Friedrich Nietzsche - Eine Studie zur Theorie der Öffentlichen Meinung 9783110862539, 3110113376, 9783110113372


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German Pages 317 [320] Year 1988

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Table of contents :
Vorbemerkung
1. Zur Einführung
1.1. Der Begriff der Öffentlichen Meinung
1.2. Nur Narr? Nur Dichter? Probleme einer sozialwissenschaftlichen Nietzsche-Interpretation
2. Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik
2.1. Zur Geschichtlichkeit der Öffentlichen Meinung
2.2. Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen‘
2.3. Zwischenbilanz
3. Öffentliche Meinung als soziale Kontrolle
3.1. Vom Idealismus zum Positivismus
3.2. Die Faktoren gesellschaftlicher Integration durch Öffentliche Meinung
3.3. Metamorphose: Die Öffentliche Meinung als Gewissen
4. Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Moralkritik
4.1. Der ,Weg zu den Grundproblemen‘
4.2. Moral und Öffentliche Meinung
4.3. ,Herrenmoral‘: Die öffentliche Kommunikation im ,Pathos der Distanz‘
5. Schlußbemerkungen
5.1. Nietzsches Stellung in der Geschichte des Begriffs der Öffentlichen Meinung
5.2. Mit Nietzsche forschen?
Verzeichnis der verwendeten Literatur
Namen- und Sachregister
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Friedrich Nietzsche - Eine Studie zur Theorie der Öffentlichen Meinung
 9783110862539, 3110113376, 9783110113372

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herausgegeben von

Ernst Behler Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel

Band 18

1988

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Friedrich Nietzsche Eine Studie zur Theorie der Öffentlichen Meinung von

Kurt Braatz

1988

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften

der

Herausgeber:

Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature G N - 4 2 University of Washington Seattle, Washington 98195, U . S . A . Prof. D r . Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D - 1 0 0 0 Berlin 3 7 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D - 1 0 0 0 Berlin 33 Redaktion: Johannes Neininger Ithweg 5, D - 1 0 0 0 Berlin 37

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Braatz, Kurt: Friedrich Nietzsche - eine Studie zur Theorie der Öffentlichen Meinung / von Kurt Braatz. - Berlin : de Gruyter, 1988 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 18) ISBN 3-11-011337-6 NE: GT

©

Copyright 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit wäre nicht geschrieben worden ohne die großzügige Unterstützung des Vereins der Freunde und Förderer des Instituts für Publizistik der Mainzer Universität; sie wäre nicht veröffentlicht worden ohne die finanzielle Hilfe der Vereinigung ,Freunde der Universität Mainz' und der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung. Diesen Institutionen und allen, die das Projekt mit Sympathie und Engagement begleitet haben, gilt mein besonderer Dank. Konstanz, März 1988

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Inhalt

Vorbemerkung

V

1.

Zur Einführung

1

1.1. 1.2.

Der Begriff der Öffentlichen Meinung Nur Narr? Nur Dichter? Probleme einer sozialwissenschaftlichen Nietzsche-Interpretation

1 13

Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

19

2. 2.1. 2.2.

Zur Geschichtlichkeit der Öffentlichen Meinung 19 Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen' 25 Die kritische Methode des Unzeitgemäßen Betrachters: Typisierung und Destruktion 25A Der,Bildungsphilister' in der öffentlichen Kommunikation 28 . Erziehung und Öffentliche Meinung 38 2.2.1. Der Journalist und die Presse 41 Der Typus des modernen Massenkommunikators 41 Die Massenmedien: Organs oder Spiegel der Öffentlichen Meinung? 47 2.2.2. Die Struktur der Öffentlichen Meinung und die Zukunft der Kultur 52 , Wissen'bewirkt Ohnmacht 52 Öffentlichkeit'oder Die Zerstörung des Geistes 57 Realkultur und Medienkultur 61 2.3. Zwischenbilanz 66 Historische, soziologische und thematische Universalität der Öffentlichen Meinung 66 Öffentliche Μeinung und,Zeitgeist' 70 Exkurs: Carl Ernst August von Gersdorff 74 3.

Öffentliche Meinung als soziale Kontrolle

82

3.1.

Vom Idealismus zum Positivismus

82

VIII

3.2.

3.2.1.

Inhalt

Die Faktoren gesellschaftlicher Integration durch Öffentliche Meinung Sprache und Kommunikation Öffentlichkeit Das Individuum unter dem Druck der Öffentlichen Meinung . . . . Die Motive sozialer Kontrolle Die tradierte Öffentliche Meinung: Sitte und Sittlichkeit Die erlebte Öffentliche Meinung: Polarität des Schweigens und Angst vor Vereinsamung Lob und Tadel, der Ruhm, der gute Ruf, die Ehre und die Schande

85 85 94 100 100 104 109 115

3.2.2. .Gegenkontrolle: Die Öffentliche Meinung im Willen des Individuums 122 Die reale Dialektik der sozialen Kontrolle 122 Meinungen als Masken 130 Die Verweigerung von Konformität: der Typus des Narren 143 Die Vereinnahmung der Öffentlichen Meinung 148 3.3.

Metamorphose: Die Öffentliche Meinung als Gewissen Der soziale Ursprung des Bewußtseins Die metaphysische Konstruktion des Gewissens Das Gewissen nach dem, Tod Gottes' Der verinnerlichte Prozeß der Öffentlichen Meinung

153 153 159 164 168

4.

Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Moralkritik

175

4.1.

Der,Weg zu den Grundproblemen'

175

4.2.

Moral und Öffentliche Meinung

187

4.2.1.

,Sklavenmoral': Das Ressentiment im Aufbau der Öffentlichen Meinung Das Ressentiment als Grundlage der abendländischen Kultur . . . . Zur Psychologie des Ressentiment Die öffentliche Wirkungsweise des Ressentiment an Beispielen . . . Das Ressentiment im Aufbau der Öffentlichen Meinung: Prognose- und Analysemöglichkeiten

202 202 208 212 222

4.2.2.

Der Priester Grundzüge der Priesterkonzeption Modernes Priestertum und Öffentliche Meinung: der Fall Wagner

235 235 240

4.3.

,Herrenmoral': Die öffentliche Kommunikation im ,Pathos der Distanz' 248 Nietzsches Personalismus 248

Inhalt

IX

Die drei Dimensionen des,Pathos der Distanz' 253 Der Typus des Vornehmen zwischen Utopie und Empirie 265 Die Funktion der ,Herrenmoral' im Prozeß der Öffentlichen Meinung 271 5.

Schlußbemerkungen

276

5.1.

Nietzsches Stellung in der Geschichte des Begriffs der Öffentlichen Meinung 276

5.2.

Mit Nietzsche forschen?

282

Verzeichnis der verwendeten Literatur

290

Namen- und Sachregister

302

1. Zur Einführung 1.1. Der Begriff der Öffentlichen

Meinung

Es gibt in den Sozialwissenschaften eine beachtliche Reihe häufig gebrauchter Fachbegriffe, mit denen sich in der Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge anspheinend beliebig vieles oder gar nichts wirklich greifen läßt: sie sollen eigentlich Probleme faßbar und mitteilbar machen, stellen selbst aber höchst problematische Schöpfungen dar; sie sollen Forschung fundieren, aber sie entziehen sich immer wieder dem konkreten definitorischen Zugriff und allen Versuchen einer allgemeinverbindlichen Festlegung ihres Gehalts. Woher kommt der merkwürdige Schwebezustand, der sich in einem Mangel an Trennschärfe, in Vieldeutigkeiten und offensichtlichen Widersprüchen niederschlägt, sobald diese Ausdrücke zur Kennzeichnung sozialer Prozesse oder Tatbestände? herangezogen werden? Die Antwort darauf kann sicher nicht in einem Satz gegeben werden: zu verschieden sind in jedem einzelnen Falle die Besonderheiten der Herkunft und die Wandlungen des Gebrauchs solcher Begriffe sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer fortwährend sich ändernden Fachöffentlichkeiten. Man wird jedoch regelmäßig finden, daß ihnen eine Art moralisches Urteil innewohnt oder unterschoben wird und daß ein wertendes, richtendes Element nur schwer von ihnen abzulösen ist. Ihre Geschichte, ihr heutiges Dasein, ihre Funktion erweist sich als zwiespältig: zumeist standen und stehen sie im Dienst eines gesellschaftlichen Interesses, ohne daß sie für die Zwecke der Erkenntnis aufgegeben werden könnten, und, oft durchlaufen sie Phasen, in denen sich Erkenntniswille und Interesse an ihnen zu einem Bedeutungsgewirr vermengen, das in einem scheinbar unüberwindlichen Nebeneinander wissenschaftlicher Sinnzuschreibungen endet. Das klassische Beispiel einer solchen semantischen Karriere bietet der Begriff der Öffentlichen Meinung. Seine Spuren lassen sich zurückverfolgen bis in die späte Renaissance, wo er 1588 als ,opinion publique' in den Essais des Michel de Montaigne erschien. 1 Er ging dann allmählich in den Sprachge-

' Nachgewiesen von Raffel, Michael: D e r Schöpfer des Begriffs .Öffentliche Meinung' - Michel de Montaigne, in: Publizistik, 29. J h g . 1984 N r . 1, S. 4 9 - 6 2 . - Eine noch frühere Quelle mit der Formulierung „ad doctrinam publicae opinionis" liegt in einer Schrift des Priscillianus vor:

2

Zur Einführung

brauch ein und ist beispielsweise um das Ende des 17. Jahrhunderts als ,opinion', .general opinion' und ,vulgar opinion' in den Traktaten und Reden der englischen Aufklärung zu finden. 2 Aber erst durch die Wirkung der Schriften Jean-Jacques Rousseaus im untergehenden ancien regime fand er weite Verbreitung und erhielt schließlich jene vorwärtstreibende Aufladung aus neuem Legitimitätsempfinden und politischen Forderungen, die ihn zur Parole der Französischen Revolution werden ließ. Der verhältnismäßig schnell einsetzende und durchschlagende Erfolg des dynamisierten Begriffs, seine Hebelwirkung beim Umsturz der alten Ordnung nicht nur in Frankreich und die schlagwortartige Verdichtung seiner Bedeutung auf den politischen Bereich - dies alles beeinflußte erheblich seine wissenschaftliche Ausprägung. Hier sind die Wurzeln zweier Grundannahmen zu suchen, die lange den Gang von Forschung und Interpretation bestimmt haben und stellenweise auch in der Gegenwart noch zur Bildung historischer und funktionaler Grenzkriterien für .Öffentliche Meinung' dienen. Die historische Basishypothese lautet sinngemäß: Wenn der Begriff der Öffentlichen Meinung an der Schwelle zur Neuzeit entstanden ist, so deutet dies darauf hin, daß auch die mit ihm bezeichnete soziale Erscheinung eng mit den Entwicklungen der Neuzeit verbunden ist. Was in der mittelalterlichen ,Gemeinschaft' die Religion dargestellt habe, nämlich ein allumfassendes Band gemeinsamen Glaubens und Hoffens, das sei in der modernen, durch die Herrschaft der Vernunft charakterisierten ,Gesellschaft' die Öffentliche Meinung. 3 Dem wiederum ist axiomatisch unterlegt, daß die Ausbildung einer öffentlichen Meinung sich nach den Regeln des rationalen Diskurses vollziehe und daß unter der meinenden Öffentlichkeit ein Organismus zu verstehen sei, der nur im typisch neuzeitlichen Rahmen nationalstaatlicher Großgesellschaften, allgemeiner Bildung und moderner Massenpublizistik überhaupt habe Gestalt annehmen können.

2

3

Priscilliani. Quae Supersunt. Primus editit Georgius Schepss. Pragae/Vindobonae/Lipsiae. F . T e m p s k y / F . T e m p s k y / G. Freytag. Bibliopola academiae litterarum caesareae Vindobonensis M D C C C L X X X I X (Abschnitt ,Tractatus ad populum II', S. 92). Vgl. Bauer, Wilhelm: Die öffentliche Meinung in der Weltgeschichte. Potsdam: Akademische Verlagsanstalt Athenaion 1930, S . 2 3 2 ff., sowie Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut. Frankfurt am Main/Wien/Berlin: Ullstein 1982, S. 96 ff. - Zur Umprägung des Begriffs ,Öffentliche Meinung' in ein politisches Schlagwort siehe Bauer, Wilhelm: Das Schlagwort als sozialpsychische und geistesgeschichtliche Erscheinung, in: Historische Zeitschrift Bd. 122 (3. Folge, 26. Band), München/Berlin 1920, S. 189-240. Das historische Argument findet sich sehr ausgeprägt in den Werken von Ferdinand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin: Springer 1922, bes. S.299, S. 570 und S. 572. - Ebenso ders.: Zur Theorie der öffentlichen Meinung, in: Schmollers Jahrbuch, 40.Jhg. 1916. S. 393—422.

Der Begriff der Öffentlichen Meinung

3

Die funktionale Basishypothese ergänzt diese Annahme der historischen Gebundenheit von Begriff und Phänomen der Öffentlichen Meinung an die philosophischen, politischen und technischen Errungenschaften der Neuzeit. Ausgehend von der außergewöhnlichen politischen Wirkung des Schlagwortes im 18. und 19. Jahrhundert wendet sich das begriffsgeschichtliche Interesse unter ihrer Leitung nur jenen Linien im traditions- und variantenreichen Denken über Öffentliche Meinung zu, die dieses politische Element besonders betonen. Daraus ergibt sich rückwirkend die Einschätzung, daß Sinn und Ziel der Wortschöpfung ursprünglich ein politischer Entwurf gewesen sei und damit auch die Funktion der Öffentlichen Meinung nur in ihrer Bezogenheit auf das Politische gesehen werden dürfe. Folglich wird unter den Vorgaben dieser Hypothese Öffentlichkeit' immer als politisch fungierende Öffentlichkeit verstanden, das .heißt: als im demokratischen Meinungsbildungsprozeß zwischen Regierenden und Regierten sich verwirklichende Volkssouveränität. Definitorisch soll daher für die Öffentliche Meinung gelten: "Let us understand by public opinion [ . . . ] opinions on matters of concern to the nation freely and publicly expressed by men outside the government who claim a right that their opinions should influence or determine the actions, personnel, or structure of their government." 4 Diese „institutionalisierte Fiktion der öffentlichen Meinung" 5 gehört unverändert zum Kategorienbestand rechtswissenschaftlichen und staatstheoretischen Denkens. Im Unterschied zur ,gemeinen Meinung' wird hier von ihr behauptet, daß sie eine rein „qualitative Größe" sei und sich als solche „jeder Erfassung durch quantitative Methoden" entziehe. 6 „Wer sie mitbestimmen will, muß sich durch Einsicht - wenn man so will - durch eine e i g e n e Meinung auszeichnen. Das Gerede ist niemals öffentliche Meinung", und vor allem „erschöpft sich die Funktion der öffentlichen Meinung im Bejahen oder Mißbilligen politischer Akte." 7 4

5

6

7

Speier, Hans: The Historical Development of Public Opinion, in (ders.): Social O r d e r and the Risks of War. New Y o r k : George W . Stewart 1952, S. 3 2 3 - 3 3 8 ; hier: S . 3 2 3 . Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 13. A u f l . , Neuwied: Luchterhand 1982. Hennis, Wilhelm: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Tübingen: J . C . B . Mohr (Paul Siebeck) 1957 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart Heft 200/201), S. 64. Ebd., S.27. - Siehe auch ders.: Der Begriff der öffentlichen Meinung bei Rousseau, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 43. Jhg. 1957 Nr. 1, S. 1 1 1 - 1 1 5 . Ähnliche Auffassungen des Begriffs bei Fraenkel, Ernst: Öffentliche Meinung und internationale Politik. Tübingen: J . C . B . M o h r (Paul Siebeck) 1962 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart Heft 255/ 256), sowie ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer 1968, bes. S. 1 2 0 - 1 6 4 . Für das westliche Ausland siehe Palmer, Paul Α . : The Concept of Public Opinion in Political Theory, in (ders.): Essays in History and Political Theory. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press 1936, S . 2 3 0 f f . Die Position der Rechtswissenschaft vertritt Benda, Ernst: Konsens, Meinungsforschung und Verfassung, in: Die öffentliche Verwaltung, 35. Jhg. 1982 Nr. 21, S. 8 7 7 - 8 8 3 .

Z u r Einführung

4

Allerdings zeigt sich immer deutlicher die begrenzte Tauglichkeit eines solchen normativen Konzepts für die Klärung soziologischer und kommunikationswissenschaftlicher Problemstellungen: „Viele klassische Begriffe der politischen Theorie finden sich heute in einer zwiespältigen Lage: Man kann sie weder einfach fallenlassen noch in ihrem ursprünglichen Bedeutungsgehalt ernst nehmen. Sie scheinen wichtige evolutionäre Errungenschaften der neuzeitlichen Gesellschaft und ihrer politischen Systeme zu bezeichnen; dies aber in einer Weise, die nicht mehr befriedigt - gleichsam zu direkt, zu kompakt, zu einfach." 8 Mit dieser Bestandsaufnahme eröffnet Niklas Luhmann seinen Versuch, den Begriff der Öffentlichen Meinung im systemtheoretischen Rahmen für die praktische Forschung nutzbar zu machen. Dabei stellt er die überkommenen Prämissen .neuzeitlich' und politisch' zunächst nicht in Frage; statt dessen wendet er sich gegen die eingebürgerte Auffassung, ,Meinen' sei zwangsläufig gebunden an einen Meinenden und die Öffentliche Meinung mithin an ein meinendes Kollektivsubjekt, eine in sich übereinstimmende Öffentlichkeit. Tatsächlich, so Luhmann, sichern nicht die geäußerten und koordinierten Ansichten den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft und die Legitimität ihrer politischen Ordnung, sondern eigentlich schon die Verhandlungen um allgemein anerkannte Themen, zu denen Meinungen gefordert und gebildet werden.*Es sei daher falsch,,Öffentliche Meinung' weiter im Wortsinne als Meinung, also als Resultat eines öffentlichen Kommunikationsprozesses zu verstehen: „Öffentliche Meinung kann nicht einfach als politisch relevantes Ergebnis, sie muß als thematische Struktur öffentlicher Kommunikation gesehen werden - mit anderen Worten: nicht mehr nur kausal als bewirkte und weiterwirkende Wirkung, sondern funktional als Selektionshilfe.'" Jedes soziale System sieht sich fortwährend einer Fülle mehr oder weniger wichtiger Probleme gegenüber, deren Gesamtmenge niemals in einem ausgeglichenen Verhältnis zur Aufmerksamkeit steht, die eine Gesellschaft aufbringen kann: immer wieder muß diese Komplexität der möglichen Themen auf wenige wirkliche Verhandlungsgegenstände reduziert werden. Sie gelten als öffentlich' und stehen damit in der Öffentlichen Meinung ( - ,in', ,bei': es sind die Präpositionen, an denen man die systemfunktionale Sichtweise erkennt - ) , sobald man ihnen allgemeine Akzeptiertheit unterstellen kann: ,Öffentliche Meinung' wird demnach hier selbst als Kommunikationssystem verstanden, nicht in erster Linie als konsonante Äußerung einer organischen Öffentlichkeit, sondern als Beziehungsgeflecht verschiedener Verhandlungssachen, zwi8

Luhmann, Niklas: Öffentliche Meinung, in (ders.): Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. 2. Auflage, O p l a d e n : Westdeutscher Verlag 1975, S . 9 - 3 4 ; hier: S.9.

9

Ebd., S. 9 f.

