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German Pages 414 [416] Year 2005
Kant und Nietzsche im Widerstreit
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Kant und Nietzsche im Widerstreit Internationale Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Gesellschaft Naumburg an der Saale, 2 6 . - 2 9 . August 2004
Im Auftrag der Nietzsche-Gesellschaft herausgegeben von
Beatrix Himmelmann
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018361-0 ISBN-10: 3-11-018361-7 Bibliografische Information Der Deutschen
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Vorwort Von beiden Denkern, Kant und Nietzsche, behaupten die Nachfahren, sie seien ihnen wie „Zeitgenossen" nahe. Eine entsprechende Frage der Neuen Zürcher Zeitung1 aus Anlass des zweihundersten Todestages von Immanuel Kant beantworteten die um ihre Einschätzung gebetenen Philosophen fast einhellig positiv: Kant könne als der Philosoph der Moderne gelten, der ihre wichtigsten Probleme in eine Form gebracht habe, in der sie uns bis heute existenziell angehen. Die Frage nach den Grenzen des Wissens gehört ebenso dazu wie die nach den Fundamenten von Moral und Kultur. Allem zugrunde aber liegt Kants Versuch, den Menschen in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung auszuloten - einer Begabung, die die Möglichkeit von Selbstverfehlung und Selbstverlust einschließt. Interessant ist, dass die Stimmen, die in den Beifall, mit dem Kant im Jubiläumsjahr allenthalben bedacht wurde, nicht oder nicht vorbehaltlos einstimmen wollen, dies oft in implizitem oder explizitem Anschluss an Nietzsche verweigern. Wenn Gernot Böhme mit Blick auf die Anthropologie gegen das „autonome Vernunftsubjekt", das Kant zum Ideal der „Selbstkultivierung" erhoben habe, den „souveränen Menschen" setzt, so ist das ganz im Sinne Nietzsches gedacht. Wenn Richard Rorty Kant als „Gestalt einer früheren Epoche" sieht, dessen zentrale Projekte „dem Tode geweiht" seien, und an seiner Stelle Denker wie den späten Heidegger als aktuell empfiehlt, so führt die Brücke dorthin ebenfalls über Nietzsche. Nietzsches Krisenbewusstsein und seine Suche nach Orientierung auf einem brüchig gewordenen Grund, dies war der intellektuelle Stachel nicht nur für Heidegger, der in seinen letzten Lebensjahren wiederholt bekannt haben soll, Nietzsche habe ihn „kaputt gemacht"2. Gefeiert worden sind beide weltweit, Kant anlässlich der zweihundertsten Wiederkehr seines Todestages im vergangenen Jahr und Nietzsche im Jahr 2000, hundert Jahre nach seinem Tod in der Villa Silberblick zu Weimar. Weil sich die Spuren Kants und Nietzsches durch die geistige Landschaft der Moderne bis in die Gegenwart ziehen, deshalb dürfte auch unabhängig vom Rhythmus der Gedenkjahre eine nähere Betrachtung ihrer Beziehung aufschlussreich sein. Dass dieses Thema, Kant und Nietzsche, nicht bloß von historischem Interesse ist, das zeigt sich deutlich auch an den Beiträgen, die dieser Band versammelt. Zum Teil mit Leidenschaft wird hier für oder gegen Kant bzw. Nietzsche gestritten. Schon Nietzsche selbst hatte, wie hinlänglich bekannt ist, das Bedürfnis, sich von Kant in mitunter ruppiger und polemischer Weise abzugrenzen. Über die „plumpe Pedanterie und Kleinstädterei des alten Kant, die groteske
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Vorwort
Geschmacklosigkeit dieses Chinesen aus Königsberg", spottete er; einmal apostrophiert er Kant sogar als „verwachsensten Begriffs-Krüppel, den es je gegeben hat".3 Doch vermag diese scharfe Polemik nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es nicht nur Trennendes zwischen Kant und Nietzsche gibt, sondern auch Verbindendes: die Kritik der Vernunft, das Interesse an den tragenden Kräften des Lebens, die Betonung der Selbstbestimmung des Individuums und die Frage nach Fundament und Sinn der Existenz. Diese und andere Themen werden in den hier vorgelegten Texten verhandelt - von verschiedenen Perspektiven aus und in unterschiedlichen Weisen des methodischen Zugriffs. Die vielfältigen Möglichkeiten, mit Kant und Nietzsche in eine produktive systematische Auseinandersetzung zu treten, sind dabei eindrucksvoll dokumentiert; die Genauigkeit der historischen Analyse, in die auch wirkungsgeschichtliche Aspekte einbezogen sind, kommt hinzu. Die Beiträge des Bandes gehen zurück auf eine Internationale Konferenz, die die Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Gesellschaft und mit freundlicher Unterstützung des Landes Sachsen-Anhalt unter dem Titel „Vernunft - Leben - Existenz. Kant und Nietzsche im Widerstreit" vom 26. bis 29. August 2004 in Naumburg an der Saale veranstaltet hat. Die Konferenz bot den Rahmen nicht nur für die hier vorgestellten Debatten um Kant und Nietzsche, sondern auch für die feierliche Verleihung des Friedrich-Nietzsche-Literaturpreises des Landes Sachsen-Anhalt an Durs Grünbein. Der Festvortrag des Preisträgers, „Die Stimme des Denkers", und die Laudatio von Volker Gerhardt, „Ein Arzt der Kultur", erscheinen - wie üblich - im Jahrbuch der NietzscheGesellschaft.4 Nun bleibt noch, den Personen zu danken, ohne die die Konferenz nicht hätte stattfinden und dieser Band nicht hätte vorgelegt werden können. So gebührt den Leitern der Arbeitskreise Völker Caysa, Hans-Martin Gerlach, Stephan Grätzel, Hans Gerald Hödl, Karen Joisten, Renate Reschke, Udo Tietz, Andreas Urs Sommer, Pirmin Stekeler-Weithofer, Martin Stingelin und Hector Wittwer Dank für ihre Bereitschaft, Foren der Diskussion zu schaffen, in denen das Tagungsthema in seinen zahlreichen Aspekten beleuchtet werden konnte. Für die Organisation der Konferenz möchte ich sehr herzlich dem Geschäftsführer der NietzscheGesellschaft, Ralf Eichberg, danken, der - wie stets - für einen reibungslosen Ablauf der Veranstaltung gesorgt hat. Bei der Redaktion des Bandes war mir vor allem Dietmar Schenk eine unschätzbare Hilfe. Ebenso danke ich Gottfried Brütsch für seine Unterstützung und Christoph Roth, der das Register erstellt hat. Fabian Schwade hat das Druckmanuskript eingerichtet - wie immer mit sicherem Geschmack und viel Geduld. Den Teilnehmern der Konferenz aber möchte ich noch einmal Dank sagen für ihr Engagement. Zuletzt zeigte es sich - zu meiner Überraschung - darin, dass die Autoren, deren Muttersprache nicht das Deutsche
Vorwort
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ist, ihren Ehrgeiz daransetzten, deutsch geschriebene Texte einzureichen. Das ist auch eine Antwort auf die in letzter Zeit öfter erhobene Forderung, heutzutage sollte nur noch in englischer Sprache publiziert werden. Weil schließlich Jorg Baumgartner mit seinem auf Englisch verfassten Text ganz allein blieb, habe ich es für richtig gehalten, seinen Beitrag in einer Übersetzung zugänglich zu machen. Und ich bin sicher, er hätte diese Aufgabe gern selbst übernommen, hätte sie ihm nur rechtzeitig angetragen werden können. Berlin, im Juli/August 2005
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Beatrix Himmelmann
Vgl. hier und im Folgenden: Neue Zürcher Zeitung vom 7./8. Februar 2004 (Nr. 31), S. 61-64. Vgl. Gadamer, Hans-Georg, „Heidegger und Nietzsche: .Nietzsche hat mich kaputtgemacht!'" in: Aletheia. Neues kritisches Journal der Philosophie, Theologie, Geschichte und Politik 5 (1994), S. 6 f., hier S. 7. Vgl. Nachlass 26[96], Sommer-Herbst 1884; KSA 11, S. 175 und Götzen-Dämmerung, Was den Deutschen abgeht 7; KSA 6, S. 110. Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, hg. von Volker Gerhardt und Renate Reschke, Bd. 12, Berlin 2005.
Inhalt Vorwort
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Wissen. Reichweite und Grenzen Annemarie Pieper
Wie etwas anfängt Transzendentallogische versus genealogische Begründung
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Manfred Baum
Hermeneutik bei Nietzsche
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Beatrix Himmelmann
Kant, Nietzsche und die Aufklärung
29
Helmut Heit
Wozu Wissenschaft? Nietzsches Wissenschaftskritik als Radikalisierung Kants
47
Claus Langbehn
Kritik der Vernunft Der frühe Nietzsche und die Transzendentalphilosophie
57
Jorg Baumgartner
Kant und Nietzsche über das Erkenntnissubjekt Zwei Übereinstimmungen und ein Gegensatz
69
Christof Windgätter
„Jetzt ergötze und erhole ich mich an der kältesten Vernunft-Kritik" Kants transzendentale Frage und ihre Ver/wendung durch Nietzsche
78
Reinhard Brandt
Nietzsche versus Piaton & Kant versus Nietzsche
91
Ethik und Ästhetik Constantin Rauer
Totengespräch zwischen Kant und Nietzsche zur Moralphilosophie
119
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Inhalt
Sandro Barbera
„Die thatsächliche Moralität des Menschen" Nietzsches Auseinandersetzung mit Kant von der Morgenröthe bis zu Jenseits von Gut und Böse
130
Mathias Risse
Warum Kantianer Nietzsches Moralkritik sehr ernst nehmen sollten
143
Axel Hutter
Die Anstachelung des Gedankens Zum Naturverhältnis der Vernunft bei Kant und Nietzsche
152
Peter Andre Bloch
Von den Beobachtungen sich beobachtender Beobachter Kants und Nietzsches Entwurf des Individuums
162
Hanns-Peter Neumann
Nietzsches ästhetische Metaphysik
176
Hans Gerald Hödl
Interesseloses Wohlgefallen Nietzsches Kritik an Kants Ästhetik als Kritik an Schopenhauers Soteriologie
186
Violetta L. Waibel
Die Explikationskraft der Ästhetiken Kants und Nietzsches für den abstrakten Expressionismus
196
Geschichtsphilosophie Andreas Urs Sommer
Sieben Thesen zur Geschichtsphilosophie bei Kant und Nietzsche
217
Michael Pauen
Individuum und Geschichte Kant, Nietzsche und der Pessimismus im 19. Jahrhundert
226
Antonia Ulrich
Nietzsches Konzeption des Neuen Ein Blick auf Also sprach Zarathustra
243
Stephan Günzel
Naturgeschichte als Vorbild und Herausforderung Grundlagen historiographischer Modellbildung bei Kant und Nietzsche . . . . 260
Inhalt
XI
Anthropologie und Lebensphilosophie Richard Schacht
Kant, Nietzsche und „der Mensch" Die Idee und Aufgabe einer philosophischen Anthropologie
277
Volker Gerhardt
Leben bei Kant und Nietzsche
295
Mattia Riccardi
Nietzsche und die Physiologie der Sinne
312
Dirk Solies
Das Organische und der Zweck Zwei Grundkategorien bei Nietzsche und ihre ideengeschichtlichen Voraussetzungen
324
Claudia Rosciglione
Nietzsches anti-reduktionistischer Physiologismus Geist und Leiborganisation
334
Marc Rölli
Anthropologie im Widerstreit Eine Konfrontation von Kant und Nietzsche
346
Aspekte historischer Vermittlung Konstantin Broese
Nietzsches frühe Auseinandersetzung mit Kants Kritizismus
363
Josef Schmid
Erkenntnis durch Fiktion Nietzsche bei Hans Vaihinger und Max Weber
373
Christian Möckel
Heinrich Rickert über Nietzsches Bedeutung für die zeitgenössische und die zukünftige Philosophie des Lebens
384
Personenregister Verzeichnis der Autoren
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Wissen Reichweite und Grenzen
Annemarie Pieper
Wie etwas anfängt Transzendentallogische versus genealogische Begründung
Wer etwas wissen will, fragt - meistens in Form einer Warum-Frage - nach dem Anfang dieses Etwas; danach, was ihm voraus gegangen ist und dazu gefuhrt hat, dass das fragliche Etwas als dieses Bestimmte in den Horizont des Erkennens eingetreten ist. Die Warum-Frage unterstellt, dass etwas angefangen hat, was wohl daher rührt, dass Menschen als ihrer selbst bewusste Organismen ein geschichtliches Selbstverständnis ausgebildet haben, demzufolge alles, was ist, geworden ist und damit einer Zeitstruktur unterworfen ist. Der Blick zurück macht jenen Anfang sichtbar, von dem her sich das fragliche Etwas rekonstruieren lässt. Im Alltagsverständnis wird in der Regel nicht exakt zwischen verschiedenen Typen von Anfängen unterschieden, in den Wissenschaften hingegen ist diese Unterscheidung wichtig. So folgen die Naturwissenschaften dem ontologischen Paradigma, indem sie zu einer gegebenen Sache die Ur-Sache in Erfahrung zu bringen suchen. Die Sache wird als Wirkung einer zeitlich vorausliegenden Ur-Sache begriffen, deren Wirkungsmechanismen erforscht und experimentell bestätigt werden sollen. Ähnlich, wenn auch auf einen anderen Typus von Ursache gerichtet, gehen die Handlungswissenschaften vor, wenn sie etwa empirischen Zwecksetzungen und Motiven oder verdrängten traumatischen Erlebnissen als Ursachen für ein bestimmtes Verhalten auf die Spur zu kommen suchen. Wer seinen Warum-Fragen das epistemologische Paradigma unterlegt, interessiert sich nicht für Ursachen, sondern für Gründe oder Bedingungen. Gründe und Bedingungen sind Voraus-Setzungen, wobei dieses „Voraus" anders als bei den Ursachen nicht auf der Zeitschiene verortet wird, sondern eine logische Priorität bezeichnet. Das Vorausgesetzte ist der Geltung, nicht der Sache nach früher als seine Folge. Das Platonische Höhlengleichnis ist eines der ältesten Modelle, das diesem Sachverhalt Rechnung trägt. Empirisch fangen wir immer mit den Bildern in der Höhle an, mit unseren Alltagserfahrungen. Doch geltungslogisch betrachtet liegt der Anfang in der Welt der Ideen, die den normativen Raster abgeben für die Beurteilung von Erfahrung. Im Unterschied zu Piaton, der die logische Priorität zugleich als eine ontologische auffasste, differenzierte
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Annemarie Pieper
Aristoteles zwischen einem für uns bekannten Anfang und einem an sich, d.h. der Sache nach Bekannten. Von besonderem Interesse war seit jeher die Frage, wie alles angefangen hat. Nicht, auf welchen Anfang dieses oder jenes zurückgeführt werden kann, sondern wie alles, was ist, angefangen hat. Die naturwissenschaftliche Hypothese des Urknalls macht einen solchen Anfang an einer Explosion fest, die den Evolutionsprozess in Gang setzte und die Expansion des Weltalls bewirkte. Mit dem Urknall ist jedoch kein absoluter Anfang erreicht, denn die Frage, was zum Urknall gefuhrt hat, lässt sich nicht abweisen. Die Hypothese einer Ursuppe, in welcher alles noch ungeschieden vor sich hin köchelte, bevor es durch eine Art Überdruck sich selbst auseinander sprengte, versucht einen Anfang dingfest zu machen, dem nichts mehr vorher geht und mit dem die Zeit selber beginnt, so dass es sinnlos ist, noch hinter diesen Anfang zurück zu fragen, denn mit der Zeit fangt - für uns - alles an. Die Metaphysik sucht den Anfang von allem, was ist, nicht in einer Ursache, sondern in einem Urheber, einem göttlichen Demiurgen, der die Welt geschaffen hat. Gott ist ein absoluter Anfang, ein Anfang, dem nichts vorausgeht, was sich in der Wendung zum Ausdruck bringt, dass er von Ewigkeit zu Ewigkeit ist. Gott ist ungeworden, er hat weder Anfang noch Ende, aber er ist der unhintergehbare Anfang von allem, was ist. Auch wenn etwa in Hesiods Theogonie eine Göttergenealogie beschrieben wird, so bildet doch ein Urgott, Uranos, den absoluten Anfang, aus dem alle übrigen Götter hervorgegangen sind. Man könnte also sagen, dass die metnschliche Neugier, das Wissenwollen narrativ befriedigt wird, durch das Erzählen von Geschichten, die in Frage stehende Sachverhalte durch den Rückgang auf ihren Anfang zu klären versuchen. Wer den Anfang kennt, kann den Verlauf der Geschichte bis hin zu dem fraglichen Etwas rekonstruieren, weil der Anfang zugleich die Bedingungen enthält, die den Fortgang der Geschichte und des aus ihr Hervorgegangenen ermöglichen. Wie Biographien, selbst geschriebene oder von anderen verfasste, meistens bei den Eltern, wenn nicht gar bei irgendwelchen Urahnen beginnen, um ein individuelles Leben am Leitfaden einer Geschlechterabfolge etwa in Gestalt eines Stammbaums zu charakterisieren und desto besser identitätsstiftende Merkmale herauszuheben, so wird alles für wissenswert Gehaltene quasi-biographisch daraufhin befragt, wie es entstanden ist und wie es im Verlauf einer Geschichte zu dem geworden ist, was es ist. In diesem grundlegenden Sinn ist auch die Philosophie narrativ. Zwar rekurriert sie nicht mehr wie ihr Vorgänger, der Mythos, auf außermenschliche Mächte und Kräfte, um ihre Erkenntnisinteressen zu befriedigen, aber die Folie, auf welcher sie am Leitfaden des Logos ihre Argumente formuliert, ist die biographische. Die Ausdrücke άρχή und principium weisen darauf hin, dass nach
Wie etwas anfängt
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Gründen gefragt wird, die einen wirkmächtigen Anfang benennen, einen Anfang, der bestimmend ist für die gesamte Reihe des daraus Gefolgerten, das seinerseits gleichsam wie das Schlussglied einer historischen Abfolge auf den Plan tritt. Die akademische Philosophie in ihrer traditionellen Ausrichtung sucht, unter philosophiehistorischem Gesichtspunkt einerseits die Quellen auf, aus denen ein Autor wesentliche Denkanstöße für seine eigenen Überlegungen erhalten hat, unter systematischem Gesichtspunkt andererseits eruiert sie die Begriffe, vermittels welcher ein Problem formuliert und gelöst werden kann. In beiden Fällen, so unterschiedlich die jeweiligen Anfänge auch sein mögen, wird ein Beziehungsnetz gesponnen, sei es zwischen Texten, sei es zwischen Begriffen, quasi narrativ, im reflexiven Durchgang durch ein Nacheinander, dessen FrüherSpäter-Verhältnisse entweder eine zeitliche oder eine geltungslogische Abfolge dokumentieren. Kant und Nietzsche haben verschiedene methodische Versionen vorgestellt, wie etwas anfangt. Nietzsche hatte bekanntlich erhebliche Einwände gegen Kants Vorgehen, dem er jegliche Erklärungskraft absprach. Ich möchte daher in einem ersten Schritt Kants transzendentallogische Rekonstruktion des von ihm terminologisch als Apriori bezeichneten Anfangs umreißen. Daran schließt sich Nietzsches Kritik und weiterhin seine These einer genealogischen Aufschlüsselung des Anfangs an. Zu beachten sein wird dabei, dass es jeweils zwei Wege sind, die beschritten werden müssen: zum einen der Weg zurück zum Anfang und zum anderen der Weg vom rekonstruierten Anfang zum erklärungsbedürftigen Ausgangspunkt. Auf welchen Anfang man stößt, hängt davon ab, ob man auf der Zeitschiene in die Vergangenheit zurückzukehren trachtet, oder ob man einen systematischen Weg zu den impliziten Voraussetzungen einschlägt. Der Vorteil des ersten Weges, den Nietzsche bevorzugt, liegt darin, dass er scheinbar erfahrungsgesättigtere Erkenntnisse vermittelt, mit deren Hilfe dann der umgekehrte Weg vom Anfang zum Ausgangspunkt als eine in sich zusammenhängende Geschichte erzählbar wird. Der Vorteil des zweiten Weges, den Kant bevorzugt, besteht darin, dass der begrifflich rekonstruierte Anfang zugleich als Rechtfertigungsgrund fur das, was aus ihm folgt, betrachtet wird und den Folgen damit einen normativen Anstrich verleiht.
Kants transzendentallogische Methode Der als Transzendentalphilosophie bekannt gewordene Typus von Philosophie verdankt sich jenem Paradigmenwechsel in der Erkenntnistheorie, den Kant als Kopernikanische Wende bezeichnet hat. Im Unterschied zur antiken Philosophie, die als Metaphysik ihren Blick auf das Objekt, das Sein als den Anfang des
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Annemarie Pieper
Wissens richtete, wendet die Transzendentalphilosophie den Blick auf das erkennende Subjekt, nicht um eine Psychologie des Subjekts zu entwickeln, sondern um zu klären, wie das Subjekt ein Objekt im Bewusstsein hat. Die Frage gilt den in der Antike nicht eigens bedachten reflexiven Voraussetzungen, unter welchen Gegenstandserkenntnis möglich ist. Um es verkürzt zu sagen: Die vorkantische Philosophie suchte die Bedingungen der Wirklichkeit zu eruieren, wohingegen Kant (und vor ihm bis zu einem gewissen Grad schon Descartes) nach den Bedingungen der Denkmöglichkeit von Wirklichkeit fragte. Im ersten Fall geht es um ontologische, im zweiten Fall um reflexive Bestimmungen des Wissens von Objekten. Transzendental wird also nicht danach gefragt, was dem Ding an sich selber und unabhängig vom menschlichen Erkennen an Eigenschaften zukommt, sondern welche Prädikate ihm aufgrund der erkenntnisbegründenden Leistung eines denkenden Subjekts oder Ichs zukommen. Die mit der so genannten Kopernikanischen Wende vollzogene Blickrichtung vom Objekt zum Subjekt als dem eigentlichen Anfang des Wissens bringt auch eine veränderte Weltsicht mit sich. Deshalb spricht Kant von einer „Revolution der Denkart". Die Welt wird nicht mehr als ein an sich und aus sich selbst bestehendes Objekt aufgefasst, sondern so, wie sie einem Subjekt erscheint. Sie wird zu einem Konstrukt. Das Bewusstsein oder die Vernunft ist letzter Erkenntnisgrund und insofern konstitutiv für Objektivität schlechthin. Was prinzipiell nicht als Gegenstand eines Bewusstseins rekonstruierbar ist, existiert auch nicht, da es fur das Bewusstsein nicht vorhanden ist. Ohne Subjekt kein Objekt. Hier ist wohl gemerkt von der Erkenntnisrelation die Rede. Ich kann mir durchaus eine Welt ohne Menschen vorstellen, aber indem ich diese Vorstellung in meinem Bewusstsein erzeuge, habe ich, wenn auch unausgesprochen, das Prinzip der Subjektivität wieder in Anspruch genommen, insofern es ja doch meine Vorstellung einer Welt ohne Menschen ist. Und so kommt mein Ich durch die Hintertür wieder in die Welt ohne Menschen hinein. Das Ich ist ein unhintergehbarer Anfang. Kant hat das Kunstwort „transzendental" eingeführt, um ein Denken zu charakterisieren, das von der Erfahrung ausgeht, aber zugleich etwas über die Erfahrung behauptet, das nicht durch Erfahrung gewonnen ist. Das ist die Bewegung des Transzendierens, des Überschreitens der Empirie im Wort „transzendental": Die Erfahrung soll überschritten werden auf etwas hin, das nicht Erfahrung, aber für die Erfahrung als Wissen von Objekten unverzichtbar ist. Dieser Überschritt geht insofern nicht endgültig weg von der Erfahrung. Er bedeutet nicht ein Verlassen der Erfahrung, so wie man im antiken Denken und im Mittelalter Transzendenz versteht: Man erhebt sich zu einem Jenseitigen, Außer- oder Übermenschlichen und lässt dabei alles Empirische hinter sich zurück. Kant hingegen will gerade die Erfahrung als solche transparent machen. Deshalb ist der
Wie etwas anfangt
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Überschritt zugleich ein Rückschritt, ein Zurückgehen in den Ursprung, an den Anfang der Erfahrung. Die Erfahrung wird gleichsam in sich selbst auf ihren Grund hin überschritten. Diese Ursprungsdimension aller Erfahrung kennzeichnet Kant durch den Ausdruck α priori. Α priori heißt wörtlich: früher, genauer, vom Früheren. Dasjenige, woraus Erfahrung hervorgeht, ist früher als die Erfahrung selber. Nun ist Erfahrung aber etwas, das den Bedingungen von Raum und Zeit untersteht. Wie kann dann etwas früher sein als das Raum-Zeit-Geschehen selber? Ersichtlicherweise kann das Apriori der transzendentalen Ursprungsdimension von Erfahrung nicht ein zeitliches Früher meinen. Nun kennen wir aber auch andere als zeitliche Früher-Später- oder Vorher-Nachher-Verhältnisse. In einer lexikalischen Ordnung zum Beispiel kommt Α früher als Β und X früher als Y. Oder in der Zahlenreihe kommt die 1 vor der 2 usf. Hier ist eindeutig kein zeitliches Vorhergehen gemeint, sondern ein Nacheinander im Sinne eines Ordnungsprinzips, das den Anfang einer Reihe beliebig oder konventionell festlegt. Ist der Anfang aber einmal festgelegt, dann ist damit auch die Reihenabfolge festgelegt und nicht mehr beliebig veränderbar, außer man setzt einen neuen Anfang und damit ein neues Ordnungsprinzip. Dieses Verständnis von Früher und Später im Sinne eines lexikalischen oder numerischen Ordnungsprinzips kommt dem Kantischen Begriff des Apriori schon näher, denn dieses meint ebenfalls keine zeitliche Abfolge, aber Kant hat noch einen anderen Typus von Abfolge im Auge, nämlich den geltungslogischen. Das heißt: Der Anfang, das Apriori wird nicht beliebig oder konventionell bestimmt, sondern resultiert aus der Logik der Sache und muss deshalb aus systematischen resp. methodischen Gründen notwendig vorausgesetzt werden, weil anders ein Sachverhalt nicht als solcher begreifbar ist. Kant versteht unter einem Apriori eine notwendige Voraus-Setzung im wörtlichen Sinn: Ich muss etwas bereits zuvor gesetzt haben, bevor ich etwas Bestimmtes setze, das dann als später, als logische Folge begriffen wird. Kant bleibt nun nicht bei dem jeweils fur einen Begriff gefundenen Apriori stehen, sondern fragt weiter nach dem Apriori dieses Aprioris usf., bis er bei einem letzten Apriori angelangt ist, das den Anfang der ganzen Reihe und damit ihr Prinzip bildet. Der Begriff der Farbe zum Beispiel setzt den Begriff Fläche voraus. Was ist im Begriff Fläche implizit vorausgesetzt? Fläche setzt Ausdehnung voraus. Und der Begriff Ausdehnung setzt seinerseits wiederum den Begriff Raum voraus. Beim Begriff Raum sind wir dann bei einem Letztbegriff angelangt, der sich auf keinen weiteren Begriff mehr zurückfuhren lässt. Der Raumbegriff ist mithin ein nicht weiter reduzierbares Apriori. Bei solchen letzten Aprioris kommt die Reflexion in ihrem reduktiven Verfahren gewissermaßen zum Stehen, und damit ist der Anfang der Bedingungsreihe
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Annemarie Pieper
erreicht, die Letztbedingung. Die Frage, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft beantworten möchte, zielt auf das Apriori aller Erfahrungserkenntnis: Wie ist Erfahrung möglich? Gefragt wird dabei nach den reflexiven Bedingungen gehaltvollen, objektiven Wissens. Die Frage lautet nicht: Wie komme ich de facto zu bestimmten Erkenntnissen? Kant interessiert sich nicht für psychische oder gehirnphysiologische Prozesse, auch nicht für die Art und Weise, wie das Auge auf Lichtreflexe reagiert und Wahrgenommenes sich auf der Netzhaut zu einem Bild formt - dies alles sind Realbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit empirisches Sehen und Denken zustande kommt. Kant fragt also nicht nach den Ursachen empirischen Wissens, sondern nach den logisch-begrifflichen bzw. wissenschaftstheoretischen Vorausannahmen, ohne die der Begriff der Erfahrung kein gültiger Begriff wäre. Anders gesagt: Es geht nicht um die Genesis von Erfahrungswissen, sondern um dessen Geltungsbedingungen. Entsprechend sind zwei verschiedene Typen von Anfängen gegeneinander abzugrenzen. Zum einen kann man den Entstehungsprozess von Objekten zurück verfolgen bis zum empirischen Ausgangspunkt; zum anderen kann man die Bedingungen heraus präparieren, die das Erscheinen von Objekten im Horizont eines Bewusstseins ermöglichen. Wenn Kant in der 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft sagt: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unseren Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt" (KrV, A 11 f.), so heißt dies, dass er die Bedingungen objektiver Erkenntnis nicht an den Objekten selber abzulesen versucht, sondern ihnen im Erkenntnisapparat des Subjekts nachspürt, indem er nach den Konstruktionsprinzipien von Objektivität im menschlichen Bewusstsein fahndet. Die Gesetze, nach denen wir ein Objekt erkennen, liegen nicht da draußen in der Natur, sondern in unserem Verstand, der seine eigenen Gesetze in die Natur hinein projiziert. Der Anfang alles objektiven Wissens liegt im menschlichen Bewusstsein. Der Verstand, so Kant, ist der Gesetzgeber der Natur. Nehmen wir das Kausalgesetz als das für Naturprozesse grundlegende Prinzip. Für die Begriffe Ursache und Wirkung gibt es in der Natur kein Korrelat, das heißt: Da draußen in der Natur gibt es nicht Ereignisse, die als solche Ursachen oder Wirkungen sind. Vielmehr hat der Verstand den Begriff der Natur als Ensemble von Kausalprozessen definiert und gibt damit einen Raster vor, dem gemäß in die chaotische Mannigfaltigkeit der Natur eine Ordnung gebracht werden kann mittels Verlaufs- und Zuordnungsmustern, die dem Schema „Immer wenn A, dann B" folgen. Kants genialer Schachzug bestand darin, dass er die Welt da draußen nicht mehr als eine durch den Logos oder die göttliche Schöpferkraft bereits vorstrukturierte Entität auffasste, sondern als eine unstrukturierte Mannigfaltigkeit, die
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erst durch das menschliche Erkenntnisvermögen in einen Ordnungszusammenhang gebracht wird. Daher hat es keinen Sinn mehr, sich den Objekten zuzuwenden, um herauszufinden, wie sie an sich selber organisiert sind, denn das können wir ohnehin nicht erkennen, weil wir die Welt nicht so, wie sie an sich beschaffen ist, wahrnehmen, sondern nach Maßgabe unserer Erkenntnisstrukturen. Verstand und Vernunft enthalten die Konstruktionsprinzipien von Natur schlechthin. Objektivität ist nur entsprechend den Vorgaben eines erkennenden Subjekts erfahrbar, welches mittels seines Verstandes die isolierten sinnlichen Daten, das Anschauungsmaterial, kategorial verarbeitet und in einen Zusammenhang bringt. Die Zusammenhänge, die durch die Erkenntnis begründenden Leistungen hergestellt werden, existieren nicht da draußen, sondern nur im denkenden und erkennenden Subjekt, das die Welt so erkennt, wie sie für es existiert, nicht aber, wie sie an sich beschaffen ist. Deshalb hat Kant terminologisch klar gesagt: Wir erkennen die Welt so, wie sie uns erscheint, nicht wie sie an sich beschaffen ist. Für uns gibt es keine andere als die menschliche Perspektive, von welcher aus wir die Natur konstruieren. Damit haben wir aber keinen Einblick in die Natur, wie sie an und für sich beschaffen ist. Wer diesen Anspruch für seine Erkenntnisse erhebt, ist aus Kants Sicht Dogmatiker, der behauptet, einen privilegierten Zugang zu den Dingen zu haben, als könnte er den menschlichen Standpunkt verlassen und eine Superperspektive für sich beanspruchen, von welcher aus die Natur so beschrieben werden könnte, als ob sie, vorausgesetzt sie könnte sich sprachlich artikulieren, sich selber beschriebe. Kants Begriff der Erfahrung ist für alle Erfahrungswissenschaften von Bedeutung. Wo immer es darum geht, Gesetzmäßigkeiten an empirischen Sachverhalten aufzuspüren, bedürfen wir apriorischer Konstrukte, nach deren Anleitung Hypothesen gebildet werden, die an der Erfahrung methodisch überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden, sei es statistisch, sei es experimentell oder sonstwie regelgeleitet. Ohne jegliche Vorgabe einer Perspektive, aus welcher die gestellten Fragen nach einem vorkonstruierten Muster versuchsweise vorweg beantwortet werden, kann man keine Wissenschaft betreiben. Man wüsste gar nicht, wonach man suchen soll, und hätte man die Antwort gefunden, wüsste man nicht, dass sie die richtige ist. Kants Wissenschaftstheorie gibt somit Einblick in die reflexiven Bedingungen, unter denen Erfahrungswissenschaften zu objektiven Erkenntnissen gelangen, und betont damit den in der Regel vernachlässigten Stellenwert apriorischer Konstrukte, die sich gerade nicht aus den Gegenständen herauslesen lassen, sondern geistige Vorgaben sind, mit denen man an die Erforschung der Gegenstände herangeht.
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Annemarie Pieper
Nietzsches Kritik Die Position des jungen Nietzsche scheint von der Kantischen auf den ersten Blick nicht weit entfernt. In seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne nämlich macht er sich über die Erkenntnistheoretiker lustig, die meinen, es gäbe objektive Aussagen über das Ansichsein der Dinge. „ [...] wie dürften wir doch sagen: der Stein ist hart: als ob uns ,hart' noch sonst bekannt wäre und nicht nur als eine ganz subjektive Reizung!" (KSA 1, 878) Wir tun so, als hätten wir einen privilegierten Zugang zu den Dingen, als könnten wir sie so erkennen, wie sie an sich selber beschaffen sind, während wir doch genau genommen nur darüber zu urteilen vermögen, wie sie für uns sind, wie sie sich aus unserer Perspektive be-greifen lassen. Ob der Stein sich selbst, unabhängig vom Menschen als hart bezeichnen würde, ist eine unbeantwortbare Frage, weil wir nicht die Perspektive des Steins einzunehmen vermögen. Hat Nietzsche also die von Kant vorgeschlagene Kopernikanische Wende mit vollzogen? Ich meine: ja und nein. Ja, insofern auch Nietzsche die Rede von Dingen an sich für sinnlos erklärt. Wir haben erstens keine andere als die menschliche Perspektive, aus welcher wir über die Dinge urteilen. Und zweitens ist alles, was wir über die Dinge mittels Metaphern und Begriffen sagen, Interpretation, eine Zurechtmachung der Welt nach Maßgabe unserer Erkenntnisinteressen. Andererseits hat Nietzsche die Kopernikanische Wende nicht mit vollzogen, insofern er den transzendentallogischen Ansatz verwirft, weil die Fokussierung auf den Aspekt der Geltung für ihn eine unzulässige Verkürzung des Wahrheitsproblems bedeutet. Man kann aus Nietzsches Sicht die Frage der Geltung nicht so säuberlich von der Frage der Genesis abtrennen, wie Kant dies unterstellt hat. Nun erhebt sich allerdings das Gespenst des naturalistischen Fehlschlusses, wenn die Geltung auf die Genesis zurückgeführt wird und damit der Anfang des Normativen, Gültigen an einem Seinsprozess dingfest gemacht wird. Ob Nietzsche in seinen genealogischen Versuchen, Genesis und Geltung miteinander zu verbinden, den naturalistischen Fehlschluss vermieden hat, werden wir herauszufinden suchen. Bleiben wir jedoch fürs erste bei seiner Kant-Kritik. Sie zielt vor allem auf den Begriff des Apriori, dessen Dignität Nietzsche in Zweifel zieht. „.Am Anfang war'. - Die Entstehung verherrlichen - das ist der metaphysische Nachtrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das Werthvollste und Wesentlichste." (KSA 2, 540) Was Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches in Bezug auf historische Untersuchungen feststellt, das wendet er auch gegen den transzendentalen Rückgang auf ein erstes Prinzip ein. Der Anfang von etwas ist keineswegs das Ranghöchste und Beste, sondern im Gegenteil etwas Entwicklungsbedürftiges. „Alles Gute ist Erbschaft: was nicht ererbt ist, ist unvollkommen, ist
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Anfang ..." (KSA 6, 149), heißt es in der Götzen-Dämmerung, wobei Nietzsche unter Erbschaft jenes tätige Sichaneignen versteht, das Zarathustra als Selbstüberwindung charakterisiert: als das Über-sich-hinaus-Wachsen des alle seine Kräfte anspannenden Individuums. Nietzsche gebraucht verschiedentlich das Wort „Rangleiter" (KSA 5, 205), um den Stellenwert des Anfangs zu verdeutlichen. Die unterste Sprosse ist notwendig, um in die Höhe zu gelangen. Wer jedoch unten stehen bleibt und sich nicht zur Leiter entwickelt, hat sich selbst verfehlt. Die unterschiedliche Bewertung des Anfangs seitens Kants und Nietzsches hängt damit zusammen, dass Kant den Weg zurück zum Apriori als ein reduktives Verfahren beschreitet, das über verschiedene Zwischenglieder zu einem Unbedingten fuhrt und damit zu einem Anfang, dem keine weitere Bedingung vorausliegt: ein anfangloser Anfang also. Die Dignität dieses Anfangs besteht darin, dass es ohne ihn keine Erfahrung und damit kein objektives Wissen gibt. Nietzsche hält dieses Verfahren fur eine Farce. „Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der ,Wahrheit' innerhalb des Vernunft-Bezirkes." (KSA 1, 883) Man könnte Nietzsche zugestehen, dass es sich mit analytischen Urteilen in der Tat so verhält. Wenn man „Ball" sagt, ist der Begriff des Runden implizit im Begriff des Balls enthalten, darin versteckt, wie Nietzsche sich ausdrückt, und kann in einer Definition explizit gemacht werden. „Der Ball ist rund" - eine Tautologie, die die Erkenntnis nicht erweitert. Aber Kant hatte sich ja für synthetische Urteile a priori interessiert und damit für Aussagen, die jene Bedingungen formulieren, die als notwendige Voraussetzungen für Erfahrungsurteile unterstellt werden müssen. Dreht sich auch in diesem Fall die Vernunft resp. der Verstand gleichsam um sich selbst, indem er wie bei den analytischen Urteilen das implizit Unterstellte explizit macht und damit lediglich immanent seine eigenen Konstruktionsprinzipien anwendet? Kant hat im Kapitel „Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (KrV, Β 116ff.) zu zeigen versucht, dass und wie die Kategorien sich auf mögliche Gegenstände der Erfahrung anwenden lassen. Die Betonung liegt auf mögliche Gegenstände. Der transzendentale Gegenstand X fungiert als Stellvertreter für jedwedes Etwas, das im Bewusstsein erscheinen und zu Recht Anspruch auf Objektivität erheben kann. An diesem transzendentalen Gegenstand X demonstriert Kant, wie sich die erkenntnisbegründenden Kategorien anwenden lassen, nämlich auf der Folie einer apriorischen Beziehung zwischen einem reinen Verstandesbegriff und einer der beiden reinen Anschauungsformen, der Zeit. Die Zeit ist - wie der Raum - eine Letztbedingung, die dasjenige am Gegenstand, was seine Materialität ausmacht, in gehaltvolles Wissen zu transformieren
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erlaubt. Dieser Bezug auf die Zeit, durch den die Kategorien versinnlicht werden, während gleichzeitig das potentielle Anschauungsmaterial intellektualisiert wird, ist ein transzendentaler Bezug, kein transzendenter. Er bleibt innerhalb des Bewusstseins, dessen Immanenz an keiner Stelle durchbrochen wird. Die apriorischen Strukturen sind Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkeit, nicht aber der Wirklichkeit selber. Dies ist Nietzsche zu wenig. An einer Nachlassstelle vom Sommer 1884 führt er aus: „Die bestgeglaubten a priorischen ,Wahrheiten' sind für mich - Annahmen bis auf Weiteres z.B. das Gesetz der Causalität sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht daran glauben das Geschlecht zu Grunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehn bleibt!" (KSA 11, 152f.) Synthetische Urteile a priori haben demnach für Nietzsche den Stellenwert von Hypothesen, „Annahmen bis auf weiteres". Als eingefleischte Glaubensüberzeugungen des Verstandeswesens Mensch beanspruchen sie ungerechtfertigterweise unbezweifelbare Wahrheit für sich. Wenn also der Verstand seine Perspektive verabsolutiert und nichts als wahr gelten lässt, was nicht seinen Bedingungen entspricht, dann haben wir es hier nach Nietzsche mit einem Vor-Urteil zu tun, das alle Wahrheit im und mit dem Verstand beginnen lässt und andere Anfänge als die logisch-intellektuellen Aprioris nicht zulässt. Nietzsche merkt dazu an: „Der ganze Erkenntniß-Apparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat - nicht auf Erkenntniß gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge". (KSA 11, 164) Der Verstand beansprucht für sich absolute Überlegenheit über alles, was ist, indem er die Form und den Inhalt der Dinge bestimmt. Dabei blendet er aus, dass er keineswegs ein voraussetzungsloser Anfang ist, sondern dieses Vorurteil verinnerlicht hat, um seinen Geltungsanspruch zu zementieren. Der Vorrang der Geltung vor der Genesis, die vom Verstand behauptete Höherrangigkeit des logischen Apriori vor dem historischen Ursprung hat keine absolute, sondern eine bloß relative Bedeutung. Es wird lediglich das Vorurteil des Verstandes bestätigt und damit dessen Perspektive hervorgehoben. Hätte Nietzsche die These vertreten, dass man je nach Erkenntnisinteresse auf verschiedenen Wegen zum Anfang des Wissens gelangen kann und dabei zu zwei verschiedenen Apriori-Typen gelangt, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen, wäre dem naturalistischen Fehlschluss der Boden entzogen. Nun hat er dies aber genau nicht getan, sondern in einer sich vom Frühwerk bis ins Spätwerk durchhaltenden These behauptet, dass die Vernunft nicht anfanglos ist, sondern ihrerseits wiederum auf einem irrationalen Apriori beruht. In Ueber Wahrheit und Lüge bringt er das bekannte Bild des Tigers, auf dessen Rücken der Mensch den Träumen seiner Vernunft nachhängt, nicht wissend oder nicht zur Kenntnis nehmend, dass seine Spekulationen sich dem Raubtierhaften seiner
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Triebe verdanken. (KSA 1, 877) „Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden", so heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft - „wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss in uns haben." (KSA 3, 349) Die Metapher, die Nietzsche für den Anfang benutzt, wenn er sagt: incipit tragoedia oder incipit Zarathustra, ist die des Gebärens, und damit erhalten wir einen Hinweis, warum er den Kantischen Apriori-Begriff in seine Schranken weist. Das logische Apriori ist steril, aus ihm folgt nichts. Kant hat in der Tat nur den reduktiven Weg beschritten bis zur transzendentalen Apperzeption als dem reinen Selbstbewusstsein, ohne umgekehrt daraus die Vorstellungen des Ich abzuleiten. Man kann nur vom Bedingten auf das Unbedingte zurückschließen, nicht aber das Bedingte aus dem Unbedingten deduzieren. Das haben die deutschen Idealisten versucht, Fichte etwa, indem er das Ich als Resultat einer Tathandlung rekonstruierte und damit die konstitutive Bedingung gegenständlichen Wissens in eine generative Bedingung verwandelte, die Wissen nicht nur begründet, sondern geradezu erzeugt. Schelling hat in seiner Freiheitsschrift zu zeigen versucht, dass auch das Absolute selber nicht anfanglos ist, sondern einen Anfang hat, dass Gott durch einen Freiheitsakt allererst Gott geworden ist. Aber die ganzen Weltalterentwürfe bis hin zu den späten Schriften Schellings zeugen von der Vergeblichkeit seines Bemühens um eine positive Philosophie. Die erzählte Geschichte bleibt eine transzendentale Geschichte, insofern die Bedingungen der Wirklichkeit sich nicht aus der Vernunft deduzieren lassen. Die Sterilität des Kantischen Apriori, das quasi im Innenraum der Gebärmutter verharrt, ohne zu gebären, ist fur Nietzsche unannehmbar. Wo immer es um Menschen und ihre Verrichtungen geht, haben wir es nicht mit abstrakten, toten Begriffen, sondern mit Lebendigem zu tun, mit Organismen, die ihren eigenen Werdensprozess zu optimieren trachten. Deshalb muss der Anfang so bedacht werden, dass sichtbar wird, wie aus ihm etwas Neues hervorgeht und die Ausgangskonstellation jene Rangleiter aus sich heraus treibt, auf welcher der Mensch denkend, wollend, fühlend und handelnd über sich hinaus wächst, sich in die Dimension des Über-Menschen ausstreckt. Das Einmalige, Besondere, Unverwechselbare, für das sich der Genealoge als Anwalt des Zufälligen interessiert, gelangt aus der Perspektive des Kantischen Apriori gar nicht in den Blick. Nietzsche fragt nicht, wie etwas anfangt, sondern wie etwas angefangen hat, etwas, das uns gegenwärtig, vertraut und scheinbar bekannt ist, mit dem wir so umgehen, als hätte es nie ganz anders angefangen, als es jetzt ist. Die Frage, wie etwas angefangen hat, stellt sich daher in der Regel erst dann ausdrücklich, wenn etwas zum Problem geworden ist, wie z.B. die abendländisch-christliche
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Moral, deren Anfang Nietzsche in seinen späteren moralphilosophischen Schriften nachspürt, um zu zeigen: 1. dass aus diesem Anfang auch etwas anderes hätte hervorgehen können, und 2. dass das tatsächlich daraus Entstandene Resultat einer Fehlentwicklung ist. Dies ist nun genau der Punkt, an dem sich entscheidet, ob Nietzsche den naturalistischen Fehlschluss begangen hat oder nicht. Denn die Beurteilung geschichtlicher Veränderungen und kultureller Entwicklungsprozesse daraufhin, ob sie zu einer höheren Lebensform fuhren oder zum Niedergang, setzt einen Maßstab voraus und bringt damit eine normative Komponente ins Spiel. Der Beurteilungsmaßstab kann nicht dem Anfang und auch nicht dem Prozess entnommen werden, da sie ja Gegenstand der Beurteilung sind. Nietzsche ist so weit Kantianer, als er den Maßstab ins urteilende Subjekt - allerdings ins einzelne, individuelle Subjekt - verlegt, wobei er meines Erachtens dem Kant der Kritik der Urteilskraft näher steht als dem Kant der ersten Kritik. Vielleicht könnte man sogar so weit gehen zu sagen, dass Nietzsche Kants Verfahren der reflektierenden Urteilskraft gleichsam narrativ umgesetzt hat, indem er - genealogisch - eine Geschichte erzählt, die das gegebene Besondere aus einem Anfang hervorgehen lässt, der mehr als nur dieses Besondere enthielt und insofern als ein Allgemeines aufgefasst werden kann. Aus diesem Allgemeinen hätte auch etwas anderes hervorgehen können, wenn es als Anfang anders fruchtbar gemacht worden wäre. Nietzsches Moralkritik zum Beispiel läuft darauf hinaus, dass die abendländische Moral in ihrer jüdisch-christlichen Gestalt keineswegs durch eine göttliche Offenbarung legitimiert ist, sondern sich letztlich dem Machtstreben zu kurz Gekommener verdankt, die, angestachelt durch ihr Ressentiment, einen Gott erfanden, auf dessen Autorität sie ihre Befugnis stützten, moralische Gebote zu erlassen, deren Befolgung aus einem Haufen Halbwilder eine Herde gefugiger Schafe machte. Aber, so Nietzsche, aus dem Anfang der Menschheit hätte sich auch eine ganz andere Geschichte entwickeln können, wenn anstelle einer Moral, die mittels kategorischer Restriktionen alle Menschen gleich macht und damit den Durchschnitt zur Norm alles Wertvollen erhebt, das Wertvolle gerade in der Differenz, in der Verschiedenheit und Ungleichartigkeit der Individuen gesehen worden wäre. Während die tradierte Moral das „ich" als wertlos erachtet und in der Masse des Wir - des allgemeinen „Ich" - untergehen lässt, hätte die andere Moral, jene Moral, die aus Nietzsches Sicht die für menschliche Lebewesen angemessenere wäre, statt einer Einheitsgesellschaft eine Vielfalt von Individuen entstehen lassen, die sich in einem Wettbewerb aneinander steigern und höher entwickeln. Abschließend möchte ich die These vertreten, dass der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses Nietzsche nicht trifft. Und zwar deshalb nicht, weil er die genealogische Rekonstruktion der Geschichte von ihrem Anfang her nicht als Eins-zu-eins-Nachbildung eines faktisch-empirischen Verlaufs verstanden
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wissen wollte, sozusagen als historisch belegbare Dokumentation einer tatsächlichen Ereignisabfolge, sondern als Interpretation. Jede Interpretation ist interessegeleitet und wertorientiert. Die erzählte Geschichte ist Deutung eines Geschehens aus einer bestimmten Wert-Perspektive, die als solche in die Deutung mit eingeht. Trotzdem handelt es sich nicht um eine beliebige Interpretation, sondern um eine solche, der es, wenn nicht um Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung zwischen Sachverhalt und Urteil, so doch um möglichst große Plausibilität geht. Der Interpret muss gleichsam sich selbst und seine persönliche Erfahrung einbringen; er muss werben für seine Sicht der Dinge und sich mit den dagegensprechenden Einwänden auseinandersetzen. Nietzsche macht sich in diesem Sinn stark für sein genealogisches Verfahren, indem er wie in einem Stammbaum die einzelnen Äste zurück verfolgt, bis er bei jenem Elternpaar angelangt ist, das den Anfang des untersuchten Stammes bildet, und dann über die jeweiligen Geburten und die dadurch erfolgenden Verzweigungen die Ausbreitung des Geschlechts nacherzählt. Der Stammbaum ist wohlgemerkt eine Metapher; eine Metapher fur einen Zusammenhang, dessen einzelne Glieder nicht schon namentlich und historisch bekannt sind, sondern allererst in Erfahrung gebracht werden müssen, was detektivisches Gespür voraussetzt. Auch der Anfang, auf den Nietzsche sich dann festlegt, ist Resultat einer nach rückwärts gewandten Interpretation, für die dasselbe gilt, was Nietzsche über den Kantischen Apriori-Begriff gesagt hat: Annahme bis auf weiteres. Der gesetzte Anfang ist eine Hypothese, die an Überzeugungskraft gewinnt, je einsichtiger die Geschichte ist, die daran geknüpft wird. Zur Stützung dieser Geschichte zieht Nietzsche Material aus allen Wissensbereichen heran, die ihm für die Klärung ihres Verlaufs hilfreich scheinen: Etymologien, literarische Dokumente, historische Ereignisse, psychologische Faktoren, philosophische Theoreme, religiöse Anspielungen, allgemeine Wertstandards, Statistiken etc., kurz: er betreibt, wie wir heute sagen würden, interdisziplinäre Forschung, indem er die einzelnen Fäden in seiner Genealogie miteinander verwebt, stets darum wissend, dass das Ganze unaufhebbar ein Interpretationskonstrukt ist, welches anderen möglichen Interpretationen standhalten muss, um zu überzeugen.
Manfred Baum
Hermeneutik bei Nietzsche Heinrich Hüni zum 60. Geburtstag Der Titel meiner Überlegungen mag zunächst verwundern. Denn der Philosoph Friedrich Nietzsche steht - zu Recht - nicht in dem Ruf, einen Beitrag zur „Hermeneutik" geleistet zu haben, und mir ist keine Stelle in seinem veröffentlichten Werk bekannt, an der er das Wort „Hermeneutik" verwendet. Das ist bei einem klassischen Philologen, der mehrfach Schleiermacher erwähnt, ein wenig sonderbar. Unter „Hermeneutik" versteht man zumeist mit Wilhelm Dilthey die „Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen".1 Diese Hermeneutik möchte ich die „philologische Hermeneutik" nennen und sie von den zwei anderen Arten von Hermeneutik abheben, die Otto Friedrich Bollnow als „philosophische Hermeneutik" und als „hermeneutische Philosophie" unterschieden hat.2 Als Anhaltspunkt für das Verständnis dieser Unterscheidung kann es dienen, dass Hans-Georg Gadamer sein bekanntes Buch Wahrheit und Methode im Untertitel „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik" genannt hat, wobei diese philosophische Hermeneutik nach ihm die ,,[t]heoretische Bewußtheit über die Erfahrung des Verstehens und die Praxis des Verstehens"3 sein soll. Der erste Autor, der von einer „hermeneutischen Philosophie" spricht, ist nach Bollnow Otto Pöggeler in seiner so betitelten Textsammlung von 1972.4 Pöggeler versteht unter „hermeneutischer Philosophie", in Orientierung an Heideggers Sein und Zeit, eine Philosophie, die „Verständnis und Auslegung der Geschichtlichkeit des Daseins" ist5 und als solche „Hermeneutik im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung", wie Heidegger selbst in Sein und Zeit6 sagt. Damit ist eine Neubestimmung des Sinnes von „Hermeneutik" vollzogen, durch die sie sich den Universalitätsanspruch der vormaligen Transzendentalphilosophie auf neue Weise zu eigen macht, und eine so verstandene hermeneutische Philosophie bezieht sich nach Pöggeler „auf alle Lebensbereiche und auf alle Wissenschaften"7, also nicht nur auf die sogenannten Geisteswissenschaften, die Kunst oder die Historie. Heidegger selbst versteht unter „Hermeneutik des Daseins" eine Auslegung des Seins dieses Daseins, also eine „Analytik der Existenzialität der Existenz", die zugleich „universale phänomenologische Ontologie" sein soll.8 Da
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die letztere nach Heidegger nichts anderes als die Philosophie selbst ist, ist es sachlich angemessen, eine so strukturierte Philosophie eine hermeneutische zu nennen. Die erst 1988 gedruckte Vorlesung Ontologische Hermeneutik der Faktizität von 1923 geht zumindest darin an Deutlichkeit über das in Sein und Zeit Gesagte hinaus, als in ihr (1) das Wort „Hermeneutik" die Auslegung oder Selbstauslegung als „Einheit des Vollzugs des hermeneuein" und nicht deren Theorie bedeutet; 9 (2) aber soll die so verstandene Hermeneutik nicht eine Weise der „Gegenstandserfassung" sein, deren Gegenstand die Faktizität ist, „sondern das Auslegen selbst ist ein mögliches ausgezeichnetes Wie des Seinscharakters der Faktizität. Die Auslegung ist Seiendes vom Sein des faktischen Lebens selbst".10 Hermeneutik ist also hier eine Seinsweise der Faktizität oder eine Seinsart des Daseins." Dementsprechend ist Philosophie „die im faktischen Leben selbst seiende Weise des Erkennens, in der faktisches Dasein sich rücksichtslos zu sich selbst zurückreißt",12 also die als universale Erkenntnis gedachte Selbstauslegung der Faktizität, und sie kann in diesem Sinne „hermeneutische Philosophie" genannt werden. Wenn ich im Folgenden von „Hermeneutik" bei Nietzsche spreche, so verwende ich den Terminus synonym mit „hermeneutischer Philosophie" in derjenigen Bedeutung dieser Termini, welche man aus dem Denken des frühen Heidegger gewinnen kann. Nach diesen terminologischen Vorklärungen lautet nun meine These: Nietzsche ist der Inaugurator einer hermeneu tischen Philosophie in diesem an Heidegger orientierten Sinne des Hermeneutischen. Der philologische Sinn der Hermeneutik qua ars interpretandi bildet den selbstverständlichen Hintergrund für Nietzsches Gebrauch des Begriffs „Interpretation" im Zusammenhang erkenntnistheoretischer Fragen. Entsprechend heißt für ihn das Interpretierte der „Text", und so dient ihm die sorgfaltige Unterscheidung von Text und Interpretation als eine Tugend des Interpreten, der ein kritisches Bewusstsein von seinem eigenen philologischen Tun hat. Eine analoge Selbstkritik fordert Nietzsche vom Naturwissenschaftler, jedenfalls von demjenigen, der über seine Wissenschaft philosophiert. So heißt es in Jenseits von Gut und Böse (von 1886): „Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene ,Gesetzmässigkeit der Natur', von der ihr Physiker so stolz redet, [...] besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten .Philologie', - sie ist kein Thatbestand, kein ,Text'". 13
Die „Ausdeutung" der Natur als einer gesetzmäßigen ist aber nur insofern das Produkt einer schlechten Philologie, als der Philologe seine eigenen „Interpretationskünste" vergisst und sie unkritisch für durch den „Text" der Natur vorgegeben, für eine Tatsache hält. Zu dieser Interpretation der Natur gibt es
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keine Alternative, sie ist keine in dem Sinne willkürliche Auslegung, dass sie der Physiker auch unterlassen könnte oder gar sollte. Die Kunst der Interpretation wird nur dadurch zu einer schlechten, als sie ihrer selbst nicht als solcher bewusst ist und ihr Ergebnis, die Naturgesetzlichkeit, als durch ihr Objekt und sein Ansichsein aufgenötigt versteht. Nietzsche glaubt sogar den demokratischen Geist der Moderne für den unkritischen Glauben an die Objektivität der Naturgesetzlichkeit verantwortlich machen zu können. Er spricht den Verdacht aus, dass die Parole „hoch das Naturgesetz" auf dem „Hintergedanken" beruhe: „Überall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir" (ebd.). Diese ideologische Funktion des Gesetzesglaubens im Dienste der demokratischen Gleichmacherei macht ihn nicht zu einem beliebigen Vorurteil, aber sie lässt, wenn sie erkannt wird, nach seinen Gründen fragen. Da es nämlich hierbei nur um Interpretation, nicht um Text geht, ließe sich leicht ein Vertreter des aristokratischen Radikalismus (wie Nietzsche selbst) „mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst" denken, der aus derselben Natur und im Hinblick auf dieselben Erscheinungen „gerade die tyrannisch-rücksichtslose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde" (ebd.), also ein Interpret, der in der Natur den Willen zur Macht als ausnahmslos und unbedingt geltend vor Augen stellte. Eine solche Interpretation wäre ihrerseits keine beliebige, sondern in Nietzsches Augen sogar die richtige, wenn es so etwas wie eine richtige Interpretation gäbe. Worauf es Nietzsche hier nur ankommt, das ist die Einsicht, dass die der ersten entgegengesetzte, die aristokratische Interpretation, nach welcher nicht Gesetze in der Natur herrschen, sondern der gemäß die Gesetze „absolut [...] fehlen", darin der ersten gleicht, dass auch sie von der Welt behauptet, „dass sie einen ,nothwendigen' und ,berechenbaren' Verlaufhabe" (ebd.). Diese Notwendigkeit und Berechenbarkeit der Naturvorgänge beruht also nicht auf dem Ansichsein der Natur, sondern auf dem in den Auslegungen der Natur waltenden Willen zur Naturbemächtigung, die so gedeutete Natur dient dem Willen zur Macht des interpretierenden Lebens auch und gerade dann, wenn sie qua Interpretation den Charakter des Zurechtmachens und Verfälschens des Naturgeschehens hat und eine bloße Fiktion ist. Diejenige Auslegung der Welt, nach welcher alles Geschehen in ihr vom Willen zur Macht bestimmt ist, hat also nicht den Vorzug der Wahrheit, obwohl sie dem interpretierenden Willen und seiner Grundform gemäß ist. Denn auch die „pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche" (ebd.) im Interpretieren der Natur als eines durch allgemeine Naturgesetze beherrschten Geschehens entspringt dem Willen zur Notwendigkeit als einer Voraussetzung für die Berechenbarkeit der Naturvorgänge, ist also eine Bewertung der Natur im Dienste des wertenden Machtwillens. Eine Interpretation muss also nicht die Natur als Willen zur Macht auslegen, um
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sich als Funktion des Willens zur Macht zu erweisen. Dazu genügt es vielmehr, dass sie Interpretation ist und darin mit der Auslegung allen Geschehens als Wille zur Macht übereinkommt. Entscheidend also an diesem Aphorismus (Nr. 22) ist die These Nietzsches, dass die naturphilosophische Grundannahme der Physiker seiner Zeit, die allgemeine Gesetzlichkeit aller Naturvorgänge, keine Erkenntnis der Natur ist, d.h. keine Wahrheit enthält, sondern bloß das Produkt einer ars interpretandi ist. Für diese aber gilt die quasi-philologische Einsicht: „Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es giebt keine ,richtige' Auslegung" (KSA 12, 39). Nun könnte man die angeführte Entlarvung einer unbewussten Voraussetzung von empirischer Naturforschung für ein Stück Ideologiekritik im Dienste einer „Hermeneutik des Verdachts" (Foucault), angewandt auf Theorien, halten, das durch Nietzsches Dilettantismus in Fragen der Naturwissenschaft allenfalls entschuldbar sei. Denn die Annahme der ausnahmslosen Gesetzlichkeit allen Naturgeschehens auf eine „naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung" der Natur zurückzufuhren, die im Dienste von politischen Bedürfnissen, sc. „demokratischen Instinkten der modernen Seele" (KSA 5, 37), stehen soll - das scheint eher die geistreich-provokante Sottise eines Antidemokraten zu sein, als der Satz eines Naturphilosophen. Deshalb zitiere ich hier eine Passage des Astrophysikers Friedrich Zöllner14, die zeigt, dass Nietzsches Aphorismus einen anderen als politischen Hintergrund hat: „Alles was ist und geschieht, als notwendig zu begreifen, in seinem Hervorgehen aus bestimmten Ursachen und nach allwaltenden unveränderlichen und unfehlbaren Gesetzen zu verstehen, ist uns die höchste Vollendung des Wissens. [...] Wenn die Mechanik alles Geschehen auf Kräfte zurückzuführen trachtet, die unabänderlichen Gesetzen gehorchen, so erkennen wir leicht in dem Ausdruck Kraft noch das schattenhafte Bild unseres Willens, der durch unsere Muskeln Druck und Zug in seiner Macht hat; und in dem Worte Gesetz klingt noch vernehmlich der gebietende und Gehorsam fordernde Wille durch [...]".15 Hier hat ein bedeutender Naturwissenschaftler Grundbegriffe der Physik und der Naturphilosophie seiner Zeit ausgelegt am Leitfaden des menschlichen Leibes, der seinerseits als Manifestation „unseres Willens" genommen wird, so dass die Gesetzlichkeiten der mechanischen Naturerklärung in doppelter Weise, in der Annahme von Kräften und in der Unterstellung von Gesetzen, von der Idee eines machthabenden, gebietenden und Gehorsam fordernden Willens bestimmt sind. Zöllner gründet also diese zuhöchst wissenschaftliche Weise des Begreifens und Verstehens der Natur und die Zurückführung ihres Geschehens auf Gesetze, durch die es notwendig gemacht wird, in der metaphysischen Konzeption eines Willens (sc. der in der Natur walten soll, weil er das Wesen des naturverstehenden Menschen ausmacht), welche Konzeption leicht als die Schopenhauers identifiziert
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werden kann. Was Nietzsche dem hinzufügt, ist eine Theorie der Interpretation im Dienste des Willens zur Macht. Und zu ihr gehört die Unterscheidung von Text und Interpretation und die Hervorhebung des interpretativen Charakters einer von Naturgesetzen beherrschten Welt. Aber nicht nur die Gesetzlichkeit der Natur, auch die wichtigsten begrifflichen Unterscheidungen der Natur- und Objekterkenntnis überhaupt, wie „Zweck und Mittel", „Ursache und Wirkung", „Subjekt und Objekt", „Thun und Leiden" sowie „Ding an sich und Erscheinung" werden von Nietzsche als, Ausdeutung[en] [...] im Sinne des Willens zur Macht" (KSA 12, 139) angesehen, deren Notwendigkeit für den erkennenden Menschen in ihrer lebenserhaltenden Funktion gründet. Das gilt auch für die Vorstellung von der Determiniertheit des Willens durch „mechanische Nothwendigkeit" (KSA 12, 383). Sie ist „kein Thatbestand: wir erst haben sie in das Geschehen hinein interpretirt" (ebd.). Diese Interpretation ist eine mehrstufige. Zunächst wird „nach dem Vorbilde des Subjektes die Dinglichkeit erfunden und in den Sensationen-Wirrwarr hineininterpretirt" (ebd.). Der Vorstellende überträgt also die Vorstellung von sich selbst als einem „wirkenden Subjekt" oder einem „Thäter" auf die äußeren Phänomene, deutet solche „Thäter" in die Naturerscheinungen hinein und macht sie in diesem Sinne zu Dingen. Dadurch entsteht dann „der Anschein, daß alles Geschehn die Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Zwang ist - ausgeübt [...] wiederum von einem ,Thäter'". Der Determinismus beruht also auf einer zweistufigen Verdinglichung, der gemäß das vorstellende Subjekt sich selbst objektiviert und sich sodann als einen Täter deutet, auf den ein anderer Täter wirkt und das eigene Handeln bestimmt. „Glauben wir nicht mehr an das wirkende Subjekt, so fallt auch der Glaube an wirkende Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen" (ebd.). Mit dieser Verschärfung der These von der Abhängigkeit ontologischer Grundbegriffe von einer Selbstinterpretation des Subjektes, die besagt, dass der Subjekt- und damit auch der Dingbegriff aus dem Bedürfnis der Deutung eines Geschehens, sc. des konstanten Benehmens eines „Quantum Kraft" (KSA 12, 383) stammt, das als notwendige Folgeerscheinung einer zugrundeliegenden, handelnden Substanz, nämlich des Willens ausgelegt wird, ist auch die Schopenhauersche Basis des Gebrauches von Kraft- und Gesetzesbegriffen in der Naturwissenschaft unterminiert. Der Begriff des Subjekts nämlich verdankt, wie alle Begriffe, seine Existenz einer Interpretation. Die Vorstellung des „Subjekts" entsteht so, dass etwas „von uns aus interpretiert [wird], so daß das Ich als Subjekt gilt, als Ursache alles Thuns, als Thäter" (KSA 12, 391). Die Selbstinterpretation des Ich ist also der Ursprungsort aller Kategorien oder, wie Nietzsche sagt, der „logisch-metaphysischen Postulate" (ebd.). Der Glaube an „die Vernunft", d.h. der Glaube an die Geltung der Vernunftkategorien lässt sich also
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psychologisch ableiten. Dieser „Glaube an Substanz, Accidens, Attribut usw. hat seine Überzeugungskraft in der Gewohnheit, all unser Thun als Folge unseres Willens zu betrachten: - so daß das Ich, als Substanz, nicht eingeht in die Vielheit der Veränderung" (ebd.). Diese Gewohnheit ist es, die auch der Schopenhauerschen Vorstellung von dem menschlichen Willen als dem Menschen an sich und dem inneren Analogon zum Ding an sich der Erscheinungswelt zugrundeliegt. „Aber" - wendet Nietzsche nun ein - „es giebt gar keinen Willen", d.h. die bei dieser Ausdeutung unserer selbst unterstellte Identität und Beharrlichkeit einer wirkenden Substanz in allen unseren Veränderungen ist keine beobachtbare Tatsache der inneren Erfahrung. Damit entfallt aber auch die empirische Basis für die Analogie zwischen dem, was der Mensch an sich ist, sc. dem Willen, und dem Ansich der Erscheinungswelt: „Wir haben gar keine Kategorien, um eine ,Welt an sich' von einer Welt als Erscheinung scheiden zu dürfen" (ebd.). Denn die Kategorien, in denen wir die empirische Welt auslegen, sind es auch, die wir als Vernunftkategorien von den Dingen an sich gebrauchen. Lassen sich aber diese Kategorien als bloße Fiktionen von Konstanten in der Ausdeutung unablässigen Wechsels äußerer und innerer Erscheinungen erweisen, so entfällt a fortiori ihre Anwendbarkeit auf ein angebliches Ansich der Erscheinungen wie dem Weltwillen. Ja, der Unterschied von Erscheinung und Ding an sich ist selbst eine bloße Fiktion des deutenden Verstandes. „Es fällt", sagt Nietzsche nämlich, „endlich auch das ,Ding an sich': weil dies im Grunde die Conception eines ,Subjekts an sich' ist" (KSA 12, 384). Ein solches Subjekt, das dann als Objekt an sich gedacht werden könnte, gibt es aber nicht: „wir begriffen, daß das Subjekt fingiert ist" (ebd.). Damit ist auch der Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung unhaltbar und das heißt, es fällt auch der Begriff der „Erscheinung" qua Erscheinung eines Dings an sich dahin. Wenn Nietzsche also seinerseits vom „Willen zur Macht" redet, so kann dieser erstens nicht wie der „Wille zum Leben" Schopenhauers dem Menschen und der Erscheinungswelt als Ding an sich zugrundeliegen. Der Wille zur Macht muss also die einzige erfahrbare Wirklichkeit sein, die nicht als die bloße Erscheinung eines nicht-sinnlichen Dinges an sich abgewertet werden darf. Zweitens aber kann dieser „Wille zur Macht" nach Nietzsches Selbstverständnis überhaupt kein metaphysischer Begriff, sondern nur ein Name für die allein existierende Welt selbst sein, ein Name, der eine Interpretation alles Geschehens hinsichtlich einer einheitlichen Grundstruktur der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit des Werdens zum Ausdruck bringt. Es ist also auch keine „Tatsache", dass diese Welt Wille zur Macht ist. „Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt [und behauptet:] ,es giebt nur Thatsachen', würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ,an sich' feststellen" (KSA 12,315).
