veranlaßt, den ekstatischen, den orgiastischen Formen älterer Kult-Bräuche gegenüber von »dionysischer« Kunst zu sprechen. Entscheidend dabei ist nur eben gerade nicht die genetische Funktion der Paarung, sondern die damit verbundene Steigerung des Lebens-Vollzugs, das, was der Ausdruck ›Ekstase‹ ganz wörtlich meint, das Heraustreten aus dem Gewohnten und Gewöhnlichen, und was Nietzsche, zweideutig und mißverständlich, als die Eigenart des »Rausches« bezeichnet. Das Mißverständnis der Genetik, hier alles auf die Erhaltungs- und Entwicklungsfunktionen zurückzuführen, unterläuft Nietzsche, wenn er das, was hier nach dem Maßstab der Schönheit als besonders ›machtvoll‹, besonders ›herrlich‹ hervortritt, mit seinem metaphysischen Begriff von »Macht« = Herrschaft, als ein Zeugnis des »Willens« versteht. Das ist der Aspekt des Spätwerks, der hier, so wichtig er auch für Nietzsches Denken im Ganzen ist, im Hintergrund bleiben soll, um das von ihm in dieser Umhüllung mit Vorgelegte heraus zu stellen. Namen wie ›Macht‹ und ›Kraft‹ umfassen bei Nietzsche, wie in unserm Sprachgebrauch auch sonst, ja beides: das (römisch-neuzeitliche) Welt- und Selbstverständnis des Willens und (seit jeher) den Steigerungsbezug zu dem, woran die Griechen mit dem Namen areté 101 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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(das Bestsein) dachten, Gestalten, Momente der Daseinskulmination. Ein Fragment, auch vom Frühjahr 1888, beginnt: »Das Rauschgefühl, thatsächlich einem Mehr von Kraft entsprechend: am stärksten in der Paarungszeit der Geschlechter: neue Organe, neue Fertigkeiten, Farben, Formen … die ›Verschönerung‹ ist eine Folge der erhöhten Kraft.«(KGW VIII-3, 85; 14 [117]; WzM n. 800)
In diesem Aphorismus stellt Nietzsche (im Fortgang) die »Geschlechtserregung« mit dem »religiösen Rauschgefühl« zusammen. In einer früheren Aufzeichnung, vom Herbst 1887, überschrieben »Aesthetica«, vergleicht er mit der »ältesten Festfreude des Menschen« den »anfänglichen ›Künstler‹« (KGW VIII-2, 57; WzM n. 801). In dieser Aufzeichnung erklärt er: um Kunst als Kunst empfangen zu können, müsse man der »künstlerischen Urkraft«, der »Nöthigung des Reichthums« selber fähig sein. Von dem ökonomischen Begriff der Vollkommenheit als der Alternative zu Mangelzuständen unterscheidet Nietzsche die erfüllte Vollkommenheit, die man erst dann erkennt, wenn sie eintritt und deren Erkenntnis sich nicht als Abschluß eines Prozesses (eben der Beseitigung von Mangelzuständen), sondern als der Anfang eines Tuns bekundet: die Erfahrung von »Überschuß«, von »Ausströmen«. In einer Aufzeichnung vom Sommer 1887, überschrieben »Zur Genesis der Kunst«, notiert Nietzsche: »Jenes Vollkommen-machen, Vollkommen-sehen, welches dem mit geschlechtlichen Kräften überladenen cerebralen System zu eigen ist (der Abend zusammen mit der Geliebten, die kleinsten Zufälligkeiten verklärt, das Leben eine Abfolge sublimer Dinge, ›das Unglück des unglücklich-Liebenden mehr werth als irgend etwas‹): andrerseits wirkt jedes Vollkommene und Schöne als unbewußte Erinnerung jenes verliebten Zustandes und seiner Art zu sehen – jede Vollkommenheit, die ganze Schönheit der Dinge erweckt durch contiguity die aphrodisische Seligkeit wieder.« (KGW VIII-1, 335; WzM 805)
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
Schönheit und Eros, – im Gedanken an diesen Zusammenhang den Ort der Kunst im »Leben«, ihren Welt-Bezug zu sehen, bedeutet in Nietzsches Fall den altgriechischen (poetisch-mythischen) Gedanken vom Ursprung der Sprache in der Rühmung zu erneuern. 21 Dieser Gedanke fällt uns so schwer, weil wir ihn – unbedacht – in unserm Alternativschema ›entweder progressive Veränderung oder konservative Bewunderung‹ unterbringen. Kunst als Rühmung – das kann dann nur die Apotheose von jeweils Überkommenem, von einstmals ›Mächtigem‹ sein. Nietzsche unterscheidet, wenn er von Apotheose spricht, eine nach seiner Ansicht genuine Weise von Kunst von einer nach seiner Ansicht davon abgefallenen Weise von Kunst. Diese nennt er »romantisch« (wobei es gut ist, zu beachten, daß er dabei zuerst an die ›romantische‹ Musik denkt). Von dieser Unterscheidung handeln zwei Aufzeichnungen vom Herbst 1886, die eine aus dem Nachlaß überliefert; die andere befindet sich in einem, erst zu dieser Zeit entstandenen, Nachtrag zur ›Fröhlichen Wissenschaft‹, die einer neuen Auflage als 5. Teil angefügt wurde. Schon Nietzsches Lieblingsbeispiele: Homer, Raffael, Rubens (darin wird Nietzsche, wenn das dem Verf. zu sagen erlaubt ist, – ganz unabhängig von der einstigen Wagner-Verehrung des Jüngeren – wohl auch, in den Basler Gesprächen mit Burckhardt einig gewesen sein), bezeugen, daß seine Einsicht in den Rühmens-Charakter von Kunst nichts zu tun hat mit einer Verherrlichung des jeweils gerade gerühmt sein Wollenden, also einer zusätzlichen Ermächtigung des ohnehin schon Mächtigen. In dem Aphorismus n. 370 aus dem 5. Teil der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ sieht Nietzsche seine »ästhetischen Werte« in der Frage entschieden: »ist hier der Hunger oder der Ueberfluß schöpferisch geworden?« (KGW V-2, 303) Und zu Beginn der Nachlaß-Aufzeichnung aus der gleichen Zeit unterscheidet er die »Apotheosen-Kunst« als einen »Ausdruck der Dankbarkeit über genossenes Glück« von der »Romantik« als einer »Folge des Ungenügens am Wirklichen«. (KGW VIII-1, 117; WzM n. 845)
21 Ich verweise dazu auf das Kapitel ›Sprache als »Überschuß«‹ in meiner Schrift ›Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts‹ Basel 2006 (bes. die Anm. 8 zu S. 118)
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Viertes Kapitel
In dem Passus zur ›Fröhlichen Wissenschaft‹ bekräftigt Nietzsche diese Unterscheidung zwischen genuiner und derivater Motivation (»Überfluß oder Hunger«) im Falle von großer Kunst: Auch »Der Wille zum Verewigen bedarf … einer zwiefachen Interpretation«. Es kann »jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten sein, … der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt dadurch, daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der romantische Pessimismus in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer’sche Willens-Philosophie, sei es als Wagner’sche Musik.« Im Gegensatz dazu: der Wille zum Verewigen »aus Dankbarkeit und Liebe«: »eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend.« (KGW V-2, 304)
Der schöne Schein der Kunst, der auch noch alte und neue ›tragische Kunst‹ oder später etwa die Passionen Bachs zu Werken der Kunst macht, ist danach der Vollzug eines Überflusses in der Antwort auf einen Überfluß, Sprache von Dankbarkeit. Unter diesem Gesichtspunkt wird ein Merkmal des Schönen, das zumeist nur als Randerscheinung gilt, als ein Grundzug von Kunst erkennbar: der Schmuck-Charakter. In einem Nachlaß-Aphorismus vom Sommer 1887, der eine Reihe von »Verkleidungen« nennt, in denen die »Sinnlichkeit« erfahren wird, nennt Nietzsche neben dem »Idealismus« Plato’s und der »Religion der Liebe« zuletzt die »›schmückende‹ Gewalt« der Kunst: »wie der Mann das Weib sieht, indem er ihr gleichsam alles zum Präsent macht, was es von Vorzügen giebt, so legt die Sinnlichkeit des Künstlers in Ein Objekt, was er sonst noch ehrt und hochhält – dergestalt vollendet er ein Objekt (›idealisirt‹ es) Das Weib, unter dem Bewußtsein, was der Mann in Bezug auf das Weib empfindet, kommt dessen Bemühen nach Idealisirung entgegen, indem es sich schmückt, schön geht, tanzt, zarte Gedanken äußert …« (Nachgelassene Fragmente Herbst 1885 bis Herbst 1887, KGW VIII-1, 334 f. WzM n. 806)
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
Wir verbinden das Urteil ›Schmuck‹ mit dem Lächeln über die Belanglosigkeit von Dichtung im Vergleich mit Wahrheit, von Bild im Vergleich mit Wirklichkeit; und wo ein Bild nicht einmal etwas ›darstellt‹, besagt das Urteil ›bloßer Schmuck‹ dasselbe wie ›Tapeten-‹ oder ›Teppich-Muster‹. Was Nietzsche dagegen hier sieht, ist, im Schein der Ironie (des »Idealismus«), der Ernst der Daseins-Fülle, der (mit Nietzsches Ausdruck) »Lebens«-Vollendung, deren Erscheinungen unter unserer ›Apotheose‹ der Lebens-Mittel zu Lebens-Zwecken ästhetische Marginalien geworden sind. Die Analogie besteht bei diesem Aphorismus in der Analogie der natürlichen Mann-»Weib«-Beziehung zur schmükkenden Gewalt der Künste. Die Angst manches Kommentators alter oder fremder Riten, sich zu blamieren, wenn er das darin auch unseren Sinnen als ansprechend Erscheinende so, wie es erscheint, auch annehmen würde, erzeugt, wie aus der Pistole geschossen, die Erklärung ›Vertreibung der bösen Geister‹ oder ›Beschwörung hilfreicher Geister‹. Bei ganz alten ›Kunst‹-Erzeugnisssen, wie den franco-cantabrischen Höhlenmalereien, erfüllte lange Zeit – unserem universalen Nutzen-Motiv gemäß – der ›Jagdzauber‹ den wissenschaftlichen Erklärungsanspruch. Ähnlich die Automatik des Deutens bei ungewohnt modernen Werken, Schriften, Bühnenstücken. Becketts Sorge, man könne seine Vergegenwärtigung von Grenzsituationen des Handelns als verschlüsselte Philosophie rezipieren: »Weh dem, der Symbole sieht!« – nämlich statt beim Text: der Fuge, bei der Inszenierung: dem Rhythmus zu folgen. 22 »Sinnesgegenwart« ist ein Aphorismus in dem Nachtrag ›Der Wanderer und sein Schatten‹ innerhalb der »Gedankensammlung« ›Menschliches, Allzumenschliches‹ überschrieben:
22 Ich verweise dazu auf die damals aktuellen Berichte von Beckett’s Inszenierungen 1973/74 in Berlin in meiner ›Weltgeschichte: Kunstgeschichte‹, 1975, am Schluß des Passus über das »Gefüge der Szenen« in dem Kapitel zu Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹, S. 159 f. und die Anm. dazu. – Hier die darin vermerkte Erinnerung des Schauspielers Horst Bollmann: Beckett »schreibt ein ungeheuer genaues Deutsch. Und er hat auf den Proben an der Sprache noch viel geändert – vor allem hat er musikalisch geändert, einzelne Worte, den Rhythmus eines Satzes. Selbst das Schlurfen des Clov [im ›Endspiel‹] bekam ja bei ihm eine gewisse Musikalität.« (Dazu jetzt auch: ›Beckett als Regisseur‹ in ›Beckett Erinnerung‹, hg. von James und Elisabeth Knowlson, deutsch bei Suhrkamp, 2006; bes. S. 209 f.)
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Viertes Kapitel
»Sinnesgegenwart. – Das Publicum wird, wenn es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am rechten Sinn, nicht also an der Geistes-, sondern an der Sinnesgegenwart.« (›Der Wanderer und sein Schatten‹ n. 134, 1879. KGW IV-3, 248).
Zur schmückenden Gewalt der Kunst gehört die »Gewalt« des ArsPrinzips der artes, der Künste, das Artistische als eines der Kennzeichen aller großen Künste. Die Blindheit (oder Taubheit) gegenüber diesem Element des wesenhaften ›Bühnen‹-Spiels: des In-Erscheinung-Tretens, des Vollendungs-Triebs von Kunst macht Nietzsche den Zeitgenossen unter seinen Landsleuten speziell zum Vorwurf. Das Muster der Gegenwelt dieses Vorwurfs – teils trotz, teils mit der damaligen Faszination an den Décadence-Philosophien –: Paris. Nietzsche hatte keine Kenntnis von der gleichzeitigen Malerei – Manet und Degas, Monet und Renoir, van Gogh und Cézanne – in Paris, aber die literarische Moderne, Baudelaire an der Spitze, war ihm heimatlich vertraut geworden. Aus der Haß-Liebe Wagners zu Paris schälte sich für Nietzsche in der späteren Erinnerung an seine frühere Liebe zu Wagner dessen Übereinstimmung mit der »artistischen Disziplin« der Franzosen als das für ihn bewundernswert Bleibende heraus. In der allerletzten seiner veröffentlichten Schriften ›Ecce homo‹ (1888) überstrahlt das Bekenntnis zu dem unersetzlich Dankenswerten der Tage in Tribschen die Verachtung der ›deutschen‹ Wagner Huldigungen. Ein knapp zwei Druckseiten großes Stück (Nr. 5) des Abschnitts ›Warum ich so klug bin‹ beginnt Nietzsche mit einem Hymnus auf die Tage in Tribschen, um damit im Fortgang seinen Ruhm »Frankreichs« zu verbinden: »Hier, wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nöthig, um meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am Tiefsten und Herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere Verkehr mit Richard Wagner gewesen … ; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke … Ich weiss nicht, was Andre mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie
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»Schein« und Wahrheit. Nietzsches Maßstab der Apotheose
eine Wolke hinweggegangen. – Und hiermit komme ich nochmals auf Frankreich zurück.« »… die erste Berührung mit Wagner [war] auch das erste Aufathmen in meinem Leben: ich empfand, ich verehrte ihn als Ausland … Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob er heute in andren Farben spielt, ob er sich in Scharlach kleidet und Husaren-Uniformen anzieht … Wohlan! Wagner war ein Revolutionär – er lief vor den Deutschen davon … Als Artist hat man keine Heimat in Europa ausser in Paris; die délicatesse in allen fünf Kunstsinnen, die Wagner’s Kunst voraussetzt, die Finger für nuances, die psychologische Morbidität, findet sich nur in Paris. Man hat nirgendswo sonst diese Leidenschaft in Fragen der Form, diesen Ernst in der mise en scène – es ist der Pariser Ernst par excellence.« »Wer war der erste intelligente Anhänger Wagner’s überhaupt? Charles Baudelaire, derselbe, der zuerst Delacroix verstand, jener typische décadent, in dem sich ein ganzes Geschlecht von Artisten wiedererkannt hat …« (KGW VI-3, 286)
Mit diesem Echo auf die Erneuerung des Künstlerischen in der Kunst seit Delacroix und Baudelaire werden wir an deren Entfaltung zur ›klassischen‹ Moderne in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts denken dürfen, wo Rilke so wenig wie Picasso, Brancusi so wenig wie Beckett ohne Paris zu denken wären.