Der Begriff der Öffentlichen Meinung

5

sehen denen die gesellschaftliche Aufmerksamkeit oszilliert und in dem öffentliche Kommunikationsprozesse ablaufen. Auf dieser Abstraktionsebene kann vernünftigerweise nur noch bedingt daran festgehalten werden, daß die Öffentliche Meinung lediglich die „Themenstruktur des politischen Kommunikationsprozesses" darstelle 10 - denn wenn ihr die Funktion zugeschrieben wird, den Zusammenhalt sozialer Systeme durch Strukturierung ihrer Kommunikation zu gewährleisten, muß sie folgerichtig als zugänglich für alle Themen gedacht werden, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit als verhandelnswert erkennen könnte. So kommt Luhmann zu dem Schluß, daß ,Öffentliche Meinung' schlechthin als die „institutionalisierte Themenstruktur des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses" weit über die bloße Selbstverwirklichung von Volkssouveränität hinausreicht 11 , und schließlich stellt er den Versuchen normativ-verengter Funktionsbeschreibung der Öffentlichen Meinung entgegen: „Vor dem H i n tergrund eines solchen [ . . . ] Ansatzes der Systemtheorie verbietet sich eine exklusive Zuweisung der öffentlichen Meinung an das politische System." 1 2 Es verbietet sich eigentlich auch eine ganz auf Statisches angelegte Definition der Öffentlichen Meinung: Genau besehen, wird sie nicht vollständig erfaßt, wenn man sie lediglich als Struktur der öffentlich verhandelten Themen begreift, denn wie Luhmann selbst ausführt, hebt sie diese Themen auch aus der Komplexität möglicher Gegenstände heraus und hat damit unzweifelhaft Prozeßaspekte. ,Öffentliche Meinung' ist zu einem guten Teil Dynamik, „Reduktionsmechanismus" 1 3 ; es liegt jedoch in der eigentümlichen Perspektive der Systemtheorie, soziale Phänomene vor allem nach ihrer Funktionsweriigkeit im ,System' wissenschaftlich zu beurteilen und die Frage nach deren Funktionsweise dabei in den Hintergrund zu verlagern. Dieser Frage hat sich die empirische Kommunikationsforschung angenommen. Die Entstehungsphase der Disziplin war zunächst gekennzeichnet durch einen eher unbefangenen Umgang mit statistischen Erhebungsverfahren und eine ausufernde Diskussion dieser noch neuen Methoden, in deren Verlauf ein völliger Mangel an Begriffsstrenge kaum negativ bewußt wurde: Die damalige Themenpalette der 1937 gegründeten und seither führenden Fachzeitschrift ,Public Opinion Quarterly' offenbart, daß dem Extrem der reinen Theorie in den traditionell mit der Öffentlichen Meinung befaßten Disziplinen hier anfänglich das Extrem der reinen Empirie entgegengestellt worden war. ,Public Opinion Research' wurde im allgemeinen als Umfrageforschung ohne

Ebd., " Ebd., 12 Ebd., 13 Ebd., 10

S.20 (Kursivsatz vom Verf.). S. 29. S. 27. S. 14.

6

Zur Einführung

weiterreichende vor- oder nachherige theoretische Absichten nach dem Muster betrieben: "Public opinion [ . . . ] consists of people's reactions to definitely worded statements and questions under interview conditions" 1 4 , und Harwood Childs - einer der Väter des Fachs - erklärte : "The nature of public opinion is not something to be defined but something to be studied." 15 Nach vereinzelten kleineren Bemühungen um eine Verständigung über den Forschungsgegenstand 16 wurde mit der 1940 durchgeführten Wahlverhaltensstudie ,The People's Choice' von Paul F. Lazarsfeld, Bernard Berelson und Hazel Gaudet der erste umfassende Versuch unternommen, Einsicht in die Entstehungs- und Ausbreitungsmechanismen öffentlicher Meinungen zu erhalten: "We were not interested in h o w people voted", schrieb Lazarsfeld, "but in w h y they voted as they did." 17 Die Studie belegte erstmals den Einfluß sozio-ökonomischer Umstände auf die persönliche Meinungsbildung und stützte die Vermutung, daß Meinungsäußerungen und -änderungen oft weniger vernunftgegründete als vielmehr sozialpsychische Ursachen haben: Das öffentliche Meinen des einzelnen hängt in vielen Fällen davon ab, wie er die Gesamttendenz des Meinens in seiner Umwelt erlebt; sein Anschluß an diese vermutete Gesamttendenz wirkt wieder auf andere Individuen, und so entfaltet sich ein ,bandwagon effect', der einer bestimmten Meinung zum Durchbruch verhilft und sie zu der öffentlichen macht. Auch die Bedeutung der Massenmedien erschien nach den Daten der Untersuchung in neuem Licht: ihre Wirkung beschränkte sich anscheinend auf die Aktivierung und Verstärkung latenter Werthaltungen im Publikum, und dem Bestreben, mit ihrer Hilfe Öffentliche Meinung zu ,machen', war offenbar durch die selektive Wahrnehmung der Rezipienten eine Grenze gezogen. Zudem mußte man nach den vorliegenden Ergebnissen annehmen, daß Massenmedien kaum unmittelbar wirken: ,opinion leaders' zeigten sich in allen Bereichen der Gesellschaft als ihre eigentlichen Abnehmer und leiteten die empfangenen Nachrichten und

Warner, L u d e n : The Reliability of Public Opinion Surveys, in: Public Opinion Quarterly, 3. Jhg. 1939 N r . 3, S. 376-390; hier: S. 377. " Childs, H a r w o o d : By Public Opinion I Mean - , in: Public Opinion Quarterly, 3.Jhg. 1939 Nr. 2, S. 327-336; hier: S. 336. 16 Frühe Beispiele bieten Carr, Lowell J . : Public Opinion as a Dynamic Concept, in: Sociology and Social Research, 13. J h g . 1928 N r . 1, S. 19-29; Brinkley, Robert C . : The Concept of Public Opinion in the Social Sciences, in: Social Forces, 6 . J h g . 1928, S. 389-396; Lundberg, George Α.: Public Opinion from a Behavioristic Viewpoint, in: American Journal of Sociology, 36.Jhg. 1930, S. 387—405. Spürbaren Einfluß hat auch der Journalist Walter Lippmann mit seinem essayistischen Werk: Public Opinion. N e w York: Macmillan 1922. Grundlegend schließlich der Aufsatz von Floyd D . Allport: Toward a Science of Public Opinion, in: Public Opinion Quarterly, l . J h g . 1937 N r . 1, S . 7 - 2 3 . 17 Lazarsfeld, Paul F . / B e r e l s o n , B e r n a r d / G a u d e t , Hazel: The People's Choice. H o w the Voter Makes U p His Mind in a Presidential Campaign. 3. Aufl., N e w Y o r k : Columbia Univ. Press 1968, S. 10. 14

Der Begriff der Öffentlichen Meinung

7

Meinungen gefiltert in einem Zweistufenfluß an eine breitere Öffentlichkeit weiter. Demnach führten letztlich alle Fragen nach dem Entstehen öffentlicher Meinungen in den Bereich der persönlichen Beziehungen und der unvermittelten Kommunikation zurück: "In the last analysis, more than anything else people can move other people." 1 8 Auf der Grundlage von ,The People's Choice' eröffnete sich die Möglichkeit, einen pragmatischen Begriff der Öffentlichen Meinung zu entwickeln, also nicht länger eine Definition des Phänomens auf seine vermuteten oder normativ geforderten Zwecke hin anzustreben, sondern eine konsistente Theorie aus der Beobachtung seines realen sozialen Wirkungszusammenhangs zu gewinnen. Tatsächlich aber regte die Studie vorerst eine Fülle weiterer empirischer Untersuchungen an: Während der fünfziger und sechziger Jahre bemühte sich die Forschung im wesentlichen um die Klärung von Einzelfragen zum Mitläufereffekt, zum Typus des Meinungsführers, zur Wirkung der Massenmedien, und die gelegentlichen Forderungen nach einem ,synthesizer', der das gewonnene Material zu einem logischen Ganzen vereinigen sollte, verhallten fast ungehört. 19 Ein solcher Ansatz zur Synthese, zur Revision und zur Erweiterung des breiten Hypothesenbestandes der Kommunikationswissenschaft liegt seit einiger Zeit mit der Theorie der Schweigespirale vor. Sie gründet auf der zentralen Entdeckung Lazarsfelds und seiner Mitarbeiter, daß sich die Entwicklung und der Durchbruch öffentlicher Meinungen im Netzwerk unmittelbarer Sozialbeziehungen entscheidet: die Öffentliche Meinung kann nicht als Summe individuell und rational gebildeter Meinungen gesehen werden, sondern sie ist das Erzeugnis eines gesellschaftlichen Prozesses. Dieser Prozeß setzt ein, sobald sich soziale Gebilde als ,Öffentlichkeit' konstituieren. ,Öffentlichkeit' wird dabei nicht im traditionellen Sinn als starr strukturierte und fiktive Institution politischer Kontrolle verstanden, die eine Vielzahl allgemein interessierender Themen gleichzeitig verhandelt; der Begriff soll vielmehr eine sozialpsychologisch bestimmbare Bewußtseinslage benennen. Öffentlichkeit' umfaßt jeweils "those persons who are interested in an affair" 20 ; sie entsteht, wenn mehrere Menschen ihre Aufmerksamkeit einem Gegenstand zuwenden. Nicht die Objekte des Meinens werden also in eine letztlich diffuse Öffentlichkeit hineinreduziert, sondern es sind die Gegen-

18 Ebd., S. 158. " Siehe beispielsweise H y m a n , Herbert H . : Toward a T h e o r y of Public Opinion, in: Public Opinion Quarterly, 21. Jhg. 1957 N r . 1, S. 5 4 - 6 0 ; ähnlich Davison, W.Phillips: The Public Opinion Process, in: Public Opinion Quarterly, 22. Jhg. 1958 N r . 1, S. 9 1 - 1 0 6 , sowie ders.: Public Opinion, in: Sills, David/L. (Hrsg.): International Encyclopedia of the Social Sciences Vol. X I I I . N e w Y o r k 1968, S. 1 8 8 - 1 9 7 . 20 Lippmann, Walter: The Phantom Public. N e w Y o r k : Macmillan 1930, S. 105.

8

Zur Einführung

stände selbst, die sich eine empirisch greifbare Öffentlichkeit heranziehen. Solange allerdings ein Thema Aufmerksamkeit erregt, ohne daß den Betreffenden die gleiche Ausrichtung ihres Interesses bewußt wird, kann es noch nicht als ,öffentlich' bezeichnet werden: es ist in diesem Stadium lediglich eine zufällig gleichzeitig ins Blickfeld mehrerer Individuen getretene Privatsache. .Öffentlichkeit' bildet sich erst durch Kommunikation, erst dann, wenn die jeweils einzelnen in ihrer Bezogenheit auf einen bestimmten Gegenstand bemerken, daß auch andere um dieselbe Sache konzentriert sind. Sie verwirklicht sich an einem gegebenen Objekt durch den koordinierenden Austausch von Meinungen. Wie das Datenmaterial zur Theorie der Schweigespirale belegt, umfaßt die individuelle Wahrnehmung von Öffentlichkeit in der Regel auch das eigene Verhältnis zur Sache: der einzelne sieht sich und seine Ansichten mit ,in die Öffentlichkeit gestellt', und er verfolgt, wie diese eine Haltung zu ihrem Thema entwickelt. Das kann zum Teil durch unmittelbare Umweltbeobachtung geschehen; in modernen Gesellschaftssystemen prägt jedoch auch das durch Massenmedien vermittelte Bild den eigenen Eindruck. 21 So ist die Wahrnehmung von Öffentlichkeit zwar fest verknüpft mit einer ,quasistatistischen Wahrnehmungsfähigkeit' und einem Vermögen zur Einschätzung von Meinungsklima' 22 , aber tendenziöse Themenselektion, verzerrte Berichterstattung und konsonante Kommentierung durch die Medien können die Orientierung des Einzelnen im sozialen Raum unterlaufen und auf eine artefaktische Öffentliche Meinung hinwirken. Das Wissen um Öffentlichkeit' wird schließlich verhaltenssteuernd, indem es auf psychische Grundveranlagungen des Menschen trifft. Soweit die persönliche Einstellung zur gegebenen Sache als deckungsgleich mit der vermuteten Tendenz der Öffentlichkeit eingeschätzt wird, steigt die Bereitschaft, sie öffentlich zu bekennen; diese Bereitschaft schwindet umgekehrt in dem Maße, in dem der einzelne von der Meinung der Öffentlichkeit glaubt, daß sie unvereinbar mit seiner eigenen ist.23 Er zieht dann eher das Lippenbekenntnis

21

22 23

In späteren Untersuchungen zur Verstärkerhypothese von Lazarsfeld/Berelson/Gaudet wurde nachgewiesen, daß das individuelle Filter der selektiven Wahrnehmung nur eingeschränkt funktioniert, wenn die Konsonanz in Berichterstattung und Kommentierung durch die Massenmedien hoch ist. Zur Unterschätzung der Medienwirkungen siehe Noelle-Neumann, Elisabeth: Return to the Concept of Powerful Mass Media, in: Studies of Broadcasting, 9.Jhg. 1973, S . 6 7 - 1 1 2 ; dies.: Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeitseffekt, in: Publizistik, 18.Jhg. 1973, S. 2 6 - 5 5 ; dies: Der Konflikt zwischen Wirkungsforschung und Journalisten. Ein wissenschaftsgeschichtliches Kapitel, in: Publizistik, 27. Jhg. 1982 Nr. 1/2, S. 1 1 4 - 1 2 8 . Vgl. Noelle-Neumann, Schweigespirale, a . a . O . , S. 1 6 4 f f . Vgl. ebd., S. 33. ff. - Hier wird dargelegt, wie Öffentlichkeit' als Zustand des Beobachtens und Beobachtetwerdens im Rahmen einer Meinungsumfrage operationalisiert werden kann und wie Redebereitschaft und Schweigetendenz sich aneinander entwickeln.

Der Begriff der Öffentlichen Meinung

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zur anscheinend herrschenden Meinung vor oder - und dies war am deutlichsten zu beobachten - er hüllt sich in Schweigen, um sich nicht durch das Verharren auf einem abseitigen Standpunkt die Mißbilligung seiner Umwelt zuzuziehen. Öffentliche Meinungen bilden sich also, indem eine der öffentlich hörbaren Meinungen so sehr den Eindruck der Stärke auf sich zieht, daß die Vertreter anderer Ansichten zur Sache in Schweigen verfallen; dies wiederum stärkt das Selbstgefühl der vermeintlichen Mehrheit, so daß deren Bereitschaft zu öffentlicher Darstellung wächst, und damit wieder verstärkt sich im kleiner werdenden Rest der Öffentlichkeit die Tendenz zum Schweigen. Der ganze Prozeß der Öffentlichen Meinung stellt sich demnach als spiralförmige Ausbreitung eines sozialpsychisch motivierten Schweigens dar. Auf der Suche nach den Ursachen dieses Schweigens erwies sich eine Annahme als besonders tragfähig und empirisch gut nachzuweisen: Es ist nicht so sehr die Furcht vor der Aggressivität und dem aktiven Sanktionspotential der anderen, die dazu führt, daß einzelne Abweichende sich nicht öffentlich zu äußern wagen, sondern vielmehr die Angst davor, daß die Öffentlichkeit die weitere Kommunikation verweigert und der Betreffende schließlich in völlige Isolation gerät.24 Daher werden öffentliche Meinungen im Rahmen der Schweige-Theorie definiert als „Meinungen, die man öffentlich äußern kann, ohne sich zu isolieren" 25 , und für stabile Öffentlichkeiten, die sich bereits eine Grundlage von Werten, Sitten und Normen in bezug auf ihre jeweiligen Angelegenheiten geschaffen haben, gilt zusätzlich, daß in ihnen all jene Meinungen und Verhaltensweisen als Öffentliche Meinung anzusehen sind, „die man öffentlich äußern oder annehmen muß, wenn man sich nicht isolieren will." 26 .Öffentliche Meinung' wird damit als umfassender und in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens unablässig ablaufender Integrationsmechanismus begriffen: „Prozesse der Öffentlichen Meinung können sich in kleinsten räumlichen Bereichen und in ganz kurzen Zeiträumen abspielen" 27 , sie sind ihrer Natur nach völlig unabhängig von bestimmten historischen Umständen und nicht auf einen einzigen Bereich des Meinens funktional festzulegen. Hinzu kommt, daß sie auch nicht an ein ,Meinen' im Sinne einer öffentlichen Diskussion verschiedener rationaler Fürwahrhaltungen gebunden sind, son" Vgl. ebd., S. 59-84. - Daß die Theorie der Schweigespirale wie ,The People's Choice' auf der Ebene personaler Kommunikation ansetzt, sollte nicht über einen wesentlichen Unterschied hinwegtäuschen, der gerade hier sichtbar wird: Lazarsfeld u. a. erklären den Mitläufereffekt aus einem positiven Dabeiseinwollen ("I wanted to vote for the winner"), während im Schweigeprozeß vor allem etwas vermieden werden soll: die Isolation. 25 Ebd., S. 91. 26 Ebd., S. 92. 27 Dies.: Öffentlichkeit als Bedrohung. Beiträge zur empirischen Kommunikationsforschung. Freiburg/München: Karl Alber 1977, S.200.

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dem überall dort nachgewiesen werden können, wo Kommunikation - gleich welcher Art - auf die Erzeugung von Isolationsfurcht hinausläuft. Prozesse der Öffentlichen Meinung erwirken bindende Subjekt-Objekt-Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer gegebenen Öffentlichkeit: ihr Sublimat heißt zwar ,Öffentliche Meinung', ihre unmittelbare soziologische Funktion aber liegt im Erzwingen konformen Verhaltens und damit in der Sicherung des inneren Zusammenhalts und der allgemeinen, kollektiven Handlungsfähigkeit einer Gesellschaft. Daraus wäre übergreifend für das sozialwissenschaftliche Denken zu folgern, daß die gesamte Problematik der ,sozialen Kontrolle' sich in dieser Theorie auflösen läßt und unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Kommunikation neu formuliert werden kann: Aus der Perspektive der ,Schweigespirale' stellt sich soziale Kontrolle als die Mechanik des Prozesses der Öffentlichen Meinung dar. — Die Auseinandersetzung um den angemessenen Begriff der Öffentlichen Meinung ist bislang nicht wesentlich vorangekommen. Die drei skizzierten Grundauffassungen des Phänomens sind in ihren jeweiligen Disziplinen verhältnismäßig anerkannt, ohne daß für absehbare Zeit die Schaffung eines gemeinsamen Fundaments soziologischer, rechts-, politik- und kommunikationswissenschaftlicher Forschung zu erwarten wäre. Eine solche, wenigstens prinzipielle Koordinierung der Perspektiven wird auch um so unwahrscheinlicher, als die gegenseitige Kritik sich im Anzweifeln der ernsthaften Wissenschaftlichkeit der jeweils anderen Ansätze erschöpft. 28 So werden die wesentlichen Einwände gegen das empirische Konzept der Öffentlichen Meinung gewöhnlich auf der Methodenebene erhoben. Mit quantifizierenden Verfahren, so lautet der Vorwurf, sei die eigentliche Qualität, das ,Wesen' der Öffentlichen Meinung nicht zu erfassen: ausgehend von einer "pre-arranged statistical conception of the subject" 29 könne mit ihrer Hilfe am Ende nichts anderes in die Form eines Begriffs gebracht werden als das, was bereits zu ihrer Anwendung vorausgesetzt werden müsse. Es sei folglich verfehlt, etwa aus Daten der Umfrageforschung ein objektives Bild der Öffentlichen Meinung gewinnen zu wollen, denn: "The pollster has an ideology just as does the person who is interviewed and correlated". 30 Außerdem habe die empirische Sozialforschung dadurch, daß sie den Begriff der

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Hiervon ist das Verhältnis zwischen systemtheoretischer und sozialpsychologischer Sichtweise der Öffentlichen Meinung nur bedingt betroffen; vgl. die Luhmann-Rezeption bei NoelleNeumann, Schweigespirale, a. a. O . , S. 218-221. Zur Fachdiskussion um die Schweige-Theorie der Öffentlichen Meinung siehe bes. Donsbach, Wolfgang/Stevenson, Robert L.: Herausforderungen, Probleme und empirische Evidenzen der Theorie der Schweigespirale, in: Publizistik, 31. J h g . 1986 N r . 1-2, S. 7-34. Wilson, Francis G . : A Theory of Public Opinion. Chicago: Henry Regnery C o . 1962, S. 170. Ebd.