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So wie es kein Ding an sich jenseits der Phänomene gibt - und aus demselben Grunde gibt es keine Erfahrungstatsachen „an sich", wie sie der Positivismus annimmt. Die Phänomene sind nur als von uns ausgelegte Dinge einer Erfahrungswelt, in der Substanzen in Wechselwirkung aufeinander stehen und so Ereignisse verursachen, zu denen auch unsere Wahrnehmungen von ihnen gehören, auf die wir unsere Urteile über vorgebliche Tatsachen gründen. Nimmt man diese Abhängigkeit der Tatsachen von ihrer Wahrgenommenheit und Interpretiertheit durch ein erkennendes Subjekt nicht radikal genug, so kann man die Unmöglichkeit eines Faktums an sich durch den Satz zum Ausdruck bringen: „Es ist alles subjektiv" (ebd.). Aber Nietzsche ist weit entfernt davon, diesen Satz, der eine andere Version des Positivismus ausdrückt, seinerseits zu übernehmen. Vielmehr sagt er von diesem Satz: „schon das ist Auslegung, das , Subjekt' ist nichts Gegebenes" (ebd.). Es ist also auch keine bloße Tatsache, dass äußere Tatsachen nur für ein erkennendes Subjekt gegeben und in diesem Sinne subjektiv sind. Denn das sogenannte Subjekt ist seinerseits und sogar vorgängig „etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes", wie Nietzsche sagt. Dass die Auslegung von Phänomenen ein auslegendes Subjekt erfordert, scheint eine plausible Hypothese zu sein, aber nur solange die Auslegung nicht auf das Auslegungsgeschehen selbst angewandt wird. Denn dann wird erkennbar, dass das interpretierende Subjekt seine Existenz einer Auslegung des Auslegens als einer Funktion eines hinter dem Interpretieren stehenden und zu ihm hinzukommenden Interpreten verdankt, also seinerseits keine an sich seiende Tatsache ist, sondern eine Fiktion. „Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese" (ebd.). Somit ist es für eine konsequente Theorie der Interpretation unumgänglich, sie vom Objektivismus eines sich selbst nicht verstehenden Positivismus und vom Subjektivismus eines sich absolut setzenden Idealismus gleich entfernt zu halten. Die Auslegung bzw. Deutung der Welt ist nach Nietzsche vielmehr so zu denken, dass diese Welt durch sie keinen jenseitigen Sinn erhält, sc. als Erscheinung eines nicht erscheinenden Dinges an sich, sondern je nach Deutungsperspektive „unzählige Sinne" hat; daher spricht Nietzsche von seinem „Perspektivismus" (ebd.). Und ferner ist das, was die Welt auslegt und die Perspektive auf sie vorgibt, nach Nietzsche kein einheitliches Subjekt, sondern eine Vielfalt von Trieben in ihrem Für und Wider, die übereinander Herr werden und einander ihre Perspektive als Norm aufzwingen wollen und nur in dem Sinne „unsre Triebe" sind, als sie zusammen den Menschen als ein hierarchisches und instabiles „Gemeinwesen" ausmachen, das fortwährend aus diesem inneren Kampfe um Herrschaft resultiert. Entscheidend für Nietzsches hermeneutische Philosophie ist es aber, dass das Interpretationsgeschehen nicht fundiert sein soll in einer Ontologie, sondern seine Autonomie aus der Selbstbezüglichkeit erhalten soll: Interpretation ist immer schon Interpretation der Interpretation im Verhältnis zur „Welt".
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Es ist nicht zu übersehen, dass Nietzsches Konzeption der Interpretation an die Stelle dessen tritt, was in der philosophischen Tradition Erkenntnis hieß. Wenn es auch plausibel zu sein scheint, den Glauben an die Gesetzlichkeit der Naturvorgänge als Folge einer bestimmten Interpretation der Natur zu erweisen, so scheint dieser Weg doch bei bestimmten Naturerkenntnissen unbeschreitbar zu sein. Ich nenne drei einfache Beispiele von Erkenntnissen über die Natur, die heute zum Schulwissen gehören, obwohl sie zur Zeit ihrer ersten Gewinnung als epochemachende Entdeckungen der größten Naturwissenschaftler ihrer Epoche angesehen wurden. Dass die Fallhöhe frei fallender Körper zu jedem gegebenen Zeitpunkt proportional zum Quadrat ihrer Fallzeit ist (Galileis s = g/212), dass weißes Licht eine Zusammensetzung aus Strahlen von sieben verschiedenen Spektralfarben ist (Newton), dass Wasser eine Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff ist (Lavoisier: H 2 0) - kann man diese Behauptungen, die allgemein als wahr gelten, als Interpretationen fallender Körper, des weißen Lichts und des Wassers ansehen? Steht es jedem frei, solche Sätze für wahr oder falsch zu halten und kann man sie durch beliebige andere Interpretationen der Körper, des Lichts, des Wassers ersetzen, je nach der gewählten Perspektive? Wenn solche Erkenntnisse aber Interpretationen im Dienste des Willens zur Macht sein sollten, die zur Erhaltung und Steigerung des interpretierenden Lebens nützlich sind, beruhte dann ihre lebensfördemde Nützlichkeit nicht gerade darauf, dass sie mit der Natur übereinstimmen, anstatt dass umgekehrt ihr für wahr Gehaltenwerden bloß auf ihrer Lebensdienlichkeit beruhte? Ich will diese Fragen hier nicht weiter verfolgen, sondern nur zum Anlass nehmen, den Nietzscheschen Begriffen von Erkenntnis und Wahrheit ein wenig weiter nachzugehen, d.h. seiner Konzeption von Logik und Erkenntnislehre sowie seiner Lebensphilosophie, nach welcher das Erkennen eine Tätigkeit des Lebendigen oder allgemein des Natürlichen ist, und d.h. eine Funktion des Willens zur Macht. Unter Erkenntnis versteht Nietzsche wie die Tradition seit Aristoteles ein Urteil, das „wirklich die Wahrheit" trifft (KSA 12, 390), oder ein wahres Urteil über etwas Wirkliches, wobei das Wirkliche auch das ,,Αη-sich-Wahre" genannt werden kann (ebd.). Dem traditionellen Begriff der Erkenntnis liegt also ein Begriff des Urteils und eine Korrespondenztheorie der Wahrheit zugrunde. In einer Auseinandersetzung mit Kant hält Nietzsche dann allerdings dem Kantischen Satz „Erkenntniß ist Urtheil!" entgegen: „Aber Urtheil ist ein Glaube, daß etwas so und so ist! Und nicht Erkenntniß!" (KSA 12,264). Der Einwand besagt wohl, dass im Urteil als solchen nur der Glaube an das Bestimmtsein einer Sache durch ein Prädikat ausgesagt wird, also die geglaubte Wahrheit oder Übereinstimmung mit der Sache im ist der Kopula zum Ausdruck kommt, dass aber eine Erkenntnis der Sache, wie sie wirklich ist, hier nur beansprucht wird und nicht
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selbst durch die logische Form eines Urteils garantiert sein kann, denn sonst wäre ja jedes Urteil als solches schon wahr oder eine Erkenntnis von wirklichen Sachverhalten. Dagegen setzt Nietzsche seine Kritik der (kategorischen) Urteilsform: „der Glaube, daß etwas so und so sei, das Wesen des Urtheils, ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich gleich sein" (KSA 12, 106). Der im Wesen des Urteils zum Ausdruck gebrachte „Wille zur Gleichheit" ist also ein Wille, einen „Sinneneindruck", für den das Subjekt des Urteils steht, unter eine schon „vorhandene Reihe", d.h. als Fall des Prädikats als eines Zeichens für eine Klasse von Sinneseindrücken, zu subsumieren, analog zur Assimilation des Unorganischen durch einen lebenden Körper (ebd.). Der Wille zur logischen Gleichheit ist somit eine Erscheinungsform des Willens zur Macht, dessen Befriedigung die Fiktion identischer Fälle erfordert. Deshalb kann Nietzsche sagen: „der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens vorgenommen ist" (KSA 11, 634), wobei die Fälschung in der Gleich- bzw. Identischsetzung des mehr oder minder Ungleichen besteht. Bevor geurteilt wird, muss also ein Prozess der Assimilation vollzogen sein (KSA 11, 635) oder, wie Nietzsche auch sagen kann, „bevor [...] ,gedacht' wurde, muß schon gedichtet worden sein" (KSA 11,636). Ähnlich der Rückführung des Urteils auf einen fingierenden und damit verfälschenden Willen, dem es also gerade nicht auf Erkenntnis und Wahrheit ankommt, verfährt Nietzsche mit den Begriffen und den Worten der Sprache. Von daher ist seine paradoxe Definition der Erkenntnis zu verstehen, die sich in bewussten Gegensatz zu dem stellt, was vordem „Erkenntnis" hieß: „Erkenntniß ist Fälschung des Vielartigen und Unzählbaren zum Gleichen, Ähnlichen, Abzählbaren" (KSA 11, 506). Mit anderen Worten: Erkenntnis im Sinne der logischen Tradition ist unmöglich, eben darum weil der Wille zur Gleichheit im Widerspruch zu der Diversität der Wirklichkeit steht. Eine weitere Voraussetzung von Erkenntnis lässt sich anhand des letzten der oben genannten Beispiele erläutern. Wenn es eine Erkenntnis sein soll, dass Wasser eine Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff ist, dann müsste sich z.B. der Begriff des Sauerstoffs eindeutig auf ein identisch bleibendes Wesen beziehen lassen, es müsste sich also definieren lassen, welche Qualitäten den Sauerstoff ausmachen und welches etwa die Qualitäten des Wassers sind. Diese Bedingung aber ist nach Nietzsche unerfüllbar. Denn, so sagt er, „in keinem Augenblick ist Sauerstoff genau dasselbe wie im vorigen, sondern etwas Neues: wenn auch diese Neuheit zu fein für alle Messungen ist" (KSA 9, 499). Der „ewige Fluß aller Dinge" (ebd.), die Permanenz der Veränderung ist es also, die in allem begrifflichen Denken zum beständigen Sein verfälscht oder die einfach weggelassen wird und die ihrerseits Erkenntnis des Wirklichen und d.h. Wahrheit a priori ausschließt.
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Damit ist hinreichend klargeworden, warum Nietzsche sagen kann: ^Erkennen' [in Anführungszeichen!] [ist] selbst eine widerspruchsvolle Vorstellung" (KSA 12, 189), woraus er die positive Konsequenz zieht: „Was kann allein Erkenntniß sein? - ,Auslegung'" (KSA 12, 104). Weil es aus den angegebenen Gründen keine Erkenntnis und d.h. keine Wahrheit des Denkens in Begriffen und Urteilen geben kann, so ist alle angebliche Erkenntnis nur Interpretation. Und selbst das angeblich vernünftige Denken, das wir in der Logik rein für sich betrachten und dann auch zur Erkenntnis der Dinge anwenden, ist ein Interpretieren nach einem sprachlichen Schema (wie Subjekt und Prädikat), „das wir nicht abwerfen können" (KSA 12, 194). Von Seiten des erkennenden Subjekts ist damit Nietzsches Reduktion aller Erkenntnis auf Interpretation im wesentlichen vollständig dargestellt. Aber seine Theorie der Auslegung hat auch ein lebensphilosophisches Fundament, sofern nämlich das Interpretieren eine wesentliche Verhaltensweise des organischen Prozesses als solchen ist. Damit ist aber „Interpretation" nicht nur ein erkenntnistheoretischer, sondern auch ein naturphilosophischer Fundamentalbegriff Nietzsches. Der Gegenstand der Interpretation ist also seinerseits, sofern er ein Organismus ist, ein interpretierendes Wesen und er wird interpretiert als interpretierend. An der Stelle des Subjekts und Objekts der Interpretation steht aber, wie sich zeigen wird, dieselbe in sich mannigfaltige Wirklichkeit, der Wille zur Macht. Dass das Interpretieren als ein Gleichmachen des Ungleichen sein Analogon in den Assimilationsprozessen hat, durch die ein organischer Körper sich Unorganisches aneignet, wurde schon oben gesagt (vgl. KSA 12, 106). Solche Analoga sind relativ vage, wenn man vom menschlichen Interpretieren als einem Verstehen als ... ausgeht, zu dem dann nach Nietzsche ein „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfalschen" etc. gehört (KSA 5, 400). Aber schon mit der organischen Welt überhaupt, im Unterschied zur unorganischen, ist „eine perspektivische Sphäre" als eine subjektspezifische Sphäre möglicher „Erkennbarkeit der Welt" gegeben (KSA 11, 701). Von hier aus kann die ««organische Welt als eine solche beschrieben werden, der „die perspektivische Beschränktheit" und damit auch der Irrtum „fehlt" (KSA 12,36). Demgegenüber ist mit der perspektivischen Sphäre des Organischen zugleich ein „interpretierendes Wesen" gesetzt und damit der „interpretative Charakter alles Geschehens", sofern nämlich Ereignisse durch organische Wesen als „eine Gruppe von Erscheinungen ausgelesen und zusammengefaßt" werden (KSA 12, 38). Deshalb gibt es nach Nietzsche „kein Ereigniß an sich" (ebd.). So kann er das Spezifische der organischen Wesen gegenüber den unorganischen wie folgt definieren: „das Wesentliche des organischen Wesens ist eine neue Auslegung des Geschehens, die perspektivische innere Vielheit, welche selber ein Geschehen
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ist" (KSA 12,41). Und da der Wille zur Macht die eigentliche Wirklichkeit auch und vor allem der organischen Wesen bezeichnet, so kann man den Bildungsprozess von Organen, der fur diese Wesen konstitutiv ist, als Folge eines Vorganges ansehen, in dem Machtverschiedenheiten dadurch zur Empfindung ihrer selbst gelangen, dass „ein wachsen-wollendes Etwas [...] jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt" (KSA 12, 140). Deshalb kann man abgekürzt sagen: „Der Wille zur Macht interpretirt" (KSA 12,139), und d.h. dass die wechselseitige Interpretation der organischen Wesen in Wahrheit ein „Mittel" ist, „um Herr über etwas zu werden". Der organische Prozess qua Bildungsprozess von Organen setzt also ein „fortwährendes Interpretieren" im Dienste des Herrschenwollens voraus (KSA 12,140). Diese teleologische Konzeption der Interpretation und darum auch der Organbildung als Mittel zum Zwecke der Herrschaft beruht bei Nietzsche ihrerseits auf einem Anthropomorphismus der Interpretation, die ein Erbe der Schopenhauerschen Willensmetaphysik, wenn auch in einer charakteristisch abgewandelten Gestalt, ist. Aber statt des Willens in der Natur als eines metaphysischen Substrats dieser Natur und an Stelle des Interpreten als eines vom Vorgang des Interpretierens verschiedenen Subjekts setzt Nietzsche nun den Willen zur Macht in der organischen Natur, also deren eigentliche Wirklichkeit, als dasjenige an, dessen „Form" das „Interpretieren selbst" ist. Dieses Interpretieren wird also jetzt als etwas behauptet, das subjektlos wie der Wille zur Macht selbst „Dasein" hat (KSA 12,140). Nietzsche fügt hinzu, dass dieses Dasein des Interpretierens selbst ein Prozess oder ein Werden ist, nämlich ein „Affekt" des selbst prozessualen und ewigen Willens zur Macht (ebd.). Entsprechend kann der Mensch von Nietzsche bestimmt werden als „eine Gattung von Interpretation" oder eine „Perspektive von Auslegung" im ganzen „System der Interpretation", welches die organische Natur qua Wille zur Macht ist (KSA 12, 251). Damit ist die naturphilosophische Absicherung der Interpretation in der Wirklichkeit der Welt zu ihrem Abschluss gekommen. Denn indem Nietzsche das Interpretieren als Form und Affekt des Willens zur Macht denkt, begründet er in einer an die Schellingsche Naturphilosophie erinnernden Weise eine Art von Idealrealismus, nach welchem die Welt ihre eigene Interpretation immerfort erzeugt, wodurch sie auf reale Weise ihrer eigenen Interpretation entspricht. Die Welt kann nicht erkannt, sondern nur interpretiert werden, aber indem sie in allen ihren Teilen und Phasen als Wille zur Macht ausgelegt wird, der jeweils zum Zwecke seiner Herrschaft über anderen Willen zur Macht der Interpretation bedarf, kann Nietzsche die wahrheitslose Auslegung als im Wesen der interpretierten Welt selbst begründet ansehen. Dass diese Interpretation ihrerseits nur eine unter unendlich vielen andern und ohne jeden begründbaren Wahrheitsanspruch ist, kann innerhalb dieser Art von hermeneutischer Philosophie keinen Einwand gegen sie darstellen.
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Trotz dieser naturphilosophischen Seite von Nietzsches Theorie der Interpretation wäre es verfehlt, sie als eine Repräsentantin des philosophischen Naturalismus anzusehen. Nietzsches Kritik des Denkens und Erkennens besagt nicht, dass sie sich auf Naturvorgänge in der Weise reduzieren ließen, dass ihre Spezifika gegenüber Vorgängen in anorganischen Naturwesen und gegenüber dem übrigen Lebendigen geleugnet würden. Vielmehr sind Nietzsches Aussagen über die Natur allenthalben vom Bewusstsein der Idealität aller Theoriebildung und der Größe ihrer Begründungsprobleme getragen. Nietzsche ist gewiss kein naiver Realist in der Erkenntnistheorie. Auf der anderen Seite hat er den transzendentalen Idealismus Kants, auch in seiner naturalisierten Schopenhauerschen Version, in seinen späteren Schriften und Nachlassaufzeichnungen scharf kritisiert und verworfen. Gerade die skeptischen Implikationen seiner Theorie der Interpretation, die Verwerfung aller Erkenntnisansprüche und damit von Wahrheit und Wissenschaft, beruhen auf einer Auffassung von Weltauslegung, deren Grundzüge eindeutig der Kantischen Theorie der Erkenntnis a priori von Gegenständen möglicher Erfahrung entlehnt sind, aber ihr nur wie eine Karikatur entsprechen. Wenn Nietzsche sagt, „der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder als was er selbst in sie hineingesteckt hat: das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken - Kunst, Religion, Liebe, Stolz" (KSA 12, 154), so handelt es sich um einen Satz einer anthropologisch fundierten Wissenschaftstheorie und zugleich um ein gebrochenes Echo eines Kantischen Satzes über die Gesetzlichkeit der Natur aus der schon von Schopenhauer bevorzugten 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit [...] an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht oder die Natur unseres Gemüths ursprünglich hineingelegt" (A 125). Nietzsche hat den in diesem Satz implizierten transzendentalen Idealismus in der Begründung der Naturerkenntnis, wie gesagt, verworfen, weil er ihm gerade einen Beweis für die Unmöglichkeit von Erkenntnis und Wahrheit zu enthalten schien. So ist seine Theorie der nicht a priori begründbaren und zugleich selbstbezüglichen Interpretation der Welt der konsequent beschrittene Ausweg aus dem Dilemma von Naturalismus und Idealismus. Sie ist eine auf radikale und ausschließliche Weise hermeneutische Philosophie.
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Dilthey, Wilhelm, „Die Entstehung der Hermeneutik", in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, Stuttgart, Göttingen 1965, S. 317-338, hier S. 332 f. Bollnow, Otto Friedrich, „Festrede zu Wilhelm Diltheys 150 Geburtstag", in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 2 (1984), S. 28-50, S. 49. Gadamer, Hans-Georg, „Hermeneutik als praktische Philosophie", in: Kurt Salamun (Hg.), Was ist Philosophie? Neue Texte zu ihrem Selbstverständnis, Tübingen 1980, S. 108-126, hier S. 126. Bollnow, Otto Friedrich, „Hermeneutische Philosophie", in: Kurt Salamun (Hg.), Was ist Philosophie? A.a.O., S. 92-107, hier S. 94. Pöggeler, Otto, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg, München 1983, S. 265. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen I21972, § 7 C, S. 37. Pöggeler, Otto, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 339. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, a.a.O., § 7 C, S. 38. Heidegger, Martin, Ontotogie (Hermeneutik der Faktizität), in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 63, Frankfurt am Main 1988, S. 14, vgl. schon 13. A.a.O., S. 15. Vgl. a.a.O., S. 17. A.a.O., S. 18. Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Gorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980 (im Folgenden im Text zitiert als „KSA" mit Angabe der Band- und Seitenzahl), Bd. 5, S. 37. Zöllner, Johann Carl Friedrich, Prinzipien der elektrodynamischen Theorie der Materie, Bd. 1, Leipzig 1876. Zitiert nach: Alwin Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952, S. 106.
Beatrix Himmelmann
Kant, Nietzsche und die Aufklärung Wie zu den meisten anderen, die ihn mit ihren intellektuellen oder künstlerischen Leistungen herausfordern, steht Nietzsche auch zu Immanuel Kant in einem tief ambivalenten Verhältnis. Auf der einen Seite finden wir Äußerungen der Bewunderung, die Nietzsche Mut und Konsequenz des Kantischen Denkens zollt. Und zweifellos zehrt sein eigenes Philosophieren in mancher Hinsicht von Kants Anstößen und kann als Unternehmen der Radikalisierung Kantischer Einsichten verstanden werden. Auf der anderen Seite treffen wir auf scharfe Polemik und beißenden Spott, mit denen Nietzsche Kant und dessen Philosophie überzieht. Nietzsches Werk lässt sich auch, und das hat er selbst oft genug betont, als Frucht radikaler Kritik an den Positionen des „Chinesen von Königsberg"1 begreifen. Im Folgenden möchte ich Nietzsches Stellung zum Erbe Kants in ihrer Zwiespältigkeit beleuchten.
I. Nietzsche, der als Kritiker der Metaphysik Schule gemacht hat, beginnt seine philosophischen Expeditionen interessanterweise als Vertreter einer „tragischen Metaphysik" und als Bewunderer Kants. Von der „ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant's" ist in der Geburt der Tragödie die Rede.2 Zusammen mit Schopenhauer, der sich selbst als seinen Nachfolger und Vollender sieht, ist Kant der Einschätzung des frühen Nietzsche nach der „schwerste Sieg" gelungen: der Sieg nämlich über den sokratischen Optimismus. Mit diesem Etikett belegt Nietzsche die Vorstellung von einer im Prinzip bis zum Grund der Dinge vorstoßenden Erkenntnis der Welt. Eine solchermaßen eindringliche Erkenntnis wäre geeignet, die Kluft zwischen Sein und Denken tendenziell zu schließen, so wie es Parmenides vorgeschwebt hatte. Für die menschliche Praxis ergäben sich bemerkenswerte Konsequenzen, auf die Nietzsche in der Tragödienschrift besonders hinweist. Angenommen, unser Blick reichte wirklich „in die tiefsten Abgründe des Seins", so liegt, meint Nietzsche, die Idee nahe, „dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei".3 Mit diesem „Wahn", der mit Sokrates in die Welt gekommen sein soll, hat Kant in den
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Augen Nietzsches Schluss gemacht. Es sind bloße Erscheinungen, denen wir uns gegenübersehen. Über die Abgründe des Seins, zu denen wir nicht vordringen, die wir allenfalls schaudernd erahnen, schlagen wir die Brücken unserer eigenen Konstitutionsleistungen. Als Erkennende und Handelnde mögen wir uns über die ,wahren' Verhältnisse der Dinge beständig irren; über diese fur uns nicht zu neutralisierende conditio humana können wir uns nun aber absichtsvoll und zu unserem Besten hinwegtäuschen, indem wir Erscheinungen für die Wirklichkeit nehmen. So sind wir im Verständnis Nietzsches schon als Erkennende, die sich als bloße Rezipienten der Welt wähnen, schöpferisch und in diesem Sinne allesamt Künstler. Das gezeigt zu haben, ist für den jungen Nietzsche ein großes Verdienst Kants, das Schopenhauer wach hält. Die „tragische Metaphysik",4 die der frühe Nietzsche entwirft, versucht dem Menschen in seiner Janusköpfigkeit, in seinem dionysisch-apollinischen Doppelwesen gerecht zu werden. Die - dionysisch präsente - Abgründigkeit der Welt macht ihn leiden und ihre Unergründlichkeit erregt sein Grauen. Der - apollinisch wirksame - Schöpfertrieb lässt ihn im Gegenzug „gleichsam auf fliessendem Wasser", wie es im Essay über Wahrheit und Lüge heißt,5 einen Kosmos der Formen errichten. Der Mensch ist ein „gewaltiges Baugenie",6 das sich noch im an sich Bodenlosen zu halten versteht. Dass es sich derart verhält mit dem Menschen, das hat Kant Nietzsche zufolge als erster entdeckt und auszusprechen gewagt. Es ist leicht zu sehen, dass es der Kant seines „Erziehers" Schopenhauer ist, der den jungen Nietzsche beeindruckt. Als ob Kant eine ausdrückliche „Widerlegung des Idealismus", die er seiner Kritik der reinen Vernunft in der zweiten Auflage hinzufügte, niemals geschrieben hätte, rückt Nietzsche als gelehriger Schüler Schopenhauers Kant in die Position des dogmatischen Idealisten nach der Art Berkeleys.7 Die Welt ist danach nichts als ein Traum, dessen feingesponnenes und für Wirklichkeit ausgegebenes Gewebe den Menschen als Künstler höchsten Grades erweist. Ab und zu erwacht er aus diesem Traum - und das Versinken der vertrauten Gestalten gereicht ihm zwar zum Schaudern, jedoch in eins damit zur dionysisch gefärbten ästhetischen Lust.
II. Mit seiner Abwendung von den metaphysischen Versuchen der frühen Jahre wird Nietzsches Haltung zu Kant prekärer und gewinnt an Konfliktträchtigkeit und Polemik. Dabei ist es ein im Anschluss an Kant sich stellendes Problem, mit dem Nietzsche nach wie vor und nahezu lebenslang ringt und für das er die frühe Lösung der ästhetischen Metaphysik nun nicht mehr für tauglich hält: das von ihm in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung so genannte Problem der
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„Verzweiflung an der Wahrheit". Mit dieser Verzweiflung soll Nietzsche zufolge jeder Denker zu ringen haben, „der von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt" - vorausgesetzt freilich, „dass er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine". 8 Als Beispiel fuhrt Nietzsche Kleist an, aus dessen Briefen an die Verlobte er einige einschlägige Passagen zitiert: ,„ Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist's das Letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich.'" 9 Das Kleistsche Dilemma ist auch das Nietzsches. Anstatt Philosophie wie Kant konsequent als Selbstauslegung des erkennenden, handelnden, fühlenden Subjekts und seiner Ansprüche zu betreiben und die Welt der Anderen und des Anderen von ihm her in den Blick zu nehmen, ist Nietzsche immer wieder von Versuchen angezogen, die als Umkehrungen der Kantischen kopernikanischen Wende zu beschreiben sind. Der Gedanke an eine Wahrheit über die Dinge wird ihm wieder interessant, die von den besonderen Bedingungen und Bedürfnissen des erkennenden Menschen ablösbar scheint und ganz unabhängig von ihm bestehen soll. Als ob der Mensch sich außerhalb seiner selbst stellen und gleichsam neben sich treten könnte und aus dieser Position eines „view from nowhere" die Welt und sich selbst so, wie sie an sich sind, vor die Augen bekäme. Im schon erwähnten berühmten Aufsatz über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ist es genau dieser Begriff einer Wahrheit, der die Welt in ihrer von allen subjektspezifischen Bedingungen der Erkenntnis unverfälschten Qualität zeigen würde, welcher als unerfüllbare Sehnsucht im Hintergrund der Überlegungen steht und die Melancholie der Rede von der angeblich bloß metaphorisch präsenten Wirklichkeit erklärt, wenn auch nicht schon plausibel macht. Weil die Sehnsucht nach der „nackten", aller Zutaten spezifischer Ausstattung und Konstitution des Erkenntnissubjekts entkleideten Wahrheit absurd ist, deshalb ist der dem Menschen eigene „Trieb" zu ebensolcher Wahrheit10 nach Nietzsche so quälend, weil ewig irreführend und ewig aussichtslos. Und ein Ausweichen in die heute gerade von den Anhängern Nietzsches propagierte Position eines bequemen „Skepticismus und Relativismus" lehnt er entschieden ab. Sie wäre Ergebnis einer von ihm mit Verachtung betrachteten „populäre(n) Wirkung" Kants, der die „thätigsten und edelsten Geiste(r)" wie Kleist und natürlich: wie Nietzsche selbst niemals beipflichten könnten." Eine „Bändigung des Erkenntnißtriebes",12 den er in Sokrates beispielhaft und in der Art eines Instinktes groß und wirksam sieht, meinte der von Wagner und Schopenhauer beeindruckte junge Nietzsche mit der Konzeption seiner ästhetischen Metaphysik gefunden zu haben. Sie sollte die unserem „Erkenntnißtrieb"
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eingeborene Vergeblichkeit, sein Ziel je zu erreichen, kompensieren, indem sie den Spieß umdreht: Schein und Täuschung erhalten metaphysische Dignität und einen einzigartigen Rang. „Nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt", lautet die vielzitierte Formel aus der Geburt der Tragödie.13 Weil Nietzsche freilich an dem Problem, das der Mensch sich selbst in seiner Welt ist, als Denker interessiert bleibt, deshalb geht er nicht den Weg, den er im Vorwort zur Neuauflage der Tragödienschrift 1886 andeutet: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' - und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte [,..]!"14 Vorsichtiger und mit Blick auf Nietzsche als Verfasser der Zarathustra-Dichiung formuliert: Er schlägt fortan nicht diesen Weg als den einzig zu erprobenden ein. Er wagt sich auch auf eine ganz andere Reise, die ihn als widerborstigen und eigensinnigen Weggefahrten Kants erweist: Als radikaler Aufklärer versucht Nietzsche, die Schalen jener unbefragten Gewohnheiten, bequemen Vorurteile, tröstlichen Illusionen sichtbar zu machen und abzutragen, die uns die bisweilen bittere Wahrheit über die Dinge und vor allem über uns selbst verhüllen.
III. Zu diesen neuen Ufern bricht Nietzsche spätestens mit seinem ersten Aphorismen-Buch Menschliches, Allzumenschliches auf. Anknüpfen kann er dabei an das Pathos von Entwürfen, wie er sie schon als Schüler zum Beispiel in dem bemerkenswerten Aufsatz überFatum und Geschichte verfasst hatte. Mit „freiem, unbefangenen Blick" - sagt er dort - möchte er die Dinge und insbesondere „die christliche Lehre und Kirchengeschichte" anschauen und würde wohl „manche den allgemeinen Ideen widerstrebende Ansichten aussprechen müssen". „Aber", so die Klage des jungen Nietzsche, „von unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurtheile, durch die Eindrücke unserer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unseres Geistes gehemmt und in der Bildung unseres Temperaments bestimmt, glauben wir es fast als Vergehn betrachten zu müssen, wenn wir einen freieren Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches und der Zeit angemessenes Urtheil über Religion und Christentum fällen zu können". „Ein solcher Versuch", meint der noch nicht achtzehnjährige Nietzsche und erweist sich mit Blick auf das eigene Engagement als erstaunlich hellsichtig, „ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens".15 Es ist die Frage nach Aufklärung des Menschen, hier vor allem bezogen auf den Umgang mit Religion und Christentum, die Nietzsche aufwirft. Aufklärung, so hatte Kant sie definiert, ist „Befreiung von Vörurtheilen".16 Den „Hauptpunkt"
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der Aufklärung sieht Kant, ganz analog zu Nietzsches Überlegungen, „vorzüglich in Religionssachen". Denn auf keinem anderen Gebiet menschlicher Kultur entfalteten „unsere Beherrscher" ein ähnlich großes Interesse, „den Vormund über ihre Unterthanen zu spielen". Überdies müsse die Unmündigkeit in Religionsangelegenheiten als „schädlichste" und „entehrendste unter allen" gelten.17 Vorurteilen zu folgen, wovon Aufklärung uns befreien soll, aber bedeutet: auf die eigene Beurteilung der Dinge zu verzichten. Darin liegt eine „Heteronomie der Vernunft".18 Aufgeklärt ist demgemäß, wer selbst denkt und also urteilt. „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Das ist der vielzitierte „Wahlspruch der Aufklärung", wie Kant ihn formuliert.19 Es ist in Kants Augen nicht so sehr eine Schwäche individueller Vernunft als ein Mangel an Courage ihres Gebrauchs, der Aufklärung nötig macht. In „Faulheit" und „Feigheit" der Menschen erkennt Kant die hauptsächlichen Ursachen für ihren „Hang" zur selbst verschuldeten „Unmündigkeit". 20 Aufklärung oder ihre Verfehlung scheint damit auch eine Frage unserer Haltung, eine Frage des Charakters zu sein. In allen bisher vorgetragenen Einschätzungen wird Nietzsche Kant auf seine Weise folgen. Allenfalls spitzt er die Kantische Diagnose noch zu. Er betont den Mut, ja die „Verwegenheit", derer die Kritik „gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten" bedarf.21 Genauer spricht er gar nicht von ihrer Kritik, sondern gleich von ihrer „Umkehrung". Und er stilisiert sich selbst als Radikalaufklärer: Er glaube nicht, schreibt Nietzsche in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches, „dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in diese Welt gesehn hat", wie er selbst es gewagt habe - und dies „nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes". Nietzsche wird nicht müde, die Gefahr hervorzuheben, der sich aussetzt, wer sich auf das Abenteuer der Erkenntnis in aller Unerbittlichkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber ihren Folgen einlässt.22 Einsamkeit scheint ihm ein Preis zu sein, den es kostet, Verlust an Lebenssicherheit ein anderer. Zum ersten Punkt später mehr; im Blick auf den zuletzt genannten stellen sich für Nietzsche unweigerlich und immer wieder Fragen, wie er sie zum Beispiel im Aphorismus 34 von Menschliches, Allzumenschliches zu bedenken gibt: Gesetzt den Fall, die Erkenntnis zwingt uns, Abschied zu nehmen von Illusionen, mit Hilfe derer wir aber zu leben verstanden; gesetzt den Fall, sie lässt uns in Abgründe der Ziel- und Sinnlosigkeit menschlichen Tuns und Treibens sehen - so werden wir überlegen: „Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich?" Und so scheint, sagt Nietzsche, ein Problem „uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne? oder, wenn man dies müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei?"23
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Wir sehen, das Problem der Wahrheit und ihres „Wertes" für das Leben hält Nietzsche weiter in seinem Bann; und Kant wird er schließlich vorwerfen, das Streben nach Wahrheit zuletzt um des Glaubens an die Moral willen verraten zu haben. Auch Kant macht sich seine Gedanken über die „Gefährlichkeit" der Aufklärung, die Nietzsche so betont. Doch bezeichnenderweise tut er dies zunächst in ironischer Absicht. Dass der größte Teil der Menschen den Schritt aus der Unmündigkeit nicht nur für beschwerlich, sondern dazu noch für gefährlich halte - dafür sorgen nach Kant schon „jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben". Zuerst hätten sie ihr „Hausvieh" dumm gemacht und verhütet, dass es ohne „Gängelwagen" einen Schritt habe tun dürfen. Sodann hätten sie die Gefahr vor Augen gestellt, die jedem drohen müsse, der allein zu gehen versuche.24 „Nun ist diese Gefahr", meint Kant, „zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen". Doch „ein Beispiel" dieser Art mache zweifellos schüchtern und schrecke von weiteren Versuchen ab.25 Interessant im Vergleich zu Nietzsches Bewertungen ist, dass Kant den selbständigen Gebrauch der Vernunft - metaphorisch gesprochen: das Alleingehen - nicht von vornherein mit den bedenklichsten Konsequenzen für die Lebens- und Überlebenstauglichkeit dessen verknüpft sieht, der auf ihn vertraut. Die Vernunft ist eine Begabung des Menschen, eine Kraft, die ihm zu nichts anderem gegeben ist, als dass sie ihn in seiner Bewegung leitet. Dennoch gibt Kant zu, dass es für jeden einzelnen Menschen „schwer" sei, „sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten".26 Er hängt an ihr, ja liebt sie sogar; und er ist, so Kant, zunächst „wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ". In Gestalt der gängigen „Satzungen und Formeln", an die er sich mit der Mehrzahl der Anderen gebunden sieht und die den Gebrauch seiner Vernunft mit scheinbar unumstößlicher Notwendigkeit regeln, trägt er in Wahrheit die „Fußschellen" der Unmündigkeit. Kant geht so weit, zu sagen, dass der Mensch solcherart einen „Mißbrauch" seiner Naturgaben betreibt: einen Missbrauch der ihm gegebenen Vernunft. Denn das, wozu sie ihn befähigt, Grund und Movens eigener „freier Bewegung" zu sein, höhlt er durch den beschriebenen Umgang mit ihr zuletzt selbst aus. Trotz der nahezu unüberwindlichen Hemmnisse aber gibt es Kant zufolge immer wieder Einzelne, wenn auch nur wenige, „denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun". Zu beachten ist, dass Kant offenbar davon überzeugt ist, dass der Bewegung eines Individuums im Denken und Handeln Sicherheit aus nichts als dem eigenständigen Gebrauch bloßer Vernunft erwachsen kann.
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Bis auf den zuletzt genannten Punkt, auf den ich später noch genauer eingehe, lassen sich an dieser Stelle wiederum Gemeinsamkeiten zur Argumentation Nietzsches notieren. Eindringlich führt Nietzsche vor Augen, wie der Mensch um seiner Selbsterhaltung und Selbstbehauptung willen zunächst einmal Zuflucht in einer Existenzform sucht, die ihn in seinen Überzeugungen wie in seinem Tun und Lassen an einen festen Kodex von Üblichkeiten bindet. „Heerden-Existenz", so nennt Nietzsche mit dem Abstand des selbst Freigekommenen eine Lebensweise, die sich durch die unbedingte Bindung an das Herkömmliche und immer schon Geltende auszeichnet. Die überkommenen Meinungen zu allen wichtigen Fragen des Lebens und aus ihnen abgeleitete Regeln des Verhaltens erhalten den Status des Sakrosankten; und darin wird ihre Legitimität gesehen. Diese „herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen" bezeichnet Nietzsche - durchaus konsequent und insofern mit terminologischem Anspruch - als „Sitte".27 Die rechte Einstellung des Einzelnen zu den herrschenden Sitten und ihre fraglose Befolgung nun scheint Nietzsche fast die ganze Geschichte der Menschheit hindurch dessen „Sittlichkeit" bedeutet zu haben. „In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, giebt es", aus dieser Perspektive betrachtet, dann auch „keine Sittlichkeit".28 Verständlich wird diese Verknüpfung von Herkommen und Sittlichkeit vor dem Hintergrund der Besonderheit, die den Menschen gegenüber anderem Lebendigen auszeichnet: Er gilt Nietzsche - und darüber lässt sich wohl gar nicht streiten - als das von der Natur „nicht festgestellte Thier"29. Es gibt keine Lebensweise, an die er gleichsam von Natur aus unverbrüchlich gebunden wäre. So kann es als eine attraktive Möglichkeit erscheinen, den konstitutiven Mangel an Festlegung dadurch zu kompensieren, die allenfalls schwach wirkenden Naturinstinkte durch einen „Heerden-Instinct"30 zu ersetzen. Und der besteht genau darin, sich das „Gewohnte" der vertrauten Urteile, Regeln und Satzungen bis zur Einverleibung zu eigen zu machen. Eine „Lust" an der Gewohnheit entsteht:31 Das Gewohnte schließlich hat sich bewährt, andernfalls hätte es sich nicht etabliert; also muss es nützlich und heilsam sein und somit das Gelingen des solcherart getragenen Lebens verbürgen können. Nachdenken und Selbstdenken werden entbehrlich und schaffen - umgekehrt - höchstens Anlass für die Versuchungen der Unsittlichkeit. Diese sieht Nietzsche entgegen verbreiteter Annahmen keineswegs im rigoros selbstsüchtigen Verhalten wurzeln, das einzudämmen als notwendig begriffen worden wäre und die Menschen bewogen hätte, die Moral zu erfinden. „Nicht das ,Egoistische' und das ,Unegoistische' ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon." So lesen wir es in Menschliches, Allzumenschliches,32 Das hieße aber: Aufklärung als Aus-
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gang aus der Unmündigkeit, die ohne die Fähigkeit zum vorurteilsfreien und also Abstand nehmenden, lösenden Denken nicht zu haben ist, wäre aus der Perspektive der Herdenmoral betrachtet geradezu der Inbegriff des Unmoralischen. Nicht zuletzt ist es die Leidenschaft der Erkenntnis, die Lust am Experiment des Denkens und Existierens33, die Nietzsche zu einem Verfechter der Aufklärung als Loskommen vom Bedürfnis nach einer Herdenexistenz macht. Die Eigentümlichkeit des Menschen, nämlich als das „nicht festgestellte Thier" da sein zu müssen, begreift er in erster Linie als unerhörte Chance. Ohne Aufklärung als Lösung von den Fesseln jener Vorurteile, wie sie die „passive Vernunft" bedenkenlos und aus Lust an den Wonnen des Gewöhnlichen aufgreift und bekräftigt, aber ist diese Chance nicht wahrzunehmen. Vor allem deshalb erklärt Nietzsche einer - wie beschrieben verstandenen - Moral den Krieg. Träger der Aufklärung sind für ihn zu jeder Zeit die wenigen Individuen, die sich durch den Anspruch auf das eigene Urteil aus der breiten Masse der Mitgeführten herausheben und sich dadurch exponieren. Gilt Aufklärung als Inbegriff des Unmoralischen, so gelten sie als dessen Inkarnation. „Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet ,böse' so viel wie .individuell', ,frei', ,willkürlich', ,ungewohnt', ,unvorhergesehen', ,unberechenbar'." Das schreibt Nietzsche in der Morgenröthe.M Zwar spricht er von längst vergangenen Verhältnissen menschlichen Lebens, die sich durch die Verdammung von Eigenständigkeit und Individualität ausgezeichnet hätten. Und den Aphorismus, in dem er das tut, leitet er mit der Bemerkung ein, wir modernen Menschen lebten in einer Zeit, in der die Macht der Sitte deutlich abgeschwächt sei und also im Vergleich zur Lebensweise „ganzer Jahrtausende der Menschheit" in einer „sehr unsittlichen Zeit".35 Und doch ist angesichts der auch von uns noch mitgeschleppten moralischen Vorurteile, wie sie sich in entsprechenden Gefühlen abgelagert haben, klar: Nietzsche ist ganz und gar nicht der Auffassung, wir modernen Menschen lebten bereits in einem aufgeklärten Zeitalter. Dazu tragen wir nicht zuletzt an unserer Vergangenheit des Empfindens, Schätzens, Urteilens zu schwer - und vielleicht dauerhafter, als wir uns eingestehen mögen.36
IV. Mit Kant teilt Nietzsche die Einschätzung, wir befänden uns in einem Zeitalter der Aufklärung - nach wir vor. Über dessen Signatur hat er jedoch deutlich andere Vorstellungen als Kant. Zwar hatte Kant - wie Nietzsche - die gewaltigen Schwierigkeiten betont, als Einzelner aus der Unmündigkeit herauszutreten. Allerdings spielt diese Skizze in Kants berühmter Beantwortung der Frage:
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Was ist Aufklärung? nur die Rolle eines Auftakts. Denn der Prozess der Aufklärung bedarf nach Kant des tragenden Bodens der gelehrten Öffentlichkeit. Dass „ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich", als dass der Einzelne sie für sich allein leistet, davon ist Kant überzeugt. Ja, Aufklärung sei, wenn man dem Publikum nur Freiheit lasse, „beinahe unausbleiblich", fügt er hinzu.37 Wir können nämlich sicher sein, dass sich immer „einige Selbstdenkende" inmitten des „großen Haufens" finden werden. Sie aber müssen die Möglichkeit haben, ihre Urteile über die menschlichen Angelegenheiten, über Wissenschaft, Kunst, Religion, Staatswesen und Politik einem Publikum zur Begutachtung und Prüfung vorzulegen. Allein der öffentliche Gebrauch der Vernunft vermag sicherzustellen, dass Einseitigkeiten und Fehlurteile zumindest auf längere Fristen hin einzudämmen sind. Irrtümer zeichnen sich Kant zufolge dadurch aus, dass der Schein der Wahrheit für die Wahrheit selbst genommen wird.38 Wir halten etwas für wahr: das heißt für eine im Prinzip jedem zugängliche und in diesem Sinn von unserer besonderen Subjektivität unabhängige Wirklichkeit, das sich im Nachhinein als Täuschung oder Unwirklichkeit herausstellt. Der Anschein hat uns getrogen. Er entsteht jedoch nicht ohne Grund. Schließlich waren wir - sofern wir nicht mit Wissen und Bewusstsein täuschen, d.h. lügen wollten - der Überzeugung, ein wahres Urteil zu fallen. Überzeugungen aber entspringen nicht aus dem Nichts, sondern stützen sich stets auf etwas: auf Evidenzen verschiedenster Art, seien es weitere Überzeugungen, sei es der sogenannte Augenschein, seien es die Versicherungen Dritter. Sich zu irren bedeutet nichts anderes, als dass wir bloß „subjektive Gründe" unseres Urteilens für „objektive Gründe" halten und folglich, so Kant, „den bloßen Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechseln".39 Der einem Irrtum Erlegene meint, bei etwas Wahrem zu sein, bei einer mit Anderen geteilten Wirklichkeit, und ist doch nur bei sich selbst. Dies ist in Träumen und Fehleinschätzungen aller Art der Fall. Beim besten Willen aber lassen sich Irrtümer nicht grundsätzlich vermeiden. Denn unser Verhältnis zur Wirklichkeit ist nun einmal perspektivisch gebrochen: Als Einzelne sind wir zu jedem Zeitpunkt an einen bestimmten Standpunkt gebunden; als Einzelne bilden wir einen jeweils individuellen, unseren Fähigkeiten, Interessen und Zwecken angemessenen „Horizont" der Erkenntnis aus.40 Die unumgängliche Perspektivität des Erkennens macht uns anfällig für Irrtümer. Verführerisch ist der ihnen anhaftende Schein, weil ihre Falschheit den entsprechenden Urteilen keineswegs anzusehen ist - jedenfalls solange nicht, wie sie formal korrekt sind: und das heißt den Regeln der formalen Logik nicht widerstreiten. In dieser Situation bedürfen wir, gerade um der Verpflichtung zum Selbstdenken nachkommen zu können, der uneingeschränkten Möglichkeit des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Sie erlaubt uns, das eigene Urteil zu überprüfen, nämlich im Licht des Standpunkts Anderer zu sehen. Erweist sich unser Urteil in bestimmter
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Sache als unvereinbar mit dem Anderer, so ist dieses Faktum nach Kant als ein „Wink" anzusehen, über dieses Urteil nachzudenken: „unser Verfahren im Urteilen zu untersuchen".41 In Gestalt solcher vota consultativa wenngleich nicht schon decisiva „fremder Vernunft"42 - denn zuletzt kann jede Vernunft nach Kant nur auf der Basis eigener Gründe etwas für wahr halten -, 43 haben wir die Mittel zur Überwindung der konstitutionellen Einschränkung individuellen Denkens, die Mittel zu seiner Erweiterung. Entsprechend wird die Forderung nach dem „Selbstdenken" als Maxime der aufgeklärten Denkart von Kant um das Gebot der erweiterten Denkart ergänzt. Es lautet: „sich in der Stelle eines Andern zu denken".44 Mit der „Wisbegierde" sieht Kant den „Trieb sich mitzutheilen" jederzeit verbunden, „weil unser eigen Urtheil durch einen fremden Standpunkt muß rectificirt werden".45 Und genau dies verlangt die Maxime der erweiterten Denkart: „sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urtheils" hinauszusetzen.46 Dazu aber muss die Möglichkeit des öffentlichen Austausches gegeben sein. Im Prinzip ist es die ganze Welt, an die der Einzelne sich als sein Publikum wendet.47 Wer dem Menschen die Freiheit nimmt, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, nimmt ihm auch die Freiheit zu denken und damit das vorzüglichste Instrument, seine Angelegenheiten zum Besseren zu wenden - so weit, dies zu erklären, geht Kant.48 Bei Nietzsche tritt die Funktion der Öffentlichkeit im Prozess der Aufklärung bezeichnenderweise in den Hintergrund. Im Gegenteil: Nietzsches Polemik gegen die „öffentliche Meinung" ist jedem seiner Leser gegenwärtig. „Öffentliche Meinungen" setzt er pauschal mit „privaten Faulheiten" gleich; denn sie scheinen ihm vor allem als Unterschlupf für diejenigen zu dienen, die zu furchtsam und bequem sind, um „nach eignem Maass und Gesetz zu leben".49 Nach dem Motto „Kleider machen Leute" verschaffen sie denen ein Aussehen, die ganz „ohne Kern" sind.50 Aufklärung als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit hat sich nach Nietzsche in erster Linie gegen die alles Individuelle egalisierende Öffentlichkeit zu behaupten und durchzusetzen. Ihre Protagonisten sind die Einzelnen, die Vereinzelten: die unverstanden von den „öffentlich meinende(n) Scheinmenschen"51 auf ihrem eigenen Weg bestehen und die den Blick in jene Abgründe des Daseins werfen, vor denen diese zurückscheuen. Versuchen sie, sich mit ihrer Kritik am Bestehenden und ihren Ideen vom Besseren an eine Öffentlichkeit zu wenden, so scheitern sie wie Zarathustra. Heidegger wird Nietzsche auf seine Weise folgen, wenn er die Öffentlichkeit als Sphäre der Verdeckung und Verdunklung beschreibt, die „unempfindlich" sei „gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit".52 Beides ist nach Heidegger nur von denen zu sichern, die sich gegen das „Man" und durch Befreiung von dessen Formen auf die „Eigentlichkeit" des Menschseins besinnen. Nietzsche spricht von „Ausnahme-Menschen",53 die allein das Wagnis eines wirklich der Wahrheitssuche verpflichteten, eines autonomen und selbstverant-
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worteten Lebens eingehen. Sie, die die Aufklärung der Menschheit durch Arbeit an der Entlarvung der für alle Anderen unentbehrlichen Vorurteile und Fehlurteile vorantreiben, tun das meist nicht im Licht einer ohnehin verständnislosen Öffentlichkeit. Sie wirken als „Unterirdische".54 Denn ihre Aufgabe besteht für Nietzsche im „Bohren" und „Graben", im „Untergraben" des Vertrauens in den „Grund" des Lebens, den nicht zuletzt die Philosophen jahrtausendelang und trotz aller partiellen Einbrüche für sicher gehalten hätten. Immer wieder aufs Neue nämlich hätten sie auf ihm zu bauen begonnen - bis zum Einsturz noch jedes ihrer Gebäude.55 Nietzsche meint das Vertrauen in die tragende Kraft von Religion, Moral und am Ende auch: Vernunft. Die Autorität dieser Grundpfeiler des Daseins sei eben bisher nicht in Frage gestellt worden - aus Furcht vor dem gefahrlichen Unterfangen mit unabsehbaren Folgen. Es führt nach Nietzsche, der aus eigener Erfahrung spricht, zum Zweifel am Sinn und Wert menschlichen Lebens und zur Einsamkeit und Isolation des Abenteurers, der sich auf das Unternehmen eingelassen hat. „Glaubt ja nicht, daß ich euch zu dem gleichen Wagnisse auffordern werde!", ruft Nietzsche seinen Lesern zu. „Oder auch nur zur gleichen Einsamkeit! Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die ,eignen Wege' mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit Allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustösst, muss er allein fertig werden. Er hat eben seinen Weg für sich -".56
V. Selbst Kant, der lange genug um die Aufdeckung dogmatischer Verstellungen im Verständnis des Menschen und seines Weltverhältnisses gerungen und den Weg der kritischen Philosophie eigenständig und zunächst ganz allein beschritten hatte, ist für Nietzsche nicht vorgedrungen in die Regionen wahrhafter und schmerzhafter Aufklärung. So konnte er die Einsamkeit und die Kälte nicht kennen, die den umgeben, der diese Gefilde - wie Nietzsche für sich reklamiert betritt. Auch Kant, der „Alleszermalmer", hat Nietzsche zufolge in einem entscheidenden Punkt vollkommen unkritisch bloß vertraut, statt kritisch zu durchleuchten: im Blick auf die Moral. Er habe unter ihrer „Verführung" gestanden; obwohl Kants Absicht eigentlich auf „Gewissheit, auf, Wahrheit'" ging, so zielte er nach Nietzsches Einschätzung zuletzt - koste es, was es wolle - wxf „majestätische sittliche Gebäude",57 Nietzsche bezieht sich auf eine Stelle in Kants Kritik der reinen Vernunft, auf eine Passage im Kapitel „Von den Ideen überhaupt" aus der Transzendentalen Dialektik.58 Kant unterscheidet dort zwischen praktischen Ideen und
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theoretischen Ideen der Vernunft. Er betont die konstitutive, wirklichkeitsbildende Kraft der praktischen Ideen, die den theoretischen als bloß regulativen, unsere Erfahrung anhand von Vorstellungen systematischer Einheit leitenden Ideen nicht zukommt. Im Zusammenhang mit einigen Überlegungen zu den praktischen Ideen, die niemals aus der Erfahrung zu gewinnen, sondern nach Kant - umgekehrt - Grund der in die Empirie hineinwirkenden moralischen Praxis sind, schlägt er den Bogen zu der zuvor zu behandelnden Kritik der theoretischen Vernunft zurück: „Statt aller dieser Betrachtungen, deren gehörige Ausführung in der Tat die eigentümliche Würde der Philosophie ausmacht, beschäftigen wir uns jetzt mit einer nicht so glänzenden, aber doch auch nicht verdienstlosen Arbeit, nämlich: den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen". Damit ist zum Beispiel der von Kant in der ersten Kritik vorgetragene Nachweis gemeint, dass die Annahme eines lückenlosen Determinismus der Bewegungen alles Natürlichen den Gedanken der Freiheit dennoch nicht ausschließt. So wäre in theoretischer Hinsicht gegen Anfechtungen gesichert, was im Bereich des Praktischen Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen ist - die Idee der Freiheit. Nietzsche nun verdächtigt Kant hier der Halbherzigkeit und des mangelnden Mutes. Kant sei mit „seiner schwärmerischen Absicht", die Moral vor der Aufklärung zu retten, „eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andere das Jahrhundert der Schwärmerei genannt werden" dürfe. 59 Gegen alle Vernunft hat Kant in den Augen Nietzsches Raum schaffen wollen für sein „moralisches Reich". Deshalb hat er sich gezwungen gesehen, „eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches ,Jenseits"'. 60 Mit dem Stichwort „Jenseits" oder „unbeweisbare Welt" spricht Nietzsche genau jene praktischen Ideen an, von denen oben die Rede war. Und er siedelt sie, die als Begriffe ihren Ursprung in der menschlichen Vernunft haben, umstandslos in einer Art zweiten überempirischen Welt an und gibt dadurch zu verstehen, dass er sie als obsolet erscheinen lassen möchte. Die ersten Ergebnisse, die auf dem Boden der von ihm selbst geleisteten psychologisch-genealogischen Analyse unserer moralischen Empfindungen zu verzeichnen seien, wendet er ein, diskreditieren alle Theorien einer metaphysisch begründeten Moral. Diese Ergebnisse scheinen ihm unwiderleglich für das zu sprechen, was er die „gründliche Unmoralität von Natur und Geschichte" nennt.61 Sie beweisen ihm, dass Moralität bis heute keineswegs als Ausdruck der Humanität und Güte des Menschengeschlechts gelten darf, als die sie allenthalben gefeiert wird. Was Moral genannt wird, diente und dient vielmehr der Selbsterhaltung, dem Eigennutz, der Befriedigung tief eingewurzelter mächtiger Lüste - etwa, wenn in ihrem Namen grausam gestraft wird. Auch Kants Kategorischer Imperativ, den Nietzsche als bleiernes unpersönliches Gesetz missversteht, dem
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sich das Individuum bedingungslos unterwerfen soll,62 hat für ihn den Geruch der „Grausamkeit".63 Kant täuscht sich in Nietzsches Augen also gleich doppelt: indem er an „eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte"64 glaubt und zugleich den Charakter seiner eigenen Moralprinzipien gründlich verkennt, die er in jener anderen, besseren Welt wurzeln sieht, wo sie doch nach Nietzsche ihre Herkunft aus den Niederungen der unmoralischen Welt unserer Erfahrung deutlich verraten. Und nur um dieses Trugbild eines Jenseits zu errichten, hat Kant es Nietzsche zufolge nötig gehabt, seine Kritik der Vernunft mit ihrer Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, Erfahrung und Idee zu schreiben. Nietzsche formuliert: „Anders ausgedrückt: er hätte sie nicht nöthig gehabt, wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das ,moralische Reich' unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen". „Er empfand", sagt Nietzsche, „eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark!"65 Kant also suspendierte nach Nietzsche am Ende die Vernunft zugunsten des Glaubens an die Moral. Damit habe er die Aufklärung zuletzt verraten. Diese Einschätzung finden wir in einem Aphorismus der Morgenröthe über „Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung" präzisiert und überdies in einen größeren Zusammenhang gestellt. „Der ganze grosse Hang der Deutschen", heißt es dort, „gieng gegen die Aufklärung, und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverständniss als deren Folge galt: die Pietät gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietät gegen Alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal voll würden und keinen Raum mehr für zukünftige und neuernde Ziele hätten. Der Cultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus' der Vernunft".66 Daraus sei „keine geringe allgemeine Gefahr" entstanden, „nämlich unter dem Anscheine der voll- und endgültigsten Erkenntniss des Vergangenen die Erkenntniss überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken und - um mit Kant zu reden, der so seine eigene Aufgabe bestimmte - ,dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Gränzen wies'". 67 Es entbehrt nicht der Ironie, dass Nietzsche aus Kant einen Dogmatiker und einen Romantiker macht und ihm ausgerechnet jene Position vorwirft, gegen die dieser im sogenannten Spinozismusstreit, einem Streit um die Aufklärung und ihre Folgen für Moral und Religion, mit Entschiedenheit Stellung genommen hatte.68 Bekanntlich wurde dieser Streit durch Friedrich Heinrich Jacobi ausgelöst. Vom verstorbenen Lessing, einer der zentralen Gestalten der deutschen Aufklärung, berichtet Jacobi, dass er am Ende seines Lebens kein Christ mehr gewesen und an einen persönlichen Gott nicht länger geglaubt habe. Er habe sich als Spinozist oder Pantheist zu erkennen gegeben.69 Sich in seinem Dasein
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auf nichts als die eigene Vernunft zu verlassen, so Jacobis Verdacht, fuhrt - wie man am Beispiel Lessings sehe - nur zu Atheismus und Nihilismus. Jacobi will lieber eine „Quelle des Denkens und Handelns" annehmen, die „durchaus unerklärlich bleibt" - nämlich ein gottgegebenes und deshalb zuverlässiges Gefühl. Wo wir nicht wissen, haben wir nach Jacobi zu glauben.70 Lessing gegenüber spricht er von einem „Salto mortale", einem „Kopf-unter", zu dem er zuletzt seine Zuflucht nehme.71 Kant äußert sich zum Spinozismusstreit in dem Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? Er argumentiert dafür, dass wir auch mit dem, was sich unserer Erfahrung entzieht, das in Gedanken zu haben wir aber nicht aufgeben können und wollen, vernünftig umzugehen in der Lage sind. Das sind die Fragen zum Beispiel nach Anfang und Ende der Welt, nach ihrem letzten Sinn und Zweck, nach Freiheit, Gerechtigkeit, Glück, Gott. Als „Probleme der Vernunft"72 halten wir sie jederzeit fest. In Form von Ideen der Vernunft artikulieren wir sie. Sie „enthalten" ein Unbedingtes, ein Absolutes, während alles Empirische bedingt und beschränkt ist. Von diesen Fragen werden wir nicht lassen, Antworten unter Rückgriff auf die Erfahrung sind jedoch von vornherein nicht zu erwarten. Hier bewegen wir uns also auf dem Terrain bloßer Vernunft. Und doch sind wir nach Kant auf diesem Gebiet nicht orientierungslos. Im Gegenteil, aus bloßer Vernunft gewinnen wir die Maßstäbe, die uns nicht zuletzt in der Welt der Erfahrung orientieren können. Dabei brauchen wir uns an nichts zu halten als die Gesetze eben dieser Vernunft. Wenn wir zum Beispiel in einer Konfliktsituation wissen wollen, was wir tun sollen und nach einer verbindlichen Lösung unseres Problems suchen, haben wir nach Kant die Maxime unseres Handelns daraufhin zu prüfen, ob wir sie zugleich als ein allgemeines, für uns und Andere jederzeit gültiges Gesetz wollen können. Das ist der Inhalt der Idee der Moral oder des uneingeschränkt Guten. Die Vernunft ist für Kant „der letzte Probirstein der Wahrheit" des Denkens und Handelns.73 Und „Selbstdenken" heißt eben, diesen letzten Probierstein der Wahrheit in sich selbst zu suchen. Darin besteht die Aufklärung. Ihr Kennzeichen liegt nicht in besonderen Kenntnissen. Aufgeklärt ist, wer sich seiner eigenen Vernunft bedient. Das aber „will nichts weiter sagen", erläutert Kant, „als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen". Dies zu tun aber bedeutet nichts anderes, als sich nach der „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft" zu richten.74 Es ist deutlich, dass Kant maßgeblich auf die Vernunft des Menschen setzt. Sie ist Ursprung und Mittel unserer Lebensorientierung. Deshalb haftet dem Prozess der Aufklärung, der die Vernunft in ihr Recht setzt, nichts Bedrohliches an.