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Fünftes Kapitel »Spiel« und Welt. Das »interesselose Wohlgefallen« in Kants »Kritik der Urteilskraft«
Der Zweck dieser Schrift lässt sich mit einem Lieblingswort Jacob Burckhardts bezeichnen: innerhalb des behandelten Bereiches (der Ästhetik in der neuzeitlichen Philosophie) einige Gesichtspunkte aufzuzeigen, Gesichtspunkte, die darauf verweisen, was diese alten Gedanken mit uns zu tun haben; oder umgekehrt: was es für uns an diesen alten Gedanken auszugraben gibt. Alt – im Sinne des bloßen Vergangenseins – sind solche Gedanken ja nur, wenn man sie nach ihrem Entstehungsdatum einschätzt. Auf ihr Gedachtsein hin befragt, verbindet sich Schon-Erkanntes mit noch Unerkanntem. Und wenn zu unserer Zeit etwas aufgeht, was früheren Zeiten noch verschlossen war, dann natürlich nicht, weil man jetzt klüger geworden wäre als die Zeiten dazwischen, sondern darum, weil das Gesprochen-und Geschriebensein, das Gesagtsein eines Gedankens auf der einen Seite, das Wahrgenommenwerden dieses Gedankens, sein (zustimmendes oder kritisches) Gehörtwerden auf der anderen Seite, durchaus nicht in den gleichen Zeitraum fallen müssen. Es wird keine Sache der Kunst und keine Sache des Denkens geben, die nicht von ihrem Geburtsort geprägt sind. Aber es wird auch kein geglücktes Kunstwerk und kein großes Denk-Werk (wie Hegels Ästhetik zum Beispiel oder Schellings Transzendentalsystem oder Kants Kritik der Urteilskraft) geben, die dadurch zureichend wahrgenommen werden, daß man sie in den fachgeschichtlichen Prozeß einordnet oder in die zeitgeschichtliche ›Wirklichkeit‹ (z. B. die Gesellschaft) integriert. Der alte Dichter Pindar wußte das, wenn er von Worten (Pfeilen in seinen Köchern – Ol. Od. II, 84) spricht, die erst in einer entfernten, einer sehr viel späteren Zeit ankommen können. Manches spricht dafür, daß für einen solchen Bezug zur Geschichte Kants Gedanke des interesselosen Wohlgefallens ein aktuelles Beispiel ist.
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»Spiel« und Welt
1.
Gunst contra Wille
Mit der Umschreibung interesseloses Wohlgefallen hebt Kant die Wahrnehmung des Schönen (in der Natur wie in der Kunst) von allen anderen Verhaltensweisen ab. Und dabei soll die Negation interesselos den für Natur- und Kunst-Schönheit spezifischen Sachverhalt bezeichnen: daß da kein Interesse an der – wie Kant sagt – Existenz des Gegenstandes oder auch des Willens besteht. Was mich als schön anspricht, das spricht mich in dieser Hinsicht, in dieser ästhetischen Hinsicht also, nicht in der Beschaffenheit an, die ihm in seiner Gegenständlichkeit (oder in seiner willentlichen Existenz) zukommt, sondern nur in den Eigenschaften, in denen es mir – eben als schön – erscheint. Den Namen Schein gebraucht Kant nicht. Wenn er aber das Schöne ausdrücklich von dem abhebt, was den Gegenstand als Gegenstand erkennbar macht (was ihn in seiner Objektivität zugänglich macht), dann ist klar, daß er dem Schönen, dem Sachverhalt der Schönheit nur den – wie er sagt – subjektiven Aspekt des Von-mir-als-schön-Empfundenwerdens zuspricht. Wenn ich sage: »Diese Rose« oder (eine andere Lieblingsblume Kants) »diese Tulpe ist schön«, dann denke ich dabei nicht an ihre objektive Stellung im System der Pflanzen, – so, als wenn ein Botaniker sagt: »Die Gartentulpe ist eine Art in der Familie der Liliengewächse, der Unterklasse der Einkeimblättrigen, der Klasse der Bedecktsamigen und der Abteilung der Blütenpflanzen.« Im Unterschied zu einer solchen objektiven – objektiv als wahr (oder falsch) erweislichen – Bestimmung mache ich mit dem Satz »diese Tulpe ist schön« nur eine Aussage darüber, wie mir die Tulpe erscheint. Ich mache (wie Kant, der Redeweise seiner Zeit gemäß, das ausdrückt) nur eine Geschmacks-Aussage. Ich habe es zwar nicht mit einer bloßen Einbildung, aber doch – im Vergleich mit der objektiven Existenz dieser Pflanze – nur mit einem Schein von ihr zu tun: Der Maßstab der Schönheit auch in der Natur ist in dieser prinzipiellen Entfernung von der Existenz des Gegenstandes genauso ein bloßer Schein, wie etwa die gemalten Speisen und Getränke eines niederländischen Stillebens sich von den gleichen Speisen und Getränken in ihrer wirklichen Existenz unterscheiden, – von dem also, was ich nicht nur als etwas Gemaltes ansehen kann, sondern wirklich in die Hand nehmen, kurz gesagt: essen und trinken kann. In diesem ganz präzisen Sinn ist das Schöne nur ein Schein der Wirklichkeit – und damit interesselos. Das gilt genauso auch gegenüber der anderen Unterscheidungs109 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Fünftes Kapitel
richtung: der allgemeinen Brauchbarkeit einer Sache und der absoluten Gesinnung eines Menschen oder einer Handlung, also dem Unterschied des Schönen gegenüber dem Guten. Wenn ich von einem Beleuchtungsinstrument sage »das ist eine gute Lampe«, dann sind damit die Vorzüge ihrer praktischen Verwendbarkeit, ihrer Tauglichkeit gemeint. Sage ich, »das ist eine schöne Lampe«, dann meine ich (in den meisten Fällen zumindest) die Vorzüge ihres ästhetischen Aussehens. Beispielsweise sind die venezianischen Leuchter ganz besonders (vielleicht sogar unübertrefflich) schön. Und grundsätzlich der gleiche Unterschied: Wenn man sagt »das war eine gute Tat«, denkt man – mit Kant zu reden – objektiver, als wenn man etwa sagt »endlich ist wieder schönes Wetter«. (Die Wettervorhersage im deutschen Fernsehen und im deutschen Radio würde doch [damals, um 1982] nie auf die Idee kommen, bei Sonnenschein so kurz und schlicht wie etwa die vom Schweizer Radio zu sagen, überwiegend schön; denn das wäre ja unwissenschaftlich, nicht objektiv; damit hätte man schon in eine ästhetisch-subjektive Geschmacksaussage transponiert, was objektiv – in diesem Fall: auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung hin – als Hochdruckeinfluß prognostiziert wird, allenfalls vielleicht noch als nur geringfügig bewölkt, keine Niederschläge und steigende Temperaturen.) Ein Urteil über gut und schlecht oder gut und böse hat es mit einem, den Gegenstand oder den Willen betreffenden objektiven Sachverhalt zu tun. Ein Urteil darüber, ob ein Naturphänomen, ein Mensch, ein Kunstwerk mehr oder weniger schön ist, hat es – am Maßstab wissenschaftlicher oder moralischer Objektivität gemessen – nur mit einer subjektiven Empfindung zu tun. Die Frage ist nur, ob diese Alternative zureicht: was nicht objektiv begründet und objektiv begründbar ist, das könne nur subjektiv sein; was nicht logisch analysierbar und nicht rational motivierbar ist, das könne nur irrational sein. Also, ob das Alternativ-Schema zureicht: das Schöne und die Kunst gehörten darum, weil sie nicht auf der Seite der Rationalität unterzubringen sind, auf die Seite der Emotionalität, oder: weil sie nicht durch die Kategorien der Logik abgedeckt werden, in die Abteilung der Sinnlichkeit – eine Meinung, auf die offensichtlich schon der Begriff Ästhetik immer dort, wo man mit allem fertig wird, wenn man die passende Theorie gefunden hat, sehr suggestiv wirken muß. Kants Kritik der Urteilskraft ist im Ganzen wie in allen der ästhe110 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Spiel« und Welt
tischen Urteilskraft gewidmeten Einzelheiten nichts als die Ausführung einer Beunruhigung darüber, daß ein solches Einsortieren hier versagt. Man kann sagen: diese Beunruhigung ist das Motiv zu dieser dritten seiner drei großen Kritiken, d. h. der Umgrenzung (und damit auch Abgrenzung) des Schönen im Ganzen. Kant beunruhigt der sprachanalytische Sachverhalt, daß es – trotz der mangelnden Objektivität – üblich ist, von etwas Schönem, einem bloßen Schein also, nicht nur zu sagen: das gefällt mir, sondern: die Rose, das Gedicht, der Tempel ist schön. Das Urteil tritt hier, obwohl es – mit einem wissenschaftlichen oder moralischen Urteil verglichen – doch nur subjektiv ist, mit dem gleichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf, als wenn es ein wissenschaftliches oder ein moralisches Urteil wäre. Das Gewahrwerden von etwas Schönem, die Entscheidung darüber, ob etwas schön oder nicht schön, ob etwas in höherem oder geringerem Maße schön ist, also das, was z. B. jemand lernt, wenn er Literatur- oder Kunst- oder Musikgeschichte studiert, das tritt (wie Kant wiederholt erklärt, z. B. in § 32 der Kritik der Urteilskraft) auf mit dem Anspruch auf jedermanns Beistimmung. Kants philosophische Frage (die Frage, die darüber entscheidet, ob ein solcher Sachverhalt wie das Verhältnis des Menschen zum Schönen überhaupt – genauso wie der Sachverhalt der objektiven Erkenntnis und der Sachverhalt des guten Willens – zum Inhalt einer philosophischen, einer transzendentalen Fundamentaluntersuchung, wie das Kant mit dem Titel Kritik im Sinne hat, werden kann – diese Frage besteht darin: zu untersuchen, ob der Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu Recht besteht. Das Resultat von Kants Analysen: Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit besteht zu Recht, weil das, was einen Menschen veranlaßt, eine Sache als schön zu bezeichnen (weil der Maßstab, aus dem er ein Urteil darüber, ob etwas schön ist oder nicht schön ist, fällt), tiefer reicht als nur seine Privatansicht. Eine bloße Privatansicht, ein unverbindliches Gefühl ist z. B. – nach Kants Meinung – der Geschmack an Speisen oder an Gerüchen. Dabei braucht es uns nicht zu beschäftigen, ob diese Beispiele für den Bereich des unverbindlich Angenehmen zutreffen. Ein Lied oder ein Tanz jedenfalls müßte – auch dann, wenn wir etwa, weil es eine ›Negermusik‹ oder ein Südsee-Tanz ist, von ihm zuerst befremdet wären – grundsätzlich auch von uns mit dem gleichen Enthusiasmus oder vielleicht auch mit der gleichen Schwermut aufgenommen werden können, wie von den Eingeborenen, – in einem 111 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Fünftes Kapitel
solchen Fall vielleicht erst nach langer Übung, nach langem Umgang; und wir würden dann vielleicht sagen: jetzt geht mir der Rhythmus ein, ich höre, ich sehe, was da für Klangfarben, was da für Bewegungsweisen im Spiele sind; ich habe plötzlich (so wie beim Lernen einer fremden Sprache) die Grammatik dieser Tanzart und Gesangsart erfaßt. Und wenn wir nun sagen »das ist aufregend, das ist herrlich, das ist eindrucksvoll, das ist großartig«, dann gebrauchen wir – wie Kant erklärt – mit Recht diese ontologische Redeweise: es ist so, obwohl wir doch nur von einem Gefühl der Zustimmung Mitteilung machen, weil es sich dabei um das Eintreten eines Zustandes handelt, der uns nicht als diese variablen Privatpersonen betrifft, sondern uns in unserer Grundverfassung als Menschen überhaupt. Er betrifft uns, obwohl da keine wissenschaftliche, keine naturwissenschaftliche oder sonstwie theoretisch fundierte Erkenntnis entfaltet wird, doch in den fundamentalen Faktoren des Erkennens. Die berühmte Formulierung Kants (zuerst im § 9 und dann, mehrfach wiederholt, in den §§ 32–34 ausgesprochen): Die Zustimmung, das Mitgehen, in die uns der Anblick des Schönen versetzt (Kant spricht von der Lust am Schönen), ist der Vollzug eines Zusammenstimmens unserer Erkenntniskräfte. Kant versteht darunter zwei polar aufeinander angewiesene, in jedem konkreten Erkenntnisakt zusammenwirkende Potenzen: die Anschauung und den Verstand. Zu der Fähigkeit: überhaupt Anschauungen haben zu können, gehört mehr als die bloße optische und akustische Rezeption; zu einer Anschauung wird das Sehen und Hören erst, indem es zu so etwas wie Ganzheiten gebildet wird. Diese aktive Anschauungs-Kraft nennt Kant die Einbildungskraft. Daß nun aber aus der Vielfalt des Angeschauten, aus der Mannigfaltigkeit der Erfahrung die Vorstellung der Einheit, d. h. Erkenntnis werden kann, dazu bedarf es noch einer zweiten Potenz: des Vermögens der Kategorien, des Verstandes. Ein Beispiel aus der Kritik der reinen Vernunft: Die beiden anschaulichen Erfahrungen: 1. es regnet, 2. die Straße wird naß, bringt der Verstand auf die Einheit eines Begriffs, indem er – in diesem Fall – die Kategorie der Kausalität einbringt: die Mannigfaltigkeit (hier: die Zweiheit) von Anschauungen gelangt zur Einheit eines Begriffs, indem der Verstand mich zu der Erkenntnis bringt: Weil es regnet, wird die Straße naß. Von einem solchen Erkenntnis-Akt ist nun beim Anblick des Schönen nicht die Rede, wohl aber von einem ganz eigenartigen, ja: 112 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Spiel« und Welt
von einem unvergleichlichen Zusammenstimmen dieser beiden Kräfte, der Einbildungskraft und des Verstandes. Einzig im Anblick des Schönen – so lautet die Erklärung Kants – sind diese beiden Erkenntniskräfte oder (wie er, bemerkenswerter Weise, statt dessen auch sagt) diese beiden Gemütskräfte in einer solchen wechselseitigen Beziehung, die sich als freies Spiel kennzeichnen läßt. Mit der Redeweise »dieses oder jenes ist schön« benennen wir die Eigenart eines Anblicks (oder eines Klanges oder einer Bewegung), bei der sich unsere Erkenntniskräfte in einem freien Spiel befinden. Was da nun freies Spiel heißt, wird erst vom Gegensatz her klar. Bei dem Gewicht, das Kant etwa in seiner Morallehre, also den Gedanken, die zur Kritik der praktischen Vernunft gehören, dem Ernst der sittlichen Entscheidung, der Emanzipation des autonomen Willens von jeder Art von Neigung zuspricht, könnte man dazu verleitet werden, den üblichen Begriff von Spiel auch hier für angebracht zu halten: Spiel als das Gegenteil von Ernst, Spiel als das Gegenteil von Arbeit. (Das wäre der Begriff von Spiel, den man einem Verhalten zuspricht, wenn man etwa tadelnd sagt: das ist ja bloß ein Spiel, oder wenn man – in der Pädagogik z. B. – sagt: die Ganzheitsmethode habe darin ihren Sinn, daß sie den kleinen Kindern das Schreiben erst mal spielerisch beibringen soll.) Dieser – in einem letzten Sinne – negative Spiel-Begriff (auch wenn er noch so positiv bewertet wird) ist in Kants Kritik der Urteilskraft nicht gemeint, zumindest reicht er nicht zu. Wovon das Spiel als seinem Gegenpol sich abhebt, ist hier durch den Zusatz frei umschrieben. Diejenige Verbindung zwischen Einbildungskraft und Verstand, die außerhalb von dem, was hier Ästhetik heißt, am Werke ist, dort also, wo wissenschaftlich erkannt, wo wissenschaftlich geforscht wird, dieses Zusammenwirken der beiden Erkenntnis- oder Gemütskräfte ist nicht frei. Die Einbildungskraft ist hier – wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft klar macht – dem Verstand unterworfen. In dem kategorischen Erkennen ist der Verstand – zusammen mit seiner eigenen, schon zur Vernunft hinüberleitenden Grundlage: der transzendentalen Apperzeption, dem cartesianischen Ich-denke, das die Anschauung in seinem Sinne jeweils Ordnende, das die jeweilige Vielfalt seiner Konzeption von Einheit jeweils Unterwerfende, – so wie uns das an dem von Descartes bis Kant primär mathematischen, dann, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts primär energetischen und seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zusätzlich noch informationellen Wirklich113 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Fünftes Kapitel
keits-Ansatz der Wissenschaft und deren technischen Erfolgen bekannt ist. Diese Herrschaft der einen der beiden Erkenntniskräfte ist in dem Spiel, dem (beinahe klingt es tautologisch) freien Spiel der Erkenntniskräfte bei der Beurteilung des Schönen verlassen. In den vielerlei erklärenden Formulierungen (in dem § 9 und den §§ 32–40) spricht Kant von der – hier allein bestehenden – proportionierten Stimmung (also dem beiden Kräften gleichermaßen angemessenen Zusammenhang). Und er bezeichnet (am Schluß von § 40) dieses (wie er da sagt) regelmäßige Spiel der beiden Gemütskräfte als ein wechselseitiges Erwecken: Die Einbildungskraft in ihrer (in der für sie gerade genuinen!) Freiheit erweckt den Verstand; und dieser, an dem der Zug zur Gesetzmäßigkeit das Genuine ausmacht, erweckt die Einbildungskraft. Dem scheinbaren Manko also: daß hier kein Erkenntnis-Prozeß geleistet wird, daß hier keine Vergegenständlichung in Funktion tritt, – diesem scheinbaren Manko korrespondiert das Positivum, daß nur hier, daß nur in einer solchen Lage, wie sie das Hören oder Sehen des Schönen ausmacht, die Kräfte unseres Gemüts sich so zueinander verhalten, daß sie in dem wechselseitigen Erwecktwerden frei sind; – mit anderen Worten gesagt: daß wir in solchen Augenblicken das zu sein vollziehen, was wir sind. »Mit anderen Worten«, das heißt freilich zugleich: Kant hat hier in dieser dritten Kritik selber andere Gedanken darüber, was wir Menschen als Menschen sind, als in seinen beiden ersten Kritiken. Diese bestimmen den Menschen danach, daß er das animal rationale, als das er seit langem angesehen wird, in der Weise ist, daß die Rationalität dazu aufgerufen ist, die Animalität zu überwinden. Darauf läuft Kants Vertiefung des cartesianischen Grundsatzes von der res cogito als der Basis der res extensa in seinem Gedanken des Ich denke als der Basis allen objektiven Wissens hinaus. Und darauf läuft ebenso sein Gedanke von der Forderung des an sich guten Willens als der Basis der Autonomie hinaus. Im § 5 der Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant in einer Weise, die zunächst nur die alte Tradition des animal rationale in Erinnerung ruft, das bloß Angenehme (also z. B. den Genuß an einem guten Essen, wenn man vorher mächtig Hunger hatte) als dasjenige, was auch für vernunftlose Tiere gilt, von dem Guten (d. h. der Einsicht in das, was für jedermann die Maxime seines Handelns sein sollte) als desjenigen, was für jedes vernünftige Wesen überhaupt gilt. Im Unter114 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Spiel« und Welt
schied zu beidem, also zum Tier wie zum Geist, gelte die Schönheit nur für Menschen, also diese seltsamen Geschöpfe, die halb Tier, halb Geist sind. Diese Bemerkung ließe sich bis zu diesem Punkt noch leicht mit anderen Anwendungen des animal-rationale-Schemas verbinden, etwa Hegels dialektischer Vermittlung des Geistes auf dem Wege des Zusich-selbst-kommens im Schönen, oder Kierkegaards Forderung, die Unverbindlichkeit des Ästhetischen zur Entschiedenheit des Ethischen zu überwinden. Nur der Fortgang geht in dieser Tradition nicht mehr ganz auf: Der Tradition gemäß heißt Freiheit, die Bindung an die Animalität zu überwinden. Kant erklärt hier aber: nur dort, wo weder, wie im Falle des Hungers, uns die Neigung treibt, noch auch, wie im Falle des Vernunftgesetzes, die Achtung, bestehe diejenige Freiheit, die er hier als das freie Wohlgefallen im Wahrnehmen des Schönen bezeichnet und im Unterschied zu Neigung und Achtung Gunst nennt. Gerade das ist nun aber offenbar der Zustand, von dem Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft erklärt: um auf ihn zu kommen, sei diese Kritik geschrieben, – nämlich der Zustand, wo Freiheit nicht nur, wie im Anspruch der Moral, für den Menschen gefordert wird (als Vernunftgesetz erscheint), sondern in der Welt zur Wirkung kommt, mit einem Wort (einem Wort von Kant): wo er existent wird. Damit ist mehr ausgesprochen, nämlich ein Grenz-Überschritt, als später, in dem beliebtesten der Paragraphen aus der ästhetischen Urteilskraft, dem § 59, wo Kant von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit spricht – und damit versucht, die von der ästhetischen Urteilskraft im Ganzen überschrittene Grenze, die Grenze zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen von Freiheit: zwischen Freiheit als Selbstbestimmung und Freiheit als Gunst, wieder in das anfängliche, von der Vernunft bestimmte Grundsystem zurückzubinden.