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Öffentlichen Meinung auf alle Meinungen in einer Gesellschaft anwende, die hoffnungslose ,Auflösung' seines ,klassischen' Sinngehaltes zuwege gebracht." Völlig verfremdet stehe er nunmehr jedermann als Leerformel zur freien Verfügung und sei für die strenge Analyse unbrauchbar geworden. Dem wird entgegengehalten, daß gerade der vermeintlich ,klassische' Begriff der Öffentlichen Meinung wenig für Erkenntniszwecke tauge. Behaftet mit zahlreichen Eingrenzungs- und Zuordnungskriterien könne ihm zwar vordergründig hohe Präzision bescheinigt werden, aber aus dem Blickwinkel der kritisch-rationalen Wissenschaftstheorie offenbare sich eben dies als seine entscheidende Schwäche: je komplexer nämlich das Definiens, desto geringer sei die Chance, eine entsprechend komplexe Wirklichkeit für die sinnvolle Anwendung des Terminus zu finden. Der tradierte Begriff sei daher eigentlich von geringem Nutzen, „und er öffnet keine wissenschaftlichen Fragestellungen, sondern er verschließt sie." 32 Außerdem sei durch die Forschung hinreichend belegt, daß die Öffentliche Meinung sich nicht auf das Ausüben vertikaler Kontrolle zwischen einer nur vage charakterisierten Elite ,mündiger Bürger' und den Organen oder Repräsentanten der Staatsmacht beschränke: sie könne diese Funktion überhaupt erst wahrnehmen, wenn sie sich zuvor in einem breiten horizontalen Integrationsprozeß formiert habe. Dessen Verlauf sei aber weniger durch rationale Sachorientierung bestimmt als vielmehr von einem sozialpsychologischen Mechanismus beherrscht, in dem das Gewicht von Argumenten gegen das Gewicht von Konformitätsdruck vergleichsweise geringe Bedeutung habe. Ein Festlegen der Öffentlichen Meinung auf Rationalität sei daher ebenso irrig wie ihre weiter gefolgerte Eingrenzung auf einen soziologisch-politischen Typus und bestimmte thematische Merkmale. Angesichts dieser grundsätzlichen Unvereinbarkeit der Positionen liegt die Vermutung nahe, daß die Diskussion um einen verbindlichen Begriff der Öffentlichen Meinung nicht ausschließlich unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten geführt werden kann. So läßt sich beobachten, daß die Vertreter der jeweiligen Konzepte auch durch Verweise auf die Entwicklungsgeschichte des Ausdrucks ,Öffentliche Meinung' die Folgerichtigkeit ihrer Vorstellungen von der Sache zu belegen suchen: Weil die Gegenwart durch eine tiefe Verständigungskrise auf wissenschaftstheoretischer und forschungspraktischer Ebene gekennzeichnet ist, knüpfen sich die Erwartungen zusehends an die Uberzeugungs- und Vermittlungskraft einer geschichtsbezogenen Argumentation.

31 3!

Vgl. Habermas, Strukturwandel, a . a . O . , S . 2 3 2 f f . Kepplinger, Hans Mathias: Probleme der Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften — Begriff und Gegenstand Öffentliche Meinung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 29. Jhg. 1977 Nr. 2, S. 233-260; hier: S.246.

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Wilhelm Hennis' kategorische Behauptung, „daß bis vor einem Menschenalter niemand bestritten hätte, daß die öffentliche Meinung ein Gegenstand der Staatstheorie ist"", wurde mittlerweile durch mehrere Untersuchungen der klassischen Literatur widerlegt: nicht nur am Beispiel Michel de Montaignes, sondern auch an den Arbeiten politischer Denker wie Locke, Rousseau und Tocqueville tritt ein Bewußtsein von der Mehrdimensionalität des Phänomens deutlich zutage. 34 Soweit der Verweis auf die Geschichte also nur zur Rechtfertigung des einen oder anderen aktuellen Standpunktes dienen soll, muß er zwangsläufig in unfruchtbarer und durchsichtiger Rhetorik enden; er wird dagegen um so mehr Gewinn bringen, als ihn die Bereitschaft zur EntTäuschung begleitet und die Gewißheit trägt, daß das unbefangene NachDenken der Vergangenheit eine notwendige Phase des Vor-Denkens zukünftiger Möglichkeiten bildet. Paul F. Lazarsfeld hat bereits vor annähernd drei Jahrzehnten eine Wiederbearbeitung der ,classical tradition' zum Begriff der Öffentlichen Meinung angeregt und auch darauf hingewiesen, daß abseits ihrer erkennbaren Hauptströmungen noch integrierende und weiterführende Einfälle zu finden seien: "[Inspecting] this classical material brings to our attention ideas which might otherwise have been overlooked, either because of preoccupation with the work of the day, or because empirical researchers are likely to be guided too much by what is a manageable topic at the moment, rather than by what is an important issue." 35 Er beendete sein damaliges Plädoyer mit der programmatischen Erklärung: "The essence of progress, it has been said, consists in leaving the ashes and taking the flames from the altars of one's forebears." 3 6 Bedeutsam und letztlich am weitsichtigsten erscheint in diesem Zusammenhang die Forderung, daß die Rekonstruktion dessen, was seither unter der Öffentlichen Meinung verstanden oder mit ihr in enger Verbindung gesehen wurde, nicht auf den Bereich der wissenschaftlichen Betrachtungsweise beschränkt bleiben darf; es gilt statt dessen, auch jene Erkenntnisversuche mit in die Bestandsaufnahme einzubeziehen, denen das Gegenständliche erst Anstoß gibt zur Frage nach dem Umfassenden und zur Reflexion im Grundlegenden: "Such an inquiry will need not only the specialized competence of the Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, a . a . O . , S. 18. Siehe ζ. B. Lazarsfeld, Paul F . : Public Opinion and the Classical Tradition, in: Public Opinion Quarterly, 21.Jhg. 1957 N r . 1, S. 39-53, sowie Noelle-Neumann, Elisabeth: Public Opinion and the Classical Tradition: a Re-Evaluation, in: Public Opinion Quarterly, 43.Jhg. 1979 N r . l , S . 1 4 3 - 1 5 6 ; dies.: Die Schweigespirale, a . a . O . , bes. S . 9 3 - 1 3 1 ; dies.: D a s Bundesverfassungsgericht und die ungeschriebenen Gesetze - Antwort an Ernst Benda, in: Die öffentliche Verwaltung, 35.Jhg. 1982 N r . 2 1 , S. 883-888; schließlich Raffel, Michael: Der Schöpfer des Begriffs Öffentliche Meinung - Michel de Montaigne, a. a. O . 3 ' Lazarsfeld, Public Opinion and the Classical Tradition, a . a . O . , S.41. 36 Ebd., S. 53.

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Nur Narr? Nur Dichter?

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scientist but something of the philosopher's vision to see life steadily and see it whole. Only if we do that we can hope to throw much light into the darkness that lies ahead." 37 In diesem Sinne soll hier Friedrich Nietzsche nach seinen Gedanken zur Öffentlichen Meinung befragt werden.

1.2. Nur Narr? Nur Probleme einer sozialwissenschaftlichen

Dichter? Nietzsche-Interpretation

Nietzsche hat wie kaum ein anderer auf die Gesellschaftswissenschaften gewirkt. Sigmund Freud, C. G. Jung, Ludwig Klages zählen ebenso zu seinen Lesern wie Simmel, Scheler, Mannheim, Sorel, Pareto, Dürkheim; sein Einfluß auf die Anfänge der heute weithin dominierenden amerikanischen Sozialphilosophie ist besonders am Pragmatismus, am Behaviorismus, in den Schriften Cooleys, Meads und Ross' greifbar, ohne daß er allerdings bislang befriedigend offengelegt worden wäre; herausgefordert durch eine abwertende Bemerkung Oswald Spenglers, äußerte Max Weber über die Bedeutung dieses Denkers: „Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran ermessen, wie er sich zu Marx und Nietzsche stellt. Wer nicht zugibt, daß er gewichtigste Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt." 1 Webers Einschätzung steht jedoch eine Reihe scharf ablehnender Urteile entgegen: Anders als Marx, dessen Rang heute selbst von jenen kaum bestrit37

Odegard, Peter H.: Social Dynamics of Public Opinion, in: Carlson, Robert O . (Hrsg.): Communications and Public Opinion. New York/Washington/London: Praeger 1975, S. 1 5 3 - 1 6 4 ; hier: S. 164.

1

Max Weber zu einem seiner Studenten nach einer Diskussion mit Oswald Spengler im Februar 1920, zit. n. Baumgarten, Eduard: Max Weber - W e r k und Person. Tübingen: J . C . B . M o h r (Paul Siebeck) 1964, S . 5 5 4 f . Zum Verhältnis Weber-Nietzsche siehe u. a. Fleischmann, Eugene: De Weber ä Nietzsche, in: Archives Europeennes de Sociologie, 5.Jhg. 1964 N r . 2 , S. 1 9 0 - 2 3 8 , sowie Turner, Bryan S.: Nietzsche, Weber, and the Devaluation of Politics: the Problem of State Legitimacy, in: The Sociological Review, 30.Jhg. 1982 Nr. 3, S. 3 6 7 - 3 9 1 . Schließlich Hennis, Wilhelm; Die Spuren Nietzsches im W e r k Max Webers, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S . 4 4 - 6 9 . Eine gute Darstellung der Bezüge zwischen Nietzsche und Dürkheim findet sich bei Tiryakian, Edward Α . : Sociologism and Existentialism. T w o Perspectives on Individual and Society. Englewood Cliffs: Prentice Hall 1962, bes. S . 2 2 f f „ S . 8 9 f f . und S . 1 7 0 . Gerade dieses W e r k steht aber auch beispielhaft dafür, daß der Einfluß Nietzsches auf die Klassiker des soziologischen Denkens bisher kaum konzentriert und systematisch, sondern meist nur am Rande anderer Fragestellungen erforscht wurde.

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ten wird, die nicht zu seinen ideologischen Nachfahren zählen, hat Nietzsche von jeher quer durch alle Bereiche der Soziologie und ihrer Ableger auch grundsätzliche Zweifel erregt. Sein Werk ist niemals Plattform für Schulbildungen gewesen; nur einzelne, aber meist herausragende Forscher beriefen sich öffentlich auf ihn; viele andere haben stillschweigend großen Nutzen aus seinem Gedankenreichtum gezogen und sich gleichzeitig von ihm distanziert. Letzteren ist beispielsweise Ferdinand Tönnies zuzurechnen, der um die Jahrhundertwende eigens ein Pamphlet gegen den ,Nietzsche-Kultus' veröffentlichte. Er selbst, schreibt er, habe als einer seiner ersten Leser in der Jugend für den Philosophen ,geschwärmt' und auch noch den Scharfsinn vieler Ideen im Umkreis des ,Menschlichen, Allzumenschlichen' bewundert; man dürfe sich aber schon hier über einen fast durchgehenden epigonenhaften Zug und ein letztlich vergebliches Bemühen um wissenschaftliche Exaktheit nicht hinwegtäuschen. 2 Dort jedoch, wo Nietzsche über den Positivismus hinausgreift und das „ergreifendste, ja entscheidendste geistige Ereignis des letzten Jahrhunderts" seinen eigentlichen Lauf nimmt 3 , vermag Tönnies nur noch „vagen Libertinismus" wahrzunehmen, „an dem man doch so wenig kritisieren kann, weil die P a r a d o x o s o p h i e darin von vornherein unwissenschaftlich anmutet." 4 Nietzsches späte Schriften durchziehe ein „krankhaft gesteigertes Selbstgefühl", es sei ein betrübliches Zeugnis geistigen Niedergangs, daß sie „im Gegensatz zu der reifen Milde der zweiten Phase einen pochenden, ja stöhnenden und galligen Ton annehmen" 5 , und überhaupt „ist in Nietzsche das alles n i c h t germanisch; der Pole in ihm kömmt an die Oberfläche. Oder ist es der Rassen-Mischling, der so mannigfache, widerspruchsvolle, sich hassende Elemente in sich trägt? - " ' Der Vorwurf des Spekulativen, des Paradoxen und vor allem der ,Unwissenschaftlichkeit', wieder in Tönnies' Kritik beispielhaft anklingt, vermag allerdings einen Philosophen nicht zu treffen, sondern beruht eher auf einer völligen Verkennung der Bedingtheiten im Bereich des Vernunftgebrauchs: „Der Forscher in den Wissenschaften fragt, um zu brauchbaren Antworten zu gelangen. Der Denker fragt, um eine F r a g w ü r d i g k e i t des Seienden im Ganzen zu gründen. Der Forscher bewegt sich stets auf dem Boden des schon Entschiedenen: daß es Natur, daß es Geschichte, daß es Kunst gibt, daß

Vgl. Tönnies, Ferdinand: D e r Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. Leipzig: O . R . Reisland 1897, Einleitung S. V und S. 29. 3 Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. 4. Aufl., Berlin: de G r u y t e r 1981, S. 107. 4 Tönnies, a . a . O . , S . 3 8 . s Ebd., S. 57. ' Ebd., S. 58. J

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solches zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden kann. Für den Denker gibt es nichts dergleichen; er steht in der Entscheidung, was denn überhaupt sei und was das Seiende sei." 7 Nicht nur Ferdinand Tönnies hat sich den Weg zu einem angemessenen Verständnis Nietzsches verstellt, indem er dessen umfassenden Ansatz mit rein wissenschaftlichen Kategorien zu begreifen suchte 8 ; immer wieder sind soziologische Bemühungen um Nietzsche gescheitert, weil ihnen die Bereitschaft zur Auseinandersetzung im Prinzipiellen abging, so daß hier - trotz der enormen Wirkung Nietzsches auf maßgebliche Forscher - vielleicht mehr als in anderen Disziplinen an Beispielen gezeigt werden kann: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze." 9 Dabei liegen die Ursachen für die Fehlgriffe und Mißverständnisse eines Teils der sozialwissenschaftlichen Nietzsche-Rezeption sicher auch im Gesamtcharakter seines Schaffens: „Nietzsche ist, wie Plato, kein Systemdenker, sondern ein Problemdenker" 10 , und er selbst schreibt einmal über sich: „Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." 11 In ihm verkörpert sich das „zweideutigste Jahrhundert" in der Geschichte des Abendlandes 12 , und in ihm kreuzen sich entscheidende geistige Entwicklungen bis zur gegenseitigen Aufhebung: Systeme gelten ihm nur noch als Symptome eines zum Untergang verurteilten Glaubens an ,Wahrheit'. Weil er folglich sein „Leben als Experiment des Erkennenden" gestaltet 13 , trägt auch sein W e r k die Spuren des Lebens: es spiegelt seine jeweiligen Interessen ebenso wider wie seine soziale Lagerung, es baut sich anscheinend auf aus lauter Sprunghaftigkeiten, SelbstHeidegger, Martin: Nietzsche. Erster Band. Pfullingen: Neske 1 9 6 1 , S . 4 7 7 . Nichtsdestotrotz wären die Beziehungen Nietzsche-Tönnies ( - die beiden lernten sich auch persönlich kennen; vgl. die Anmerkung von Ernst Behler zum Vortrag von Horst Baier: Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Decadence, in: Nietzsche-Studien, 1 0 . / l l . J h g . 1981/82, S . 2 4 - ) einmal eine eigene Untersuchung wert. Dies nicht nur, weil sich in Tönnies' äußerlicher Ablehnung und unterschwelliger Faszination eine typische Wirkungsweise Nietzsches besonders deutlich zeigt, sondern auch, weil Nietzsche später offenbar mit Tönnies' Kategorien operiert: vgl. den Gebrauch der Termini Gemeinschaft' und Gesellschaft' in § 2 0 der zweiten Abhandlung der .Genealogie der Moral', in: K G W VI 2, S. 345 f. 9 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. - Erste Abtheilung: Vermischte Meinungen und Sprüche, § 137, in: K G W IV 3, S. 72. 10 Kaufmann, Walter: Nietzsche. Philosoph - Psychologe - Antichrist. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S . 9 6 . " Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder W i e man mit dem Hammer philosophirt. Erstes Kapitel: Sprüche und Pfeile, § 2 6 , in: K G W VI 3, S. 57. 12 Heidegger, a. a. O., S. 102. 13 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. - § 3 2 4 , in: K G W V 2, S . 2 3 2 . 7

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Widersprüchen, Gegensätzen und inneren Zerrissenheiten. Nietzsche unternimmt absichtlich nichts, um diese Kanten und Unebenheiten zu glätten: er weiß, daß das Ganze wirklich ein Ganzes, daß es sein Ganzes bildet und eine unzweifelhafte Konsequenz in sich birgt. Gegen dieses Ganze allein fühlt er sich verantwortlich, und jeden Kompromiß zugunsten der Verständlichkeit, der ,Wirkung' lehnt er ab, ja mehr noch: er versucht höchst erfindungsreich, einem bestimmten Publikum den Zugang zu seinen Schriften zu verschütten, um sich selbst am Ende nicht an eine unausgewählte Öffentlichkeit zu verlieren. „Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für den Leser. Noch ein Jahrhundert Leser — und der Geist selber wird stinken."14 So hat Nietzsche, der von sich selber nicht ohne Genugtuung behauptet: „Ich bin der Versteckteste aller Versteckten" 15 , eine wissenschaftliche Würdigung seiner Gedanken bewußt erschwert - jedenfalls, soweit er Wissenschaft darauf ausgehen sah, den unaufhaltsamen Fluß aller Dinge in eine wirklichkeitswidrige Begriffs- und Formel-Erstarrung zu zwingen. Indem er alles einmal an ihn Herangewachsene, alles Erlebte und Erdachte als jeweils notwendig für seine Gesamtentwicklung stehenläßt und sich schließlich damit maskiert, ,Nur Narr! Nur Dichter!' gewesen zu sein16, führt er all jene in die Irre, die in der Ungeschichtlichkeit des Systemdenkens befangen sind und ,Widersprüche' sehen, wo tatsächlich ein Prinzip unterliegt und eine lange Kontinuität waltet. Nietzsche zwingt den Leser - wohlbegründet, wie noch zu zeigen sein wird - in seine Perspektive, indem er ihn zwingt, sein Leben selbst und die Entwicklung seines Denkens als ,System' anzusetzen. Schon früh formuliert er: „Der Leser, von dem ich etwas erwarte, muß drei Eigenschaften haben. Er muß ruhig sein und ohne Hast lesen. Er muß nicht immer sich und seine ,Bildung' dazwischen bringen. Er darf endlich nicht, am Schlüsse, etwa als Resultat, neue Tabellen erwarten." 17 Es liegt wohl auch an diesem Anspruch und an den Raffinessen, mit denen Nietzsche ihn durchzusetzen sucht, daß sein Werk - von wenigen Ausnahmen abgesehen18 - bisher noch nicht Gegenstand publizistikwissenschaftlicher Studien gewesen ist, obwohl „niemand tiefer die Kommunikation und Kommuni-