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Umgekehrt: Er lässt auf eine besser eingerichtete Welt hoffen. Dennoch registriert Kant die Irritation, die aus der ,J^reigeisterei" entsteht: einer Tendenz, den halt-, weil gesetzlosen Gebrauch der Vernunft zu propagieren und in Schwärmerei und Selbstzerstörung von Vernunft und Freiheit zu enden.75 Auch Nietzsche, der sich mit Stolz einen „freien Geist" nennt, zieht das Vertrauen in die konstruktive Kraft der Vernunft in Zweifel.76 Deshalb muss ihm Kants Idee einer aus nichts als Vernunft begründeten Moral höchst suspekt erscheinen. Für Nietzsche ist Vernunft vor allem das Instrument der Entlarvung: der Entlarvung jener „Lügenbrücken",77 jener falschen Ideale, ohne die wir aber möglicherweise gar nicht leben könnten. „Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt",78 diesen Verdacht wird Nietzsche nicht los. Dennoch erfordert es das Ethos der Aufklärung, in dem wir „die letzte Moral" des Menschen zu sehen haben, uns diese „Lügenbrücken" nicht länger zu gestatten.79 Mit dieser letzten Moral aber ist für Nietzsche eine „neue Leidenschaft" verbunden: die Leidenschaft einer in dieser Radikalität bislang unbekannten Erkenntnis. „Die Erkenntniss", schreibt Nietzsche im bekannten Aphorismus aus der Morgenröte, „hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts furchtet, als ihr eigenes Erlöschen. [...] Vielleicht selbst, dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht! - auch dieser Gedanke vermag Nichts über uns! Hat sich denn das Christentum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei, - wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwäche zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? - "80 Vernunft als leidenschaftliches Organ der Erkenntnis ist für Nietzsche Organ der Enthüllung, Überfuhrung, Demaskierung - und der Sicherung ihrer Potenz ist jeder Tribut zu zollen. Doch mit der Absage an jegliche konstruktive, wenn man will: lebensdienliche Funktion von Vernunft und Philosophie wird Aufklärung, zumindest wie Kant sie verstanden hatte, halbiert, wenn nicht desavouiert. Aus der Verachtung, mit der er eine Philosophie betrachtet, deren aufklärerischer Impetus sie zum Versuch konstruktiver Beiträge inspiriert, macht Nietzsche keinen Hehl. In einem nachgelassenen Text aus dem Jahr 1884 lesen wir: „Eine Philosophie, welche nicht verspricht, glücklicher und tugendhafter zu machen, die es vielmehr zu verstehen giebt, daß man in ihrem Dienst wahrscheinlich zu Grunde geht [...]: eine solche Philosophie schmeichelt sich niemandem leicht an: man muß fur sie geboren sein - und ich fand noch Keinen, der es war (sonst würde ich keine Gründe haben, dies zu schreiben). Zum Entgelt verspricht sie einige angenehme Schauder; wie sie dem kommen, der von ganz hohen Bergen
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aus eine Welt neuer Aspekte sieht; und sie macht nicht am Ende blödsinnig, was die Wirkung des Kantschen Philosophirens war (man ist grausam genug gewesen, neuerdings noch das übrig gebliebene Hauptwerk seines Blödsinns festlich herauszugeben81 - was ist doch unter Deutschen möglich!)"82 Zwei Wege sind es zuletzt, zwischen denen Nietzsche lebenslang schwankt und die er nicht zusammenzuführen vermag: der Weg der Philosophie, der zur kritischen Zersetzung aller Lebenssicherheiten führt, und der Weg des Künstlers, der zum konstruktiven, aber falschen Lebensgerüst verhilft.83 Dass Nietzsche das auch für ihn unverzichtbare konstruktive, lebensdienliche Element in seiner Auseinandersetzung mit der Welt und der Stellung des Menschen in ihr schließlich nur als Schein, wenn auch als schönen Schein, begreifen kann, das trennt ihn wohl am schärfsten vom Denken Kants.
Anmerkungen 1
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Vgl. Jenseits von Gut und Böse 210; KSA (=Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, edd. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 19882), Bd. 5, S. 144. Die Geburt der Tragödie 18; KSA I, S. 118. Die Geburt der Tragödie 15; ebd., S. 99. Vgl. Die Geburt der Tragödie; KSA 1, 19 ff.; zum Begriff: Nachlass 9[32] (1871); KSA 7, S. 283. Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1; KSA 1, S. 882. Ebd. Zu Schopenhauers Bild vom Idealisten Kant vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie, in: Sämtliche Werke, ed. Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Frankfurt am Main 1986, Bd. I, S. 559-715, hier: S. 585 ff. Schopenhauer als Erzieher 3; KSA 1, S. 355. Ebd., S. 355 f. Vgl.: Heinrich von Kleist an Wilhelmine vonZenge, 22. März 1801, in: Sämtliche Werke und Briefe, ed. Helmut Sembdner, München und Wien 1982, Bd. IV, S. 634. Vgl. Ueber Wahrheit und Lüge 1; KSA 1, S. 877. Vgl. Schopenhauer als Erzieher 3; ebd., S. 355. Vgl. Nachlass 19[34] (1872/1873); KSA 7, S. 427. Die Geburt der Tragödie 5; KSA 1, S. 47. Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik 3; ebd. S. 15. „Fatum und Geschichte. Gedanken", in: Friedrich Nietzsche. Jugendschriften 1861-1864, Beck'sche Ausgabe Werke (= BAW), hg. v. Hans Joachim Mette, München 1994, Bd. 2, S. 54. Kritik der Urteilskraft, AA (= Akademie-Ausgabe) V, S. 294. Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 41. Ebd. Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 35. Ebd. Vgl. hier und im folgenden: Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede 1; KSA 2, S. 13. Vgl. z.B. Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede 4; ebd., S. 18. Menschliches, Allzumenschliches I 34; ebd., S. 53 f. Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 35.
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Ebd., S. 35 f. Vgl. hier und im folgenden: Ebd., S. 36. Morgenröthe 9; KSA 3, S. 22. Vgl. auch: Morgenröthe 14, 18,19. Morgenröthe 9; KSA 3, S. 22. Nachlass 2 [13] (1885/1886); KSA 12, S. 72. Vgl. Genealogie der Moral III 13; KSA 5, S. 367. Fröhliche Wissenschaft 116, 117; KSA 3, S. 474 f. Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I 97; KSA 2, S. 94. Menschliches, Allzumenschliches I 96; ebd., S. 93. Vgl. Morgenröthe 453, 501; vgl. Fröhliche Wissenschaft 7, 51, 110, 324; vgl. Jenseits von Gut und Böse 210. Morgenröthe 9; KSA 3, S. 22. Ebd., S. 21. Vgl. zu diesem Punkt die sehr interessanten Überlegungen, die Karl Pestalozzi in seinem Aufsatz Die Bindungen des „freien Geistes "in „ Menschliches, Allzumenschliches " (Studi Germanici 39 [2001], 109-121) vorträgt. Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 36. Vgl. Logik, AA IX, S. 53-57. Ebd., S. 54. Vgl. ebd. S. 40-43, bes. S. 41. Ebd., S. 57. Vgl. R. 2147, AA XVI, S. 252. Vgl. R. 2187, AAXVI, S. 263. Logik, AA IX, 57. Vgl. auch: Kritik der Urteilskraft, AA V, S. 294. R. 2147, AAXVI, S. 252. Kritik der Urteilskraft, AA V, S. 295. Vgl. Was ist Aufklärung?, AA V, S. 38. Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, S. 144. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 338 f. Vgl. ΜΑ I 482; KSA 2, S. 316: „Und nochmals gesagt. - Oeffentliche Meinungen - private Faulheiten." Vgl. Menschliches, Allzumenschliches II 325; KSA 2, S. 514 mit: SE 1; KSA 1, S. 338. Ebd. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 27, 15. Aufl. Tübingen 1979, S. 127. Menschliches, Allzumenschliches II 325; KSA 2, S. 514. Vgl. Morgenröthe, Vorrede 1; KSA 3, S. 11. Ebd., S. 11 f (Vorrede 1-2). Ebd., S. 12. Morgenröthe, Vorrede 3; KSA 3, S. 13 f. Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 319/B 375 f. Moigenröthe, Vorrede 3; KSA 3, S. 14. Ebd. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. z.B. Fröhliche Wissenschaft 335: „Hoch die Physik!"; KSA 3, S. 560-564. Vgl. Genealogie der Moral II, 6; KSA 5, S. 300. Fröhliche Wissenschaft 344; KSA 3, S. 577. Ebd. Morgenröthe 197; KSA 3, S. 171. Ebd., S. 172. Zum Verlauf des Spinozismusstreites und zu den Positionen der Protagonisten vgl.: Heinrich Scholz (Hg. ), Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1916. Zu Kants Reaktion vgl.: Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, S. 131-147.
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Beatrix Himmelmann Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (Brief vom 4. November 1783), in: Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, a.a.O., S. 77 f. Ebd. S. 89 f. Ebd., S. 81 und S. 91. Vgl. Prolegomena, AAIV, S. 353 f. Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, S. 146 (Anm.). Vgl. ebd., S. 146 f (Anm.). Vgl. Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, S. 145-147. Vgl. Morgenröthe, Vorrede 4; KSA 3, S. 15. Ebd., S. 16. Menschliches, Allzumenschliches I 34; KSA 2, S. 54. Morgenröthe, Vorrede 4; KSA 3, S. 16. Morgenröthe 429; ebd. S. 264 f. Nietzsche spielt wohl auf das von Rudolf Reicke zwischen 1882 und 1884 in der „Altpreußischen Monatsschrift" teilweise herausgegebene und von Albrecht Kraus seit 1884 propagandistisch in die Öffentlichkeit gebrachte große Nachlasswerk Kants: das Opus postumum an. Vgl. Albrecht Krause, Immanuel Kant wider Kuno Fischer zum ersten Male mit Hülfe des verloren gewesenen Kantischen Hauptwerkes:, Vom Übergang von der Metaphysik zur Physik' vertheidigt, Lahr 1884. Nachlass 26[371]; KSA 11, S. 248. Vgl. Nachlass 26[373]; ebd., S. 249.
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Wozu Wissenschaft? Nietzsches Wissenschaftskritik als Radikalisierang Kants „Konsequent zu sein, ist die größte Obliegenheit eines Philosophen, und wird doch am seltensten angetroffen." (Kant: KpV, S. A 45) „Kant und seine ,Philosophie der Hinterthüren' [...] - das war nicht der Typus der intellektuellen Rechtschaffenheit." (Nietzsche: GD, S. 121)
Einleitung Im Jahre 1968 gab Jürgen Habermas einen Band mit Nietzsches Erkenntnistheoretischen Schriften heraus. Daran ist sowohl bemerkenswert, dass gerade Habermas als Nietzsche-Herausgeber fungiert, als auch, dass es sich um Schriften zur Erkenntnistheorie handelt. Habermas hat sich nie als Verehrer Nietzsches hervorgetan und zieht in seinem Nachwort eine negative Bilanz. Nietzsches Wissenschaftskritik sei sowohl für die Geistes- als auch für die Naturwissenschaften eine selbstwidersprüchliche Zumutung.1 Mit Blick auf die kulturkritische Nietzsche-Rezeption der Zwischenkriegszeit bei Denkern wie Spengler, Schmitt, Benn oder Jünger stellt er zudem beruhigt fest: „Nietzsche hat nichts Ansteckendes mehr".2 Dass diese Diagnose schon vordergründig falsch ist, zeigt nicht zuletzt die kontinuierlich wachsende Zahl von Arbeiten zu Nietzsche, die glücklicherweise den Rahmen rechtskonservativer Gegenaufklärung längst verlassen haben. Dass es zudem auch sachlich ganz unbegründet wäre, Nietzsche wie einen toten Hund zu behandeln, ergibt sich aus dem Gehalt seiner Schriften. Der von Habermas edierte Band ist daher nicht nur zur Abgrenzung, sondern auch als Indiz für die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Relevanz der Philosophie Nietzsches bedeutsam, denn Nietzsche wird üblicherweise nicht vorrangig als Wissenschaftsphilosoph zur Kenntnis genommen. „Nietzsche is typically regarded neither as a philosopher of science nor an epistemologist".3 Daher ist es ein Verdienst von Habermas, auf die erkenntnistheoretische Relevanz Nietzsches in Deutschland aufmerksam gemacht zu haben.
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Die zurückhaltende Aufnahme von Nietzsches Wissenschaftskritik ist erstaunlich, wenn man ihre zentrale Stellung in Nietzsches Werk und zugleich die überragende Bedeutung von Wissenschaft in der modernen Welt berücksichtigt. Nietzsche hat in der 1886er Vorrede zur Geburt der Tragödie rückblickend für sich beansprucht, er habe bereits in dieser frühen Schrift „Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst".4 Dem australischen Philosophiehistoriker Stephen Gaukroger zufolge erhob Nietzsche diesen Anspruch ganz zu Recht,5 und insofern sich die vorliegenden Ausführungen diesem Urteil anschließen, ist impliziert, dass Kant das Problem der Wissenschaft weniger grundlegend erfasst habe als Nietzsche. Zur Explikation dieser These sollen zunächst das hier vertretene Verständnis Nietzsches sowie die Relevanz seiner Wissenschaftskritik kurz umrissen werden (1). Anschließend werden einige Aspekte der Kant-Rezeption Nietzsches, wie sie vor allem durch die Brille Schopenhauers vermittelt ist, erörtert (2). Der dritte Abschnitt ist einer kursorischen Rekonstruktion der Metaphysikkritik Kants gewidmet (3), während der vierte Nietzsches Kritik daran behandelt (4). Daran schließt ein Resümee an.
I. Zur Relevanz von Nietzsches Wissenschaftskritik Mit Blick auf die vielfältigen Lesarten der Philosophie Nietzsches sind zunächst einige Vorbemerkungen hinsichtlich der hier zugrunde gelegten Auffassung hilfreich. Das zentrale Anliegen der Philosophie Nietzsches besteht in nichts Geringerem als der Rettung der Menschheit. „Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen grossen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt - , diese Aufgabe folgt mit Nothwendigkeit aus der Einsicht, dass die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist".6 Diese Diagnose sowohl als auch die daraus sich ergebende Aufgabenstellung haben nichts an ihrer Aktualität und auch nichts von ihrer Ansteckungskraft eingebüßt.7 Zwar klingt eine solche Aufgabenstellung selbstgefällig, bombastisch und vielleicht unlösbar, aber ihre Relevanz kann mit Blick auf den Weltenlauf schwerlich bestritten werden. Nietzsches Philosophie ist als Ausdruck einer grundsätzlichen, also radikalen Kritik an der westlich-abendländischen Kultur oder gar nicht zu verstehen. Was man dann mit seiner Diagnose und vor allem seinen Lösungsvorschlägen anfangt, ist eine ganz andere Frage. Ein wichtiges Element der Vorbereitung eines grossen Mittags ist für Nietzsche die Kritik der wissenschaftlichen Weltauffassung. Nietzsche blieb zeitlebens dem problem der Wissenschaft^ verbunden, wenn auch nicht in dem heute
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durch die analytische Tradition dominierten und etwas engen wissenschaftstheoretischen Sinne. Vielmehr verbindet Nietzsche die erkenntnistheoretischen Diskussionen um Status und Gewissheit des wissenschaftlichen Wissens mit der übergreifenden Frage nach dem kulturellen und gesellschaftlichen Nutzen und Nachteil von Wissenschaft. Das heißt, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens...."9 Die Frage: Wozu Wissenschaft? wendet sich von den Problemen der Geltung wissenschaftlicher Sätze hin zu ihrer Wirkung. Es ist das eine, ob z.B. Wasser sogar auf einer Zwillingswelt in Wahrheit H 2 0 ist oder der Urgrund aller Dinge oder ein klares Getränk oder ein Lebenselixier. Etwas anderes ist es zu entscheiden, welche dieser Antworten und der ihnen vorangehenden Fragen für die Entwicklung der menschlichen Kultur relevanter sind. Reinhard Low hat hinsichtlich einer solchen Unterscheidung vermutet, „es komme Nietzsche bei einem Text nicht auf dessen Wahrheit, sondern Wirkung an".10 Damit ist allerdings die Wahrheitsfrage nicht suspendiert, denn eine sehr gute Erklärung fur die Wirksamkeit von Sätzen ist, dass sie wahr sind. Aus diesem Grund besteht ein zentrales Anliegen Nietzsches darin, die potentielle Wahrheit wissenschaftlicher Sätze zu klären und mit dem Hammer an das metaphysische Fundament von Wissenschaft zu klopfen. Hierbei stützt sich Nietzsche durchaus auch auf das fortschrittliche naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit.11 Nietzsches Auffassung zur Zuverlässigkeit wissenschaftlichen Wissens kulminiert in Aphorismus 344 der Fröhlichen Wissenschaft, „dass es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht".12 Mit dieser Auffassung steht Nietzsche in der kritisch-aufklärenden Tradition Kants und geht zugleich über dessen Rekonstruktion der Metaphysik hinaus.
II. Nietzsches Kant-Rezeption via Schopenhauer als Erzieher Wie so oft bei Nietzsche ist auch im Verhältnis zu Kant die Bedeutung der Vermittler, durch deren Brille er sich mit großen Texten befasste, nicht zu unterschätzen. Besonders die anfangliche Aufnahme der Philosophie Kants ist durch sein damaliges philosophisches Vorbild Arthur Schopenhauer vermittelt. In Schopenhauer als Erzieher (1874) findet sich kaum etwas von der später so ätzenden Kritik an Kant.13 Schopenhauer zeigte sich insbesondere überzeugt, dass die von Kant vorgenommene Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich „in ihrer Begründung an Tiefsinn und Besonnenheit alles was je dagewesen, weit übertraf'. 14 Diesem Urteil sollte Nietzsche zwar später widersprechen, aber zu dieser Zeit ist seine Stellung zu und sein Problem mit Kant anders gelagert. In den Vorarbeiten zu dieser dritten Unzeitgemäßen Betrachtung notiert Nietzsche:
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„Veränderte Stellung der Philosophie seit Kant. Metaphysik unmöglich".15 Damit bezieht er sich auf die Leistungen der kritischen Philosophie des Königsbergers, den Schopenhauer, insbesondere in der Abgrenzung zum Philosophieren seither, in ein denkbar gutes Licht stellte. Schopenhauer zufolge sehen die zeitgenössischen Philosophen „herzlich gern den ,Alleszermalmer Kant' in Vergessenheit gerathen [...]. Denn er hat im allergrößten Ernst dem jüdischen Theismus in der Philosophie ein Ende gemacht; - welches sie gern vertuschen, verhehlen, ignorieren; weil sie ohne derselben nicht leben, ich meine nicht essen und trinken, - können."16 Schopenhauers Frage nach dem Nutzen des Theismus in der Philosophie fur das Leben präludiert Nietzsche, der allerdings auch bei Kant einem vermeintlich lebensnotwendigen theologischen Rest nachspürt. „Kant sagt (2. Vorrede zur Kritik): ,ich mußte das Wissen auflieben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, das ist das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstrebenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist'. Sehr wichtig! Eine Kulturnoth hat ihn getrieben! [...] Eine Kulturnoth treibt Kant: er will ein Gebiet vor dem Wissen retten: dorthin legt die Wurzeln alles Höchsten und Tiefsten, Kunst und Ethik - Schopenhauer".17 Wenn Nietzsche hier eine Kulturnot als Antrieb Kants in Rechnung stellt und zugleich auf Schopenhauer verweist, so darf man das als Kritik an Kant mit kantisch-schopenhauerischen Mitteln verstehen. Im Unterschied zu Schopenhauer erklärt Nietzsche daher das Ausbleiben einer völlig veränderten Philosophie seit Kant nicht mit der Ignoranz seiner Epigonen, sondern als Konsequenz einer unzulänglichen Leistung, einer aus Rücksicht auf kulturelle Nöte zu früh beendeten Emanzipation. Sichtbar werde dieser Mangel an der fehlenden Wirkung: „Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der That dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor Allem selbst revolutioniert sein müssten, bevor irgend welche ganzen Gebiete es sein könnten".18 Wäre Kant wirklich der Alleszermalmer, dessen Philosophie der selbstbewusste Ausdruck der Einsicht in den Tod Gottes, d.h. in die Unmöglichkeit der Metaphysik wäre, so sollten die Menschen in einem weit tieferen Maße davon ergriffen sein. Durch diese Überlegung zeigt sich, dass Nietzsche das Kantische Projekt der Aufklärung für unvollendet hält. Es zeigt sich aber auch, wie Kant und Nietzsche durch die Erfahrung der Fortschritte in den modernen Wissenschaften, insbesondere der Auflösung des terrazentrischen Weltbildes, miteinander verbunden sind. Beide stehen unter dem Eindruck der kopernikanischen Revolution, bei beiden ist das Nachbeben dieses Ereignisses und des damit verbundenen Verlustes der anthropozentrischen Zentralperspektive spürbar. Beide wollen diesem Verlust
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durch eine Stärkung der Vernunft des aufgeklärten Subjekts begegnen, das durch Feigheit und Faulheit in selbstverschuldeter Unmündigkeit verhaftet ist. „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Der Wahlspruch der Aufklärung verbindet, wie schon Jörg Salarquada hervorgehoben hat, Nietzsche mit Kant, aber: „Nietzsche wollte diese Grundidee dort wieder aufnehmen, wo sie s.E. von Kant und den Denkern des deutschen Idealismus verfälscht worden war".19
III. Kants Kritik der Metaphysik in den Grenzen der Vernunft Wie Kant schon 1766 in den Träumen eines Geistersehers bekennt, ist es „die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe, verliebt zu sein, ob ich mich gleich nur selten von ihr einiger Gunstbezeugungen rühmen kann".20 In seinen kritischen und nachkritischen Schriften unternimmt er den expliziten Versuch, die Metaphysik auf „den sicheren Gang einer Wissenschaft"21 zu bringen. Kant verstand seine Kritik der reinen Vernunft als Vorbereitung für eine wissenschaftlich-systematische Metaphysik, welche sich die Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Vernunfterkenntnis bewusst macht und so „die Quelle der Irrtümer verstopft",22 die bisher eine glückliche Entwicklung der Metaphysik verhinderten. Darin sieht Kant eine dringliche Aufgabe, denn sollte eine wissenschaftliche Metaphysik unmöglich sein, entbehrte die Vernunft ihres Fundamentes: „Wie wenig haben wir Ursache, Vertrauen in unsere Vernunft zu setzen, wenn sie uns in einem der wichtigsten Stücke unserer Wissbegierde nicht bloß verlässt, sondern durch Vorspiegelungen hinhält und am Ende betrügt".23 Insofern Kant Gründe fur Vertrauen zur Sprache bringt, thematisiert er die kulturelle und gesellschaftliche Dimension unserer Vernunft. Dass aber das Vertrauen in die Vernunft nicht gut begründet sein könnte, zieht er nicht in Betracht. Während Kant so das Vertrauen in die Vernunft im Rahmen neu gesteckter Grenzen zu begründen sucht, sieht Nietzsche darin einen Mangel an intellektueller Rechtschaffenheit. Natürlich kann hier die Kantische Begründung für mehr Vertrauen in die Vernunft durch eine kritische Rekonstruktion der Metaphysik nur in sehr groben Zügen in Erinnerung gerufen werden. Daher sollen die Überlegungen Kants an einem allerdings zentralen Beispiel, dem Konzept der Kausalität, illustriert werden. Bekanntlich war Kant von David Humes Nachweis der empirischen Unterdeterminiertheit von Kausalschlüssen höchst beeindruckt. „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab".24 Hume
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hatte gezeigt, dass kausale Verbindungen zwischen beobachtbaren Gegenständen oder Ereignissen nicht empirisch wahrnehmbar sind. Die wahrnehmbare Koinzidenz im Auftreten von Phänomenen lässt keinen vollgültigen Schluss auf eine kausale Verbindung zu. Damit widersprach Hume dem aus der Tradition von Aristoteles und Bacon stammenden Idealbild von Wissenschaft, wonach wissenschaftliches Wissen auf der induktiven Verallgemeinerung von sinnlichen Erfahrungen beruht. Wenn alles Wissen empirisch begründet ist, dann ist Hume zufolge nicht erklärlich, woher wir die Vorstellung z.B. von Kausalität nehmen. Hume zufolge haben wir uns einfach daran gewöhnt, koinzidierende Ereignisse kausal zu verbinden und üblicherweise sind wir damit auch sehr erfolgreich. Der Glaube an Kausalität ist bloß die Wirkung einer Kulturnot. „All inferences from experience, therefore, are effects of custom, not of reasoning".25 Kant empfand diese Lösung des Kausalitäts- und Induktionsproblems als unzureichend und er reagiert darauf mit einer grundlegenden Revolution der Denkungsart. „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welche so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll".26 Metaphysische Grundbausteine der menschlichen Vernunft, wie z.B. das Kausalitätsprinzip, ergeben sich demnach weder aus der Erfahrung, noch bloß aus der kulturellen Gewohnheit, sondern unser Erkenntnisapparat schreibt sie den Dingen vor.
IV. Nietzsches Kritik der Metaphysik Kants An diese Kantische Lösung lassen sich mit Nietzsche zumindest drei Fragen richten. Erstens: Woher hat der Erkenntnisapparat die Fähigkeit zur vernünftigen Ordnung der Welt? Zweitens: Was verraten uns die Vorschriften des Erkenntnisapparats und seine synthetische Einheit des Mannigfaltigen über den wirklichen Zustand der Welt? Und drittens: Wer oder Was verlangt mit welchem Recht die Möglichkeit von Erkenntnis a priori? Nietzsches Antwort auf die erste Frage verrät, dass Kants dogmatischer Schlummer für allzu kurze Zeit unterbrochen wurde. Schlimmer noch, Kant ist Nietzsche zufolge nicht nur hinter seine besseren Einsichten zurückgefallen, er verteilt sogar neue Schlafmittel: „Es kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb: man reibt sie sich heute noch. Man
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hatte geträumt: voran und zuerst - der alte Kant. ,Vermöge eines Vermögens' - hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das - eine Antwort? Eine Erklärung? Oder nicht vielmehr nur eine Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium schlafen?"27 Nietzsche löst die subjektseitige Dimension des Erkenntnisprozesses wieder von den Weihen einer apriorischen Begründung, geht aber mit seiner Gegenfrage über Hume und Kant hinaus. Tatsächlich schreibt die menschliche Vernunft der Natur ihre Gesetze vor, aber sie vollzieht damit weder die durch ein Transzendentalsubjekt verbürgte synthetische Einheit der Apperzeption noch lediglich eine alte unbegründete Gewohnheit. Die Tätigkeit des ordnenden Geistes ist Folge der Kulturnot des Menschen, nicht im Chaos, sondern in einem menschengemäßen Kosmos zu leben. Nietzsche revidiert auf diese Weise nicht die Kantische Revolution der Denkungsart, er bestreitet ihr nur die gute Begründung oder gar den Anspruch auf Wahrheit unserer Annahmen über die Welt. Die konsequente Fortsetzung Kants bestünde darin, bewusst Werte zu setzen und einen Kosmos nach unseren Bedürfnissen zu gestalten. Aus der Auffassung der Wissenschaft, also auch des Kausalitätsgedankens als anthropozentrische Deutung und Ordnung der Welt, ergibt sich auch Nietzsches Antwort auf die zweite Frage an Kant. ,„Erklärung' nennen wir's: aber ,Beschreibung' ist es, was uns von den älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser, - wir erklären ebenso wenig wie alle Früheren. [...] Wie könnten wir auch erklären! Wir operiren mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen - , wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde. Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge betrachten, wir lernen immer genauer uns selbst beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben".28 Nietzsche erweist sich so als wissenschaftstheoretischer Anti-Realist. Erklärungen sind ,Anmenschlichungen' der Dinge, ob sie uns Auskunft geben über den wirklichen Zustand der Welt ist höchstens tentativ entscheidbar. Aus dieser skeptischen Zuspitzimg ergibt sich auch Nietzsches Stellung zu der von Kant vorweg verlangten Möglichkeit apriorischer Erkenntnis. Nachdem die metaphysische Basis wissenschaftlichen Wissens und zum Teil mit der Hilfe von Hume und Kant problematisiert ist, kann Nietzsche die Frage nach dem Nutzen und Nachteil bestimmter Wirklichkeitsauffassungen für das Leben ins Zentrum des Interesses zu rücken. „Die Kantische Frage ,wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?' durch eine andre Frage zu ersetzen ,warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthigV - nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt
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werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein könnten!"29 Was Nietzsche auf diese Weise an Kant kritisiert, ist die unkritische Neigung, eine negative Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile nicht zu erwägen und so das Vertrauen in die Vernunft vor die Klammer zu nehmen. Durch die mangelnde Bereitschaft, die Geltung der Vernunft grundlegend in Zweifel zu ziehen, versagt nicht nur Kants philosophische Konsequenz. Er begibt sich auch der Möglichkeit, ihren Nutzen für den Erhalt oder das Glück der Menschen zu beurteilen.
Resümee: Selbstbesinnung und intellektuelle Rechtschaffenheit Nietzsche geht auf zwei Weisen über Kant hinaus. Zum einen zieht er die Grenzen der Vernunft enger als Kant und beschreitet dadurch den schmalen Grad zwischen Aufklärung und Irrationalismus. Damit ist aber kein Plädoyer fur das Ende eines vernünftigen Umgangs zwischen Menschen und gegenüber der Natur verbunden. Seine Philosophie ist nicht als Eintritt in die Postmoderne und damit als Versuch zu verstehen, „die Vernunfthülse der Moderne als solche aufzusprengen".30 Nietzsche weiß, dass die „grösste Gefahr der ausbrechende Irrsinn - das heisst das Ausbrechen des Beliebens" ist,31 aber er zeigt sich zugleich überzeugt, dass allgemeine Anerkennung nicht notwendigerweise die Wirkung von Wahrheit ist. Nietzsches Kritik an Kant ist ein praktiziertes Plädoyer für mehr Mut beim aufklärenden Gebrauch der menschlichen Vernunft, denn darin „sind auch wir noch Menschen des Gewissens: dass wir nämlich nicht wieder zurückwollen in Das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas Unglaubwürdiges'". 32 Ausgehend von diesem philosophischen Gewissen, radikalisiert Nietzsche Kants Kritik der Metaphysik. Zum zweiten geht Nietzsche über Kant hinaus, insofern er die Frage nach dem Wozu stellt. Dabei ist ihm der philosophisch unzureichend begründete Geltungsanspruch von fundamentalen wissenschaftlichen Praktiken und Grundannahmen wie Induktion und Kausalität eine willkommene Argumentationshilfe. Wenn wissenschaftliches Wissen sich als ebenfalls vorläufiges und ungesichertes Wissen erweist, dann eröffnet sich durch diesen Verlust die Möglichkeit, „in einem Augenblick höchster Selbstbesinnung"33 die Maßstäbe für das für uns Wissenswerte und Lebensdienliche neu und selbst zu setzen. Das hieße, aus der Herrschaft des Zufalls und des Glaubens heraustreten und selber zum Subjekt der Geschichte zu werden.
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Anmerkungen Vgl. Habermas, Jürgen: „Nachwort" (1968), in: ders. (Hg.), Friedrich Nietzsche. Erkenntnistheoretische Schriften. Frankfurt/Main, S. 513-515. Ebd., S. 505. Babich, Babette E.: „Truth, Art, and Life. Nietzsche, Epistemology, Philosophy of Sciencc" (1999), in: Dies, und Robert S. Cohen (Hg.), Nietzsche, Epistemology, and Philosophy of Science. Nietzsche and the Sciences II. Dordrecht, S. 1. In den beiden von Babich und Cohen edierten Bänden findet sich eine Übersicht über die internationale Forschung zu Nietzsches Wissenschaftsphilosophie mit weiteren Literaturhinweisen. „Die Geburt der Tragödie. Versuch einer Selbstkritik", in: Nietzsche, Friedrich, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980 (=KSA), Bd. 1, S. 13. Im Unterschied zu allzu strikten Abgrenzungen werkgeschichtlicher Phasen scheint mir dieser vereinheitlichende Blick Nietzsches auf sein Werk produktiver. „Entscheidend an Nietzsches Verhältnis zur Wissenschaft ist nicht das Früher oder Später des Auftretens von Lob und Kritik, sondern die Einbettung der Wissenschaft in einen Zusammenhang der auf Steigerung angelegten menschlichen Kultur." Low, Reinhard: „Die Aktualität von Nietzsches Wissenschaftskritik", in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Vol. 38, 1994, S. 401. Vgl. Gaukroger, Stephen: "Beyond Reality. Nietzsche's Science of Appearances" (1997), in: Ders. (Hg.), The Genealogy of Knowledge. Analytical Essays in the History of Philosophy and Science. Aldershot, S. 304. Ecce Homo, KSA 6, S. 330. Diese Auffassung der zentralen Anliegen der Philosophie Nietzsches wurde in jüngerer Zeit insbesondere von Joachim Müller-Warden vertreten. Vgl. Müller-Warden, Joachim: „Die aktuelle Entwicklung Europas, erörtert im Lichte der Philosophie Friedrich Nietzsches" (1998), in: Volker Gerhardt und Renate Reschke (Hg.), Nietzscheforschung. Ein Jahrbuch. Band 4. Berlin, S. 119146. KSA 1, S. 14. Low: „Die Aktualität von Nietzsches Wissenschaftskritik", S. 400. Zu Nietzsches wissenschaftlicher Lektüre z.B. während der Arbeit an der Fröhlichen Wissenschaft vgl. Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche Biographie. Bd. II. „Die zehn Jahre des freien Philosophierens", Frankfurt/Main 1978, S.81-83. Allgemeiner dazu siehe Mittasch, Alwin: Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952, und Hennemann, Gerhard: „Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph", in: Philosophia Naturalis. Vol. 11,1969, S. 490-501. Leider stellt dieser Bereich noch immer ein Forschungsdesiderat dar. Vgl. Zittel, Claus: Naturwissenschaft (2000), in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar, S. 404-409. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 577. Vgl. KSA 1, S. 355f. Erst in dem nachgelassenen Spätwerk Der Antichrist versteigt sich Nietzsche zu den bekannten verwerfenden Invektiven gegen „dies Verhängnis von Spinne". KSA 6, S. 177f. Die dort vorgebrachten Einwände richten sich aber, und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend, gegen Kant als Moralisten. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. Vier Bücher nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält (1859), in: Ludger Lütkehaus (Hg.), Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Zürich 1988, Bd. 1, S. 536. KSA 7, S. 517.
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Helmut Heit Schopenhauer, Arthur: „Über die Universitätsphilosophie" (1851), in: Ludger Lütkehaus (Hg.), Schopenhauers Werke, Bd. 4, S. 173. KSA 7, S. 427f. Die erwähnte Kant-Stelle findet sich in Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. Β XXX. K S A l . S . 355. Salaquarda, Jörg: „Die Fröhliche Wissenschaft zwischen Freigeisterei und neuer ,Lehre'" in: Nietzsche-Studien. Bd. 26, 1997, S. 173. Diese ausgewogene Haltung zu Kant zeigt sich deutlich auch bei Nietzsche. Vgl. KSA 3, S. 562. Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1968, Bd. 2, S. 982. Kritik der reinen Vernunft, S. Β XIV. Ebd., S. Β XXXI. Ebd., S. Β XV. Werke, a. a. O. Bd. 5, S. 118. Hume, David: "An Enquiry Concerning Human Understanding" (1777), in: P.H. Nidditch (Hg.), David Hume Enquiries. Oxford 1995, S. 36. Kritik der reinen Vernunft, S. Β XVI. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 25. Fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 472f. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 25f. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. 12 Vorlesungen, Frankfurt/Main 1985, S.107. KSA 3, S. 431. Ebd., S. 16. Ecce Homo, KSA 6, S. 330.
Claus Langbehn
Kritik der Vernunft Der frühe Nietzsche und die Transzendentalphilosophie
Kant und Nietzsche stehen vielfach im Widerstreit, und doch sind sie durch das Programm einer Kritik der Vernunft geeint. In der Form ihrer Vernunftkritik unterscheiden sie sich allerdings wesentlich, so dass von einer Kontinuität transzendentalphilosophischer Vernunftkritik bei Nietzsche scheinbar kaum die Rede sein kann. Im Falle des späteren Nietzsche scheint sich zwar der Hinweis auf eine ,physiologisch gewendete Transzendentalphilosophie' anzubieten, in der der Leib als letzte Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis postuliert würde, aber ein so verstandener Begriff des Transzendentalphilosophischen würde kontur- und deshalb sinnlos werden.1 Hinzu kommt, dass die radikale Vernunftkritik Nietzsches in ihrem Rekurs auf die leiblich-physiologische Organisation zunächst und vor allem das Ziel verfolgt, die abendländische Vernunft der Metaphysik endgültig hinter sich zu lassen, ohne selbst dabei den Versuch zu unternehmen, Vernunft und Metaphysik in ein produktives Verhältnis zu setzen, wie Kant dieses noch versucht hatte. Nietzsche betreibt hier eine Kritik der Vernunft im Sinne ihrer Zerschlagung. Die Vernunft bleibt Objekt der Kritik; ihr ist es versagt, zum Subjekt einer solchen Kritik zu werden, die nicht in die Abkehr von der Metaphysik, sondern in deren Neubegründung fuhrt. Kants Kritik der Vernunft hingegen, die nicht allein eine Kritik der Vernunft der dogmatischen Metaphysik ist, fuhrt in ein positives, transzendentalphilosophisch strukturiertes Metaphysikprogramm, das nicht allein deshalb transzendentalphilosophisch ist, weil es erkenntnistheoretische Bedingungsanalyse vollzieht, sondern weil es sich in der Lage sieht, auf der Basis einer Analyse notwendig zugrunde liegender Erkenntnisstrukturen zu synthetisch-apriorischen Sätzen und damit zu einer Form der Metaphysik zu gelangen, die sich eben einer Kritik der Vernunft im Sinne des Genitivus subjectivus verdankt. Nun müssen die Kriterien transzendentaler Vernunftkritik nicht unbedingt jene in der Kritik der reinen Vernunft gegebenen sein, zumindest dann nicht, wenn man den Begriff des Transzendentalphilosophischen sinnvoll innerhalb der Wirkungsgeschichte der Kantischen Philosophie verwenden möchte. Ein
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Claus Langbehn
Erkenntnistheoretiker wie Schopenhauer zum Beispiel, der sich gerne als „Kantianer"2 bezeichnet, könnte kaum noch als Transzendentalphilosoph verstanden werden, sofern man die theoretischen Ansprüche Kants zugrunde legt. Aber damit sich dieser Begriff nicht gänzlich im Allgemeinen verliert, ist es meines Erachtens sinnvoll, zumindest an drei Kriterien festzuhalten, die erfüllt sein sollten, um von transzendentalphilosophischer Vernunftkritik in der Nachfolge Kants sprechen zu können: Die entsprechende philosophische Position muss - erstens - eine erkenntnistheoretische Position sein, die über bestimmte Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis- und Erfahrungsphänomene aufklärt; sie muss - zweitens - im Kontext einer Metaphysik stehen und hier eine Begründungsfunktion besitzen, und sie muss schließlich aus einer Auseinandersetzung mit einer Philosophie hervorgegangen sein, die transzendentalphilosophische Geltung beanspruchen kann. Im Falle Schopenhauers ließe sich zeigen, dass diese Kriterien erfüllt sind, im Falle Nietzsches aber scheint zumindest die eben angedeutete Leibphilosophie weniger geeignet zu sein, von einer hier zweifellos vorhandenen Kritik der Vernunft auf eine transzendentalphilosophische Vernunftkritik zu schließen. Was aber bietet derfrühe Nietzsche, um die Existenz einer solchen Vernunftkritik zu plausibilieren? Zunächst gibt es einige rezeptionsgeschichtliche Aspekte, die den frühen Nietzsche in die Nähe der Transzendentalphilosophie rücken. So findet sich im Nachlass aus dem Jahre 1868 ein Aufzeichnungskomplex zur Teleologie, der aus der Lektüre der Kritik der Urteilskraft hervorgegangen ist.3 Andere Fragmente legen die Vermutung nahe, dass das, was Nietzsche mit der Kantischen Philosophie zu dieser Zeit verbindet, von methodischer Bedeutung für die Geburt der Tragödie (1872) sein könnte.4 In der Geburt der Tragödie selbst wird die Bedeutung Kants emphatisch hervorgehoben.5 Schließlich sind Schopenhauer und Lange nicht zu vergessen, über die Nietzsche mit der Transzendentalphilosophie vertraut gemacht wird: „Kant, Schopenhauer und dies Buch von Lange mehr brauche ich nicht" 6 , schreibt Nietzsche einmal in Begeisterung für Langes Geschichte des Materialismus (1866), die Nietzsches physiologische Erkenntnistheorie späterer Jahre wesentlich vorbereitet. Darüber hinaus finden wir im fragmentarischen Umfeld der Tragödienschrift wie auch in ihr selbst eine einschlägig bekannte Kritik der Vernunft. Man denke nur an die schroffe Kritik an Sokrates, den Nietzsche für den ersten theoretischen Menschen hält und damit für den ersten Philosophen der abendländischen Metaphysikgeschichte, in dem die viel gescholtene ratio nicht mehr kritische Kontrollinstanz, sondern schaffendes Prinzip selbst geworden sei und die aus diesem Grunde die bisher in der Genialenrepublik der Vörsokratiker vorherrschende Intuition abgelöst habe.7 Diese Kritik der Vernunft ist durchaus im Kontext der Geburt der Tragödie diskutierbar und sicherlich integraler Bestandteil einer umfassenden Tragödientheorie, die selbst
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Metaphysik sein will. Aber ein erkenntnistheoretisches Begründungselement dieser Metaphysik, die rezeptionsgeschichtlich zudem auf eine transzendentalphilosophische Position zurückverweist, ist sie nicht. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass die Erörterung einer Kritik der Vernunft im Falle des frühen Nietzsche damit noch nicht an ihr Ende gekommen ist und eben deshalb die Möglichkeit besteht, die Frage nach einer transzendentalphilosophischen Signatur tragödientheoretischen Denkens erneut zu stellen. Diese Frage soll im folgenden weniger beantwortet als differenziert werden. In einem ersten Teil werde ich erörtern, in welchem Sinne Nietzsches Kritik der Vernunft den genannten Kriterien einer transzendentalen Vernunftkritik entsprechen könnte. Anschließend bleibt anzudeuten, wie ein aus der erkenntnistheoretischen und insbesondere transzendentalphilosophischen Tradition bekanntes Verstehensaxiom beim frühen Nietzsche erneut zur Anwendung kommt.
I. Die erkenntnistheoretische Begründung einer „Welt-Rechtfertigung" Die interpretative Vielfalt, die die Geburt der Tragödie in der Geschichte ihrer Rezeption erfahren hat, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nietzsche mit dieser Schrift - von einem philosophischen Standpunkt aus betracht - ein eindeutiges Ziel verfolgt. Im später verfassten „Versuch einer Selbstkritik" (1886) wird deutlich, dass Jahre zuvor eine „Welt-Rechtfertigung" 8 geliefert werden sollte, jene ästhetische Rechtfertigung von Welt und Dasein, die die Tragödienschrift selbst in das Zentrum ihrer philosophischen Ambitionen stellt.9 Diese Philosophie der Rechtfertigung ist weder ein Epiphänomen der Tragödientheorie noch deren Abfallprodukt; bei dieser Rechtfertigungsphilosophie handelt es sich vielmehr um eine Metaphysik, die durch eben jene Tragödientheorie regelrecht begründet wird. Die Geburt der Tragödie mag deshalb das erste veröffentlichte Buch eines Professors der Klassischen Altertumskunde sein - geschrieben hat es ein junger Philosoph in seinem Bestreben, für Kontinuität in der Geschichte abendländischer Rechtfertigungspraxis zu sorgen. Diese Praxis ist für Nietzsche eine Praxis seit der Antike. Sie hebe nicht erst mit der klassischen, von Nietzsche so geschmähten rationalen Metaphysik an; bereits in der Tragödie habe es, so der Tragödientheoretiker, eine Form philosophischer Rechtfertigung gegeben. Man wird dem philosophischen Anspruch der Geburt der Tragödie vielleicht am ehesten gerecht, wenn man ihre „Welt-Rechtfertigung" als begriffliche Umsetzung einer vorbegrifflichen, d.h. philosophisch unartikuliert gebliebenen Rechtfertigung versteht, wie sie Nietzsche zufolge in bestimmten griechischen Tragödien vermittelt wurde. Nietzsche sucht den philosophischen Anschluss an
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diese Tragödien, indem er ihre ästhetische Rechtfertigungsdimension auf die Höhe ihres Begriffs bringt. Dieser Anschluss der Philosophie an die Tragödie wäre in der Antike selbst versäumt worden: „Darin, dass sich an die Tragödie keine Philosophie anschloß", notiert Nietzsche im Jahre 1871, „zeigt sich eine Verkümmerung. [...] Wie verhielten sich die Philosophen zur Kunst? zum Drama? Sie haben es nie erreicht, Dank ihrem sokratischen Ursprünge."10 Der Anschluss an die antike Tragödie vollzieht sich beim frühen Nietzsche deshalb in Form einer Entwicklung tragischer Philosophie, die - sofern man diesen Anschluss an die Programmatik aus dem „Versuch einer Selbstkritik" zurück bindet - eine tragödientheoretisch fundierte Philosophie der „Welt-Rechtfertigung" sein muss. Und weil Nietzsche einmal von der ,,ethische[n] Philosophie der Tragiker"11 spricht, bliebe hinzuzufügen, dass die auf begriffliche Höhe gebrachte Tragödie in einer philosophischen Ethik der Gegenwart mündet. In der Tat will die Metaphysik der Tragödienschrift eine Ethik im Sinne einer Philosophie der Rechtfertigung sein. Diese Ethik ist die für Nietzsche noch einzig verbleibende Möglichkeit, der grundsätzlich notwendigen philosophischen Rechtfertigungspraxis gerecht werden zu können. Auch die rationale Metaphysik seit Sokrates, den Nietzsche als „Urbild" des theoretischen Menschen versteht12, sei im Kern durch das Programm der Rechtfertigung gekennzeichnet. Die rationalistische Rechtfertigungspraxis aber sei mit und seit Kant nicht mehr möglich, da die epistemischen Ansprüche der rationalen Metaphysik angesichts der Ansprüche der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr aufrecht zu erhalten seien. Die Konsequenzen der transzendentalphilosophischen Vernunftkritik bestehen nach Meinung des frühen Nietzsche aus diesem Grunde vor allem in der Beendigung einer spezifischen Form der Rechtfertigungsphilosophie, deren Ende kompensiert werden will. So besehen ist die Geburt der Tragödie eine Antwort auf den metaphysikkritischen Kant, der mit seinem erkenntniskritischen Werk Nietzsche zufolge allerdings weitaus mehr geleistet hat als allein die rationale Rechtfertigungspraxis beendet zu haben. Denn der Transzendentalphilosophie, zu der für Nietzsche freilich auch und gerade Schopenhauer zählt, wird in der Tragödienschrift Kultur stiftende Kraft zugesprochen. Zu den originellsten Deutungen in ihrer Rezeptionsgeschichte dürfte gehören, dass durch sie eine tragische Kultur eingeleitet worden sei.13 Die Kantische Zurückweisung rational-metaphysischer Erkenntnisansprüche, wie Nietzsche sie versteht, bedeutet ihm die Inthronisation philosophischer Weisheit, die sich dem „Gesammtbilde der Welt"14 zuwende; Kant und Schopenhauer hätten eine „unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst" 15 eingeleitet. Die Geburt der Ethik aus dem Geiste der antiken Tragödie erweist sich vor diesem Hintergrund als Folge des Versuchs, im Bewusstsein nachkantischer Möglichkeiten an der philosophischen Rechtfertigungspraxis festzuhalten. Nietzsche
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steht deshalb zwar wesentlich in der Tradition jener ,,ethische[n] Philosophie der Tragiker", aber manche der Bedingungen, unter denen dieser Anschluss an die antike Tragödie stattfindet, sind Bedingungen der modernen Philosophie seit Kant. Sie müssen berücksichtigt werden, sofern man das philosophische Selbstverständnis des frühen Nietzsche verstehen möchte. Seine Ethik oder auch Philosophie der „Welt-Rechtfertigung" verkörpert eine neue Form der Metaphysik im nachmetaphysischen Zeitalter. Diese Feststellung ist nicht widersprüchlich, da es sich bei dieser neuen Metaphysik nur noch um eine philosophische Interpretation von Welt und Dasein handelt, die nicht mehr damit rechnet, metaphysische Geltungsansprüche im Sinne der rationalen Metaphysik erheben zu können. Für dieses philosophisch-metaphysische Selbstverständnis ist wesentlich Friedrich Albert Lange verantwortlich, dessen Unterscheidung von Philosophie als Wissenschaft und Metaphysik als Begriffsfügung großen Eindruck auf den frühen Nietzsche macht. 16 Während der Schopenhauer-Leser Nietzsche die Metaphysik Schopenhauers auf der Basis dieser Unterscheidung gleichsam zu retten versucht, indem er ihr den Status einer ,Begriffsfugung' zuschreibt17, so realisiert der Tragödientheoretiker Nietzsche mit seiner Geburt der Tragödie selbst eine solche ,Begriffsfügung'. Pure Dichtung ist diese Schrift deshalb jedoch nicht. Im Unterschied zu Lange, der dem Metaphysiker alle Freiheiten zugesteht, sofern dieser sich auf dem von Lange erkenntniskritisch festgestellten Boden seiner Ansprüche bewegt, versucht Nietzsche eine Ethik zu konzipieren, die argumentativer Natur ist und ihren Anschluss an die philosophische Tradition sucht. Für den frühen Nietzsche gilt, dass er sich mit einer Rechtfertigungsphilosophie unter den Bedingungen der Gegenwartsphilosophie zu positionieren sucht, indem er diese Philosophie einerseits nur noch als Interpretation und Auslegung versteht, andererseits aber keinesfalls in dichterische Willkür verfällt, sondern an philosophischen Begründungsstrategien festhält, ohne mit eben jenen eine wissenschaftliche Philosophie im Sinne Langes zu realisieren. Nietzsches Ethik ist eine Metaphysik, die vom Standpunkt der Tradition aus philosophisch identifizierbar ist. Modern ist ihre Begründung nun vor allem deshalb, weil sie erkenntnistheoretischer Natur ist, und da sie eine „Welt-Rechtfertigung" bietet, muss es sich bei jenem antiken Phänomen, an das die Geburt der Tragödie philosophisch anschließt, um ein solches handeln, das erkenntnistheoretisch zugänglich ist und zugleich als ein Moment metaphysischer Rechtfertigung verstanden werden kann. Dieses Phänomen ist die Wirkung der antiken Tragödie. Nietzsche beschreibt dieses Phänomen grundsätzlich auf zwei unterschiedlichen Ebenen. In kulturpsychologischer Hinsicht führt er das angeblich harmonische Wesen des griechischen Volkes auf die Wirkung der griechischen Tragödie zurück. 18 Für das Individuum wird dagegen jener metaphysische Trost in den
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Vordergrund gerückt, der es dem Einzelnen erlaubt habe, das für den Menschen endliche Leben angesichts eines überindividuellen unendlichen Lebens zu bejahen. 19 Die antike Tragödie, zumindest jene bis Aischylos und Sophokles, habe die Einsicht in diese Unendlichkeit des Lebens, den Sinn der eigenen Existenz und damit tragische Metaphysik, mithin Rechtfertigung des menschlichen Leidens vermittelt. Die eigentliche Leistung des Tragödientheoretikers besteht für Nietzsche allerdings darin, die solcherart postulierte Wirkung zu begründen, d.h. aufzuzeigen, wie die - tragisch vermittelte - metaphysische Einsicht auf Seiten des Tragödienzuschauers philosophisch rekonstruierbar sein könnte. Nietzsches Wahl fällt unter anderem auf die Erkenntnistheorie, die ihm ein Axiom zur Verfügung stellt, das er auf komplexe Art und Weise in den Kontext einer Tragödientheorie stellt und schließlich dazu verwendet, ein Novum in der Geschichte der Tragödienwirkungstheorie zu etablieren: die aristotelische Katharsis wird zu einem philosophischen Konzept, das nicht mehr wirkungspsychologisch, sondern transzendentalphilosophisch begründet wird.20 Bevor ich die Konturen der Verwendung dieses Axioms nachzeichne, bleibt festzuhalten, dass der frühe Nietzsche durchaus den Kriterien nachkantischer Transzendentalphilosophie entsprechen könnte, sofern meine hier nur rudimentären Ausführungen einer Prüfung standhalten können. Um eine Philosophie der „Welt-Rechtfertigung" im nachmetaphysischen Zeitalter zu begründen, bezieht sich Nietzsche auf die antike Tragödie und deren postulierte ,metaphysische' Wirkung, die er im Rekurs auf ein erkenntnistheoretisches Axiom transzendentalphilosophisch erklärt. Er legt eine Erkenntnistheorie vor, um eine neue Form der Metaphysik zu begründen - eine solche Feststellung darf nicht weniger für Kant als für Nietzsche getroffen werden. Seine Kritik der Vernunft ist nicht allein destruktiver, sondern auch konstruktiver Natur, und mit ihr bleibt er dem „Typus rationaler Begründung" 21 gewiss treu.
II. Das Verstehensaxiom und die Idee einer formal-funktionalen Repräsentanz In einem Brief an Beck aus dem Jahre 1794 schreibt Kant, wir könnten nur das verstehen, was „wir selbst machen können". 22 Diese Mitteilung erscheint zunächst unspezifisch und nicht ohne weiteres in einen philosophischen Kontext zu bringen. Doch schon der anschließende Satz gibt die entscheidende Richtung an: „Die Zusammensetzung", heißt es da, „können wir nicht als gegeben wahrnehmen, sondern wir müssen sie selbst machen." Zusammensetzung - das ist hier die Zusammensetzung einzelner in der Sinnlichkeit gegebener Erscheinungen. Diesen Aspekt betont Kant auch einmal im heute als Reflexionen zur Metaphysik
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bezeichneten Nachlass: Die „Verknüpfung der Dinge in der Welt" würden wir nur deshalb erkennen, weil wir sie durch eine „allgemeine Handlung, folglich aus einem principio der inneren Potenz hervorbringen können".23 Ihren systematischen Ort haben diese allgemein erkenntnistheoretischen Anmerkungen in der Kritik der reinen Vernunft. Dort wird der reine Verstand als „Quell [...] der formalen Einheit der Natur" 24 bezeichnet, und das bedeutet vor allem nach der Deduktion (A) als jenes gesetzgebende Vermögen, durch das die Erscheinungen a priori in einen naturgesetzlichen Zusammenhang gestellt werden. In der ersten Kritik verstreute Äußerungen wie: der Verstand sei das Vermögen, „a priori zu verbinden" 25 , oder: der Verstand finde die Verbindung des Mannigfaltigen nicht vor, sondern „bring[ej sie hervor"16, werden in der Tat allererst durch die transzendentale Deduktion der Kategorien begründet. Indem Kant hier den notwendigen Zusammenhang von Kategorien und Erscheinungen aufweist, demonstriert er zugleich die prinzipielle Urheberschaft des reinen Verstandes hinsichtlich dessen, was er die ,Natur' nennt. Der Naturbegriff verweist hier nicht auf die Gegenstände, d.h. Erscheinungen, sondern auf deren gesetzlichen Zusammenhang. Nur vor dem Hintergrund dieser Identifizierung von Natur und gesetzlichem Zusammenhang ist das am Ende der Deduktion (A) vorzufindende Resümee zu verstehen, dass es ohne Verstand keine Natur geben würde?1 Die Mitteilung an Beck - wir können nur das verstehen, was wir selbst machen können - ist deshalb vielleicht eine beiläufige Bemerkung, aber ihr Hintergrund verweist auf eines der berühmtesten Theoriestücke der modernen Philosophiegeschichte, auf die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Zugleich verweist sie auf ein bedeutendes erkenntnistheoretisches Axiom der Tradition - auf den Grundsatz eben, dass ich nur das erkenne, was ich selbst hervorbringe. 28 Ich bezeichne diesen Grundsatz hier als das Verstehensaxiom. In der Kritik der reinen Vernunft wird dieses Axiom allerdings nicht allein in der Deduktion thematisch. Zum einen lässt sich mit ihm an Kants Orientierung der Metaphysik an Mathematik und Physik erinnern. In der Zweiten Vorrede sucht er in diesen Disziplinen nach einem Grundsatz, durch den die jeweilige Revolution der Denkungsart in diesen Wissenschaften möglich geworden ist. Dieser Grundsatz lautet: Man erkenne nur das von den Dingen, was man selbst in sie hineingelegt habe.29 Auf die Frage, wie dieser Grundsatz für die Metaphysik geltend zu machen ist, um sie als Wissenschaft zu begründen, antwortet er in der Zweiten Vorrede zwar nicht mit dem transzendentalen Deduktionsprogramm, aber die eben vorgetragenen Ausführungen sollten deutlich machen können, dass die Hervorbringung dessen, was Kant,Natur' nennt, nämlich der gesetzliche Zusammenhang zwischen den Erscheinungen, eine notwendige Bedingung der Möglichkeit ist, naturwissenschaftliche Gesetze zu formulieren.