2.
Existenz contra Verzehr
Wie steht es denn mit dem, was uns als schön erscheint, selbst? Kants negative Abgrenzung des Schönen gegenüber dem, was in seinem objektiven Bestand erkennbar ist: als der nur subjektiven Beurteilung einer Kunst- oder auch Naturerscheinung, reicht ja – als einlinige Alternative – offensichtlich nicht zu. Ohne den Bezug zu einer in der Dimension der Schönheit unseren Verstand und unsere Einbildungskraft, unser Reflexions- und unser Anschauungsvermögen affizierende 115 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Fünftes Kapitel
Sache (ohne eine solche Sach-Verfassung) käme das, was Kant die ästhetische Lust nennt, diese – wie er sagt – Lust der Reflexion, ja nicht zustande. Schönheit ist auf jeden Fall ein solches Spiel der Gemütskräfte, das sich zwar nicht als Vorstellung eines Gegenstandes, wohl aber als der Vollzug eines Gegenüber abspielt. Und in einigen Paragraphen, besonders dem § 42, der überschrieben ist Von dem intellektuellen Interesse am Schönen, stellt Kant auch zumindest die Frage, ob die Lust, die mit dem Anblick eines schönen Natur-Phänomens, der Blumen z. B. oder dem Gesang der Vögel, verbunden ist, – ob das wirklich nur ein subjektiver Gemütszustand ist, oder ob nicht etwa auch diejenige Vermutung, die hier nicht nur eine Beistimmung aller Menschen erwartet, sondern auch eine Übereinstimmung mit der Sache, die uns da als schön anspricht, – ob nicht auch diese Vermutung berechtigt sein könnte. Er führt – um nur eines der illustrierenden Beispiele Kants hier zu nennen – die Erwägung an: »Der Gesang der Vögel verkündige Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit ihrer Existenz«, verbindet dies freilich (seiner Konzeption von Wissenschaft getreu) gleich mit dem einschränkenden Zusatz: »Wenigstens so denken wir die Natur, es mag dergleichen ihre Absicht sein oder nicht«. Doch diese Einschränkung ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist für Kant im Falle der Natur-Schönheit und ebenso im Falle solcher Gebilde oder z. B. auch Töne und Bewegungsweisen, die denen der Natur in deren eigenem, Mannigfaltigkeit und Einheit verbindenden, In-sich-stehen analog ist – und die wir als schöne Kunst bezeichnen: daß da überhaupt ein substanzieller Zusammenhang (nicht erst eine nachträgliche Übereinstimmung) zwischen Mensch und Außenwelt besteht, ein Zusammenhang, der das, was in dieser Kritik das einheitliche Thema ausmacht: die Kraft des Urteilens, das Vermögen des ist-Sagens, selber erst ermöglicht. In der – erst nach dem Abschluß dieser ganzen Kritik verfaßten – zweiten Einleitung (der endgültigen Einleitung) erklärt Kant als den Zielpunkt dieses Buches (im II. Abschnitt): die Möglichkeit eines Zusammenstimmens zwischen Freiheit und Natur zu zeigen, und er sagt (im V. Abschnitt): es sei diejenige Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen, die von der Urteilskraft stets vorausgesetzt werde, nun selber noch zum Thema der Erörterung zu machen. Der Gedanke von dem freien Spiel der Gemütskräfte, das den Menschen im Anblick oder im Vollzug des Schönen für Augenblicke 116 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Spiel« und Welt
sein läßt, was er ist, wäre demnach zugleich der Gedanke eines Übereinstimmens, eines Zusammenstimmens mit dem, was der Mensch die Wirklichkeit nennt. Und wenn wir Kants Wort von der Lust nicht gar zu harmlos-idyllisch verstehen, sondern dabei auch an die Lust mitdenken, von der Nietzsche im Gedanken an die Tragödie sagt: sie umschließe auch noch das Leid, dann legt sich die Vermutung nahe, daß in dem, was Kant hier sieht, wie unheimlich ihm auch selbst (wie er in der Einleitung mehrfach betont) vor dieser Dunkelheit, Verborgenheit, dem Rätselhaften, vor das er sich mit der ästhetischen Urteilskraft gestellt sieht, auch ist, – daß die hier als freies Spiel der Erkenntniskräfte angesprochene Verfassung des Menschen ein Zusammenstimmen mit dem ist, was ein älterer Denker das Spiel der Welt genannt hat: aion pais esti paizon pesseuon paidos he basileie. Die Weltzeit ein Kind, ein Kind beim Brettspiel, ein Kind sitzt auf dem Thron. Auf diesen Spruch (B 52) von Heraklit spielt Nietzsche an, wenn er in einem der Aphorismen aus dem Nachlaß sagt: »›Das Spiel‹, das Unnützliche – als Ideal des mit Kraft überhäuften, als ›kindlich‹. Die ›Kindlichkeit‹ Gottes, pais paizon« (KGW VIII-1, 127. Der Wille zur Macht, n. 797). Ähnlich war schon in der Geburt der Tragödie (im vorletzten Abschnitt) von dem »Willen, der in der ewigen Fülle seiner Lust mit sich selber spielt« die Rede. Der berühmteste Ausspruch von und über Kants Ästhetik ist die Formel vom interesselosen Wohlgefallen. Kant entwickelt sie in den ersten fünf Paragraphen der Kritik der Urteilskraft. Er faßt in diese Formel der Interesselosigkeit die dort gemachte Abgrenzung von den vielerlei Formen eines Interesses an der Existenz des Gegenstandes. Gewöhnlich zitiert man diese Formel so, als hieße Interesselosigkeit nichts anderes, als was wir sonst damit meinen: nämlich Teilnahmslosigkeit. Man beachtet nicht, daß Kant hier mit Interesselosigkeit die besondere Eigenschaft eines Verhaltens, eines Zustandes nennt, der schon seinem Namen nach das genaue Gegenteil von Teilnahmslosigkeit ist, nämlich eines Wohlgefallens, einer, wie Kant stattdessen auch sagt, – einer Lust. Die Rede vom interesselosen Wohlgefallen ist – schon ohne, daß man auf den Text-Umkreis zu achten braucht – ein wandelnder Widerspruch. Der Text-Umkreis macht aber den eindeutigen Sinn dieser widersprüchlich klingenden Formel klar. Was heißt denn Interesse an der Existenz eines Gegenstandes? Im Falle des Angenehmen ist das leicht 117 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Fünftes Kapitel
zu sehen: An einer Speise bin ich, wenn ich Hunger habe, an einem Getränk, wenn ich Durst habe, interessiert: um damit Hunger und Durst zu stillen. Und das geschieht, indem ich mir den Gegenstand aneigne, indem ich seine Existenz vertilge. Im Falle des pragmatisch Guten bin ich an der Existenz des Gegenstandes – z. B. diesem Lesepult – interessiert, um damit etwas zu erreichen; ich bin an seiner Brauchbarkeit, an seiner Verwendbarkeit interessiert. Im Falle des moralisch Guten, des – wie Kant hier sagt – an-sich-Guten, bin ich an der Existenz der Sache, der guten Tat, der guten Gesinnung interessiert, indem ich am Vollzug des Vernünftigen interessiert bin; das Interesse ist ein Hinaussehen auf die Folgen. In allen diesen Fällen ist das Interesse an der Existenz des Gegenstandes stets das Interesse dessen, was Kant hier das Begehrungsvermögen, sonst kurz den Willen nennt. Die Existenz des Gegenstandes ist hier stets (in den tadelns- wie den lobenswerten Varianten) ein Interesse an seiner Brauchbarkeit, an seiner Güte für etwas Anderes. Wenn sich jemand (falls es so etwas noch gibt) über den Gesang von Vögeln freut oder z. B. (was es sicher noch gibt) über das Spiel der Wale und Delphine – dann ist er dabei nur insofern interesselos, als er nicht an irgendeiner Verwendung interessiert ist. Er ist nicht ökonomisch interessiert. Es könnte aber sein, daß er daran interessiert ist, die endgültige Ausrottung der Wale auf den Weltmeeren zu verhindern; und es wäre bei diesem Interesse schwer zu sagen, ob er daran nur deshalb interessiert ist, damit ihm und anderen Menschen die Lust am Anblick dieser schönen Lebewesen erhalten bleibt, oder vielleicht auch darum, weil er merkt: was mir hier als schön erscheint, hat mehr mit dieser Welt, zu der auch ich gehöre, zu tun als der wirtschaftliche Verwendungswert, der in diesen Gegenständen liegt. Wie relativ auch bei Kant selbst sein Gebrauch des Begriffs der Interesselosigkeit ist, das zeigt eine Formulierung am Ende von § 12, wo er erklärt: eine Beschäftigung der Erkenntniskräfte, die mit dem Gefühl der Lust verbunden ist, suche man zu erhalten. »Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert«. Zwar liegt auch da wieder der Akzent auf dem, was uns als Menschen beschäftigt. Aber es ist klar: die Interesselosigkeit an der Existenz des Gegenstandes, der Verzicht auf die Brauchbarkeit von etwas mir zu Dienste Stehendem, ist nur die Kehrseite eines Bezuges, der selber das genaue Gegenteil von Gleichgültigkeit ist. Es handelt sich dabei um eine – selber positive – Abkehr von 118 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Spiel« und Welt
dem Willen zum Verbrauch, kurz gesagt: um eine Abkehr von dem Willen zum Besitz. Das Schöne ist uns – als Schönes – nur nahe, wenn wir ihm nicht zu nahe kommen. Das gilt auch für die Weisen von Natur- und Kunst-Erfahrung, in denen Beides, der Sehende und das Gesehene, die Hörenden und das Gehörte, gar nicht mehr zu trennen ist: die Formen von orgiastischer Erregung, die Nietzsche in den Begriff des Dionysischen gefaßt hat. Das Bei-dem-Schönen-sein heißt: in einem stillen oder auch gefährlich-agonalen Spiel mit ihm stehen, nicht in dem Verwertungsbezug (dem Züchtungsbezug oder dem Speicherungsbezug) der Aneignung. Diese Befreiung von dem Willen zum Besitz ist gemeint, wenn Kant die Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Schönen als Unparteilichkeit bezeichnet (in § 2 und § 13). Es ist der gleiche Sachverhalt, den hundertundzwanzig Jahre später der Dichter Rilke als die große Wendung in der Kunst erklärt, die ihm im Herbstsalon von 1907 an der Kunst Cézannes aufgegangen war und die eigene Wendung in seiner Kunst hervorgerufen habe, die mit dem Malte Laurids Brigge begonnen hat. Er beschreibt sie als die ungeheure Arbeit, die notwendig ist, um malend oder dichtend die Dinge sein zu lassen, was sie sind. Cézanne habe, durch seine Malerei, gezeigt: man müsse auch noch über die Liebe hinaus kommen – nicht etwa, daß man lieblos, daß man gleichgültig würde, sondern so, daß mehr geschieht, als das bloße Beteiligtsein auszudrücken: »es ist ja natürlich, daß man jedes dieser Dinge liebt, wenn man es macht: zeigt man das aber, so macht man es weniger gut; man beurteilt es, statt es zu sagen. Man hört auf, unparteiisch zu sein, und das Beste, die Liebe, bleibt außerhalb der Arbeit, geht nicht in sie ein, restiert unumgesetzt neben ihr: so entstand die Stimmungsmalerei (die um nichts besser ist als die stoffliche). Man malte: ich liebe dieses hier, statt zu malen: hier ist es. Wobei denn jeder selbst gut zusehen muß, ob ich es geliebt habe. Das ist durchaus nicht gezeigt, und manche werden sogar behaupten, da wäre von keiner Liebe die Rede. So ohne Rückstand ist sie aufgebraucht in der Aktion des Machens«.