Ders.: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. - V o m Lesen und Schreiben, in: K G W VI 1, S. 44. 15 Ders.: Nachgelassene Fragmente, November 1882 - Februar 1883. 4 [120] in: K G W VII 1, S. 151. 16 Vgl. ders.: Dionysos-Dithyramben, in: K G W VI 3, S . 3 7 5 f f . " Ders.: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. - 2. Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in: K G W III 2, S . 2 5 5 . ,8 Eigentlich nur Goldschmit, Rudolf K . : Nietzsche und die Presse, in: Zeitungswissenschaft, 7.Jhg. 1932 Nr. 6, S. 3 4 0 - 3 4 8 , und Gutser, Ferdinand: Nietzsche und der Journalismus. München: Phil. Diss. 1938 (1946). u

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kationslosigkeit begriffen" hat als er." An seinen Ausführungen zum Problemkreis der Öffentlichen Meinung wird dieses Urteil von Karl Jaspers zu überprüfen sein. Der Aufbau der folgenden Untersuchung ist nicht an der Struktur des derzeitigen Wissensstandes über ,Öffentliche Meinung' ausgerichtet, weil ein Rubrizieren der Gedanken Nietzsches nach heute gängigen Theorien und Hypothesen unvermeidlich in auswegloser Verwirrung enden müßte. Anders als bei einem Systemdenker ist hier neben der Frage nach dem Inhalt des Gedachten die Frage nach dem Ort des Gedankens in der Entwicklung des Denkers unerläßlich: also wird die Gliederung dieser Arbeit von der Entstehungsgeschichte der Philosophie Nietzsches vorgegeben. Sie erfaßt zunächst seine philologischen Schriften und die kulturkritischen Abhandlungen von der ,Geburt der Tragödie' bis zur vierten ,Unzeitgemäßen Betrachtung' von 1876, dann die Aphorismensammlungen von den beiden Bänden ,Menschliches, Allzumenschliches' bis zur 1882 erschienenen ,Fröhlichen Wissenschaft' und im letzten Hauptabschnitt die Werke von ,Also sprach Zarathustra' bis zu den Wahnzetteln und -briefen aus der Zeit des geistigen Zusammenbruchs Nietzsches im Januar 1889. Wie schon ein flüchtiger Blick in die Veröffentlichungen des Philosophen zeigt, ist eine solche Konzeption im vorliegenden Fall auch dadurch gerechtfertigt, daß er das Problem der Öffentlichen Meinung in jeder seiner drei großen Schaffensperioden aus einem jeweils anderen Blickwinkel betrachtet. Darüber hinaus gibt es in Nietzsches Gedankenführung allerdings auch Elemente, die nicht ihre besondere Zeit haben, sondern über die Jahre fast unverändert bleiben; soweit deren Bearbeitung hier geboten erscheint, wird das chronologische Grundschema der Untersuchung durchbrochen und eine zusammenhängende Darstellung angestrebt. Während der formale Entwurf der Studie im großen und ganzen zweckmäßigerweise Nietzsches eigener Lebens- und Denkordnung verhaftet bleibt, soll sie inhaltlich einen Schritt weit über die immanente Interpretation hinausgehen. Zwar wird an erster Stelle erörtert, was Nietzsche bewußt, also seinem eigenen Verständnis der Sache nach über ,Öffentliche Meinung' geschrieben hat, und insofern handelt es sich hier um eine Auslegung des Philosophen in seinem selbstgezogenen Gedankenkreis; andererseits aber steht hinter dieser Arbeit auch die Absicht zur Bereicherung der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um das Phänomen der Öffentlichen Meinung, und damit wird Nietzsche ergänzend gefragt, was er möglicherweise unbewußt, also unserem heutigen Verständnis der Sache nach zur Öffentlichen Meinung zu sagen hat. Im Wechsel zwischen diesen beiden Perspektiven dürfte das geeignetste Verfahren zu sehen sein, um einen philosophischen Text für die Vermittlung " Jaspers, a . a . O . , S . 4 2 4 .

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zwischen gegenwärtig konkurrierenden Begriffskonzeptionen und vielleicht auch für die Formulierung weiterführender Forschungsfragen zu erschließen. „Es giebt n u r ein perspektivisches Sehen, n u r ein perspektivisches ,Erkennen'; und j e m e h r Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, j e m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ,Begriff' dieser Sache, unsre ,Objektivität' sein." 20 Dieser Satz Nietzsches soll den Versuch begleiten, das Phänomen der Öffentlichen Meinung zwar vom heutigen Stand der Sozialwissenschaften her, aber über seine Affekte und mit seinen Augen zu beschreiben.

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Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. - Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?, § 12, in: K G W VI 2, S. 383.

2. Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik 2.1. Zur Geschichtlichkeit der Öffentlichen

Meinung

Nietzsche mit der einfachen Frage entgegenzutreten, welchen ,Begriff' von Öffentlicher Meinung er hat, ist von vornherein vergeblich: ein solcher Ansatz zielt vorbei an der aphoristischen Struktur seiner Schriften, an seinem philosophischen Welt- und Selbstverständnis, vorbei vor allem an seinem Mißtrauen gegen alles Fest- und Verbindlich-Gemachte. Schon bevor er sich entschlossen der Philosophie zuwendet - also schon als Student und junger Dozent - ist er gefühlsmäßig Herakliteer; der Hang des Wissenschaftlers zum Herauslösen der Dinge aus ihrem raumzeitlichen Zusammenhang und zum Verstetigen alles Fließenden in einem sprachlichen Koordinatensystem ist an ihm nicht sonderlich ausgeprägt. Er läßt sich niemals auf hohe Grade von Begrifflichkeit ein und gibt in einer seiner späteren Abhandlungen einmal zu bedenken, was auch für den hier behandelten Gegenstand erwägenswert sein dürfte - „alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat." 1 Geordnetes, systematisches, wissenschaftliches Definieren ersetzt Nietzsche, wo immer ein Ausschnitt der Wirklichkeit sein Interesse erregt, indem er Vergleiche anhäuft, eine Fülle verschiedenster Zusammenhänge offenlegt und die Sache, um die es ihm geht, aus immerzu wechselnden Blickwinkeln beschreibt. Was er meint, wenn er Öffentlichkeit' und ,Öffentliche Meinung' sagt, erfährt man nicht direkt von ihm: wie ein Dompteur führt er die Bedeutung der Worte vor - aber er weigert sich, ihren Gehalt/esizustellen und ein für allemal zu fixieren. Ein erster Eindruck läßt sich daher nur gewinnen, indem nach durchgehenden Grundzügen in Nietzsches Aussagen zur Öffentlichen Meinung gesucht wird: Gibt es hier irgendeine ausdrückliche oder stillschweigende Voraussetzung, die in allen seinen Gedanken wiedergefunden werden kann? Auf welchem Wege ließe sich diese Voraussetzung ermitteln? Hierzu soll noch einmal daran erinnert werden, daß die gegenwärtigen Theorien der Öffentlichen Meinung sich im wesentlichen um zwei nebenein-

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Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. - Zweite Abhandlung, a . a . O . , §13, S.333.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

anderstehende Axiome gruppieren lassen. Das eine besteht in der Auffassung, daß ,Öffentliche Meinung' eine soziale Erscheinung sei, die als 'Prozeß gesellschaftlicher Konformierung definiert werden müsse, dessen Triebkräfte psychischer Natur seien. Das bedeutet: Öffentliche Meinung ist ein geschichtlich universelles Phänomen. Als kollektives Ergebnis bestimmter individueller Reaktionen in bestimmten sozialen Zuständen und Beziehungen ist sie überall dort wirksam, wo Mensch und Gesellschaft in wechselseitiger Kausalität stehen. Das andere Axiom besteht in der Behauptung, daß .Öffentliche Meinung' nicht über ihre Funktionsweise als permanenter sozialpsychischer Konformierungsprozeß, sondern über ihren ,objektiven' Zweck als Struktur-YXzmenx. der Gesellschaft zu definieren sei. Dieser Zweck aber beruhe auf rationaler Funktionszuweisung: ,Öffentliche Meinung' sei nicht .natürlich' mit den menschlichen Zusammenschlüssen gewachsen, sondern im Verlauf einer philosophischen Entwicklung erdacht, im Verlauf einer technischen Entwicklung ermöglicht und im Verlauf einer politischen Entwicklung verwirklicht worden. Daraus folgt: Öffentliche Meinung ist ein geschichtlich festgelegtes Phänomen. Sie wird überhaupt erst Wirklichkeit durch Presse, Aufklärung, Revolution, Pressefreiheit und bürgerliche Öffentlichkeit. Fragt man Nietzsche also, wie er zur Geschichtlichkeit der Öffentlichen Meinung steht, so erhält man mit der Antwort ganz zwangsläufig auch Aufschluß über seine allgemeine Sicht der Sache. Gesetzt, er will ihr Dasein auf die Neuzeit beschränkt wissen, so kann er nicht die psychischen Grundmuster menschlichen Sozialverhaltens als wesentlich für ihr Entstehen erachten; gesetzt aber, er zieht der Öffentlichen Meinung keine historischen Grenzen, so kann er nicht Legitimitätsglaube, Volksherrschaft und Pressewesen für ihre Hauptelemente halten und wird folglich eine vom Menschen ausgehende, prozeßorientierte, sozialpsychologische Sichtweise vorziehen. Eine Klärung ist wohl am ehesten von jenen Arbeiten zu erwarten, die Nietzsche als Student und später als Professor der Klassischen Philologie verfaßt hat. Tatsächlich sind seine Studien zur Kultur der Griechen, erhalten in

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Beispielhaft drückt sich diese Polarität in der Kontroverse zwischen Ferdinand Tönnies und Wilhelm Bauer aus: Ersterem zeigt sich die Öffentliche Meinung „schlechthin als der moderne Geist, der .subjektive Geist der Neuzeit'" (Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin: Springer 1922, S. 299), während letzterer dagegen polemisiert: „Vielleicht hängt es mit dieser Gleichung, Presse = öffentlicher Meinung, zusammen, vielleicht treibt aber auch ein unausrottbarer Namenglaube sein Spiel, wenn es manchem undenkbar erscheint, daß es vor dem Jahrhundert, in dem das W o r t öffentliche Meinung' geprägt worden ist, etwas gegeben habe, das diesem Begriff entspräche. Als ob erst mit dem Aufkommen der Ausdrücke .Syphilis' oder .Nervosität' die betreffenden Krankheiten aufgetreten wären!" (Die öffentliche Meinung in der Weltgeschichte. Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion 1930, S. 5).

Zur Geschichtlichkeit der Öffentlichen Meinung

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vielen Nachlaßfragmenten, Aufsätzen, Vorträgen und der ,Geburt der Tragödie', durchsetzt von zahlreichen Verweisen auf die Bedeutung des Öffentlichen in der Antike: So wie er die ,Öffentlichkeit' des Griechentums interpretiert, ist sie nichts weniger als eine lediglich politisch wirksame Kontrollinstanz, aber auch kein Bewußtseinszustand des einzelnen, der hauptsächlich vom Gefühl des Bedrohtseins geprägt ist, sondern die Daseinswirklichkeit schlechthin - so alltäglich und allumfassend, daß das Individuum ihr nicht ängstlich gegenübersteht, sondern unverkrampft, ja ekstatisch, außer sich in ihr lebt.3 Im Verhältnis der Griechen zur Öffentlichkeit, meint Nietzsche, liegt viel vom Geheimnis ihrer so oft bestaunten und so selten verstandenen Kultur: die Hellenen und ihr Lebensraum, „die antike ö f f e n t l i c h e Welt" 4 waren weniger geprägt von Furcht und Hang zum Konformismus als vielmehr von der Lust am Wettstreit, vom Reiz des Beobachtetwerdens, vom Drang zur Auszeichnung, von einer ursprünglichen Unschuld im Anderssein: nicht hemmend, sondern in hohem Maße anregend wirkte hier das Bewußtsein von Öffentlichkeit, und „die Tugend ohne Zeugen war für dies Schauspieler-Volk etwas ganz Undenkbares. [ . . . ] Die ganze antike Menschheit ist voll von zarten Rücksichten auf ,den Zuschauer', als eine wesentlich öffentliche, wesentlich augenfällige Welt, die sich das Glück nicht ohne Schauspiele und Feste zu denken wusste." 5 Nietzsche erkennt, daß auch diese Öffentlichkeit sich durch koordinierende Kommunikation verwirklicht und damit durch die Tendenz zur Öffentlichen Meinung bestimmt ist. In metaphorischer Verkleidung beschreibt er, wie Euripides durch seine tragische Kunst einen „Umschwung der öffentlichen Sprache" bewirkt habe' und gibt so zu verstehen, worin sich das Öffentliche

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Vgl. dazu Nietzsche, Friedrich: Zwei öffentliche Vorträge über die griechische Tragödie. Erster Vortrag: Das griechische Musikdrama, in: K G W III 2, S.4—22; hier bes.: S. lOf. Ders.: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. - § 2 4 7 , in: K G W VI 2, S. 198. Ders.: Zur Genealogie der Moral. - Zweite Abhandlung, a. a. O . , § 7, S. 321. - Ganz in diesem von Nietzsche angedeuteten Sinne hat Jürgen Habermas das Öffentliche bei den Griechen als „Reich der Freiheit und der Stetigkeit" beschrieben: „Im Licht der Öffentlichkeit k o m m t erst das, was ist, zur Erscheinung [ . . . ] ; im Streit der Gleichen miteinander tun sich die Besten hervor und gewinnen ihr Wesen - die Unsterblichkeit des Ruhms. So wie in den Grenzen des O i k o s die Lebensnot und die Erhaltung des Lebensnotwendigen schamhaft verborgen sind, so bietet die Polis das freie Feld für ehrenvolle Auszeichnung: wohl verkehren die Bürger als Gleiche mit Gleichen (homoioi), aber jeder bemüht sich hervorzustechen (aristoiein). Die Tugenden [ . . . ] bewähren sich einzig in der Öffentlichkeit, finden dort ihre Anerkennung." (Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 13. Aufl., Neuwied: Luchterhand 1982, S. 16). Ders.: Die Geburt der Tragödie, oder: Griechenthum und Pessimismus. - § 11, in: K G W III 1, S. 73.

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kristallisiert — dies im Falle des Euripides, obwohl er „gar nicht nach dem Geschmacke der damals herrschenden Masse" gewesen sei 7 ; Aristoteles verdächtigt er mit seiner Auffassung des Homerproblems einer „naiven Hingabe an die Volksmeinung" 8 , wie er überhaupt der „naiven Schätzung des Volkes" einigen Einfluß zuschreibt'; so sei von Aischylos und Sophokles zu berichten, daß sie „Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der Volksgunst standen"' 0 , wogegen beispielsweise Heraklit die Erfüllung in der Zurückgezogenheit gefunden habe: „Sein Wirken weist ihn nie auf ein P u b l i kum', auf den Beifall der Massen und den zujauchzenden Chorus der Zeitgenossen hin." 11 Ebenso legen seine Verweise auf die „Volksseele" im alten Griechenland die Vermutung nahe, daß er in ihr ein Substrat öffentlichen Lebens sieht12, und schließlich notiert er sich als vorbereitenden Gedanken zu seinem nachgelassenen Aufsatz ,Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen': „Jene griechischen Philosophen ü b e r w a n d e n d e n Z e i t g e i s t , um den Geist des Hellenischen nachempfinden zu können: sie drückten das Bedürfniß nach der Lösung ewiger Fragen aus." 13 Öffentlichkeit, öffentliche Welt, öffentliche Sprache, Volksmeinung, Volksgunst, Volksseele, Massengeschmack, Chorus der Zeitgenossen - diese Ausdrücke stehen in Nietzsches philologischen Erörterungen ersichtlich für das, was gemeinhin als ,Öffentliche Meinung' bezeichnet werden kann. Solange der Terminus hier allerdings nicht wörtlich nachzuweisen ist, muß die Vermutung bestehen bleiben, daß er ihn absichtlich vermieden hat, - womöglich, weil er in ihm eine typische Kategorie neuzeitlicher Staatsphilosophie sah, die für eine Darstellung der griechischen Gesellschaft nicht in Betracht kommen konnte. Ein fragmentarischer Gedanke, der sich wohl auf das Werk Homers bezieht, aber von Nietzsche leider nicht mehr im klärenden Zusammenhang einer größeren Abhandlung aufgegriffen wird, steht dieser Annahme entgegen: „Es ist das Zeugniß eines e t h i s c h e n Genies", schreibt er, „voll der äußersten Unverzagtheit vor der öffentlichen Meinung" 1 4 ; auch eine Bemerkung aus der dritten ,Unzeitgemäßen Betrachtung' dient der Erhellung: „In dem Maasse, als die Knechtschaft unter öffentlichen Meinungen und die Gefahr der

Ders.: Zwei öffentliche Vorträge über die griechische Tragödie. Zweiter Vortrag: Sokrates und die Tragödie, in: K G W III 2, S . 2 3 ^ 1 ; hier: S.29. 8 Ders.: H o m e r und die klassische Philologie, in: K G W II 1, S . 2 4 7 - 2 6 9 ; hier: S.257. 9 Ders.: D i e Geburt der Tragödie, a. a. O . , § 6, S. 44. 10 Ebd., § 1 1 , S. 75. " Ders.: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. - § 8 , in: K G W III 2, S.327. 12 Siehe vor allem den Vortrag über H o m e r und die klassische Philologie, a. a. O . 15 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1872 - Anfang 1873. 19 [9] in: K G W III 4, S. 6 f . 14 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Winter 1869/70 - Frühjahr 1870. 2 [18] in: K G W III 3, S.49. 7

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Freiheit zunimmt, kann sich die Würde der Philosophie erhöhen; sie war am höchsten unter den Erdbeben der untergehenden römischen Republik und in der Kaiserzeit"15; und schließlich findet sich in den Aufzeichnungen zum ,Antichrist' die Idee, den Siegeszug des Christentums im Imperium Romanum ursächlich als Prozeß der Öffentlichen Meinung zu verstehen: „Man lese einmal das neue Testament als V e r f ü h r u n g s - B u c h : die T u g e n d wird in Beschlag genommen, im Instinkt, daß man mit ihr die öffentliche Meinung für sich einnimmt".16 Damit ist erwiesen, daß Nietzsche nicht einzig die Neuzeit als Epoche der Öffentlichen Meinung ansieht, sondern das Phänomen expressis verbis auch in jenen Kulturen vorfindet, mit denen er sich als klassischer Philologe auseinandersetzt. Ebenso eindeutig tritt hier zutage, daß er nicht vorrangig das Politische, sondern das allgemein Gesellschaftliche - Religion, Moral, Tugend, Kunst - , vor allem aber das Individuum im Spiegel dieser sozialen Formungen als den eigentlichen Gegenstand der Öffentlichen Meinung erachtet: die wachsende Macht der Öffentlichen Meinung bewirkt eine ,Gefahr der Freiheit'. Was die Öffentliche Meinung inhaltlich will, bleibt zweitrangig angesichts dessen, was sie formal erzeugt: Knechtschaft, Unfreiheit, Konformität. Es scheint auf den ersten Blick, als ob Nietzsche sich hier widerspräche — hat er doch gerade am Griechentum das Öffentliche und das Meinen der Öffentlichkeit als Chance zur Bewährung und Befreiung, als eigentliche Sphäre der Selbstwerdung charakterisiert. Tatsächlich aber ergänzen sich beide Sichtweisen, sofern die Grundfunktion der Öffentlichen Meinung in sozialer Integration gesehen wird: Eine solche Integration ist in gefestigten Kulturen durchaus auf der Basis des Konflikts, des Wettstreits, der ungehemmten öffentlichen Individualisierung denkbar, während sie in Krisen- und Zerfallszeiten - also etwa in der ,untergehenden römischen Republik' - ganz auf die Erzeugung von Konformität gestützt werden muß. Wie zu beachten ist, sieht Nietzsche das Ausüben von Konformitätsdruck weder als konstitutiv noch als konstant am Prozeß der Öffentlichen Meinung; er betont statt dessen, daß die ,Knechtschaft' unter öffentlichen Meinungen je nach dem Gesamtzustand eines Gemeinwesens ab- oder zunimmt. Demnach begreift er ,Öffentliche Meinung' in stabilen Verhältnissen als weitgehend wertneutrale, bloße Sphäre