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Zum anderen thematisiert Kant das Urheberprinzip nicht nur im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Mathematik und Physik, sondern auch mit Bezug auf die Schöpfungsfrage. Abermals beziehe ich mich auf die Reflexionen zur Metaphysik, in denen sich einige Passagen finden, die die Mitteilung an Beck um eine zweite Dimension erweitern. Hier sucht Kant bisweilen den direkten Vergleich zwischen göttlichem und menschlichem Intellekt, um auf die grundsätzliche Gemeinsamkeit aufmerksam zu machen, dass hier wie dort das Prinzip der Urheberschaft gelte, der göttliche Verstand aber im Unterschied zum menschlichen die Dinge an sich hervorbringe, während der menschliche Verstand nur - wie bereits erläutert - den naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen Erscheinungen hervorbringe. 30 Kant ist freilich nicht der erste, der die menschliche Erkenntnis in ihrer Struktur zu einer göttlichen in Beziehung stellt. Karl-Otto Apel spricht von dem Theorem der formal-funktionalen Repräsentanz, das man philosophiegeschichtlich zwischen Cusanus und Kant beobachten könne und das in unterschiedlichen Variationen einen onto-theologischen und einen menschlich-kognitiven Prozess strukturell nebeneinander stelle.31 Dass nun auch Nietzsche, der Autor der Geburt der Tragödie, in dieser Tradition von Verstehensaxiom und formal-funktionaler Repräsentanz stehen soll, wie ich behaupten möchte, ist nicht unmittelbar einsichtig. Im Falle der formal-funktionalen Repräsentanz bleibt anzumerken, dass der ontologische Prozess, der in der Tradition immer auch als göttlicher Schöpfungsprozess verstanden wurde, bei Nietzsche seine christlich-theologische Imprägnierung verloren hat. Jener seinskonstituierende Prozess bei Nietzsche ist der so genannte Urprozess, dessen theoretischer Hintergrund vor allem in den Fragmenten der Jahre 1868 bis 1871 erkennbar wird. Ich habe an anderer Stelle von einer Metaphysik der Individuation gesprochen und kann hier nur auf einen Grundzug dieser Individuationstheorie hinweisen. 32 Sinnvollerweise geht man dabei von dem aus, von dem auch Nietzsche ausgegangen ist: „Ich scheue mich", bekundet er in einer Aufzeichnung, „Raum Zeit und Kausalität aus dem erbärmlichen menschlichen Bewusstsein abzuleiten: sie sind dem [Ur-]Willen zu eigen." 33 Raum, Zeit und Kausalität bilden in der Schopenhauerschen Philosophie das principium individuationis, das hier allerdings noch ein erkenntnistheoretisches Prinzip innerhalb eines transzendentalphilosophischen Ansatzes ist. Nietzsches Verlagerung dieses Prinzips in den Bereich dessen, was er Ur-Wille oder auch das Ur-Eine nennt, bedeutet in der Konsequenz eine Ontologisierung, d.h. die Individuierung durch Raum, Zeit und Kausalität fuhrt hier nicht mehr zu allein in der Sinnlichkeit gegebenen Erscheinungen - oder auch Vorstellungen - wie der Erkenntnistheorie Schopenhauers zufolge, sondern zu den Individuen dieser Welt selbst. Aus Schopenhauers wahrnehmungstheoretischem Vorstellungsbegriff ist ein ontologischer Konstitutionsbegriff geworden, und aus dem epistemologischen
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ein ontologisches Individuationsprinzip. Nietzsches Metaphysik der Individuation geht also unmittelbar aus einer Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie Schopenhauers hervor. Im Ergebnis bietet sie eine Theorie der Individuation, die einer Theorie des Urprozesses gleichkommt. Dieser Prozess der Individuation nun steht in struktureller Analogie zu einem Prozess der Hervorbringung jener Vorstellungen, die noch ganz im Rahmen einer Erkenntnistheorie des Künstlers zu erörtern sind: Die ästhetische Vorstellung sei das Ergebnis der „ Wiederholung des Urprozesses, aus dem die Welt entstanden ist"34 - im Künstler, so Nietzsche, „wiederholt sich der Urprozeß" 35 , er sei derjenige, in dem der „ganze Prozeß von neuem entsteht" 36 . Es ist diese Strukturparallelität, die in der Frage nach der Begründung der Tragödienwirkung von ausschlaggebender Bedeutung ist, denn mit dem dann in der Geburt der Tragödie eingeführten Prinzip der Aufhebung empirischer Subjektivität zugunsten einer überindividuellen Subjektivität (des so genannten Ur-Einen) wird zugleich die Idee einer Standpunktphilosophie vertreten: Der Tragiker, aber auch der Tragödienzuschauer nehmen die Welt in ihrer spezifisch tragischen Anschauung, die als Wiederholung der Individuation gedacht wird, von einem Standpunkt wahr, der eigentlich der des Subjekts dieser Individuation und damit der des ,Schöpfers' dieser Welt ist.37 Das zugrunde liegende Motiv ist auch die für Nietzsche noch verbindliche Geltung des Verstehensaxioms, das er unter den Bedingungen einer Theorie der metaphysischen Tragödienwirkung reorganisieren muss. Ein Fragment aus der Zeit zwischen Ende 1869 und Anfang 1870 bildet dabei den Keim zu dieser Theorie, denn in ihm wird die Problematik der Selbsthervorbringung bestimmter Vorstellungen erstmals thematisiert. Unter der Vorgabe, die „Entstehung der dramatischen Grundgesetze" zu erklären, notiert Nietzsche hier folgendes: „Das Epos will, daß wir Bilder vor Augen bekommen. Das Drama, das die Bilder gleich vorführt - was will ich, wenn ich ein Bilderbuch ansehe? Ich will es verstehn. Also umgekehrt: ich verstehe den epischen Erzähler und bekomme Begriff auf Begriff an die Hand; jetzt helfe ich mit der Phantasie nach, fasse alles zusammen und habe ein Bild. Damit ist das Ziel erreicht: das Bild verstehe ich, weil ich es selbst erzeugt habe. Beim Drama gehe ich vom Bilde aus: wenn ich jetzt ausrechne, das und das hat dies zu bedeuten, so entgeht mir der Genuß. Es soll selbstverständlich' sein." 38
Nietzsche unternimmt seine Erklärung der „dramatischen Grundgesetze" auf der Basis eines Vergleichs von Epos und Drama. Im Mittelpunkt steht eine im weitesten Sinne wirkungspsychologische Analyse, die nach dem ersten Satz auf ihr eigentliches Problem gestoßen wird. Das Ziel der epischen Erzählung, deren Medium der Begriff ist, bestehe darin, so Nietzsche zunächst, dass der Zuhörer Bilder vor Augen bekomme. In wirkungspsychologischer Hinsicht ist das Problem des Epos also der Übergang vom Begriff zum Bild und damit die
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Entstehung des Bildes. Den zweiten Satz bricht Nietzsche frühzeitig ab, und das wohl vor allem deshalb, weil sich mit und in ihm die Problemstellung auftut. Denn Nietzsche ist mit dem Problem konfrontiert, dass das dramatische Schauspiel die Bilder unmittelbar vorfuhrt. Das Problem lautet: Wie kann man ein Schauspiel verstehen, wenn man als Zuschauer doch zugleich mit Bildern konfrontiert ist? Die Bedingung der Möglichkeit, ein Epos zu verstehen, hat Nietzsche genannt: Das Bild verstehe man, weil man es selbst erzeugt habe. Hier zeigt sich nicht nur das Verstehensaxiom, sondern auch die Zusammenführung von Verstehen und bildlichem Bewusstsein (was immer auch zunächst darunter zu verstehen ist). Um also etwas verstehen zu können, muss man für Nietzsche nicht nur Urheber dessen sein, was man versteht - das, was hervorgebracht wird, muss zudem bildliche Form haben. Im Falle des Dramas wird man nun allerdings α priori mit Bildern konfrontiert, die - so besehen - selbst nicht hervorgebracht werden können. In der Geburt der Tragödie wird Nietzsche dieses Problem durch eine Theorie der Tragödienwirkung lösen, durch die das hier spezifizierte Verstehensaxiom in einen Ansatz verwirklicht wird, der nur möglich ist durch Integration der erörterten Ontologie und damit durch eine originelle Wiederaufnahme des Theorems der formal-funktionalen Repräsentanz. Ist der frühe Nietzsche ein Transzendentalphilosoph? Soviel möchte man zugestehen: Er ist ein transzendentalphilosophisch sensibilisierter Autodidakt, dessen theoretische Ambitionen nicht unabhängig von der klassischen Erkenntnistheorie verstanden werden können. Er bietet keine transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie im engen Sinne, aber doch immerhin eine transzendentalphilosophisch imprägnierte Theorie der Tragödienwirkung, mithin eine Erkenntnistheorie, die eine postulierte Tragödienwirkung - den metaphysischen Trost - im Rekurs auf solche Grundsätze begründet, die auch bei Kant zur Anwendung kommen. So besehen, sollte eine angemessene Auseinandersetzung mit dem frühen Nietzsche nicht von der Idee beseelt sein, ihn in die transzendentalphilosophische Tradition zu stellen (koste es, was es wolle); sinnvoller erscheint es, das komplexe Argumentationsgeflecht von Fragmenten und Tragödienschrift unter Befragung der erkenntnistheoretischen Tradition, vor allem der transzendentalen seit Kant, zu lichten. Am Ende könnte sich herausstellen, dass Nietzsches Geburt der Tragödie nicht nur in dem Sinne ein Text von nahezu esoterischer Qualität ist, weil die bedingungslose Gefolgschaft tragische Erlösung verspricht; esoterisch könnte dieser Text auch deshalb sein, weil sein Verständnis die Rekonstruktion einer Metaphysik der Erfahrung voraussetzt, die sich in den Fragmenten abzeichnet, die aber zu Ungunsten eines angemessenen Verständnisses unreflektiert in den veröffentlichten Text eingegangen ist.
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Anmerkungen Die Vernunft des Leibes, die im Zarathustra gepriesen wird, ist eine Vernunft, die vielleicht als „Nietzsches andere Konzeption eines Apriori" ausgewiesen werden kann, aber mit dieser Konzeption ist Nietzsche gewiss kein Transzendentalphilosoph; im Gegenteil: dieses Apriori, so Pieper, ist aus einer radikalen Kritik idealistisch-transzendentaler Theorien hervorgegangen (vgl. Pieper, Annemarie: „Der Leib als große Vernunft. Nietzsches andere Konzeption eines Apriori", in: Karen Gloy (Hg.), Rationalitätstypen, Freiburg/München 1999, S. 111-128). Salaquarda will im Denken Nietzsches einen „radikalen Kritizismus im Gefolge Kants, Schopenhauers und Langes" sehen (Salaquarda, Jörg: „Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie", in Lutz Bachmann (Hg.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einfiihrung in seine Philosophie, Frankfurt a. Μ. 1985, S. 27-61, hier 40). Schopenhauer, Arthur, „Fragmente zur Geschichte der Philosophie", in: Arthur Schopenhauer. Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Bd. IV, Zürich 1988, S. 48. Vgl. Nietzsche, Friedrich, „Nachgelassene Fragmente. Herbst 1869-Herbst 1872", in: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Dritte Abteilung. Dritter Band, Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.), Berlin/New York 1978, S. 548-578 (entspricht auch der Zitationsform KGW 1/4, Herbst 1867-Frühjahr 1868, 62 [April/Mai 1868], S. 548-578, nach der ich im Folgenden zitiere). Eine methodenleitende Funktion der Transzendentalphilosophie in der Auseinandersetzung mit der Welt der griechischen Antike, die noch eine „völlig unerkannte" sei, deutet der Zusammenhang zwischen zwei privaten Aufzeichnungen an: „Mein Weg, einen Zugang vom Geist der Musik und einer ernsthaften Philosophie aus zu finden", beschreibt Nietzsche sein Vorhaben in dem Jahr vor Veröffentlichung der Tragödienschrift (KGW III/3, 1871, 9 [34], S. 296). Eine Antwort auf die Frage, was er hier unter einer „ernsthaften Philosophie" verstehen könnte, bietet folgendes Fragment: „Kant und das deutsche Heer", heißt es wenig später, verkörpere die „ernsthafteste Philosophie" (ebd., 9 [31], S. 295). Vgl. Nietzsche, Friedrich, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", in: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Dritte Abteilung. Erster Band, Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.), Berlin/New York 1972, S. 114 (im Folgenden unter der Sigle GT zitiert). Nietzsche, Friedrich, „Brief an Hermann Mushacke von Nov. 1866 (526)", in: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Erste Abteilung. Zweiter Band, Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.), Berlin/New York 1975, S. 184. Vgl. unter anderem GT, S. 84-87. GT, „Versuch einer Selbstkritik", S. 12. Für den „wahren Schöpfer" seien die Menschen „Bilder und künstlerische Projektionen", d.h. Kunstwerke, in denen wir unsere „höchste Würde" hätten - denn „nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" (GT, S. 43). KGW III/3, September 1870-Januar 1871, 5 [21], S. 101. KGW III/3, Herbst 1869, 1 [108], S. 38. GT, S. 96, 112. Der theoretische Mensch, der änthropos theoretikös, ist ein häufig fallender Ausdruck in den Jahren 1870 und 1871. Vgl. u. a. KGW III/3, Herbst 1869/70-Frühjahr 1870, 2 [5], S. 44und 3 [36], S. 70; KGWIII/3; Ende 1870-April 1871, 7 [64], S. 161 und7 [7], S. 146; KGW III/3; Ende 1870, 6 [13], S. 140; KGW III/3, September 1870-Januar 1871, 5 [33], S. 106. Vgl. GT, S. 114. GT, S. 124. Vgl. Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1866, S. 268f. Unter Metaphysik versteht Lange nur noch Begriffsfugung, die sich von Kunst und Religion nicht mehr unterscheide. Strengere Kritik mache auch größere Freiheit möglich, und solange Metaphysik nicht den Anspruch auf wahre Erkenntnis mache, sei
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Claus Langbehn sie nicht nur erlaubt, sondern auch begrüßenswert. Janz ist der Meinung, Lange sei für die Entwicklung Nietzsches nicht weniger wichtig als Schopenhauer und schließlich der Grund ftir seine Ablösung von diesem gewesen (vgl. Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1, München/Wien 1987, S. 197; zu Langes Bedeutung vgl. ebd., S. 197-201). Vgl. auch die Arbeiten von George Stack (Lange and Nietzsche, Berlin 1983) und Jörg Salaquarda („Nietzsche und Lange", in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 236-253).
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Vgl. hierzu das umfangreiche Fragment „Zu Schopenhauer", in: KGW1/4, Herbst 1867-Frühjahr 1868,57 [51-55], S. 418-427. Nietzsche konstruiert mit der indischen und römischen Kultur historische Grenzen, in denen sich die griechische Kultur als Eben- und Mittelmaß entfaltet habe. Sie sei weder durch das Extrem buddhistischer Willensverneinung noch durch das andere Extrem äußerster Verweltlichung - mithin äußerster Willensbejahung - gekennzeichnet. Die Griechen hätten eine dritte Kulturform hervorgebracht, und es sei im wesentlichen der Tragödie zu verdanken, dass die Griechen weder in Willensverneinung noch -bejahung verfallen seien. So versteht Nietzsche die Tragödie auch als „Mittlerin" der an sich verhängnisvollen Eigenschaften eines Volkes, als eine das „ganze Volksleben erregende, reinigende und entladende Gewalt" (GT, S. 130). Vgl. u. a. GT, S. 105. Die in diesem Abschnitt skizzierten Zusammenhänge werden ausführlich erörtert in Langbehn, Claus: Metaphysik der Erfahrung. Zur Grundlegung einer Philosophie der Rechtfertigung beim frühen Nietzsche, Würzburg 2005. Gerhardt, Volker: „Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt", in: ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 46-71, hier S. 60. Kant, Immanuel, „Brief an J.S. Beck", in: Kants gesammelte Schriften. Band 11. Zweite Abteilung: Kants Briefwechsel, Bd. 2: 1789-1794. Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), 2. Auflage Berlin/Leipzig 1922, S. 515. Kant, Immanuel, „Reflexionen zur Metaphysik (5090)", in: Kants gesammelte Schriften. Band 18. Dritte Abteilung: Kants handschriftlicher Nachlass, Bd. 5: Metaphysik, Zweiter Teil. Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Berlin/Leipzig 1928, S. 84f. KrV, A 127. KrV, Β 135. KrV, Β 155. Vgl. KrV, A 126. Zur modernen Geschichte dieses Grundsatzes und seiner Anwesenheit in der Kritik der reinen Vernunft vgl. auch Baum, Manfred: „Erkennen und Machen in der .Kritik der reinen Vernunft'", in: Burckhard Tuschling (Hg.), Probleme der „Kritik der reinen Vernunft", Berlin/New York 1984, S. 161-177. Vgl. KrV, Β XI/XII. Vgl. Kant, „Reflexionen zur Metaphysik (R 6040-6057)", a. a. O., S. 431-440. Die Parallelisierung von Schöpfungs- und Erkenntnisprozess findet sich in der Kritik der reinen Vernunft in der Unterscheidung von intuitus originaris und intuitus derivativus nur indirekt (vgl. KrV, Β 72). Vgl. Apel, Karl-Otto: „Das Verstehen (eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte)", in: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), S 142-199. Zur Rekonstruktion dieser Metaphysik der Individuation vgl. Langbehn, Metaphysik der Erfahrung, a. a. O., S. 134-148. KGW III/3, 5 [81], S. 118. KGW III/3, Endel870-April 1871, 7 [196], S. 221. Ebd., 7 [175], S. 216. Ebd., 7 [201], S. 224. Vgl. hierzu ausfuhrlich Langbehn, Metaphysik der Erfahrung, a. a. O., S. 149-171 und S. 202-240. KGW III/3, Winter 1869-70-Frühjahr 1870, 2 [26], S. 53.
Jorg Baumgartner
Kant und Nietzsche über das Erkenntnissubjekt Zwei Übereinstimmungen und ein Gegensatz
Ich habe vor, zwei Übereinstimmungen der beiden Denker zu behandeln. Die erste ist ihre gegen die Cartesianische Tradition gerichtete Behauptung, dass wir unbewusste Vorstellungen haben: Beide argumentieren zugunsten dieser Behauptung auf empirischer Grundlage. Die zweite ist ihre - obschon unterschiedlich begründete - Zurückweisung der traditionellen Auffassung des Geistes, des Selbst oder des Ich als substantieller Einheit. Der Gegensatz zwischen ihnen betrifft, wie zu erwarten ist, Kants Lehre von der transzendentalen Einheit der Apperzeption.
I. Unbewusste Vorstellungen Beide Denker widersprechen Descartes' Ansicht, dass wir die Inhalte unseres Bewusstseins problemlos kennen. Sie weisen, in anderen Worten, zurück, worauf sich Interpreten als die Cartesianische Auffassung von der epistemologischen Transparenz des Bewusstseins beziehen. Diese Auffassung enthält zwei miteinander verbundene Thesen: (1) Es gibt nichts in meinem Bewusstsein, dessen ich mir nicht bewusst bin; (2) Ich habe sichere Kenntnis von meinem eigenen Bewusstseinszustand als Zustand.1 Wir finden die erste These zum Beispiel in der Ersten Meditation, in der Descartes sagt, dass er mit Gewissheit versichern kann, dass nichts in mir sein kann, dessen ich mir nicht in irgendeiner Weise bewusst bin. Wir finden die zweite These insbesondere in der Zweiten und Dritten Meditation: Nicht nur das „Ich denke" und seine verschiedenen Modi, wie „Ich zweifle", „Ich verstehe" oder „Ich stimme zu", sind unzweifelhaft, sondern jeder Bewusstseinszustand als Zustand.2 Zu Beginn der Transzendentalen Deduktion in Β sagt Kant: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können-, denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein." (B 131-132).3 Auf den ersten Blick sieht es so aus, als
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ob für Kant keine unbewussten Vorstellungen möglich wären, und dass der bloße Begriff einer solchen Vorstellung wie fur Descartes ein Widerspruch in sich wäre. Aber hier, wo Kant mit dem Erkenntnissubjekt befasst ist, ist diese Möglichkeit, Henry Allison zufolge, nur auf eine Vorstellung anwendbar: „if the representation is to function as a representation, that is, to represent some object". Die Behauptung, dass eine Vorstellung „für mich nichts sein würde" bedeutet also nicht, dass die Vorstellung nicht existiert, sondern nur, dass sie keinen Gegenstand vorzustellen vermag. 4 Unter der Voraussetzung dieser Interpretation stimmt Kants Behauptung mit dem Titel von § 6 der Anthropologie überein: „Von den Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewußt zu sein" (Ak. VII, 135).5 Kant sagt an dieser Stelle, „daß das Feld unserer Sinnenanschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, daß wir sie haben, d.i. dunkeler Vorstellungen im Menschen (und so auch in Thieren), unermesslich sei". Als Beispiele gibt er die Gesichtszüge eines von weitem erblickten Menschen oder die individuellen Tonbildungen in der Improvisation eines Organisten an. In einem Brief an Markus Herz schreibt er über solche Vorstellungen, dass „sie (wenn ich mich in Gedanken zum Thier mache) als Vorstellungen, die nach einem empirischen Gesetze der Assoziation verbunden wären und so auch auf Gefühl und Begehrungsvermögen Einflus haben würden, in mir [...] immer hin ihr Spiel regelmäßig treiben können, ohne daß ich dadurch im mindesten etwas, auch nicht einmal diesen meinen Zustand, erkennete". (Ak. XI, 52) Für Kant ist der größte Teil unseres geistigen Lebens epistemologisch nicht transparent, sondern undurchsichtig: „auf der große Karte unseres Gemüths [sind] nur wenig Stellen illuminirt (Ak. VII, 135). Über diesen Punkt besteht Einvernehmen zwischen Kant und Nietzsche. Richard Schacht hat darauf hingewiesen: Nietzsche „acknowledges the reality of a broad range of mental phenomena which may or may not themselves be objects of awareness".6 Einige typische Passagen seien angeführt: „Der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiß es nicht; das bewusst werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon".7 „Wir verlernen uns für unser Selbst verantwortlich zu machen, da wir als bewusste zwecksetzende Wesen nur der kleinste Theil davon sind."8 Darüber hinaus sind beide Denker Leibniz' Lehre von denpetitesperceptions verpflichtet, die er in den Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand und anderen Schriften entgegen der Cartesianischen Tradition entwickelt. Der Unterschied zwischen Leibniz' Sicht und derjenigen Kants in der Anthropologie scheint größtenteils terminologisch zu sein. Nietzsche erwähnt Leibniz namentlich und spricht über
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„Z,eibnitzens unvergleichliche Einsicht, mit der er nicht nur gegen Descartes, sondern gegen Alles, was bis zu ihm philosophirt hatte, Recht bekam, - dass die Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung ist, nicht deren nothwendiges und wesentliches Attribut, dass also das, was wir Bewusstsein nennen, nur einen Zustand unsrer geistigen und seelischen Welt ausmacht [...] und bei weitem nicht sie selbst' (FW 357, KSA 3, 598).
Die Tatsache, dass für beide Denker ein so großer Teil unseres Seelenlebens undurchsichtig ist, ist der Grund, warum beide skeptisch sind in Bezug auf die Vertrauenswürdigkeit der inneren Erfahrung. Deshalb weisen sie auch die zweite Behauptung zurück, die in der Auffassung von der epistemologischen Transparenz unseres Geistes enthalten ist. Innere Erfahrung versieht uns nicht mit unmittelbaren Gewissheiten. Wenn wir, wie es Kant in der Anthropologie fasst, „mit dunkelen Vorstellungen [spielen]", noch „öfter aber [...] selbst ein Spiel dunkeler Vorstellungen [sind]" (Ak. VII, 136), und wenn sie, wie wir gesehen haben, Einfluss auf unser Fühlen und Wünschen haben können, dann können wir uns beispielsweise über die Prinzipien, aus denen heraus wir handeln, täuschen. In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten sagt Kant: „In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewissheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe. Denn es ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was außer dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei" (Ak. IV, 407).
Ähnlich betont Nietzsche wiederholt die „Phänomenalität [...] der inneren Welt" (NF 11 [113], KSA 13, 53), und er tut dies, um der Sichtweise zu begegnen, wir könnten unsere inneren Zustände so kennen, wie sie an sich sind.9 Er sagt: „nichts ist phänomenaler (oder) deutlicher nichts ist so sehr Täuschung, als diese innere Welt die wir mit dem berühmten ,inneren Sinn' beobachten" (NF 14[152], KSA 13, 334 f.). Oder: „Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisirt, ausgelegt" (NF 11 [113], KSA 13, 53). Er betont, dass die Sphäre des Inneren gerade nicht, wie „harmlose Selbst-Beobachter" immer noch glauben, die Sphäre der ,„unmittelbare[n] Gewissheiten'" ist, „gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als ,Ding an sich', und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände".10
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II. Das Subjekt der Vorstellungen Die zweite Übereinstimmung zwischen Kant und Nietzsche besteht in ihrer Zurückweisung der traditionellen Auffassung des Bewusstseins, der Seele, des Selbst oder des Subjekts als einer Entität, die - nach Kants Terminologie in den Paralogismen - eine Substanz darstellt, die einfach, numerisch identisch in der Zeit und getrennt vom Körper ist. Nietzsche bezieht sich auf diese Auffassung als einer ,,alte[n] Mythologie" (NF 2 [139], KSA 12, 136). Kant hat ebenfalls die gesamte philosophische Tradition im Sinn: nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch Plato, Descartes und Leibniz. Im Prinzip liegt Kant nicht im Streit mit einer empirischen Erforschung des Selbst, obwohl er, wie wir aus seinen Bemerkungen in der Anthropologie über dunkle und unbewusste Vorstellungen ersehen, gegenüber der Möglichkeit einer befriedigenden empirischen Kenntnis unseres Selbst reserviert ist, und demzufolge gegenüber einer lebensfähigen empirischen Psychologie oder gar einer Wissenschaft zur Vorhersage menschlichen Verhaltens. Die Argumente der Analytik vorausgesetzt, muss er jedoch darauf bestehen, dass neben dem empirischen kein anderer Weg zur Kenntnis des Selbst vorhanden ist. Deshalb kann es so etwas wie eine spekulative oder rationale Psychologie nicht geben, die eine Anzahl von grundlegenden Wahrheiten über das Selbst allein durch apriorische Überlegungen zu etablieren versuchte, ohne Rekurs auf empirische Beobachtungen oder Experimente. Die Aufgabe des Kapitels über die Paralogismen der reinen Vernunft ist es zu zeigen, dass die Argumente für die Behauptung einer rationalen Psychologie in formaler Hinsicht keine Geltung haben können. Im Vierten Paralogismus in Β zum Beispiel ist das Thema die Lehre von der Unterscheidung zwischen Geist und Körper, derart, dass der eine ohne den anderen existieren kann. Kant räumt ein, dass es in der Tat eine analytische Wahrheit ist, dass ich meine Existenz als „denkendes Wesen" von anderen Dingen außer mir unterscheiden kann, meinen Körper eingeschlossen, denn „andere Dinge sind solche, die ich als von mir unterschieden denke". „Aber ob dieses Bewußtsein meiner selbst ohne Dinge außer mir, dadurch mir Vorstellungen gegeben werden, gar möglich sei, und ich also bloß als denkend Wesen (ohne Mensch zu sein) existieren könne, weiß ich dadurch gar nicht" (B 409).
Martha Nussbaum stellt fest: "There is no philosopher in the modern Western tradition who is more emphatic than Nietzsche is about the central importance of the body, and about the fact that we are bodily creatures ... [he] insists that we are physical through and through".11 In der Tat, in Also sprach Zarathustra sagt er: „,Leib bin ich und Seele' - so redet das Kind. [...] Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und die Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe"12 Es seien noch weitere typische
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Passagen aus dem Willen zur Macht angeführt. Er sagt: „Zu wissen z.B., daß man ein Nervensystem habe ( - aber keine ,Seele') bleibt immer noch das Vorrecht der Unterrichtetsten" (NF 14 [179], KSA 13, 363). Er erachtet ,„das Subjekt'" als „die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung Eines Substrats wären" (NF 10 [19], KSA 12,465) oder als „etwas Hinzu-Erdichtetes, DahinterGestecktes" (NF 7 [60], KSA 12, 315). Er sagt von dem Wort „Ich", dass wir es dort hingestellt haben, „wo unsere Unwissenheit anhebt" (NF 5 [3], KSA 12, 185). Schließlich finden wir in Jenseits von Gut und Böse eine Passage, in der Nietzsche dem Angriff auf die metaphysische Vorstellung vom Subjekt, wie er in den Paralogismen geführt wird, sehr nah ist. Er spricht davon, der „Seelen-Atomistik „den Garaus machen" zu wollen, namentlich ,jene[m] Glauben [...] der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt" (JGB 12, KSA 5, 27).
Beide Denker liefern eine Erklärung für die Annahme einer solchen Entität, und für beide ist dieser Glaube in gewisser Weise unvermeidlich. In der Transzendentalen Dialektik spricht Kant über eine „natürliche und unvermeidliche Illusion", die „der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt" und nicht einmal vergehen wird, „nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben" (A 298/ Β 354). Diese Illusion entsteht, weil menschliche Vernunft in ihrer Suche nach empirischer Kenntnis um ihrer Vollständigkeit und systematischen Einheit willen bestimmte unentbehrliche Maximen oder Grundsätze benutzen muss, wie etwa: „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird" (A 307/B 364). Aber diese Maxime impliziert nicht - und darin liegt die Illusion - , dass irgendeine unbedingte oder absolute Bedingung existiert, zum Beispiel „die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts" (A 334/B 391). Kein Gegenstand der Erfahrung entspricht dieser transzendentalen Idee. Nietzsche zufolge ist einer der Gründe für unseren Glauben an eine solche Entität die grammatische Gewohnheit: ,„Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes': daraufläuft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als ,wahr a priori' ansetzen: - daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, ,das denkt', ist aber einfach eine Formulirung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt" (NF 10 [158], KSA 12, 549).
In Jenseits von Gut und Böse sagt Nietzsche, „ein Gedanke kommt, wenn ,er' will, und nicht wenn ,ich' will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ,ich' ist die Bedingung des Prädikats ,denke'. [...] Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit:,Denken ist eine Thätigkeit,zujederThätigkeit gehört einer, derthätigist-folglich'" (JGB 17,KSA5,31).
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Schließlich geben Kant und Nietzsche die traditionelle Idee der Seeleneinheit nicht gänzlich auf, sondern versuchen vielmehr auf ihre eigene Art eine partielle Rehabilitierung. Im Appendix zur Transzendentalen Dialektik argumentiert Kant, dass die Idee der Seele als einer einfachen Substanz eine regulative Verwendung haben kann. Obwohl nichts in der Erfahrung dieser Idee korrespondiert, kann sie als Regulativ für die empirische Verwendung der Vernunft dienen, das heißt, sie kann Richtungen für den Weg angeben, auf den unsere Kenntnis in empirischer Psychologie ausgeht und für den sie organisiert ist: Empirische Wissenschaft ist kein planloses Herumtappen und keine planlose Sammlung von Fakten. Kant sagt: „Wir wollen [...] (in der Psychologie) alle Erscheinungen, Handlungen und Empfänglichkeit unseres Gemüts an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknüpfen, als ob dasselbe eine innere Substanz wäre, die, mit persönlicher Identität, beharrlich (wenigstens im Leben) existiert, indessen daß ihre Zustände, zu welcher die des Körpers nur als äußere Bedingungen gehören, kontinuierlich wechseln" (A 672/B 700).
Nietzsche fahrt - nachdem er festgestellt hat, dass die traditionelle Auffassung der Seele aus der Wissenschaft verstoßen gehört - wie folgt fort: „Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nöthig, ,die Seele' selbst dabei los zu werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche, kaum dass sie an ,die Seele' rühren, sie auch verlieren. Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie .sterbliche Seele' und , Seele als Subjekts-Vielheit' und , Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte' wollen furderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben" (JGB 12, KSA 5, 27).
III. Empirische und transzendentale Apperzeption Der Gegensatz zwischen Kant und Nietzsche, den ich diskutieren möchte, betrifft Kants Lehre von der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Ich möchte mit Leibniz' Unterscheidung zwischen Perzeption und Apperzeption, wie er sie in den Principes de la Nature et de la Grace fasst, beginnen: die erstere „ist der innere Zustand der Monade, der die äußeren Dinge vorstellt"; die letztere „ist Bewusstsein oder die reflexive Kenntnis dieses inneren Zustands selbst".13 Über „den vorausfliegenden Argwohn Leibnitzens" sprechend, konstatiert Nietzsche: „Wir könnten nämlich denken, fühlen, wollen, uns erinnern, wir könnten ebenfalls .handeln' in jedem Sinne des Wortes: und trotzdem brauchte das Alles nicht uns ,in's Bewusstsein zu treten' (wie man im Bilde sagt). Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe: wie ja thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende Theil dieses Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt - ,
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und zwar auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden Lebens, so beleidigend dies einem älteren Philosophen klingen mag" (FW 354, KS A 3, 590).
Kant würde Nietzsche gewiss darin zustimmen, dass wir nicht immer im Modus einer Leibnizschen Apperzeption leben. Aber was fur Leibniz (und Nietzsche) Apperzeption ist, ist für Kant empirische Apperzeption oder empirisches Selbstbewusstsein, eine Weise des Bewusstseins, in der wir selbst uns als Objekte unseres inneren Sinns vorstellen, beziehungsweise uns in einem Spiegel sehen.14 Aber Kant unterscheidet zwischen empirischer Apperzeption und empirischem Selbstbewusstsein und transzendentaler Apperzeption und transzendentalem Selbstbewusstsein. Anders als die erstere ist letztere nicht das Produkt alltäglicher Reflexion, sondern philosophischer Reflexion der apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, die Möglichkeit empirischen Selbstbewusstseins beziehungsweise die Möglichkeit, uns selbst im Spiegel zu sehen, eingeschlossen. In der Transzendentalen Deduktion sagt Kant über das ,Ich denke' nicht nur, dass es ihm möglich sein muss, alle meine Vorstellungen zu begleiten, sondern auch, dass es eine Synthesis der Vorstellungen und ein Bewusstsein von dieser Synthesis einschließt. „Nämlich diese durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich". Und er sagt, dass die Beziehung einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zur Identität des Subjekts nicht daher kommt, „daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewusst bin" (B 133). Kant legt hier nicht nur dar, dass die transzendentale Einheit der Apperzeption die formale Bedingung empirischen Wissens im Allgemeinen ist, sondern auch, dass sie ein aktuales Bewusstsein der Tätigkeit einschließt, durch die das Subjekt ein Objekt vorstellt: der Tätigkeit, Vorstellungen zu verbinden, das heißt, der Tätigkeit des Denkens selbst. Das bedeutet, dass ich eine in der Anschauung gegebene Mannigfaltigkeit nur in einer gewissen Art bestimmen, das heißt durch einen Begriff denken oder erkennen kann, wenn ich mir dieser Tätigkeit bewusst bin. Aber wenn diese Art des Selbstbewusstseins, des Bewusstseins der Tätigkeit des Denkens selbst, für die Erfahrung eines Objekts konstitutiv ist, dann folgt daraus, dass es nicht selbst erfahren werden oder ein Objekt in der Erfahrung sein kann: es ist α priori. Dies scheint auch der entscheidende Punkt in der Reflexion „Ist es eine Erfahrung, daß wir denken?" zu sein, in der Kant argumentiert, dass „das Bewusstsein, einen solchen Gedanken zu haben, keine Erfahrung [ist]" und dass „das Bewußtsein [...], eine Erfahrung anzustellen, oder auch überhaupt zu denken, ein transcendentales Bewußtseyn, nicht Erfahrung [ist]" (Ak. XVIII, 319). In den Paralogismen legt Kant dies wie folgt dar: „Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß ich dasjenige,
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was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne, und daß das bestimmende Selbst, (das Denken) von dem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt), wie Erkenntnis vom Gegenstande unterschieden sei" (A 402). In der zweiten Auflage sagt Kant: „Das Subjekt der Kategorien kann also dadurch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objekte der Kategorien einen Begriff bekommen; denn, um diese zu denken, muß es sein reines Selbstbewusstsein, welches doch hat erklärt werden sollen, zum Grunde legen" (B 422). Das ,Ich denke' ist, wie Kant es in der Transzendentalen Deduktion fasst, eine Vorstellung, die „von keiner weiter begleitet werden kann" (B 132). Wir erkennen hier eine Ähnlichkeit zu Wittgensteins Behauptung im Tractatus, dass das Subjekt nicht zur Welt gehört, sondern eher eine Grenze der Welt ist. Henry Allison gebraucht Ryles Terminologie, wenn er über das Ich der Apperzeption sagt: "It is 'systematically elusive', since the attempt to grasp it comes, as it were, one step too late". Zusätzlich zeigt Allison: "since the I is already presupposed in the thought of anything whatsoever and not merely of itself, it is not only systematically elusive but also ineliminable".15 Aber wenn das so ist, dann gibt es keinen Weg, vom Ich der Apperzeption zu sagen, was Nietzsche in Also sprach Zarathustra über die Seele sagt: sie sei „nur ein Wort für ein Etwas am Leibe". Das „Ich denke" kann man nicht „in die Natur" „zurückübersetzen" (JGB 230, KS A 5, 169) oder naturalisieren. (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Dietmar Schenk)
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Vgl. Dauler Wilson, Margaret: Descartes, London, New York 1986, S. 150-152. Descartes, Rene: „Meditationes de prima philosophia", in: Oeuvres, hg. von Charles Adam und Paul Tannery, Paris 1897-1913, Bd. 7, S. 28 f. Alle Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft werden im Text anhand der gebräuchlichen A- und B-Zählung nachgewiesen. Vgl. Allison, Henry E.: Kant's Transcendental Idealism, New Haven, London, S. 137. Zur weiteren Diskussion dieses Themas vgl. auch Longuenesse, Beatrice: Kant and the Capacity to Judge, übers, v. Charles Τ. Wolfe, Princeton, Oxford 1998, S. 64-66. Mit Ausnahme der Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft beziehen sich alle Belege aus Kants Werken auf Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. (= Ak.) Schacht, Richard: Nietzsche, London, Boston, Melbourne, Henley 1983, S. 284. Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft, 354 (KSA 3, S. 592). Im Folgenden zitiert als FW, gefolgt von der Nummer des Abschnittes. Ders.: Nachgelassene Fragmente 24[16], KSA 10, S. 654. Im Folgenden zitiert als NF, gefolgt von der Nummer des Fragments.
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Kant bestreitet dies ebenfalls, aber aus anderen Gründen. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, Abschnitt 16 (KSA 5, S. 29). Im Folgenden zitiert als JGB, gefolgt von der Nummer des Abschnitts. Nussbaum, Martha: „Pity and Mercy. Nietzsche's Stoicism", in: Nietzsche. Genealogy of Morality, hrsg. v. Richard Schacht. Berkeley, Los Angeles, London 1994, S. 158. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, Abschnitt „Von den Verächtern des Leibes" (KSA 4, S. 39). Leibniz, Gottfried Wilhelm: Principes de la Nature et de la Grace fondes en Raison, § 4. Für das Folgende bin ich Henry E. Allison verpflichtet: Kant 's Transcendental Idealism, New Haven, London 1983, besonders Kap. 13: „Apperception, Rational Psychology and the Nomenal S e i f . Allison, Henry E.: Idealism and Freedom, Cambridge 1996, S. 66.
Christof Windgätter
„Jetzt ergötze und erhole ich mich an der kältesten Vernunft-Kritik" Kants transzendentale Frage und ihre Ver/wendung durch Nietzsche
Es steht außer Frage, dass die kantische Kritik der Vernunft zu den großen philosophischen Leistungen unserer Kultur gehört: Und das keineswegs nur ihrer Ergebnisse wegen, als Deduktion apriorischer Erkenntnisstrukturen, sondern auch und vor allem durch die Inauguration einer Fragestellung, die uns seither nicht wieder verlassen hat: „Transzendental-Philosophie" (KrV, A 12, Β 30)1 ist ihr Name, und Kant zufolge bezeichnet er eine historisch-systematische „Revolution" des Denkens (KrV, Β XII), die von der Frage nach den Gegenständen selbst auf die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein und seiner Erkenntnisart von Gegenständen umgestellt hat (KrV, Β XVII, Β 29). Anstatt also empirische Objekte zu bestimmen, wird es zur philosophischen Aufgabe, die „Quellen und Bedingungen der Möglichkeit darzulegen" (KrV, A XXI), durch die etwas überhaupt erst zu unserem Objekt werden kann. So ist Transzendental-Philosophie Erkenntnis über das Erkennen und folglich eine Wissenschaft zweiter Ordnung: eine „Legitimitätsprüfimg", wie Michel Foucault sie genannt hat,2 die sich nicht mit Inhalten, sondern mit deren Formen beschäftigt.3 Ihr Interesse gilt eher dem Wie des Wissens, als dem Was der Dinge. Hinzu kommt, dass Kant unter seinem titelgebenden Begriff „Kritik", zu der die Transzendental-Philosophie den Fragetypus liefert, keineswegs die Beurteilung einzelner „Bücher und Systeme" versteht (KrV, A XII, Β 27), auch nicht das Aufzeigen von Fehlern oder die Berichtigung vergangener Irrtümer (KrV, Β 20), vielmehr die Beschreibung einer „Methode" (KrV, Β XXII) und eines „Plans" (KrV, A 13, Β 27): verstanden als „Verfahren nach Grundsätzen" (KrV, A 855), das die rechtmäßigen Grenzen und die inneren Gesetze der menschlichen Erkenntnisart zu bestimmen vermag. „Unser Zeitalter", erklärt Kant 1781, „ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß" (KrV, A XI) - und wenigstens soweit, darf man behaupten, ist ihm der philosophische Autodidakt Friedrich Nietzsche ein knappes Jahrhundert später
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gefolgt: Indem er nämlich seine „Genealogie" (auch unabhängig von der gleichnamigen „Streitschrift") als ein ebenfalls kritisches Unternehmen konzipiert hat, das nach „Bedingungen und Umständen" fragt (vgl. u.a. KSA 13, S. 284 f., KSA 5, S. 253).4 Mit dem Unterschied allerdings, diese Kritik verzeitlicht zu haben, denn es geht Nietzsche um reale Entstehungsgeschichten: um eine Kenntnis also, wie etwas empirisch „gewachsen" ist, wie es sich „entwickelt" hat und „verschoben" wurde. (KSA 5, S. 253) Foucault hat diese Seite der Genealogie mit großer Genauigkeit nachgezeichnet, und er hat vor allem gezeigt, dass sich Nietzsche dergestalt gegen eine Metaphysik des absoluten Ursprungs wendet: 5 indem er nicht länger davon ausgeht, es gäbe „hinter den Dingen" ein „wesenhaftes Geheimnis", eine „erste Identität", die „vor dem Körper, vor der Welt" und jedenfalls außerhalb der Geschichte läge.6 Verzeitlichen heißt deshalb Historisieren-, so wie es Nietzsche immer wieder gefordert hat. Etwa in Menschliches, Allzumenschliches 1878: „Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. - Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung." (KSA 2, S. 25)
Ähnliche Äußerungen finden sich auch 1882 in der Fröhlichen Wissenschaft als Aufforderung „ f ü r Arbeitsame", um den „,Existenz-Bedingungen'" des Menschen eine „Geschichte" zu geben (KSA 3, S. 378 f.), oder in jener berühmten „Anmerkung" zur Genealogie der Moral von 1887, in der eine „Reihe akademischer Preisausschreiben" angeregt wird zur Förderung „moralhistorischer Studien". (KSA 5, S. 288 f.) Ein weiterer Unterschied zu Kant ist, dass Nietzsche seine Kritik nicht auf sogenannte „Vermögen" (vgl. u.a. KrV, A 65, Β 90; KSA 5, S. 24 f.) bezogen hat, sondern von Machtkonstellationen schreibt, die sich jeweils in Regeln, Ereignissen, Institutionen, Texten, Körpern etc. implementiert haben: „Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende [...], als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und ,Vieles', hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte [...]." (KSA 11, S. 610)
Auch dazu der Nietzsche-Leser Foucault: Die Entstehung von Erkenntnisweisen zu analysieren, heißt, „das Heraustreten der Kräfte auf die Szene" zu analysieren, heißt, sein Augenmerk auf ein „Spiel" zu richten, das keiner chronologischen Notwendigkeit folgt, sondern dem „Zufall des Kampfes". 7 Nur wenige Jahre später, 1976 im ersten Band von Sexualität und Wahrheit, wird daraus eine „Methode", die das Wissen in seinem „Werden" zu erforschen versucht:
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„Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt [~.]."8
Entsprechend wird man als Genealoge darum bemüht sein, einen „Nexus von Macht-Wissen zu charakterisieren, mit dem sich die Akzeptabilität eines Systems [...] erfassen läßt".9 Was dann freilich mit Kants Frage nach der philosophischen Legitimität von Erkenntnis nur noch wenig zu tun hat, da es nunmehr um all jene konkret-historischen Bedingungen geht, die für das Auftauchen von Wissenssystemen verantwortlich sind.10 Und schließlich: Im Zuge seiner Machttheorie kommt es Nietzsche darauf an, die Entstehungsbedingungen des Wissens von ihrer klassischen Subjektzentrierung zu entkoppeln. Nicht ,Jch denke" (KrV, Β 131 f.), wie es Kant in seiner Deduktion der Verstandesbegriffe postuliert hat, sondern „Es denkt" (KSA 5, S. 31), und am Ende ist für Nietzsche auch mit dieser Formulierung schon „zu viel gethan" (ebd.), da sie entweder als sprachtheoretische Überhöhung bestimmt werden kann oder aber schreibpraktisch immer schon unterlaufen wird. „Gesetzt nämlich, dass nicht gerade der Mensch das ,Maass der Dinge' ist...." (KSA5, S. 18) - Aber dazu später mehr. An dieser Stelle sei nur noch zusammenfassend gesagt (um den Ausgangspunkt zu skizzieren): Ebenso wie Kant fragt auch Nietzsche nach den Bedingungen des Wissens und interessiert sich folglich für deren Formate. Allerdings sucht er dazu an , Orten', die bisher unberücksichtigt geblieben sind oder vernachlässigt wurden. „Es ist klar", bringt Gilles Deleuze diese Differenz auf den Punkt, „daß das Denken niemals durch sich selbst denkt",11 und Foucault wird ihm kurz darauf zustimmen: „Die Vernunft? Sie ist in durchaus .unvernünftiger' Weise entstanden."12 Nietzscheanisch klingt das allemal, findet sich doch schon in Menschliches, Allzumenschliches der Vorwurf an die „metaphysischen Philosophie", sie „leugne die Entstehung des Einen aus dem Andern" und habe „für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung angenommen". (KSA 2, S. 23) Daher Nietzsches Frage: ,,[W]ie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem [...]?" (Ebd.) Mit einigem Recht kann man also behaupten, dass uns Nietzsche die Augen für die transzendentalen Signifikanten des Denkens geöffnet hat - und eben dieser Öffnung soll nun ein Stück weit nachgegangen werden. These: Statt sich auf eine Kritik der kantischen Kritik einzulassen oder gar deren Werke immanent zu erklären,13 kommt es Nietzsche darauf an, Kant zu benutzen-, soll heißen: In seinen Texten, Aphorismen und Fragmenten experimentiert er mit eigenen transzendental orientierten Projekten, die jene Transzendental-Philosophie ebenso fortsetzen wie ersetzen, ebenso ihre Nachfolge antreten
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wie sie auf den Stand des späten 19. Jahrhunderts bringen. Verwandlung durch Ver/wendung wäre dafür die passende Formel; und dementsprechend sollen hier drei Momente vorgestellt werden, durch die Nietzsche noch hinter die Erkenntnisdeduktionen des Königsberger „Stubenhockers" (KSA 13, S. 262) zurückfragt; als da sind: Leiblichkeit, Sprache und Schrift. In dieser Konstellation aber stellen sie nicht allein Nietzsches Versuche dar, das Andere der Vernunft in den Blick zu bekommen, sondern zeigen zugleich einen anderen Nietzsche. Über dessen Leib- und Sprachtheorie wurde ja schon manches geschrieben;14 weniger bekannt ist dagegen noch immer, dass der zunächst Alt- und dann Ex-Philologe in Genua auch die Grundlagen zu einer künftigen Medientheorie gelegt hat. Jedoch der Reihe nach: Zuerst Nietzsches physiologische Kehre, dann sein Übergang von der Erkenntnis- zur Sprachkritik sowie schließlich seine Hinwendung zu einer Kritik des Schreibers, der Schrift und ihrer Schreibgeräte.
Die physiologische Kehre Anstatt von den Vermögen und der Verfasstheit des menschlichen Bewusstseins auszugehen, macht Nietzsches Genealogie den Leib zum privilegierten Schauplatz der Wissenskonstituierung. Charakteristisch für diese Einstellung sind zahlreiche Aussagen, die sich in vielen Teilen seines Werkes finden lassen. Am bekanntesten ist vielleicht Zarathustras Rede gegen die „Verächter des Leibes". Dort heißt es: „Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe./ Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt./ Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du , Geist' nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft." (KSA 4, S. 39)
Und ein paar Zeilen weiter: „Dein Selbst [das der Leib ist] lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. ,Was sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich's und der Einbläser seiner Begriffe.'" (Ebd.)
So leitet Nietzsche von der Vernunft als Bedingung zu den Bedingungen der Vernunft über - was hier zunächst bedeutet, dass er seine Wissens-Kritik mit der zeitgenössischen Physiologie und kaum noch mit klassischen Geisteswissenschaften koppelt.15 Oder: Für ihn sind es nicht primär die Selbstreflexionen des Denkens, sondern körperliche Praktiken, Kräfte und Zustände (also Ernährungsund Verdauungssituationen, Stoffwechselprobleme, Geschlechtsbefriedigung, Bewegungspensum, Krankheiten usw.), die zu den Voraussetzungen unserer
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Erkexmtnisweisen zählen. Abgesehen davon, dass in den Kontext einer solchen Kritik auch die Beziehung des Leibes zu seiner Umwelt gehört: als Frage nach dem Klima, der Witterung und der Luftfeuchtigkeit, ebenso wie der Landschaft, der Erde und ihrer geographischen Zonen.16 Es gibt für Nietzsche kein Wissen, dessen Herkunft nicht an einem ebenso verwickelten wie weitläufigen „Leitfaden des Leibes" (KSA 11, S. 249) erzählt werden könnte. Denn wie wir was denken, hält er für abhängig davon, wo wir wie leben. In Anlehnung an eine seiner berühmtesten Formulierungen könnte man deshalb auch sagen: Nietzsches Philosophie ist an dieser Stelle ein umgedrehter Kantianismus,17 der versucht, das Bewusstsein nur als das „Zweit- Wichtige"' (KSA 10, S. 285) anzusehen. Eine Perspektive, die der Basler Professor schon früh aus ihrer philosophischen Allgemeinheit heraus ins Individuelle und Institutionelle hineingetragen hat: indem er nämlich fordert, man müsse auch und erst recht in den Bildungsanstalten „vom Leibe ausgehen [...]. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtungen zuläßt." (KSA 11, S. 635) Die schulischen und universitären Curricula jedenfalls hätten dann von ihrem Idealismus, als „sogenannter classischer Erziehung" (KSA 3, S. 168), Abschied zu nehmen, um sich stattdessen der „Coordination der physiologischen Kräfte" (KSA 13, S. 364) zuzuwenden. Denn hier „liegt das grosse Missverständnis der deutschen Bildung, die ganz illusorisch ist [...]: man muß den Leib zuerst überreden" (KSA 6, S. 149).18 Mit anderen Worten: Im Gegensatz zu preußischen Philosophie-Beamten und ihren reformierten Bildungsplänen privilegiert Nietzsche ein Lernen und Lehren, das sich auf die „,feinsten Töne' der Physis" (KSA 3, S. 407) bezieht: „So wenig als möglich sitzen·, keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, - in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden." (KSA 6, S. 281)
Von der Erkenntnis- zur Sprachkritik Bereits während seiner Basler Zeit als Altphilologe vertritt Nietzsche die Auffassung, es sei anstelle unsers Bewusstseins nicht nur der Leib, sondern auch die „Gesetzgebung der Sprache", die „die ersten Gesetze der Wahrheit gibt" (KSA 1, S. 877). So wird Erkenntniskritik zur Sprachkritik. Mit dem inzwischen sogar in Deutschland bekannten Ergebnis, dass Sprache als Rhetorik im Allgemeinen und Metapher im Besonderen funktioniert. Dazu Nietzsche selber, in einer Vorlesung vor vermutlich drei bis fünf Studenten vom Sommersemester 1874: „Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnlich Rede nennt", denn ,,[e]s
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giebt gar keine unrhetorische ,Natürlichkeit' der Sprache, an die man appelliren könnte." (KGW II/4, S. 424, 427) Oder, bei der gleichen Gelegenheit: „Tropen treten nicht dann u. wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer .eigentlichen Bedeutung', die nur in speziellen Fällen übertragen würde, kann keine Rede sein." (Ebd.)
Nicht die Rhetorik ist folglich Teil der Sprache, sondern umgekehrt: Man muss vom durchgängig tropischen Charakter unserer Reden und Schriften ausgehen. Weshalb in besagter Vorlesung zwar die Rekonstruktion der antiken Beredsamkeit einen beträchtlichen Raum einnimmt, die programmatischen Abschnitte sich jedoch tatsächlich davon ablösen, um ihren Hörern eine an Redeweisen orientierte Theorie der Welt-Wahrnehmung vorzutragen. Allerdings, was nicht vergessen werden darf: Nietzsches sprachkritische Wendung hat ihrerseits Vorläufer. Als Ideenhintergrund zweifellos die Sprachphilosophien der Frühromantik,19 viel konkreter aber noch, weil abgeschrieben, den ersten Band von Gustav Gerbers Buch Die Sprache als Kunst, Bromberg 1871, das sich Nietzsche aus der Basler Universitätsbibliothek ausgeliehen hat. Die Konkordanz der Textstellen liegt mittlerweile vor und braucht hier nicht kommentiert zu werden;20 es genügt die Bemerkung, dass Nietzsche den Gerber'schen Versuch zur Rehabilitierung persuasiver Eigenschaften der Rede zumindest radikalisierf. „Die Sprache ist Rhetorik", notiert er 1874 in jener Vorlesung (KGW II/4, S. 426) - ein Satz, für den es beim Bromberger Gymnasialdirektor keine Vorlage gibt.21 Nietzsches Verhältnis wiederum zur kantischen Philosophie wird dadurch ambivalent: Denn einerseits hintergeht er dessen klassische Bewusstseinszentrierung, auf der anderen Seite aber übernimmt er auf sprachtheoretischer Ebene das Diktum von der Unerkennbarkeit der „Dinge an sich" (u.a. KrV, Β XXVII; KS A 1, S. 879). Jene Generalisierung des Rhetorischen nämlich zeigt auch (als deren repräsentationskritische Verlängerung), dass es „bei den Worten nie auf [...] den adäquaten Ausdruck ankommt" (KSA 1, S. 879), auf die Identität also von innersprachlicher Bedeutung und außersprachlicher Realität; vielmehr entsteht, was man in der modernen Linguistik das Signifikat nennen würde, fur Nietzsche auf metaphorischem Wege: als mehrstufiger Übertragungsprozess. „Was ist ein Wort", fragt er 1873 in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn, und antwortet: Die „Sprache" bezeichnet nur die „Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre [bzw. des „Materials" (KGW II/4, S. 426)], mitten hinein in eine ganz andere und neue." (KSA 1, S. 879)
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Von den leiblichen Momenten dieser Kritik war ja bereits die Rede. Man könnte nach diesem Zitat freilich noch hinzufugen, dass Nietzsche sogar die Genesis der Sprache auf eine physiologische Grundlage stellt und also die Formen unseres Wissens in einen Versprachlichungsprozess verlegt, der seinerseits an die biologische Verfasstheit unseres Körpers gebunden ist. Bleibt noch das Problem, wie es gelingen kann, die verschiedenen Sphären dieses Prozesses zu erreichen, die ja Nietzsche zufolge eine je eigene (d.h. nervliche, optische und akustische) Materialität besitzen. Auch darauf gibt es in Ueber Wahrheit und Lüge bzw. der Rhetorik-Vorlesung eine Antwort: Denn jene Übertragungen werden dort als ebenso „willkürliche" wie „fabricierte" Vorgänge beschrieben (KSA 1, S. 878, 882); indem sich der Mensch als „gewaltiges Baugenie" (ebd.) erweist, das nicht findet, sondern erfindet (KSA 5, S. 25), das an „keine vollkommen genaue Wiedergabe" (KGWII/4, S. 426) glaubt, sondern „usuelle Metaphern" (KSA 1, S. 881) stiftet. Mit anderen Worten: Das Dazwischen der Übertragungen funktioniert als „künstlerisch schaffendes" (ebd., S. 883) Verhalten, sodass hier die kantische Vernunftkritik durch eine Ästhetik sprachlicher Artefakte unterlaufen wird. Eine Ausrichtung, der Nietzsche auch späterhin die Treue gehalten hat. Jedenfalls gibt es von ihm immer wieder Textstellen, in denen er die klassische Setzung des Subjekts als einen „Glauben an die Grammatik, an das sprachliche Subjekt, Objekt, an die Thätigkeits-Worte" (KSA 11, S. 526) bezeichnet. Soll heißen: Was nach Kant als ,Ich denke' all unsere Vorstellungen ,muß begleiten können', stellt für Nietzsche ein „grobes Fetischwesen" (KSA 6, S. 77) dar: als „Supposition eines Thuenden" (KSA 12, S. 249 f.), als „Dahinter-Gestecktes" (ebd., S. 315), eine Art „untergeschobener Wechselbalg" (KSA 5, S. 280), dessen grammatische Herkunft ebenso schnell vergessen wurde, wie daraufhin ontologisch ausgezeichnet. So ist es der Aufbau unserer Sprache, von dem die Formen unseres Bewusstseins abgeleitet wurden. Aus Satz-Strukturen sind ErkenntnisStrukturen geworden, oder: Die Vernunftkategorien sind „in ihr [der Sprache] versteinerte Grundirrthümer" (ebd., S. 279). Freilich ist es dann Nietzsches Ambition, die eigenen Projekte vor diesen Irrtümern zu bewahren; weshalb seine im Titelzitat dieses Aufsatzes beschworene ,Kälte' der Kritik auf eine Analyse von Wissens-Bedingungen anspielt, die ohne Referenz auf das Subjekt,Mensch' auszukommen versucht: „Es ist etwas Neues zu schaffen: nicht ego und nicht tu und nicht omnes!" (KSA 9, S. 450)
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Schreiber, Schrift und Schreibgeräte In seinem Spätwerk geht Nietzsche noch einen Schritt weiter: Als Ex-Philologe fragt er nun nicht mehr nur nach den sprachlich-grammatologischen, sondern auch den technisch-medialen Bedingungen des Wissens: „Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat." (KSA 2, S. 674) Zumindest in Bezug auf die Schrift (als Medium der Philosophie und zentrales Kodierungssystem unseres Wissen) sollte Nietzsche dies bald ändern. Von 14 Dioptrien Kurzsichtigkeit, starken Kopfschmerzen und einer miserablen Handschrift geplagt, beschließt er im Frühjahr 1882 die Anschaffung einer Schreibmaschine.22 Wohl ging ihm Diesbezügliches schon kurz nach seiner Basler Entlassung 1879 im Kopf herum, aber erst durch die Finanzierungshilfe der Schwester werden daraus Taten. „Also diese will ich (nicht die amerikanische [= Remington], die zu schwer ist.)". (KSB 6, S. 146) Für den in Frankreich, der Schweiz und Italien umherreisenden Nietzsche kommt nur das zierliche Reisemodell - „8 Zoll lang, 6 Pfund schwer" (KSB 6, S. 120) - des Kopenhagener Taubstummenlehrers Hans Rasmus Johan Mailing Hansen (1835-1890) in Frage:23 Dieser hatte seine Maschine 1867 konstruiert und schon kurze Zeit später zur Serienreife entwickelt. Ausgerüstet mit einer halbkugelförmigen Tastatur samt 54 konzentrisch angeordneten Typenstangen (noch keine Typenhebel) konnten damit Großbuchstaben bzw. Zahlen auf ein zylindrisch eingespanntes Blatt im Oktavformat (13,5 χ 21 cm) getippt werden. Der Papiertransport erfolgte automatisch durch das Niederdrücken der Tasten; es gab einen WagenrücklaufMechanismus, eine Skala für eingezogene Absätze, eine Farbband-Umschaltung, die unvermeidliche Leertaste und - am Fuß der Schreibkugel signalisierte eine Glocke das jeweilige Zeilenende. So wechselt Nietzsche von der skriptographischen zur typographischen Ordnung, von Feder, Fass und Tintenfluss zu Tasten, Typenstangen und diskreten Lettern. Oder: Als ehemaliger Professor hat er nicht nur, wie alle Gelehrten seit Gutenberg, in beiden Ordnungen gelesen, er hat als einer der ersten auch selber in beiden geschrieben; unter anderem (als Antwort auf Heinrich Köselitz): „SIE HABEN RECHT - UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN." (SchrT, S. 18)24 These: Auf der Maschine schreibt Nietzsche über die Maschine die Anfange einer Transzendentaltheorie von Schriftlichkeif, will sagen: Er versucht nach den Themen Leib und Sprache die kantische Erkenntniskritik auch medientheoretisch zu hintergehen. Und zwar erneut in dreifacher Hinsicht: physiologisch, ästhetisch und technisch; bezogen auf den Leib des Schreibers, das Corpus der Schrift und die Mechanik ihrer Schreibgeräte.
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Zunächst also noch einmal, wenngleich aus veränderter Perspektive, der Leib: Denn für Nietzsche sind Lesen und Schreiben keine im Wortsinn psychologischen bzw. idealistischen Vermögen mehr (Stichwort „phonetische Schrift"25), sondern Kraftaufwendungen, die über Ohren-Spitzen und Augen-Bewegen hinaus den „gesamten Organismus" (KSA 11, S. 276) erfordern. Sei es mit Stahlfedern (Nietzsche hat mindestens drei verschiedene benutzt: „B. John Mitchells classical 689", „Roeder's Humboldfeder B" [„Nr. 15"] und „Sönnecken's Rundschriftfedern Nr. 5")26, sei es mit seinem sog. Minenstift (ein „ever pointed pencil" aus Silber mit hohlem Schaft zum Einlegen der Graphitminen)27 oder aber mit besagter Schreibmaschine, die ihrem kurzsichtigen Benutzer zufolge „FEINE FINGERCHEN" verlangt, um sie „BENUETZEN" zu können (SchrT, S. 59). Dabei hat Nietzsche seine physiologisch orientierte Kritik des Schreibens auch „in deutschen Reimen" vorgestellt, die bekanntlich als Schreibmaschinengedichte entstanden sind: „ICH SCHREIB NICHT MIT DER H A N D ALLEIN,/ DER FUSS WILL STETS MIT SCHREIBER SEIN - / FEST FREI U N D TAPFER LÄUFT ER MIR/ BALD DURCH D A S FELD BALD DURCHS PAPIER." (SchrT, S. 71)
Und es ist evident, dass sich der Fuß an dieser Stelle eben nicht nur auf den Menschen bezieht, sondern außerdem den Versfuß meint bzw. eine jener 54 Typenstangen der Malling-Hansen, die ihre Buchstaben auf das Papier drücken wie Füße ihre Spuren z.B. in den Sand. Schon deshalb ist es keine Arroganz, sondern Interesse fürs Physiologische, wenn Nietzsche auf die an sich selbst gestellte Frage „Warum ich so gute Bücher schreibe?" (KSA 6, S. 298) so entschlossen antworten kann: „Ich habe meine Schriften jederzeit mit meinem ganzen Leib und Leben geschrieben: ich weiß nicht, was ,rein geistige' Probleme sind." (KSA 9, S. 170) Man mag diesen Satz belächeln, seine medienpraktische Pointe jedoch wird dadurch schwerlich aus der Welt geschafft: Dass nämlich Schreiben noch vor aller Beschreibung eine Geschicklichkeit verlangt, „im manuellen Sinne des Wortes"28, die Handhabung eines Schreibgerätes, die Bezugnahme von Motorik auf Mechanik; eine instrumentierte Geste mithin, die als „muskulärer Akt"29 nicht wesentlich verschieden ist von dem, was einst und vielleicht für Altphilologen noch heute ,Gymnastik' heißt: ,Leibes-Übung' oder ,Training' (auch mit Geräten). Zweitens: Nietzsches Verhältnis zu den von ihm selbst geschriebenen und veröffentlichten Büchern. Zeit seines bewussten Lebens nämlich hat er besonderen Wert auf deren Äußerlichkeit gelegt. Nicht aus bibliophilen oder politischrepräsentativen Gründen (wie die Schwester und spätere Herausgeber)30, sondern weil er - medienästhetisch - durch ihre Ausstattung und ihr Schriftbild Einfluss auf die Leser nehmen wollte. Anlass dazu war seine Analyse zeitgenössischer Lektüregewohnheiten.
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Nietzsches Behauptung: ,,[M]itten in einem Zeitalter der ,Arbeit' [...] und schwitzenden Eilfertigkeit" (KSA 3, S. 17), ist auch die Rezeption von Schrift zu einem Parcours für „lesende Schnellläufer" (KSA 1, S. 832) geworden: seien es bücherwälzende „Gelehrte" (KSA 6, S. 292) oder unterhaltungsfixierte „Eintagsleser" (KSA 13, S. 567). Was beide Lesergruppen dazu nötig haben, ist eine übersichtlich gestaltete Typographie mit hohem Wiedererkennungswert und eine sakkadisch (= diagonal) vorwärtsspringende Rezeptionstechnik. Anders formuliert: Statt „die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämtlich abzulesen", nimmt man „heute [...] aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und ,erräth' den zu diesen fünf Worten muthmaasslich zugehörigen Sinn." (KSA 5, S. 113)
Lesen, heißt das dann aber, ist die Missachtung des Geschriebenen zugunsten des Beschriebenen, die beständige Verwechselung der „Erklärung mit dem Text' (KSA 13, S. 456). Von daher Nietzsches Ziel: Nicht Hinter-Gedanken erraten, sondern auf WortOberflächen achten; nicht extensive „Bücherwürmerei" (KSA 6, S. 326), sondern intensives „Wiederkäuen" (KSA 5, S. 256); oder: „einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen [...]." (KSA 13, S. 460) Wie Nietzsche das erreichen will? Indem er seine Leser zu der von ihm gewünschten Rezeptionstechnik zwingt; soll heißen, indem er sie durch Störung ihres gewohnten Leseflusses mit der Materialität des Gelesenen konfrontiert. „Meine Schriften machen Mühe", so bringt eine Ergänzung zu Ecce homo diese Strategie auf den Punkt (KSA 14, S. 484). Nicht nur, weil sie sich mit anspruchsvollen Themen beschäftigen, sondern auch und vor allem, weil ihre druckgraphischen Inszenierungen einer ebenso flüchtigen wie bloß sinnsuchenden Lektüre im Wege stehen. Nietzsches Mittel dazu: sein „Telegrammstil" (KSB 5, S. 461), seine aphoristische Schreibweise31 und die häufige Verwendung von Performationszeichen (etwa Gedankenstriche und Gänsefüßchen), einschließlich des Einsatzes von Zeilenabständen, Fett- und Sperrdruck, Unterstreichungen, Klammern oder WortTrennungen sowie der Umschlaggestaltung, der Papierwahl, der Randbreite, der Schwärze des Druckes usw.32 Diese Aufmerksamkeit für Äußerlichkeiten zeigt insbesondere Nietzsches Korrespondenz mit seinen Verlegern; z.B. Hermann Credner aus Leipzig: „Nun aber die Form-Fragen: denken Sie, bitte, mit mir darüber nach, wie wir diesem Buche ein möglichst vornehmes und ,unpopuläres' Gewand geben: so allein wäre es seinem Inhalt angemessen. Die neulich gesandte Probe [...] erlaubt keine Anwendung auf den Fall meines Buches: dies soll sehr langsam gelesen werden, es muß viel weniger auf einer Seite stehen, es muß auf den Gelehrsamkeits-Anspruch, wie er sich in einem so großen Formate ausdrückt, Verzicht leisten - und ich will's endlich mit deutschen Lettern versuchen. Man bringt den Deutschen nicht anders dazu, die Form, die Sprache, den Geschmack eines Buches ernst zu nehmen. [...]". (KSB 7, S. 164)
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Hier wird der Versuch unternommen, die optische Komplexität der Texte zu steigern. Man soll bemerken, in welchem Maße das Wie des Gedruckten eine Bedingung ist für das Was des Gelesenen. Dass Nietzsche seine Bücher letztlich immer wieder in lateinischen statt in deutschen Lettern drucken ließ, ist dafür ein weiteres Beispiel: „weil sie dem allzuschnellen Lesen entgegen sind". (KSB 5, S. 350) Vor 1900 hatten Geschmack und Literalität eines durchschnittlich gebildeten Deutschen noch an den Quadrangeln, Elefantenrüsseln und Entenfüßchen der Fraktur-Schriftarten ihr Maß. Wer sich für Antiqua entschied (gerade Schäfte, runde Verbindungsstriche, flache Serifen), konnte daher mit irritierten Reaktionen rechnen. Und genau das war ja Nietzsches Absicht: „Man muß sie [die Lettern] accentuieren. " (KSB 7, S. 229) Und drittens, Nietzsches Kampf gegen das eigene „Krikelkrakel" (KSB 6, S. 122): Der Wanderer aus dem Engadin ist 1882 in Genua zum Pionier des mechanisierten Schreibens geworden. Ein Umstand, der aus ihm aber nicht einfach einen Helden macht, sondern zeigt, wie sehr erst das Scheitern seines Maschinenexperimentes dazu führte, auch auf die Bedingungen von Schriftlichkeit selber zu achten. „Das verfluchte Schreiben! Aber die Schreibmaschine ist [...] unbrauchbar, das Wetter ist nämlich trüb und wolkig; also feucht: da ist jedesmal der Farbstreifen auch feucht und klebrig, so daß jeder Buchstabe hängen bleibt, und die Schrift gar nicht zu sehn ist. Überhaupt!! " (KSB 6, S. 188)
Auf einer Postkarte erreichen diese verärgerten Zeilen Nietzsches Schwester in Naumburg. Und tatsächlich: Ein Blick ins vorhergehende Typoskript zeigt, dass auf dem Papier die Lettern immer blasser wurden, dann folgten, schon wieder mit der Feder, Korrekturen und die Fortsetzung: „Leben Sie wohl!", gemeint ist Paul Ree in Rom, „Die Schreibmaschine will nicht mehr [...]." (SchrT, S. 37) Durch seine Malling-Hansen jedenfalls erreicht Nietzsche weder die Verminderung von Schreib- bzw. Lesefehlern noch das Verschwinden seiner Kopfschmerzen. Ganz im Gegenteil: Was eine Art Prothese sein sollte, zur Kompensation physiologischer Defizite, erweist sich im Laufe der Anwendung als eigenständiger Mechanismus·, geregelt durch seine technischen Standards und Materialitäten. „In Wahrheit", schreibt Nietzsche, „ist der M(ittler) nicht uneigennützig" (KSA8, S. 592). Oder, allgemeiner formuliert: Wenn wir wissen wollen, wie wir wissen können, dann dürfen wir nicht länger mehr vom Menschen ausgehen, sondern müssen uns mit Medien auseinandersetzen. Welche Möglichkeiten des Denkens es jeweils gibt, wird längst von deren Formaten entschieden. So sind sie für uns vom instrumentum zum transcendentum geworden; zum „Geschick"33, wie es ein anderer Spaziergänger auch genannt hat, für den das Technische bekanntlich zu den „Weisen des Entbergens" gehört: Und hier etwas zu vermögen kann nur bedeuten, es „gewähren" zu lassen - was aber nicht vorschnell für bloße Passivität gehalten werden sollte, da es zugleich eine Passion darstellt: als Leidenschaft der Analyse.