Das steht in einem der Briefe, die Rilke über die Pariser Gedächtnisausstellung, nach dem Tode Cézannes, seiner Frau, der Bildhauerin 119 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Fünftes Kapitel
Clara Westhoff, schrieb (in dem Brief vom 13. Oktober 1907). Am 19. Oktober 1907 schreibt er: »Du erinnerst sicher … aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids, die Stelle, die von Baudelaire handelt und von seinem Gedichte: ›Das Aas‹. Ich mußte daran denken, daß ohne dieses Gedicht die ganze Entwicklung zum sachlichen Sagen, die wir jetzt in Cézanne zu erkennen glauben, nicht hätte anheben können; erst mußte es da sein in seiner Unerbittlichkeit. Erst mußte das künstlerische Anschauen sich so weit überwunden haben, auch im schrecklichen und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das, mit allem anderen Seienden, gilt. Sowenig eine Auswahl zugelassen ist, ebensowenig ist eine Abwendung von irgendwelcher Existenz dem Schaffenden erlaubt: ein einziges Ablehnen irgendwann, drängt ihn aus dem Zustande der Gnade, macht ihn ganz und gar sündig. Flaubert, als er die Legende von Saint-Julien l’Hospitalier mit so viel Umsicht und Sorgfalt wiedererzählte, gab mir diese einfache Glaubwürdigkeit mitten im Wunderbaren, weil der Künstler in ihm die Entschlüsse des Heiligen mitbeschloß und ihnen glücklich zustimmte und zurief. Dies sich-zu-dem-Aussätzigen-Legen und alle eigene Wärme, bis zu der Herzwärme der Liebesnächte, mit ihm teilen: dies muß irgendwann im Dasein eines Künstlers gewesen sein, als Überwindung zu seiner neuen Seligkeit. Du kannst Dir denken, wie es mich berührt, zu lesen, daß Cézanne eben dies Gedicht – Baudelaires Charogne – noch in seinen letzten Jahren ganz auswendig wußte und es Wort für Wort hersagte.«
Der Hinweis auf Cézanne und Rilkes Malte möchte hier auf den Gesichtspunkt weisen, unter dem man sich ausführlicher und weiter mit Kants Ästhetik befassen müßte – und unter dem man dann auch die eignen Grenzen der Ästhetik Kants bedenken könnte: Das ist nicht der angebliche Formalismus, sondern die Macht des Willens, die mit dem Begriff des Urteilens selbst verbunden ist. Die Sachlichkeit, von der Rilke im Blick auf Cézanne spricht, meint ein Ist-Sagen, an dessen Schwelle die Kritik der Urteilskraft stößt, die sie aber nicht überschreiten kann. Kants Formel des interesselosen Wohlgefallens ist ein Widerspruch. Denn die Lust, die Kant mit dem Wohlgefallen meint, ist ja ein aller120 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
»Spiel« und Welt
höchstes Interesse. Aber nur in dieser widersprüchlichen Form kann Kant sagen, was er in dieser dritten seiner großen Kritiken sieht. Erstens: im Hinblick auf uns, die Menschen, ist die Erfahrung des Schönen (die Lust der Reflexion) derjenige Zustand, in dem der Mensch nicht nur frei sein will, sondern (für Augenblicke) wirklich frei ist. Diese Freiheit (die Freiheit der Gunst) unterscheidet sich aber fundamental von der Freiheit des Willens, der Selbstbestimmung, die Kants kritische Philosophie sonst prägt, – genauso wie die europäische Neuzeit im Ganzen. Das zeigt sich an dem zweiten Aspekt: im Hinblick auf die Sache, die »Natur«. Dasjenige Interesse, das in der Lust am Schönen eliminiert wird, ist ja in Wahrheit gar kein Interesse an der Existenz des Gegenstandes, sondern das Interesse am Verzehr des Gegenstandes. Ein solches Verwendungs- oder Verbrauchsinteresse leitet auch den Willen des pragmatisch oder des moralisch Guten und erst recht den ›klassischen‹ Begriff der Wissenschaft. Was in der Abgrenzung davon die Kritik der Urteilskraft mit Interesselosigkeit meint, das ist in Wahrheit: der Verzicht auf Aneignung. Kant gelangt in seiner Analyse der Schönheit vor die Schwelle der altgriechischen Erfahrung, wonach der Mensch sein Wesen nicht in der Beherrschung der Natur, sondern im Spiel mit ihr erfüllt. Kants Kritik der Urteilskraft korrigiert die Begriffe von Wirklichkeit und von Freiheit, die seine beiden vorausgehenden Kritiken begründet hatten. *
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Sechstes Kapitel Bildbeispiele zu Schelling
Mit dem Titel der Münchner Rede von 1807 »Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur« ist, wie die Beschäftigung mit dem Text gezeigt hat, mehr berührt, als nur das Spezialgebiet der ›bildenden‹ im Unterschied zu anderen Künsten, wie der Dichtung, und auch mehr als nur, modern gesprochen, die spezielle Weltregion der ›Natur‹ im Unterschied etwa zur ›Kultur‹. Am Exempel der Malerei und Plastik erschließt sich hier das generelle Problem des Zugangs zur Natur im Falle des Künstlerischen überhaupt; und an dem seit ca. der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem maßgeblich gewordenen Sachbereich der Wissenschaften und Künste gewordenen lebendigen Natur wird der Sachverhalt des Weltbezugs der Künste neu zur philosophischen Frage: hier nun desjenigen Philosophen, der in einer herausragenden, wirkungs- wie ablehnungsreichen Weise ›Naturphilosoph‹ gewesen ist. Zu den beiden ersten Beispielen (Abb. 1 und 2) vorweg: Zwei Fotos des antiken Theaters in Orange aus dem Jahre 1900. 23 Sie geben den Zustand dieses römischen Theaters wieder, den Rilke bei seinem Besuch von 1906 angetroffen haben wird. (Der darauf bezügliche Ausschnitt aus den »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« hier S. 97 f.) Schellings Antwort auf die Frage der Münchner Rede nach dem Verhältnis der bildenden Künste zur Natur hat zwei Seiten, die eine: die Natur kann in dem, was sie in Wahrheit ist, nicht nachgeahmt werden; die andere: gleichwohl besteht ein Bezug, nur beruht dieser nicht in der Verwendbarkeit zum Gegenstand der künstlerischen Arbeit, sondern in der Nachbarschaft des (allen Künsten gemeinsamen) Bildens zu der
Sie wurden freundlicherweise von dem Fotographen des römischen Theaters in Orange, Philippe Gromelle (Studio Grand Angle), zur Verfügung gestellt.
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Bildbeispiele zu Schelling
Verfassung, die in der lebendigen Natur das Leben ausmacht, die Bewegung (die kinesis) des Versammelns und Entwerfens der natura naturans, was Schelling in den – für sich genommen dunklen – Ausdruck des »Begriffes« faßt. Zur ergänzenden Erläuterung dieses sozusagen Leitbegriffs der Titelthese bieten sich drei – sich ihrerseits ergänzende – Wege an, die ich zunächst an jeweils einem der Hauptbeispiele vorstellen möchte. Vom ersten Weg ein Zeugnis der geometrischen Kunst Griechenlands aus dem Anfang des 8. Jahrhunderts v. Chr., also dem Anfang der griechischen Geschichte, die monumentale (mehr als 1,5 m hohe) Bauchhenkelamphora vom Dipylon, dem Eingang zum alten Friedhof von Athen (Abb. 3 und 13). An diesem Beispiel aus dem Anfang Griechenlands kann man der Frage nachgehen, wie weit sich Schellings Gedanke einer Entfernung der Kunst von der Naturerscheinung am jeweiligen Beginn einer Epoche verifizieren läßt, also seiner Erklärung, die Kunst beginne (jeweils) nicht bei den Naturerscheinungen, sondern beim »Begriff« der Natur – »Natur« hier synonym mit Wirklichkeit gebraucht. Die Beispiele des zweiten Gangs möchten zeigen, was der Münchner Vortrag von 1807 mit dem zu tun haben kann, worauf Schelling unmittelbar abzielt, die bildende Kunst seiner Zeit – hier nun noch zugespitzt: auf Künstler seiner Generation (Abb. 4). Das bedeutet: ob sich das generelle Nachahmungsprinzip in den klassizistischen und ›realistischen‹ Stilen der Zeit mit Schellings Forderung eines »begrifflichen«, also ›kreativen‹ Neubeginns reimen läßt. An den bedeutendsten Vertretern der Malerei seiner Generation läßt sich, trotz des Anscheins der Naturnachahmung, hier anhand der Riesengebirgslandschaft C. D. Friedrichs von 1808 (Abb. 4), eine Bestätigung für jenen Ansatz Schellings zeigen. Der dritte Beispielweg: Schellings Forderung, der Künstler müsse sich von der Natur, von der Wirklichkeit, wie sie ihm vor Augen tritt, entfernen, um dem, was sie in Wahrheit ist, nahekommen zu können, berührt sich mit einem Grundgedanken dessen, was Paul Klee das »bildnerische Denken« nennt. Das soll an dem »Diagramm« aus Klees Lehrtätigkeit am Bauhaus erläutert werden (Abb. 5).
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Sechstes Kapitel
1 Zum Zusammenhang der Generalthese Schellings (zur Nichtnachahmbarkeit) mit der ›Anfangs‹-These die Erinnerung an zwei in der TextLektüre besprochene Stellen der Münchner Rede. Zunächst: »Der Gegenstand der Nachahmung wurde verändert, die Nachahmung blieb. An die Stelle der Natur traten die hohen Werke des Altertums, von denen die Schüler die äußere Form abzunehmen sich befleißigten, doch ohne den Geist, der sie erfüllet. Jene sind aber ebenso unnahbar, ja sie sind unnahbarer als die Werke der Natur, sie lassen dich kälter noch als jene, wenn du nicht das geistige Auge hinzubringst, die Hülle zu durchdringen und die wirkende Kraft in ihnen zu empfinden.« (Schelling 1807, S. 7)
Und daraus Schellings Konsequenz: die damals – und bis weit in unsere Epoche hinein – als Unbeholfenheit, als kindliche Naivität erscheinende »Unnatürlichkeit« der Anfangszeiten in der Malerei und Plastik großer Epochen sei in Wahrheit das Zeugnis einer eigenen Größe: einer eigenen Erkenntnis-Leistung solcher Aufbruchszeiten: »Nur mächtige Bewegungen des Gefühls, nur tiefe Erschütterung der Phantasie durch den Eindruck allbelebender, allwaltender Naturkräfte konnten der Kunst die unbezwingliche Kraft einprägen, mit der sie von dem starren, verschloßnen Ernst der Bildungen früher Zeiten bis zu den Werken überfließender sinnlicher Anmut stets der Wahrheit getreu blieb und die höchste Realität geistig erzeugte, welche Sterblichen zu schauen vergönnt ist. Wie ihre Tragödie mit dem größten Charakter im Sittlichen beginnt, so war der Anfang ihrer Plastik der Ernst der Natur, und die strenge Göttin Athens die erste und einzige Muse bildender Kunst.« (Schelling 1807, S. 19)
Die Beispiele, die hier genannt werden, gehören nicht zu denen, die bereits zu Winckelmanns und Schellings Zeiten (wie bei seinem Aufenthalt 1798 in Dresden) bekannt waren und beschrieben wurden, sondern sie stammen aus dem erst uns bekannten Umkreis. Zunächst ein vorgriechisches Zeugnis, aber vom Boden des späteren Griechenland, den Kykladen: die Statue eines Harfenspielers (aus Marmor, Höhe 21 cm), 2400–2200 v. Chr. (Abb. 6). Diese Statuen, ›Grabidole‹, sind 124 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
meist Sinnbilder der Fruchtbarkeit. Hier: der Sitz (der Thron) im Gefüge der Senkrechten und Waagerechten – die Schwere und Erdgebundenheit, die hier zugleich die Gegenbewegung trägt, die Wendung des Kopfes nach oben. Dieses Aufblicken kann man unschwer als ein Hören, ein Aufnehmen verstehen, das zum Klingen der Saiten gehört. Der Bau der Figur wird darin ein Ausgreifen, ein Öffnen des Daseinsraumes wie in der Musik. In der gleichen Weise wie sich die Rundungen der Harfe oder der Lehne von den Orthogonalen abheben und sich doch auf sie beziehen, wiederholt sich das Schwingen zwischen Geschlossenheit und Weite, das im Sitzen und Aufblicken Gestalt geworden ist. Dieser tektonisch-»begriffliche« Zug der vorgriechischen Bildkunst der Kykladen prägt den Anfang der ›eigentlich‹ griechischen Kunst in deren mykenischer Entstehungszeit (um 1600 v. Chr.). In einem aufschlußreichen Kontrast zu jenem ›dorischen‹ Anfangsgepräge der griechischen Kunst steht die nahezu gleichaltrige, aber auf diese Zeitphase begrenzte kretische Kultur. Darum hier zunächst eine Gegenüberstellung jeweils drei, thematisch vergleichbarer Zeugnisse. Mykenisch (nach und kurz vor 1500) zunächst der Stierkopf (Abb. 7) und die beiden Grabbecher (Abb. 8 und 9). Das Spendengefäß (Rhyton) in Form eines Stierkopfes mit den Hörnern und dem Mund, den Augen und der Rosette in die verschiedenen Raumdimensionen ausstrahlend, ähnlich dem Baugefüge des kykladischen Harfenspielers. Der eine Grabbecher: mit der Jagd auf einen wilden Stier, der andere: mit der Vorbereitung eines Sprungs auf einen halbgebändigten Stier. (Wir könnten an den Stiermythos im Lebenswerk Picassos denken.) Beide Handlungszeichen eingebunden in den Bau des Gefäßes. – In eklatantem Kontrast dazu: die Versenkung in die natürliche Erscheinung bei der kretischen Glockenblume, dem Tintenfisch, dem Fischer (Abb. 10, 11 und 12, alle auch um und nach 1500): Ausdruck der Lebensbegegnung mit der pflanzlichen und tierischen Umgebung dieser südlichen Nachbarkultur. Als ein Inbegriff der ersten großen Phase griechischer Kultur (Epoche-prägend in den ›homerischen‹ Epen): die geometrische Phase der bildenden Kunst, die Bauchhenkelamphora aus der Zeit um 770 v. Chr. (Abb. 13). Zwischen 1500 und 1000 v. Chr. war der Einschnitt der Dorischen Wanderung. Seit dem 9. Jahrhundert die Ausbildung der griechischen Kultur: an deren Anfang keine Staatsbildung, sondern die agonale Vielfalt autarker Polisgebilde. Die Einheit lag in der Sprache und der Lebensweise. Grundlage der Einheit die homerischen Epen 125 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Sechstes Kapitel
auf der einen Seite, die musischen Festspiele auf der anderen. Das Ganze der Mythos, also Delphi, die musischen Festspiele verkörpert in Olympia. Bezeugt ist dieser Anfangsgrundzug Griechenlands neben den homerischen Epen am besten in der geometrischen Keramik. Der Fischer und der Tintenfisch von Kreta bezeugen den kulturellen Umkreis, in dessen Angesicht diese neue Geschichtsepoche, diese neue Kunst sich ausbildete (neben dieser ›kretischen‹ Nachbarschaft gehörte dazu auch die des späteren Ägypten). Im Unterschied zu den kretischen Beispielen stehen auf der geometrischen Grabamphora zwar auch Figuren: Pferde und Menschen, Männer mit Waffen, Frauen im Klagegestus um den Wagen mit dem aufgebahrten Toten; unten ein Wagenzug. Aber hier ein Sehen und Zeigen des Dargestellten nach den gleichen Gesetzen, denen der Bau des Gefäßes folgt. Es handelt sich hier nicht um den Reichtum einer lebensvollen, lebenserfüllten BildErscheinung, sondern um die Monumentalität eines aufreißenden und einschneidenden Welt-Gefüges. Dieses Gefäß bringt eine ihm angemessene bildnerische Sprache aus sich selbst hervor. Der Wagenzug, der Kreis der Trauernden und Klagenden ist hier nicht etwas, was vor unseren Blick tritt, sondern der Stand und der Gang, der Raum und der Weg, in dem wir selber uns befinden. Ein solches Gefäß, dieser griechische Beginn von Architektur und Skulptur im Gefäß, ist in dem griechischen Sinn des Wortes ein Akt, ein Vollzug von Erkenntnis, in dem griechischen Sinn: das heißt als Staunen, als Betroffensein, so wie dies das Gepräge der Epen Homers ausmacht. Das »Bild« aus der Mitte des Gefäßes (Abb. 13): der Kreis der Klagenden um den aufgebahrten Toten. Auch die Ilias ist ja im ganzen das, womit sie schließt, eine Totenklage. Die Klagenden geben dem Ganzen des Gefäßes seinen Blick: nicht wir sehen ein ›Bild‹, sondern dieser Körper ist ebensosehr sprechender Blick wie er rhythmisch sich aufrichtender Stand ist. Man sieht dieses Gefäß (und sein Bild), wenn man nicht den Anblick (die Optik) registriert, sondern sich auf das Spiel der Bewegungen, auf die Einheit seines Rhythmus einläßt. Die Einheit von Gefäßform und Bemalung wird noch unterstrichen durch die beiden Randsäume unter der Lippe und über dem Fuß, jedesmal identisch: Zackenleiste, Striche und Punktreihe. Immer gleiche Ornamentleisten (mit schmalen, punktierten Rautenketten, gerahmt von je drei Linien) trennen die einzelnen Ornamentfriese: hochgestellte Blätter, Schleifenmäander, einfache und doppelte Mäander. Die Höhe der umlaufenden Bänder nimmt in dem Maße zu, wie die 126 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
Gefäßform in die Breite geht. »Mit steigender Höhe erweitert sich der Abstand der einzelnen Ornamentglieder von Stufe zu Stufe im Einklang mit dem Ausschwellen des Vasenkörpers. Die rasche Einziehung der Schulter über dem Hauptbild der Henkelzone spiegelt sich in der raschen Kontraktion der beiden Friese. Wobei der unter dem Hals sitzende Fries das feingliedrige Ornament des Bildsockels wiederholt.« 24 Steigerung also des rhythmischen Spiels: im Hals (wohl in Augenhöhe) Zusammenklang der schwer profilierten Lippe mit der kompakten Kraft des Fußes und der konzentrierten Kraft der Henkelzone. Die beiden Tierfriese (beidemale nicht spiegelbildlich: unten liegende Bökke, oben äsende Rehe). Auch darin: die Einheit von bildhafter Figürlichkeit und tektonisch-rhythmischer Räumlichkeit, die dieses Grabgefäß im ganzen auszeichnet. ›Geometrisch‹, das heißt hier nicht etwa: formelhaft unbeholfene Versuche der Natur-Nachahmung, sondern erkennbar-werden-lassen, begreifbar machen, was die physis, was der Mensch selbst ist. Die ›geometrische‹ Kunst stellt die gültig bleibende ›Geometrie‹, den »Begriff« im Daseinsgefüge des Kosmos dar. Der Bau des Gefäßes ist in der Einheit der Spannkraft zwischen Gefäßkörper und Hals, in dem Verhältnis von Schwere und Aufstieg und dem Rhythmus von Versammlung und Öffnung, in dem sich die beiden Randformen ergänzen – dieser Bau des Gefäßes ist energischer, klarer, einheitlicher als der des späteren Kraters von 740 v. Chr. (Abb. 14). Ein ähnlicher Unterschied gilt auch von dem Rhythmus. Die bis ins letzte gespannte Bewegung im Stand und in der Armhaltung bei dem alten Gefäß vom Dipylon wird zu einem nicht mehr ganz vom Künstler und offenbar auch von den damaligen Menschen nicht mehr ganz begriffenen Nachbilden des alten Vorbildes. Bei den Männern hängen die zu kurzen Arme beschäftigungslos herab, bei den Frauen bilden sie mit der Schulter zusammen ein totes Rechteck. Die Augen sind aus der Silhouette ausgespart, die Brüste der Frauen nur angedeutet (Schweitzer, S. 46). Gegenüber der Monumentalität weniger Gestalten in dem kleinen Bildausschnitt des älteren Gefäßes, in dem die ganze Schwingung des Gefäßes mitklingt, hier der Zug zur Ausbreitung und Ausfüllung, die Tendenz zum Erzählerischen. Mit
24 Bernhard Schweitzer, Die geometrische Kunst Griechenlands. Frühe Formenwelt im Zeitalter Homers, Köln: DuMont 1969, S. 39.