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Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. - Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, § 8, in: K G W III 1, S. 421. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887. 10 [73] ( 1 9 8 ) in: K G W VIII 2, S. 164. - In der Endfassung dieses Fragments (vgl. D e r Antichrist. Fluch auf das Christenthum. - § 4 4 in: K G W VI 3, S . 2 1 8 , Zeile 1 4 - 1 7 ) fehlt allerdings der Ausdruck ö f f e n t l i c h e Meinung'.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

der öffentlichen Kommunikation, in Phasen sozialer Auflösung dagegen als affektiv geladene Institution zur Herstellung von Einstimmigkeit.17 Dies führt zu der Frage, wie Nietzsche, der sich als klassischer Philologe eingehend mit der antiken Theaterkunst befaßt, die Funktion des Chors in der griechischen Tragödie deutet: Steht nicht gerade der Chor symbolisch für die Allgegenwart der Öffentlichkeit im klassischen Altertum? Kann er nicht ganz eindeutig gesehen werden als die Öffentliche Meinung auf der Bühne?18 Nietzsche weist diesen Gedanken nicht ein für allemal von sich, verarbeitet ihn aber auf eigene Weise. Dem Chor eine rein politische Symbolik zuzuschreiben, hält er für völlig verfehlt; ebenso wendet er sich gegen die Auffassung, die Konzeption des Chors sei zu jener des tragischen Schauspiels erst hinzugekommen. In seinen Augen steht es gerade umgekehrt: nicht die Tragödie hat den Chor, sondern der Chor hat die Tragödie hervorgebracht. Der Chor - anfänglich eine getanzte und gesungene, rauschhafte Verehrung des Dionysos - habe zuerst die Atmosphäre geschaffen, aus der die Dialoge einer tragischen Handlung entstehen konnten, er sei zuerst Stimmung und nicht fordernde ,Meinung' gewesen - „woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den geläufigen Kunstredensarten - dass er der idealische Zuschauer sei oder das Volk gegenüber den fürstlichen Regionen der Scene zu vertreten habe - irgendwie genügen zu lassen. Jener zuletzt erwähnte, für manche Politiker erhaben klingende Erläuterungsgedanke — als ob das unwandelbare Sittengesetz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen Ausschreitungen und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht behalte - mag noch so sehr

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Nietzsches entpolitisierter und historisch entgrenzter Gebrauch des Begriffs der Öffentlichen Meinung scheint für das 19. Jahrhundert weder so ungewöhnlich noch so unwissenschaftlich gewesen zu sein, wie Wilhelm Hennis (siehe Fußnote 6 in Kap. 1.2.) unterstellt: seine Baseler Professorenkollegen J a c o b Burckhardt und Franz Overbeck jedenfalls verwenden den Ausdruck ebenso unbefangen. - Vgl. z . B . den Traktat des Theologen Overbeck ,Ueber das Verhältnis der alten Kirche zur Sclaverei im römischen Reiche', in (ders.): Studien zur Geschichte der alten Kirche. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965 (Reprint der Ausgabe Schloss-Chemnitz 1875), S. 1 5 8 - 2 3 0 . Auf S. 169: „In R o m hatte sich freilich das rücksichtslose alte Recht [ . . . ] formell bis in die letzten Zeiten der Republik hinein unerschüttert aufrecht erhalten. In der öffentlichen Meinung aber wankte es schon um diese Zeit. [ . . . ] Mit der Begründung der kaiserlichen Gewalt erhält diese öffentliche Meinung Macht und die Sclaven einen natürlichen Beschützer gegen ihren H e r r n " . - Siehe aber auch dessen Streitschrift: U e b e r die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. 2. Aufl., Leipzig: C . G . Naumann 1903, bes. S. 42, S. 159, S. 190. Von den Werken Burckhardts sind hier die ,Griechische Kulturgeschichte', ,Die Kultur der Renaissance in Italien' und die nachgelassenen .Weltgeschichtlichen Betrachtungen' zu nennen; siehe Burckhardt, J a c o b : Gesammelte Werke Bd. III, V—VIII (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962) und Bd. IV (ebd., 1970).

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So z . B . interpretiert von Wilhelm Bauer, a . a . O . , S . 4 4 .

Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt sein: auf die ursprüngliche Formation der Tragödie ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiösen Ursprüngen der ganze Gegensatz von Volk und Fürst, überhaupt jegliche politisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist; aber wir möchten es auch im Hinblick auf [...] Aeschylus und Sophokles für Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer konstitutionellen Volksvertretung' zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht zurückgeschrocken sind." 19 Nietzsche gesteht allerdings zu, daß diese klassische Form des Chors als „das unendliche Sein, wie es von sich zu sich redet" 20 , im Laufe der Tragödientradition Wandlungen erfahren hat und dabei auch als Sinnbild des Öffentlichen in Erscheinung trat - „so verlangte der antike Chor für die ganze Handlung in jedem Drama Öffentlichkeit der Handlung, den freien Platz als die Aktionsstätte der Tragödie. Dies ist eine verwegene Forderung: denn die tragische That und die Vorbereitung zu ihr pflegt sich gerade nicht auf der Straße finden zu lassen, sondern erwächst am besten in der Verborgenheit. Alles öffentlich, alles im hellen Licht, alles in Gegenwart des Chors — das war die grausame Forderung." 21 Aber nie, so Nietzsche, sei der Chor auf eine einzige Funktion festgelegt gewesen, sondern man habe in ihm vielmehr durchgehend das große verbindende Element auf dem Theater zu sehen „einmal der lebendige Resonanzboden, sodann das Schallrohr, durch das der Akteur seine Empfindung colossalisch dem Zuschauer zuschreit, drittens der lautgewordene lyrisch gestimmte leidenschaftlich singende Zuschauer." 22 Der Chor als offenes System, als Medium, das sowohl den jeweils öffentlich handelnden Individuen als auch der beobachtenden Gesellschaft' zur Verfügung steht - der Chor als Zentrum der Integration: in diesem Entwurf fügen sich Nietzsches Bemerkungen über die Öffentliche Meinung im klassischen Altertum zu einem plastischen Ganzen. -

2.2. Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen

Meinungen'

Die kritische Methode des Unzeitgemäßen Betrachters: Typisierung und Destruktion Wie an Nietzsches philologischen Schriften gezeigt werden kann, hat er schon aus der Erkenntnisperspektive des Wissenschaftlers das Phänomen der 19 20

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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie, a . a . O . , § 7 , S . 4 8 f . Rudensky-Brin, Slata Genia: Kollektivistisches in der Philosophie Nietzsches. Basel: Helbing und Lichtenhahn 1948, S.30. Nietzsche, Friedrich: D a s griechische Musikdrama, a . a . O . , S. 14. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1869. 1 [40] in: K.GW III 3, S. 16.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Öffentlichen Meinung im Blick. Aber unter dem prägenden Einfluß persönlicher Erfahrungen verflüchtigt sich zusehends die sachliche Distanziertheit des Forschers aus seinem Denken und Schreiben: gebannt vom Pessimismus Schopenhauers und dessen polemischer Verachtung der Jetztzeit' und begeistert von der heftig umstrittenen Kunst seines väterlichen Freundes Richard Wagner veröffentlicht er ,Die Geburt der Tragödie', sein erstes größeres Werk - um damit unter reichsdeutschen Fachkollegen seinen Ruf zu zerstören, kaum daß er ihn als siebenundzwanzigjähriger Baseler Ordinarius erworben hat. Vergeblich war er von seinem alten Leipziger Professor und Mentor Friedrich Ritsehl schon Jahre vorher gewarnt worden: „Zu Ihrem Gedanken an ein buntes Allerlei, mag es noch so anregende und meinetwegen geistreiche Bestandtheile haben, sage ich, wenn es sich um die erste B u c h p u b l i k a t i o n handelt, ein entschiedenes Nein. [ . . . ] Ich mache hiermit durchaus Realpolitik, schlechterdings die idealen, wenn auch a n s i c h noch so berechtigten Gesichtspuncte abweisend. Und glaube mein Publicum zu kennen, welches denn doch einmal eine reale Macht ist; bis zu einer gewissen Grenze s o l l man m. E. der öffentlichen Stimme - oder nennen Sie es Zeitströmung oder wie Sie wollen — billige, verständige, jedenfalls kluge Rechnung tragen." 1 Solche Klugheitsrücksichten aber kennzeichnen die ,Geburt der Tragödie' nicht, und die befremdete philologische Öffentlichkeit antwortet auf diesen Versuch über ,Griechenthum und Pessimismus' zuerst mit scharfer Kritik und schließlich mit undurchdringlichem Schweigen. 2 Dies gibt Nietzsche den letzten Anstoß, sich innerlich von einer Disziplin abzuwenden, die ihm bei allem Talent doch immer zu eng gewesen ist. Seine Erfüllung sucht er nicht länger in der Entdeckung der Vergangenheit, sondern im Angriff auf eine lärmende, aber taub und faul gewordene Gegenwart: ,Unzeitgemäße Betrachtungen' will er künftig seinen Zeitgenossen als Spiegel entgegenhalten, um so „gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit - zu wirken." 3 Zeitkritik wird von nun an sein Philosophieren wesentlich bestimmen und ihm allmählich jene Gesamtschau der abendländischen Kulturentwicklung ermöglichen, ohne die seine spätere Philosophie undenkbar erscheint; die Auseinandersetzung mit dem Umgebenden, persönlich Erfahrbaren ist nicht nur Episode oder Randerscheinung seines Schaffens, sondern gleichermaßen Vorbereitung zu seinen zentralen Gedanken wie schließlich auch Chance zu ' Friedrich Ritsehl an Nietzsche in Basel, Brief vom 5. November 1869. Nr. 38 in: K G B II 2, S. 75 f. 2 Zur Kontroverse um das Werk siehe Gutser, Ferdinand: Nietzsche und der Journalismus. München: Phil. Diss. 1938 (1946), S . 3 7 f f . 3 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: V o m Nutzen und Nachtheil der Historie f ü r das Leben, V o r w o r t , in: K G W III 1, S. 243.

Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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deren praktischer Erläuterung: „Nietzsches Denken der Vergangenheit wie sein Erdenken der Zukunft geht aus von seinem Bewußtsein dieser Gegenwart. Er fragt, was jetzt eigentlich geschieht."4 Was aber ist ,die Zeit' und wie läßt sie sich überhaupt kritisieren? „Wer seine Zeit angreift, kann nur s i c h angreifen: was kann er denn sehen wenn nicht sich?"5 - Wohl wissend, daß der allgemein Entrüstete sich in eben jenem Maße selber in Frage stellt, wie er mit großer Gebärde seine ,Zeit' anklagt, verdichtet Nietzsche die Kritik der Gegenwart in seinen Schriften meist zu einer Kritik jenes Menschenschlages, der ihr mit seinem Herkommen, seinen Wertungen, seinen Wünschen und seinem Verhalten unverwechselbare Züge verleiht. So formt er schon gefühlsmäßig ,reine Typen' und spricht auch wortwörtlich von ihnen6, lange bevor Max Weber das Idealtypenkonzept im Rahmen seiner verstehenden Soziologie zu voller Reife entwickelt. Daher ist zutreffend bemerkt worden: „Nietzsches Methode war im Ursprung genau dieselbe wie die Webers."7 Allerdings wird hier zu Recht eingeschränkt, daß beide nur ursprünglich gleich ansetzten: während nämlich Weber das Heraussteigern eines Idealtypus' aus der sozialen Wirklichkeit nur als Mittel zum wissenschaftlichen Zweck betreibt und nicht stehenbleibt, sondern die Konstruktion - das heißt: die Einordnung des Idealtyps in ein soziologisches System sinnvoll zu Ende führt, betreibt Nietzsche, sobald er Idealtypisches in Händen hält, dessen psychologistische Destruktion. In der Soziologie Webers sind reine Typen nützliche Hilfen zur Klärung von Wesensfragen; Nietzsche braucht seine Typen aber, um an ihnen Wertfragen zu entscheiden. Wenn Jaspers ihm also „soziologische Typen" zubilligt8, kann das nur bedingt gelten: Nietzsche gewinnt seine Typen zwar mit quasi-soziologischem Griff, aber er zieht sie immer sogleich ins Spannungsfeld seiner interessengeladenen Psychologie, um sie zwischen Verdacht und Entlarvung zu zerreiben. Es gibt daher durchaus Gründe zu dem Urteil: „Nietzsche hat [ . . . ] gar keinen politischen oder soziologischen Blick. Seine extrem introspektive Psychologie läßt ihn kaum soziologische Strukturen erfassen. Die unangebrachte 4

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Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. 4. A u f l . , Berlin: de G r u y t e r 1981, S . 2 4 5 . Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Frühling-Sommer 1878. 2 7 [81] in: K G W IV 3, S. 358. Ders.: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: K G W III 2, S. 2 9 3 - 3 6 6 ; hier: S. 304. - Die Formulierung steht hier zwar nicht in zeitkritischem Bezug, wird aber zweifelsfrei im späteren Weber'schen Sinne verwendet. Schoeck, Helmut: Nietzsches Philosophie des ,Menschlich-Allzumenschlichen'. Kritische Darstellung der Aphorismenwelt der mittleren Schaffenszeit als Versuch einer Neuorientierung des Gesamtbildes. Tübingen: J. C. B. M o h r (Paul Siebeck) 1948, S. 85. Jaspers, a. a. O., S. 161 f.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Psychologisierung aller gesellschaftlichen Gebilde beruht auf dem Mangel jeglicher Unterscheidung zwischen gesellschaftswissenschaftlicher Aufgabe einerseits und Psychologie des Einzelwesens andererseits."' Hier sollte jedoch erwogen werden - und Nietzsche selber fordert in späteren Jahren energisch dazu auf ob der ,soziologische Blick' schon scharf genug sein kann, wenn er sich allein auf die Strukturmerkmale einer Gesellschaft beschränkt und die strukturbildenden psychologischen Zusammenhänge des Gemeinwesens weitgehend außer acht läßt. Viel von der ,Magie des Extrems', die sich Nietzsche zugute hält, kann aus der rücksichtslosen Radikalisierung dieser Perspektive auch in seinen frühen Schriften erklärt werden. Wo immer ihm das Was und das Wie menschlichen Zusammenlebens zum Problem wird, sucht er die Antworten über ein aufs Äußerste gesteigertes ,Wer'. Was sich bis in seine letzte Schaffensperiode zur subtilen und philosophisch begründeten Methode entwickelt, führt er hier schon unterbewußt in Grundzügen vor: Er schreibt ,Unzeitgemäße Betrachtungen', aber nicht direkt gegen die Zeit, sondern über ihre Künstler, ihre Denker, ihre Schriftsteller, ihre Journalisten, - kurz: über den neuen Typus des ,Gebildeten'.

Der ,Bildungsphilister' in der öffentlichen Kommunikation Er schreibt damit auch über den Gegenstand dieser Untersuchung; seine erste ,Unzeitgemäße Betrachtung' über den Theologen David Friedrich Strauß beginnt mit den Worten: „Die öffentliche Meinung in Deutschland"10, und diese Eröffnung bezeichnet im Grunde die Stoßrichtung der gesamten Schrift. Aber nie rückt das Phänomen selbst in den Mittelpunkt seiner Kritik, nie fragt er konzentriert, was denn diese Öffentliche Meinung sei und wie sie wirke. Wer jedoch die Öffentliche Meinung ist, wer sie formt, wer sie beherrscht, wer durch sie geformt und beherrscht wird, das zeigt Nietzsche aus der Perspektive des wagnerisch-idealisierten Kulturerneuerers in vielfältigen Wendungen: Es ist der Parvenu, der sein hoffnungsloses Mittelmaß hinter lautstarker Kunstbeflissenheit zu verbergen sucht; es ist der Bourgeois, der an allem nascht und doch nie lernt, was Geschmack ist; es ist der ganz und gar materialistische Gründerzeitdeutsche, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt, es ist - auf einen einzigen Begriff gebracht - der Typ des ,Bildungsphilisters', der die Zeit fest in der Hand hat.

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Schoeck, a. a. O . , S. 4. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. - Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, § 1, in: K G W III 1, S. 155.

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Das Wort sagt es schon: der ,Bildungsphilister' verkörpert sinnbildlich die Synthese von Bildung und Philisterei. Bestand die deutsche Kultur bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein unter dem Blickwinkel Nietzsches noch aus der notwendigen Trennung von Gebildeten, Gelehrten, Philosophen, Künstlern auf der einen Seite und Kleinbürgern, Spießern, Biedermännern - Philistern' - auf der anderen, so führen nunmehr der Durchbruch des Liberalismus, die rapide Verbreiterung der journalistischen Öffentlichkeit und die schnell voranschreitende Industrialisierung zu entscheidenden Umwälzungen: das Geistesleben wird durch die Presse zum Gemeingut, und der Bürger, mittlerweile zu Frieden, Sicherheit und einigem Wohlstand gekommen, sucht sich durch ,Bildung' zu vervollständigen. Wo aber jeder über jegliches mitreden darf, muß auch der Geist verflachen und sich in einem alles beherrschenden Mittelmaß auflösen: „Jetzt schütteln sich die , G e b i l d e t e n ' unter den bekanntlich so kultivirten Deutschen, und die . P h i l i s t e r ' unter den bekanntlich so unkultivirten Deutschen, öffentlich die Hände und treffen eine Abrede mit einander, wie man fürderhin schreiben dichten malen musiciren und selbst philosophiren, ja regieren müsse, um weder der ,Bildung' des Einen zu ferne zu stehen, noch der ,Gemüthlichkeit' des Anderen zu nahe zu treten. Dies nennt man jetzt ,die deutsche Cultur der Jetztzeit'". 11 Gerät Nietzsche hier aber nicht auf den Abweg zu einem funktional wie soziologisch verengten ,Elitekonzept' der Öffentlichen Meinung? Erklärt er nicht, indem er den Bildungsphilister erdenkt12, die Öffentliche Meinung zur alleinigen Sache der bürgerlichen Klasse - ganz so wie Hans Speier, der später ausgeführt hat: "In nineteenth-century Europe public opinion was a synonym of opinions expressed by the political representatives of the electorate, by newspapers and by prominent members or organizations of the middle class"?13 Und steht diese Typbindung der Öffentlichen Meinung nicht im Gegensatz zum bisher Gesagten und Gefundenen? Tatsächlich sagt Nietzsche nirgendwo, daß die Öffentliche Meinung ausschließlich unter ,Gebildeten' beheimatet und womöglich ohne sie gar nicht denkbar sei; er weist aber unablässig auf die Anmaßung dieser vermeintlich Gebildeten hin, ihre kanonisierten Meinungen für die schlichtweg öffentlich möglichen zu halten. In den ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' greift er also jene " Ders.: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. - 4. Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur, in: K G W III 2, S. 2 7 2 - 2 7 6 ; hier: S . 2 7 3 f . 12 Seinen „Anspruch auf die Vaterschaft des [ . . . ] W o r t e s ,Bildungsphilister'" (Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede § 1, in: K G W IV 3, S. 4) erhebt Nietzsche allerdings zu Unrecht: Bettina von Brentano beklagt bereits 1848 in einem Brief die ,Bildungsphilisterei'; vgl. Meyer, Herman: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte. Stuttgart: J . B . Metzler 1963, S. 179 ff. 13 Speier, Hans: Historical Development of Public Opinion, in (ders.): Social O r d e r and the Risks of War. N e w Y o r k : George W . Stewart 1952, S. 3 2 3 - 3 3 8 ; hier: S. 335.