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Anmerkungen Zitatbelege zu Kant werden durch Parenthese eingefugt und nachgewiesen aus: Kant Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe (1781/87) hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1990 (= KrV, Ausgabe Α oder Β und Seitenzahl). Foucault, Michel, Was ist Kritik, übersetzt von Walter Seitter, Berlin 1992 [1978], S. 30. In Kants Worten (KrV, Β 34): ,,[D]asjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung". Zitatbelege zu Nietzsche werden durch Parenthese eingefügt und nachgewiesen entweder aus: Ders., Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988 fif. (= KSA Band, Seitenzahl), bzw.: Ders., Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/ New York 1986fif.(= KSB Band, Seitenzahl) oder: Ders., Kritische Gesamtausgabe, Werke, begr. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter/Karl Pestalozzi, Berlin/New York 1967 fif. (= KGW Band, Seitenzahl). Foucault, Michel, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in: Ders., Von der Subversion des Wissens, übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt/M 1987 [1971], S. 69-90, hier S. 71. Ebd., S. 71. Bereits 1969, in der Archäologie des Wissens, übersetzt von Ulrich Koppen, Frankfurt/M 1990, S. 183 ff. hat Foucault dafür den Begriff des „historischen Apriori" geprägt. Foucault, Genealogie, S. 76, 80. Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit 1, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/M 1986 [1979], S. 7, 113. Foucault, Kritik, S. 33. Ebd., S. 30 f., 39. Deleuze, Gilles, Nietzsche und die Philosophie, übersetzt von Bernd Schwibs, Hamburg 1991 [1962], S. 114. Foucault, Genealogie, S. 71. Vgl. Salaquarda, Jörg, „Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie", in: Über Friedrich Nietzsche, Eine Einführung in seine Philosophie, hg. von Matthias Lutz-Bachmann, Frankfurt/M 1985, S. 27-61. Vgl. u.a. die (quellenkritischen) Arbeiten von Kopperschmidt, Josef, „Nietzsches Entdeckung der Rhetorik oder Rhetorik im Dienste der Kritik der unreinen Vernunft", in: Ders./Schanze, Helmut (Hg.), Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik", München 1994, S. 39-62, bzw. Behler, Ernst, „Die Sprachtheoriedes frühen Nietzsche", in: „Centauren-Geburten", Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim frühen Nietzsche, hg. von Tilman Borsche/Frederico Gerratana/Aldo Venturelli, Berlin/New York 1994, S. 99-111. Erwähnt sei Nietzsches 1868er-Plan einer „Doktordissertation" über den „,Begriff des Organischen seit Kant' halb philosophisch, halb naturwissenschaftlich". (KSB 2, S. 269). Dieser blieb ebenso unausgeführt wie die Absicht, nach Niederlegung seiner Professur Naturwissenschaften zu studieren (vgl. KSB 6, S. 29, 140, 208, 223, 250). So blieb Nietzsche auf diesem Gebiet sein Leben lang ein durch Krankheiten geforderter und an privater Lektüre gebildeter Amateur: „Im Vertrauen gesagt: das Wenige, was ich mit den Augen arbeiten kann, gehört jetzt [August 1881] fast ausschließlich physiologischen und medizinischen Studien (ich bin so schlecht unterrichtet! - und muß so Vieles wirklich wissenV)". Vgl. KSA 2, S. 634 f., KSA 3, S. 323, KSA 6, S. 149, 279 ff., bzw. Günzel, Stephan, Geophilosophie, Nietzsches philosophische Geographie, Berlin 2001, S. 187 ff. Das Original lautet: „Meine Philosophie [ist] umgedrehter Piatonismus". (KSA 7, S. 199) Vgl. auch KSA 6, S. 279, KSA 8, S. 578, KSA 9, S. 528. Vgl. dazu Behler, Ernst, „Nietzsche und die frühromantische Schule", in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fir die Nietzsche-Forschung, Bd. 7, Berlin/New York 1978, S. 59-96,
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Christof Windgätter bzw. Most, Glenn/Fries, Thomas,": Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung", in: „ Centauren-Geburten ", Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim frühen Nietzsche, hg. von Tilman Borsche/Frederico Gerratana/Aldo Venturelli, Berlin/New York 1994, S. 17-46. Zuerst verfolgt haben Nietzsches eigenen Hinweis auf Gerber (KGW II/4, S. 428) LacoueLabarthe, Philippe/Nancy, Jan-Luc, „Friedrich Nietzsche. Rhetorique et langage", in: Poetique, Nr. 5, Paris 1971, S. 99-143, die Teile der Rhetorik-Vorlesungen ins Französische übersetzt und mit einem Apparat versehen haben. Zur Konkordanz vgl. Meijers, Anthonie/Stingelin, Martin, „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen und in ,Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne'", in: Nietzsche-Studien, Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 17, Berlin/New York. 1988, S. 350-368. Vgl. Kopperschmidt, Nietzsches Entdeckung, S. 47 f., nach einem Hinweis von: de Man, Paul, „Rhetoric of Tropes (Nietzsche)", in: Ders., Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Häven/London 1979, S. 103-131, S. 106. Nietzsches körperliche Leiden rekonstruiert ausfuhrlich Volz, Pia Daniela, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990. Zur Kulturund Medienwissenschaft der Schreibmaschine vgl. Kittler, Friedrich, Aufschreibesysteme 1800 -1900, München 1985; Ders., Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, sowie im Anschluss daran Stingelin, Martin, „Kugeläußerungen. Nietzsches Spiel auf der Schreibmaschine", in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M 1995, S. 326-341, bzw. Windgätter, Christof, „Rauschen - Nietzsche und die Materialitäten der Schrift", in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 33, hg. von Günter Abel/Josef Simon/Werner Stegmaier, Berlin/New York 2004, S. 1-36. Zu den technischen Details vgl. Eberwein, Dieter, Nietzsches Schreibkugel, Ein Blick auf Nietzsches Schreibmaschinenzeit durch die Restauration der Schreibkugel, Schauenburg 2005. Da Nietzsches Typoskripte in KS Α und KGW nicht vollständig veröffentlicht sind, werden sie im Folgenden zitiert nach: [Friedrich Nietzsche], Schreibmaschinentexte, Faksimiles und kritischer Kommentar, hg. von Stephan Günzel und Rüdiger Schmidt-Grepäly, Weimar 2002. (In den Text durch Parenthese eingefügt und abgekürzt als: SchrT, Seitenzahl) Dabei werden Schreibfehler außer Acht gelassen. Zu deren Analyse vgl. Windgätter, Christof, „,Und dabei kann immer noch etwas verloren gehen! - ' . Eine Typologie feder- und maschinenschriftlicher Störungen bei Nietzsche", in: „.SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN'. (Mechanisiertes) Schreiben von 1850 bis 1950", hg. von Martin Stingelin/Davide Giuriato/Sandro Zanetti, Paderborn 2005, S. 49-74. Vgl. u.a. Sybille Krämer, „Sprache und Schrift oder: Ist Schrift verschriftete Sprache?", in: ZS, Zeitschrift fir Sprachwissenschaft, Bd. 15, Heft 1, Göttingen 1996, S. 92-112. Vgl. KSB 6, S. 216, 219 f., 375 f.; KSB 8, S. 92, 357 f., 392 f., 545, bzw. Windgätter, Typologie, S. 57 f., 72 (mit Abbildung). Vgl. Windgätter, Typologie, S. 68 f. Barthes, Roland, „Variations sur l'ecriture (Texte non publie)", in: Ders., CEuvres completes, Tome II: 1966-1973. Edition etablie et presentee par Eric Marty, Paris 1994. [1973], S.1525-1574,S. 1535. Ebd. Vgl. Hoffmann, David Marc, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs, Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Rudolf Steiner, Gustav Naumann, Josef Hofmiller, Chronik, Studien, Dokumente, Supplementa Nietzscheana Bd. 2, Berlin/New York 1991. Vgl. u.a. Borsche, Tilman, „System und Aphorismus", in: Djuric, Mihailo/Simon, Josef (Hg.), Nietzsche und Hegel, Würzburg 1992, S. 48-64. Vgl. Fietz, Rudolf: Medienphilosophie: Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche. Würzburg 1992, S. 378 f., bzw. Windgätter, Rauschen, S. 16 f. Heidegger, Martin, „Die Frage nach der Technik", in: Ders., Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 5-36, hier S. 24. Das direkt folgende Zitat S. 12.
Reinhard Brandt
Nietzsche versus Piaton & Kant versus Nietzsche
Platonisches Vorspiel Von der Gigantomachie zwischen denen, die das Sein in die Ideen setzen, und denen, die allein das Körperliche als seiend annehmen: Fremder: „ Zwischen diesen scheint mir nun ein wahrer Riesenkrieg zu sein wegen ihrer Uneinigkeit untereinander über das Sein. " Theaitetos: „ Wieso? " Fremder: „Die einen ziehen alles aus dem Himmel und dem Unsichtbaren auf die Erde herab, mit ihren Händen buchstäblich Felsen und Eichen umklammernd. Denn an alles dergleichen halten sie sich und behaupten, das allein sei, woran man sich stoßen und was man betasten könne, indem sie Körper und Sein für einerlei erklären; und wenn von den andern einer sagt, es sei auch etwas, was keinen Leib habe, achten sie darauf ganz und gar nicht und wollen nichts anderes hören." Theaitetos: „Ja, arge Leute sind das, von denen du sprichst, denn ich bin auch schon auf mehrere solche gestoßen. " Fremder: „Da auch die gegen sie Streitenden sich gar vorsichtig von oben herab aus dem Unsichtbaren verteidigen und behaupten, gewisse denkbare und unkörperliche Ideen seien das wahre Sein, die Körper jener aber und was sie das Wahre nennen, stoßen sie ganz klein in ihren Reden und schreiben ihnen statt des Seins nur ein bewegliches Werden zu. Zwischen ihnen aber, ο Theaitetos, ist hierüber ein unermessliches Schlachtgetümmel immerwährend. "' Wir können diese Opposition aus der Retrospektive verlängern und bis hin zu Nietzsche verfolgen. Wir tragen in die Gegenüberstellung folgende Begriffe ein: Materialismus - Idealismus, Sensualismus - Rationalismus, Nominalismus - Realismus, Leben - Vernunft, aber auch „status naturalis" - „status civilis", Unterbau - Überbau, Sein - Bewusstsein, konkret - allgemein, auch: unten - oben und, nach der Französischen Revolution, links - rechts. Die Gigantomachie ist, so interpretiert, der Urkonflikt der europäischen Kultur, sie zerspaltet
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bis in die Politik hinein die Interessen in zwei sich immer neu formierende, sich in neuen Allianzen stärkende und maskierende, luzide und sich selbst missverstehende Blöcke. In diesem vereinfachten Schema positioniert sich der europäische Philosoph entweder auf der einen Seite der beiden Kontraste und versucht zu zeigen, dass das Gegenüber in seine Position integriert werden kann, oder aber er konstatiert den Kontrast und entwickelt eine dritte Denkform, aus der beide erklärt und entschärft werden können. Nach dem ersten Muster verfahren z.B. die Links- und die Rechtshegelianer, nach dem letzteren Muster sortiert z.B. Kant in der „Dialektik" der KrV die Opposition des Materialisten Epikur und des Idealisten Piaton und hebt sie in einer dritten Position auf. Das erste Muster der Integration wird z.B. dann realisiert, wenn die materialistische Position sich anheischig macht, die Gegenwelt als Phantom des bloßen Bewusstseins zu erklären, das sich auf die Materie (die produktive Arbeit der Gesellschaft, den Willen zur Macht oder die Gehirnzellen) zurückführen lässt, oder auch umgekehrt: wenn die Geistphilosophie das Gegenüber in einer Emanationsphilosophie nicht wegphilosophiert, aber doch aus dem Geist als dessen progredierende Absenz verständlich macht. Wir geben im folgenden einen Minimalabriss der gigantischen Behauptungen des Flussphilosophen von der Saale und zeigen, wie er das ideelle Wahre, Gute und Schöne zermalmt (I.); wir analysieren dann die einschlägigen Thesen und Beweise des Olympiers vom Königsberg und sehen uns an, wie er die Skeptiker und Dogmatiker und Nietzsche von oben vernichtet (II.), und wir befassen uns drittens mit titanischen Umtrieben in der Kantischen Philosophie, die in eine bedenkliche Nähe zu Nietzsche fuhren (III.). Es folgt viertens die Peroratio und die Frage: Was bleibt? (IV.)
I. Nietzsches gigantische Behauptungen und Zertrümmerungen Nietzsche lehnt emphatisch ein philosophisches System ab und meidet entsprechend das begründende „weil". Eine Selbstbehauptung von vielen: „Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." (Nietzsche 1956, II 946) Unser Zwischenkommentar: Es ist hier wie auch sonst schwer nachvollziehbar, was Nietzsche genau meint. Würde er z.B. Ernst Mach oder Gottlob Frege aus dem Weg gehen, wenn er ihnen zufallig in Wien oder Göttingen begegnete? Oder liest er systematische Werke nicht, etwa die von Piaton, Aristoteles, Hobbes, Kant, Hegel? Geht sich Nietzsche selbst aus dem Weg, wenn ihm das erstrebte eigene Opus magnum
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endlich gelingen sollte? Der Affekt gegen alle Systemphilosophie ist alt, man denke an Shaftesbury; aber Nietzsches neue Verknüpfung von Systemwillen und Mangel an Rechtschaffenheit setzt voraus, dass der Systemgedanke sich nicht aus theoretischer Notwendigkeit ergibt, sondern eine Sache des subjektiven Willens ist. Damit ist jedoch jede Theorie und selbst diese Äußerung Nietzsches schon apriori vom Willen, speziell vom Willen zur Macht absorbiert, sie ist ein Machtspruch oder Befehl des Autors im Gewand einer theoretischen Erkenntnis. Wir werden im Folgenden einzelne unsystematische Behauptungen von Nietzsche zusammenstellen, damit wir den Gedankenkern gewinnen können, um den sich die Einzelteile lagern. Wir unterscheiden hierbei zwei Stücke; einmal gibt es eine „pars construens" seiner eigenen Meinungen, und dann die „pars destruens", in der Nietzsche die den eigenen Meinungen entgegen gesetzten Irrtümer formuliert und zertrümmert. Weil Nietzsche die Systematik hasst, trennt er häufig die beiden Gedankenrichtungen nicht, so dass auch uns in der Darstellung die Unterscheidung schwer fallt. Wir gehen hierbei nur auf die Spätphilosophie ein und vernachlässigen auch dort die nicht einschlägigen Komponenten. Einige Bemerkungen zur frühen und mittleren Philosophie seien jedoch vorangeschickt, um zu sehen, wie sich die späteren Positionen vorbereiten. In der ersten philosophischen Schrift, Die Geburt der Tragödie (1871-1872), ist der naturale Akt einer Geburt zwar in den Titel gesetzt, aber die Tragödie ist die Kunst-Einheit aus der, vereinfacht gesagt, materialen Wucht des Dionysischen und der eher asthenischen Form des Apollinischen. Dieses Formprinzip lässt Nietzsche später fallen, und es ist kein Zufall, dass er im Delirium mit dem Schriftzug „Dionysos" unterzeichnet, nicht jedoch mit „Apoll". Aber die Tragödienschrift als solche kündet trotz ihres Dualismus das Prinzip an, das später als monistischer Wille zur Macht firmieren wird. Die antike Tragödie und die kulturelle Entwicklung bis hin zu Wagner sind für uns Gegenstände der historischen Forschung, die mit einem internen Korrekturverfahren ihre Aussagen zunehmend präzisiert und gegen Kritik immunisiert. Nietzsche beginnt jedoch sein zweites, das philosophische Leben nach der Philologenexistenz mit einer Demonstration seines Willens zur Macht: Er vernichtet die Forschung als alexandrinisches Papierprodukt und bemächtigt sich der Antike und ihrer Folgen mit seinen eigenen Ansichten. Er trägt den Willen eines Einzelnen, seinen Willen, in den Bereich der Erkenntnis und versucht, die Macht im virtuellen Geisterreich an sich zu reißen, rücksichtslos gegen die rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Besitzstände der tradierten Forschung. Der imperiale Gestus liefert den gelehrten Einspruch der Beckmesserei und Lächerlichkeit aus - es geht schon hier nicht um Erkenntnis und Wahrheit, sondern um Macht gegen alle anderen. An die Stelle der kritischen Auseinandersetzung mit Fußnoten oder Endnoten tritt die rhetorisch gedopte Polemik. Der bedeutendste Altphilologe der deutschen
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Geschichte, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, befand sich auf einer Italienreise mit Theodor Mommsen, als er die Schrift seines Pfortenser Mitschülers Nietzsche las, und reagierte auf dessen Machtanspruch mit einer Duellforderung; es kam nicht zu der Schießerei, aber die Reaktion zeigt doch, dass es nicht um unterschiedliche Interpretationen innerhalb der Regeln des Metiers ging, sondern um einen subversiven Angriff auf die ganze Zunft, auf die der Junker standesgemäß mit der Pistole antworten wollte. Zur Sache selbst: Dass das Irrationale für die Griechen und bei den Griechen von eminenter Wichtigkeit war, zeigt die erste Zeile der Mas und wurde vielfach erörtert, man nehme nur E. R. Dodds The Greek and the Irrational. Die zeitgenössische Wissenschaft (bes. Adolf Furtwängler) legte frei, dass die antiken Tempel und Statuen bunt waren und dass am Kalkhumanismus etwas nicht stimmte, alles im Rahmen einer ausweisenden, argumentierenden, sich weiter korrigierenden Wissenschaft. Schon bei seinem ersten literarischen Auftritt als Dichter-Philosoph versuchte Nietzsche dagegen, die Forschung und ihr Tribunal in der Republik der Gelehrten außer Kraft zu setzen und statt einer gelehrten Abhandlung einen eigenen, sich ästhetisch selbst rechtfertigenden Traktat zu schreiben. Mit Schopenhauer: Er verließ die Welt der Vorstellungen, die sich Gelehrte in endloser Folge über die Antike machen, und entwarf eine Geburt der Tragödie aus eigenem Willen. Der Gegenstand war derselbe wie der der historischen Wissenschaft, Nietzsche machte jedoch aus diesem Material eine eigene Komposition, die sich nicht durch anderweitige pedantische Vorstellungen korrigieren oder bestätigen ließ, sondern ihre Wahrheit in sich selbst trägt. Derart absorbiert die Kunstschrift ihren Gegenstand und entzieht ihm als einem ihr äußeren Objekt, auf den sich auch die Wissenschaft bezieht, den Boden. In der mittleren Phase von Nietzsches Schriftstellerei führte der Kunstaristokratismus zur Selbstolympisierung - wir hier oben, ihr dort unten: Die dort unten sind die nur physisch produktive Fabrikware der Natur, die Massen, drohnenartig betriebsam, ein Nichts gegenüber den wahrhaft Großen - so die Sprachfeiern der mittleren Phase.2 Schon hier: Fragen des Rechts und Unrechts sind rein instrumenteller Natur. Die großen Menschen, die starken Persönlichkeiten, die Genies der Politik und Kultur sind von der Natur befugt, sich die Massen als Werkzeuge ihrer Machtentfaltung zu unterwerfen. Im frühen Dialog Gorgias lässt Piaton den Sophisten und Rhetor die Übermenschen loben; er nennt die Perser Dareios und Xerxes und ihre Feldzüge und rechtfertigt sie: „Also, meine ich, tun sie dieses der Natur gemäß, und, beim Zeus, auch dem Gesetz gemäß, nämlich dem der Natur; aber freilich nicht nach dem, welches wir selbst willkürlich machen, die wir die Besten und Kräftigsten unter uns gleich von Jugend an, wie man es mit dem Löwen macht, durch Besprechung gleichsam und Bezauberung knechtisch einzwängen, indem wir ihnen immer vorsagen, alle müssen gleich haben, und dies sei eben das Schöne und das Gerechte. Wenn aber einer mit einer recht tüchtigen
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Natur zum Manne wird: so schüttelt er das alles ab, reißt sich los, durchbricht und zertritt all unsere Schriften und Gaukeleien und Besprechungen und widernatürlichen Gesetze und steht auf, offenbar als unser Herr, er der Knecht, und eben darin leuchtet recht deutlich hervor das Recht der Natur."3 Zur deutschen Kultprosa gehören die Paraphrasen, mit denen Nietzsche dieses erste Vorkommen der Begriffe „Gesetz der Natur" und „Recht der Natur", sc. der Starken gegen die positiven Gesetze der Vielen und der Schwachen neu verkündet hat. Eine der vielen Passagen: „Wahrhaftig, wir brauchen einen Lessing, rief schon Goethe, und wehe allen eitlen Magistern und dem ganzen ästhetischen Himmelreich, wenn erst der junge Tiger, dessen unruhige Kraft überall in schwellenden Muskeln und im Blick des Auges sichtbar wird, auf Raub ausgeht!" (Nietzsche 1956,1 158) Ein Ton übrigens, den man gerade bei Lessing nicht findet: Das billige Sich-Berufen auf eine feste Ikone, die nun einmal Lessing heißt, und das arrogante Abkanzeln der Magister und des ganzen ästhetischen Himmelreichs - gehören Beethoven und Mozart dazu? Robert Schumann? In der Spätphase konzentriert sich Nietzsche auf den Willen zur Macht-, die einschlägigen Notizen sind jetzt in einer kritischen Edition von Stephan Günzel unter dem vorsichtigeren Titel „Von Wille und Macht" zusammengestellt. Es ergibt sich ungefähr folgendes Konzept:
Nietzsches Doktrin vom Willen zur Macht und der Papiersieg über ihre Gegner Der Wille zur Macht ist die psycho-physische arche des Universums, ein selbst ungewordenes Protoplasma, „so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem , Wirken' auf dieselben - der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt [...]." (Nietzsche 2004, 124)4 „Der siegreiche Begriff ,Kraft', mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ,Willen zur Macht', d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; [...]." (Nietzsche 2004, 32) Der Wille zur Macht scheint das Innere des energetischen Magmas und Urzustandes der Welt zu sein, der sich in seinen Erscheinungsformen steigert: „[...] Verwandlung der Energie in Leben und Leben in höchster Potenz erscheint demnach als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung Verschiedenes: eben das, was das Wachstum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer und weiter
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rechnende Ökonomie welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht... Als Ideal das Princip des kleinsten Aufwandes... - daß die Welt nicht auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das Einzige, was bewiesen ist. Folglich muß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß er kein Gleichgewichtszustand ist." (Nietzsche 2004, 109) „Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet. [...] Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigungen wehren. Nicht Selbsterhaltung [...]. Deshalb nenne ich ein Quantum Wille zur Macht' [...]." (Nietzsche 2004, 123) Nietzsche scheint in der Spätphase das Konzept zu verfolgen, dass ein Protoplasma sich zerlegt und der Wille zur Macht auf konkurrierende Willen stößt. Es gibt keine grenzsetzende Potenz, die Umfang und Einteilung der entzweiten Willens- und Machtsphären festsetzen könnte; daher bleibt nur der „status naturalis" einer Überwältigung jedes Willens, der nicht der meine ist. „Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen ( - sein Wille zur Macht:) und alles das zurückzustoßen, was seiner Ausstrebung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen andrer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren (vereinigen), welche ihm verwandt genug sind [...]." (Nietzsche 1956, III 705) Im Selbst des Menschen wiederholt sich wie in allem Seienden der Protoplasma-Wille zur Macht, d. h. nicht ein Wille zur Selbsterhaltung, sondern originär und ursprünglich ein Wille zu mehr Macht. Das Einverleiben und Aneignen5 des anderen sind keine Mittel der Selbsterhaltung, sondern sind unsere psycho-physischen Primärhandlungen in der konkurrierenden Auseinandersetzung. „Das Hauptelement des Ehrgeizes ist, zum Gefühl seiner Macht zu kommen. Die Freude an der Macht ist nicht darauf zurückzufuhren, dass wir uns freuen, in der Meinung anderer bewundert dazustehen. Lob und Tadel, Liebe und Haß sind gleich für den Ehrsüchtigen, welcher Macht will." (Nietzsche 2004, 13) Macht ist ein Relationsbegriff und richtet sich auf andere Wesen, normalerweise Menschen; er bezeichnet die geballte Macht gegen alle anderen und die aus ihr erwachsende Freude, das reine Hochgefühl im Selbstbewusstsein. Man kann zwei Dimensionen voneinander trennen, die kognitive auf der einen Seite und die voluntative auf der anderen. Die kognitiven Leistungen des Menschen lassen sich nach Nietzsche als reine Funktionen des Willens zur Macht dechiffrieren. „Die Kategorien sind .Wahrheiten' nur in dem Sinne, als sie lebensbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingte ,Wahrheit' ist. (An sich geredet, da Niemand die Nothwendigkeit, daß es gerade Menschen giebt, aufrecht erhalten wird, ist die Vernunft, so wie der Euklidische Raum eine bloße Idiosynkrasie bestimmter Thierarten und eine neben vielen anderen...)". (Nietzsche 2004, 142)
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Wir übersetzen diese Energie in Vorstellungen des Raumes, der Bewegung, der Substanzen, wobei wir den Begriff der Einheit von unserem „Ich"-begriff entlehnen. (Nietzsche 2004, 123) „Wir haben Einheiten nötig, um mit ihnen rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten giebt." (Nietzsche 2004, 123) Die Raum- und Zeitvorstellungen und die Dinge in ihnen und ihre mechanische Kausalität sind selbstgezimmerte Hilfskonzepte, mit denen wir uns den Schein von Erkenntnissen verschaffen, eine bloße Semiotik, der kein Reales entspricht: „[...] denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander" (Nietzsche 2004, 54). Alles vermeintlich Geistige und Stabile nimmt in Wahrheit teil am Werden des Lebenswillens: „Was uns ebenso von Kant wie Plato und Leibniz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, - wir sind historisch durch und durch." (Nietzsche, zitiert nach Bueb 1970, 21) Zur Befreiung der werdenden Natur gehört die Zerstörung der Metaphysik. Nietzsche setzt damit die Bloßlegung fort, die schon Antisthenes im Auge hatte, wenn er sagte: „O Piaton, das Pferd sehe ich, aber die Pferdheit sehe ich nicht."6 Der freie und starke Geist demaskiert die Annahme einer Hinter- und Überwelt und begründet so das postmetaphysische, d. h. das nachnachnatürliche, d. h. das natürliche Denken. Was sehen wir wirklich? Darüber kann keine Metaphysik uns belehren, sondern die Wissenschaft, fundiert in der neuen Macht-Lehre. Die Moralkritik ist aus moralischen Gründen notwendig, denn unter der Herrschaft dieser Konstellation gerät der Mensch in eine Fremdherrschaft. Während Kant formuliert: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen [...]" (KrV Β XXX), steht bei Nietzsche die Gegenformel: „Ich musste die Moral aufheben, um meinen moralischen Willen durchzusetzen." (Nietzsche, zitiert nach Bueb 1970, 20) „Meinen" Willen ist so signifikant wie das „Durchsetzen". Gelegentlich sucht Nietzsche Verbündete: „wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute, [...]." (Nietzsche 1956, I 1015) Aber im allgemeinen ist es der solitäre Wille des Einen, der sich gegen die moralisch selbstgezähmte Menge stellt. „Dies mein Interesse an der Vernichtung der Moral. Um leben und höher werden zu können - um den Willen zur Macht zu befriedigen, müsste jedes absolute Gebot beseitigt werden. Für den mächtigsten Menschen ist auch die Lüge ein erlaubtes Mittel, beim Schaffen: ganz so verfahrt die Natur." (Nietzsche 2004,14) Das Resultat der olympischen Degeneration unter dem Druck des Mittelmaßes ist der Pessimismus, der durch den Willen zur Macht überwunden wird, denn die Krisis erzeugt Rettung, die Züchtung des Herrentiers. Man sieht: Die Lehre der Instinktsteuerung unserer vermeintlichen Erkenntnis und des Willens zu mehr Macht ist kein physikalisch-psychologisch-soziologischer Forschungsbericht; sie ist keine Biologie der Spezies Mensch, zu
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deren Daseinsformen auch das Setzen von Normen und Werten gehört, so wie etwa David Hume seine „science of man" begreift. Nietzsche denunziert gerade dieses Wissenschaftsethos, das dazu führt, dass ein Gegenstand seziert und erkannt, aber damit noch nicht bewertet und benutzt wird. Er ergreift Partei, er preist die reduktiven Erkenntnisse als Aufklärung mit Soll-Charakter; sie sind für ihn wissenschaftliches Faktum und normativer Wert. Er will keine Theorie als solche, sondern er sucht theoretische Argumente für die praktische Propaganda mit dem Ziel der „Umwerthung aller Werthe" (Nietzsche 2004, 117), was schon Diogenes der Kyniker wollte. 7 Das Schwache und Mittelmäßige soll sich entsprechend dem Großen und Starken unterwerfen, es soll gehorchen, wenn dieser befiehlt. Der Starke soll sich zu seiner Stärke bekennen und sich nicht durch Mitleid, Rechtlichkeit und sonstige Selbstverstümmelungen des Bürgertums demoralisieren lassen. „Down with Plato", das ist kein Fallgesetz, sondern ein Befehl. Die Lehre steht nicht im Dienst einer besseren Erkenntnis, sondern eines volleren Lebens. David Friedrich Strauss wird von Nietzsche vorgeworfen: „Er bringt es nicht zu einer aggressiven Tat, sondern nur zu aggressiven Worten. [...] Ja, selbst das Schattenbild der Taten, die Ethik, zeigt, daß er ein Held der Worte ist, und daß er jede Gelegenheit vermeidet, bei der es nötig ist, von den Worten zum grimmigen Ernste weiterzugehen. [...] Mit einem gewissen rauhen Wohlbehagen hüllt er sich in das zottige Gewand unserer Affengenealogien und preist Darwin als einen der größten Wohltäter der Menschheit, - aber mit Beschämung sehen wir, daß seine Ethik ganz losgelöst von der Frage: ,wie begreifen wir die Welt?' sich aufbaut. Hier war eine Gelegenheit, natürlichen Mut zu zeigen: denn hier hätte er seinen ,Wir' den Rücken kehren müssen und kühnlich aus dem bellum omnium contra omnes und dem Vorrechte des Stärkeren Moralvorschriften für das Leben ableiten können, die freilich nur in einem innerlich unerschrockenen Sinn, wie in dem des Hobbes, und in einer ganz anderen großartigen Wahrheitsliebe ihren Ursprung haben müssten." (Nietzsche 1956,1 167-168) Auf diese Vorzugsstellung des Naturzustandes gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft werden wir später zurückkommen. Auch der laut geforderte Übergang von den bloßen Worten zur Tat wird uns noch beschäftigen. Nietzsche steht mit seiner Tiefenanalyse der Wirklichkeit und der positiven Bewertung des als Wille zur Mehr-Macht interpretierten Protoplasma vor der Aufgabe, zu erklären, wie es zum Abfall kam, warum dieser Machtwille nicht mit einem Machtwort oder mit seiner Faust die ganze Menschheitsgeschichte durchherrscht hat, warum er die Ohnmächtigen an die Macht kommen ließ, debile Menschen wie Piaton, Christus, Kant - wie konnte das Ursein es zulassen, eine so schlechte Figur zu machen und von dem schwankend-schwächlichen Oben mit Geistesblitzen malträtiert zu werden? Nietzsche muss eine
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spiegelverkehrte Theodizee ersinnen, um den Schwächeanfall des Machtwillens zu erklären. Es gibt keine andere Lösung als die, die schon im Gorgias steht: Dem einen heroischen Machtwillen stellt sich die Menge entgegen, das polymorphe Untier der Vielen, der Aufstand der Massen. Piatons süffisante Verschärfung: Um an die Macht zu kommen, muss sich der Über- und Herrenmensch der Menge andienen, muss ihre Werte zum Schein annehmen, d. h. muss einer der ihren werden. Nietzsche vollzieht diese Angleichung an die Vielen, indem er sich den schlechten, sogar vulgären Geschmack des Publikums zu eigen macht und pöbelnd über frühere Geistesgrößen spricht, indem er an die Stelle der subtilen Distinktionen der Philosophie die sich einschmeichelnde Rhetorik stellt und die komplizierten Begründungen durch parataktische Behauptungen und unterschwellige Befehle ersetzt. Die sokratisch-platonische Ironie und der Kantische Humor weichen einem ungeheuren Ernst - alles bei Nietzsche ist höchster Ernst, und Strauss wurde getadelt wegen des Mangels an „grimmigem Ernste". Auf seinen eigenen Ernst weist Nietzsche schon 1872 Richard Wagner in der Widmung der Geburt der Tragödie hin: Er habe „etwas Ernstes und Eindringliches zu sagen". Kein Dialog, kein Lächeln der Prosa, sondern der tiefsinnige, allen Zweifel abweisende monologische Ernst eines Savonarola gehört zum Pathos des Machtwillens.
II. Kants olympischer Gerichtshof und das begriffliche Niederschmettern der Titanen Nietzsches Gigantenphilosophie will sich des Olymps dadurch bemächtigen, dass sie ihn als das demaskiert, was er eigentlich ist, eine Fesselung des Willens zur Macht durch massenhafte Winzige. Nun ist Friedrich Nietzsche nicht wirklich ein Gigant oder Titan, der Ossa auf Ossa türmt, um den Olymp zu stürmen; sondern er ist wie viele seiner Kollegen ein asthenischer Schriftsteller, der sich seine Gedanken macht und sie zu Hause aufschreibt. Er bemächtigt sich nicht des Olymps, sondern er redet. Die Rede ist nicht das murmelnde Wasser der Saale, sondern es sind words words words, und nicht nur isolierte Einzelwörterwörterwörter, sondern Sätze werden formuliert, die ein mindestens dreirelationales stabiles Gebilde sind: Sie werden formuliert von der Person, die als Autor firmiert, sie beziehen sich auf bestimmte wirkliche oder fiktive Sachverhalte, und sie werden anderen denk- und daher sprachfahigen Wesen mitgeteilt. Wie das möglich ist, darüber wird seit den Vorsokratikern in Europa nachgedacht. Platon und Kant erörtern die Form und die Voraussetzungen einer sachhaltigen, mitteilbaren Rede oder, nur anders formuliert: die Bedingungen der Möglichkeit von
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Erkenntnis und damit einer gemeinsamen Welt, der „societas generis humani", die es für die Tiger und wilden Löwen nicht gibt außer im naturalen Akt von Zeugung und Geburt. Während Nietzsche verbal die olympischen Metareflexionsakademien zu stürmen sucht und mit seinen modernen Schrapnellsätzen die metaphysischen Philosophen umbringen möchte, können diese getrost weiter reflektieren, denn die Erstürmung findet nur auf dem Papier statt, und der wilde Tiger, der nach oben droht, ist glücklicherweise ein tatenarmer, tintenfleckiger Papiertiger. Zum Beispiel: „[...] denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander" (Nietzsche 2004, 54): Euer vermeintlich freies und souveränes Denken ist in Wirklichkeit - und jetzt die frappierende Einsicht, die wie mit Dynamit den ganzen Elfenbeinturm in die Luft sprengen soll. In Wirklichkeit sind es die undurchschauten Triebe, die euch Turmdenker um- und umtreiben. Aber Nietzsches scheinbar sensationelle, viel gefeierte Tiefensicht kann nicht richtig sein; Triebe mögen allein oder miteinander etwas aufbauen oder vernichten, aber sie können weder bejahen noch verneinen und damit nicht urteilen, Denken aber ist ohne Urteile nicht möglich. So einfach stürzt das gigantische Gegen-Denken in sich zusammen. Dasselbe gilt von dem Diktum, Sprache sei ein wandelndes Heer von Metaphern. Im Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (Nietzsche 1956, III 314) heißt es: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen [...]", ohne „wenn" und „weil", sondern einfach: So ist es. Eine Bildwende unserer kognitiven Möglichkeiten, denn wenn wir sprachlich nur die Möglichkeit der Addition von bildlichen Vorstellungen haben, dann unterscheiden wir uns nach der auch damals gängigen Tierpsychologie nicht mehr von den angepflockten Schafen oder Nietzsches beneideten Raubtieren. Es bleibt nur ein Schönheitsfehler in dieser populistischen Diagnose: Sie macht ihre notwendige Form durch ihren akzidentellen Inhalt (oder vice versa) selbst unmöglich. Das Urteil, das Nietzsche diktiert, besteht formal notwendig aus Unter- und Oberbegriffen und kann notwendig entweder bejaht oder verneint werden, denn wir können das Prädikat dem Subjekt entweder zusprechen oder absprechen, ob die verwendeten Wörter nun Metaphern sind (wie das Wort „Metapher") oder nicht. Durch die Bildung von Urteilen unterscheiden sich unsere kognitiven Möglichkeiten von denen der verachteten oder bewunderten animalischen Mitgeschöpfe, und Nietzsche muss sich dieser Form der Urteile bedienen, um seine gegenteilige Auffassung im Inhalt zu verkünden. Da Nietzsche sich um Widersprüche wenig kümmert, wenden sich Piaton und Kant hiermit nicht an ihn selbst oder die Halb- und Ganznietzscheaner, sondern an die wenigen widerspruchsfeindlichen Andersdenker. Das Thema der olympischen Reflexion ist die Ermöglichung von Erkenntnis; es stellt sich bei der Untersuchung heraus, dass Nietzsches Hermeneutik oder
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Meinung oder Erkenntnis, gemäß der die Erkeimtnisermöglichungserkenntnis null und nichtig ist, ihrerseits ein Irrtum, weil schon formal in sich widersprüchlich ist und dass auch ihre inhaltlichen Behauptungen der Überprüfung durch die Olympier nicht standhalten. Nach Kants kritischer Philosophie sind alle vorhergehenden (und nachfolgenden) unkritischen Behauptungen nicht notwendig falsch, aber sie entbehren eines sicheren Fundaments. Diese Sicherung geschieht durch den Rekurs auf die grundsätzlichen Erkenntnismöglichkeiten des Erkenntnis prätendierenden Subjekts. Die Kritik der reinen Vernunft konzipiert die Möglichkeit der sachbezogenen, allgemein mitteilbaren Erkenntnis so, dass sie sich zwei subjektive Evidenzzonen als Tatsachen des Bewusstseins vorgibt, die sogenannte Transzendentale Ästhetik und die Transzendentale Logik. Hier wird zu zeigen versucht, dass das menschliche Subjekt über zwei irreduzible Erkenntnisquellen verfügt, Anschauung und Denken, und dass in beiden bestimmte Vorstrukturen aufdeckbar sind, die Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, und die Form des Denkens, die Begriffs-, Urteils- und Schlusslogik. Beides lässt sich für sich thematisieren, wie es Euklid im Hinblick auf die Raumanschauung, Aristoteles mit Bezug auf das Denken getan haben. Bei beiden Autoren wurde niemals ein Fehler entdeckt - kein Wunder nach Kant, weil hier das Subjekt nichts anderes tut, als die Konstitutionselemente seines eigenen Geistes oder Bewusstseins aufzuweisen. Es handelt sich hier entsprechend nicht um Erkenntnisse im engeren Wortsinn, weil sie gänzlich erfahrungsfrei sind.8 Sie sind jedoch, und das ist die entscheidende Innovation der KrV, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis und damit auch des Scheiterns der Erkenntnis, wenn der eine der Bereiche, die Anschauung, überschritten wird. Das erste wird in der sogenannten Analytik des Verstandes der KrV dargestellt, das zweite in der Dialektik der Vernunft. So ist eine zirkelfreie „Erkenntnis" der menschlichen Erkenntnis, ihres Umfangs und ihrer Grenzen möglich, wie Kant es in der Programmerklärung der 1. Auflage formuliert, fast wörtlich John Locke zitierend. Wir können nur im Medium von Anschauung und Verstand Erkenntnis von etwas gewinnen, was wir nicht sind. Der philosophische Gerichtshof, als den sich die KrV selbst bezeichnet, ist eine Institution, vor der allgemeine Ansprüche, im Prinzip auch die von Friedrich Nietzsche, verhandelt werden können. In Piatons Philosophie ist es das Postulat des „logon didonai", der Rechenschaft über die Aussagen selbst, über ihre Voraussetzungen und ihre Folgen. Die Dialoge sind inszenierte Verfahren, über bestimmte Meinungen Rechenschaft zu geben. Man könnte auch in beiden Fällen von einer Forderung der Selbstermöglichung von mitteilbaren, sachhaltigen Aussagen als solchen sprechen. Nietzsche erkennt, so wurde deutlich, diesen Gerichtshof und das Platonische Verfahren des „logon didonai" nicht an, sondern versucht, die allgemeinheitsfähige
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Prüfung außer Kraft zu setzen und sie als schwächliche Maskerade im Krieg aller gegen alle zu demaskieren - hier suchen die Schwachen bei den Schwachen Zuflucht, während die Starken alles niederreißen und sich selbst gegen die gerichtlichen Einsprüche gewaltsam durchsetzen. Dagegen zunächst wieder unsere Unterscheidung von Giganten mit Riesendrohungen, die beeindrucken mögen, aber niemanden philosophisch interessieren, und Aussagen, die eine bestimmte Form haben und sich auf einen Sachverhalt beziehen. Nur für diese Aussagen ist der durch keine Gewalt und Worthäufungen zerstörbare Gerichtshof und Dialog zuständig. Kant fragt Nietzsche nach der Lizenz seiner Behauptungen. Es könnte sein, dass der Urwille kein Gegenstand der Erkenntnis sein kann, sondern nur eine Meinung, eine pseudo-gelehrte zeitgemäße Fiktion. Oder: Welches ist die sei es subjektive, sei es objektive Bedingung der Möglichkeit, objektiv und allgemeingültig z.B. von einem Willen zur Macht zu sprechen? Wir können jetzt alle Begriffe von Nietzsche im einzelnen durchgehen und ihn nach den olympischen Spielregeln des logon didonai oder des Gerichtshofes nötigen, entweder auf den Begriff zu verzichten oder aber bestimmt anzugeben, was mit ihm gemeint ist. Ich greife einige Beispiele heraus.
Ich / Objekte „Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserem ,Ich'begriff, - unserem ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wird nie den Begriff ,Ding' gebildet." (Nietzsche 2004,123) Hier könnte Kant zustimmen, jedoch mit einer wesentlichen Korrektur: Die von Nietzsche gemeinte reale psychologische Einheit, die z.B. die Artikulation eines Satzes statt des Lallens aneinander gereihter Silben ermöglicht, ist ihrerseits in einer nicht-psychologischen Einheit fundiert; sie ermöglicht es, dass die Einheitsbildung der Redenden bei allen psychologischen Differenzen einheitlich ist und in verschiedene Sprachen übersetzt werden kann. Die Einheit des „Ich denke" als die synthetische Einheit, die dem Urteilsakt zugrunde liegt, ist nicht substanziell gemeint und kann nicht dadurch abgeschafft werden, dass behauptet wird: „Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, dass unsere Conception des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt." (Nietzsche 2004, 123) „Die falsche Versubstanzialisirung des Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht." (Nietzsche 2004, 103) Nietzsche ist entgangen, dass schon der gläubige John Locke 1690 die Substanzvorstellung des Ich kritisiert und eliminiert hat; hier
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hätte er anschließen und sich fragen müssen, ob er nach Locke und Kant noch etwas Substanzielles zur Nichtsubstanz zu sagen hat. Sein Zeitgenosse Eduard Zeller hätte gesagt: Nein. Das war jedem Teilnehmer eines guten Proseminars bekannt. „Eine Vielheit von Kräften, verbunden durch einen gemeinsamen Ernährungs-Vorgang, heißen wir ,.Leben'. Zu diesem Ernährungs-Vorgang, als Mittel seiner Ermöglichung, gehört alles so genannte Fühlen, Vorstellen, Denken, d. h. 1. ein Widerstreben gegen alle anderen Kräfte; 2. ein Zurechtmachen derselben nach Gestalt und Rhythmus; 3. ein Abschätzen in bezug auf Einverleibung oder Abscheidung." (Nietzsche 1957, III 874) So ganz neu ist diese Analyse, die jeden wohlmeinenden Bürger in Staunen versetzen soll, neu ist sie nicht; aber seis drum. Bevor wir uns dem Staunen über diese Zurückführung der sogenannten eigenständigen „cogitatio" auf die Verdauungsvorgänge in der res extensa anschließen und uns der trouvaille glücklich überlassen, die nicht geringe Frage: Woher weiß Nietzsche das alles? Welches war die Konstellation der Verdauung, die zu dem zitierten Satz und nicht zu seiner Negation gefuhrt hat? Gibt es da Aufzeichnungen? Hat Nietzsche diätetische Regeln für das Abfassen von bejahenden oder verneinenden Sätzen? Sonst wendet sich der Olymp enttäuscht von ihm ab und lässt sich in seinen komplizierteren Überlegungen durch solche Lebens-Sottisen nicht weiter stören. Wenn es kein Ich gibt, kein Subjekt, dann auch kein Objekt. Genau das meint Nietzsche, wenn er die Dinge dieser Welt der Erkenntnis entzieht und dem Willen überliefert. „Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. ,Wille zur Wahrheit' - als Ohnmacht des Willens zum Schaffen." (Nietzsche 1956, III 549) Der Wille zur Macht schafft seine Welt, er sucht sie nicht auf, um sie zu erkennen. Aber immer die lästige Frage der Gegner: Was heißt das alles genau? Will der Satz selbst wahr sein? Nein? Dann gehen wir weiter. Ja? Dann mag er zeigen, wie er von der Rhetorik zur Wahrheit gelangt.
Raum Raum, euklidischer Raum, und Zeit als Idiosynkrasien einer bestimmten Tierart. Die Raumvorstellung sei eine „biologische Nötigung" (Nietzsche 2004, 142). Kant hat im vorhinein in zwei Ebenen geantwortet. Einmal: Wenn wir und wohl auch Nietzsche von einer bestimmten Tierart sprechen, stellen wir sie neben andere Tierarten, etwa die Stichlinge, Meisen und Löwen. Alle drei
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Tierarten passen und passen nur in den uns vertrauten Raum, sie orientieren sich in ihm wie die Pflanzen und die niederfallenden Steine. Der Biologe erkennt, wie die Wespen Gegenstände optisch wahrnehmen und warum sie um sie herumfliegen. Alle Tiere sind objektiv und subjektiv, d. h. in ihrer eigenen Wahrnehmungsorganisation Raumwesen in dem einen, uns bekannten Raum, damit aber erledigt sich der Angriff von Nietzsche, denn der Raum kann keine Idiosynkrasie einer bestimmten Tierart, sondern nur die aller Tiere sein. In einer zweiten Ebene antwortet Kant explizit; die Antwort befindet sich u. a. in dem schwer zu durchdringenden Text der Kategoriendeduktion der 2. Auflage. Es geht um die synthetische Einheit des Bewusstseins oder des Verstandes; der menschliche Verstand bedarf eines ihm gegebenen Mannigfaltigen, um es in der Form von Raum und Zeit gemäß den Kategorien zu bestimmen. Unser Verstand kann „von einem anderen möglichen Verstände, entweder einem solchen, der selbst anschaute, oder, wenngleich eine sinnliche Anschauung, aber doch von anderer Art, als die im Räume und der Zeit, zum Grunde liegend besäße, sich nicht den mindesten Begriff machen [...]." (KrV Β 139) Es wird also durchaus eingeräumt, dass unsere Raum- und Zeitanschauung nicht die einzig möglichen Formen der Sinnlichkeit sind. Dass rein logisch anders dimensionierte Räume denkbar sind, schreibt der frühe 9 und wiederholt der späte Kant: „Der Gedanke wovon kann zwar möglich seyn, z.B. Ein Verhältnis der Dinge ausser uns nach (mehr als) drey Dimensionen".10 Damit hätte sich Nietzsche Punkt um Punkt auseinander setzen müssen.
Wille und Macht Was ist genau mit dem Willen gemeint, wenn er eine Wesenseigenschaft des Protoplasma sein soll usw. usw. Oder auch: Nietzsches große Willens-Macht-Menschen. Wer soll das genau sein? Piaton hatte schon Kallikles gefragt, ob er vielleicht an bedeutende Boxer denke?11 Nietzsche legt sich auf keine Sportart fest: „Welche werden sich als die Stärksten erweisen? [...] die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so furchten - Menschen, die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren." (Nietzsche 2004, 70) Das plus ultra an Macht bemisst sich nicht nach internen Maßen und Werten, sondern quantitativ und qualitativ an den anderen, die zu übertrumpfen sind. Hiermit sind wir in einem schwierigen Gelände angelangt: Wie ist die Menschenmacht qualitativ und, als Mehr-Macht, quantitativ bestimmt? Qualitativ wird man bei Nietzsche das Boxen als Bestimmung ausschließen, aber was ist es dann genau? Sind es die Griechischkenntnisse? Nein. Hier bleibt bei der
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olympischen Nachfrage vorerst alles offen. Und beim Mehr an Macht - ist dieses Mehr sicher bestimmbar, oder könnte es sein, dass das Plus durch kein objektives Messverfahren zu erfassen ist, sondern immer nur in der Meinung besteht und das vermeinte Mehr in Wirklichkeit ein Weniger sein kann? Der Wille zur Macht sei ein „unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht" (Nietzsche 2004, 32); „der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht" (Nietzsche 2004, 45). „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, - dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma, wenn es Pseudopodien ausschickt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. - Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander [...]." (Nietzsche 2004, 100-101) Wir stehen wieder vor dem Problem des Ausweises der Begriffe, auf dem die Gegenseite insistiert. Nietzsche spricht vom Zerfallen in die Zweiheit; aber dann muss er über Kriterien verfugen, gemäß denen ein Etwas eine reale Einheit ist und sich dann entzweit. Zu den Erkenntniskriterien gehören die objektindifferenten Begriffe von Einheit und Zweiheit, die z.B. ermöglichen, dass man noch von einer Einheit sprechen kann, obwohl sie in die Zweiheit übergegangen ist. Sodann die Unersättlichkeit des Mehr-Macht-Wollens. Die europäische Philosophie hat sich intensiv mit dem Problem von Einheit und der Entgrenzung im „ahoriston" befasst, man lese die einschlägigen Passagen in der Platonischen Politeia und in der Politik des Aristoteles oder auch in der Kapitalanalyse von Karl Marx. In diesen Theorien geht es ähnlich wie in der Kantischen Erkenntniskritik um die Entgrenzung der Einheit in das „ahoriston" und die Grenzziehung, durch die die Entzweiung zurückgeführt wird in eine sich selbst begreifende Einheit. Auf das Eine folgt also das Grenzenlos-Entzweite, das in einem dritten Schritt durch die Einheit limitiert wird. Nietzsche, Postmetaphysiker avant la lettre, geht auf diese Probleme lieber nicht ein; sie hätten ihn zum Zugeständnis gezwungen, sich in den spekulativen Problemen wenig auszukennen. Wir lassen, Nietzsches Fehlern folgend, diese zentralen metaphysischen Fragen beiseite und begeben uns sogleich in das Feld der neuzeitlichen praktischen Philosophie, in der das Grenzenlose und die Begrenzung eine konstitutive Rolle spielen. Es ist das Naturrecht mit dem Theorem vom status naturalis und seinem Krieg aller gegen alle auf der einen Seite und der Selbstbegrenzung durch den status civilis auf der anderen Seite. Zuvor ein weiterer Kontrast:
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Leben Das Leben als solches ist für Kant kein entscheidender Begriff in der Ethik oder Rechtslehre. In der letzteren begegnet er zum ersten Mal irgendwo im Testamentsrecht. Leben wird bestimmt als „das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln" (Kant 1900 ff, V 9). Pflanzen haben entsprechend kein Leben, wohl aber Tiere und Menschen. Mit Piaton und anderen Ethikern ist sich Kant einig, dass das Leben als solches keinen unbedingten Wert darstellt, sondern der Wert in dem Gebrauch liegt, den ein Mensch von seinem Leben macht. Der Verbrecher missbraucht sein Leben, entsprechend wäre es für ihn besser, er wäre nicht am Leben. Vom jetzigen Präsidenten der Vereinigten Staaten lässt sich wahrhaft sagen: „Non est potestas supra terram quae comparetur ei"12, und wenn es keine Vernunftwesen auf anderen Sternen gibt und keine Dämonen in den Intermundien, dann ist er das mächtigste Wesen im Universum seit ca. 14 Milliarden Jahren; und doch bewundern Piaton und Kant ihn im Gegensatz zu Nietzsche nicht und auch nicht seine Macht, sondern stellen die Kinderfrage, wie er sein Leben gebraucht; wenn der Gebrauch nicht viel taugt, sinkt sein Lebenswert unter Null, wie immer die Masse und seine Medien ihn bewundern. Bei Nietzsche dagegen ist das Leben eine Appellationsinstanz erster Klasse. „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" - für welches Leben? Nicht für das Leben der Herdentiere, aber auch nicht das Leben der Raubtiere, die sich bekanntlich nicht um die Historie kümmern. „[...] erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen" (Nietzsche 1956,1215). Hat der Islam die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen, wenn zunehmend die Steinigung wiederbelebt wird? Der Handelnde kenne „nur ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll" (Nietzsche 1956,1216) - das Recht der Steinigung? Der Vergiftung in der Todeszelle, die von anderen bevorzugt wird?
Naturzustand und Zivilgesellschaft Die Kantische Rechtsphilosophie realisiert das Freiheits- und damit auch das Gleichheitsprinzip, gemäß dem die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller anderen nach einem Gesetz zusammenstimmt. Dies ist keine nützliche Verwaltungs-Regel der Mehrzahl, auf die auch ein Volk von Teufeln verfällt, sondern ein in der Autonomie des Menschen fundiertes moralisches Soll-Prinzip. Nietzsche stellt gegen dieses Vernunftprinzip sein Zurück zur Natur. Ein Zurück nicht zur Natur der Schäfer und der kytherischen Insel, sondern der
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Entfesselung von Naturkräften, die unter einer missratenen Vergesellschaftung deformiert wurden. „Was wir am Christentum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Muth entmuthigen, [...], daß es die vornehmen Instinkte giftig und krank zu machen versteht, [...] bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zu Grunde gehen: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgiebt." (Nietzsche, 2004, 111) Ohne hemmende Moral wäre Pascal, der katholische Astheniker, ein ringsum bewunderter Condottiere geworden, ein wilder Tiger mit dem Willen zur Macht und Mehr-Macht. Was not tut, ist eine radikal neue Gesellschaft auf der Grundlage der echten Kräfte der Natur: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber, sie sagen ,so soll es sein!' sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen [...] Wille zur Wahrheit ist - Wille zur Macht." (Nietzsche 2004, 60-61) Hiermit wird die Differenz zwischen Gesetz und Befehl, zwischen Cäsarismus und bürgerlicher Gesellschaft, zwischen dem virilen „hoc volo, sic iubeo, stat pro ratione voluntas" und den Vernunftprinzipien von Freiheit und Gleichheit zurückgenommen. Hier drängt sich Zitat um Zitat auf: „Die Gerechtigkeit spricht nicht: jedem das Seine', sondern immer nur ,wie du mir, so ich dir'. Daß zwei Mächte im Verhältniß zu einander dem rücksichtslosen Willen zur Macht einen Zaum anlegen und sich einander nicht nur als gleich lassen, sondern auch als gleich wollen, das ist der Anfang alles ,guten Willens' auf Erden" (Nietzsche 2004, 70-71), der Anfang also der Schwäche und des Niedergangs. Der Anankasmus von Zucht und Unterwerfung dringt auch in die Überlegungen „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten": Rechte Erziehung werde danach streben, „den lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des Urteils zu unterdrücken und den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam unter dem Zepter des Genius zu gewöhnen." (Nietzsche 1956, III 203 - „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten", 2. Vortrag). Sokrates war anderer Meinung, desgleichen Kant und Voltaire und der Journalist Karl Marx, der jedoch qua Journalist keinen Anspruch auf wahre formale Bildung haben könnte. Wer der Mächtigere ist, so denkt Nietzsche offenbar, soll sich in einem permanenten Kampf immer neu herausstellen. Wer den Gehorsam verweigert, gewinnt oder wird erneut unterworfen oder auch liquidiert, und so soll es sein. An die Stelle des künstlichen nomos, des Gesetzes der Polis, soll das Recht und das Gesetz des Stärkeren treten. Das bedeutet: Der Gesellschaftsvertrag, mit dem das Naturrecht den grenzenlosen Kriegszustand beenden will, wird aufgekündigt, denn er ist ungerecht und widernatürlich, indem sich hier eine Menge von Menschen zusammen tut, Werte der Verträglichkeit stiftet und mit ihnen die starken Naturen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Unter diesem Gesichtspunkt müssen die Friedensstiftungen Piatons, der christlichen Kirche
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und des kategorischen Imperativs als pathologische Epidemien bezeichnet werden, die die menschliche Natur zerstören.
Der Wille zur Macht und Kants Allgemeiner Wille Kant teilt mit Nietzsche eine anti-platonische Auffassung menschlichen Handelns: Beide stellen einen Willen an den Anfang aller Handlungen, der nicht theoretisch unterwiesen ist, sondern sich selbst als Willen bestimmt. Wie Nietzsches Mehr-Macht-Wollen in dem rekonstruierbaren Systemabriss an der Spitze steht, so bildet Kants Wille in der KpV den Anfang: Eine platonische Ideenerkenntnis des Guten als Bedingung des Wollens oder auch die Bindung an einen vorgängigen erkenntnisgestützten praktischen Syllogismus lehnen beide ab. Man kann einen Schritt weiter gehen. Wenn der frühe Nietzsche von der Kunst als der eigentlichen metaphysischen Tätigkeit spricht, so kann und muss Kant von der Moral als der eigentlich metaphysischen Tätigkeit des Menschen sprechen. Nicht in der Erkenntnis liegt der metaphysische Gipfel der Menschheit, sondern im absoluten sittlichen Wollen und Handeln. In ihm gewinnt der Mensch gewissermaßen seine Statur als Ding an sich, in ihm beginnt er, erscheinungsentzogen, eine neue Kette der Kausalität. Der Unterschied ist jedoch gewaltig. Kants Wille, der durch das Freiheitsgesetz bestimmt wird, ist immer die volonte generale, ist immer der notwendige Wille aller. Im sittlichen Wollen entprivatisiert sich das Individuum und stellt sich unter das selbstgegebene Gesetz der Vernunft. Kants Ethik ist daher immer schon eine Rechtslehre, weil sie die Kompatibilität des Willens eines jeden mit dem Willen aller anderen nach einem Gesetz beinhaltet. Nietzsches Wille zur Macht ist dagegen monistisch, oder, um im Bild der Titanen und Olympier zu bleiben, es ist der Wille eines einäugigen Polyphem, den Aristoteles als Beispiel eines apolis anfuhrt,13 Nietzsches Wille zur Macht ist asozial wie der Wille eines orientalischen Despoten, eines griechischen Tyrannen oder römischen Cäsaren. Wo das „weil" und seine Gründe fehlen, springt der diktatorische Wille ein mit seiner Rhetorik und Polemik. Nietzsches Wille dokumentiert sich in der Struktur von Befehl und Gehorsam an Stelle der Unterwerfung unter das selbstgegebene Gesetz. Im Kantischen Willen ist jeder zugleich citoyen und bourgeois ebenso wie in der volonte generale von Rousseau; Nietzsches Wille dagegen kennt keine Binnendifferenzierung; er stellt sich als kompakte Einheit einer Vielheit entgegen, die der outlaw sich unterwirft, hier der absolute Befehl, dort der unbedingte Gehorsam. Kants politischer Wille ist gewaltenteilig und ermöglicht dadurch gegen Hobbes, dass kein Bürger legibus solutus ist: Alle sind mit ihrem eigenen Willen in der Legislative gesetzge-
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bend, sie müssen sich aus eigenem Willen vor der Judikative verantworten und der Exekutive unterwerfen; Nietzsche dagegen kennt nur den Absolutismus pur im Machtwillen; das ist es, was Nietzsche an Hobbes und seinem atavistischen „Leviathan" bewundert. Der Kantische Wille ist in sich pluralistisch, weil er sich als gesetzgebend begreift. Das moralische Gesetz ist als solches das immer schon das entprivatisierte Gesetz der möglichen Kommunikation einer Vielzahl von Personen. Nietzsche dagegen kann Pluralität nur als Addition von exklusiven Entitäten denken, musterhaft in der Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Da es keinen zureichenden Grund für die Einzigkeit des Protoplasma-Willens zur Macht gibt, wird die Pluralität von außen durch bloße Addition des Gleichen erreicht, wobei es nicht einmal möglich ist, von einer Mehr-Zahl zu sprechen, weil es kein Subjekt gibt, das den Zählakt leisten könnte und keine Idee der Vielzahl, an der die wiederkehrenden Machtiemuren partizipieren könnten.