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Sechstes Kapitel
bloßer Erzählung hat ja (wie wir seit Karl Reinhardt und Wolfgang Schadewaldt wissen) auch das große Epos nichts zu tun; es ist selber Klärung, Deutung, Tanz; es ist nicht Bericht, sondern rühmender, klagender Gesang. Daß der ›geometrische‹ Anfang den bleibenden Horizont ausmacht, innerhalb dessen sich die späteren Phasen griechischer Bildkunst entfalten, dazu hier drei Beispiele aus der archaischen Zeit und eines aus dem Hellenismus. Aus der Anfangszeit griechischer Plastik, ein Jahrhundert nach der geometrischen Keramik, um die Mitte des 7. Jahrhunderts, stammt die Göttin aus Auxerre im Louvre (Abb. 15). Ernst Buschor hebt hier das entschiedene »Dastehen in der Welt« hervor, die »logischere Sprache des Bildwerks in Ausdruck und Blick«, die »kindhafte Souveränität«. »Eine einfache Sprache von geringem Wortschatz, aber gewaltigem Rhythmus wird gesprochen. Aus vier klaren ›Ansichtsseiten‹ bauen sich die blockhaften Marmorwerke auf; Körper, Haar und Gewand sind [Hervorhebungen vom Verfasser:] als solche, in ihrer einfachsten Existenz [mit Schellings Wort: in ihrem »Begriff«], nicht in ihrer zufälligen Bewegtheit oder in ihrem naturverwobenen Oberflächenleben dargestellt; Haltung und Gesten gehören zu diesem verewigenden Bilde. Trotzdem sind diese Werke nicht starr. Das unendlich reiche und freie ›geometrische‹ Leben, das die Wachstumskräfte veranschaulicht, pulst noch stark und voll in diesen Körpern.« (Buschor 1981, S. 17–19.) (Werner Fuchs 1979, S. 157, ergänzend: »Die lebhafte Bemalung hat ursprünglich die ›Seinsgewalt‹ der Gestalt noch unterstrichen.«) Wiederum fast ein Jahrhundert später, um 560 v. Chr., ist das Weihgeschenk an die Hera von Samos entstanden (jetzt auch im Louvre; Abb. 16). Die Frau trägt einen dünnen Chiton mit Gürtel, einen schräg gezogenen Mantel und ein Schleiertuch auf Schultern und Rükken. Die rechte Hand ist ins Gewand gehüllt, die linke vor die Brust gehoben. Etwa zwei Jahrzehnte später der Münchner Kuros (540/530 v. Chr.; Abb. 17). Beide Bildwerke sind nicht insofern von (spät-)ägyptischem oder kretischem ›Erscheinungs‹-Realismus entfernt, als sie ›abstrakter‹ wären, sondern weil sie ein Übermaß an Daseins-Kraft, einer ebensosehr leibhaften wie geistigen Kraft auszeichnet. Das Abgrenzen (Ausschließen) und Ausstrahlen: alles ist Blick, Epiphanie. (Schellings Ausdruck der »Form« als »positiver Kraft«.) Und dieser plastisch-›epi128 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
phane‹ Raum wiederum ist – in der ionischen Zartheit jenes HeraWeihgeschenks wie in der »ungestüm plastischen Bewegung« (Buschor 1981, S. 29) dieser attischen Jünglingsstatue – die weltöffnende Leuchtkraft, Strahlkraft des Da-Stehens. Als Beispiel aus dem Hellenismus: die Nike von Samothrake (um 190 v. Chr., Höhe 2,45 m, Louvre; Abb. 18). Hier ist zwar alles schon auf die Wirkung im Ausdruck eines großen, bedeutenden Momentes hin angelegt: Die Siegesgöttin schwebt auf den Bug des Admiralsschiffes. Ein Zeugnis dafür (Schellings Polemik gegen Lessings ›Laokoon‹ !), daß auch stürmische Bewegung von Plastik, also Bildkunst, aufgenommen werden kann, ist dieses Werk aber auch in der ›Seins‹-Gewalt seiner Art des Aufgehens im Flug. Auch dieses spätgriechisch-hellenistische Wirkungspathos bleibt in seinem autarken, inneren Spannungsgefüge dem Gesetz des griechischen Anfangs treu. Der Archäologe Guido Kaschnitz von Weinberg (1890–1958) beschreibt den in den Raum aufsteigenden Wirbel der Figur folgendermaßen (mit einer Erinnerung an das kanonische Werk der Hochklassik, den Speerträger des Polyklet): Dieser Wirbel »verflüssigt die rhythmischen Akzente der polykletischen Ponderation aber nur äußerlich im gleitenden Übergang der plastischen Massen, steigert sie dagegen in der inneren Achsenführung zu hart aufeinander stoßenden Brüchen im Raum, so daß eine Kontrastwirkung auftritt, die das Wesen der ganzen Struktur bestimmt. Eine Bewegung, die in ihrer ruckweisen Entwicklung von den aufwärts steigenden spiraligen Stromläufen gemildert, aber nicht verborgen wird, nimmt die alten klassischen Akzente der Ponderation auf, löst sie aus ihrer kreisenden, in sich geschlossenen Rhythmik und verwandelt sie in das Echo einer übermenschlichen kosmischen Erschütterung … In diesem Gegensatz zwischen der axial gebrochenen Anlage, die das spiralige Aufwärtsstreben in scharfe Akzente auflöst, und den sie umhüllenden plastischen Massen, Fluten und Wölbungen von Körper und Gewand liegt der eigentliche formal schöpferische Gedanke dieses großartigen Werkes verborgen … Unter den wie Gießbächen sich stauenden und tosenden Gewandfluten tauchen die Formen des Körpers immer wieder in ihrer klaren Nacktheit aus dem sie momentan verhüllenden und verunklärenden Gewühl und Geriesel der Falten auf, deren stoff-
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Sechstes Kapitel
liches abstraktes Wesen die plastischen Akzente des weiblichen Aktes zur höchsten Wirkungspotenz steigert.« (Hier: nach Fuchs 1979, S. 230)
2 Unter den großen Malern von Schellings Generation gab es nur einen, der sich ausdrücklich auf ihn berief: Philipp Otto Runge. Es gibt einen Brief von ihm (vom 1. Februar 1810), in dem er Schelling seine Farbenlehre schickt, um ihm dabei ausführlich für den Eindruck zu danken, den er vom Studium der da gerade erschienenen Schrift Schellings »Über das Wesen der menschlichen Freiheit« empfangen habe (zum Zusammenhang des Kontrastes von Licht und Finsternis). Hier nur eine Bemerkung aus dem fünfeinhalb Druckseiten umfassenden Entwurf für diesen Brief: »Das Studium der Alten und das Entwickeln aller Stufen der Kunst daraus ist zwar sehr gut; es kann aber den Künstler nichts helfen, wenn er nicht dahin kommt oder gebracht wird, den gegenwärtigen Moment des Daseyns mit allen Schmerzen und Freuden zu fassen und zu betrachten; wenn nicht alles, was ihm begegnet, persönliche Berührung mit der weitesten Ferne und dem innersten Kern seines Daseyns, mit der ältesten Vergangenheit und der herrlichsten Zukunft wird, die ihn nicht zerstört, sondern stets vollkommner formirt.« (Ph. O. Runge, Hinterlassene Schriften I, Hamburg 1840, S. 160)
Das Bild »Der Morgen« (von 1808, in Hamburg, Abb. 19), zu dem es auch noch eine zweite, aber nur fragmentarisch erhaltene Fassung vom folgenden Jahr, 1809, gibt, gehört, wie schon der Inhalt vermuten lassen würde, einem vierteiligen Zyklus-Plan zu – gedacht nach den vier Tageszeiten (der Morgen, der Tag, der Abend, die Nacht), wahrscheinlich für die vier Wände eines Raums. Diese Fassung des »Morgens« (im Unterschied zu dem späteren Fragment »Der kleine Morgen« genannt) ist das einzige voll ausgeführte Werk aus dieser langjährigen »Vier Zeiten«- Konzeption. Die mit dem Titel angesprochenen Tageszeiten sind, wie das Bild 130 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
zeigt, Verkörperungen des Zeitenwandels auch in den Jahreszeiten, den Lebensaltern und den Weltzeitaltern. Die Tageszeit des Morgens, das Aufwachen des Tages: in der Natur die Phase des Aufwachsens, des Aufblühens, des Frühlings; im Menschenleben die Geburt und die Kindheit; im Ganzen des Kosmos die Schöpfung der Welt. Die umfassende Triebkraft dieser vielartigen Zeiten-Wandlungen sah Runge in der Liebe, hier verkörpert in der Mittelgestalt der Aurora, der Morgenröte, an die antike Venus erinnernd, aber auch, in der Verbindung mit dem Neugeborenen auf dem Erden-Grund, der Ankunft des Welterlösers, an die Mutter Gottes denken lassend. Die Lichtlilie oben verweist darauf, daß das Licht des Bildes das überirdische Licht anzeigt; auch die (irdische) Sonne kann nur indirekt, in ihren Spiegelungen auf der Erde ›gesehen‹ werden: die Engel, die das Mond- und Sonnenlicht verdecken, wodurch es aber aus dem Ganzen des Bildes und nun im Spektrum der Farbenskala erscheint. Die – selber zu erlösende – Welt wird vermittels der Kunst zum Symbol der Überwelt. Der umfassende Aspekt dieser (nach historistischem Einordnungseifer) ›christlichen Natursymbolik‹ ist die Symbolik der Farbe: der Dreiklang der Grundfarben Rot, Gelb und Blau versinnbildlicht hier die Trinität. Die über das nur konventionell-›Ideengeschichtliche‹ hinausreichende Bedeutung dieser – kunst- und zeitgeschichtlich einsamen – Versuche des jung Verstorbenen in Praxis und Theorie (von Goethe in ihrer Exklusivität bewundert) liegt darin, daß damit der bildenden Kunst (der Malerei) doch – wie fragwürdig auch in diesem Exempel – eine Weg-Richtung angezeigt wurde, in neuerer Zeit mit den Mitteln realistischer Darstellung die geistige Substanz der Wirklichkeit zu symbolisieren. Die natürliche Erscheinungswelt symbolisiert – in der Sphäre der Malerei – das ›Innere‹ (die ›Transzendenz‹), indem dessen eigenes Entfaltetsein in den Prozeß der Zeit zur Darstellung gebracht wird. Von Symbolik, von einer ausdrücklichen Metaphorik, ist in dem »Watzmann« von C. D. Friedrich (Abb. 20) nichts zu spüren. Das Bild könnte ein Abbild des ›wirklichen‹ Watzmanns sein, so wie er vor uns steht. Also hier nun doch: Naturnachahmung, »Realismus«, Naturalismus? Daß eine solche Ansicht falsch ist, weiß heute jeder; im 19. Jahrhundert hat sich das daran gezeigt, daß man Friedrichs Bilder zuerst, als sie ausgestellt wurden, ablehnte und dann bald ganz vergaß. Er ist erst um 1910 wieder neu bekannt und erkannt worden. Der Watzmann selber ist hier Zeichen einer unsichtbaren, Zeichen 131 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Sechstes Kapitel
einer inneren, unserem menschlichen Geist zugehörigen Verfassung. Dieses Hochgebirgsbild (1824/25 in Dresden gemalt; die ganz ähnliche Riesengebirgslandschaft, hier in der Einleitung S. 123 erwähnt, von 1810) ist ein Inbegriff der Unzugänglichkeit, vor die uns die Natur stellt. Das Bild ist aufgebaut aus einer Vielzahl von Dreiecksformen, die sich in allen Entfernungen vom dunklen, fast schwarzen Vordergrund, bis zu den weißen Gipfelansichten ausrichten. Schon der Vordergrund ist unzugänglich, unbegehbar; die zweite Bildebene erinnert an ein Grabmal. Jede Schicht ist eine neue Barriere. Die unheimliche Beleuchtung: blauer Himmel und trotzdem der ganze Mittelpunkt im Schatten, erhöht diesen Eindruck der absoluten Fremdheit noch; die Einschnitte zu den Bildplänen sind Abgründe. Es gibt hier keine Vermittlungen; es gibt hier keine Orientierung. Das Hochgebirge – Symbol des Unzugänglichen, Symbol des Unermeßlichen. Als Kontrast-Vergleich dazu eines der idyllisch-harmlosen »Märchenbilder« des allseits beliebten Märchenmalers Ludwig Richter: »Heimkehrender Harfner« aus dem gleichen Jahr 1825 (Abb. 21). Hier ist, dem offiziellen Stil der Zeit gemäß, eine perfekte naturalistische Abbildung mit anschaulicher, gemütsergreifender Erzählung verkoppelt. Der Harfner allein, als Plastik etwa, wäre nichtssagend, die Landschaft ohne die die Phantasie anregende Geschichte wäre langweilig. Friedrichs Berg-Landschaft ist selber, ohne jeden »märchenhaften« Zusatz, das Bild einer in uns befindlichen Stimmung. Diese Naturlandschaft ist mit Friedrichs eigenem Wort: »Seelenlandschaft«, Landschaft nämlich als Bild unserer Einsamkeit, Bild der Unendlichkeit. Die Natur, die hier zum Bild, zum Zeichen des Geistes wird, wird es so, daß sie dem Menschen seine Fremdheit gegenüber der Natur zum Bewußtsein bringt. Das ist die Größe Friedrichs: nicht eine »Vergeistigung« der Malerei im allgemeinen, im formalen Sinn; sondern die Erkenntnis der modernen Entfremdung der Welt vom Menschen. Nicht der Maler, wir sind es, die in allem ›realistischen‹ Pathos, in aller Betriebsamkeit der Natur-Erforschung: in der Welt nur noch ein Zeichen sehen, das über sie hinausweist, in die Transzendenz. Nicht umsonst ist das berühmteste Bild Friedrichs »Der Mönch am Meer«, vollendet 1809 (Abb. 22). Eine menschliche Figur vor der Einsamkeit, der Grenzenlosigkeit von Meer und Himmel. Der Blick geht über das, was keinen Halt, was keinen Ort mehr bieten kann, in die Un-endlichkeit hinaus, die nicht mehr sichtbar ist: der Blick eines Mönchs. Jede der drei Bildebenen, der schmale farb- und leblose Vor132 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
dergrund, die fast schwarze, endlose Fläche des Meeres und der nach oben und unten, nach rechts und nach links ebenso grenzenlose Raum des Himmels, jede dieser drei Bildebenen ist isoliert, ist ohne Beziehung zur anderen, »Strand, Meer und Himmel gehören nicht zueinander«. Der Mönch steigert diese Komplexität, er macht sie, wie man gesagt hat, unentrinnbar: »Wir sind dieser Unendlichkeit ausgeliefert«. Von Heinrich von Kleist stammt eine Besprechung dieses Bildes (in den ›Berliner Abendblättern‹ vom 13. Oktober 1810). Er sagt zuerst, was man, wenn man nur vom Thema dieses Bildes als einer einsamen Meerlandschaft wüßte, erwarten könnte: »Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegrenzte Wasserwüste, hinauszuschauen. Dazu gehört gleichwohl, daß man dahin gegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber mögte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt, und die Stimme des Lebens dennoch im Rauschen der Fluth, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, dem einsamen Geschrei der Vögel, vernimmt. Dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, um mich so auszudrücken, den Einem die Natur thut.«
Und nun fährt er fort: »Dies aber ist vor dem Bilde unmöglich, und das, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nehmlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild that; und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz. Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunct im einsamen Kreis. Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie eine Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlider weggeschnitten wären.« 25 25
»Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche