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öffentliche Meinung an, die von sich glaubt, sie allein sei die Öffentliche Meinung; er greift den Glauben an, daß die Gründung des Reichs ein Beweis für die ,Kultur' der Deutschen gewesen sei, und er greift besonders das unschöpferische Behagen an, mit dem seine Landsleute sich im Zeichen dieses Glaubens über die tiefe Kluft zwischen Macht und Geist im Deutschen Reich betrügen: „Denn alles, was mit der öffentlichen Meinung meint, hat sich die Augen verbunden und die Ohren verstopft - jener Kontrast soll nun einmal nicht da sein. Wie ist dies möglich? Welche Kraft ist so mächtig, ein solches ,Soll nicht' vorzuschreiben? Welche Gattung von Menschen muss in Deutschland zur Herrschaft gekommen sein, um so starke und einfache Gefühle verbieten oder doch ihren Ausdruck verhindern zu können? Diese Macht, diese Gattung von Menschen will ich beim Namen nennen - es sind die Bildungsphilister."14 Nietzsche hält den Bildungsphilister für soziologisch allgegenwärtig: er hat im geistig-kulturellen Bereich alle Schranken niedergerissen und verwirklicht, was im übertragenen Sinne als nivellierte Mittelstandsgesellschaft bezeichnet werden kann. Er, „der altkluge und neuweise Schwätzer über Staat, Kirche und Kunst, das Sensorium für tausenderlei Anempfindungen, der unersättliche Magen, der doch nicht weiss, was ein rechtschaffener Hunger und Durst ist" 15 , vermeidet es geradezu, als einzelner, als original zu erscheinen. In sorgfältiger Umweltbeobachtung spekuliert er mit seinen halbfertigen Ansichten zu allem und jedem mit der Beweglichkeit eines Börsenmaklers; er weiß, daß mitreden können, ,Geist' haben, ,gebildet' sein zum Geschäft gehört: „Er nimmt um sich herum lauter gleiche Bedürfnisse und ähnliche Ansichten wahr; wohin er tritt, umfängt ihn auch sofort das Band einer stillschweigenden Convention über viele Dinge, besonders in Betreff der Religions- und Kunstangelegenheiten: diese imponirende Gleichartigkeit, dieses nicht befohlene und doch sofort losbrechende tutti unisono verführt ihn zu dem Glauben, dass hier eine Kultur walten möge." 16 Den tieferen Widersinn dieser Kultur der Selbsttäuschung sieht Nietzsche darin, daß sie zwar äußerlich den Anschein größter Liberalität erweckt und daß dieser Anschein von den meisten ,Gebildeten' auch für bare Münze genommen wird - aber aus der Nähe zeigt sich ihr Inneres als sehr beschränktes Sammelsurium konventioneller Themen, öffentlich gestatteter Verhaltensweisen und erlaubter Äußerungen. „Der Mensch hat jetzt sehr viel Freiheit, es ist seine Sache, dass er sie so wenig gebraucht; der Fanatismus des Meinens ist

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Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße I, a . a . O . , § 2 , S. 160f. Ders.: Unzeitgemäße II, a . a . O . , §10, S. 322. Ders.: Unzeitgemäße I, a. a. O . , § 2 , S. 162.

Der Mensch im .Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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sehr gemildert"17, befindet Nietzsche im Rückblick auf den Dogmatismus des Mittelalters, die Zeit des Absolutismus und den Terror der Revolution - um für die Gegenwart festzustellen: „Es ist alles erlaubt zu denken, aber im Grunde ist gerade nur die öffentliche Meinung erlaubt. Man ist scheinbar frei geworden, indem man sich die Fesseln der s t r e n g e n Convention zerriss und die Stricke der Philisterei eintauschte."18 Die Errungenschaft der modernen Zeit, freie Meinungen haben zu dürfen, ist in Nietzsches Augen längst schon wieder in den Zwang umgeschlagen, ganz bestimmte Meinungen haben zu müssen — solche nämlich, die öffentlich anerkannt sind und von denen ,man' weiß, daß man als ,gebildet' und gesellschaftsfähig' gilt, wenn man sie zur Schau trägt. Während also „noch nie so volltönend von der ,freien Persönlichkeit' geredet worden ist, sieht man nicht einmal Persönlichkeiten, geschweige denn freie, sondern lauter ängstlich verhüllte Universal-Menschen." 1 ' Mochte früher die gemeinsame Gottesfurcht und der Rahmen einer göttlich gewollten sozialen Ordnung für das öffentliche Meinen bestimmend gewesen sein, so ist nunmehr - in der letzten Konsequenz der Befreiung des Menschen aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit die allgemeine Menschenfurcht zur Grundlage der Öffentlichen Meinung geworden. Wer im Zeitalter der Gleichheit und der wachsenden sozialen Abhängigkeit erträglich leben will, muß sich anpassen; so stellt sich das öffentliche Leben jedes einzelnen dar als ein „Einhergehen in erborgten Manieren und übergehängten Meinungen"20, voller Furcht vor den anderen und voller versteckter Selbstverachtung. Nietzsche schreibt darüber: „Jener Reisende, der viel Länder und Völker gesehn hatte und gefragt wurde, welche Eigenschaft der Menschen er überall wiedergefunden habe, sagte: sie haben einen Hang zur Faulheit. Manchen wird es dünken, er hätte richtiger und gültiger gesagt: sie sind alle furchtsam. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen. Im Grunde weiss jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Mal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird: er weiss es, aber er verbirgt es wie ein böses Gewissen - weshalb? Aus Furcht vor dem Nachbar, welcher die Convention fordert und sich selbst mit ihr verhüllt."21

" Ders.: Nachgelassene Fragmente, März 1875, 3 [76] in: K G W IV 1, S. 113. 18 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1873. 29 [118] in: K G W III 4, S.293. " Ders.: Unzeitgemäße II, a . a . O . , § 5 , S.277. 20 Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. - Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, ξ 1, in: K G W III 1, S. 333. 21 Ebd.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Nietzsches Vorstellung von der Entstehung und der Ausbreitung öffentlicher Meinungen läßt sich also folgendermaßen wiedergeben: Der moderne Gebildete ist ein überaus diesseits- und gegenwartsbezogener Menschentyp; er strebt vor allem nach sozialer Anerkennung und materiellem Wohlstand. Seine Individualität ahnt er zwar als Möglichkeit, wagt aber nicht, sich zu ihr zu bekennen; statt dessen fingiert er in Sitten und Meinungen eine öffentlich erlaubte Individualität, empfindet jedoch dadurch auch besonders deutlich seine verzagte Selbst-Verantwortungslosigkeit; schließlich kann er das Quälende dieser Empfindung nur ausgleichen, indem er seinen Nächsten mit allen Mitteln in die Zwangsjacke jener Konvention zwingt, die seine eigene Entfaltung verhindert. Aber warum dies - „warum hinhorchen nach dem, was der Nachbar sagt? Es ist so kleinstädtisch, sich zu Ansichten zu verpflichten, welche ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten." 22 Nietzsche wundert sich, „wie gebunden die Vorstellung und Einbildung der Menschen ist, sie nehmen das Leben nie als ein Ganzes wahr. Sie fürchten sich vor den Worten und Meinungen ihrer Nächsten - ach, nur zwei Generationen weiter und niemand hat mehr die Meinungen, die jetzt herrschen und euch zu Sklaven machen wollen." 2 3 W o jedoch liegt die Ursache dafür, daß der einzelne sich fremden Meinungen unterwirft? Welchen Grund gibt es für ihn, das Wohlwollen der Mitmenschen höher zu schätzen als die unbedingte Ehrlichkeit gegen sich selbst? Die Philister, vermutet Nietzsche, fürchten sich letzten Endes vor dem Zurückgeworfenwerden auf das eigene Ich - denn dieses alleine bleibt ihnen in all seiner Trostlosigkeit, Oberflächlichkeit und Leere, wenn sie den Meinungen der Öffentlichkeit die Gefolgschaft versagen. Das isolierte Ich aber läßt sich nicht mehr vor sich selber verstecken; so ziehen sie vor, „lieber gejagt, verwundet und zerrissen [zu] werden, als mit sich selber in der Stille beisammenwohnen zu müssen. Mit sich selber! - dieser Gedanke schüttelt die modernen Seelen, das ist i h r e Angst und Gespensterfurcht. / Wenn ich mir in volkreichen Städten die Tausende ansehe, wie sie mit dem Ausdrucke der Dumpfheit oder der Hast vorübergehen, so sage ich mir immer wieder: es muss ihnen schlecht zu Muthe sein. [ . . . ] ; wollen sie sprechen, so flüstert ihnen die Convention Etwas in's O h r , worüber sie vergessen, was sie eigentlich sagen wollten; wollen sie sich mit einander verständigen, so ist ihr Verstand wie durch Zaubersprüche gelähmt, so dass sie Glück nennen, was ihr

22 23

Ebd., S. 335. Ders.: Nachgelassene Fragmente, S o m m e r - H e r b s t 1873. 29 [210] in: K G W III 4, S . 3 2 2 .

Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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Unglück ist, und sich zum eigenen Unsegen noch recht geflissentlich mit einander verbinden."24 Die Innerlichkeit also ist es, die der bürgerliche ,Gebildete' unter allen Umständen vermeiden will: er weiß nicht mit ihr umzugehen, und sie ist ihm eine einzige, übermächtige Bedrohung. Der Preis aber, den er für seine Vermeidung der Innerlichkeit zahlen muß, heißt: .Öffentlichkeit'. Nie, so befindet Nietzsche, war der Zug zum Öffentlichen verzweifelter als in unserer Zeit: „Das Zeitalter hat die u m g e k e h r t e n Instinkte: es will vor allem und zuerst Bequemlichkeit; es will zuzweit Öffentlichkeit und jenen großen Schauspieler-Lärm, jenes große Bumbum, welches seinem Jahrmarkts-Geschmacke entspricht".25 Dieses Öffentlichkeitsbedürfnis steht jenem absolut entgegen, das Nietzsche bei den Griechen vorfand. Es kommt nicht aus dem Reiz der Selbstdarstellung, es äußert sich nicht als Drang, die Freude am eigenen Persönlichkeitsbild zu bewähren und zu erhöhen, indem die Schwelle des Privaten überschritten wird, sondern es muß gedeutet werden als die letztmögliche Perversion der menschlichen Furcht: „Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein auch das scheue Verbergen dieser Hast, weil man zufrieden scheinen will und die scharfsichtigeren Zuschauer über sein Elend täuschen möchte, allgemein das Bedürfniss nach neuen klingenden WortSchellen, mit denen behängt das Leben etwas Lärmend-Festliches bekommen soll."26 Die Hast der Zeit und ihrer ,Gebildeten' sieht Nietzsche angetrieben durch eine sich übersteigernde Sucht nach neuen, besseren, aufreizenderen Betäubungsmitteln: „Als ob ein Trank in ihnen wirkte, der sie nicht mehr ruhig athmen Hesse, stürmen sie fort in unanständiger Sorglichkeit, als die geplagten Sclaven der drei M, des Moments, der Meinungen und der Moden: so dass freilich der Mangel an Würde und Schicklichkeit allzu peinlich in die Augen springt und nun wieder eine lügnerische Eleganz nöthig wird, mit welcher die Krankheit der würdelosen Hast maskiert werden soll."27 Die Gründe der Rastlosigkeit im öffentlichen Leben des Zeit-ist-GeldPhilistertums liegen Nietzsche zufolge darin, daß der Durchschnittsmensch mit sich selber nicht im reinen sein will, weil ihm die Kraft, die Ausdauer und das innere Schwergewicht fehlt, um mit sich ins reine kommen zu können. Öffentliche Hast und charakterliche Schwäche hängen ursächlich zusammen, und aus diesem Zusammenhang können auch die öffentlichen Meinungen 24

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Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. - Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth, § 5 , in: K G W IV 1, S. 33. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Juni-Juli 1885. 37 [14] in: K G W VII 3, S . 3 1 5 . Ders.: Unzeitgemäße III, a . a . O . , § 5 , S . 3 7 5 . Ebd., § 6 , S. 388.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

erklärt werden: Es sind Meinungen, die kaum je von privaten Einstellungen getragen werden, weil kaum noch jemand willens ist, Einstellungen zu entwikkeln und durchzuhalten, es sind Dekorationsstücke, „zur eitelsten Schaustellung ausgedacht, um das Urtheil anderer über sich irre zu führen" 28 , es sind bloße Versatzobjekte, die auf der öffentlichen Bühne beliebig ersteigert, verschoben, zur Spekulation oder zur Unterdrückung benutzt werden können - kurzum: „Öffentliche Meinungen - private Faulheiten." 2 ' In dieser Formel liegt Nietzsches zentrale Gleichung zum Phänomen der Öffentlichen Meinung für seine erste und den Beginn der zweiten Schaffensperiode vor. Sie erscheint zuerst in der 1874 veröffentlichten dritten U n z e i t g e mäßen Betrachtung' über Schopenhauer; Hans von Bülow, der große WagnerDirigent, schreibt ihm daraufhin begeistert aus London: .„Öffentliche Meinungen - private Faulheiten' - brillant! Das ist wieder ein geflügeltes Wort gleich dem Bildungsphilister, selbst in dessen eigenen Kreisen der ausgedehntesten Popularität sicher. Bismarck müßte es einmal im Parlamente citiren!" 3 0 Vielleicht ist es das L o b dieses von Nietzsche sehr geschätzten Musikers, vielleicht aber ist es auch das Gefühl, alles Wesentliche hier in die kürzestmögliche Form gebracht zu haben, das ihn immer wieder zu dem Satz zurückführt - jedenfalls notiert er sich 1876 noch einmal: „Die öffentlichen Meinungen gehen aus den privaten Faulheiten hervor. Aber was geht aus den privaten Meinungen hervor? - Die öffentlichen Leidenschaften." 31 Der Gedanke beschäftigt ihn auch, als der erste Band ,Menschliches, Allzumenschliches' in den Druck geht; an seinen Verleger, der das fertige Manuskript bereits setzt, schreibt er am 30. März 1878 noch eine Karte mit dem Anderungswunsch: „Bitte, als Schluss-aphorism das 8 Hauptstück (Staat) hinzufügen, falls P l a t z da ist: / U n d n o c h m a l s g e s a g t : - Öffentliche Meinungen - private Faulheiten. / Damit ist das Manus geschlossen." 32 Die Sentenz erscheint dann als Aphorismus 482, am Ende des Abschnitts ,Ein Blick auf den Staat', wie Nietzsche angeordnet hat; und im Sommer 1883, als er ein Heft mit Exzerpten aus seinen früheren Schriften anlegt, um eine handliche Grundlage für weitere Arbeiten zur Verfügung zu haben, trägt er diesen Spruch als ersten ein.33 28

Ders.: Unzeitgemäße IV, a. a. O . , § 5, S. 32.

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Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I. - § 4 8 2 , in: K G W IV 2, S . 3 2 6 . Hans von Bülow an Nietzsche in Basel, Brief vom 1. N o v e m b e r 1874. N r . 603 in: K G B II 4, S. 600. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, O k t o b e r - D e z e m b e r 1876. 19 [64] in: K G W IV 2, S . 4 4 1 . Ders. an Ernst Schmeitzner in Chemnitz, Postkarte vom 30. März 1878. N r . 702 in: K G B II 5, S.313. Vgl. ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1883. 12 [1] 1 in: K G W VII 1, S . 4 0 1 . - Siehe dazu auch den Kritischen Nachbericht der K G W - H e r a u s g e b e r ( K G W VII 4 / 1 , S . 2 1 8 ) .

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Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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Bei näherer Betrachtung mutet es allerdings merkwürdig an, daß Nietzsche diese Formel wohl eine Zeitlang für die Quintessenz seiner Gedanken zur Öffentlichen Meinung gehalten hat: zwar läßt sich mit ihr polemisch etwas über die Wertlosigkeit allgemeiner Meinungen sagen, aber nichts Wesentliches über die Funktionsweise der Öffentlichen Meinung. Indem Nietzsche so nachdrücklich auf Faulheit verweist, verschüttet er das, was er eben noch als Quelle der Konformität freigelegt hat: die Furchtsamkeit. Sein eigentlicher Befund lautet: Die öffentlich Meinenden wollen und können sich nicht auf sich selber einlassen; hohl und leer, empfinden sie jede Innerlichkeit als Bedrohung und suchen daher Zerstreuung, Gesellschaft, Öffentlichkeit; aber eben weil sie substanzlos sind, erscheint ihnen auch diese Öffentlichkeit als Bedrohung. ,Faulheit' benennt hier lediglich etwas Sichtbares, Oberflächliches — den Unwillen des Philisters, sich mit sich selber zu beschäftigen: der Ausdruck bringt eine Unschärfe in Nietzsches Argumentation und verstellt den Blick auf das zugrundeliegende Motiv. Es dürfte angebracht sein, hinter dem griffigen Satz den Akzent weiterhin auf einer noch nicht näher bestimmten, sowohl individual- wie sozialpsychologisch interpretierbaren Angst als Beweggrund für die Übernahme kollektiver Haltungen zu sehen. Zuweilen scheint es, als ob Nietzsche nicht alle Konsequenzen ziehen wolle, die mit einer solchen Sichtweise des Problems verbunden sind beispielsweise, wenn er in seiner Epoche das „Zeitalter der öffentlichen Meinungen" zu erkennen glaubt 34 . Allerdings will er damit nicht behaupten, daß die Öffentliche Meinung etwas an sich Neues sei: er hält sie durchaus nicht für eine Erfindung der modernen Zeit - aber für eine ihrer wesentlichen Entdeckungen. Erst der Gegenwart ist sie richtig bewußt geworden, erst jetzt wird ihr ein Recht zugeschrieben, und sie gewinnt um so mehr Macht, als die Bezogenheit des einzelnen auf ,ewige' Gesetze schwindet. W o alle hergebrachten Bindungen sich auflösen und im Geistigen wie im Materiellen jederzeit alles zur Diskussion steht, wird ein Ausgleich für die verlorene Sicherheit gesucht: so kommt es zu jenem „uniformen Glauben Unzähliger [ . . . ] , die allesammt die öffentliche Meinung zu ihrer Schutzpatronin gemacht haben und in diesem Glauben sich gegenseitig stützen und tragen." 35 Der durchschnittliche Mensch der Neuzeit traut sich selber fast nichts zu - und den anderen alles. Sie sind seine Not, die er zur Tugend wenden muß, wenn er

34 35

ders.: Unzeitgemäße III, a . a . O . , § 2 , S.344. Ders.: Unzeitgemäße I, a . a . O . , § 8 , S.202. - Ton und Haltung der Kritik Nietzsches weisen hier wie auch in späteren Perioden bemerkenswerte Parallelen zu Tocquevilles Darstellung der amerikanischen Gesellschaft auf: eine mögliche Verbindung, die gesondert untersucht werden müßte. Vgl. de Tocqueville, Alexis: Über die Demokratie in Amerika. München: dtv 1976, bes. S. 2 8 4 - 3 0 1 .