III. Kants Achillesferse oder Rücken-Lücke Die Kantische Geschichtsphilosophie verknüpft Moral- und Naturphilosophie. Der Moralanteil besagt, dass wir mit guten Gründen hoffen können, dass die reale Geschichte des Menschengeschlechts unter der Ägide der Vorsehung in sich vernünftig ist und zu einem allgemeinen Rechts- und Friedenszustand fortschreitet. Das Ziel ist also moralitätskonform, die Mittel aber, die die Vorsehung bis hin zum Übergang von der Natur- zur selbstbestimmten Menschengeschichte anwendet, sind vom reinen Utilitarismus geprägt; was immer zum Endziel fuhrt, wird von ihr ohne alle Skrupel als Mittel verwendet.14 Während die Kantische Moral- und Rechtsphilosophie gerade eine Kontrolle der für irgendwelche Ziele zu verwendenden Mittel gebietet, setzt die Geschichtsphilosophie umgekehrt eine Natur und Vorsehung frei, die für das eine moralische Ziel nichts scheut Mord, Totschlag, Ausrottung ganzer Stämme und Völkerschaften, die Vorsehung kennt keine moralischen Bedenken in der Wahl ihrer Mittel. Zu ihrem Arsenal gehören Krieg und Kinderpocken: „Der Weise Gebrauch solcher Mittel kann nicht von einzelnen Menschen, sondern muß von der Vorsehung erwartet werden, welche Krieg und Kinderpocken (und zwar absichtlich) gewollt zu haben scheint, um die große Vermehrung hiedurch einzuschränken." (XV 971) Bei den Menschen selbst übernehmen vor allem drei unmoralische Triebkräfte die Steuerung: Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht. Während auf der moralischen Seite des Menschen diese Neigungen verpönt sind, wählt die Natur sie bedenkenlos als besonders effiziente Bewegkräfte der Gattungsgeschichte. „Sucht" indiziert: die subjektive blinde Triebkraft treibt zu einem grenzenlosen Mehr an Ehre,
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Herrschaft und Besitz; während die Moral ihren Wert in sich selbst trägt, ist das pathologische Fortwuchern der Sucht nur extern bestimmt: es müssen die Konkurrenten um die drei anthropologischen Grundgüter von Habe, Ehre und Macht übertrumpft werden, damit am Ende nur einer, ich selbst, geehrt werde, herrsche und alles besitze. Die Natur setzt auf diese Außensteuerung des Menschen der gegenseitigen Überwältigung, während die Moral sich am inneren Kompass des kategorischen Imperativs orientiert. Die Vorsehung hat das System der Externalität der menschlichen Triebkräfte so eingerichtet, dass es auf das Ende einer Selbstliquidierung gerichtet ist, denn auf das Ganze gesehen favorisiert, so steht zu hoffen, die Geschichte die Moral. Blickt man sich um in den einschlägigen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts (nicht der Antike, nicht des Mittelalters!), so entdeckt man eine überraschende Frequenz der drei niederen Motive im menschlichen Handeln. Hobbes spricht von ihnen bei der Analyse der menschlichen Natur im Kapitel „Of man" des Leviathan,15 Vico nennt sie in seiner Scienza nuova,16 und bei Bernard Mandeville geistern sie durch die Fable of the Bees mit dem Erfolgsmotto „private vices, public benefits"17. Offenbar liegt der Trias eine Systematik zugrunde, die man rasch entdeckt, wenn man ihre positiven Gegentugenden aufspürt. Es sind die drei Kardinaltugenden der temperantia, fortitudo und der prudentia in der Platonischen Politeia. An die Stelle der Bescheidung tritt die Habsucht, die Tapferkeit ist von der Herrschsucht pervertiert, und die Klugheit wird von der Ehrsucht als ihrer negativen Fratze begleitet. Bei Vico ist diese moralische Negativität der Triebkräfte der Gesellschaft frommerweise mit dem Sündenfall verbunden. Mandeville ist die Bibel gleichgültig geworden, aber er fasst die moralischen Tugenden als unerreichbare Ideen auf und überliefert die effiziente Menschengesellschaft so wie den Bienenstaat seiner Fabel18 nicht mehr den guten Beweggründen, sondern den üblen Begehrungen; nur durch deren freies Walten ist der Bestand der bürgerlichen Gesellschaft gesichert. Mutatis mutandis ist genau dies die Kantische Position in der Kräfteanalyse der menschlichen Gesellschaft. Es läuft alles auf etwas Gutes hinaus: „public benefit" als Ziel der Geschichte, auf dem Weg dahin benutzt jedoch die mephistophelische Vorsehung oder Natur die „private vices" ohne jede Hemmung. Der Verdacht, es handle sich hier um einen bösartigen Geist, wird vorsorglich abgewehrt: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, fur die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. [...] Die natürlichen Triebfedern dazu, die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entspringen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung
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der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwicklung der Naturanlagen antreiben, verrathen also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt hat." (Kant 1900 ff. VIII 21-22 - Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Satz 4) Eines ist jedoch absolut tabuisiert: Der Mensch darf nicht naturgemäß leben, denn im Gegensatz zum Stoiker darf der Kantianer nicht der Vorsehung in seiner Handlungskontrolle folgen, sondern er soll die gänzlich anderen Wege der Freiheit und der Moral einschlagen. Der Hoffnungslogos besagt nicht, dass das Zwangsreich der Naturgeschichte eines Tages in das freie Reich der Menschengeschichte umschlägt, sondern dass wir uns dem letzteren annähern sollen und können, ohne es je erreichen zu können. Nietzsches amoralische Natur hat im Gegensatz zur Kantischen kein moralisches Ziel, sondern setzt auf sich selbst, auf die große Natur, die sich eruptiv hervortut und verschwindet. Hierin kann er an einige Bemerkungen Goethes anknüpfen, etwa: „Hat nicht Myriaden Seelen / Timurs Herrschaft aufgezehrt?"19 Oder: „Außerordentliche Menschen wie Napoleon treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser."20 Während Goethe das Elementare großer Naturen nicht am Maßstab der Normalität messen und verdammen will, propagiert Nietzsche umgekehrt das Naturgroße als Maß unserer Schätzung und Züchtung, ein Gedanke, der von Goethe so weit entfernt ist wie von Kant. Bezieht man Nietzsches Apotheose der amoralischen Natur auf die neuzeitliche liberale Ökonomie und ihre Interpretation durch Hobbes, Vico, Smith und letztlich auch Kant, so erscheint er als Autor, der den olympischen Versuch, das titanische Wirken der niederen Motive in das gute Ziel einzubinden, für gescheitert erklärt. „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung" (Nietzsche 2004, 61). Es ist das Bekenntnis zu einem „status naturalis", der die schizophrene Gesellschaft von unten trägt und bestimmt, ohne sich auf ein gutes Ziel im Namen einer „invisible hand" zu verpflichten. Wenn man Teile der Notate von Nietzsche in dieser Weise dekodiert und sich dabei von Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts die Stichworte vorgeben lässt, dann wird er zum feindlichen Bruder von Marx. Während Marx in seiner „Ökonomie von unten" die Taten und Leiden der Arbeits-Titanen der Gesellschaft verzeichnet und die Götterdämmerung auf dem Olymp am Sinken der Profitrate ausrechnet, konzentriert sich Nietzsche auf den Macht-Kampf der Tycoons im ökonomischen „status naturalis" der Konkurrenzgesellschaft; Aneignung, Einverleibung, Ausbeutung sind die Stichworte in diesem Kampf auf Leben und Tod, den er selbst, ohnmächtig, mit Worten
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verherrlicht, nicht geschichtsphilosophisch wie Kant und Marx, sondern naturphilosophisch wie Goethe. Hätte sich Nietzsche umgetan in der zeitgenössischen Literatur, hätte er erkennen können, welchen Kräften in der Gesellschaft er das Wort redete; aber als Gräzist und feudaler Plebejer scheute er die Analyse der zeitgenössischen Ökonomie und konnte so ä son insu zum Sprecher einer ihrer Kräfte werden. Schon Cicero sagte: „Hic Rhodus, hic salta". Hier also setzt Nietzsche in Brechungen eine neuzeitliche Gedankenlinie fort, in die sich mit den gehörigen Reserven auch Kant in einer Durststrecke seines Denkens stellt.
IV. Peroratio - Was bleibt? Rückblickend entdecken wir eine kohärente Parteinahme Nietzsches fur alles Anti-Platonische und meist auch Anti-Kantische. Piaton demonstriert im Gorgias die Unhaltbarkeit der Positionen des Macht-Sophisten Kallikles, Nietzsche stellt sich auf dessen Seite; Antisthenes tritt gegen Piaton an mit der populistischen Sottise, er sehe sehr wohl Pferde, aber keine Pferdheit, und Nietzsche gibt ihm Recht; Kant denunziert die Laster der Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht aus dem Blickpunkt der Moral, Nietzsche gefällt die Umwertung der Werte, wobei er dieses Motto wieder einem Platon-Gegner, Diogenes von Sinope, entnimmt. Es ist rätselhaft, warum sich Nietzsche auf die Seite der geistig Armen und moralisch Verlassenen schlägt und in ihrem Namen das Gegenteil, den Willen zur Mehr-Macht, entwickelt. Was bleibt? Was bleibt, wenn man die Notate von Nietzsche überblickt, wenn man den Schaden, den sie rechts und links angerichtet haben, für immens hält und doch nach einem Ergebnis sucht, das zu erwägen wäre. Es ist meines Erachtens weder die Lehre vom sogenannten Übermenschen noch vom Willen zur MehrMacht, noch ist es die Kritik, die hemmungslos gegen Sokrates und Piaton und das Christentum und Kant geschleudert wird; Bewundern oder Schmähen, Aufjubeln und Hinabtreten, tertium non datur. Nietzsche sinkt weit unter das humanitäre und intellektuelle Niveau der großen Denker des 18. Jahrhunderts zurück, in dem sich Voltaire des Falles Calas annahm, statt gegen die Rechtlichkeit zu reden, und Kant die Begriffe näher zu bestimmen sucht, die Nietzsche haltlos und bedenkenlos verwirft und benutzt: Ich, Kraft, Wille usw. Die Aufklärung wird nicht vorsichtig fortgeführt, sondern bedenkenlos vertan. Aber was bleibt? Nietzsche ist mit seinen Umformulierungen einmal der Seismograph und vielleicht auch der Mitverursacher von Aufbrüchen und Konvulsionen des 19. und 20. Jahrhunderts; die reflektierte Analyse dieses Phänomens ist jedoch nur mit begrifflichen Mitteln möglich, die die Olympier, nicht Nietzsche selbst zur Verfügung stellen. Zweitens
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bleibt die teils literarisch-rhetorische, teils gedankliche Faszination und Strahlkraft, die von Nietzsche ausging und die bis in die Gegenwart reicht. Das gewollt Sensationelle seiner Schriften und ihres anhaltenden unglaublichen Erfolges ist jedoch auf dem Weg, den wir wählten, nicht zu begreifen, wir können es deswegen nur fassungslos zur Kenntnis nehmen und versuchen, das Phänomen einigermaßen hilflos in einer Metapher darzustellen. Vor dem Übergang von der „Analytik" zur „Dialektik" der Kritik der reinen Vernunft übernimmt Kant von John Locke das Bild der Erkenntnisinsel: „Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreist, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel." (KrV A 235) Es sei das Land der Wahrheit, umgeben vom stürmischen Ozean, dem Sitz des Scheins, und, so können wir ergänzen, des Schiffbruchs der theoretischen Vernunft. Während der frühe Kant voller Mut und Kühnheit über die Säulen von Gibraltar hinausstrebte,21 sieht er 1781 wie John Locke die Insel als den Sitz sicherer Erkenntnis, der dem Menschen für seine begrenzte Erkenntnis bestimmt ist. Auf dem Land lässt sich eine gesetzlich kontrollierte Besitznahme vollziehen, und die Institution der „Kritik der reinen Vernunft" als eines Gerichtshofs (KrV A 751) bedarf des festen Sitzes ebenso wie der Olymp. Nietzsche dagegen folgt Pascal und dessen „Vöus etes embarques"22: „Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns - mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich vor! [...] es gibt kein ,Land' mehr!"23 Wie immer Nietzsche es ausdrückt: Was er will, fügt sich nicht den Regeln der Philosophen, die vom Land her das „weil" und die Systematik fordern; Nietzsche will mit Dynamit die einhegenden Begründungen sprengen, er will das „Entweder-Oder" in der Festland-Gigantomachie hinter sich lassen, er will das ganz Andere der heraklitischen Seefahrt verkünden, er will sich der menschlichen Vernunft und ihren Einsichten nicht beugen, er will etwas ganz Anderes. So könnte sich der Widerspruch zwischen Nietzsches Versagen vor den Argumenten Piatons und Kants einerseits und seinem Erfolg in der postmetaphysischen Metaphysik andererseits wenigstens metaphorisch auflösen.
Postscriptum Christian Niemeyer macht in seinem Beitrag „Nietzsche und die völkische Bewegung" (Information Philosophie, April 2005, S. 7-15) auf Dokumente aufmerksam, die zeigen, dass Nietzsche sich vom Antisemitismus und von der völkischen Bewegung distanzierte - „ich würde dem jungen deutschen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein", lautet das letzte der angeführten
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Nietzsche-Zitate. Zuvor erfahrt man etwas von dem „tiefsten Gegensatz zu mir", „die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte", sie finde er in seiner Mutter und Schwester. Die europäische Vernunfttradition zielte auf eine Verlagerung der Ebene, in der die Auseinandersetzung stattfindet, nicht die persönliche Diffamierung als Semit und Antisemit und die Instinkte in der eigenen Familie, die Erniedrigung vom Kaiser zum Kutscher und seine Verhöhnung aus eigenem höchstem Adel, sondern die Vernunftgründe in Politik, Recht und Ethik. Die Absage an diese Ebene der Auseinandersetzung wurde unter dem Titel der „Zerstörung der Vernunft" gefuhrt.
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Piaton 1957 ff., IV 218 - Sophistes 246a-c. Vgl. Gerhardt 1996, 104-112. Piaton 1957 ff., I 239 - Gorgias 483e-484a. Vgl. dazu die ausgewogene Interpretation von E. R. Dodds in: Plato 1959, 387-391. Nietzsche weist meines Wissens in den publizierten Schriften nicht auf den Gorgias hin. Wenn er schreibt: „Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen: anders zu Athen!" (Nietzsche 2004,13), wird er an den Melier-Dialog in der Geschichte des Thukydides denken. Dazu auch Danto 1993, 263 ff. Bueb 1970, 82. Antisthenes 1966, 42 - Fragment 50A. Nach Diogenes Laertius 1967,1 305 - Leben und Meinungen berühmter Philosophen VI 20-21. Auch wenn Kant selbst sich nicht strikt an seine Terminologie hält, müssen Denken und Erkennen in der KrV streng voneinander unterschieden werden. Kant 1900 ff., 124-25. Kant 1900 ff, XVIII643,23-24 - Refl. 6323. Vgl. auch Kant 1900 ff, XX 267,30-33: „Denn es mag seyn, dass einige Weltwesen unter andrer Form dieselben Gegenstände anschauen dürften; es kann auch seyn, dass diese Formen in allen Weltwesen und zwar nothwendig, eben dieselbe sey, [...]." Piaton 1957 ff. I 243 - Gorgias 488b-d. S. das Titelemblem des Hobbesschen Leviathan (1651). Aristoteles 1957, 3 -Politik 1253a. Dies und das Folgende trifft auf Kants Geschichtsphilosophie von der Mitte der siebziger bis in die Mitte der neunziger Jahre zu; im 2. Abschnitt des Streits der Fakultäten fuhrt Kant ein anderes Konzept ein, s. Brandt 2003, 119-140. Hobbes 1 9 9 6 , 7 0 - Leviathan „Of Man" XI. Vico 1963,1 107. Vgl. den Titel von Mandeville 1966. Mandeville nimmt ein Motiv aus dem Hobbesschen Leviathan auf: "It is true, that certain living creatures, as Bees [...] live sociably one with another, (which therefore by Aristotle numbred amongst Politicall creatures;) and yet have no other direction, than their particular judgements and appetites; [...] Secondly, amongst these creatures, the Common good differeth not from the Private; and being by nature enclined to their private, they procure thereby the common benefit." (Hobbes 1996, 118 -Leviathan Chap. 17) Goethe 1948-1971, III 343 - Westöstlicher Divan, „An Suleika". Ich nehme hierund im Folgenden Anregungen und Zitate von Fetscher 2004 auf.
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Goethe 1948-1971, XXII 437 - Gespräch mit Riemer vom 3. 2. 1807. Vgl. Kant 1900 ff. 1475 - Monadologiaphysica-und 1165-66-Einzig möglicher Beweisgrund. Pascal 1963, 550 - Pensees. Nietzsche 1956, II 126-Diefröhliche Wissenschaft III § 124. Zur Schiffsmetapher vgl. Blumenberg 1979.
Literaturverzeichnis Antisthenes (1966): Fragmenta, hrsg. von Fernanda Decleva Caizzi, Mailand und Varese. Aristoteles (1957): Politico, hrsg. von W. D. Ross, Oxford. Blumenberg, Hans (1979): Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main. Brandt, Reinhard (2003): Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants „Streit der Fakultäten ". Mit einem Anhang zu Heideggers „Rektoratsrede", Berlin. Bueb, Bernhard (1970): Nietzsches Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart. Danto, Arthur C. (1993): Nietzsche als Philosoph, München. Diogenes Laertius (1967): Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers, von Otto Apelt, Hamburg. Fctscher, Iring (2004): „Und wenn ihr den wilden Gesellen fragt. Goethes Timur wurde für Marx zur historischen Schlüsselfigur", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. August, S. 38. Gerhardt, Volker (1996): Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsche, Berlin u. a. Goethe, Johann Wolfgang von (1948-1971): Artemis-Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich. Hobbes, Thomas (1996): Leviathan, hrsg. von Richard Tuck, Cambridge. Kant, Immanuel (1900 ff.): Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Berlin. Kant, Immanuel (1990): Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg. Mandeville, Bernard (1966): The Fable of the Bees: Or, Private Vices, Publick Benefits, hrsg. von F. B. Kaye, Oxford. Nietzsche, Friedrich (1956): Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, München. Nietzsche, Friedrich (2004): Von Wille und Macht, hrsg. von Stephan Günzel, Frankfurt am Main. Pascal, Blaise (1963): Oeuvres completes, hrsg. von Louis Lafuma, Paris. Piaton (1957 ff.): Sämtliche Werke, hrsg. von Ernesto Grassi, Reinbek. Plato (1959): Gorgias. A Revised Text with Introduction and Commentary by E. R. Dodds, Oxford. Vico, Giambattista (1963): Principii di Scienza Nuova d 'intorno alia Comune Natura delle Nazioni, hrsg. von P. Rossi, Mailand.
Ethik und Ästhetik
Constantin Rauer
Totengespräch zwischen Kant und Nietzsche zur Moralphilosophie
Um Kant und Nietzsche ins Gespräch kommen zu lassen, bediene ich mich hier der sogenannten Totengespräche. Diese literarische Gattung geht auf Lukians Nekrikoi diälogoi (um 166 n. Chr.) zurück und war insbesondere im Zeitalter der Aufklärung sehr beliebt. Die Moderne selbst war von Fontenelles Nouveaux Dialogues des Morts (1683) eingeläutet worden; gefolgt von Gottscheds Fontenelle-Übersetzung: Gespräche im Elysium (1727), einer Lukian-Übersetzung (von 1749) sowie einem eigenen Beitrag Gottscheds: Gespräche im Reich der Toten (Leipzig 1727). Auch Friedrich II. und Voltaire, Wieland, Schiller und Goethe hatten Totengespräche verfasst, so dass die Dispute der Geister schließlich auch zu einem Streitgespräch der Aufklärung wurden. Anknüpfend an diese Tradition, stellen wir uns also vor, Kant und Nietzsche befänden sich heute im Elysium und stritten dort heftig über Moralphilosophie. Ihre Werk- und Gesamtausgaben haben sie dabei zur Hand,1 wobei der Naumburger, der ewigen Neuformulierungen des immergleichen Gedankens bereits müde, sich im Selbstzitieren gefällt und dabei nur die indirekte Rede über Kant in eine direkte Rede an Kant verwandelt. Vom Königsberger dagegen - der Nietzsches Werk erst im Elysium einsehen konnte - werden wir allerdings Dinge vernehmen, die über seine Schriften hinausgehen; nur beim kategorischen Imperativ rekurriert Kant immer wieder auf den eigenen Text. Da aber der Königsberger schon ein Jahrhundert länger im Elysium verweilt, so ist es Sitte, dass dem Naumburger der erste Aufschlag im Spiel zusteht. Im Gegenzug erhält der Königsberger hiermit erstmals die Gelegenheit, sich Nietzsche gegenüber selbst zu verteidigen. Wie bei jedem philosophischen Wettstreit erfolgt das Spiel ohne Regeln und ohne Schiedsrichter, wobei es dem Publikum α posteriori überlassen bleiben soll, einen Sieger, nach welchen Kriterien auch immer, zu bestimmen. Also vernehmen wir aus dem Elysium: Ν: Es gibt „zwischen Ihnen, Herr Kant, und den Eleaten, zwischen Schopenhauer und Empedokles, zwischen Aeschylus und Richard Wagner solche Nähen und Verwandtschaften, daß man fast handgreiflich an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe gemahnt wird: beinahe scheint es, als ob manche Dinge
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zusammen gehören und die Zeit nur eine Wolke sei, welche es unseren Augen schwer macht, diese Zusammengehörigkeit zu sehen." 2 Κ: Es freut mich, Herr Nietzsche, dass Sie Schopenhauer gelesen haben und Vaihinger nahestehen. Des letzteren Philosophie des Als-Ob trifft tatsächlich einen Kerngedanken meiner in alle Ewigkeit geltenden Moralphilosophie. „Die Regel des praktischen Gebrauchs der Vernunft dieser Idee [der Ewigkeit] gemäß will also nichts weiter sagen, als: wir müssen unsre Maximen so nehmen, als ob, bei allen ins Unendliche gehenden Verändrungen von Guten zum Bessern, unser moralischer Zustand, der Gesinnung nach, (der homo noumenon,,dessen Wandel im Himmel ist') gar keinem Zeitwechsel unterworfen wäre." 3 N: „Was ist denn diese ungeheure Macht, welche dermaaßen seit 2 Jahrtausenden die Philosophen narrt und die Vernunft der Vernünftigen zu Falle bringt? Jener Instinkt, jener Glaube, wie ihn das Christenthum verlangt: das ist der Heerden-Instinkt selber, der Heerden-Glaube des Thiers .Mensch', das Heerden-Verlangen nach der vollkommenen Unterwerfung unter eine Autorität - (dasselbe, was aus dem deutschen Heerden-Instinkte heraus Sie, Herr Kant, den kategorischen Imperativ' getauft haben)." 4 Κ: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde." 5 Ausgehend von diesem einen und einzigen kategorischen Imperativ habe ich dann eine endlose Reihe weiterer Formeln entwickelt: einerseits um den kategorischen Imperativ in seinen Bestandteilen (in: Maxime, Handlung und Gesetz) zu systematisieren, andererseits um ihn auf seine verschiedenen Gegenstände (auf: Vernunft, Moral, Recht und Politik) anzuwenden. Ferner habe ich dann drei Arten, den kategorischen Imperativ vorzustellen, ausfindig gemacht: 1. die seiner Gültigkeit in Analogie zur Naturnotwendigkeit, 2. die von uns als Selbstzweck und 3. die der Selbstgesetzgebung. „Die angeführten drei Arten, das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes, deren die eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt. [...] Alle Maximen haben nämlich 1) eine Form, welche in der Allgemeinheit besteht, und da ist die Formel des sittlichen Imperativs so ausgedrückt: daß die Maximen so müssen gewählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze gelten sollten; 2) eine Maxime, nämlich einen Zweck, und da sagt die Formel: daß das vernünftige Wesen, als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse; 3) eine vollständige Bestimmung aller Maximen durch jene Formel, nämlich: daß alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche
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der Zwecke, [...] zusammenstimmen sollen. Der Fortgang geschieht hier, wie durch die Kategorien der Einheit der Form des Willens (der Allgemeinheit desselben), der Vielheit der Materie (der Objekte, d.i. der Zwecke) und der Allheit oder Totalität des Systems derselben. Man tut aber besser, wenn man in der sittlichen Beurteilung immer nach der strengen Methode verfahrt, und die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs zum Grunde legt: handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann." 6 Ν: Ihr „Moralismus - woher kommt er? Sie geben es wieder und wieder zu verstehen: von Rousseau und dem wiedererweckten stoischen Rom. [...] Was ist die ganze deutsche Moralphilosophie, von Ihnen an gerechnet, mit allen ihren französischen, englischen und italienischen Ausläufern und Nebenzüglern? ein halbtheologisches Attentat gegen Helvetius, ein Abweichen der lange und mühsam erkämpften Freiblicke oder Fingerzeige des rechten Weges, welche er zuletzt gut ausgesprochen und zusammengebracht hat. Bis auf den heutigen Tag ist Helvetius in Deutschland der best beschimpfte aller guten Moralisten und guten Menschen." 7 - „Bentham und der Utilitarismus ist abhängig von Helvetius - der ist das letzte große Ereigniß der Moral. In der deutschen Philosophie (in Ihrer und Schopenhauers) ist es immer noch ,Pflicht' oder ,Instinkt des Mitleidens' - die alten Probleme seit Sokrates (d.h. Stoicismus oder Christenthum, Aristokratie des Individuums oder Heerden-Güte)." 8 Κ: Meine Moralphilosophie verdanke ich tatsächlich der Stoa und Rousseau, doch auch Shaftesbury und Hutcheson. Warum Sie aber ausgerechnet in Helvetius und Bentham das letzte große Ereignis der Moral sehen wollen, ist mir ein Rätsel! Ein verschrobener Steuerpächter und ein missratener Jurist; soweit ich sehe, sind Sie der erste und einzige, der deren Lächerlichkeiten als Philosophie betrachtet! Benthams Maxime vom größtmöglichen Glückför die größtmögliche Zahl war doch nur eine radikal dumme Copey meines kategorischen Imperativs, eine schlechte Übersetzung desselben für Schafe, also gerade ein Zeugnis Ihrer sogenannten „Heerden-Güte". Wenn ich dagegen setze: „Handle nach einer Maxime, nach der du zugleich wollen kannst, sie solle ein allgemeines Gesetz werden " 9 - bin ich da nun Idealist oder Materialist, Utopist oder Utilitarist, Christ oder Stoiker, Kollektivist oder Individualist? N: „Sie suchten die äußerste Gebärde des moralischen Stolzes als Sie allen Eudämonismus verwarfen: das absolute Gehorchen: das Ideal eines Unterworfenen und Gedrückten, der allen Werth dorthinein setzt, wozu die Gehorchenden die beste Vorübung haben - und nur ja keine ,Lust'!" 10 Κ: Was den Eudämonismus anbelangt, so lege ich Wert darauf, die Sittenlehre von der Glückseligkeitslehre zu unterscheiden, keinesfalls aber die erste von der zweiten bestimmen zu lassen. Denn wenn das eigene (itzige oder zu
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erwartende) Glück, mithin die Vorstellung von Belohnungen (Glückserwerb) oder Bestrafungen (Unglück, auch als Selbstbestrafung), über sittliche Handlungen entscheiden würde, so hätte dies das Ende aller Moralität zur Folge. - „Wenn dieser Unterschied nicht beobachtet wird: Wenn Eudämonie (das Glückseligkeitsprinzip) statt der Eleutheronomie (des Freiheitsprinzips der inneren Gesetzgebung) zum Grundsatz aufgestellt wird, so ist die Folge davon Euthanasie (der sanfte Tod) aller Moral." 11 „Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht so fort Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht zu nehmen. Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen; teils weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichtum gehört) Mittel zu Erfüllung seiner Pflicht enthält, teils weil der Mangel derselben (z.B. Armut) Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten. Nur, seine Glückseligkeit zu befördern, kann unmittelbar niemals Pflicht, noch weniger ein Prinzip aller Pflicht sein." 12 N: „Ein unbedingtes ,SolF kann ich mir nur selten zurufen: also keine Autorität! Ihr ,moralischer Sinn' [Herr Kant] ist nichts! Das ist die Eitelkeit welche will, daß ein ,Soll' Aller Welt ,Soll' ist!" 13 - „Die ,Tugend', die ,Pflicht', das ,Gute an sich' das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit - Hirngespinste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens, Ihr Königsberger Chinesenthum ausdrückt. Das Umgekehrte wird von den tiefsten Erhaltungs- und Wachsthums-Gesetzen geboten: dass Jeder sich seine Tugend, seinen kategorischen Imperativ erfinde." 14 - „Ihre Moral verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche Sie von allen Menschen wünschen: das war eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne Weiteres wüßte, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse." 15 - „Wie? Sie bewundern den kategorischen Imperativ in sich? Diese ,Festigkeit' Ihres sogenannten moralischen Urtheils? Diese ,Unbedingtheit' des Gefühls ,so wie ich, müssen hierin Alle urtheilen'? Bewundern Sie vielmehr Ihre Selbstsucht darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit ihrer Selbstsucht!" 16 K: Wie ich sehe, haben Sie von meinem kategorischen Imperativ so ziemlich alles missverstanden, was sich nur eben missverstehen lässt. Zunächst einmal: Der kategorische Imperativ ist kein Gegenstand des inneren Sinns'; weder handelt es sich bei ihm um einen Gegenstand der inneren Anschaunug noch selbst um ein „Gefühl". Auch auf das Gewissen, auf jenen
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„moralischen Sinn" kann Moralität sich keineswegs verlassen, nicht weil die Sinne falsch urteilen, „sondern weil sie gar nicht urteilen"; 17 eben darum habe ich auch Hutchesons moral sense - wie übrigens alle pathologischen Beweggründe - als Grundlage für Moralität ausdrücklich verworfen. Der kategorische Imperativ beruht also nicht auf irgendwelchen sinnlichen Daten noch auf Erfahrungswerten überhaupt, sondern zeugt von einer intelligiblen Welt, die bewusst an Verstand und Vernunft appelliert, um den moralischen Wert meiner Handlungsmaximen zu prüfen. In einem liegen Sie allerdings richtig: Das eine Sollen, die eine Pflicht, die eine Tugend und dergleichen mehr, so etwas gibt es nicht, und von Derartigem ist auch im kategorischen Imperativ nirgends die Rede. Gerade aber weil wir Menschen in unseren Vorstellungen und in unserem Denken, in unseren Meinungen und in unserem Glauben, in unseren Wünschen und Begierden, Pflichtvorstellungen und Urteilen, schließlich in unseren Maximen und Handlungen so grundverschieden sind, benötigen wir einen kategorischen Imperativ, der sich allerdings niemals auf bestimmte Inhalte (Wünsche, Begierden, Maximen etc.), sondern stets nur auf die Form der Kommunikation (d.h. auf die Verstehbarkeit) überhaupt beziehen kann. Ich will also keineswegs, dass mein ,Soll' aller Welt ,Soll' sein soll, oder dass so wie ich alle anderen auch denken oder urteilen sollten; sondern umgekehrt ermöglicht mir die formale Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs erst die Besonderheiten in den Inhalten (der Maximen, Begierden, Wünsche, Urteile etc.). Hätten Sie sich die Formulierungen meines kategorischen Imperativs im Einzelnen einmal angeschaut, so wäre Ihnen nicht entgangen, dass hierbei niemals das Einzelne dem Allgemeinen schlicht subsumiert wird, sondern dass anders herum die Maxime, also gerade das Eigenwilligste, sich so gestalten soll, dass es sich als Gesetz denken lässt. „Denn dieses moralische Gesetz gründet sich auf der Autonomie seines Willens, als eines freien Willens, der nach seinen allgemeinen Gesetzen notwendig zu demjenigen zugleich muß einstimmen können, welchem er sich unterwerfen soll" 18. Ν (fallt Kant ins Wort): „abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie ,es giebt in uns einen kategorischen Imperativ', kann man immer noch fragen: was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? [...] mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben; manch anderer, und dies gilt vielleicht gerade auch für Sie, giebt mit seiner Moral zu verstehn: ,was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, - und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!' - kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte.'''' 19 „Sie stellten einige geistige Instinkte fest, welche vor allem Räsonnement und vor aller Sinnesthätigkeit wirken: ebenso später einen moralischen Instinkt, nämlich den, zu gehorchen." 20
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Κ (lacht): Hier haben Sie mich wieder missverstanden. Denn mein Pflichtbegriff bedeutet doch gerade nicht Gehorsam, sondern er gibt mir erst einen Maßstab, anhand dessen ich überhaupt erst befähigt werde, zu unterscheiden, ob ich einer Maxime, einer Handlung oder Autorität zustimmen kann, oder nicht. „Denn an sich ist Pflicht nichts anders, als Einschränkung des Willens auf die Bedingung einer allgemeinen, durch eine angenommene Maxime möglichen Gesetzgebung, der Gegenstand desselben, oder der Zweck, mag sein welcher er wolle [...]" 21 - folglich beruht die Pflicht nicht in einer Einschränkung der Freiheit, sondern ermöglicht sie erst. „Eben um dieser [Freiheit] willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille, auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen". 22 Zum Beispiel: wenn jemand von mir verlangen würde, ihm blind zu gehorchen, so würde mir gerade meine Pflicht gebieten, ihm zu widersprechen. N: Gegen ein Reich des Egoismus „zeigten Sie, Herr Kant, eine erste Ahnung, worum es sich handelt: Scheidung der Moral, die sich mit bloßen Zweckmäßigkeiten nach dem Gesichtspunkt der menschlichen Bedürfnisse beschäftigt und der Moral, welche die Rücksichten von Mensch zu Mensch in's Auge faßt. Die erste Gattung verachteten Sie als bloße Technik des Lebens; das war Ihre Einseitigkeit" 23 ... und dann „ - die Selbstlosigkeit verherrlichen! und zugeben, wie Sie, daß wahrscheinlich nie eine That derselben gethan worden sei! Also nur, um das entgegengesetzte Princip herabzusetzen, seinen Werth zu drücken, die Menschen kalt und verächtlich, folglich gedankenfaul gegen den Egoismus stimmen!" 24 Κ: Also Herr Nietzsche, für wie ignorant halten Sie mich? 1788, in meiner Kritik der praktischen Vernunft, dort in dem Kapitel: „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft", habe ich eine sehr elaborierte Narzissmustheorie ausgearbeitet, um festzustellen, in welcher Beziehung sich der Selbstbezug des Subjekts zu seinen Handlungsmotivationen befindet. Ich habe dort gezeigt, dass Eudämonia, das Glückseligkeitsstreben (ein natürlicher Hang des Menschen) zur Selbstsucht (dem Solipsismus) führt und die letztere sich wiederum spaltet in: die Selbstliebe (philautia, einen Hang, der aufs eigene Wohlbefinden geht) und den Eigendünkel (arrogantia, einen Wahn, der sich in eine autistische Selbstgefälligkeit verirrt). Die Selbstliebe erhebt nun zwar die subjektiven Maximen über das allgemeine Gesetz, ignoriert die Differenz des einen und anderen jedoch nicht - im Unterschied zum Eigendünkel, der die eigenen subjektivistischen Maximen zum Gesetz aller erklärt. - Da haben Sie recht, Herr Nietzsche, hier gilt es nun zu unterscheiden: die Überheblichkeit der Selbstliebe soll in eine vernünftige
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Selbstliebe verwandelt, also nicht abgebrochen, sondern sublimiert werden; der Wahn des Eigendünkels aber muss gedemütigt und niedergeschlagen werden. Hieraus entspringt mitunter so etwas wie ein moralischer Narzissmus, vor dem man sich itzt auch in Acht nehmen sollte. Also, wenn Sie mehr darüber wissen wollen, ich habe auch in meiner Anthropologie, dort im Kapitel „Vom Begehrungsvermögen", über dieses Problem geschrieben. Ν: „[...] Hume erklärte den Causalitätssinn aus der Gewohnheit; Sie, mit großer Ruhe sagten: ,es ist ein Vermögen'. Alle Welt war glücklich, besonders als Sie auch ein moralisches Vermögen entdeckten. Hier lag der Zauber Ihrer Philosophie: die jungen Theologen des Tübinger Stifts gingen in die Büsche - alle suchten nach - Vermögen. Und was fand man nicht Alles!" 25 Κ (läuft auf und ab, denkt laut nach): „[...] das sittliche Vermögen muß nach dem Gesetz geschätzt werden, welches kategorisch gebietet; also nicht nach der empirischen Kenntnis, die wir vom Menschen haben, wie sie sind, sondern nach der rationalen, wie sie der Idee der Menschheit gemäß sein sollen." 26 Ν: „Wenn man an die höhere Nützlichkeit, an ökumenische Zwecke bei dem Wort Moral denkt, so ist im Handel mehr Moralität enthalten, als im Leben nach Ihrer Aufforderung ,thue das was du willst daß dir gethan werde' oder im christlichen Wandel nach der Richtschnur des Wortes: ,liebe den Nächsten um Gottes willen'. Ihr Satz, Herr Kant, ergibt eine kleinbürgerliche Privat-Achtbarkeit der Sitte und steht im Gegensatz zu ökumenischen Zwecken: von deren Existenz er nicht einmal einen Begriff hat. Wie wenig geforderte Liebe überhaupt zu bedeuten hat, namentlich aber eine Liebe dieser indirekten Art, wie die christliche Nächstenliebe, das hat die Geschichte des Christentums bewiesen: welche im Gegensatz zu den Folgen der buddhaistischen, reisessenden Moral durchweg gewaltsam und blutig ist." 27 K: Einverstanden, was den von Ihnen genannten Satz und was die christliche Nächstenliebe anbelangt, sie taugen beide nicht zur Moralität. Alleine, was ich nicht verstehe, ist, warum Sie, wenn Sie mich denn schon zitieren, nicht auf meinen Text, sondern auf eine dahergeholte Trivialität rekurrieren. Denn bereits in meiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hatte ich geschrieben: „Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. [deutsch: was Du nicht willst, dass man Dir tu, usw.] zur Richtschnur oder Prinzip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus [dem kategorischen Imperativ] abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohltun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen), endlich nicht die schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentieren, u.s.w." 28
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Ähnliches gilt für die christliche Nächstenliebe. Sie werden sich wundern, aber ich vermute sogar, dass die christliche Nächstenliebe einen „Krebsschaden für die reine praktische Vernunft" 29 bedeuten könnte - und zwar aus folgenden Gründen. Zunächst ist unklar, ob sich hinter so viel Selbstlosigkeit nicht gerade Interessen verbergen: „Herzensaufwallungen" und „moralische Schwärmereien", die einen „Wahn", 30 mithin arrogantia bekunden. Zum zweiten, weil der christliche Vorschlag - Gott den Vater sowie seine Mitmenschen Heben zu sollen - einen triebökonomischen Unsinn darstellt: „denn ein Gebot, daß man etwas gerne tun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu tun obliege, schon von selbst [...] gerne" täten, „ein Gebot darüber ganz unnötig" wäre; - „eben diesselbe [Gebot - ,Liebe Deinen Nächsten'] gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden; denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben." 31 N: Und nun kommen Sie mir nicht schon wieder mit Ihrem „kateorischen Imperativ, mein Freund! - dies Wort kitzelt mein Ohr, und ich muss lachen, trotz Ihrer so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke Ihrer, der Sie, zur Strafe dafür, dass Sie ,das Ding an sich' - auch eine sehr lächerliche Sache! - sich erschlichen haben, vom kategorischen Imperativ' beschlichen wurden und mit ihm im Herzen sich wieder zu ,Gott', ,Seele', ,Freiheit' und Unsterblichkeit' zurückverirrten, einem Fuchs gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt: - und Ihre Kraft und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen hatte!" 32 - Sie sagen: „der Mensch ist ein moralisches Wesen: folglich ist er 1) frei 2) unsterblich 3) giebt es eine belohnende und strafende Gerechtigkeit: Gott. - Aber das moralische Wesen ist eine Einbildung, also: " 33 Κ: Keine Einbildung, sondern ein Produkt der Einbildungskraft, welches praktische Wirkung zeigt. „1) Gott als das allverpflichtende Wesen; 2) Freiheit, als Vermögen des Menschen, die Befolgung seiner Pflichten (gleich als göttliche Gebote) gegen alle Macht der Natur zu behaupten; 3) Unsterblichkeit, als ein Zustand, in welchem dem Menschen sein Wohl und Weh in Verhältnis auf seinen moralischen Wert zu teil werden soll" 34 - dies sind hier keine Grundsätze, sondern Postulate der reinen praktischen Vernunft, die wir allerdings annehmen sollten, um uns nicht mit der Eigenlogik der Moral in Widerspruch zu setzen. Ν: „Man soll bei den Philosophen darauf Acht haben: irgend ein Ekel, ein Satthaben steckt dahinter, z.B. bei Ihnen, Herr Kant, [bei] Schopenhauer Indern. Oder: ein Wille zur Herrschaft wie bei Plato." 35 „Unter Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, dass die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist. Der protestantische Pfarrer ist Grossvater der deutschen Philosophie, der Protestantismus selbst ihr peccatum originale. [...] Ihr Erfolg, Herr Kant, war bloss ein Theologen-Erfolg: Sie waren, gleich Luther, gleich Leibnitz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit - -" 36
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Κ: Also nur, weil Ihr Großvater ein schlechter Kantianer und - gleich Ihrem Vater - Pfarrer gewesen ist? Abgesehen von Melanchthon - der zum Protestantismus ging — sind Sie und ich sicherlich die beiden bedeutendsten Philosophen, die aus dem Protestantismus kamen. Ich aber habe mich nicht nur vom Pietismus distanziert, weil mir dessen Mystizism, Subjektivism und Individualism, mithin die ganze Sozialfeindlichkeit des Protestantism zuwider geworden sind, sondern ich habe mich - moralisch betrachtet - vom Christentum ganz entfernt, um mich im Weiteren an die Gesetzesreligion, also an Objektiva zu halten. Sie hingegen haben die Asozialität des Protestantismus auf die Spitze getrieben und sind im Grunde zeit Ihres Lebens wenn zwar nicht Christ, so doch Theologe und Religionsstifter geblieben. Ihre Neuauflage „der altpersischen Religion (des Zoroaster)" 37: nichts als Neid eines Lutheraners auf die calvinistische Prädestinationslehre. Als Auserwählter waren Sie sich eben nicht Übermensch genug, darum mussten Sie auch alle anderen in die Kaste der letzten Menschen herabsetzen. „So sind die Gleichmacher der politischen Verfassung nicht bloß diejenigen, welche, nach Rousseau, wollen, daß die Staatsbürger insgesamt einander gleich seien, weil ein jeder alles ist; sondern auch diejenigen, welche wollen, daß alle einander gleichen, weil sie außer Einem insgesamt nichts seien [...] und sind Monarchisten aus Neid", 38 die heute dies und morgen jenes erzählen, um die „verhaßte Vergleichung mit anderen" umgehen zu können. 39 Also steht Zarathustra zu Ihnen wie der Ehrenwahn zum Ressentiment. N: Ihre Moral, Herr Kant, geht „ohne es zu merken, schon von einem moralischen Kanon aus: der Gleichheit der Menschen, und daß was für den Einen Moral ist, es auch für den anderen sein müsse. Das ist aber schon die Consequenz einer Moral, vielleicht einer sehr fragwürdigen." 40 Κ: Wenn ich Sie nun bitten würde, Herr Nietzsche, Ihren eigenen kategorischen Imperativ zu entwerfen, wie würde der dann lauten? N: „,Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst' - dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder ,kategorisch' ist, wie Sie es von ihm verlangten, (daher das ,sonst' -), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier .Mensch' an den Menschen." 41 Κ: Das ist keine Moral, das ist eine miserable Naturbeschreibung! - klingt nach den Aporien des Helvetius, - De ΓEsprit, siebzehnhundertund ... Ν (empört - wendet sich von Kant ab und anderen Geistern zu): Man sagt, „dass Schiller aus Kant wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei" 42 diese „Geschwätzigkeit aus einem zu grossen Vorrathe von Begriffsformeln" 43 ... dieses „verwachsensten Begriffs-Krüppel[s], den es je gegeben hat,
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des grossen Kants, 44 ... mit seiner „plumpen Pedanterie und Kleinstädterei"; 45 dieser „fehlgreifende Instinkt in Allem und Jedem [- -] die Widernatur als Instinkt, die deutsche decadence als Philosophie - das ist Kant\ - " 46 „Für einen vollen und rechtwinkligen Menschen ist eine so bedingte und verklausulirte Welt, wie die Kants, ein Greuel. Wir haben ein Bedürfniß nach einer groben Wahrheit; und wenn es diese nicht giebt, nun, so lieben wir das Abenteuer und gehen aufs Meer." 47
Anmerkungen 1
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Kant wird zitiert nach: Immanuel Kant Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1982; Nietzsche wird zitiert nach: Friedrich Nietzsche Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980. Bei beiden wird nur die Zahl des Bandes und die Seitenzahl angegeben. Bei Nietzsches Fragmenten aus dem Nachlass wird zusätzlich die Nummer des Fragments genannt. Nietzsche, RW 1/ 446 - Herv. C.R. Kant, EaD 11/ 183 - Herv. C.R. Nietzsche, NF 11/ 446f. - 34[85] Kant, G M S 7 / 5 1 Kant, GMS 7/ 69 f. Nietzsche, ΜΑ II 2/651 f. Nietzsche, NF 11/ 432 - 34[39] Kant, Trak. 6/414 Nietzsche, NF 10/ 254 - 7[36] Kant, MdS 8/506 Kant, KpV 7/217 f. Nietzsche, NF 10/ 361 - 9[46] Nietzsche, AC 6/177 Nietzsche, ΜΑ I 2/46 Nietzsche, FW 3/562 Kant, KrV III 308 Kant, KpV 7/264 Nietzsche, JGB 5/ 107 Nietzsche, NF 11/ 249 - 26[375] Kant, Gs. 11/ 132 f. Kant, KpV 7/210 Nietzsche, NF 8/ 142 - 9[1] Nietzsche, NF 9/ 557 f - 11[303] Nietzsche, NF 11/ 445 - 34[82] Kant, MdS 8/536 Nietzsche, NF 8/ 460 - 23[ 154] Kant, GMS 7/62 Fn. Kant, Anthr. 12/ 600 vgl. Kant, KpV 7/207 f. beide Zitate: Kant, KpV 7/ 205 Nietzsche, FW 3/562
Totengespräch zwischen Kant und Nietzsche zur Moralphilosophie 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
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Nietzsche, NF 9/ 321 - 7[21] Kant, Trak. 6/411 Nietzsche, NF 11/ 287 - 27[47] Nietzsche, AC 6/176 Kant, EaD 11/177 Kant, VT 6/383 Kant, VT 6/383 Nietzsche, NF 11/ 128 - 25[437] Nietzsche, JGB 5/110 Nietzsche, DS 1/181 Nietzsche, Μ 3/451 Nietzsche, GD 6/110 Nietzsche, NF 11/ 175 - 26[96] Nietzsche, AC 6/178 Nietzsche, NF 11/ 100 - 25[337]
Siglen- und Abkürzungsverzeichnis 1. Immanuel Kant Anthr. EaD GMS Gs. KpV KrV MdS Trak. VT
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Das Ende aller Dinge. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der reinen Vernunft. Metaphysik der Sitten. Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktates zum ewigen Frieden in der Philosophie. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie.
2. Friedrich Nietzsche AC
Der Antichrist. Fluch auf das Christentum.
DS
Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. Die fröhliche Wissenschaft. Götzen-Dämmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert. Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. Menschliches. Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Fragmente aus dem Nachlaß. Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück. Richard Wagner in Bayreuth.
FW GD JGB Μ MA NF RW
Sandro Barbera
„Die thatsächliche Moralität des Menschen" Nietzsches Auseinandersetzung mit Kant von der Morgenröthe bis zu Jenseits von Gut und Böse
Der Ausdruck „thatsächliche Moralität" taucht zum ersten Mal im Frühling 1883 in einer Gruppe von Fragmenten auf, in denen Nietzsche auch von „thatsächlichem Leben" als Ringen von Instinkten1 spricht. Das Adjektiv „tatsächlich" bedeutet in diesem Fall: auf Tatsachen, Zuständen und physiologischen Prozessen des Leibes beruhend, und der Ausdruck tritt erneut in dem langen und komplizierten Fragment 25(437) vom Frühjahr 1884 in einem Zusammenhang auf, in dessen Zentrum die Gleichsetzung von Wollen und Befehlen steht sowie ihre Zurückfuhrung auf einen Affekt, der von Nietzsche als „plötzliche Kraftexplosion" angesehen wird2. Das Fragment 25(437) beginnt mit der Feststellung einer merkwürdigen Affinität zwischen Kants kategorischem Imperativ und dem Mitleid Schopenhauers: Trotz ihrer scheinbaren Unversöhnbarkeit gehorchen beide dem moralischen Kanon der Gleichheit der Menschen und hängen von der Tatsache ab, dass „was für den Einen Moral ist, es auch für den Anderen sein müsse". Im Fragment heißt es dann weiter: „Die thatsächliche Moralität des Menschen in dem Leben seines Leibes ist hundert Mal größer und feiner als alles begriffliche Moralisiren es war. Die vielen ,Du sollst', die fortwährend in uns arbeiten! Die Rücksichten von Befehlenden und Gehorchenden unter einander! Das Wissen um höhere und niedere Funktionen! [...] Wie der Zweck sich zum eigentlichen Vorgang verhält, so das moralische Urtheil zu dem wirklichen vielfältigeren und feineren Urtheilen des Organismus - nur ein Ausläufer und Schlußakt davon." 3 Das Hauptthema des Fragments ist also die „Klugheit" des Leibes, ein Thema, das in seinem Denken bis hin zu Ecce homo eine bedeutende Entwicklung erfahrt4. Ich möchte kurz zwei komplementäre Aspekte dieses Fragments betonen: erstens die Reduzierung des kategorischen Imperativs auf eine physiologische Funktion innerhalb der Dialektik des Befehlens und Gehorchens, die nach Nietzsche in der Perspektive der Rangordnung die Ökonomie des Organismus aufrecht erhält; zweitens die Polemik gegen die Universalität des moralischen Gesetzes und gegen das Prinzip der Gleichheit, der eben die Hierarchie der
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Leibesfunktionen entgegengesetzt wird. Der Imperativ scheint auf diese Weise zwei einander widersprechende Instanzen zusammenzuhalten. Obwohl die Diskussion mit Kant bei Nietzsche fragmentarisch geblieben ist und zweitrangig erscheinen kann im Vergleich zu dem Raum, der von der Morgenröthe an dem Schopenhauerschen Begriff des Mitleidens sowie den Theorien der moralischen und altruistischen Instinkte oder Gefühle (Mill, Spencer, Ree usw.) gewidmet ist, hat sie eine große Bedeutung für das Verhältnis, das Nietzsche in jenen Jahren zwischen der imperativen Form der Ethik und der Dialektik des Befehlens und des Gehorchens sieht, die in der Definition des Willens zur Macht als „Affect des Commandos" kulminiert. Diese Diskussion findet in einem begrifflichen Zusammenhang statt, in dem nicht nur das Primat, sondern sogar die Ausschließlichkeit des Leibes behauptet wird. Die Zurückführung der Moral auf die Physiologie, wie sie wahrscheinlich am strengsten im Fragment 37(4) Moral und Physiologie vom Juni bis Juli 1885 formuliert wird, hat vor allem durch die Dialektik von Gehorchen und Befehlen mit ihrer imperativen Form, dem „Du sollst", zu tun, und letztere wird als der Grundcharakter der Ethik verstanden. Wir können eine durchgehende Linie in Nietzsches Denken entdecken, die ihren Endpunkt im Jahr 1885/86 findet, wenn das „Du sollst" als privilegierte Formel der „Circe der Moral" angesehen wird, die die Philosophen verzaubert. 5 Ihren Ausgangspunkt können wir im Jahr 1882 ansetzen, wenn Nietzsche wiederholt den nicht allgemeingültigen Charakter der verschiedenen Moralprinzipien betont und dennoch die imperative Form als den kleinsten gemeinsamen Nenner von allen betrachtet, so dass Mitleid und Menschenliebe, bei denen es keine Spur von Gehorsam und Pflicht gibt, als „Gegensätze der Moral" 6 angesehen werden. Die Notate vom November 1882 bis zum Februar 1883 zeigen, wie eng diese Anschauung der imperativen Form mit einer Interpretation der moralischen Phänomene „am Leitfaden des Leibes", wie sich Nietzsche im Jahr 1885 ausdrükken wird 7 , verbunden ist. Nachdem Nietzsche seine Überlegungen auf diesem Gebiet in der Morgenröthe bis zu dem Punkt getrieben hatte, die moralischen Wertschätzungen einer Sprache gleichzusetzen, die man verwendet, um den unserem Bewusstsein unzugänglichen Text der physiologischen Prozesse auszudrücken 8 , wird im Winter 1882/83, in dem vielschichtigen Fragment 4(217), das „Du sollst" als allgemeine Befehlsform in eine komplexere Definition eingefügt, welche die aktive Funktion der Sprache betont. Die Moral ist nicht nur die auf einen unbekannten Bereich unserer Existenz, d. h. auf die Prozesse und die physiologischen Zustände bezogene Gleichnissprache (an anderen Orten betrachtet sie Nietzsche als eine Kombination von Bilder- und Zeichensprache) 9 , sondern sie ist auch deren „Correctur" und zielt darauf, die chemische Beschaffenheit des Körpers umzugestalten, um seinen Kräften, die sonst abgesondert handeln würden, Form und Kohärenz zu geben. Die Moral ist also in ihrer synthetischen
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und organisierenden Funktion ein „Umweg", um die physiologischen Prozesse zu regulieren, und Nietzsche fragt sich, ob es nicht „einen direkteren Weg" geben könnte, um die leiblichen Energien zu lenken und zu gestalten. Schon Morgenröthe und die gleichzeitigen Fragmente zeigen, wie die physiologische Ausdeutung des Imperativs (jedes Organ hat sein „Du sollst") von einer Kritik des unbedingten Charakters begleitet ist, den Kant ihm zuschreibt. In jener Periode leitet Nietzsche von dem für die Morgenröthe typischen Thema der Furcht die Überzeugung ab, dass man auf den unbedingten Charakter des Sollens rekurriert, um es vor der Kritik zu schützen und ein Gefühl von blindem und militärischem Gehorsam geltend zu machen: „Man will den kategorischen Imperativ: das heißt, es soll ein absoluter Herr durch den Willen Vieler geschaffen werden, welche sich vor sich und vor einander furchten: er soll eine moralische Diktatur ausüben. Hätte man jene Furcht nicht, so hätte man keinen solchen Herrn nöthig." 10
Oder er gibt eine psychologische Erläuterung des unbedingten Gebotes: Es sei die sublimierte Form der Unterwerfung unter eine persönliche und bestimmte Macht, die uns, als solche anerkannt, demütigen würde. Es handelt sich um eine Analyse, die bis zur Fröhlichen Wissenschaft unverändert bleiben wird: Der Aphorismus 5 spricht in der Tat vom Sollen oder von den unbedingten Pflichten als „pathetischen Prinzipien", dank derer der Zustand der Unterwerfung verborgen wird. „Alle feinere Servilität" - schließt der Aphorismus - „hält am kategorischen Imperativ fest und ist der Todfeind Derer, welche der Pflicht den unbedingten Charakter nehmen wollen." In einer späteren Variante vom ersten Halbjahr 1885 wird der Instinkt von Gehorsam und Unterwerfung schließlich als Herden-Instinkt dargestellt: „Was ist denn diese ungeheuere Macht, welche dermaaßen seit 2 Jahrtausenden die Philosophen narrt und die Vernunft der Vernünftigen zu Falle bringt? Jener Instinkt, jener Glaube, wie ihn das Christentum verlangt: das ist der Heerden-Instinkt selber, der Heerden-Glaube des Thiers „Mensch", das Heerden-Verlangen nach der vollkommenen Unterwerfung unter eine Autorität - (dasselbe, was aus dem deutschen HeerdenInstinkte heraus Kant den .kategorischen Imperativ' getauft hat.)" 11
Die für Nietzsche nächste Quelle für eine solche Interpretation des Sollens ist Die Grundlage der Moral von Schopenhauer, ein Werk, das Nietzsche in dieser Periode mehrmals andeutungsweise oder explizit erwähnt, weil es nicht nur die vollständigste und ausführlichste Erklärung des Mitleids als Urphänomen der Ethik (eine Erklärung, auf die Schopenhauer selbst in den späteren Auflagen seines Hauptwerks hinweist) enthält, sondern auch eine scharfe Polemik gegen Kants Moralphilosophie. Die Schrift Schopenhauers stellt sich als eine echte Genealogie der Moral (in ihrer kantischen Form) dar, deren „Stammbaum" er rekonstruieren will, um dessen theologische Wurzeln in den zehn Geboten von
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Moses zu entdecken. Die Abhängigkeit Nietzsches von Schopenhauer wird im Mittelteil des Aphorismus 335 der Fröhlichen Wissenschaft besonders deutlich. Dort diskutiert Nietzsche das Wesen des kategorischen Imperativs und stellt fest, dass sein vermeintlich unbedingter und allgemeingültiger Charakter, d.h. die Tatsache, dass „so wie ich, hierin Alle urteilen [müssen]", vielmehr die Manifestation eines Egoismus ist, der versucht, die persönliche Handlung durch den Charakter der Allgemeingültigkeit zu prägen. Es handelt sich aber um einen durch „Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit" gekennzeichneten Egoismus: Er verbirgt unter der Form einer leeren Allgemeingültigkeit die einmalige Fülle der Handlung, da „jede Handlung, die gethan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiederbringliche Art getan wurde"12. Ein Egoismus also, der nicht den Mut hat, seine Einmaligkeit offen zu behaupten. Nun basiert aber hier das Thema der Unerkennbarkeit der Prozesse, die die Handlung hervorrufen und von der die moralischen Aussagen nur die Oberfläche erfassen, auf einem Schopenhauerschen Argument. Es handelt sich um die Stellen der Grundlage der Moral, in denen Schopenhauer von der Analyse des Kriteriums der Reziprozität, wie es Kant verwendet, um zu beweisen, dass die Allgemeingültigkeit der Norm selbst fur ihren Wert garantiert13 (ich kann die Lüge nicht in den Rang einer Norm erheben, da dies widersprüchlich wäre), die These folgen lässt, dass in der kontraktualistischen Instanz innerhalb der Kantschen Morallehre eine egoistische Bedingtheit auftritt, die die Universalität des Imperativs trübt. Der Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft entwickelt außerdem die Schopenhauersche These eines Widerspruchs bei Kant zwischen dem religiösen Ursprung der Moral und der Neutralisierung der Ansprüche der spekulativen Theologie in der Kritik der reinen Vernunft: „Ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, daß er das ,Ding an sich' - auch eine sehr lächerliche Sache! - sich erschlichen hatte, vom kategorischen Imperativ' beschlichen wurde und mit ihm im Herzen sich wieder zu ,Gott', ,Seele', ,Freiheit' und Unsterblichkeit' zurückverirrte, einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt: - und seine Kraft und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen hatte." 14
Nach Schopenhauer beweist schon Kants Wortwahl - Imperativ, Gesetz, Gebot usw. - , wie der Imperativ die wirkliche Heteronomie seiner Herkunft, die in den Gesetzestafeln des Moses zu suchen ist, in die Gewänder der Autonomie kleidet. „Die Fassung der Ethik in einer imperativen Form" - liest man im § 4 der Grundlage der Moral - „als Pflichtenlehre, und das Denken des moralischen Werthes oder Unwerthes menschlicher Handlungen als Erfüllung oder Verletzung von Pflichten, stammt, mit sammt dem Sollen, unleugbar nur aus der theologischen Moral und demnächst aus dem Dekalog. Demgemäß beruht sie wesentlich auf der Voraussetzung der Abhängigkeit des Menschen von einem
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andern, ihm gebietenden und Belohnung oder Strafe ankündigenden Willen, und ist davon nicht zu trennen." Auf diese Weise fuhrt Schopenhauer den kategorischen Imperativ auf das zurück, was er „Theismus" nennt, d.h. auf das knechtische Verhältnis, das die Kreatur an einen Gott bindet, der sie aus dem Nichts herausgerufen hat und der deshalb despotisch über sie verfugen kann. Der theologische und „mosaische" Ursprung des moralischen Imperativs - bis zu dem Punkt, dass Schopenhauer in ihm den Eckstein einer „Sklavenmoral" sieht - charakterisiert eine vorschreibende, auf einem egoistischen Prinzip basierende Moral. So wie die moralische Vernunft keine „absolute", d.h. von der Besonderheit der Erscheinungen befreite ist, ebenso ist die Moral nicht von der Besonderheit und Positivität des Gesetzes befreit; ganz im Gegenteil stellt sie ihre Hypostase dar. Schopenhauers Kritik an dem Formalismus und dem „positiven" Charakter der moralischen Gesetzgebung fugt sich in einen weiten Gedankenkreis ein, zu dem auch manche Themen der verhassten idealistischen Philosophie nach Kant gehören, wie z.B. die von Hegel während seiner Jenenser Periode entwickelte Theorie, nach der die moralische Pflicht die knechtische Beziehung nicht aufhebt, sondern noch schärfer reproduziert. Es wäre hier abenteuerlich, die inneren Verzweigungen und Aufgliederungen dieses Themenkreises vereinfacht zu beschreiben. Wenigstens seit Schiller und Goethe (und Schopenhauers Vorliebe für die schöne Seele der Lehrjahre, für die nichts „in Gestalt eines Gesetzes" erscheint, ist wohl bekannt) umfasst er die Antithese zwischen dem vereinigenden Prinzip der Liebe und der despotischen Äußerlichkeit des Gesetzes, die wahrscheinlich ihren Ursprung in dem Spinoza theissimus und christianissimus von Arnold hat, welcher Gegenstand langer Diskussionen und verschiedener Echos im Weimarer Kreis um Goethe und Herder war. Gewiss ist aber, dass für Schopenhauer die Allgemeingültigkeit der Moral, auf die er nicht verzichten will, auf einem anderen Weg gesucht werden soll. Er wird wie bekannt einer Lösung von Goethescher Prägung folgen, d.h. einem empirisch feststellbaren Phänomen, dem Mitleid, den Wert einer symbolischen Universalität, eines Urphänomens zusprechen. Man muss aber den Aphorismus 335 der Fröhlichen Wissenschaft in einen weiteren Kontext einfügen. Wie auch die Häufigkeit der impliziten und expliziten Hinweise zeigt, ist die Auseinandersetzung Nietzsches mit Schopenhauer zu dieser Zeit keineswegs vermindert und bezieht sich nicht nur auf die Lehre vom Mitleid. Ich bin hingegen davon überzeugt, dass gerade für den Begriff des Willens zur Macht die Diskussion mit dem Teil der Welt als Wille und Vorstellung entscheidend ist, der den Widerstreit des Willens analysiert, d.h. das Sich-Auflösen der metaphysischen Einheit des Willens in ein dynamisches Feld von widerstreitenden Kräften, die um die Hegemonie ringen, indem sie sich selbst durchsetzen oder den überwältigenden Kräften widerstehen15. Trifft
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dies zu, so wird es uns nicht verwundern festzustellen, dass sogar Nietzsches Bewertung von Kant im Allgemeinen zum großen Teil von Schemata bedingt ist, die er von Schopenhauer übernimmt. Im Jahr 1886 rechtfertigte Nietzsche Kants Desinteresse an einer Erforschung der Genesis, des „Woraus" der Moral, mit dessen Fremdheit gegenüber der „historischen Bewegung", die sich in der deutschen philosophischen Kultur von Herder bis Hegel entwickelt hatte und die Nietzsche als Vorstufe seines genealogischen Unternehmens sieht. Wenig später revidiert er dieses Urteil teilweise. Einerseits bleibt Kant ein Metaphysiker, vor allem dort, wo er durch eine Rückkehr zur rationalen Psychologie wieder eine Theorie der Vermögen und sogar des moralischen Vermögens vorschlägt, was, als „Ersparniß von wissenschaftlicher Arbeit", einer „großen Reaktion" gleichkomme. Andererseits bilde der Kritizismus als Feststellung der Grenzen des Intellekts und Auflösung der Metaphysik in Wirklichkeit den „feinsten Ausweg" zum Glauben16. Im Herbst 1887 vergleicht Nietzsche die kritische Philosophie mit der moralischen Skepsis von Pascal, die dazu dient, „das Bedürfniß nach Glauben zu excitiren".17 Es handelt sich allerdings um ein altes Urteil, wenn bereits die Morgenröthe (Aphorismus 197) das Paradox eines gegenaufklärerischen Kants vorstellt, der dem Intellekt Grenzen setzt, um den Weg zum Glauben wieder zu öffnen. Gewiss stellen uns alle diese Texte vor das Problem, inwieweit Nietzsches Urteil über Kant auch ein Urteil über den Neukantianismus ist, und vor allem über Friedrich Albert Lange, der seine jugendlichen Überlegungen stark beeinflusst hatte. In einem späteren autobiographischen Fragment vom Frühling bis Sommer 1883 spricht Nietzsche vom Kritizismus als einer „Selbstvernichtung des Intellekts" und fugt hinzu, dass gerade dies ihn während der Zeit der ästhetischen Metaphysik an Kant und Schopenhauer begeistert hatte.18 „Selbstvernichtung" ist ein Analogon des „Selbstmordes des Intellekts", von dem Schopenhauer in Bezug auf Kant spricht, und Nietzsche erwähnt hier seine unmittelbar nach der Geburt der Tragödie entstandenen Spekulationen über die Figur des tragischen Philosophen. Im Gegensatz zum Philosophen der desperaten Erkenntnis, der sich in der ziellosen Wissenschaft verbraucht, überwindet der tragische Philosoph die Skepsis, denn bei ihm wendet sich der Erkenntnistrieb gegen sich selbst, um den Weg zu einer höheren, von der künstlerischen Illusion beherrschten Lebensform zu öffnen. Die Auflösung der Metaphysik durch den Kantschen Kritizismus ist die Vorbedingung, um die moralische Gewissheit gegen den Skeptizismus zu verteidigen: „Eine Kulturnoth treibt Kant: er will ein Gebiet vor dem Wissen retten: dorthin legt er die Wurzeln alles Höchsten und Tiefsten, Kunst und Ethik - Schopenhauer."19 Diese Funktion des Kritizismus war von Schopenhauer in seinen jugendlichen Aufzeichnungen beschrieben worden, die Nietzsche durch die erste (1864), sehr mangelhafte Edition von Schopenhauers Anhänger Frauenstädt
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direkt zugänglich waren20 und die er auch in der Unzeitgemäßen Betrachtung Schopenhauer als Erzieher verwendet. In ihnen hatte Schopenhauer diese Funktion des Kritizismus genau benannt: Er ist der Zugang zum Reich des besseren Bewusstseins - wie sich Schopenhauer ausdrückt - , insofern er das Subjekt aus dem Gefängnis des empirischen Bewusstseins und der Schranken der phänomenalen Welt befreit. Schopenhauer sprach vom „wahren Kritizismus" als dem „täuschungsfreien Weg", der uns lehrt, „daß der Verstand die bedingte, das bessere Bewußtsein aber (und nicht jener) die absolute Erkenntnißweise ist"21, Nietzsche seinerseits von einem Erkenntnistrieb, der, an seine Grenzen gelangt, sich gegen sich selbst wendet, „um nun zur Kritik des Wissens zu schreiten. Die Erkenntniß im Dienste des besten Lebens."22 Auch als Folge der Auseinandersetzung mit der Grundlage der Moral und im Blick auf die unter der moralischen Gesetzgebung und der Gleichheit der moralischen Personen verborgenen Herr-Knecht-Beziehung definiert Nietzsche die Moral als Herdentrieb wie im Aphorismus 116 der Fröhlichen Wissenschaft. „Mit der Moral wird der Einzelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben. [...] Moralität ist Heerden-Instinct im Einzelnen." Die Gleichheit der vernünftigen Wesen, die Kant als Bedingung der Universalität des moralischen Gebotes postuliert und die Schopenhauer als eine phantastische Schwärmerei verhöhnt, da die Menschen als körperlose engelgleiche Wesen ohne naturale Triebe dargestellt werden, wird von Nietzsche lediglich in den Termini einer Nivellierung verstanden, die von einer knechtischen Beziehung gegenüber einer tyrannischen Macht abhängt. Ihr Vorbild ist immer die christliche Lehre der Gleichheit als Konsequenz der Nichtswürdigkeit der Geschöpfe im Vergleich zur göttlichen Allmacht. Nietzsche bezeichnet die Gleichheit der Mitglieder der moralischen Gemeinschaft als Wirkung eines „moralischen Klassizismus"23. Der Ausdruck hat mit dem esprit classique zu tun, den Hippolyte Taine in seinem Band über das Ancien Regime als die geistige Hauptursache der Französischen Revolution sieht.24 Esprit classique ist die Formel der despotisch-rationalistischen Haltung, die mit dem Absolutismus Ludwigs des Vierzehnten entsteht und die alle gleicherweise zu Untertanen des Königs macht: In der Zeit der Aufklärung und der Revolution erscheint der Klassizismus als Ideologie des mit gleichen Pflichten und Rechten ausgestatteten citoyen. Diese Anschauung der Gleichheit drückt sich dann in den beiden oft wiederholten Metaphern vom Sand der Menschheit und vom Individuum als „Chinesen" aus - bloße Funktion oder lediglich Zahnrad eines ungeheueren Verwaltungsapparats und Synonym des „letzten Menschen".25 Kant selbst wird wegen seines Begriffs des kategorischen Imperativs das Epitheton „der Chinese von Königsberg"26 zuteil.