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Das Bild der Natur wird zum Symbol des Geistes, die gemalte Landschaft ist – mit ihrem Realismus – »Seelenlandschaft«. Das ist die eine große Antwort auf die Geistlosigkeit, Seelenlosigkeit, mit der die Welt dem Menschen begegnet, wenn er sich als Subjekt und diese als Objekt ansieht. Die andere Antwort, von Schelling selber, ist die, den verlorenen Bezug, das Band der Einheit, neu zu gewinnen und das heißt, es neu zu erkennen. Denn was kann uns Menschen mit der Natur, die uns als unsere eigene Innenwelt erzeugt und antreibt und auch gefährdet, – was kann uns Menschen mit diesen beiden Aspekten der Natur verbinden? Nicht eine Reduktion auf Blut und Boden, und auch nicht eine Flucht in die Nacht, in der alle Dinge grau sind, sondern nur eine Steigerung der Aufklärung auch noch im Hinblick auf unser Verständnis der Natur in uns wie der Natur um uns. Die ›wirkliche‹ Natur, ohne Symbolik oder Transzendenz, ist Grundlage des »Schmadribachfalls« von Joseph Anton Koch, dessen erste Fassung (in Leipzig) zwischen 1805 und 1811 entstanden ist (hier die nur unwesentlich veränderte Münchner Fassung von 1821/22, Abb. 23). J. A. Koch (1768–1839), als Hirtenbub im Tiroler Lechtal aufgewachsen, war durch bischöfliche Empfehlung 1785 Stipendiat an der Karlsschule in Stuttgart geworden. Von dort mußte er infolge seiner Begeisterung für die Französische Revolution 1791 fliehen. Nach einer Zeit in Straßburg kam er in die Schweiz, in deren ihm heimatlich vertraute Bergwelt, darunter auch das Berner Oberland, wo der Schmadribachfall seinen Ort hat. 1795 zog er, mit einer Fußwanderung über die Alpen, nach Rom. Er wurde dort (wie es in einem Lexikon aus dem Ende jenes Jahrhunderts heißt) zum »Schöpfer der neuen heroischen oder historischen Landschaft«. »Jahrzehnte hindurch war er der Mittelpunkt des deutschen Kunstlebens in Rom und übte durch seine originelle Persönlichkeit einen bedeutenden Einfluß auf die jüngere Generation aus.« (Meyers Konversations-Lexikon, 4. Aufl., Bd. 9, 1890, S. 900) Diese Nähe zu altem Stil und neuem Geist der Zeit wird man aber nur, zu einsamem Rang verwandelt, wiederfinden können in der Vision der Hochgebirgshistorie, die seiner Sicht des »Schmadribachfalls« zugrunde liegt. Gleichwohl ist das Besondere Kochs auch vor seinen dem klas-
Werke. Brandenburger Ausgabe, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Bd. II, 7: Berliner Abendblätter I, Frankfurt/M. Basel: Stroemfeld 1997, S. 61.
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Bildbeispiele zu Schelling
sizistisch-romantischen Zeitstil nahen Bildern in Rom bemerkt worden. A. W. Schlegel schreibt in einem Bericht über Kochs Italienlandschaften aus dem Jahre 1809 an Goethe: es handle sich hier um einen »dichtenden Landschaftsmaler«. Und Goethe rühmt ihn später als »den Gestalter und Weisen, dessen ahnungsvolle Intuitionen höchste Erkenntnis auftue.« In diesem Mittelstück der Beispielreihe zu dem Schelling-Kapitel ist J. A. Koch der einzige ältere Zeitgenosse Schellings; aber dieses Werk (in seinen beiden Fassungen) ist exemplarisch für einen der verschiedenartigen »Begriffs«-Aspekte in Schellings Münchner Rede. Denn trotz der fast antithetischen Ferne zu Runges Symbolik und Friedrichs Seelenlandschaft handelt es sich auch hier um eine »begrifflich« geprägte Konzeption in dem Verhältnis dieses Bildes zur Natur. Es handelt sich in einem ganz präzisen Sinn um das, was Goethe als »höchste Erkenntnis« an Koch gerühmt hat. Es ist eine bildnerische Darstellung dessen, was zwei Generationen später, in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, die Geologie als die ›Genese des Wasserfalls‹ in der Theorie der rückschreitenden Erosion analysiert hat, den Gesetzmäßigkeiten, nach denen das ›Urgestein‹ allmählich zu Sand und Erde verwandelt wird. Dazu hier ein Ausschnitt aus der Interpretation dieses Bildes durch Hugo Kehrer in einer Sendung des Bayrischen Rundfunks in den 60er Jahren: »Einst lag Eis überall, füllte auch das Tal aus; einst reichte der Gletscher bis weit nach unten, selbst bis dahin, wo jetzt der Nadelwald sich erhebt. Das Urgestein liegt hier von Ewigkeit her: der Gletscher darüber hat den Granit ausgeglättet, geschliffen, und nun erst konnte der Wasserfall entstehen. Die Geschichte seines Entstehens hat er [Koch] intuitiv erschaut. Er hat erkannt, daß das Schmelzwasser des Gletschers immer tiefer in die Felsen einschneidet, daß der Wasserfall immer weiter zurückwächst und sich näher an den Gletscher heranschiebt. Dadurch, daß der Maler die plastische Form des Gesteins, wie sie durch das allmähliche Ausgewaschenwerden immer mehr zurücktreten mußte, besonders hervorhebt, hat er seinen Beitrag zur Morphologie der Erde gegeben. Er hat die Gesteinsfalten interpretiert und das sich wandelnde Antlitz der Erde gedeutet. Maßgebende Geologen versichern, daß Kochs Bild ein unvergleichliches und wohl einzigartiges Beispiel aus der Geschichte der Malerei sei, um die Theorie des Wasserfalls zu studieren; es könne gera-
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dezu in geologischen Vorlesungen für Demonstrationen verwendet werden.« 26
Anders als bei dem »Schmadribachfall« Kochs scheint bei John Constables »The Vale of Dedham« von 1828 (Abb. 24) nun doch nur ein direkter, momentaner Naturausschnitt (nach Raum und Zeit) abgebildet zu sein, also eine Nachahmung der Natur im präzisen Sinn vorzuliegen. Doch in Wahrheit ist Constable ein Gegenstück zu Koch. Was für diesen die Erkenntnis der allmählichen Gesteinsumbildung vom Gletscher bis zum Laubwald und zum Weideland ist, das ist für Constable die Erkenntnis der Formungen und Wandlungen der Wolken. Was für Koch die Geologie, das ist für Constable die Meteorologie. Auf allen Bildern Constables, 1776–1832, (auch denen von 1810/ 11) spielen die Wolkenformationen eine dominierende Rolle. Und wo man hier nun auf den ersten Blick meinen könnte, Constable folge demjenigen Trend des Zeitstils, der von einem Landschaftsbild verlangt, einen möglichst getreuen ›Momentausschnitt‹ zu geben, wird man bei genauerem Sehstudium belehrt, daß die Landschaftsbilder Constables nicht zuletzt darum so ›echt‹ sein können, weil hier die Wolkenbildungen den Zuständen des vom Himmel und der Erde gespiegelten Wetters entsprechen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Malerei werden hier (also seit etwa 1807/08) die Wolken aus der Erkenntnis ihrer Genese heraus gemalt, so daß sie meteorologisch richtig sind; so wie sie in Wahrheit auch ›in der Natur‹, der dargestellten Orts-, Zeit- und Wetterlage gemäß, vorkommen. Es verbindet sich in diesem Œuvre also mit dem künstlerischen Rang eine – nur in wissenschafts-ähnlichen Naturstudien erlangbare – Kenntnis der zwischen Luft und Land vermittelnden Gesetzmäßigkeiten des Wetters. Was hier gemalt ist, das kann man ›vor der Natur‹ genau genommen gar nicht unmittelbar sehen. Man sieht es nur, wenn man schon weiß, worauf man achten muß, was für Wolkenarten mit was für WetHugo Kehrer, Josef Anton Koch, 1768–1839, Der Schmadribachfall in der Schweiz, in: Kunstwerke der Welt. Aus dem öffentlichen Bayrischen Kunstbesitz. 3. Bild- und Textband zur Sendereihe des Bayrischen Rundfunks, hg. v. Remigius Netzer, München: Lambert Müller 1963, Bild 87. (Statt einer Seitenpaginierung steht am unteren Seitenrand der Texte jeweils die zugehörige Bildnummer.) Die Formulierungen Kehrers folgen weitgehend der Interpretation, die er bereits 1929 in der »Zeitschrift für bildende Kunst« (S. 75 f.) veröffentlicht hatte.
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Bildbeispiele zu Schelling
terlagen, mit was für Wetterentwicklungen, Luft-, Licht- und Feuchtigkeitsverhältnissen gesetzmäßig zusammenhängen. Hier wird an den Erscheinungen das »wirkende Prinzip« sichtbar gemacht, in diesem Fall also das Prinzip der Wetterentwicklung. Von Constable wie von Koch kann man sagen, sie geben nicht wieder, was sie (vor sich) sehen, sondern sie zeigen, sie machen sichtbar, was sie erkannt haben. Geht aber der »Schmadribachfall« bestimmten wissenschaftlichen Erkenntnissen (hier: der Gebirgsbildung) voraus, so geht bei Constable eine wissenschaftliche Grundlegung seiner Arbeit schon voraus: nämlich die meteoro-logisch zutreffende Klassifikation der verschiedenartigen Wolkenbildungen durch seinen Landsmann Luke Howard (1772– 1864). Kurt Badt, der während seiner Emigration in der NS-Zeit am Warburg-Institut in London arbeitete (sein Buch über »Constable’s Clouds« war dort entstanden; London 1950), hatte sich in dieser Zeit bereits mit Goethes Howard-Studien und deren Wirkung – zum Teil über Goethes und Schellings Verehrer, den Maler, Arzt und Gelehrten Carl Gustav Carus (1789–1869) – auf jüngere romantische Maler befaßt. In seinem Buch »Wolkenbilder und Wolkengedichte der Romantik« (Berlin 1960) hat er diese Forschungen zusammengefaßt; der ganze zweite Teil des Buches ist Constable gewidmet. Den inneren Zusammenhang zwischen dem neuen ›Paradigma‹, in dessen Horizont sich schon die ›biologischen‹ Wissenschaften seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt hatten (nicht weniger revolutionär als die parallel dazu entstandene ›Industrielle Revolution‹), und den eigenen künstlerischen Ansprüchen der ›Landschafts‹-Malerei Constable’s kennzeichnet Kurt Badt in einem Passus innerhalb des Abschnitts »Naturwissenschaft und Kunst« (S. 77 f. des genannten Buches): »Constable [suchte] in einem Landschaftsbilde nach einer zeitlichen Entwicklung, in welcher die simultanen Erscheinungen ›verstanden‹ werden konnten. Hierauf hätte er kaum kommen können, wenn er nicht in seiner Kunst dasselbe unternommen hätte. Er wollte nicht einzelne Momente zeigen noch eine der Zeitlichkeit, dem Vergehen entrückte Gegenwart (das Anliegen des Klassizismus), sondern gerade den Ablauf der Zeit, wie er sich durch verschiedene Anzeichen auf einem Landschaftsbilde erkennen läßt. Das war wohl die Bedeutung seiner Idee, die Erde vom Himmel her zu verstehen, der ja am deutlichsten das Schicksal der Natur in der Zeit sichtbar macht. …
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Was ihm also Howards Wolkenklassifizierungen lieferten, waren spezifische Strukturen zeitlicher Erscheinungen und Vorgänge, die ›eine Geschichte erzählten‹, wobei zu bemerken ist, daß für Constables Naturvorstellung nur dasjenige eine mitteilenswerte Geschichte war, was im Himmel seinen Ursprung hatte, in Feuchtigkeit und Wärme, Wolken und Wind. Er hat weder wie Gainsborough Anekdoten aus dem Leben der Landleute erzählt noch etwa wie Poussin und Claude Lorrain geschichtliche Begebenheiten in eine Landschaft versetzt, sondern hat die Natur als eine in der Witterung und deren Wechsel ›immer geschichtliche‹ verstanden. Es besteht kein Zweifel, daß er damit der Natur seiner Heimat ihren charakteristischen Ausdruck gab, ein Maler, der nicht unter dem unausgesetzten Witterungswechsel Südenglands (oder Hollands) lebte, wäre wohl nicht darauf gekommen, darin die Geschichtlichkeit der Natur zu finden und als Verstehender zu genießen.«
Die große neue Malerei, in der die ›Realismus‹-Krise zu Ende des 18. Jahrhunderts endgültig überwunden wurde, hat sich nicht in Deutschland, sondern in Frankreich ausgebildet; und in den großen Zeugnissen wie bei Monet und Renoir, van Gogh und Cézanne handelt es sich um eine Erneuerung im Verhältnis der bildenden Künste zur Natur. Das gilt von den Mont-St.-Victoire-Werken Cézannes wie von den Obstgarten- und Ernte-Bildern van Goghs, von den badenden Mädchen im Spätwerk Renoirs wie von den Seerosen-Bildern im Spätwerk Monets. Fragt man, wo da der Anstoß, der Anfang liegt, dann ist die Antwort leicht; denn diese Maler haben sie selbst gegeben. Die große ›moderne‹ Malerei beginnt in Frankreich mit Delacroix; und Delacroix selbst sieht den Anstoß für seine Kunst bei dem Engländer Constable. Dabei handelt es sich um zweierlei Gesichtspunkte. Der eine ist – wie hier in der strukturellen Ähnlichkeit zwischen Kochs »Schmadribachfall« mit Constable – die Integration zeitlicher Veränderungen und Wandlungen in das bildnerische Resultat (Geologie dort, Meteorologie hier). In dem anderen Gesichtspunkt unterscheidet sich das Vorbild Constable in seiner geschichtlichen Tragweite von dem Werk des alpinen Zeitgenossen. Dazu noch einmal ein Zeugnis Constables, »Der Heuwagen« (um 1820) in der National Gallery London (Abb. 25). Die Bilder Constables versammeln die Akzente eines Vorgangs der Natur, indem sie sie in das eigene Element der Malerei übersetzen. Diese Bilder wirken natürlich, 138 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
aber warum sprechen sie uns je länger, je genauer wir uns auf sie einlassen, um so mehr, um so dauerhafter an? Warum verweilen wir vor einem Constable-Bild ähnlich gern wie vor einem der späteren großen Franzosen? Die Antwort: weil der Anschein der Wirklichkeits-Spiegelung hier verbunden ist mit der Wahrheit der eigenen bildnerischen Realisierung. Die Bilder Constables sind zwar nicht – wie in der Renaissance und im Barock, also etwa bei Claude Lorrain oder Tiepolo und dann erst wieder bei Monet und Matisse – farbig komponiert. Aber die Verhältnisse der Farben, der Farbgewichte und der Farbnuancen richten sich auch da nicht primär nach dem sogenannten Naturvorbild, sondern nach einer immanenten, einer dem Bild gemäßen Farbgesetzlichkeit. Jedes Bild hat seinen einheitlichen Farbton. Wenn Delacroix von seiner Kunst gesagt hat: »Ich male nicht nach der Natur, sondern nach der Palette«, dann hat er, wie er selber ausdrücklich bekennt, dazu von Constable den Anstoß empfangen. 27 Es handelt sich bei Constable also um eine Kombination zweier Momente, die beide eine Entfernung von der Naturerscheinung im Ausgang des Malens bedeuten, um in der eigenen Hervorbringung zur Natur zurückzukehren: einerseits ein Studium der Genese der Natur; und zugleich eine dem Wesen der Kunst gemäße Erneuerung der Bild- und damit Farbgesetzlichkeit. Auf das Jahr gleichaltrig mit Schelling (1775) ist der andere der beiden großen englischen Maler dieser Generation, William Turner; und ähnlich wie bei Constable stammen die ersten Werke, in der sich die ihm eigene Art des Malens entschieden hat, aus den Jahren um 1808. Das erste Beispiel hier: »Der Niedergang einer Lawine in Graubünden« von 1810 (Abb. 26). Im Falle Turners kann man dazu neigen, ›ganz modern schon‹, die Elemente der Malerei: Farbe und Licht, als das alleinige Thema dieser Kunst anzusehen, dem gegenüber der Naturinhalt nur das Mittel zum autonomen Zweck ist. In Wahrheit aber 27 Vincent van Gogh erfährt über das Buch von Charles Blanc, »Les Artistes de mon temps«, das 1876 erschienen war, von Delacroix’ Überzeugung, daß die wahren Maler diejenigen sind, die keine Lokalfarbe wiedergeben. An seinen Bruder Theo schreibt er 1885: »Darf ich darunter nicht kühnerweise verstehen, daß ein Maler gut daran tut, wenn er von den Farben auf seiner Palette ausgeht, statt von den Farben der Natur?« (Nr. 429. Vincent van Gogh, Sämtliche Briefe, hg. v. Fritz Erpel, Bd. 3, Zürich: Kindler 1965, S. 321.) Zu Delacroix und Constable: Kurt Badt in dem Kapitel ›Die Farbenlehre‹ seines Buches ›Eugène Delacroix, Werke und Ideale‹, 1965, S. 46–77.