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

erträglich leben will, und daher macht er sich aus ihren Meinungen eine ,Schutzpatronin' zurecht. Nicht daß es die Öffentliche Meinung geschaffen hat, sondern daß es sein Heil auf öffentliche Meinungen setzt, ist nach Nietzsche das Einzigartige dieses Zeitalters: „Und wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er tödte die Zeit, so muss man von einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heisst auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen, dass eine solche Zeit wirklich einmal getödtet wird: ich meine, dass sie aus der Geschichte der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird. Wie gross muss der Widerwille späterer Geschlechter sein, sich mit der Hinterlassenschaft jener Periode zu befassen, in welcher nicht die lebendigen Menschen, sondern öffentlich meinende Scheinmenschen regierten; weshalb vielleicht unser Zeitalter für irgend eine ferne Nachwelt der dunkelste und unbekannteste weil unmenschlichste Abschnitt der Geschichte sein mag. Ich gehe durch die neuen Strassen unserer Städte und denke wie von allen diesen greulichen Häusern, welche das Geschlecht der öffentlich Meinenden sich erbaut hat, in einem Jahrhundert nichts mehr steht und wie dann auch wohl die Meinungen dieser Häuserbauer umgefallen sein werden." 36 Was auch immer der einzelne unternimmt, geschieht mit dem Seitenblick auf diese öffentlichen Meinungen. Die Bildung sucht er nicht um seiner selbst, sondern um der Täuschung seiner selbst und der anderen willen. Belesenheit und Musikbegeisterung sind nicht Ausdrücke echter Bedürfnisse, sondern lediglich auf öffentliche Wirkung berechnet: man zeigt, was man angeblich weiß und was man sich angeblich leisten kann. Bis in Detailbeobachtungen erstrecken sich die Gemeinsamkeiten der ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' Nietzsches mit jener Arbeit über die luxuriierenden Müßiggänger, die Thorstein Veblen Jahrzehnte später verfaßt hat und die zu einem Klassiker der Kultursoziologie wurde: was hier als oberflächliche „Dekoration des Lebens" erkannt wird37, erscheint dort unter dem gleichen Blickwinkel als „Ausdruck der Geldkultur". 38 Nietzsche geht jedoch noch über Veblen hinaus: ihm gilt der Betrug mit der Bildung nicht nur als eitle Spielerei einer ,leisure class', sondern als Grundzug der modernen Gesellschaft überhaupt. Ihr Standardmensch, der Philister, ist „ganz und gar Bildung, Bild, Form ohne nachweisbaren Inhalt, leider nur schlechte Form, und überdies Uniform" 39 , und auch der epische Held Zarathustra berichtet nach seiner Rückkehr ,Vom Lande der Bildung': 36 37 31

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Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße III, a . a . O . , § 1 , S . 3 3 4 f . Ders.: Unzeitgemäße II, a . a . O . , §10, S.329. Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. München: dtv 1968, S. 268 ff. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße II, a . a . O . , § 5 , S.279.

Der Mensch im .Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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„Mit fünfzig Klexen bemalt an Gesicht und Gliedern: so sasset ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegenwärtigen! / Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele schmeichelten und nachredeten! / Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eigenes Gesicht ist! Wer könnte euch - e r k e n n e n ! " 4 0 So zeigt sich ihm schließlich die ganze Kultur seiner Zeitgenossen - „Ohne Sinn, ohne Substanz, ohne Ziel: eine blosse öffentliche Meinung'." 41 Nietzsche stellt die Kultur der Öffentlichen Meinung als eine Diktatur jener dar, denen für ,Kultur' im eigentlichen Sinne schon die erste Voraussetzung fehlt: Persönlichkeit. Die ,Gebildeten' wollen von sich selber nichts wissen und können daher niemals schöpferisch sein, und sie ahnen auch durchaus, daß es so um sie steht: „An euren öffentlichen Meinungen seit ihr kränker noch als an euren öffentlichen Mädchen: und das gerade sind eure heimlichsten Krankheiten." 42 Es ist diese bohrende Krankheit des schlechten Gewissens gegen sich selber, aus der aller gesellschaftliche Konformitätsdruck erwächst. Aber nicht nur im Druck auf Andersdenkende und -meinende sucht der Philister das versteckte Leiden an sich selber zu lindern, sondern auch in einer besonderen Form der Selbsttäuschung: in der Mode. „An Stelle der Sitte, d. h. der natürlich zutreffenden und angemessenen Tracht steht die Mode, die willkürlich übergehängte, die Individuen auszeichnende und sofort wieder uniformirende Tracht. Man e r l a u b t jetzt die M o d e , aber n i c h t m e h r die abweichende Denk- und Handlungsart." 43 In der Extravaganz irgendwelcher Bekleidungs-, Kunst- und Lebensgewohnheiten kann sich der einzelne einen Hauch von Selbst- und Anderssein, von Avantgardismus vorspiegeln, aber er entfernt sich dabei doch nie weiter von der Öffentlichen Meinung, als ihre Bewunderung noch reicht. „Die Alten waren sehr viel tugendhafter als wir, weil sie so sehr viel weniger Mode hatten", vermerkt Nietzsche 44 : solange das Individuum noch an seinen Platz in der Gesellschaft und die Öffentliche Meinung noch dauerhaft an wenige Dogmen gebunden war, gab es auch das typisch moderne Dilemma noch nicht, dessen Niederschlag die Mode ist nämlich einerseits hervorstechen zu müssen und andererseits angepaßt zu sein. Bei den ,Alten' stand der Wert des einzelnen noch unverrückbar fest; heute, da die Öffentliche Meinung losgekettet ist, muß jeder - auch vor sich selber seinen Wert täglich neu erstreiten und verteidigen, und dies macht ,Mode' als Versuch der Wertfingierung überhaupt erst notwendig. 40 41

42 43 44

Ders.: A l s o sprach Zarathustra. - V o m Lande der Ders.: Ecce homo. W i e man wird, was man ist. S. 314. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1883. 1 7 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst Ebd., Sommer 1872 - Anfang 1873. 19 [6], S . 6 .

Bildung, in: K G W VI 1, S. 149. Die Unzeitgemässen, § 1 , in: K G W VI 3, [13] in: K G W VII 1, S. 566. 1873. 29 [132] in: K G W III 4, S . 2 9 8 .

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Erziehung und Öffentliche Meinung Während die Mode sowohl den neuzeitlichen Gebildeten als auch seine Umgebung über einen Mangel an Persönlichkeit und die Verstrickung in öffentliche Meinungen hinwegtäuschen soll, ist das Erziehungssystem der Philisterkultur darauf angelegt, daß die nachwachsenden Generationen den Wunsch nach Individualität schon im Ansatz verlernen. Das Gymnasium, vom Staat kontrolliert und wesentlich von Philologen geprägt, denen eine eigentlich angestrebte Wissenschaftslaufbahn verschlossen blieb, ist eine Anstalt zur Zurechtstutzung, zur Verflachung und zur Gleichmacherei. Nietzsche beschreibt aus dieser Empfindung den seiner Meinung nach typischen Lehrer: „Was erscheint ihm . . . als tadelnswerth? Worauf macht er seine Schüler aufmerksam? Auf alle Excesse der Form und des Gedankens, das heißt auf alles das, was in diesem Alter überhaupt charakteristisch und individuell ist. Das eigentlich Selbständige [ . . . ] , also gerade das Individuum wird gerügt und vom Lehrer zu Gunsten einer unoriginalen Durchschnittsanständigkeit verworfen. Dagegen bekommt die uniformirte Mittelmäßigkeit das verdrossen gespendete Lob". 45 So wird das Kind von den Erziehern in der Philisterkultur behandelt, „als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine W i e d e r h o l u n g werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden." 46 Mit dem Blick auf seine Zeit hält Nietzsche Erziehung für „ein Mittel, um die Ausnahmen zu Gunsten der Regel zu ruiniren" und Bildung für „ein System von Mitteln, um den Geschmack g e g e n die Ausnahme zu richten, zu Gunsten des Durchschnittlichen." 47 Die Kultur der Öffentlichen Meinung wird dem Jugendlichen so übergezogen, daß er sie für seine Natur halten muß: „ D i e e r s t e N a t u r . — So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine z w e i t e N a t u r : und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige Wenige sind Schlangen genug, um diese Haut abzustossen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre e r s t e N a t u r reif geworden ist. Bei den Meisten vertrocknet der Keim davon." 48 Alles zielt darauf ab, die für sich stehende Begabung zu unterdrücken: Durch Lob und Tadel in der Schule lernt der Heranwachsende die Originalität als unanständig kennen; er lernt, sich nur solche Neigungen zu gestatten und

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Ders.: Ders.: Ders.: Ders.: S.279.

Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. - 2. Vortrag, in: K G W III 2, S. 172. Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 2 2 8 , S. 196. Nachgelassene Fragmente, Frühjahr-Sommer 1888. 16 [6] in: K G W VIII 3, S.280. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. - § 4 5 5 , in: K G W V 1,

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Ziele zu setzen, die soziale Anerkennung mit sich bringen 49 ; er lernt,nützlich sein' als Sinn des Lebens begreifen und damit, daß es viel mehr auf möglichst frühe und emsige Arbeitsamkeit ankommt als darauf, in Ruhe zu sich zu kommen: „Es steht Niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu geben: unsere ,höheren' Schulen sind allesammt auf die zweideutigste Mittelmässigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob Etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht ,fertig' ist, noch nicht Antwort weiss auf die ,Hauptfrage': w e l c h e n Beruf? - Eine höhere Art Mensch [ . . . ] liebt nicht .Berufe', genau deshalb, weil sie sich berufen weiss . . . Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, ,fertig' zu werden, - mit dreissig Jahren ist man, im Sinne hoher Cultur, ein Anfänger, ein Kind. - " 5 0 Aber nicht nur durch L o b und Tadel, nicht nur durch die Höchstbewertung des Nützlichkeitsprinzips wird der junge Mensch in die Kultur der Öffentlichen Meinung hineinerzogen: viel stärker wirkt noch die sorgfältige Auswahl und Interpretation des angeblich .objektiven' Wissens, das ihm vom Gymnasium in solchen Mengen vermittelt wird, daß ihm der Gedanke genauerer Prüfung gar nicht mehr kommen kann. Im Historismus des Kaiserreichs sieht Nietzsche ein Lehrbeispiel dafür, wie willige Konformität durch verzerrte ,Bildung' erreicht werden kann: „Gerade diejenige Art der Historie ist aber jetzt allgemein in Schätzung, welche die grossen Massentriebe als das Wichtige und Hauptsächliche in der Geschichte nimmt und alle grossen Männer nur als den deutlichsten Ausdruck, gleichsam als die sichtbar werdenden Bläschen auf der Wasserfluth betrachtet." 51 - Moral der Menschheitsgeschichte: Es kommt nicht auf einen selber an; immer sind es überwältigende, unentrinnbare, gesichtslose ,Prozesse' und Bewegungen, nach denen sich die Welt dreht: „Wer aber erst gelernt hat, vor der ,Macht der Geschichte' den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaftmechanisch sein ,Ja' zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte, in welchem irgend eine ,Macht' am Faden zieht." 5 2 — „Und zuletzt in aller Welt: was geht unsre Jünglinge die Geschichte der Philosophie an? Sollen sie durch das Wirrsal der Meinungen entmuthigt

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so 51 52

Siehe dazu den gesamten Aphorismus 320 in: Menschliches, Allzumenschliches, I I / l , K G W I V 3, S. 145 f. D e r s . : G ö t z e n - D ä m m e r u n g . - Was den Deutschen abgeht, § 5 , in: K G W V I 3, S. 102. D e r s . : Unzeitgemäße I I , a . a . O . , § 9 , S . 3 1 6 . E b d . , § 8 , S. 305.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

werden, Meinungen zu haben? Sollen sie angelehrt werden, in den Jubel einzustimmen, wie wir's doch so herrlich weit gebracht?" 53 Eine Reihe rein rhetorischer Fragen. Nietzsche sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dieser Erziehung, mit der die Persönlichkeit schon im Wachstum entkernt wird, und der wuchernden Scheinhaftigkeit des öffentlichen Lebens. Was er im Deutschen Reich der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts beschreibt, ist genau jene labile und folglich tyrannische Kultur der ,einsamen Masse', die David Riesman in den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit zu finden meinte. Der philiströse ,Gebildete' Nietzsches und der ,other-directed man', der außengeleitete Mensch Riesmans, haben die Grundgemeinsamkeit, "that their contemporaries are the source of direction for the individual - either those known to him or those to whom he is indirectly acquainted". 54 Beide werden historisch auf das Emporkommen demokratisch-egalitärer Ideen zurückgeführt. Wie Nietzsche analysiert auch Riesman Unsicherheit, charakterliche Kraftlosigkeit, den Verlust innerer Orientierung an Traditionen oder selbstentworfenen und selbstverantworteten Zielen als Typmerkmale des Außengeleiteten. Wo aber diese individuellen Merkmale dominieren, muß sich die Herrschaft des Kollektivs zwangsläufig steigern: der außengeleitete Mensch besitzt im Geistigen nichts mehr - er wird besessen von der Öffentlichen Meinung. Nietzsche kommt darüber zu der Ansicht, daß „in der modernen Welt, [ . . . ] der einzelne Mensch, gleich jenem fabelhaften Wesen am Eingange der horazischen Poetik, aus Stücken bunt zusammengesetzt ist"55; Riesman vermutet entsprechend, daß Öffentlichkeit' allmählich die letzte Substanz des modernen Menschen aufzehren wird, "and the other-directed person tends to become merely his succession of roles and encounters and hence to doubt who he is or where he is going."56 Beide betonen auch übereinstimmend das Scheinhafte des gesamten öffentlichen Verhaltens: die öffentlich Meinenden bringen nichts Inneres zum Ausdruck, sondern überdecken nur ihren Mangel an Eigentlichkeit, an Einstellung': "yet they need opinions, for clothing, conformity and comfort, as desperately as they need a hat".57 Ganz im Sinne Nietzsches weist Riesman schließlich auch darauf hin, daß im Stadium der Außenleitung - ersterer hätte formuliert: im Zeitalter der

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Ders.: Unzeitgemäße III, a . a . O . , § 8 , S . 4 1 3 . Riesman, David / Glazer, Nathan/Denney, Reuel: The Lonely C r o w d . Α Study of the Changing American Character. 13. A u f l . , N e w Haven /London: Yale University Press 1 9 6 1 , S.21. Nietzsche, Friedrich: Fünf Vorreden . . . , a. a. Ο . - 3. Der griechische Staat, S. 259. Riesman u.a., a . a . O . , S. 139. Riesman, David / Glazer, Nathan: The Meaning of Opinion, in: Public Opinion Quarterly, 17.Jhg. 1948 Nr. 4, S. 6 3 3 - 6 4 8 ; hier: S.639.

Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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öffentlichen Meinungen - die Schule nicht der freien Entwicklung, sondern der gesellschaftlich gebotenen Maßregelung des jungen Menschen dient: eine Institution zur Zerstörung der Phantasie, zur Sozialisierung des Geschmacks und der Interessen. 58 Die ganze Erziehung durch Lehrer, Eltern, Altersgenossen ist auf Nivellierung statt auf Charakterbildung angelegt: "The effect is to cut anyone down to size who stands up or stands out in any direction." 59 Eine wesentliche Frage zur Soziologie dieser Kultur der Öffentlichen Meinung aber ist noch unbeantwortet: Woher weiß der ,Bildungsphilister', der Träger und der Unterdrückte der modernen Kultur, mit welchen Themen er sich befassen und welche Meinungen er zu ihnen haben muß, um nicht ins Abseits zu geraten? W o die vertikale wie auch die horizontale Mobilität unablässig zunimmt und die Überschaubarkeit kleinerer Sozialstrukturen im neugegründeten, nationalen Flächenstaat verlorengeht, kann die unmittelbare Umwelt allein kaum ausreichende und zuverlässige Orientierung geben. Dies führt zu Nietzsches.Betrachtungen der Presse und des Journalismus. -

2.2.1. Der Journalist und die Presse Der Typus des modernen Massenkommunikators Nietzsche ist der erste große Philosoph, der sich eingehend mit den Massenmedien befaßt. Betrachtet man besonders die deutsche Presse, der sein Hauptaugenmerk gilt, so bieten sich dafür mehrere Erklärungen an: Erst in der Zeit Nietzsches sind die technischen Möglichkeiten des Drucks, der Nachrichtenübermittlung und -Verbreitung und die kulturelle Entwicklung in Form der Alphabetisierung so weit herangereift, daß Massenpublizistik entstehen kann; auch hat man die politischen Beschränkungen, unter denen die Medien noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts litten, mittlerweile gelockert, so daß er in seiner schöpferischen Zeit - also ungefähr von der Reichsgründung bis zur Inthronisierung Wilhelms II. - die Hochblüte des Meinungsjournalismus, das rasche Entstehen und Vergehen von Parteiblättern aller Art und den beginnenden Siegeszug der Generalanzeigerpresse miterleben kann.' In dem Maße, in dem sich der Anteil der Massenmedien und ihrer Vertreter an der öffentlichen Kommunikation ausweitet, werden auch die

5" 59

Vgl. Riesman u.a., a . a . O . , S . 6 2 f . Ebd., S. 72.

' Siehe hierzu Koszyk, K u r t : Deutsche Presse im 19.Jahrhundert (Geschichte der deutschen Presse, Band 2). Berlin: Colloquium 1966.

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Institution Presse und der T y p des Journalisten selbst Gegenstände dieser öffentlichen Kommunikation: die Literatur nimmt sich jener neuen Elemente gesellschaftlicher Wirklichkeit an und sucht sie dem Leser und dem Zuschauer im Theater deutend näherzubringen. Wie eine historische Analyse zeigt, hat man bis heute in keiner Epoche deutscher Geschichte die schöngeistige Aufbereitung des Journalistenbildes so stark betrieben wie in der Zeit von 1871 bis zum Ende des ersten Weltkrieges 2 ; was die Thematik angeht, liegt Nietzsche also durchaus im allgemeinen Strom des Interesses. Er kennt auch die entsprechenden Romane Karl Gutzkows und Friedrich Spielhagens, die Dramen Heinrich Laubes und die vielgespielte Komödie ,Die Journalisten' von Gustav Freytag, ohne jedoch diese Art der Schriftstellerei sonderlich hochzuschätzen. 3 Und schließlich hat er eigene Erfahrungen in der Pressearbeit. Als Student veröffentlicht er eine Reihe von Aufsätzen in der Zeitschrift ,Rheinisches Museum für Philologie'; sie bringen ihm später ohne weitergehende Prüfung den Doktortitel ein. 4 Seine Rezensionen in dem Fachorgan - besonders die Beurteilung der Lucian-Schrift seines Freundes Erwin Rohde - werfen ein bezeichnendes Licht darauf, wie er die suggestive Kraft des Mediums auszukosten und auch in seinem Sinne zu nutzen weiß: was er bald gegen den Journalismus im Ganzen einwendet, findet man hier noch von ihm selber praktiziert. 5 Seine Tätigkeit beschränkt sich aber nicht nur auf die Mitarbeit an Fachpublikationen. Während seiner Leipziger Studienjahre wohnt er bei dem bekannten Herausgeber und Redakteur Karl Biedermann, er wird von Friedrich Zarncke für das ,Litterarische Centraiblatt' umworben, und seine gelegentlichen Theater- und Konzertkritiken in der ,Deutschen Allgemeinen' verschaffen ihm beim akademischen Publikum Leipzigs einen recht guten Ruf. An Rohde schreibt er über das typische Szenario seines Journalistendaseins: „Sonst ist mein Abonnementsplatz umlagert von kritischen Geistern: unmittelbar vor mir sitzt Bernsdorf, jenes signalisirte Scheusal, links neben mir Dr. Paul, jetzt Tageblattheld, 2 Plätze rechts mein Freund Stade, der für die Brendelsche Musikzeitung kritische Gefühle produzirt: es ist eine scharfe

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Vgl. von Studnitz, Cecilia: Kritik des Journalisten. Ein Berufsbild in Fiktion und Realität. M ü n c h e n / N e w Y o r k / L o n d o n / P a r i s : K. G. Saur 1983, Tabelle S.27. Siehe z . B . Nietzsches Bemerkungen in: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. 2. Vortrag, in: K G W III 2, S. 179. Siehe dazu Janz, C u r t Paul: Nietzsche. Band I, München: dtv 1981, S . 2 6 2 f . Nietzsches Fachrezensionen sind erschienen in K G W II 1, S. 365 ff.