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Das Thema der Gleichheit hat jedoch einen noch wichtigeren Grund, denn es beruht auf der Reduktion der Komplexität der wirklichen Prozesse, der „thatsächlichen Moralität", auf Fiktionen, Abbreviaturen, phantastischen Einheiten, welche durch das Eingehen in Sprachstrukturen ihre Natur wesentlich vereinfachen und entstellen, um Gleichsetzungen zu erlauben. In diesem Teil seines Werks, bei dem ich mich natürlich hier auch in allgemeinster Weise nicht aufhalten kann, wird die Genealogie zu einer Theorie der moralischen Illusionen, die im Vergleich zur Wirklichkeit der Prozesse wie Masken funktionieren und dennoch in entscheidender Weise die Ökonomie der menschlichen Energien bedingen. Die Polyphonie der physiologischen Prozesse und ihrer Entwicklung zu Wertschätzungen, Instinkten und Affekten sowie zu moralischen Urteilen ist unserem Blick entzogen, sowohl ihrer unbewussten Natur wegen als auch wegen der Verfestigung der Beweglichkeit jener Prozesse in starre Beziehungen zwischen Elementen, die auf lexikalischen und grammatikalischen Strukturen basieren. Seit der Morgenröthe und angetrieben vor allem durch eine Auseinandersetzung mit dem Handbuch der Moral des Lotze-Schülers Baumann, 27 der seinerseits den kategorischen Imperativ als wiederholten Zwang ausdeutete, der uns als Pflicht erscheine, verneint Nietzsche die Annahme einer aus einem Subjekt des Wollens entstandenen Handlung, die sich auf die Realisierung von Zwecken richtet - nicht nur weil die Zwecke gelegentliche Ursachen darstellten, um den Überschuss von organischen Energien zu entladen, sondern auch weil sie seiner Ansicht nach Bestandteile einer phantastischen Interpretation sind. Diese wird von der grammatikalischen Struktur: Subjekt-Verb-Prädikat beherrscht und beruht auf der Bilder- und Zeichensprache (d.h. auf den bewussten Vorstellungen und auf den Worten), die aus jenen unbekannten Prozessen hervorgeht. Vor allem seit der Fröhlichen Wissenschaft spricht Nietzsche in diesem Sinne von jener Oberfläche aus Bildern und Zeichen als von einer Reihe von Masken. Aus Masken besteht die gesamte „Verhüllung unter moralische Formeln [...], das ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die Begriffe Pflicht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung"; 28 Masken sind aber auch die allgemeinen Begriffe, durch die die Beschreibung der Handlungen die wirklichen Prozesse versteckt. Das Thema ist zusammenfassend von Nietzsche in einem Fragment vom Winter 1883/84 behandelt worden: „Wenn der Offizier befiehlt ,präsentirt's Gewehr', thun es die Soldaten. Er befiehlt, sie wollen es nun. In Wirklichkeit ist das, was sie nun thun, bei Jedem etwas Verschiedenes: aber für grobe Organe sieht es gleich aus. Wer nach Zwecken handelt, findet sie oft erfüllt: d.h. er sieht grob und kennt das wirkliche Geschehen gar nicht. Daß die Welt des Geschehens unserem unvollkommenen Bilde vom Geschehen entspricht, mit ihm sich deckt, ist der Glaube der Zwecklehrer. Je weniger Wissen, um so leichter erhält sich der Glaube." 29
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Die in diesem Fragment thematisierte Antithese zwischen einer auf Fiktionen beruhenden Gleichheit und einer wirklichen Ungleichheit der Individuen stellt einen guten Ausgangspunkt dar, um das Problem der Gleichheit bei Nietzsche zu analysieren. Es handelt sich nicht in erster Linie um ein „politisches" Problem, obwohl das Thema einer planetarischen Organisation, die die menschlichen Energien und Instinkte vom Chaos zur Ordnung fuhren soll, schon präsent ist, sondern um ein philosophisches, das die innersten Strukturen seines Denkens berührt. Vor allem im Zusammenhang der Probleme, die zuvor erwähnt worden sind, kann man sich berechtigerweise fragen, ob nicht eben die physiologische Begründung der Moral eine der wichtigsten Bedingungen und Schlüssel für Nietzsches antiegalitäre Option darstellt. Diese Begründung nennt er im Herbst 1887 seinen „moralistischen Naturalismus" und beschreibt ihn als „Rückführung des scheinbar emancipirten, übernatürlichen Moralwerthes auf seine ,Natur', d.h. auf die natürliche Immoralität, auf die natürliche Nützlichkeit' usw."30 Ganz sicher hat Nietzsches Naturalismus mit dem positivistischen und sozialdarwinistischen wenig gemein, und nur mit großer Vorsicht und sozusagen metaphorisch können für diesen Aspekt seines Denkens die Termini „Reduktion" oder „Reduktionismus" verwendet werden. Mindestens von Menschliches, Allzumenschliches an ist es Nietzsches Einsicht, dass dem Bereich der Instinkte jede Spontaneität, Ursprünglichkeit und Natürlichkeit abzusprechen ist. Für ihn sind sie vielmehr Schemata von Gewohnheiten, die im Gedächtnis des Leibes Spuren ziehen, und sie bilden das Ergebnis von abgelagerten Urteilen und intellektuellen Verarbeitungen. Ebenso kann man ausschließen, dass Nietzsche in dem naturalistischen Organologismus gefangen ist, wie er bei vielen der von ihm gelesenen und diskutierten Autoren zu spüren ist. Es gibt jedoch keinen Zweifel, dass für ihn oft, wie zum Beispiel im Herbst 1885, der Organismus als Zusammenhang und Synthese der Ungleichheiten ein Erklärungsvorbild darstellt, das man durch Analogie erweitern und verwenden kann: „Es läßt sich eine vollkommene Analogie fuhren zwischen dem Vereinfachen und Zusammendrängen zahlloser Erfahrungen auf General-Sätze und dem Werden der Samenzelle, welche die ganze Vergangenheit verkürzt in sich trägt: und ebenso zwischen dem künstlerischen Herausbilden aus zeugenden Grundgedanken [...] und dem Werden des Organismus als einem Aus- und Fortdenken [...]" 31 . In diesem Fall sollte man vielleicht, wie es Giorgio Colli im Nachwort zur italienischen Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft tat, von einem der vielen Widersprüche Nietzsches reden, weil Nietzsche gerade in diesem Werk implizit jede Überinterpretation durch den Rekurs auf die Analogie ausgeschlossen hatte, als er im Aphorismus 109 feststellte, dass der Organismus „das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen", ja „die
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Ausnahme der Ausnahmen" ist und dass alles das, was ein Befehlen ausdrückt (sei es als Maschine oder als Organismus verstanden), das Produkt von zufälligen Kombinationen in einem als Chaos wahrgenommenen Universum ist. In der Morgenröthe und in den gleichzeitigen Fragmenten hatte Nietzsche der Gleichheit als Nivellierung der Menschen den Begriff der Gerechtigkeit32 gegenübergestellt. In expliziter Polemik gegen Schopenhauers Verständnis von Gerechtigkeit, die sich in der Maxime des neminem laede ausdrückt und den ersten Schritt zur vollständigen Anerkennung der metaphysischen Identität zwischen Ich und Anderem darstellt (ein Grad von Erkenntnis, der sich nach Schopenhauer in der „ewigen Gerechtigkeit" verwirklicht), sieht Nietzsche die Gerechtigkeit nicht als Negation des Unrechts, sondern als den positiven Ausdruck des Rechts der Kräfte, sich ohne Zwang in ihrer Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit zu äußern. Es ist wahrscheinlich, dass Nietzsche sich noch hier an das erinnert, was er in der Philosophie des tragischen Zeitalters der Griechen über die Verbindung von Krieg und Gerechtigkeit bei Heraklit geschrieben hatte. Die Gerechtigkeit nimmt dem Agon Übermaß und Überheblichkeit, sie hindert ihn daran, zerstörerisch zu werden, indem sie ihn innerhalb der Grenzen seiner Funktion hält, durch den Kampf die Differenzierung und die Entwicklung der Individuen anzuregen. Wenn wir von einigen veränderten begrifflichen Zusammenhängen absehen, ist diese Funktion nicht unähnlich jener, die von der Rangordnung ausgeübt wird: nämlich zu verhindern, dass untereinander ungleiche Kräfte, als Gegensätze wirkend, sich gegenseitig verbrauchen und neutralisieren. In der Morgenröthe ist Gerechtigkeit also Fähigkeit, den Anderen in seiner Verschiedenheit von uns anzuerkennen, eine Wirkung der Leidenschaft der Erkenntnis, die, wie Nietzsche schreibt, ihrerseits darin besteht, sich an der Verschiedenheit zu freuen. In den Fragmenten vom Frühling bis Herbst 1881, die sich mit dem Thema der Leidenschaft (die Nietzsche als die höchste Form der Anerkennung des Anderen in seiner Besonderheit begreift) und der Leidenschaft der Erkenntnis beschäftigen, wird die Freude am Anderen der Moral der „Gattungs-Zweckmäßigkeit" entgegengesetzt. Nietzsches Interesse gilt der Behauptung eines Vorbildes von Erkenntnis, das als Vorbedingung die Mannigfaltigkeit der Einzelnen statt die Identifizierung mit dem Nächsten oder die Unterwerfung des Individuums unter eine allgemeine und unpersönliche Form hat. Diese Art von Erkenntnis versteht Nietzsche auch als ein „neutral sachliches Sehen", auf einer Selbsterziehung und Ausbildung des Sehens basierend, die am Ende den Menschen von der Illusion des Ich-Gefühls und vom Besitztrieb befreien, um aus ihm ein „Ackerland für die Dinge"33 zu machen. Später ersetzt Nietzsche den Begriff der Gerechtigkeit durch die Verbindung von Rangordnung und Verwandtschaft: Alle innerhalb einer Rangordnung lebenden Wesen sind „verwandter Art", sonst wäre weder
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das Befehlen noch das Gehorchen möglich. Mir scheint, dass es auf der Basis dieser Alternative, zunächst zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit, dann zwischen Rangordnung und Gleichheit, eine allgemeinere Alternative gibt, deren Entwicklung wir von der Unzeitgemäßen Betrachtung über Strauss bis zu Ecce homo verfolgen können und die auch für den Begriff des Willens zur Macht als konstitutiv erscheint. Ihren Kern hat Martin Heidegger erfasst, wenn er in den Vorlesungen vom Wintersemester 1936/37 über den Willen zur Macht als Kunst, in einer impliziten Polemik gegen Alfred Baeumler, den Begriff des „großen Stils" als Antithese zu jedem Zwang versteht, der aus der Tyrannei des Willens hervorgeht. In dieser Interpretation des großen Stils hat Heidegger den Willen zur Macht als eine komplexe Form gedacht, die auf der aktiven und reaktiven Pluralität des Seienden beruht und innerhalb derer das Entgegengesetzte nicht überwältigt, sondern verändert werden muss, damit es sich zur Verwirklichung seiner wahren Natur entwickeln kann.34 Es handelt sich nämlich um die Alternative zwischen einer Form, die auf dem Ausschließen oder der Verminderung von Differenzen begründet ist, auf der einen Seite und einer Form, die im Leibe ihr Vorbild anerkennt und aus dem nicht zerstörerischen Antagonismus der beibehaltenen Differenzen hervorgeht, auf der anderen Seite. Die Alternative ist im Aphorismus 291 „Genua" der Fröhlichen Wissenschaft stilisiert, eine mächtige Idealisierung der Stadtlandschaft von Genua, die Nietzsche wahrscheinlich als Gegenstück zu Heines realistischem Genua versteht, „häßlich über alle Maßen", wo die Einwohner vor ihren Hausschwellen in den engen Gassen ihre kleinen Geschäfte betreiben.35 Der Aphorismus ist auf der Antithese aufgebaut zwischen den Städten Nordeuropas einerseits, wo „das Gesetz und die allgemeine Lust an Gesetzlichkeit und Gehorsam [imponirt], wenn man die Bauweise der Städte ansieht: man erräth dabei jenes innerliche Sich-Gleichsetzen, Sich-Einordnen, welches die Seele aller Bauenden beherrscht haben muss", und andererseits der Pracht der Genueser Patrizierpaläste, die eine „unersättliche Selbstsucht des Besitzes und Beutelust" bezeugen. Diese Selbstsucht eignet Individuen, die von der Wiederaneignung und Umgestaltung alles dessen, was alt und schon kodifiziert ist, nach neuen Perspektiven ausgezogen sind, und die mit einer stolzen agonalen Haltung agieren. Das Agonale aber ist, der Disposition der Stadt entsprechend, die zum Horizont und zum offenen Meer hin ausgerichtet ist, der Experimentierfreude und der Lust, neue Wege zu finden, zugeordnet, ja Agon und Experimentieren mit dem Neuen decken sich: ,,[U]nd wie diese Menschen in der Ferne keine Grenze anerkannten und in ihrem Durste nach Neuem eine neue Welt gegen die alte hinstellten, so empörte sich auch in der Heimat immer noch Jeder gegen Jeden und erfand eine Weise, seine Ueberlegenheit auszudrücken und zwischen sich und seinen Nachbar seine persönliche Unendlichkeit dazwischen zu legen."
„Die thatsächliche Moralität des Menschen"
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Anmerkungen Vgl. 7(239): KSA, Bd. X, S. 316. Vgl. 25(436): KSA Bd. XI, S. 127. KSA, Bd. XI, S. 128. Dazu H. Schipperges, Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Nietzsches, Stuttgart 1975. 2(203): KSA, Bd. XII, S. 165. 4(185): KSA, Bd. X, S. 165. 36(35): KSA, Bd. XI, S. 565. Vgl. Morgenröthe, 119. Vgl. vor allem die Fragmente vom Frühling bis Herbst 1883, besonders 7(17) und ff. Hier entwickelt Nietzsche parallel eine Theorie des Konflikts zwischen den Kräften und eine Theorie der leiblichen Zeichen, die ein Wille dem anderen einprägt. Beide Theorien werden in der Genealogie der Moral (11,12) in eine Lehre der Genealogie als historischer Semiotik vervollkommnet, 3(162): KSA, Bd. IX, S. 100. 34(85): KSA, Bd. XI, S. 446 f. KSA, Bd. III, S. 563. Für Schopenhauer hängt der Formalismus der Kantschen Ethik, wodurch sie sich von der Fichteschen wesentlich unterscheidet, damit zusammen, dass die Begründung der Moral keineswegs in dem Nachweis derselben als „Tatsache des Bewusstseins" oder als „ moralisches Gefühl" besteht, sondern darin, „ ein sehr subtiler Gedankenprozess" zu sein, und dass es „ keine andere moralische Triebfeder, als den dargelegten Gedankenprozess giebt." (A. Schopenhauer, Werke in fünf Bänden, hrsg. v. L. Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. III, S. 498.) KSA, Bd. III, S. 562. Vgl. S. Barbera, Onephilosophie du conflit. Etudes sur Schopenhauer, Paris 2004, S. 99-115 und „Voluntad de vivir ο voluntad de poder: Un episodio del debate de Nietzsche con Schopenhauer (1885-1889)", in Estudios Nietzsche n.3, 2003, S. 11-26. 2(165), Herbst 1885-Herbst 1886 : KSA, Bd. XII, S.145. 9(3): KSA, Bd. XII, S. 340. Vgl. auch das Fragment 9(178), Die drei Jahrhunderte : „ - die Rückbewegung auf Kant in unserem Jahrhundert ist eine Rückbewegung zum 18. Jahrhundert: man will sich ein Recht wieder auf die alten Ideale und die alte Schwärmerei verschaffen - darum eine Erkenntnißtheorie, welche ,Grenzen setzt', d.h. erlaubt, ein Jenseits der Vernunft nach Belieben anzusetzen..." 7(7): KSA, Bd. IX, S. 239. 19(34): KSA, Bd. VII, S. 427. Das Exemplar der ersten Edition von Schopenhauers Nachlass, herausgegeben von Julius Frauenstädt findet man mit einigen Lesespuren in Nietzsches Bibliothek: Vgl. Nietzsches persönliche Bibliothek, hrsg. von Giuliano Campioni u.a., Berlin/New York 2003, S. 534. Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen und Fragmente, hrsg. von J. Frauenstädt, Leipzig 1864, S. 101. 19(35): KSA, Bd. VII, S. 428. Vgl. Ζ. B. 8 (14), Winter 1880-81: KSA, Bd. IX, S. 386. Es handelt sich um den ersten Band der Origines de la France contemporaine, den Nietzsche in der deutschen Übersetzung (1877) besaß : Vgl. Nietzsches persönliche Bibliothek, zit., S. 586. Über den Begriff des esprit classique s. R. Pozzi, Hyppolite Taine. Scienze umane e politico nell'Ottocento, Venezia 1993, S. 164 ff. Nietzsches Beziehung zu diesem Aspekt des Werkes von Taine ist detailliert von U. Marti,, Der große Pöbel- und Sklavenaufstand'. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, Stuttgart/Weimar 1993, untersucht worden.
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Das Bild des Sandes der Menschheit und das des Chinesentums treten zusammen im Fragment 3(98) vom Frühjahr 1880 auf. Im Fragment 26(96) vom Sommer-Herbst 1884 (KSA, Bd. XI, S. 175-6) tritt wieder der Parallelismus Kant-Schopenhauer auf: „Die plumpe Pedanterie und Kleinstädterei des alten Kant, die groteske Geschmacklosigkeit dieses Chinesen von Königsberg, der aber doch ein Mann der Pflicht und ein preußischer Beamter war: und die innere Zucht- und Heimatlosigkeit Schs, der aber für den mitleidigen Biedermann sich begeistern konnte, gleich Kotzebue: und Mitleid für die Thiere kannte, gleich Voltaire." Dazu M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 33-56. Die fröhliche Wissenschaft, 352. 24(12): KSA, Bd. X, S. 649. 9(86): KSA, Bd. XII, S. 380 2(146): KSA, Bd. XII, S. 139 Zum ganzen Umfang des Begriffs bei Nietzsche s. aber B. Himmelmann, „Gleichheit und Differenz. Nietzsches Gerechtigkeitsbegrifif im Licht einer aktuellen Debatte", in: Nietzsche und das Recht, hg. von Kurt Seelmann, Stuttgart 2001 (= ARSP, Beiheft Nr. 77), S. 85-92. 11(21): KSA, Bd. IX, S. 451. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. I, Pfullingen 1961, S. 159 H. Heine, Die Reise von München nach Genua, in: Sämtliche Werke (Düsseldorfer Ausgabe) VII/1, Hamburg 1986, S. 76.
Mathias Risse
Warum Kantianer Nietzsches Moralkritik sehr ernst nehmen sollten
Indem er die Genealogie als eine Übung in „Thierpsychologie" (GM III, 20) bezeichnet, legt Nietzsche für den außerordentlichen kulturellen Einfluss der biologischen Wissenschaften, inbesondere der Physiologie und Evolutionsbiologie, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zeugnis ab.1 Im letzten produktiven Jahrzehnt seines Lebens wendet er oft physiologische Überlegungen auf philosophische Probleme an. Besonders aber geht es ihm darum, auf diese Weise die Entwicklung der christlichen Moral und solcher Theorien zu erklären, die er als deren Ableitungen betrachtet (inbesondere die Kantische Ethik und den Utilitarismus). Auch die Entwicklung von Charakteren, die für diese Art von Moral zugänglich sind, unterzieht er einer so verfahrenden Untersuchung. Ich behaupte nicht, dass alles Interessante in Nietzsches Philosophie auf diesen Ansatz zurückfuhrbar ist, aber diese Perspektive auf sein Denken wird oft nicht hinreichend gewürdigt. In früheren Arbeiten habe ich eine Interpretation des Schuldbegriffs in der zweiten Abhandlung der Genealogie sowie eine Interpretation des Ressentiments (das primär in der ersten Abhandlung behandelt wird) vorgelegt.2 Beide Interpretationen sollen die Plausibilität dieses Zuganges verdeutlichen; hier jedoch setze ich diese Lesart voraus und entwickle sie dadurch weiter, dass ich einen Aspekt der Beziehung zwischen der Kantischen Ethik und einem so verstandenen Nietzsche im Lichte von dessen physiologischen - und daher naturalistischen - Ideen über den Geist betrachte. Für unsere Zwecke reicht folgende Erklärung des Naturalismus-Begriffes aus: „Ein Naturalist zu sein heißt, menschliche Wesen als brüchige Komplexe vergänglicher Materie zu betrachten, und in dem Sinne als Teil der naturlichen Ordnung. Es heisst daher auch, unerklärte Appelle an Begriffe wie ,Geist' oder , Seele' und unerklärte Appelle an das Wissen um Platonische Ideen oder Formen oder Normen zu vermeiden; es heißt insbesondere, jedweden Verweis auf eine übernatürliche Ordnung zurückzuweisen." 3
Zusammenfassungen von Nietzsches naturalistischer Grundauffassung finden sich in Jenseits von Gut und Böse (Aphorismus 230) und im Antichrist
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(Aphorismus 14), aber mir geht es um sein besonderes Interesse an Physiologie. Um zu sehen, warum es insbesondere einer Klarstellung des Verhältnisses zwischen Kant und einem physiologisch interpretierten Nietzsche bedarf, beachte man, dass Kantianer geneigt sein könnten, Nietzsches Tierpsychologie als unwichtig für die Moralphilosophie zu verwerfen. Moralität, so mögen sie sagen, ist damit befasst, was ein Handelnder tun sollte, und das ist eine Angelegenheit der ersten Person. Was man tun sollte, hängt nicht vom historischen oder physiologischen Hintergrund der Moral ab, und in dem Sinne sind in der dritten Person gehaltene Erklärungen unwichtig fur die Moralphilosophie. Dieser Einwand erhebt sich gegen jede Untersuchung über Moral, die auf einen in der dritten Person gehaltenen erklärenden Standpunkt rekurriert - ein Standpunkt, der in Arbeiten zur Evolution von Nonnen in Psychologie, Biologie und Spieltheorie präsent ist, in Arbeiten also, die manchmal mit der Absicht geschrieben sind, Moralphilosophie als überflüssig zu erweisen. Die Antwort kann nicht sein, dass Nietzsche andere Fragen als die Moralphilosophie anspricht. Denn er möchte eben den Standpunkt widerlegen, von dem aus der Einwand formulierbar ist. Eine genauere Untersuchung ist daher erforderlich, um festzustellen, ob Nietzsche das Ziel verfehlt oder ob er das Argument des Kritikers untergräbt, der diesen Einwand erhebt. Sobald wir diesen Einwand der Unwichtigkeit des Standpunktes der dritten Person ins Auge fassen, stellt sich heraus, dass die Beziehung zwischen Kant und Nietzsche in allgemeinerem Sinn geklärt werden muss zum Zwecke einer Interpretation, die Nietzsche als einen Denker betrachtet, der physiologische Überlegungen auf philosophische Probleme anwendet. Christine Korsgaard veranschaulicht den Bedarf nach solcher Klärung dadurch, dass sie dem gerade eingeführten Einwand eine besondere Wendung hinzufügt. 4 Sie bezeichnet ihre eigene, kantische Theorie als naturalistisch und legt nahe, dass insbesondere Nietzsches Ideen zur Verbindung zwischen Bewusstsein und moralischem Handeln ihre Theorie unterstützen. Diese Erklärung ist ebenso scharfsinnig wie verwirrend, da die Kantische Ethik aus Nietzsches Sicht ein müßiger Versuch ist, Fragmente der christlichen Weltordnung zu rekonstruieren, ohne deren argumentativen Kern, den Gottesbegriff, zu übernehmen. Korsgaard zufolge würde Nietzsche allerdings nur so weit recht haben, als er mit Kant übereinstimmt, aber ansonsten nur offenbaren, wie menschlich-allzumenschliche Ereignisse den Weg zum Reich der Zwecke versperren. Wir benötigen daher eine Klarstellung des Verhältnisses zwischen Kant und Nietzsche im Bereich der Moralphilosophie auch unabhängig vom Bedarf einer Antwort auf den obigen Einwand, um die Unabhängigkeit von Nietzsches Ansatz zu verteidigen. Aufgrund der gebotenen Kürze kann ich nur einen Teil dieser Klarstellung leisten (einen Teil, der unterschiedliche Auffassungen zum Verständnis des Geistes und insbesondere
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des Willens diskutiert), behandle aber das Thema ausfuhrlicher in einer anderen Arbeit.5 Was hier behandelt werden kann, zeigt allerdings schon, dass Kantianer wie Korsgaard wenig Grund haben, Nietzsche als einen Verbündeten zu betrachten, sondern stattdessen seine Kritik an ihrer Ethik sehr ernst nehmen sollten. Charakteristisch für Korsgaards Interpretation ist, dass sie bestreitet, Kants Betonung der Wichtigkeit der Freiheit fur die Moral hänge von substantiellen metaphysischen Überlegungen ab, Überlegungen, die unzulässig sind, wenn der transzendentale Realismus wahr ist (wenn Erscheinungen die Dinge an sich sind). Im Blick auf eine solche metaphysische Interpretation verliert der Einwand, Untersuchungen vom Standpunkt der dritten Person seien unwichtig, an Bedeutung, da nun argumentiert werden könnte, dass der transzendentale Realismus wahr ist und daher der von Kantianern benötigte Freiheitsbegriff gar nicht zu rechtfertigen ist. Korsgaards Auffassungen müssen allerdings zu Nietzsche in ein Verhältnis gesetzt werden unabhängig davon, ob sie Kant gerecht werden. Denn sie sind von Wichtigkeit für die Ethik der Gegenwart (die größtenteils nicht erpicht darauf ist, Metaphysik zu betreiben, wie sie der transzendentale Idealismus mit sich bringt). Korsgaard möchte zeigen, wie Pflichten in der Reflexivität des Selbstbewusstseins begründet sind - und diese Verbindung ist der Grund dafür, dass sie ihre Theorie als naturalistisch bezeichnet. Es liegt in der Natur eines reflektierenden Wesens, sagt Korsgaard, dass Neigungen aus einer deliberativen Distanz gesehen werden, und es ist der Wille, der eine solche Distanz schafft und manche Neigungen als Gründe zulässt, andere jedoch nicht. Reflektierende Wesen können und müssen aus Gründen handeln. Um aber Entscheidungen treffen und ihnen gemäß handeln zu können, benötigt der Handelnde eine Vorstellung von sich selbst, der zufolge er sich als wertvoll betrachtet. Andernfalls könnte er sich nicht entscheiden, welche von verschiedenen Neigungen als Gründe zu gelten haben. Diese Vorstellung nennt Korsgaard die praktische Identität des Handelnden. Gründe drücken diese praktische Identität aus, während Pflichten darin bestehen, Handlungen zu vermeiden, die dieser Identiät zuwiderlaufen. Damit eine praktische Identität eine gewisse Einheitlichkeit ausdrücken kann und damit der Handelnde nicht völlig unzusammenhängende Entscheidungen trifft, muss es ein Prinzip geben, das sicherstellt, dass ähnliche Entscheidungen unter ähnlichen Umständen getroffen werden und dass diese Entscheidungen aus der Sicht eines jeden rationalen Wesens akzeptabel sind. Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, können wir schon sehen, dass dieser Ansatz vom Standpunkt der ersten Person aus entwickelt ist und die Frage „Was soll ich tun?" dadurch beantwortet, dass der Handelnde angewiesen wird, Überlegungen in einer Art durchzuführen, die jene Bedingungen respektiert, die von seiner rationalen Natur gesetzt werden. Im Kategorischen Imperativ finden sie Ausdruck - der Wille kann also nur dann
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Neigungen in handlungsleitende Maximen inkorporieren, wenn die Inkorporation diesen Bedingungen genügt. Wir werden nun nietzscheanische Antworten auf diese kantischen Ansichten entwickeln, und zwar in einer Weise, die auf Nietzsches Auffassung des Geistes zurückgreift. Diese Diskussion wird zeigen, warum der Einwand, der die Unwichtigkeit des Standpunktes der dritten Person behauptet, scheitert, und zwar aus Gründen, die eine kantische Theorie wie die Korsgaards ernst nehmen muss. Damit wird dann auch ein Teil der Klarstellung des Verhältnisses zwischen einem physiologisch interpretierten Nietzsche und (Korsgaards) Kant geleistet sein. Es wird allerdings einiges an Vorbereitung nötig sein, bis wir diesen Einwand angehen können. Betrachten wir zunächst einige Bemerkungen zum Funktionieren des Geistes im Aphorismus 333 der Fröhlichen Wissenschaff. „Wir, denen nur die letzten Versöhnungsscenen und Schluss-Abbrechnungen dieses langen Processes zum Bewusstsein kommen, meinen demnach, intelligere sei etwas Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes; während es nur ein gewisses Verhalten der Triebe zu einander ist. Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefuhlt verläuft. [...] Das bewusste Denken, und namentlich das des Philosophen, ist die unkräftigste und desshalb auch die verhältnissmässig mildeste und ruhigste Art des Denkens: und so kann gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des Erkennens irre gefuhrt werden."
Wir sehen hier die Ersetzung der Platonischen Opposition zwischen Vernunft und Leidenschaft durch den Gegensatz zwischen verschiedenen Leidenschaften, deren jede einen Drang zum Dominieren hat. Was den Geist charakterisiert, ist nicht Vernunft, sondern „in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind" (JGB 6), oder, wie Nietzsche in der Morgenröthe sagt, „das Bild der gesammten Triebe, die sein Wesen constituiren" (M 119). Insbesondere - und dies steht im Gegensatz zum Kantischen Willensbegriff - schließt das Innere eines Menschen nach Nietzsche keine Entität ein, die Neigungen erwägt und entscheidet, welche als Gründe angenommen werden. Stattdessen spricht Nietzsche von einem „Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte" (JGB 12, vgl. JGB 19). Wenn eine Neigung übergangen und eine andere in eine Maxime aufgenommen wird (wie Kant dachte), so ist nach Nietzsche der Prozess dahinter kein vernunftbasiertes Wählen: „Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder mehrerer anderer Affekte" (JGB 117). Vieles von dem passiert, ohne dass sich die Handelnde dessen bewusst ist. Der Geist ist die „unbekannte Welt des Subjectes" (so der Titel von Μ 116) und „voller Trugbilder und Irrlichter" (GD, Irrthümer, 3).
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Eine Bemerkung über Wagner in der vierten Unzeitgemässen veranschaulicht diese Sichtweise:
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„Das Dramatische im Werden Wagner's ist gar nicht zu verkennen, von dem Augenblicke an, wo die in ihm herrschende Leidenschaft ihrer selber bewusst wird und seine ganze Natur zusammenfasst: damit ist dann das Tastende, Schweifende, das Wuchern der Nebenschösslinge abgethan, und in den verschlungensten Wegen und Wandelungen, in dem oft abenteuerlichen Bogenwürfe seiner Pläne waltet eine einzige innere Gesetzlichkeit, ein Wille, aus dem sie erklärbar sind [...]." (UB IV, 2)
Wagner hat sich nie für eine Auffassung von seinem Leben entschieden und diese dann umgesetzt. Stattdessen wurde ein bestimmter Trieb dominant und zwang Wagners Charakter Einheitlichkeit auf. Aufgrund der Komplexität des Geistes werden Entscheidungen anders als aus deliberativer Distanz getroffen. Wie John Richardson sagt, „besteht eine Person aus einem umfassenden Netzwerk von Machtbalancen, die auf verschiedenen Ebenen zustande kommen," und das Leben eines Menschen wird vom Ausgang dieser Balance-Prozesse geformt.6 Diese Überlegungen illustrieren den Einfluss des naturalistischen Weltbildes auf die Behandlung philosophischer Probleme. Wir müssen allerdings aufpassen, wenn wir diese Auffassung des Geistes auf Kant anwenden, insbesondere wenn wir beurteilen möchten, wie sie zu einer Antwort auf den Einwand von der Unwichtigkeit des Standpunktes der dritten Person beitragen kann. Denn man mag nun sagen, dass Nietzsches Ansichten keineswegs der Kantischen Theorie widersprechen. Insbesondere Korsgaards Kant-Interpretation hängt nicht von einem theoretischen Verständnis des Geistes ab, vor allem aber nicht von der Existenz eines physiologisch identifizierbaren Organs genannt „Wille". Stattdessen hängt diese Theorie an der praktischen Überlegung, dass Handelnde sich selbst so wahrnehmen, dass sie Entscheidungen treffen, und dies tun sie offensichtlich. Solche Entscheidungen treffen zu können, setzt die Fähigkeit zu deliberativer Distanz voraus - also die Fähigkeit des Willens, Neigungen in Erwägung zu ziehen und entweder in eine Maxime aufzunehmen oder nicht, welche Aufnahme aber vonnöten ist, damit die Neigung handlungsrelevant wird. Spekulation über die physiologische Konstitution des Geistes scheint unerheblich, wie der Einwand, Untersuchungen vom Standpunkt der dritten Person seien unwichtig, besagt: Solche Untersuchungen sprechen keine Fragen an, die kantische Moralphilosophen angehen. Doch dem ist nicht so. Unsere Fähigkeit zu deliberativer Distanz und damit der Kern der Kantischen Ansicht ist genau das, was Nietzsches physiologische Betrachtungen in Frage stellen. Dieser Punkt kann im Kontrast mit Kants Willensbegriff gut gesehen werden. Nach Kant ist der Wille „ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch nothwendig, d.i. als gut, erkennt." (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, 412).
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Wie Allen Wood erklärt (der auch klarstellt, dass die Kantische Theorie nicht von einem Verständnis des Willens als physiologischem Organ abhängt), ist der Wille „die Aktivität, durch die das praktische Vermögen einen Zweck bestimmt, der durch eine Maxime oder ein praktisches Prinzip gesetzt worden ist. Die grundsätzliche Aktivität im Wollen ist die Annahme von normativen Prinzipien für die Regulierung unseres Verhaltens. Neigungen schließen die Repräsentation von Objekten (oder Zuständen) mit ein, deren Existenz wir als angenehm erfahren würden. Aber Zwecke sind mögliche Zustände, auf deren Aktualisierung hin wir unsere Kräfte aktiv ausrichten. Das Wollen eines Zweckes ist daher etwas ganz anderes als das schiere Wünschen von etwas, da das Wollen die Unterwerfung der Handlungen unter eine Norm einschließt und - in dem Maße, in dem man nach der Norm handelt - auch die Aufbietung der Kräfte des Handelnden, um diesen Zweck durch solche Handlungen, die als angebrachte Mittel η
betrachtet werden, zu verwirklichen."
Zwei Punkte sind wichtig. Zum einen ist der Wille eine einzige Entität, er ist getrennt von den Neigungen, und zum zweiten ist diese Entität handlungsleitend (wozu Neigungen nur werden, wenn sie in Maximen inkorporiert werden). Nietzsche bestreitet, dass es einen Willen mit solchen Eigenschaften gibt. Er ersetzt diese Sichtweise durch eine aggregative Struktur, innerhalb derer es keinen einzelnen Willen gibt, sondern eine Menge von Willen, die zu verschiedenen Entitäten gehören. Soviel zumindest wird nahegelegt im Aphorismus 117 aus Jenseits von Gut und Böse, wo Nietzsche von dem Willen „eines anderen oder mehrerer anderer Affekte" spricht. Für Nietzsche drückt der Willensbegriff nur aus, dass mentale Entitäten einen Drang haben, aktualisiert zu werden. Nietzsche verwendet schon das Wort „Wille" anders als Kant: „Das alte Wort, Wille' dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils zusammenstimmender Reize folgt: - der Wille ,wirkt' nicht mehr, ,bewegt' nicht mehr..." (A 14)
Was Nietzsche durch die Zurückweisung der Kantischen Auffassung vom Willen bestreitet, ist inbesondere, dass es mentale Rohstoffe gibt (Neigungen), die Handlungen nur dadurch bestimmen, dass sie in Maximen inkorporiert werden. Nachdem der Kantische Willensbegriff beiseite gesetzt worden ist, können solche Entitäten so gesehen werden, dass sie direkt zu Handlungen führen. Es ist Ergebnis der Zurückweisung eines Kantischen Willensbegriffes mit den genannten Eigenschaften, dass Nietzsche die Vorstellung deliberativer Distanz bestreitet. Es gibt weder eine einzige Entität, die diese Position der Distanz einnehmen würde, noch einen Gegensatz zwischen mentalen Rohmaterialien und einer von ihnen distanzierten Entität. Nietzsches Auffassung erlaubt eine Distanzierung von jeder beliebigen Gruppe von Neigungen, schließt aber einen Standpunkt aus, der eine solche Distanzierung von allen Neigungen gleichzeitig erlaubt. Durch sein Bestehen auf der Möglichkeit solcher Distanzierung zeigt Kant, dass er dem Erbe des Christentums verhaftet ist. Wie das Christentum eine Seele
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postuliert, um Individuen schuldig finden zu können, so postuliert Kant die Fähigkeit zu deliberativer Distanzierung, um der Entscheidungsfindung moralische Bedingungen auferlegen zu können. Sowohl die Seele als auch der Wille sind durch ihre Einzigartigkeit und ihren Gegensatz zu anderen internen Entitäten gekennzeichnet; beide figurieren als Ideen eines „inneren Entscheiders" und sind daher auf ähnliche Weise problematisch. Der Psychologe Steven Pinker schreibt, dass „die Wissenschaft zeigt, dass das, was wir die Seele nennen - der Sitz von Bewusstsein, Vernunft und Wille - , aus den Informationen verarbeitenden Aktivitäten des Gehirns besteht, ein Organ, das nach den Gesetzen der Biologie funktioniert."8 Dies ist genau der Gedanke, mit dem Nietzsche rang, indem er mit so viel biologischer Einsicht arbeitete, wie er zur Verfügung hatte. Wir können nun endlich auf den Einwand der Unwichtigkeit des Standpunktes der dritten Person eingehen. Der entscheidende Punkt des Einwandes kann in einem Kontrast zu Korsgaards Dikussion des Determinismus erfasst werden.9 Angenommen, jemand nimmt an einem Experiment teil und weiß, dass jede ihrer Regungen vom „System" bestimmt wird. Sie weiß, dass sie das System nicht schlagen kann - selbst dahingehende Versuche sind vorherbestimmt. Um überhaupt etwas zu tun, muss sie ignorieren, dass ihre Regungen vorherbestimmt sind und handeln, als wäre dem nicht so. Entscheidend ist, dass man zwar nicht glauben muss (und keinen Grund hat zu glauben), dass man frei ist, aber trotzdem Entscheidungen treffen muss, als wäre man es. Die Wahrheit des Determinismus ändert nichts am praktischen Standpunkt. Wir werden hier diese Auffassung vom Determinismus nicht in Frage stellen, sondern mit Hilfe des bisher Gesagten einen Kontrast herstellen zwischen der Unwichtigkeit des Determinismus im Blick auf den praktischen Standpunkt und der Unmöglichkeit, ein ähnliches Argument für die Unwichtigkeit des Standpunktes der dritten Person zu konstruieren. Dieser Kontrast kann wie folgt entwickelt werden: Wenn Nietzsches Auffassung vom Geist richtig ist, gilt zunächst, dass die Kantische Auffassung unserer Entscheidungsprozesse auf einem chimärischen Verständnis des Geistes beruht. Seine Theorie führt dazu, mentale Entitäten konstant misszuverstehen, und zwar durch die Annahme, dass unsere Überlegungen von einem einzigen Standpunkt aus durchgeführt werden, der von unseren Neigungen losgelöst sein soll, während tatsächlich unterschiedliche Neigungen in diesem Prozess dominant werden, bis eine stark genug ist, um zu einer Handlung zu fuhren oder dann am stärksten ist, wenn gehandelt werden muss. Zum zweiten gilt, dass der Determinismus unerheblich ist für den praktischen Standpunkt, da dessen Wahrheit oder Falschheit in keiner Weise festlegt, wie genau wir den Entscheidungsprozess charakterisieren sollten: dieser Prozess ist in beiden Fällen der gleiche. Insbesondere könnte die Handelnde Fragen danach, was sie bewogen hat, so oder so zu handeln, ganz unabhängig von Ansichten über den Determinismus beantworten. Aber Nietz-
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sches Einwänden gegen den Kantischen Willensbegriff zufolge werden wir genau darüber getäuscht, was dieser Prozess ist. Daher haben diese Einwände sehr wohl einen Einfluss darauf, wie wir den Entscheidungsprozess charakterisieren sollten. Handelnde würden systematisch falsche Antworten auf Fragen darüber geben, warum sie so oder so gehandelt haben, eben weil sie sich über ihren Entscheidungsprozess täuschen. Die Erforschung dieses Prozesses ist Gegenstand von Untersuchungen, die vom Standpunkt der dritten Person aus vorgenommen werden, und das ist der Grund, weshalb solche Untersuchungen im Unterschied zum Argument des Determinismus für den praktischen Standpunkt doch eine Rolle spielen. Die Kantische Lehre bietet uns einen Willensbegriff an, demzufolge der Wille als eine einzige Entität verstanden wird, die losgelöst von den Neigungen ist. Während das die Sichtweise ist, die Nietzsche angreift, argumentieren Kantianer, dass sie die Wirklichkeit deliberativer Distanz durch Introspektion bestätigt finden: Nehmen wir uns denn nicht einfach so wahr, dass wir den Standpunkt deliberativer Distanz einnehmen? Und ist das nicht genug, um die Kantische Theorie anwendbar zu machen? Doch wenn Nietzsche recht hat, so würden Entschlüsse, die wir so wahrnehmen, als wären sie vom Standpunkt deliberativer Distanz aus getroffen worden, tatsächlich aus einem Kampf von Neigungen entstanden sein. Dieser Prozess mag durchaus Distanzierung von diesen oder jenen Neigungen vom Standpunkt anderer Neigungen aus einschließen, aber nicht eine Distanzierung von allen Neigungen gleichzeitig. Daher ist also jede Introspektion, die im Blick auf resultierende Handlungen den Eindruck vermittelt, dass eine solche Distanzierung möglich ist, nach Nietzsche ein reines Epiphänomen - und wenn die Handelnde dies anders wahrnimmt (was durchaus sein kann), so irrt sie sich über ihr eigenes Innenleben. Wenn diese Überlegung korrekt ist, so hat dies Folgen dafür, wie Handelnde Fragen, warum genau sie so oder so gehandelt haben, beantworten sollten. Untersuchungen aus der Perspektive der dritten Person sind daher nicht unwichtig für den praktischen Standpunkt. Doch wie kann es sein, dass Introspektion systematisch über die Natur von Entscheidungsprozessen täuscht? Unterschiedliche Antworten sind möglich. Zum einen mag man die Kantische Darstellung der Phänomene anzweifeln: Innere Unruhe und Konflikte, die nicht aufgelöst, sondern nur irgendwie beendet werden, scheinen genauso real wie die Wahrnehmung von deliberativer Distanzierung. Zum anderen mag man die Phänomenologie unangezweifelt lassen und fragen, warum wir die Phänomene so wahrnehmen, wie wir es tun. Eine Antwort darauf ist, dass wir über unser inneres Leben in einer Kultur nachzudenken gelernt haben, die an Seelen glaubt und uns irregeführt hat darüber, wer wir sind. Solche Irreführung würde dadurch erleichtert worden sein, dass wir auf die Welt durch ein Paar Augen schauen und daher von einem einzigen Standpunkt aus - was uns geneigt macht zu glauben, dass es da auch ein „inneres Auge" gibt (wie den Kantischen Willen), das eine ähnliche Perspektive auf unser Inneres eröffnet.
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Wir haben gesehen, dass Untersuchungen vom Standpunkt der dritten Person im Gegensatz zum Argument des Determinismus wichtig sind für den praktischen Standpunkt. Das Argument des Determinismus ist unwichtig, weil der Entscheidungsprozess von ihm nicht beeinträchtigt wird, und dasselbe gilt für Fragen, die ein Handelnder darüber zu beantworten hätte, warum er so und so gehandelt hat. Was Untersuchungen vom Standpunkt der dritten Person ergeben, ist hingegen nicht unwichtig, da sie zeigen könnten, dass Entscheidungsfindung in einer Weise vonstatten geht, die sich sehr von unserer Wahrnehmung derselben unterscheidet. Und wenn dem so ist, dann würde dies auch beeinflussen, wie genau eine Handelnde Fragen danach zu beantworten hätte, warum sie so und so gehandelt hat. Wenn also Kantianer darauf bestehen, dass es für ihre Zwecke ausreicht, dass wir uns selbst so wahrnehmen, als träfen wir Entscheidungen vom Standpunkt deliberativer Distanzierung, dann könnte man ihnen antworten, dass wir eine Rechtfertigung dafür brauchen, diese Phänomene so zu nehmen, wie sie scheinen und dass wir keine guten Gründe haben zu denken, sie seien Täuschungen; aber wenn Nietzsche recht hat, haben wir genau solche Gründe. Daher kann die Phänomenologie der Entscheidungsfindung nicht zeigen, dass Untersuchungen vom Standpunkt der dritten Person unwichtig sind. Ich habe nicht versucht, die Korrektheit des Nietzscheanischen Standpunktes plausibel zu machen, aber wir können schließen, dass Untersuchungen vom Standpunkt der dritten Person einen Unterschied machen im Blick auf Moralphilosophie der Art, die Kantianer betreiben. Kantianer sollten daher Nietzsches Kritik sehr ernst nehmen, und diese Überlegungen zu den Themen „Geist" und „Wille" allein reichen schon aus, zumindest so viel zu zeigen.
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Ich zitiere Nietzsche nach der bei de Gruyter erschienenen, von Colli und Montinari herausgegebenen Studienausgabe und verwende die üblichen Werkabkürzungen, wie GM für Genealogie der Moral, FW für Fröhliche Wissenschaft, JGB für Jenseits von Gut und Böse, GD für GötzenDämmerung und A fur Antichrist. Übersetzungen aus englischsprachigen Werken sind meine. Ersteres in Risse, "The Second Treatise in O n the Genealogy of Morality': Nietzsche on the Origin of the Bad Conscience", in: The European Journal of Philosophy, Vol. 9 (2001), 55-81, und letzteres in Risse, "Origins of 'Ressentiment 'and Sources of Normativity", in: Nietzsche Studien 32 (2003), 142-170. Blackburn, Simon: Ruling Passions, Oxford 1998, S. 48f. Korsgaard, Christine M.: The Sources of Normativity, Cambridge 1996. Nämlich in Risse: Nietzsche's 'Animal Psychology' and Kant's Ethics, einer Arbeit, die in einem von Brian Leiter herausgegebenen Band erscheinen wird. Richardson, John: Nietzsche's System. Oxford 1996, S. 47. Wood, Allen W.: Kant's Ethical Thought. Cambridge 1999, S. 53 f. Pinker, Steven: The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature. New York 2002, S. 224. Korsgaard, Sources, S. 95.
Axel Hutter
Die Anstachelung des Gedankens Zum Naturverhältnis der Vernunft bei Kant und Nietzsche
I. Der Begriff „Anstachelung des Gedankens" ist einem Aphorismus Nietzsches entnommen, der - wie ich zeigen möchte - einen entscheidenden Wendepunkt im Denken Nietzsches markiert. Der Aphorismus ist der letzte im Ersten Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches und bildet den argumentativen Übergang zum Zweiten Hauptstück mit dem Titel „Zur Geschichte der moralischen Empfindungen". In diesem Titel wird zum ersten Mal eines der zentralen Themen des späteren Nietzsche artikuliert, so dass der Gedanke nahe liegt, im vorangehenden und vorbereitenden Aphorismus werde die systematische Leitidee von Nietzsches Moralkritik formuliert. Der Aphorismus heißt „Zur Beruhigung" und will verhindern, dass die Philosophie, wie Nietzsche es formuliert, „zur Tragödie" wird. Nietzsche schlägt statt dessen eine Revolution der bisherigen Denkungsart vor; eine Revolution, durch die man, wie er hofft, „zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur" leben würde; man wäre dergestalt, so Nietzsche weiter, die Emphase des Menschseins los „und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden" (KSA 2, 54). Inwiefern solch eine programmatische Naturalisierung des Menschen, welche die Anstachelung des Gedankens, dass der Mensch nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, „loswerden" will, tatsächlich als die systematische Grundlage der späteren Moralkritik Nietzsches verstanden werden kann, werde ich am Ende meiner Überlegungen (in der gebotenen Kürze) ausführen. Im Hauptteil meines Textes interessiert mich aber weniger Nietzsches „Genealogie der Moral" selbst, sondern gewissermaßen die Genealogie dieser „Genealogie", d.h. die Frage: Was will oder muss Nietzsche eigentlich mit seiner Naturalisierung des Menschen „beruhigen"? Die These, die ich im Folgenden näher erläutern will, lautet nun, dass die Beunruhigung, der Nietzsche zu entkommen sucht, von ihm selbst ausgeht, genauer: von seiner eigenen Frühphilosophie. Es handelt sich nämlich um den
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„tragischen" Dualismus zwischen Natur und Vernunft, den sich der frühe Nietzsche im Anschluss an Schopenhauer zu eigen machte, wobei sich Schopenhauers eigener Dualismus aus einer vereinfachenden und verfälschenden Deutung der Kantischen Vernunftphilosophie ergeben hatte. Der Übergang vom früheren zum späteren Nietzsche wird also durch den Wendepunkt markiert, an dem Nietzsche seinen anfanglichen Dualismus von Natur und Vernunft verabschiedet und ihn durch einen strikten Natur- und Lebensmonismus ersetzt, in dem die Tragik „beruhigt" und die „Anstachelung des Gedankens" zum Schweigen gebracht ist. Nietzsches Wende lässt sich auf diese Weise als kritische und berechtigte Gegenwehr gegen einen falschen Dualismus von Natur und Vernunft verständlich machen; eine Gegenwehr, die freilich in ihrer allzu unmittelbaren Negation des abgewehrten Dualismus das Abgewehrte auch festhält und so weiterhin - wie ich zeigen möchte - an der ursprünglichen Einsicht Kants vorbeigeht, die eine vermittelte Nichtidentität von Natur und Vernunft zu entwickeln weiß, durch die ein Dualismus von Vernunft und Natur ebenso wie eine Identifikation von Vernunft und Natur gleichermaßen ausgeschlossen wird. Aus der soeben exponierten These ergeben sich die einzelnen Teile meiner Überlegungen: der erste Teil wird die für Kants Transzendentalphilosophie grundlegende Einsicht in die vermittelte Nichtidentität von Natur und Vernunft erläutern; der zweite Teil geht dann zu der dualistischen, an Schopenhauer orientierten Position des frühen Nietzsche über; der dritte Teil kehrt schließlich zum eingangs erwähnten Wendepunkte zurück, um von ihm aus die monistische Leitthese von Nietzsches späterer Moralkritik zu entwickeln. Am Ende werde ich noch versuchen, ein kurzes Resume des Gedankengangs zu geben.
II. Die angeführte Forderung Nietzsches, „die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter [zu] empfinden", kann mit guten Gründen als Antithese gegen Kant verstanden werden, und es ist für die in Frage stehende Sachfrage sehr erhellend, die Präzision der antithetischen Entsprechungen im Detail zu verfolgen. Denn Kants Transzendentalphilosophie entspringt tatsächlich aus dem einen Grundgedanken, dass der Mensch mehr als Natur ist - ein „Mehr" allerdings, das sich der Natur nicht dualistisch opponieren lässt.1 So kennt die menschliche Vernunft bei Kant in der Kritik der praktischen Vernunft durchaus „einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern", doch ist der Mensch,
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so Kant weiter, „nicht so ganz Thier", um die Vernunft „bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses als Sinnenwesens zu gebrauchen" (V 61).2 Die Vernunft besitzt also Kant zufolge durchaus eine Naturbasis (und in dieser Hinsicht treffen sich die Gedanken Kants verblüffend häufig mit entsprechenden Überlegungen Nietzsches), doch geht die Vernunft deshalb nicht einfach in Natur auf. Vielmehr besteht das Wesen der menschlichen Vernunft bei Kant gerade in der Anstachelung des Gedankens, dass der Mensch nicht nur Natur ist. Kants Vernunftphilosophie stellt sich damit auf einen Standpunkt, „der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde an etwas gehängt" ist (IV 425). Die Begründung moralischer Prinzipien darf sich deshalb konsequenterweise ausschließlich auf die Autonomie der menschlichen Vernunft berufen, nicht aber auf göttliche Gesetze des Himmels oder natürliche Antriebe der Erde. Die philosophische Betrachtung „der moralischen Beschaffenheit des Menschen" hat sich deshalb dem „Grund des Gebrauchs der Freiheit" zuzuwenden, der Kant zufolge „lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß" (VI 40). Aus diesem konsequent vernunftphilosophischen Ansatz ergibt sich bereits eine wichtige Schlussfolgerung: Der Grund des Bösen, so Kant, kann „nicht, wie man ihn gemeiniglich anzugeben pflegt, in der Sinnlichkeit des Menschen und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden" (VI 34). Wenn nämlich die moralische Beschaffenheit des Menschen einzig und allein von „Vernunftvorstellungen" abhängt, dann können die menschliche „Sinnlichkeit" und die aus ihr entspringenden Naturbedürfhisse für sich genommen weder gut noch böse sein. Ein strikt naturalistisches Selbstverständnis des Menschen wäre demnach der anti-moralische Standpunkt einer instrumentell verstandenen Vernunft. Der Mensch folgt hier ausschließlich dem „Auftrag" von Seiten der Sinnlichkeit, den Kant an anderer Stelle auch als die erste, „wenn gleich nicht vornehmste" Pflicht des Menschen gegen sich selbst „in der Qualität seiner Thierheit" bezeichnet; eine Pflicht, die des Näheren in der „Selbsterhaltung" des Menschen „in seiner animalischen Natur" besteht (VI 421). Dieser Standpunkt der natürlichen Selbsterhaltung ist also Kant zufolge durchaus der primäre Standpunkt des Menschen. Kant bestreitet allerdings, dass der primäre Standpunkt auch der einzige Standpunkt des Menschen ist, da er „doch nicht so ganz Thier" ist, um gegen den Autonomieanspruch der Vernunft „gleichgültig zu sein" (V 61). Das genuin vernünftige oder autonome Selbstverständnis des Menschen ist deshalb der Standpunkt einer nicht länger bloß instrumentell verstandenen Vernunft. Der Mensch folgt hier dem, „was Vernunft für sich selbst sagt" (V 61), indem er sich darauf besinnt, dass er den primären Standpunkt der natürlichen Selbsterhaltung zugunsten einer ganz anderen Selbsterhaltung verlassen kann, die
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Kant sehr prägnant als „moralische Selbsterhaltung" (VI 419) bestimmt. Diesen Standpunkt nimmt der Mensch aber ein, wenn er nicht dem sinnlich bestimmten Interesse der natürlichen Selbsterhaltung folgt, sondern dem genuinen Vernunftinteresse einer moralischen Selbsterhaltung, die Kant deshalb auch geradezu als „Selbsterhaltung der Vernunft" (VIII147 Anm.) bezeichnen kann. Von einem Standpunkt aus, auf dem sich der Mensch in seinem Menschsein, das mehr ist als Natur, richtig versteht, erscheint also die isoliert betrachtete Natur und das natürliche Leben als dasjenige, was keinen Wert aus sich selbst hat. So heißt es bei Kant in der Kritik der Urteilskraft einmal ganz deutlich: „Was das Leben für uns für einen Werth habe, wenn dieser bloß nach dem geschätzt wird, was man genießt (dem natürlichen Zweck der Summe aller Neigungen, der Glückseligkeit), ist leicht zu entscheiden. Er sinkt unter Null" (V 434 Anm.). Der Mensch kommt also erst dort zum Bewusstsein seiner selbst, wo er seinen primären Standpunkt der natürlichen Selbsterhaltung zugunsten eines anderen Standpunkts wechselt, der es erlaubt, dem Menschsein einen unbedingten Wert (die Würde der Person) zuzuschreiben. Die exemplarische Darstellung eines solchen Standpunkt-Wechsels findet sich in der Kritik der Urteilskraft dort, wo Kant das eigentümliche „Lustgefühl" erörtert, das wir ζ. B. „bei dem Anblicke himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer" (V 269) erfahren. Die „Unwiderstehlichkeit" der entfesselten Naturmacht - so Kant - gibt „uns, als Naturwesen betrachtet, zwar unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurtheilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann" (V 261, Hervorhebung: Α. H.). In der besonderen Erfahrung des Erhabenen „entdeckt" der Mensch also ein Vermögen, sich, wie Kant weiter sagt, von seiner primären „Sorge" um „Güter, Gesundheit und Leben" zu distanzieren (V 262). Das Unabhängigwerden vom vitalen Bedürfnis der natürlichen Selbsterhaltung führt auf eine „Selbsterhaltung von ganz anderer Art", da zwar das menschliche „Naturwesen" vor der natürlichen Übermacht unterliegen muss, wobei jedoch, so Kant, „die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt". Auf diese Weise „beurtheilt" die reflektierende Urteilskraft die primär „furchterregende" Natur in einem eigentümlichen Standpunkt-Wechsel „als erhaben". (V 261 f.) Die reflexive Umwertung aller Werte gegenüber der natürlichen Selbsterhaltung besteht deshalb Kant zufolge darin, „das, was nach der ersteren groß ist, als klein abzuwürdigen, und so das Schlechthin-Große nur in seiner (des Subjects) eigenen Bestimmung zu setzen" (V 269). Gelingt aber dieser Standpunkt-Wechsel von der natürlichen Selbsterhaltung zur Selbsterhaltung der Vernunft, dann
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vermag der Mensch im Gefühl des Erhabenen „die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung selbst über die Natur sich fühlbar [zu] machen" (V 262). Der Mensch als lebendes Naturwesen ist also bei Kant durch die primäre „Sorge" der Selbsterhaltung, der Mensch als Person hingegen durch eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art bestimmt. Der Übergang zwischen beiden „Bestimmungen des Menschen" wird aber durch den eigentümlichen Standpunkt-Wechsel ermöglicht, den die reflektierende Urteilskraft leistet. Sie „entdeckt" auf diese Weise in der konkreten Erfahrung des Erhabenen einen Rechtsgrund für Kants Forderung, die Vernunft nicht „bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen". Die reflektierende Urteilskraft ist deshalb bei Kant umgekehrt ein „Werkzeug der Vernunft und ihrer Ideen, als solches aber eine Macht, unsere Unabhängigkeit gegen die Natureinflüsse zu behaupten" (V 269). Kants ursprüngliche Einsicht in die Naturbasis der menschlichen Vernunft lässt sich demnach in den Satz fassen: Der Mensch hat grundsätzlich „zwei Standpunkte, daraus er sich selbst betrachten [...] kann, einmal, so fern e[r] zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind" (IV 452). Beide Standpunkte darf man aber nicht abstrakt gegeneinander ausspielen und dualistisch auseinanderreißen. Am Ende besteht deshalb für Kant die „unnachlaßliche Aufgabe" der Philosophie gerade darin, nicht bloß zu zeigen, dass der empirische und intelligible Standpunkt „gar wohl beisammen stehen können, sondern auch, als nothwendig vereinigt, in demselben Subjekt gedacht werden müssen" (IV 456). Für diese eigentümliche, in sich differenzierte Einheit der naturbasierten Vernunft des Menschen ist aber nicht nur die ästhetische Grunderfahrung des Erhabenen, sondern mehr noch die ästhetische Grunderfahrung des Schönen aufschlussreich. Die Erfahrung des Schönen ist nämlich Kant zufolge allein dem Menschen vorbehalten, der zugleich Natur- und Vernunftwesen ist. Ein reines Naturwesen kennt nämlich - so Kant - nur das Wohlgefallen im Sinne des sinnlichen Genusses, also das Angenehme; ein reines Vernunftwesen hingegen kennt nur das rein intellektuelle Wohlgefallen des moralisch Guten. Allein der Mensch, der gleichermaßen das sinnlich Angenehme und das moralisch Gute kennt, kennt darüber hinaus noch eine eigentümliche Zwischenerfahrung, die seiner eigenen Zwischenstellung zwischen Natur und Vernunft genau entspricht: das Wohlgefallen am Schönen, das weder rein sinnlich noch rein intellektuell ist (vgl. V 219). Die Philosophie steht nach Kant genau deshalb zwischen Erde und Himmel, weil der Mensch selbst eine Zwischenstellung einnimmt zwischen einem reinem Naturwesen und einem reinem Vernunftwesen. Dabei ist freilich Kants Einsicht entscheidend, dass der Mensch nicht beides - Natur und Vernunft - im Sinne
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einer bloßen Addition ist, sondern im Sinne einer echten, allerdings in sich differenzierten Einheit, die ihm in ausgezeichneten moralischen und ästhetischen Erfahrungen auch als Einheit von Einheit und Differenz zugänglich ist.