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wäre Turner ohne seine ›Themen‹, also ohne das Meer und das Hochgebirge, Schiffe im Sturm, Häfen beim Sonnenaufgang, die Heimat England, die Lieblingsreiseziele (neben den Alpen Holland und Venedig) nicht denkbar. Turner war ein Maler des Reisens. Was er bereiste und malte, das freilich ist die eigne malerische Verfassung der Orte und Zeiten, die er in diesen Reisen antraf. Was da aber ›malerisch‹ heißt, das läßt sich via negationis kennzeichnen: es ist das schlechthin Nichtfixierbare. Das Nichtfixierbare in das ›Faktum‹ des ›Bildes‹ bringen, verlangt vom Maler den ›Betrachter‹ so anzusprechen, daß er, um das Gemalte zu sehen, zu schwimmen versteht, nämlich sich von dem Element, das mit dem Gemalten gerade nicht ›dargestellt‹, sondern geöffnet wird, selber bewegen zu lassen. Das Bild kann die elementare Kraft, die mehrdimensionale Fülle eines solchen Naturvorgangs zum Ereignis in Bezug mit dem ›Betrachter‹ werden lassen. (Es wäre hier falsch zu sagen: ›im Betrachter‹ ; eher noch paßt das Gegenteil: er hat – wenn das vom-›Bild‹-Angesprochen-werden glückt – den Eindruck, ins Bild genommen zu werden. Nur ist das dann eben nicht mehr der fixierbare Gegenstand ›Bild‹ an der Wand.) Ein weiteres Werk, dreißig Jahre später, kann die Kontinuität dieses Œuvres zeigen: »Meer bei aufgehendem Sturm« von 1840 (Abb. 27). In der Grammatik der bildnerischen Farbigkeit spricht uns das Ganze der jeweiligen Bewegung, der jeweiligen Verwandlung an. Nicht umsonst ist Turner der erste und wohl auch unübertroffene Maler der Eisenbahnen geworden. Muß man bei Koch und Constable vor dem Mißverständnis warnen, es handle sich bei ihnen um bloße Gegenstands-Abspiegelungen, so muß man hier vor dem Mißverständnis warnen, es handle sich um Abstraktionen. Turner ist (neben Constable) der erste jener Maler, die in einem Zeitalter der öffentlichen und privaten Abstraktion, in einem Zeitalter, das den Zugang zu den Dingen und den Menschen durch deren bloße Repräsentation ersetzt hat, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die Stofflichkeit und Farbigkeit der Welt, in der wir sind, erfahrbar machen, der Welt, die nicht unsere ›Umwelt‹ ist, sondern unser – freundlicher und schrecklicher, bezaubernder und befreiender – WohnOrt. Die bildende Kunst ist hier nicht (wie der Romantiker Jean Paul von seiner Art der Dichtung sagte) »eine zweite Welt in der hiesigen«, sondern Zugang zur hiesigen Welt, eine Welt-Öffnung in einer Zeit der zunehmenden Weltentfremdung. 140 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
3 Um mit dem dritten Beispielkreis zu Schellings Münchner Rede ›Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur‹ der Frage nach deren Relevanz nun auch unter einem vergleichbaren Beispiel der modernen Kunst nachzugehen, bietet sich die Werk- und Lehrtätigkeit Paul Klees in seiner ›Bauhaus‹-Zeit an. Ich erinnere an die Folgerung, die Schelling aus seiner These von der prinzipiellen Nichtnachahmbarkeit der Natur für die Kunst zieht: »Die Lage des Künstlers gegen die Natur sollte oft durch den Ausspruch klargemacht werden, daß die Kunst, um dieses zu sein, sich erst von der Natur entfernen müsse, und nur in der letzten Vollendung zu ihr zurückkehre.« (Schelling 1807, S. 13)
Die Nähe Klees zu diesem Gedanken Schellings läßt sich an dem ›Diagramm‹ des Vortrags »Wege des Naturstudiums« von 1923 zeigen (Abb. 5). Vor der Lektüre dieses Vortrags zwei frühere Bilder Klees: »Ab ovo« von 1917 (Abb. 28) und »Gesicht einer Blüte« von 1922 (Abb. 29). Zunächst »Ab Ovo«. Vier Aspekte lassen sich hier hervorheben. 1. Der Spannungsbezug zwischen den organischen Formen im Inneren und den geometrischen, die sie, auf die Mitte hin gerichtet, umkreisen. 2. Die Bild-Substanz nicht in strengen geraden Umrissen (wie die braune Fläche), sondern unregelmäßig, die Materialität, die Körperhaftigkeit des Bildes selbst ebenso hervorhebend, wie dies, im Kontrast zum Gewebe der Farbfläche, die eindeutig-einfache Flächigkeit des braunen Untergrundes tut. 3. Organische und geometrische Formen befinden sich in einem zusammengehörigen Spiel ebenso wie die zusammenklingenden Farben. 4. Die beiden eiförmigen, hellen Gebilde und die Herz-Form in der Mitte befinden sich im Inneren eines selber wieder leicht an EiForm gemahnenden Gehäuses. Es ist bekannt, daß Klee fast immer seinen Bildern erst am Ende oder kurz vor der Fertigstellung einen Namen gab. (Manchmal wurden von dem Namen aus dann noch einige dem Namen angemessene Akzente 141 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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hinzugefügt.) Dieses Bild hat den Namen »Ab Ovo«. Und es ist klar, daß es sich bei dem Bild nicht um die Wiedergabe eines Anblicks handelt, etwa die Abbildung der Hülle eines Eies, sondern um das Sichtbarwerden dessen, was ein Ei, was dieser Lebens-Anfang ist, insofern also: etwas vom »Begriff« des Eies, – der eben in dem beruht, was von ihm ausgeht: »Ab Ovo«. Will Grohmann (1954) erinnert bei diesem Bild an die vielen Darstellungen Klees, »die Begebenheiten aus Formereignissen genetisch aufbauen … im Geiste der natura naturans … das Bewußte bestimmt nicht allein den Zusammenhang von Welt und Ich … [Klee] ist in der Tat, wie er selbst von sich gesagt hat, ›diesseitig gar nicht faßbar‹. ›Ab Ovo‹ ist eine solche Entstehung von Leben und Welt; aus einem Zentrum in Rosa, aus Ei- und Herzformen stößt das Wachstum hervor, gegen spitze Gegenstandsformen in Violett und Schwarz.« (Grohmann, S. 149 f.) Das bildnerische Gefüge dieser Verbindung von mathematischen und organischen Formen verlangt vom Sehen, das Lebensspiel des Bildes selber zu vollziehen. Lebens-Bewegung und Lebens-Erscheinung in einem: das ist die Blüte. Der Titel dieses Bildes: »Gesicht einer Blüte«, ist eigentlich eine Tautologie. Was ist denn eine Blüte anderes als ein Gesicht-Werden? Hier hebt der Name das Blütenhafte des Bildes hervor, das Gesichthafte, das uns Anblickende eines Kunstwerks. Der grün-braune Grundton, der sich in die Vielfalt seiner Abwandlungen entfaltet; und darin: das Aufgehen in alle Dimensionen der Zeit und des Raumes, nah und fern, rund und eckig, linear, flächig und räumlich übereinander sich ausbreitend, sich zusammenziehend, nach allen Seiten (aufwärts und abwärts; von rechts nach links, besonders von der rechten Seite, durch die leichte links-rechts-Bewegung der Mittelrechten aufgehoben). Zu dem schwarz-braunen Untergrund: auf ihm ist es nach Klees Worten besonders schwer, die farbigen Werte auszubalancieren. Das Schwarz, sagt Klee, »sollen wir gar nicht verstehen«, es ist (setzt Grohmann hinzu) »Urgrund« (man bemerkt, wie sehr man es hier mit aktivem Sehen zu tun hat, wie wenig der Grund in diesem Fall bloßer Hintergrund ist.) »Ab Ovo« von 1917, »Das Gesicht einer Blüte« von 1922. 1920 hatte Klee die Professur am Bauhaus erhalten (bis 1924 in Weimar, dann in Dessau). Bei seinen Vorlesungen konnte er auf Aufzeichnungen und Vorträge zurückgreifen, mit denen er 1917/18 begonnen hatte. Von 142 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
1918 stammt der Vortrag »Schöpferische Konfession«. Der erste Satz dieses Vortrags lautet: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« (Klee 1991, S. 60)
Ein Kernpunkt dieser »schöpferischen Konfession« ist Klees Gedanke über das Verhältnis der bildenden Künste zur Bewegung. »Bewegung liegt allem Werden zugrunde. In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff.« (S. 62)
Was Klee damit meint, nennt er den »simultanen Zusammenschluß der Formen«: »Bewegung und Gegenbewegung«. »Jede Energie erheischt ein Komplement, um einen in sich selber ruhenden, über dem Spiel der Kräfte gelagerten Zustand zu verwirklichen. Aus abstrakten Formelementen wird über ihre Vereinigung zu konkreten Wesen oder zu abstrakten Dingen wie Zahlen und Buchstaben hinaus zum Schluß ein formaler Kosmos geschaffen, der mit der großen Schöpfung solche Ähnlichkeit aufweist, daß ein Hauch genügt, den Ausdruck des Religiösen, die Religion zur Tat werden zu lassen.« (S. 64)
Bei dem letzten Satz – wenn man ihn im Kontext: also im Zusammenhang mit Klees »bildnerischem Denken«, aufnimmt – kann man an seine lebenslange Zuneigung zur Musik Mozarts denken. Klee war ein vorzüglicher Geigenspieler. Er arbeitete gewöhnlich den Tag über; und abends spielte er dann Geige, am liebsten Mozart oder Bach. Klee erläutert den Gedanken der »bildnerischen Polyphonie« – also des bildnerischen Zur-Sprache-Bringens von Bewegung – an drei Beispielen: an einer Dampferfahrt, an einem blühenden Apfelbaum und dem Schlaf.
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Sechstes Kapitel
Das erste Beispiel: »Ein Mensch des Altertums als Schiffer im Boot, so recht genießend und die sinnreiche Bequemlichkeit der Einrichtung würdigend. Dementsprechend die Darstellung der Alten.
Und nun: was ein moderner Mensch, über das Deck eines Dampfers schreitend, erlebt: 1. die eigene Bewegung, 2. die Fahrt des Schiffes, welche entgegengesetzt sein kann, 3. die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit des Stromes, 4. die Rotation der Erde, 5. ihre Bahn, 6. die Bahnen von Monden und Gestirnen drum herum. Ergebnis: ein Gefüge von Bewegungen im Weltall, als Zentrum das Ich auf einem Dampfer.« (S. 64 f.) Das zweite Beispiel: »Ein blühender Apfelbaum, seine Wurzeln, die ansteigenden Säfte, sein Stamm, der Querschnitt mit den Jahresringen, die Blüte, ihr Bau, ihre sexuellen Funktionen, die Frucht, das Gehäuse mit den Kernen. Ein Gefüge von Zuständen des Wachstums.« (S. 65)
Und das dritte Beispiel: »Ein schlafender Mensch, der Kreislauf seines Blutes, die gemessene Atmung der Lungen, die zarte Funktion der Nieren, im Kopf eine Welt von Träumen, mit Beziehung zu den Schicksalsgewalten. Ein Gefüge von Funktionen zur Ruhe geeicht.« (S. 65)
Darauf folgt der bekannte Satz: »Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig.« Schellings Münchner Vortrag könnte diesen Satz zum Motto haben.