III. Schopenhauer, der von sich selber gerne sagte, er sei der einzige wahre Kantianer, nimmt die vernünftige Distanzierung des Menschen von seiner bloßen Naturbasis von Kant auf und vereinfacht sie zugleich zu dem heroisch-tragischen Gegensatz eines optimistischen und pessimistischen Weltverständnisses. Hieran knüpft der junge Nietzsche an, wenn er in seiner frühen Tragödienschrift schreibt: „Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant 's und Schopenhauer 's ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist" (KSA 1, 118). Damit ist bereits der leitende Gedanke gekennzeichnet, mit dem der junge Nietzsche das Verhältnis von Natur und Vernunft zu fassen versucht. In der dritten „Unzeitgemäßen Betrachtung", in der Schopenhauer ein Denkmal als „Erzieher" zum richtigen Denken gesetzt wird, spricht Nietzsche in bewegten Worten von der Gefahr seines Zeitalters, das Verständnis des spezifischen Menschseins des Menschen im Zuge einer globalen Naturalisierung des Menschen zu verlieren. Und er fragt: „Wer wird nun, bei solchen Gefahren unserer Periode, der Menschlichkeit, dem unantastbaren heiligen Tempelschatze, welchen die verschiedensten Geschlechter allmählich angesammelt haben, seine Wächter- und Ritterdienste widmen? Wer wird das Bild des Menschen aufrichten, während Alle nur den selbstsüchtigen Wurm und die hündische Angst in sich fühlen und dergestalt von jenem Bilde abgefallen sind, hinab in's Thierische" (KSA 1, 368)? Die Differenz zwischen Natur und Vernunft wird hier also vor allem entlang der Differenz des Menschen zum Tier thematisiert. Man überlege wohl, so Nietzsche, „wo hört das Thier auf, wo fangt der Mensch an! Jener Mensch, an dem allein der Natur gelegen ist!". Diese Frage trennt für den frühen Nietzsche bereits das „gewöhnliche" Leben des Menschen von den heroischen Ausnahmezuständen. Denn so lange, jemand nach dem Leben wie nach einem Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Thieres hinausgehoben, nur dass er mit mehr Bewusstsein will, was das Thier im blinden Drange sucht. [...] Aber es giebt Augenblicke, wo wir dies begreifen-, dann zerreissen die Wolken, und wir sehen, wie wir sammt aller Natur uns zum Menschen hindrängen, als zu einem Etwas, das hoch über uns steht" (KSA 1,378). Für den frühen Nietzsche überragt dergestalt der Mensch als Mensch die natürliche Selbsterhaltung und das sinnliche
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Glückstreben der tierischen Existenz in einer so radikalen und heroischen Weise, dass nur wenige Menschen zum eigentlichen Menschsein fähig sind. Diese Heroen des Menschseins müssen sich deshalb die übrigen Menschen zum anleitenden Vorbild nehmen. Uns gelingt es nämlich in der Regel, so Nietzsche, „nicht mit eigner Kraft, dieses Auftauchen und Wachwerden für einen verschwindenden Augenblick, wir müssen gehoben werden - und wer sind die, welche uns heben? Das sind jene wahrhaften Menschen, jene Nicht-mehrThiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen" (KSA 1, 380). Der menschliche Standpunkt, wie ihn der frühe Nietzsche im Anschluss an Schopenhauer versteht, ist demnach in einem radikalen Sinne der Standpunkt des „Nicht-mehr-Tiers" - ein Standpunkt freilich, der nur wenigen Menschen aus eigener Kraft erreichbar ist, so dass diese zu den Ausnahme-Menschen werden, die das Menschsein dadurch erreichen, dass sie am natürlichen Leben leiden: ,£>er Schopenhauerische Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich, und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu fuhren der eigentliche Sinn des Lebens ist" (KSA 1, 371). Die „Umkehrung" des menschlichen Wesens im Angesicht des Leidens und der Sinnlosigkeit des natürlichen Lebens - das erinnert von Ferne an Kants Standpunkt· Wechsel von der natürlichen Selbsterhaltung zur Selbsterhaltung der Vernunft. Doch nimmt das vernünftige „Nicht-Mehr-Tier" bei Nietzsche offenkundig göttliche Züge an: es wird zum Erlöser der Natur. Mit dieser Vergöttlichung des heroischen Menschen gibt aber Nietzsche die Einsicht Kants in die Zwischenstellung der menschlichen Vernunft zwischen Erde und Himmel auf und ersetzt sie durch den krypto-theologischen Begriff des heroischen Genies. Diese Vergöttlichung des Menschen, so meine ich, ist und bleibt die Schwäche in Nietzsches Denken, die der spätere Nietzsche allein durch eine allzu direkte Negation, d.h. durch eine strikte Naturalisierung des Menschen zu bekämpfen weiß.
IV. Damit ist der Hintergrund ausgeleuchtet, vor dem sich die eingangs angesprochene Wende zwischen der frühen und späteren Philosophie Nietzsches verstehen lässt; eine Wende, die sich - wie gesagt - sehr gut am Ende des Ersten Hauptstücks von Menschliches, Allzumenschliches beobachten lässt, und zwar beim Übergang vom vorletzten zum letzten Aphorismus. Denn der vorletzte Aphorismus, der die Überschrift „Der Irrthum über das Leben zum Leben nothwendig" trägt, nennt die eigentliche Beunruhigung beim Namen, auf die dann der bereits zitierte Schlussaphorismus „Zur Beruhigung" antwortet.
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Der vorletzte Aphorismus beginnt mit dem zentralen Gedanken, dass jeder „Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens [...] auf unreinem Denken" beruht. Der denkende Mensch könne sich, so Nietzsche, mit dem Leben nur aussöhnen, wenn er sich betrügt und den Blick auf ausgewählte Ausschnitte des Lebens und seltene Ausnahme-Menschen lenkt. Und nun folgt eine eigentümliche Betrachtung Nietzsches: „Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich Jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen [...]. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich [...] nicht in andere Wesen hineinfuhlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. Wer dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Lebens verzweifeln" (KSA 2, 52 f.). Der wahrhaftige und heroische Ausnahmemensch ist am Ende also ein Verzweifelnder, der sich über den völligen Unwert allen Lebens nur durch eine Inkonsequenz und Unreinheit des Denkens beruhigen kann. An diesen Befund knüpft nun der Schlussaphorismus „Zur Beruhigung" unmittelbar an, indem er am Anfang die Frage stellt: „wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben [...] feindlich?" (KSA 2, 53). Nietzsches beruhigende Antwort auf diese, eine tiefe Krise seines Denkens markierende Frage ist am Anfang meiner Überlegungen bereits angeführt worden. Jetzt, wo die Genealogie der Antwort deutlich geworden ist, wird jedoch erst ihre ganze Doppelbödigkeit verständlich. Nietzsches frühe, an Schopenhauer geschulte Verachtung des optimistischen Egoismus, der „den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen" prägt, verzweifelt an sich selbst, und Nietzsche unternimmt das erstaunliche Kunststück, die reflektierte ,Unnaivität' gegenüber dem Leben durch eine erneute Reflexion in eine zweite Naivität zu verwandeln, so dass man - ich wiederhole den zentralen Gedanken - „zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur" leben würde; man wäre dergestalt wieder die Emphase des Menschseins los „und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden". Nietzsches Schlussfolgerungen aus dieser Naturalisierung des Menschen sind bekannt und sollen hier nur kurz in Erinnerung gerufen werden. Der Mensch, der nur Natur und nicht mehr als Natur ist, „handelt immer gut". Wir klagen nämlich, so Nietzsche, „die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum nennen wir den schädigenden Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkürlich waltenden, freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum" (KSA Bd. 2, S. 99). Die Natur ist schuldlos, weil sie unfrei ist;
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der Mensch, der sich völlig in Natur zurückzunehmen weiß, gewinnt demnach auch eine zweite Unschuld, die er freilich mit dem Verzicht auf Freiheit und Verantwortung zu bezahlen hat. Im gleichen Sinne heißt es bei Nietzsche in jenem Teil der Götzen-Dämmerung, der die bezeichnende Überschrift „Moral als Widernatur" trägt: „Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten des Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten Art von Leben: die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht damit aufgeworfen. Man müsste eine Stellung ausserhalb des Lebens haben [...], um das Problem vom Werth des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für uns unzugängliches Problem ist" (KSA 6, 86). Für den späten Nietzsche ist es also aus prinzipiellen Gründen unmöglich, über den Wert des Lebens philosophisch nachzudenken, weil der Mensch selbst nichts anderes als Natur oder Leben ist, so dass ihm ein zweiter Standpunkt fehlt, von dem aus er das Leben als solches in den Blick nehmen könnte. Diesem Argument ist allerdings der elementare, an Kant geschulte Gedanke entgegenzuhalten, dass die - auch beim späten Nietzsche ständig begegnende - bewusste Thematisierung des Lebens als Leben genau jenen Standpunkt außerhalb des Lebens impliziert, den Nietzsche in Abrede stellt. Die menschliche Vernunft kann sich nämlich nur deshalb auf einen objektiven Wirklichkeitsbereich erkennend beziehen, weil sie zwar an dieser Wirklichkeit teilhat, aber nicht völlig in ihm aufgeht. Oder anders gewendet: die bewusste Absicht, nichts anderes als Natur zu sein und ganz im Leben aufzugehen, ist ein untrüglicher Beweis dafür, dass das unglückliche Bewusstsein, das solche Wünsche hat, mehr ist als Natur und die Anstachelung des Gedankens zwar immer wieder beruhigen, aber nicht eliminieren kann.
V. Ich komme zum Schluss. Thomas Mann, der ein sehr guter Kenner Schopenhauers wie Nietzsches war, wendet sich sehr entschieden gegen den, wie er sagt, „ästhetizistischen Renaissance-Nietzscheanismus" seiner eigenen Gegenwart, den er für ein völliges Missverständnis Nietzsches hält. Dieser modische Nietzscheanismus verstehe nämlich Nietzsche allzu einfach, indem er ihn wörtlich verstehe. Dadurch ist es aber nicht Nietzsche, was diese Nietzscheaner vor Augen hatten, „sondern das Wunschbild seiner Selbstverneinung f...]. Sie glaubten ihm einfaltig den Namen des ,Immoralisten', den er sich beigelegt: sie sahen nicht, daß dieser Abkömmling protestantischer Geistlicher der reizbarste Moralist, der je lebte, ein Moralbesessener, der Bruder Pascals gewesen war".3 Ich glaube, dass
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Thomas Mann hier etwas Wesentliches bei Nietzsche erkannt hat und möchte diesen Punkt am Ende eigens herausheben. Die Emphase Nietzsches hat immer etwas Exaltiertes und Haltloses an sich; genau deshalb neigt diese Emphase aber beim späteren Nietzsche dazu, sich gegen sich selbst, d.h. gegen die moralische Emphase der frühen Philosophie zu wenden, um nun diese Emphase - emphatisch - los zu werden. Eine solche Vernunft- und Moralkritik darf aber nicht buchstäblich genommen werden, weil sie sich selbst aus einer verborgenen Moral speist. So schreibt Nietzsche selbst in der Morgenröte, das Buch stelle in der Tat einen Widerspruch dar und furchte sich nicht davor: „in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt - warum doch? Aus MoralitätV (KSA 3, 15 f.) Deshalb geht Nietzsches Denken am Ende in der emphatisch verkündeten Naturalisierung der Vernunft nicht auf. Es gibt bei ihm auch bedeutende Gegenmotive, die sich - wie der hier entwickelte systematische Zusammenhang sichtbar werden lässt - mit den Grundmotiven des Kantischen Denkens treffen. Man wird Nietzsche deshalb nicht gerecht, wenn man seinen emphatischen Naturalismus einfach beim Wort nimmt, weil man ihn dann zu einer Gestalt und zu einem Protagonisten jener „Selbstverkleinerung" (KSA 5, 404) des Menschen machen müsste, die er selbst kritisch als Tendenz des modernen Denkens beschreibt. Um dergestalt Nietzsche gegen Nietzsche zu retten, ist aber - wie mein Vortrag zeigen wollte - der Blick auf Kant immer wieder hilfreich. Mit Kant lässt sich das richtig verstandene Verhältnis der Vernunft zu ihrer Naturbasis anschließend mit der Metapher des Zyklopen beschreiben (vgl. XV. 1 395 f., Refl. 903). Die Einäugigkeit des mächtigen Zyklopen verfehlt, so Kant, das spezifisch Humane des Menschen, weil sich dieses erst in der Doppelheit der Perspektive auf ein und dieselbe Wirklichkeit bildet. Denn nur ein Wesen, das weder auf dem natürlichen Auge der Sinnlichkeit noch auf dem vernünftigen Auge der Freiheit blind ist, vermag die Tiefendimension der Wirklichkeit und die Tiefendimension seiner selbst zu erkennen. Die irreduzible Naturbasis der menschlichen Vernunft ist deshalb keine Einschränkung, sondern eine Vertiefung der Vernunft.
Anmerkungen Vgl. hierzu vom Verfasser: Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg: Meiner 2003. Kant wird in der üblichen Weise nach den Bänden der Akademieausgabe zitiert, die Kritik der reinen Vernunft hingegen nach der Originalausgabe der ersten (A) und zweiten Auflage (B). Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1. Aufl.: Berlin 1918), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2001, S. 543 f.
Peter Andre Bloch
Von den Beobachtungen sich beobachtender Beobachter Kants und Nietzsches Entwurf des Individuums
Das Individuum als philosophischer Entwurf Es ist unbestritten, dass Kants Philosophie Nietzsches Schaffen in hohem Maße beeinflusste. Er bezog sich auf sie teilweise anerkennend, meist aber kritisch. Beiden ging es um den programmatischen Entwurf eines selbstverantwortlichen Individuums, in Auseinandersetzung mit den restriktiven Vorstellungen ihrer jeweiligen Zeit; beide versuchten, die Voraussetzungen eines unabhängigen und gleichzeitig verbindlichen Denkens zu klären, im Glauben an die schöpferischen Kräfte des Menschen. In ihrem Denken und in der Art, wie sie dem Leser gegenüber auftraten, verfolgten sie im Grunde aber andere Ziele: Während es Kant vor allem um die Überwindung metaphysischer Verblendung durch die menschliche Vernunft ging, setzte sich Nietzsche darüber hinaus für eine ganzheitliche, individualistische Selbstverwirklichung ein. Kants Objektivierungsversuche im Zeichen des Fortschritts der Vernunft interessierten Nietzsche weniger als das Hinterfragen von Erscheinungen der Dekadenz und das Infragestellen vermeintlich „objektiver" Wahrnehmungen im Spannungsfeld von Moral und Konvention, von Selbst-Befreiung und Selbst-Verlust. Nietzsche beteiligte sich an Kants Kampf gegen metaphysische und theologische Vorurteile im europäischen Denken, blieb dabei aber nicht stehen; denn ihn faszinierte der Gedanke der Veränderung mit seinen ethischen und ästhetischen Konsequenzen: „Seitdem Schopenhauer uns die Binde des Optimismus vom Auge genommen, sieht man schärfer. Das Leben ist interessanter, wenn auch häßlicher". 1 Er beschäftigte sich mit den Erscheinungsformen der Dinge, las unter diesem Aspekt Kants Kritik der Urteilskraft und setzte sich intensiv mit Kuno Fischers Geschichte der neueren Philosophen auseinander, vor allem mit den Bänden 3 und 4: Immanuel Kant. Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie (1860), wie auch mit Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus (1866). Vorübergehend fasste er den Plan einer
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Dissertation mit dem „halb philosophischen, halb naturwissenschaftlichen" Thema Zur Teleologie oder Zum Begriff des Organischen seit Kant ins Auge. Sowohl Kant als auch Nietzsche verstanden sich als Erzieher; beiden ging es um Selbstverantwortung, menschliche Würde, Vollkommenheit; um die möglichst umfassende Ergründung eines Lebenssinns, in einer Welt diesseits von Metaphysik und den von ihr abhängigen, theologisch oder religiös-kirchlich begründeten Normen. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass beide unter diesen Begriffen dasselbe verstehen. Man würde das Spannungsverhältnis ihrer Argumentationen missverstehen, wenn man den unterschiedlichen Zielrichtungen nicht Rechnung trüge, die ganz unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Mustern folgen und daher auch andere Maßstäbe zur Beurteilung erfordern. Kant schreibt meisterhafte philosophische Abhandlungen über die Emanzipation des Menschen durch die Anstrengung des Selbstdenkens. Mit den Mitteln der Vernunft schafft er sich ein logisches Beziehungsgefüge, dem sich sowohl geistige Prinzipien als auch materielle Erscheinungen einordnen. Nietzsche stellt die allgemeine Verbindlichkeit einer normativ gewordenen Vernünftigkeit für das eigenschöpferische Individuum in Frage, weil für ihn Erkenntnis nicht eine gleichsam statische Objektivität besitzt, sondern als glückhaft-kreativer Ausgleich sinnlicher und geistiger Spannungen gelingt. Zur Darstellung ihrer Weltsicht entwickelten beide ein eigenes Instrumentarium mit klar unterschiedenen sprachlichen Klaviaturen. Beide strebten eine möglichst große Übersichtlichkeit ihrer Gedanken an, der eine im Versuch einer begrifflichen Systematisierung, der andere in der gleichnishaft-künstlerischen Skizzierung experimenteller Denkprozesse von geradezu labyrinthischer Ambivalenz. Da die von Kant wie von Nietzsche entwickelten Gedankengebäude sich nicht mehr von Glaubenssätzen und metaphysischen Offenbarungen herleiten, sondern ganz auf dem Subjekt des Erkennens, dem menschlichen Geist, beruhen, steht im Zentrum ihres Interesses das Ich in seinen Erscheinungsformen. Ihr Umgang mit dem Ich als Instanz gewinnt für die Vermittlung ihrer Gedankengänge entscheidende Bedeutung. Sowohl Kant als auch Nietzsche entwickeln eigene Darstellungsformen, um das Ich in der ganzen Vielfalt seiner Möglichkeiten zu erfassen und zu entwerfen: in der Spannung zwischen Körper und Geist, Instinkt und Denkvermögen, Charakter und Erziehung, Erfahrung und Willenskraft, geprägt von Anlagen und Eigenheiten, die seine Entscheidungen mitbestimmen.
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Peter Andre Bloch
„Ich" und „Wir" in Kants Argumentation Es ist interessant, Kants Methoden der Textverfertigung nachzugehen, um anhand des Sprachgebrauchs und der Art, wie er sein Begriffssystem entfaltet, seine Darstellungsformen zu verstehen: aufweiche Weise er seine Erkenntnisse vermittelt und auf das Verständnis des Lesers oder Zuhörers hin verdeutlicht. Als erstes Beispiel wähle ich aus der Kritik der reinen Vernunft den Anfang des zweiten Abschnitts des Kanons der reinen Vernunft: „Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrund des letzten Zwecks der reinen Vernunft". „Die Vernunft führte uns in ihrem spekulativen Gebrauche durch das Feld der Erfahrungen, und, weil daselbst für sie niemals völlige Befriedigung anzutreffen ist, von da zu spekulativen Ideen, die uns aber am Ende wiederum auf Erfahrung zurückführten und also ihre Absicht auf eine zwar nützliche, aber unserer Erwartung gar nicht gemäße Art erfüllten. Nun bleibt uns noch ein Versuch übrig: ob nämlich auch reine Vernunft im praktischen Gebrauch anzutreffen sei, ob sie in demselben zu den Ideen führe, welche die höchsten Zwecke der reinen Vernunft, die wir eben angeführt haben, erreichen, und diese also aus dem Gesichtspunkte ihres praktischen Interesses nicht dasjenige gewähren könne, was sie uns in Ansehung des spekulativen ganz und gar abschlägt."
(A 804/B 832) Der Text erweckt den Anschein eines überarbeiteten Vorlesungsmanuskripts, das die im Laufe der Zeit entworfenen, ergänzten und differenzierten Gedanken des dozierenden Ichs festhält, unter Bezugnahme auf das bereits Ausgeführte und in der fortgesetzten Reflexion der bisher erreichten Ergebnisse. Der direkte Kontakt mit dem Zuhörer bzw. Leser verleiht den Ausführungen eine gewisse Frische und Unmittelbarkeit, trotz des ausgeprägt pädagogisch-didaktischen Bemühens um bestmögliche Explikation der unentwegt sich entwickelnden Gedankenreihen. Kant schreibt aus der Perspektive eines gemeinsamen Erkenntnisvorgangs, der ihn mit seinen Lesern verbindet. Im Präteritum der Erinnerung bringt er ein gleichsam über allem stehendes denkerisches Bewusstsein zur Sprache, das sich in seiner Betroffenheit als „Ich" mit den mitdenkenden Zuhörern identifiziert, folglich „wir" sagen kann, auf diese Weise auch das „Du" mit umfassend. „Die Vernunft" hat „uns" Erfahrungen vermittelt, welche zwar nützlich waren, unsere Erwartungen aber enttäuschten und nun neue Ansätze erfordern, um das Ziel dennoch zu erreichen. Dieser Gedanke wird nicht nur dank einer festen Begrifflichkeit objektiviert, sondern in einem sich steigernden, innertextlichen Spannungsfeld von Haupt- und Nebensätzen entwickelt. Der gedankliche Prozess spiegelt sich in der Syntax wieder, begleitet von unzähligen kleinen Sprachpartikeln („weil", „daselbst", „von da" usw.), die den Bereich der Begründungen im Sinne eines syntaktischen wie semantischen Ordnungssystems von Gleichsetzung, Über- und
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Unterordnung, Voraussetzung und Folge, deutlich werden lassen. Bestimmte Fragestellungen bewegen sich nicht mehr im Bereich des generalisierenden „Wir", sondern sind pointiert auf ein „Individual-Ich" bezogen, formuliert von einem den Gedankenablauf beobachtenden und in seinen Konsequenzen auf einen Nenner bringenden Selbst, in welchem sich alle Positionen vereinen, so dass das „mein" in „meiner Vernunft" sowohl die schreibende Ich-Instanz als auch die betroffene Mich-Position enthält und in der Vorstellung des Lesers oder Zuhörers auch den sich damit identifizierenden Standort des sich suchenden - ich-sagenden - Individuums meint: „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf
ich hoffen(A 805/B 833) Um diese Fragen zu beantworten, muss das schreibende Ich eine weitere Darstellungsebene einfuhren. Es ist die der Ich-Kommentare, die in Parenthesen stehen und den ganzen Ablauf von der persönlichen Warte des Schreibenden aus beurteilen und erklären: „wie ich mir schmeichle". In ihnen scheint sich das Ich selbst dreinzureden, um Sachverhalte zu verdeutlichen oder Missverständnisse zu verhindern. Jeder Gedankenschritt wird daraufhin nochmals von allen Seiten evaluiert und in seiner Stichhaltigkeit und Verbindlichkeit auf der Ebene des generalisierenden „uns" diskutiert, zum Beispiel: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen" (A 806/B 834), dann wieder mit dem schreibenden Ich verbunden, das die Wünsche und Erfahrungen einer experimentellen Ich-Instanz ständig beobachtend bewertet. Kant gibt sich und seinem Leser bzw. Zuhörer vorab Rechenschaft über sein gedankliches Vorgehen; er bestimmt die Bedeutungsebenen seiner Argumentationen und untersucht die Gültigkeit der einzelnen Begriffe im allgemein-systematischen und empirisch-praktischen Zusammenhang. Seine Darstellungspraxis ist von außerordentlicher Transparenz und von einer gleichzeitig abstrakten wie anschaulichen Sprachkörperlichkeit. Er versucht seine Gedankengänge sorgfältig zu entwickeln, im steten Rückgriff auf das bereits Gesagte und das Intendierte; das Feststehende und das noch zu Entwickelnde. Nichts überlässt er dem Zufall, sondern stützt seine Darlegungen mit allen möglichen - differenzierenden und jede Unsicherheit ausschließenden - sprachlichen Mitteln von größter Fasslichkeit und schlüssiger Argumentationskraft, so dass sein Text auf jeder Stufe nach allen Seiten hin offen, spiegelklar verständlich und selbstkritisch wirkt. Während sich im Vordergrund behutsam Gedanke an Gedanke reiht, bleibt im Hintergrund die logische Grundstruktur als Beziehungsgefüge sichtbar. Die Ausführungen sind auf das begründete Ideal gerichtet: auf die Glückseligkeit und erfüllte Hoffnungen in freiheitlicher Sittlichkeit. Kant glaubt an die Wirksamkeit des Sittengesetzes, das sich im Willen des Menschen durchsetzen und
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damit praktisch-objektive Realität werden kann. Diesem Gedanken versucht er eine gleichsam endgültige Schlüssigkeit zu verleihen. Wenn sein Nachdenken in die Formulierung einer Verhaltensregel mündet, fallt es gern in einen geradezu formelhaften Sprach-Gestus, der sich an das fragende Gegenüber wendet. Dieses wird nun zum angesprochenen Du, an welches sich der hervorgehobene und zu großer Einfachheit gelangte Text wie ein gesprochenes Wort sentenzenhaft richtet: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein." (A 808f / Β 836f) Die Absolutheit dieser zum Gesetz erhobenen Einsicht wird am Schluss nochmals hinterfragt und auf die Richtigkeit des dahinter stehenden Netzes von Gründen hin überprüft. Dabei vereinigen sich alle früher bereits erwogenen Positionen in der Überzeugung des überlegen argumentierenden Ichs, dass die Systeme der Sittlichkeit und der Glückseligkeit, im Praktischen wie im Theoretischen, untrennbar in der Idee der reinen Vernunft verbunden seien: „Ich sage demnach: daß ebensowohl, als die moralischen Prinzipien nach der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche notwendig sind, ebenso notwendig sei es auch nach der Vernunft, in ihrem theoretischen Gebrauch anzunehmen, daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, und daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei."
(A 809/B 837) Auffallig ist die Schlichtheit nicht nur im Argumentativen, sondern auch im Semantischen: es wiederholen sich die eingeführten Begriffe und Systembezüge, dieselben Positionen und kritischen Einwände, mit dem Ziel der Zementierung des vernünftig Erschlossenen. Gemäß Kants Glauben an die Vernunft entsprechen sich Bewusstsein und Erfahrung. Wie aber, wenn sich das Bewusstsein mit den Mächten des Unbewussten vermischt und der Mensch der Kraft des eigenen Willens unsicher wird oder ihrer gar verlustig geht?
Kants Konzept des Künstlertums Das zweite Beispiel ist Kants Kritik der Urteilskraft entnommen; es handelt sich um den Beginn von § 46: „Schöne Kunst ist Kunst des Genies" (AA V, S. 307 f.). Hier liegt ein anderer Sprachduktus vor, der sich methodisch nicht an der Uberzeugung eines schreibenden oder sprechenden Ichs orientiert, sondern einen objektiv vorhandenen Sachverhalt darzustellen sucht, in der Art einer gelehrten Abhandlung. Es werden im ersten Abschnitt die entscheidenden Kriterien für ein Kunstwerk festgelegt: Das schöpferische „Genie" lässt dank seines „Talents" Regeln entstehen. Die Phantasie - als eine „angeborne Gemüthsanlage" - gibt
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der Kunst ihre naturhaften Gesetze. Für Kant kann ein wirkliches Kunstwerk keine fremde, künstlich vorgegebene Form übernehmen; es wurzelt von Grund auf in der schöpferischen Phantasie des Kunstschaffenden. Im zweiten Abschnitt versucht Kant seine Darlegung insofern zu präzisieren, als er ihre Geltung auf den Bereich der „schönen Künste" beschränkt, in denen allein die schaffende Kraft des Genies spürbar ist. Kunst kann sich nicht selbst herstellen; ihre Schönheit gründet allein im Naturvermögen, d.h. in der „angebornen" Gestaltungskraft des Kunstschaffenden. Im vierten Abschnitt werden - in der Art eines in Parenthese formulierten Kommentars - die Merkmale wahrer Kunstwerke nochmals genannt: sie zeichnen sich aus durch Originalität; ihre Musterhaftigkeit ist keine Folge von Nachahmung, sondern beruht einzig und allein auf den natürlichen Fähigkeiten des Originalgenies. Im Grunde sagt Kant mehrmals dasselbe, setzt sich aber jedes Mal mit anderen ästhetischen Vorstellungen, in immer wortreicheren, syntaktisch zunehmend komplexeren Argumentationen auseinander. Geht es anfanglich um einfache Feststellungen und Begriffsvariationen, so richtet sich seine Argumentation zunehmend gegen mögliche Einwände, in Deduktionen, die beharrlich am Nexus von schöpferischer Originalität und natürlicher Schönheit festhalten und jede andere Auffassung als systemfremd ausschließen. Im Zentrum steht axiomhaft die These des in sich schönen, von Nachahmung freien, originalen Kunstwerks, dessen Entstehung wie ein Naturwunder erscheint, aufgrund des Zusammenklangs des Genies (d.h. der außerordentlichen Begabung eines Menschen) mit den ihm von der Natur vermittelten, vernunftgemäßen Regeln der Schöpfung. Gelegentlich mag einem die immer wieder aufgenommene Diskussion unter immer anderen Aspekten, aber mit immer denselben Argumenten als Begriffsschieberei erscheinen, als ein im Grunde von vornherein entschiedenes Spiel mit vorgegebenen, jede andere Auffassung ausscheidenden Prinzipien. Es geht Kant um den mit jedem großen Kunstwerk erbrachten Nachweis, dass weder die überlieferten Traditionen noch rhetorische Vorbilder, weder akademische noch wissenschaftliche Vorstellungen über die Qualität von Kunst entscheiden, sondern einzig und allein die naturgegebene Stimmigkeit von Inhalt und Form, die auf der „angeborenen" Kreativität des genialen Künstler-Ichs beruht. Kants persönliche Überzeugung will sich nicht als subjektive Meinung darbieten, sondern einen allgemein als wahr erkannten Sachverhalt vorstellen. Der Text wirkt durch die Abwesenheit eines argumentierenden Ichs vielleicht verbindlicher als der zuerst behandelte, aber zugleich statischer. Das subjektive Ich hat sich zur wissenden Instanz veräußerlicht, dem es allein um die möglichst sachhaltige und schlüssige Darstellung eines Konzepts von Kunst geht, die in ihrer Harmonie und Vollendung das von Kant vertretene harmonische Weltbild
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repräsentiert. Seine Argumentation beruht auf der Überzeugung einer ästhetischen Grundharmonie, die in der genialischen Schöpferkraft aufscheint und im Betrachter ein unvermitteltes Wohlgefallen auslöst. Wenn alles harmonisch auf dem Gegebenen aufbaut, wo bleibt dann aber der Widerspruch - die Erfindung als Gegenentwurf zur bloßen Vernünftigkeit, Chaos und Traum als Voraussetzungen, um neue Dimensionen zu erschließen?
Nietzsches früher Versuch eines beschreibenden Selbstentwurfs Trotz dieses Einwands wirkt Kants Plädoyer fur den unabhängigen, innovativen, eigenschöpferischen Künstler im Grunde wie eine engagierte Ankündigung des von Nietzsche vertretenen Künstlertums. Dieser hat denn auch Kants ästhetische Schriften mit Interesse gelesen und auf der Grundlage von Schopenhauers Philosophie weiterentwickelt, anfänglich vielleicht eher im Sinne einer selbstvergewissernden Anverwandlung, schließlich aber auch visionär und oft kämpferisch-polemisch. Auch Nietzsche suchte nach den Leitprinzipien der Weltordnung, auch er glaubte an die Freiheit des Menschen; seine Ansichten wirken indessen differenzierter und poetischer. Denn für ihn ist der Mensch nicht nur ein vernünftiges, sondern auch ein sinnliches, nicht nur ein seiner selbst bewusstes, sondern ebenfalls ein medial-ekstatisches Wesen, voller Eingebungen und visionärer Einsichten - wie es freilich Kants Konzept des Originalgenies zum Teil bereits entwirft. Die Selbstbeobachtungen des jungen Nietzsche haben freilich einen ganz anderen Hintergrund. Schon früh war ihm meditative Gewissenserforschung als religiös-pietistische Übung anerzogen worden. Mit knapp vierzehn Jahren verfasste er in einem 138 Seiten umfassenden Oktavheft seinen ersten umfangreichen Text Aus meinem Leben (1858)2, in dem er mit akribischer Zuverlässigkeit alles notierte, was ihm für seine Selbstentfaltung und den dahinter stehenden Lebenssinn entscheidend schien. Dazu entwickelte er mit naiver Selbstverständlichkeit ein interessantes - mehrschichtiges, wenn auch konventionelles - Darstellungskonzept. Aus der schreibenden Gegenwart heraus setzte er als Erzählinstanz sein sich erinnerndes Ich, das über die Möglichkeiten und Grenzen von Erinnerung und deren Darstellung nachdenkt. Andererseits bezieht er sich auf die Ebene eigener Erfahrung und der Strukturen des zum Erzählobjekt gewordenen Ichs. Diese versucht er möglichst genau zu erfassen und nachzuzeichnen, in subjektiver Erinnerung zwar, aber in sachlicher Auseinandersetzung mit den an ihn herangetragenen Prinzipien der Außenwelt und ihren prägenden - familiären, sozialen, religiös-philosophischen - Implikationen:
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„Wenn man erwachsen ist, pflegt man sich gewöhnlich nur noch der hervorragendsten Punkte aus der frühesten Kindheit zu erinnern. Zwar bin ich noch nicht erwachsen, habe kaum die Jahre der Kindheit und Knabenzeit hinter mir, und doch ist mir schon so vieles aus meinem Gedächtnis entschwunden und das Wenige, was ich davon weiß, hat sich wahrscheinlich nur durch Tradition erhalten. Die Reihen Jahre fliegen an meinem Blicke gleich einem verworrenen Traume vorüber. Deshalb ist es mir unmöglich, mich in den ersten zehn Jahren meines Leben an Daten zu binden. Dennoch steht Einiges hell und lebhaft vor meiner Seele und dieses will ich, vereint mit Dunkel und Düster, zu einem Gemälde verbinden. Ist es doch immer lehrreich, die allmählige Bildung des Verstandes und Herzens und hiebei die allmächtige Leitung Gottes zu betrachten !" 3
Beim schreibenden Ich und beschriebenen Mich handelt es sich wohl um dieselbe Person; doch während die eine sich von der Vergangenheit auf die Gegenwart zu bewegt, erinnert sich die andere von der Gegenwart aus in die Vergangenheit zurück, nimmt also eine grundsätzlich andere Haltung ein: nicht mehr diejenige der naiven Erfahrung, sondern die der durch zeitliche Distanz und das angereicherte Erfahrungswissen geschaffenen Möglichkeit des Verstehens und Analysierens, des kritischen Beobachtens und erklärenden Beurteilens. Im Sinne einer existentiellen Selbstrechtfertigung entspricht die Niederschrift sowohl dem subjektiven wie auch objektiven Anspruch auf Wahrheit: je umfassender die Selbstbefragung, umso verbindlicher die Einsichten; und je allgemeiner die dargestellten Positionen, desto überzeugender und zwingender ihre Aussagekraft. Am Schluss unterstreicht das Verfasser-Ich die Authentizität seiner Angaben, bittet um Verständnis für formale Unvollkommenheiten, freut sich auf die Fortsetzung seines Lebensspiegels und versucht schließlich, einer möglichen Leserschaft den Sinn seines Schreibens zu erklären; dieser liege allein in der dadurch zu erlangenden Kenntnis seiner selbst: Nur wer sich selbst kenne und auf seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen selbst befrage, könne für sein Tun und Denken die Verantwortung übernehmen: Ein Spiegel ist das Leben, In ihm sich zu erkennen, Möcht' ich das erste nennen, Wonach wir nur auch streben. !! 4
In diesem Sinne wandelt sich das allgemein verbindliche, reflexive Personalpronomen „sich" zum selbstverantwortlich seinen eigenen Willen formulierenden „Ich", um im Namen des gemeinschaftlichen „Wir" den Willen zur kreativen Selbstsetzung zu postulieren, in dem sich schließlich das schreibende und das beschriebene, das sich erinnernde und das erinnerte Ich im schöpferischen Moment, am Kreuzweg der Zeiten, vereinen.
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Lebenssinn und Wahrheit Hatte Nietzsche in Röcken und Naumburg den Kreis der Familie und der Freunde im Zeichen pietistischer Frömmigkeit, gefühlsmäßiger Verbundenheit und gehorsamen Strebens erfahren, so öffnete sich ihm im Gymnasium von Schulpforta der Geist der Bildungsgläubigkeit, in enger Verbindung der heimatlichen Traditionen mit der Antike - und zunehmend unter dem Aspekt eines in der Moderne immer deutlicher werdenden Appells zur rückhaltlosen Wahrhaftigkeit. Dadurch verschob sich seine ursprüngliche Absicht, Theologe zu werden, immer mehr in die Richtung eines kritischen Fragens: vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit unvoreingenommener Erkenntnisse in Philosophie und Philologie. Er setzte sich an den Universitäten Bonn und Leipzig mit den antiken Philosophen auseinander und besuchte kunstgeschichtliche wie philosophische Vorlesungen. In diese erfüllte Zeit des Umbruchs und der Selbstsuche fallt seine beginnende Wagner-Begeisterung, im Vorfeld dazu seine intensive Beschäftigung mit Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, dessen Thematik - wie er selbst beschreibt - mitten in seine eigene Lebensproblematik traf: „Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüth in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interesselose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. Das Bedürfniß nach Selbsterkenntniß, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam; Zeugen jenes Umschwunges sind mir noch jetzt die unruhigen, schwermüthigen Tagebuchblätter jener Zeit mit ihren nutzlosen Selbstanklagen und ihrem verzweifelten Aufschauen zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns. Indem ich alle meine Eigenschaften und Bestrebungen vor das Forum einer düsteren Selbstverachtung zog, war ich bitter ungerecht und zügellos in dem gegen mich selbst gerichteten Haß. [...] Eine nervöse Aufgeregtheit bemächtigte sich meiner und wer weiß bis zu welchem Grade von Thorheit ich vorgeschitten wäre, wenn nicht die Lockungen des Lebens, die Eitelkeit und der Zwang zu regelmäßigen Studien dagegen gewirkt hätten." 5
Was Nietzsche an Schopenhauer faszinierte, war die Verknüpfung der äußeren und inneren Erfahrungen, auch die Einsicht in die Unendlichkeit des Willens und das Wissen um die Grenzen menschlicher Erfüllung. Die Möglichkeit eigenen künstlerischen und denkerischen Schaffens als Lebenszweck schien vor diesem Hintergrund auf. Dazu gesellte sich in Schopenhauers Kant-Nachfolge die konsequente Abwendung von einer theozentrischen Weltsicht, die Konzentration auf die immanenten Möglichkeiten des menschlichen Willens und der Verzicht auf Metaphysik.
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Unter Schopenhauers Einfluss6 wurde Nietzsche nicht nur zum philosophierenden Philologen, sondern auch zum Pädagogen, der den jungen Menschen unbedingt zu sich selbst und damit auf die Zukunft hin erziehen wollte. Mit diesem Ziel kämpfte er in Basel als Professor für neue Unterrichtsformen, gegen die Dominanz der historischen Disziplinen, die den Blick des Studenten ständig auf die Vergangenheit lenken und dadurch seine Entwicklung lähmen. In seinen Unzeitgemässen Betrachtungen denunzierte er die Institutionen von Staat, Kirche und Universität, die eine Zivilisation bloßer Reproduktion von bereits Bekanntem stützten und damit eine neue Kultur der Kreativität verhinderten. Seine Ausdrucksmittel wurden die satirische Streitschrift, der argumentierendphilosophische Essay, die kritische Analyse, die programmatische Denunzierung des Bildungsphilistertums im Namen des Schöpferischen, der Aufruf zum Risiko des Abenteuers und Außer-Sich-Seins. Dass es zu Spannungen kommen musste zwischen den universitären Verpflichtungen, deren Normen und einengenden Zwängen einerseits, und Nietzsches poetisch-innovativem Vermögen andererseits lag auf der Hand. Nietzsche dachte an eine geistige Erneuerung Europas durch ein neues Kulturbewusstsein, im Dienste von Wahrheit und Kreativität, in Zusammenarbeit mit seinen Freunden, zu denen er auch Richard und Cosima Wagner zählte.7 Zu diesem Zweck legte er Geld beiseite, um mit Freunden zusammen ein Kloster fur freie Geister zu gründen - nach der Aufgabe seiner Universitätstätigkeit, an deren Wahrhaftigkeit er nicht mehr glaubte.
Columbus als Metapher für den Aufbruch zu sich selbst Columbus wurde für Nietzsche zum Leitbild: als Entdecker Amerikas, der seiner Sehnsucht gefolgt war, um allen Vorurteilen seiner Zeit entgegen seinen welthistorischen Auftrag zu erfüllen.8 An ihm entzündete sich seine Vision des Entdeckens neuer, durch die europäische zivilisatorische Entwicklung zum Teil verschütteter, zum Teil noch gar nicht entdeckter existentieller Dimensionen, von denen er sich angezogen fühlte - wissend, dass deren Aneignung nur unter Aufbietung aller Kräfte konzentrierter Imagination, in der (kritischen) Nachfolge Kants und Schopenhauers gelingen konnte. Er ließ die Kommoditäten einer bürgerlich-professoralen Existenz hinter sich, suchte die Stille der Einsamkeit, um sich dem Abenteuer des Suchens nach neuen Dimensionen auszusetzen. Eine neue Lebenshaltung lässt sich zum Beispiel in seinem Gedicht Nach neuen Meeren und in dessen Vorstufe, die er in einem Exemplar der Fröhlichen Wissenschaft aufnotierte, fassen:
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Nach neuen Meeren
Freundin! - sprach Columbus - traue Keinem Genuesen mehr ! Immer starrt er in das Blaue, Fernstes zieht ihn allzusehr !
Dorthin - will ich; und ich traue Mir fortan und meinem Griff. Offen liegt das Meer, in's Blaue Treibt mein Genueser Schiff.
Wen er liebt, den lockt er gerne Weit hinaus in Raum und Zeit - Über uns glänzt Stern bei Sterne, Um uns braust die Ewigkeit.
Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit - : Nur dein Auge - ungeheuer Blickt mich's an, Unendlichkeit!
(NF 1882-1884, 3 [4], KSA 10, S. 108)
(FW, Lieder des Prinzen Vogelfrei, KSA 3, S. 649)
Man beachte den Unterschied der beiden Fassungen. In der ersten ist Columbus explizit genannt, seine Freundin ansprechend, um sie vor seiner Sehnsucht zu warnen. Diese stellt er in ihrer ganzen magischen Kraft, im Durchbrechen der Grenzen von Raum und Zeit, dar, um schließlich in einer Art Naturekstase zu enden. Im Übergang zur endgültigen Fassung geht eine grundsätzliche Veränderung vor sich: Nietzsche beginnt als Ich in der Metapher selbst zu sprechen, mit der Stimme des Columbus, in dessen Rolle er schlüpft. Die Schiffahrtsmetaphorik steht für die Individuation des Menschen, der sich durch seinen Willen selber setzt; er formuliert sein Ziel, zu dem hin er sich aufgrund seines Könnens hinauswagt: in die Bereiche abenteuerlicher Selbsterfüllung. Als Bild für das Schicksal wählt Nietzsche die Chiffre des Meeres, durch welches die sichere Hand des Kapitäns das persönliche Lebensschifflein leitet. Dieses treibt zwar ins Blaue, Ungewisse; da es aber ein Genueser Schiff ist, kann das Ziel nur „die neue Welt" heißen. In der zweiten Strophe wird eine vollständige Gegenwärtigkeit erreicht, in deren gesteigertem Glanz sich Raum und Zeit gleichsam auflösen. Alles ist bis jetzt dem Willen des Ichs gefolgt, so dass die Gegenwart ganz dem „mir" zugewendet bleibt, sich alles magisch seiner Perspektive fügt. Im Sog dieses vollkommenen Willens erfolgt die Begegnung mit dem, was als ungeheures Gegenüber, als „Unendlichkeit" bezeichnet wird. Dieses macht das „Ich" zum Objekt seines Gegenblicks, in sich unbenennbar, nur in der Metapher des Auges fassbar. Columbus wird zum Gleichnis für die abenteuerliche Begegnung mit dem Unendlichen. Der Bewegung hinaus entspricht der Blick auf die Endlichkeit zurück. Das Ich erscheint wiederum - wie im kindlichen Selbstentwurf Aus meinem Leben - als Handlungsträger, als Instrument der Erfahrung und der Wahrnehmung, aber auch der geistig-sinnlichen Selbstsetzung im Wort. An die Stelle göttlicher Allmacht ist die Vorstellung des eigenen schicksalsbestimmenden Willens getreten.9
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Dimensionen des Persönlichen bei Kant und Nietzsche Affinitäten und Differenzen Nietzsche spricht zweifellos andere Dimensionen des Menschlichen und Persönlichen an als Kant, aber ohne dessen Setzung des kritisch-vernünftigen, individuellen Ichs mit seinem starken Willen zur Entfaltung hätte er das Gefüge der Welt in ihren Erscheinungen, Übergängen, Klängen, Nähen und Weiten, Begrenzungen und Entgrenzungen nicht so konsequent hinterfragt und so intensiv erfahren. In der Instrumentalisierung des Ichs als Medium des Wahrnehmens und künstlerischen Gestaltens ging er über Kants Vorstellungen weit hinaus, nicht aber über dessen Erwartungen, die er an die schöpferischen Kräfte des von den Zwängen der Metaphysik befreiten Menschen legte. Es wäre aber verfehlt, Nietzsches Schaffen, das stark in der Auseinandersetzung mit der Philosophie seiner Zeit gründet, nur an philosophischen Systemen und abstrakten Begrifflichkeiten zu messen, umso mehr als es ihm - in Abgrenzung von Kant - immer mehr bewusst wurde, dass es keine objektiven Maßstäbe mehr gebe. In Ecce homo hat er die ihn zunehmend beschäftigende Wahrnehmungsproblematik anhand des Maskenspiels verschiedener Ich-Möglichkeiten, in die er sich im Laufe seines Lebens begab, noch gleichsam psychiatrisch vertieft, im Sinne einer kritischen Hinterfragung der eigenen Identität, in ihrer unerhörten Begabung der Übernahme fremder Persönlichkeits- und Gedankenszenarien. Wer er eigentlich ist, sei nur aus dem Gewordensein zu erklären, durch das Bemühen, die „wahre Welt" zu suchen, im Durchbrechen von Tabus und lügenhafter Truggebilde. Deshalb sei er, Nietzsche, kaum zur Kenntnis genommen, sondern eher mit Vorurteilen behaftet worden, zum Schutz der Menschen vor der Wahrheit. Für ihn sei allein sein Werk von Bedeutung. Nun liege es in seiner Reife vor; doch es sei schwierig zu verstehen, aufgrund der ihm inhärenten Paradoxien und Antithesen, der Verkehrungen und Demaskierungen, d.h. des Verfahrens, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu sehen. Es spricht eine ungemeine Bewusstheit aus Nietzsches Zeilen, die sich fortwährend selbst, mit Blick auf immer neue Erfahrungsebenen hin relativiert, im dauernden Kampf, sich selbst in ihrer Verantwortlichkeit zu finden, ohne Verallgemeinerungen und Verkürzungen, auf der Suche nach dem vollkommenen Werk, das nur in der Reinheit ästhetischer Gestaltung und auf der Basis einer kritischen Überprüfung aller sprachlichen wie kompositorischen Mittel zu schaffen sei. Da er an die Freiheit des Denkens glaubte, beließ Nietzsche die Aussage seiner Werke in der Ambivalenz perspektivischer Annäherungen. Seine Thesen schlagen immer wieder in die zugehörigen Antithesen um; so treiben sie das Denken und Empfinden weiter, relativieren und dynamisieren es.
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Dass der Titel meiner Ausführungen an Friedrich Dürrenmatts Novelle in vierundzwanzig Sätzen Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter (Diogenes, September 1986) anspielt, ist kein Zufall. Mit Dürrenmatt habe ich oft über die Ordnungsprinzipien von Kants Vernünftigkeit, aber auch über das ihn störende Pathos Nietzsches gesprochen, über „seine Angriffe ins Leere", wie Dürrenmatt sagte, „ohne Humor und Distanz". Um Denkverkürzungen zuvorzukommen, verlieh Dürrenmatt seinen Figuren in den Spätdramen bewusst mehrere Identitäten. So entstand ein Verwirrspiel labyrinthischer Irreführungen. Nietzsche teilt - so wenig wie Kant - die Dürrenmattsche Überzeugung, in einem absurden Zeitalter zu leben. Vielmehr glaubte er, am Anfang einer Epoche kreativer Geistes- und Denkfreiheit zu stehen. Seine visionären Denkversuche band er deshalb sämtlich an das eigene Ich, um den Anspruch kritischer Selbstverantwortung stets mitzudenken - trotz der permanenten Relativierung eines jeden Satzes durch seinen Gegensatz, eines jeden Bildes in seinem Gegenbild, jeder Wahrheit durch ihre Verkehrung. „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser." (KSA 6, S. 259) Er kannte die Unbedingtheit seines Anspruchs, aber auch die Grenzen, von anderen verstanden zu werden. Weshalb er sich selbst nicht nur zum eigenen Erzähler, sondern auch zum eigenen Spiegel und damit auch zum eigenen Leser machte, in einem Akt der Demut, aber auch des stolzen Selbstbewusstseins - so wie er es in der Vorbemerkung zum Ecce homo formulierte: „ Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? Und so erzähle ich mir mein Leben." (KSA 6, S. 263)
Anmerkungen 1
2
3 4 5
Brief an Hermann Mushacke, 11. Juli 1866, in: Kritische Studienausgabe sämtlicher Briefe (= KSB), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York: de Gruyter 1986, Bd. 2, S. 140. Cf. F.N: „Aus meinem Leben", in: Friedrich Nietzsche. Werke und Briefe, Hist.-krit. Gesamtausgabe, Bd. I: Jugendschriften 1854-1861, hrsg. von Hans Joachim Mette, München: Beck 1934, S. 1-35. Vgl. dazu meinen Aufsatz: „,Aus meinem Leben'. Der Selbstporträtcharakter von Nietzsches frühen Lebensbeschreibungen: Selbstdialog als Selbstbefragung", in: Nietzscheforschung. Eine Jahresschrift, Bd. II, Hrsg. im Auftrag der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V. von Hans-Martin Gerlach und Renate Reschke, Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 61-94. Cf. op.cit. S. 1. Cf. op. cit. S. 32. F. N.: Werke. Hist.-krit. Gesamtausgabe, hrsg. von Hans Joachim Mette / Karl Schlechta, München: Beck 1933 ff. Bd. III, S. 298.
Von den Beobachtungen sich beobachtender Beobachter
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„Ich verstand ihn als ob er fur mich geschrieben hätte", sagt Nietzsche noch neun Jahre später. Vgl. K S A l . S . 346. Cf. Brief an Erwin Rohde in Hamburg, Basel 15. Dezember 1870, in: KSB, Bd. 3, S. 165-167. Vgl. dazu Peter Gasser:,„Columbus novus' - Zum rhetorischen Impetus von Nietzsches Philosophie", in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung. Berlin / New York: Walter de Gruyter 1995, Bd. 24, S. 137-161. Der wohl schönste Metaphern-Vergleich Kant und Nietzsche betreffend befindet sich im Aufsatz von Wolfram Groddeck: ,„Oh Himmel über mir mir'. Zur kosmischen Wendung in Nietzsches Poetologie", in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung. Berlin / New York: Walter de Gruyter 1989, Bd. 18, S. 490-508.
Hanns-Peter Neumann
Nietzsches ästhetische Metaphysik Im fünften Kapitel von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik spricht Nietzsche unverhofft von „ästhetischer Metaphysik". Dies lässt aufhorchen. Denn es ist in der Tat die einzige Stelle in der Tragödienschrift, in der ausdrücklich von ästhetischer Metaphysik die Rede ist. Auch in Verbindung mit Nietzsches unverhohlenem Selbstbewusstsein, mit dem er in einem Antwortbrief an Erwin Rohde die „Metaphysik der Kunst" als seine originäre Leistung anpreist, wird jene einmalige Verwendung der Konjunktion von Ästhetik und Metaphysik in der Geburt der Tragödie in ein besonderes Licht gerückt.1 Dabei ist zunächst unklar, warum Nietzsche überhaupt den Begriff der Metaphysik zur Sprache bringt, da es ihm doch zunächst im Kern um die physiologische Interpretation der dynamischen Dialektik der beiden „Kunsttriebe der Natur" zu gehen schien.2 Die Dialektik von Dionysischem und Apollinischem soll nun aber als ästhetische Metaphysik, als die sie im fünften Kapitel von Nietzsche vorgestellt wird, unter anderem die Frage danach beantworten helfen, wie das lyrische Ich zu interpretieren sei. Sowohl der Terminus Kunsttrieb als auch die Diskussion um den subjektiven Künstler müssen demnach Hinweise darauf geben, was an der Dialektik der beiden Kunsttriebe eigentlich metaphysisch sein soll. Unklar ist auch, worauf die Verwendung des Adjektivs ästhetisch hinausläuft. Handelt es sich um eine Metaphysik, deren finaler Sinn die Ästhetik ist? Immerhin endet das ominöse fünfte Kapitel mit Nietzsches berühmter Behauptung, dass das Dasein und die Welt nur als ästhetische Phänomene gerechtfertigt seien. Oder sollte die Ästhetik am Ende gar wie bei Schopenhauer einfach nur ein Teil der Metaphysik sein? Wird die Ästhetik also nur metaphysisch begründet? Müsste es dann nicht aber metaphysische Ästhetik heißen und nicht etwa ästhetische Metaphysik? Auch hier muss neben der Klärung der Begrifflichkeit Nietzsches Auffassung vom Künstler, seine Interpretation des Verhältnisses von Künstler und UrKünstler Aufschluss darüber geben, wie das Dasein, die Welt, die Ästhetik und die metaphysisch prädizierte Dialektik von Apollinischem und Dionysischem zusammengedacht werden. Was hat es also mit der ästhetischen Metaphysik auf sich? Wie hängen Physiologie, Ästhetik und Metaphysik zusammen? Muss man für Nietzsches Erwähnung der Physiologie in der Geburt der Tragödie den Kontext der in der
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ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland blühenden physikalisch-chemischen Experimentalphysiologie bemühen, oder hat es mit den bekannten philosophischen Referenzen Nietzsches ein Auskommen? Wie lässt sich der unbestrittene Einfluss Kants näher bestimmen? Bekanntlich hat sich Nietzsche mit Kants Kritik der Urteilskraft während seiner Militärzeit 1867/68 kritisch auseinandergesetzt. 3 Dennoch findet sich die Auseinandersetzung mit Kant immer symbiotisch mit Nietzsches intensiver Reflexion der Willensmetaphysik Schopenhauers verbunden. 4 So werden in der Tragödienschrift Kant und Schopenhauer immer gemeinsam erwähnt. Ist also Nietzsches frühe Diskussion der teleologischen Urteilskraft überhaupt von Bedeutung für das Konzept der ästhetischen Metaphysik in der Geburt der Tragödie? Im Folgenden wird versucht, für diese Fragen Lösungsansätze zu finden, die sich im Text der Tragödienschrift selbst aufsuchen lassen, ohne dabei den selbstkritischen Rückblick Nietzsches auf sein Erstlingswerk oder einen Ausblick auf das spätere Schaffen Nietzsches einzubeziehen. 5
I. Die Dynamik und Dialektik zweier Kunsttriebe der Natur Nietzsche betont im fünften Kapitel, er wolle das Phänomen des lyrischen Ich im Rekurs auf seine früher dargestellte ästhetische Metaphysik erklären. 6 Mit diesem Rekurs ist die Dynamik jener beiden Kunsttriebe gemeint, die Nietzsche gleich zu Beginn der Tragödienschrift einführt und detailliert erörtert. Die Dynamik und Dialektik des Dionysischen und Apollinischen sind somit konstitutiv für die ästhetische Metaphysik Nietzsches, und es muss daher geklärt werden, 1. was ein dionysischer und was ein apollinischer Kunsttrieb ist und 2. in welchem Verhältnis diese zueinander stehen. Aufgrund der Spannung, die zwischen dem Ur-Einen oder Urkünstler und dem Individuum besteht, lassen sich die beiden Kunsttriebe als Bewegungsimpulse beschreiben, die jene Spannung umfassen und deren Grenzen abschreiten. 7 Das Apollinische und das Dionysische wären demnach einander polare, aber doch dabei aufeinander bezogene komplementäre Kräfte der Natur, die als Triebe eine gewisse Zielrichtung haben, die sich für das Dionysische als eine auflösende Kraft mit einender Wirkung erweist, für das Apollinische dagegen als eine einende Kraft mit auflösender Wirkung. Wenn das Apollinische und das Dionysische gleichermaßen zwei unterschiedliche Bewegungen in sich zusammenfassen, die Bewegung des Auflösens und die des Einens, was ist dann aber das bezeichnende Kriterium für ihre Differenz? Zentral für das Verständnis des Unterschieds zwischen Dionysischem und Apollinischem ist die jeweilige Perspektive. Das Apollinische repräsentiert das Individuationsprinzip, das das
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Hanns-Peter Neumann
Individuum in seiner Einheit zusammenhält. Es kann daher durchaus der Tendenz nach als zentripetale Kraft aufgefasst werden. Es garantiert die Einhaltung, Organisation und scharfe Konturierung der individuellen Grenzen. In seiner Wirkung aber auf das Ur-Eine und als Repräsentant des Individuationsprinzips ist es eine dieses Ur-Eine in Einzelteile auflösende, atomisierende Kraft. Genau das Gegenteil stellt das Dionysische vor. Seine Bewegung geht zum Ur-Einen hin. Aus der Perspektive des Individuums muss es als zentrifugale, das Individuum auflösende Kraft begriffen werden, aus der Perspektive des Ur-Einen als einende Kraft. Die eigentümliche Dialektik der zwei Natur- und Kunsttriebe bei Nietzsche erinnert in der Tat zuweilen an die Dialektik von Einheit und Differenz, wie sie fur den Neuplatonismus und dessen Rezeption ζ. B. bei Nicolaus Cusanus und Marsilio Ficino in der Renaissance oder bei Schelling im Deutschen Idealismus bezeichnend sind.8 Mit der Umschreibung der beiden für die Fortentwicklung der Kunst maßgeblichen Kräfte als fundamentaler Triebe der Natur begründet Nietzsche Kunst und Ästhetik naturphilosophisch. Nicht nur, dass Nietzsche beide als Ausdruck der Kunstgewalt und als künstlerischen Doppeltrieb der Natur beschreibt, deutet auf die zentrale Rolle hin, die der Begriff der Natur in Nietzsches Tragödienschrift spielt. Die Engführung von Natur, Leben, Wille und Ur-Einem gibt auch Aufschluss darüber, welche Funktion Nietzsche den Kunsttrieben der Natur zuschreibt. Dabei kann der Einfluss Schopenhauers auf Nietzsche an dieser Stelle nicht hoch genug veranschlagt werden. Denn der Begriff der Natur, wie ihn Nietzsche proklamiert, ist ohne Zweifel in der Willensmetaphysik Schopenhauers verankert. So geht die Assoziation des Apollinischen mit dem Individuationsprinzip und mit der physiologischen Erscheinung des Traums deutlich auf Schopenhauer zurück.9 Als Stichworte seien hier Schopenhauers Bild vom Schleier der Maya und seine Liebäugelei mit Calderons Das Leben ist ein Traum genannt. Gleichwohl lässt sich eine auffallige Akzentverschiebung konstatieren. In Nietzsches Fokussierung auf Kunst und Ästhetik entpuppt sich die Wirkung des Apollinischen als Erzeugung einer zusätzlichen Scheinwelt, die nicht nur das unfassliche An-sich der Welt, sondern auch die reale Welt, in der wir leben und unter welcher Schopenhauer die Welt der Erscheinung versteht, verdeckt. Ausschließlich letztere, die Welt der Erscheinung, hatte Schopenhauer als Traumgebilde beschrieben. Die reale Welt ist Erscheinung des Dings an sich und, in Schopenhauers Interpretation der Philosophie Kants, die Objektivation des Willens. Die Kunst aber gilt Schopenhauer als Darstellung der intuitiv und interesselos angeschauten Ideen. Diese machen das Wesen, das Archetypische der Dinge aus und können in einem Akt kontemplativer Subjekt-Objekt-Verschmelzung angeschaut werden. Ganz anders Nietzsche, der die apollinische Kunst als graduelle Steigerung der Illusion, als „Schein des Scheins"10 expliziert, durch den die Natur ihre Absichten
Nietzsches ästhetische Metaphysik
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erreiche." Der apollinische Kunsttrieb zielt auf die Erzeugung einer Scheinwelt, die desto höher zu werten ist, je effektiver sie ihren Zweck erfüllt. Ihr Zweck besteht in der schönen Verhüllung des „Unaufhellbaren",12 des sich im Individuationsprinzip selbst zerstückelnden und stetig in Werden und Vergehen leidvoll involvierenden Willens oder Ur-Einen. Der schöne Schein soll es möglich machen, das Leben trotz Schmerz und Leid als lebenswert und lustvoll bejahen zu können. Die apollinische Kunst lässt sich daher als die sublimierteste Form der Täuschung zum Leben interpretieren. Sie ist Überlebensstrategie par excellence. Und wenn sie es zudem versteht, das eigentlich unästhetische Dionysische in sich einzubinden, fungiert sie nicht nur als Überlebensstrategie, die das Leben gleichsam kosmetisch zu verschönern vermag, indem sie das Abgründige des Lebens auf Distanz hält, sondern stärkt die Lebenskräfte hin zu einer nahezu emphatischen Bejahung des Lebens. Kunst als universale Überlebens- und Selbsterhaltungsstrategie ist folglich mehr als nur der Inbegriff aller schönen Künste. Daraus, dass Kunst einen natürlichen Trieb vorstellt, der zum Zweck des Überlebens instrumentalisiert wird, erklärt sich auch die auf den ersten Blick überraschende Definition der Kunst als Prinzip, das unterschiedliche Formen hervorbringt, unter anderem Religion und Wissenschaft.13 Was aber ist nun eigentlich genau unter Kunsttrieb zu verstehen? Man muss sich im Klaren darüber sein, dass Nietzsche nicht nur die allgemeinen Umrisse der Willensmetaphysik Schopenhauers, sondern auch die physiologischen Details von dessen Naturphilosophie in seinem Sinne interpretiert. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Nietzsche über die Entwicklung der Physiologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Laufenden war, ohne direkt auf die Schriften etwa eines Franz Joseph Galls oder Johannes Müllers rekurrieren zu müssen. Es genügte, Schopenhauers kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Physiologie zu rezipieren, um sich ihrer als Ideenreservoir bedienen zu können. Zur zeitgenössischen Physiologie, die Nietzsche bei Schopenhauer diskutiert fand, gehörten unter anderen die sogenannten romantischen Physiologen Karl F. Burdach und Gottfried R. Treviranus und die empirischen Physiologen Francois Bichat, Marie-Jean Flourens, Fran