Dieses selber bildende (und nicht abbildende) Verhältnis der »bildenden Künste« zur Natur hat Klee in seiner ›Bauhaus‹-Zeit an dem (hier 144 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Bildbeispiele zu Schelling
zu Beginn dieses Bildbeispiel-Kapitels, Abb. 5, abgebildeten) »Diagramm« erläutert. Es gehört zu dem ›Bauhaus‹-Vortrag »Wege des Naturstudiums«, veröffentlicht 1923. Klee beginnt angesichts der damals schon gebräuchlich gewordenen Leit- und Streitvorstellung, ›moderne Kunst‹ bestehe generell in der Abkehr von der Natur, mit dem Grundsatz: »Die Zwiesprache mit der Natur bleibt für den Künstler conditio sine qua non. Der Künstler ist Mensch, selber Natur und ein Stück Natur im Raume der Natur.« (Klee 1991, S. 67)
Klees Absicht (im Gedanken an seine und seiner Vorbilder und Mitstreiter Maßstäbe ›neuer‹ Kunst), das ›Neue‹ als in diesem Raum verwurzelt aufzuzeigen. Das Neue ist zwar »revolutionär« gegenüber der »großen alten Welt«, der Welt »von gestern«; ein Blick auf »Vorgestern«, der »weite historische Erinnerungsblick« soll aber »davor bewahren, eine Neuheit krampfhaft zu suchen auf Kosten der Natürlichkeit«. Die Voraussetzung dazu: daß innerhalb jenes »Raumes« »die Zahl und die Art zu begehender Wege« wandelbar ist. Klees These: Man habe in dem Verhältnis zwischen dem »Ich« des Künstlers und dem »Du« seines Themas zu Unrecht nur einen Weg als gültig angesehen, nämlich den »optisch-physischen Weg« »der Erscheinung«. Der Kernpunkt dieser These: ›modern‹ im Falle der Künste ist nicht irgendeine Abkehr von der Natur, sondern – fast im Gegensatz dazu – die Überwindung der eigenen Unnatürlichkeit jenes vermeintlich einzigen Weges, eine Überwindung des normativen Glaubens, die Natürlichkeit der Natur bestehe in deren »Erscheinung«, in demjenigen Wirklichkeits-Ausschnitt, der sich jeweils »dem Auge« (dem Augen-Blick) bietet, also dem »Vordergrund«. Dieser Irrtum in der Normierung der Einseitigkeit beim Studium der Natur wird erkennbar, wenn der Raum erkannt wird, innerhalb dessen diese eine Linie, dieser eine Blickpunkt vom »Ich« zu dessen »Du« seinen Ort hat. Der »optische« »Ich-Du«-Bezug stellt einen »Weg« innerhalb des »Welt«-Ganzen dar, das als (dreidimensionaler) Raum zu denken ist. Das eigene Ganze der – innerhalb dieser Dreidimensionalität möglichen – »nicht-optischen«, nicht »physischen« Wege nennt Klee, in der buchstäblichen Bedeutung des Ausdrucks, den »metaphysischen Weg«. Wieso aber handelt es sich hier, in dieser dreidimensionalen Dimension, auch um so etwas wie einen Weg? Die Antwort gibt das Diagramm. 145 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Sechstes Kapitel
Es handelt sich bei diesem »Raum«, dem Welt-Raum unserer »Natur«, um das Kontrastverhältnis seines qualitativen Gefüges in der Spannung zwischen »Oben« und »Unten«. Dieser Raum ›besteht‹ in dem dualen Bezug zweier konträrer Wegspuren zwischen Oben und Unten. Diese – gemessen an dem einlinigen »Ich-Du«-Verhältnis des »physischen Weges« – »metaphysische« Polarität konträr verschiedener Wege faßt Klee in die Unterscheidung zwischen dem »nicht-optischen Weg irdischer Gemeinsamkeit« einerseits, dem »nicht-optischen Weg kosmischer Gemeinsamkeit« andererseits. Unsere ›von Haus aus‹ irdische Natur lebt, bewegt sich innerhalb dieser Polarität zweier konträrer Weg-Richtungen. Das sei hier am Anfang desjenigen Weges verdeutlicht, der vom »unteren« Polaritätspol ausgeht: der Erde als der Statik dessen, was uns Grund gibt, was als Schwerkraft wirkt, worauf wir uns aufrichten, worüber wir schreiten, woran wir uns halten. Indem wir uns aufrichten, wenden wir uns von dem Bereich der Schwerkraft, der Erde, ab, wenden wir uns dem Bereich zu, in dem sich alles Bewegen, alles Verändern, alle Dynamik abspielt, vom Flug der Wolken und der Vögel, vom Wechsel zwischen Tag und Nacht, vom Wandel der Jahreszeiten bis zum Gang der Sonne und der Gestirne. (Dieser »höhere« Pol freilich ist nur insofern »oben«, als er dem »kosmischen« Bereich zugehört, der ›natürlich‹ auch den räumlich tiefsten = zeitlich ältesten Unter-Grund der Erde prägt.) Zwischen jenen beiden »nicht-optischen« Polen bewegen sich die Kreise von »Erde« und »Welt«, denen wir, die Malenden und Sehenden ebenso wie das Gesehene (die Dinge) selber in dem, was sie sind, was ihr ›Leben‹ (das Sterben eingeschlossen) ausmacht, zugehören. Nur in diesen Bahnen gelangen wir zu dem, was gegenüber der »Außenseite« des Gegenstandes dessen eigenes »Inneres« ausmacht. Dieses Innere, das nur verborgen bleibt, wenn man das Äußere fixiert, das aber keineswegs ›dahinter liegt‹, dasjenige »Innere« also, das hier zur Frage steht, wird in dem Leben der Lebens-»Erscheinungen« sichtbar. Was das Werk »sichtbar« macht, verlangt vom ›Betrachter‹ die Offenheit für das im Werk, besser: für das als Werk versammelte eigene ›Lebens‹-analoge Spannungsspiel. Dieses – mit dem Schlüsselwort dieses Vortrags – »Resonanzverhältnis« (in der altindischen Theorie des Theaters stand der Name rasa für das nur zwischen Bühne und Zuschauer sich realisierende ›Werk‹ des Bühnenspiels 28 ) verlangt von 28
Angelika Malinar, »Rasa. The audience and the stage«, in: Journal of arts and ideas
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Bildbeispiele zu Schelling
dem ›Betrachter‹ (dem ›Zuschauer‹), sich in das jeweilige Gefüge des Bild-Baues einzusehen. Das Können dieses Einsehens verlangt in allen Künsten ein Eingeübthaben – ähnlich wie im Falle Klees selber dessen »Studien«-Aufenthalte 1914 in Tunis und in Paris. Ein Bild aus den gleichen Jahren wie jener Bauhausvortrag mit dem »Diagramm« kann das darin erläuterte Gefüge der beiden »nicht-optischen Wege« mit dem daran begreiflich werdenden Anspruch an unsere Seh-Beteiligung illustrieren. In diesem Bild ist das eigene ›schöpferische‹ Bilden, das eigene Bauen schon im Bildthema ausgesprochen: »Architektur – gelb-violett gestreifte Kuben« von 1923 (Abb. 30). Dazu: der Bau der Bildfläche mit den beiden ›Türmen‹ ; das Bildganze in der Tektonik seiner Farbigkeit. Der Schwere einerseits im nach-unten-Sinken, im Breit- und Dunkel-Werden, hält der Aufstieg andererseits die Waage. Die bildnerische Geschlossenheit dank der Grenzlinien im Verhältnis der beiden Kuben außen zu den kleineren Kuben innen. Als ein grammatisches Muster dieses mathematisch-organischen Baugefüges des Bildes könnte man die ›Schachbrett‹-Bilder in allen Arbeitsphasen Klees ansehen. Zwei Beispiele hier: »Rhythmisches« von 1930 (Abb. 31) und »Überschach« von 1937 (Abb. 32). Der Beginn dessen, was die Kunst Klees in allen weiteren Variationen auszeichnet, hängt mit den beiden Ereignissen des Jahres 1914 zusammen, der Tunisreise – deren Bedeutung Klee in dem Ausspruch gefaßt hat: »Die Farbe hat mich, … ich und die Farbe sind eins«, und dem Aufenthalt in Paris. Dazu hier das Bild »Hommage à Picasso« aus diesem Jahr (Abb. 33). Für Picasso war 1914 der Abschluß der um 1905/06 begonnenen (ausdrücklich) ›kubistischen‹ Werke. Die Arbeiten dieser Phase kann man, wie auch die des damaligen Arbeits-Nachbarn Picassos Georges Braque, wenig später begonnen auch die von Juan Gris (ganz unabhängig von der irreführenden ›Stil‹-Titulierung) an dem Raumgefüge der Werke Bachs (auf den Braque sich mit der Namensschrift in einem seiner damaligen Werke beruft) oder dem Spiel von Musik und Tanz im Jazz (worauf manche Bildtitel Picassos aus diesen Jahren verweisen) – nur angemessen ›lesen‹, wenn man sie gleichsam hörend sieht. 17–18, Delhi 1989, S. 33–42. – Mit dieser Bezugserfahrung vergleichbar ist der Anspruch, den die Mehrdimensionalität der altchinesischen und altjapanischen Tuschmalerei an den ›Betrachter‹ stellt. Dazu sei hier verwiesen auf die Schrift von Dieter Rahn, »Raumdarstellung und Zeitbezug in der Malerei. Zur Kunst und Kunstgeschichte André Massons«, Mittenwald 1982, mit dem Abschnitt »Weltoffenheit und Gegenwärtigkeit: Chinesische Tuschmalerei«, S. 126–180.
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Verzeichnis der erwähnten Literatur
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Verzeichnis der erwähnten Literatur Jähnig 1966: Dieter Jähnig, Schelling. Die Kunst in der Philosophie. Bd. 1: Schellings Begründung von Natur und Geschichte. Bd. 2: Die Wahrheitsfunktion der Kunst. Pfullingen: Neske 1966/1969 Jähnig 1975: Dieter Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, Köln: DuMont 1975 Jähnig 1982: Dieter Jähnig, Das Interesse des interesselosen Wohlgefallens. In: Das Denken am Ende der Philosophie. In memoriam Dusan Pirjevec, hg. v. Mihailo Djuric und Ivan Urbancic, Ljubljana 1982, S. 96–101 Jähnig 2006: Dieter Jähnig, Sprache als Überschuß, in: Ders., Maßstäbe der Kunstund Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts, Basel: Schwabe 2006, S. 111–130 Jaspers 1936: Karl Jaspers, Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin: de Gruyter 1936 Kaegi 1982: Werner Kaegi, Jacob Burckhardt, eine Biographie, Band VII, Basel: Schwabe 1982 Kehrer 1963: Hugo Kehrer, Josef Anton Koch, 1768–1839, Der Schmadribachfall in der Schweiz, in: Kunstwerke der Welt. Aus dem öffentlichen Bayrischen Kunstbesitz. 3. Bild- und Textband zur Sendereihe des Bayrischen Rundfunks, hg. v. Remigius Netzer, München: Lambert Müller 1963, Bild 87 Kielmeyer 1793: Carl Friedrich Kielmeyer, Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Geseze und Folgen dieser Verhältniße: Eine Rede, den 11ten Februar 1793 am Geburtstage des regierenden Herzogs Carl von Wirtemberg, im großen akademischen Hörsale gehalten Klee 1918: Paul Klee, Schöpferische Konfession (1918), in: Ders., Kunst-Lehre, Leipzig: Reclam 1991, S. 60–66 Klee 1923: Paul Klee, Wege des Naturstudiums (1923), in: Ders., Kunst-Lehre, Leipzig: Reclam 1991, S. 67–70 Kleist 1997: Heinrich von Kleist, Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, in: Ders., Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Bd. II,7: Berliner Abendblätter I, Frankfurt/M. Basel: Stroemfeld 1997 Kluge 1975: Friedrich Kluge, Ethymologisches Wörterbuch, 21. Aufl. Berlin New York: De Gruyter 1975 Kudielka 1977: Robert Kudielka, Urteil und Eros. Erörterungen zu Kants Kritik der Urteilskraft. Tübingen (Dissertation) 1977 Lexikon 1996: Lexikon der Naturwissenschaftler: Astronomen, Biologen, Chemiker, Geologen, Mediziner, Physiker, Red. Doris Freudig, Heidelberg: Spektrum, Akad. Verl., 1996 Löwith 1956: Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen (1935), 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 1956 Lyell 1830: Charles Lyell, Principles of Geology, 3 Bde. 1830–33 Malinar 1989: Angelika Malinar, Rasa. The audience and the stage, in: Journal of arts and ideas 17–18, Delhi 1989, S. 33–42 Mason 1961: Stephen F. Mason, Geschichte der Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen, Stuttgart: Kröner 1961 (Engl. »History of Science« 1953) Montinari 1982: Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin und New York: de Gruyter 1982
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150 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
Verzeichnis der erwähnten Literatur Vico 1725: Giambattista Vico, Principj di una scienza nuova intorno alla natura della nazioni per la quale si ritruovano i principj di altro sistema del diritto naturale delle genti, Napoli: Mosca 1725; deutsch: Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker; Nach d. Ausg. von 1744 übers. u. eingel. von Erich Auerbach, München: Allg. Verl.-Anst. 1924 Vischer 1847: Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, 6 Bde., Reutlingen und Leipzig: Carl Mäcken 1847–57 Von Weinberg 1965: Guido Kaschnitz von Weinberg, Ausgewählte Schriften III, Berlin: Gebr. Mann 1965 (das Zitat hier: nach Fuchs 1979, S. 230) Von Baer 1828: Karl Ernst von Baer, Über Entwickelungsgeschichte der Thiere: Beobachtung und Reflexion, 2 Bände, Königsberg: Bornträger 1828–37
151 https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
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Abbildungen
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1, 2 Das römische Theater in Orange um 1900
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4 C. D. Friedrich, Morgen im Riesengebirge (1810/11), 3 Geometrische Bauch108 170, Berlin Alte Nationalgalerie henkelamphora vom Dipylon (um 770 v. Chr.), H. 155 cm, Athen Nationalmuseum
5 Paul Kl
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useum .
6 Kykladen: Harfenspieler aus Keros (Marmor, 2400–2200 v. Chr.), H. 21 cm, Athen Nationalmuseum
7 Mykene: Gefäß für Trankopfer in Form eines Stierkopfes (Silber und Gold, um 1580 v. Chr.), H. 31 cm, Athen Nationalmuseum
8 Mykene: Goldbecher, Jagd auf wilde Stiere (um 1500 v. Chr.), H. 8 cm, Athen Nationalmuseum
9 Mykene: Goldbecher, Gebändigte Stiere auf der Weide (um 1500 v. Chr.), H. 8 cm, Athen Nationalmuseum
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10 Kreta: Glockenblume. Vasenmalerei aus Phylakopi (16. Jh. v. Chr.), H. 28 cm
11 Kreta: Der Fischer. Wandmalerei von Thera (Ende 16. Jh. v. Chr.), H. ca. 1 m, Athen Nationalmuseum
12 Kreta: Der Tintenfisch. Vasenmalerei aus Palaikastro (um 1500–1450 v. Chr.), H. 28 cm, Heraklion Archäologisches https://doi.org/10.5771/9783495860014 Mus .
13 Geometrische Bauchhenkelamphora (um 770 v. Chr.), H. 155 cm, Athen Nationalmuseum https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
14 Geometrischer Fußkrater vom Dipylon (um 740 v. Chr.), H. 123 cm, Athen Nationalmuseum
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15 Kore aus Auxerre (Kalkstein, um 640 v. Chr.), H. 65 cm, Louvre
16 Hera. Weihgeschenk des Cheramyes für die Hera von Samos (Marmor, um 560 v. Chr.), H. 192 cm, Louvre 17 Münchner Kuros (Marmor, 540/530 v. Chr.), https://doi.org/10.5771/9783495860014 thek München .
18 Nike von Samothrake (Marmor, um 190 v. Chr.), H. 245 cm, Louvre https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
20 C. D. Friedrich, Der Watzmann (1824/25), 133 170 cm, Berlin Alte Nationalgalerie
19 Philipp Otto Runge, Der Morgen (1. Fassung 1808), 109 85 cm, Hamburger Kunsthalle
21 Ludwig Richter, Heimkehrender Harfner (1825), 38 48 cm, Dresden Staatliche Kunstsammlungen
22 C. D. Friedrich, Der Mönchhttps://doi.org/10.5771/9783495860014 am Meer (1809/10), 110 171 cm, Berlin Alte Nationalgalerie .
23 Joseph Anton Koch, Der Schmadribachfall (2. Fassung 1821/22), 132 110 cm, München Neue Pinakothek
https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
24 John Constable, The Vale of Dedham (1828), 145 122 cm, Edinburgh National Gallery of Scotland
25 John Constable, The Hay Wain (1821), 130 185 cm, London National Gallery
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26 William Turner, Niedergang einer Lawine in Graubünden (1810), 90 120 cm, London Tate Gallery
27 William Turner, Meer bei aufgehendem Sturm (1840), 92 122 cm, London Tate Gallery https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
28 Paul Klee, Ab Ovo (Aquarell, 1917), 15 27 cm, Bern Kunstmuseum
29 Paul Klee, Gesicht einer Blüte (Aquarell, 1922), 33 22 cm, Bern Kunstmuseum
30 Paul Klee, Architektur – gelb-violett gestreifte Kuben (Öl auf Karton, 1923), 57 38 cm, Berlin Nationalgalerie
https://doi.org/10.5771/9783495860014 .
32 Paul Klee, Überschach (Öl auf Jute, 1937), 120 110 cm, Zürich Kunsthaus
31 Paul Klee, Rhythmisches (Öl auf Leinwand, 1930), 70 51 cm, Paris Musée national d’art moderne, Centre Georges Pompidou
33 Paul Klee, Hommage à Picasso (Öl auf Holz, 1914), 38 30 cm, https://doi.org/10.5771/9783495860014 Pr .
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