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Ecke: und wenn wir Vier einmüthig mit dem Kopfe schütteln, so bedeutet es ein Unglück." 6 Als er in Basel lehrt, bespricht er mit Richard Wagner die Idee eines ,Reformationsjournals' und wird damit wohl ungewollt einer der geistigen Väter jener ,Bayreuther Blätter', die ab 1878 für Wagner weltweit Meinung machen und seinen unversöhnlichen Zorn auf sich ziehen. 7 Selbst als er sich längst schon strikte Verweigerung gegen jede Art von Periodikum vorgenommen hat, verfaßt er für ,Schmeitzner's internationale Monatsschrift' einige Gedichte, die als ,Idyllen aus Messina' im Juni 1882 erscheinen und erst lange danach überarbeitet und erweitert von ihm als ,Lieder des Prinzen Vogelfrei' in eine Neufassung der ,Fröhlichen Wissenschaft' aufgenommen werden. Er unterhält auch immer mehr oder weniger lockere Verbindungen zu Presseleuten, von denen einige - Karl Hillebrand, Josef Viktor Widmann vom Berner ,Bund' beispielsweise oder Carl Spitteier, der spätere Nobelpreisträger - in hohem öffentlichen Ansehen stehen. Und trotz aller gegenteiligen Bekundungen verzichtet er nicht ganz und gar auf die Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre: er liest bevorzugt die ,Revue des deux mondes' und das J o u r n a l des debats'. 8 Nietzsche spielt offensichtlich über viele Jahre hinweg mit dem Gedanken, etwas Zusammenhängendes über die Massenmedien zu Papier zu bringen: Zunächst plant er wohl eine in sich geschlossene ,Unzeitgemäße Betrachtung", dann eine Rede Zarathustras 10 und schließlich einen Essay im Vorfeld des Spätwerks Jenseits von Gut und Böse'"; er kommt aber über fragmentarische Aufzeichnungen, die er dann in weit verstreuten Aphorismen verwendet, nicht hinaus. Die Beschäftigung mit dem gedruckten Wort, seinen Urhebern, seinen Verbreitern und seinen Lesern, das Nachdenken über die Entstehungsgründe des modernen Pressewesens und die Natur der von ihm geschaffenen, dispersen Makro-Öffentlichkeit, die Frage nach den Wirkungen der Massenkommunikation und die Frage nach der Entwicklungsrichtung der abendländischen Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde in Hamburg. Brief v o m 27. Oktober 1868. Nr. 596 in: K G B I 2, S. 332. - Nietzsches journalistische Tätigkeit und seine Auseinandersetzungen mit dem Journalismus werden eingehend behandelt von Gutser, Ferdinand: Nietzsche und der Journalismus. München: Phil. Diss. 1938 (1946). 7 Vgl. Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde in Kiel, Brief v o m 7. Juni 1871. Nr. 135 in: K G B II 1, S. 198. 8 Siehe dazu Gutser, a . a . O . , S . 2 8 f f . ' Vgl. folgende Entwürfe f ü r die ,Unzeitgemäßen Betrachtungen': 29 [164] in K G W III 4, S. 3 0 7 f . (Arbeitstitel: .Lesen Schreiben Presse'); 30 [38] ebd., S. 354; 32 [4] ebd., S. 368 f. GZeitungs-Sclaverei') und 1 [3] in: K G W IV 1, S. 85 (.Presse 1 ). 10 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1883. 17 [26] in: K G W VII 1, S. 575 (,Von den Schreib- und Schreihälsen'). " Ders.: Nachgelassene Fragmente, August-September 1885. 42 [2] in: K G W VII 3, S . 4 2 8 (,Lesen und Litteratur - Presse'). 6

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Kultur unter dem Einfluß der veröffentlichten Meinung durchziehen nahezu gleichmäßig Nietzsches Schaffen: „Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen," meint er ahnungsvoll, „deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat." 12 Wie schon an seiner Typisierung des Bildungsphilisters und wie fast überall, wo er auf soziologische Zusammenhänge stößt, so kann man auch hier die Umwandlung der eigentlich angemessenen ,Was'-Frageform in ein psychologisierendes ,Wer' verfolgen: seine Kritik der Presse gerät ihm - besonders in den kulturkritischen Schriften der ersten Schaffensperiode — häufig zu einer Kritik des Journalisten. Unter die Journalisten rechnet er zunächst alle, die als „papierne Sclaven des Tages" für Zeitungen schreiben." Ansonsten aber geht seine Vorstellung vom Journalisten weit über heutige wissenschaftliche Definitionsansätze hinaus: nicht die Ausbildung, das Arbeitsverhältnis, die Arbeitstechnik, die Stellung im Produktionsprozeß, die Art des Mediums oder ähnliches nimmt er als typisch für den Journalismus an, sondern einzig dessen gesellschaftliche Funktion. Der Journalismus schöpft aus dem Tag für den Tag: er ist darauf gerichtet, das soziale Ganze immer wieder aufs Neue durch die Herstellung und Beeinflussung öffentlicher Kommunikation zu integrieren. Wissenschaftliche Definitionen des Journalisten beziehen ihre Elemente zumeist aus dem Umkreis von Kommunikator und Medium; Nietzsche fragt vom Rezipienten her nach Absicht und Wirkung des Kommunikators, um sich dann ein Bild zu machen: als Journalist gilt ihm jeder „gemeine Mensch mit allgemeiner Bildung" 14 , der von seiner Bildung lebt, indem er sie jedermann zugänglich macht: „In der Journalistik nämlich fließen die beiden Richtungen zusammen: Erweiterung und Verminderung der Bildung reichen sich hier die Hand; das Journal tritt geradezu an die Stelle der Bildung, und wer, auch als Gelehrter, jetzt noch Bildungsansprüche macht, pflegt sich an jene klebrige Vermittlungsschicht anzulehnen, die zwischen allen Lebensformen, allen Ständen, allen Künsten die Fugen verkittet und die so fest und zuverlässig ist wie eben Journalpapier zu sein pflegt. Im Journal kulminirt die eigenthümliche Bildungsabsicht der Gegenwart: wie ebenso der Journalist, der Diener des Augenblicks, an die Stelle des großen Genius, [ . . . ] des Erlösers vom Augenblick getreten ist." 15

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Ders.: Ders.: Ders.: Ders.:

Menschliches, Allzumenschliches II/2, § 2 7 8 , in: K G W IV 3, S . 3 1 2 . Die Geburt der Tragödie, § 2 0 , in: K G W III 1, S. 126. Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1871 - Anfang 1872. 9 [62] in: K G W III 3, S . 3 1 0 . Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. - 1. Vortrag, in: K G W III 2, S. 162.

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Journalist im Sinne Nietzsches kann also jeder sein, nicht nur der Zeitungs- und Zeitschriftenredakteur: „Uberblickt man die Äußerungen Nietzsches über die Presse [...], so müssen wir uns zunächst daran erinnern, daß er unter die Repräsentanten der Presse nicht nur die Tageszeitungen, sondern auch die ,ecrivains', die reinen Schriftsteller, und mit ihnen die üblichen Zeitschriften zählt." 16 Journalismus ist für Nietzsche nicht in erster Linie formale Profession, sondern Wirkungsabsicht und schließlich zur Wirkung gewordene Geisteshaltung, weniger Berufsstand als vielmehr überall dort anzutreffende Ideologie, wo das gedruckte Wort erarbeitet wird. Der journalistische Handlungsrahmen ist nicht durch Zeitung und Zeitschrift und nicht durch streng verstandene Aktualität, Universalität und Periodizität vorgegeben, sondern umfaßt die Vielfalt des „gesamten modernen Preßwesens". 17 Das verbindende Element ist in der übereinstimmenden Absicht vieler Akteure zu sehen, die moderne Massengesellschaft, die ,Philisterkultur' schreibend funktionsfähig zu halten und ihre Glaubenssätze durch die Allgemeinverbreitung von Nachricht und Meinung zu stützen und zu verstärken, „und je mehr einer mit jener Cultur verwandt ist, um so ähnlicher wird er dem Journalisten sehen." 18 O b Reporter, Redakteur, Herausgeber, Verleger, Romancier, Dramatiker, Hochschullehrer - wo der Zeitgeist den Blickwinkel bestimmt und das Denken sich nicht vom Tag lösen kann oder will, sieht Nietzsche Journalisten' am Werk: „Sie gehören, kurz und schlimm, unter die Ν i ν e 11 i r e r [...] - als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner ,modernen Ideen': allesammt Menschen ohne Einsamkeit, ohne eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und zum Lachen oberflächlich sind. [...] Was sie mit allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann." 19 Es ist offensichtlich, wie wenig Nietzsche vom Journalismus hält, und dennoch: achtet man auf die Nuancen seiner Formulierungen, so erscheint das gängige Urteil über seine Medienkritik zumindest zweifelhaft: „Was A u f g a b e der Presse ist, Dienerin des Tages zu sein, das sieht Nietzsche als ihre S c h u l d an. Was W i r k u n g der Zivilisation ist, wird ihm zur S c h u l d der

" Goldschmit, Rudolf K.: Nietzsche und die Presse, in: Zeitungswissenschaft, 7.Jhg. 1932 Nr. 6, S. 340-348; hier: S.343. 17 Friedrich Nietzsche an Malwida von Meysenbug in Rom, Brief aus der ersten Januarwoche 1884. Nr. 516 in: KGB III 1, S.509f. " Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr-Sommer 1874. 35 [12] in: K G W III 4, S.437. " Ders.: Jenseits von Gut und Böse. - §44, in: K G W VI 2, S. 57.

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Wirkungsinstitution." 2 0 Nietzsche geht es eindeutig nicht um Schuldzuweisung, sondern um das Nachzeichnen einer Entwicklung und die - sicherlich wertende - Beschreibung der gegenwärtigen Wirklichkeit. Ganz ohne das Pathos der Anklage und der Entrüstung faßt er seine Beobachtungen in dem Satz zusammen: „Demnach dürfte die Macht des verbindenden allgemeinen Menschen, des J o u r n a l i s t e n eine Zeitlang noch immer größer werden: sie vereinigen die verschiedensten Sphären: worin ihr Wesen und ihre Aufgabe liegt." 21 Die Journalisten sieht er zwar in vielerlei Hinsicht als Täter, noch mehr aber als Opfer ihrer Zeit und Gefangene eines übersteigerten Kommunikationsbedürfnisses, das von einer früh verkümmerten Begabung begleitet wird. Nietzsche findet „nur zu häufig gerade unter ihnen solche entartete und entgleiste Bildungsmenschen, durch eine innere Desperation in ein feindseliges Wüthen gegen die Kultur getrieben, zu der ihnen Niemand den Zugang zeigen wollte. Es sind nicht die schlechtesten und die geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungsschreiber, in der Metamorphose der Verzweiflung, wiederfinden; ja, der Geist gewisser jetzt sehr gepflegter Litteraturgattungen wäre geradezu zu charakterisiren als desperates Studententhum." 22 Als Journalistenkritiker läßt sich Nietzsche sicher nicht fugenlos in eine Reihe mit den Polemikern Schopenhauer und Wagner einordnen, und auch das bekannte Bismarck-Wort von den „ihren Lebensberuf verfehlt habenden Leuten" erscheint im Vergleich mit seinen Ausführungen als vordergründig. 23 Wirft man einen Blick auf die neuere Kommunikatorforschung, so findet man in seinem Sinne belegt, daß nicht die Hälfte derjenigen Journalisten, die studiert haben, auch einen akademischen Abschluß vorweisen kann, wodurch die Feststellung gerechtfertigt erscheint: „Der Journalismus ist eine typische Karriere für Studienabbrecher und Berufswechsler." 2 4 Und wo Nietzsche als 20 21

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G o l d s c h m i t , a. a. O . , S. 345. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, F r ü h j a h r 1871 - Anfang 1872. 14 [25] in: K G W I I I 3, S. 406. D e r s . : U e b e r die Zukunft . . . , a. a. O . , 5. Vortrag, S. 238. - Die Feststellung, "that W e b e r often appears to be quoting almost verbatim from N i e t z s c h e " (Turner, Bryan S.: Nietzsche, W e b e r , and the Devaluation of Politics, in: T h e Sociological Review, 3 0 . J h g . 1982 N r . 3, S. 3 6 7 - 3 9 1 ; hier: S . 3 6 9 ) , kann hier sehr treffend belegt werden. M a x W e b e r in .Politik als Beruf' (7. Aufl., B e r l i n : D u n c k e r & H u m b l o t 1982, S. 3 2 ) : „ N i c h t das ist erstaunlich, daß es viele menschlich entgleisten oder entwerteten Journalisten gibt, sondern daß trotz allem gerade diese Schicht eine so große Zahl wertvoller und ganz echter Menschen in sich schließt, wie Außenstehende es nicht leicht vermuten". B i s m a r c k zu einer Deputation aus Rügen am 1 0 . 1 1 . 1 8 6 2 , zit. n. L ö b l , E m i l : Kultur und Presse. D u n c k e r & H u m b l o t 1903, S. 180. D o n s b a c h , W o l f g a n g : Kommunikationswissenschaftler ante portas. Journalisten-Einstellungen zur Journalisten-Ausbildung, in: Kepplinger, H a n s Mathias ( H r s g . ) : Angepaßte Außenseiter. W a s Journalisten denken und wie sie arbeiten. F r e i b u r g / M ü n c h e n : Karl Alber 1979, S. 2 1 0 - 2 2 2 ; hier: S . 2 1 0 .

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Folge der Studienenttäuschungen ein .feindseliges Wüthen' gegen eine verschlossen gebliebene Kultur als journalistentypisch heraushebt, räumen heute deutsche Journalisten - in starkem Kontrast beispielsweise zu englischen Kollegen - ein, daß sie in ihrem Beruf die Möglichkeit zur ,Kritik an der Gesellschaft' besonders schätzen. 25 Auch in Nietzsches Schriften findet man vereinzelt Andeutungen über eine nationale Verschiedenheit der europäischen Journalisten; seine Behauptung, „daß in Deutschland der verdorbene Gelehrte, in den romanischen Ländern der künstlerisch gebildete Mensch zum Journalisten wird" 26 , harrt allerdings noch der empirischen Überprüfung. Jedenfalls verfolgt er die neu heraufgekommenen Vermittler nicht mit Haß, sondern hält sie fast mitfühlend für Talente, denen nur zu spät der Rat zuteil wurde: „Wenn man einen Helden auf der Bühne abgeben will, darf man nicht daran denken, Chorus zu machen, ja, man darf nicht einmal wissen, wie man Chorus macht." 27 Und mit mildem Spott meint er: „Ein Zeitungsredacteur mit der tyrtäischen Schlachttrompete ist eben so komisch als Demosthenes als Leitartikelschreiber. Wer etwas ordentliches thun will, muß vorempfinden und nicht nachempfinden und darf sich überhaupt nicht umsehn." 28 - Hier deutet sich allmählich die Schlüsselfrage zum Verhältnis von Journalist und Presse auf der einen und der Öffentlichen Meinung auf der anderen Seite an: Müssen die Massenmedien als ,mirror' oder als ,moulder' der Öffentlichen Meinung gesehen werden? Sind sie - und dies war schon zu Zeiten Nietzsches in der wissenschaftlichen Diskussion - ,Spiegel' oder ,Organe' der Öffentlichen Meinung? 29 Meint Nietzsche, daß sie im wesentlichen wiedergeben, was ohnehin schon verhandelt wird oder festgeschrieben ist, oder neigt er eher zu der Ansicht, daß sie thematisierend oder meinungsbildend vorangehen?

Die Massenmedien: Organe oder Spiegel der Öffentlichen Meinung? Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob er sich über die Rolle der „journalistischen Öffentlichkeit" 30 in diesem Punkte nicht so recht im klaren 25

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Ders.: Legitimationsprobleme des Journalismus. Freiburg/München: Karl Alber 1982, bes. die Tabellen S. 120 und S. 180. Ausführlicher noch Köcher, Renate: Spürhund und Missionar. Eine vergleichende Untersuchung über Berufsethik und Aufgabenverständnis britischer und deutscher Journalisten. München: Diss. 1985, bes. Kap. 2.3. und 2.4. Nietzsche, Friedrich: Ueber die Zukunft . . . , a. a. O., 2. Vortrag, S. 182. Ders.: Morgenröthe. - § 177, in: K G W V 1, S. 157. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1873. 29 [71] in: K G W III 4, S.268. Vgl. dazu die Darstellung der Kontroverse zwischen Robert Prutz und Franz Adam Löffler bei Groth, O t t o : Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. München: Weinmayer 1948, S. 178 ff. Nietzsche, Friedrich: Ueber die Zukunft . . . , a . a . O . , 3. Vortrag, S. 186.

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gewesen sei: Er wirft ihr vor, daß sie nur ,Chorus' macht, daß sie nachempfindet statt vorzuempfinden, er bewertet die Massenkommunikatoren insgesamt als „die bezahlten Diener der öffentlichen Meinung" 3 ', also als Nachläufer und Abhängige ohne eigene Gestaltungsfreiheit. Dem steht jedoch eine Reihe anderer Textstellen gegenüber, aus denen die Auffassung erkennbar wird, daß Journalismus und Presse beträchtlichen Einfluß haben: Nietzsche warnt vor dem „Werke der journalistischen Volksverführung" 3 2 , er trennt auch eindeutig „die öffentliche Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden Tagesoder Zeitschriftsteller" 33 , einmal schreibt er ganz im Sinne der Organ-SpiegelDichotomie vom „unermüdlich tönenden Organ der Presse" 34 , und schließlich nennt er den Journalisten einen „ungerechten Richter [ . . . ] , welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche Meinung irre führt". 35 Der Gegensatz hier ,Chorus', dort ,Volksverführung' - ist bei genauerer Betrachtung allerdings nur scheinhaft. Nietzsche zufolge wirkt der Journalismus immer in engem Bezug zu einem herrschenden Tatsachen- und Meinungsuniversum: er arrangiert und kommentiert das Weltgeschehen und übt dadurch großen Einfluß aus, aber es fehlt ihm eine eigentlich schöpferische Kraft. Der Journalist ist geradezu dadurch gekennzeichnet, daß er nur das in Worte fassen kann, was ohnehin in der Luft liegt - er formt aus dem Zeitgeist öffentliche Meinungen. Die meinungsbildende Kraft der Presse sieht Nietzsche im Wesen aller indirekten Kommunikation begründet: „Die Macht der Presse besteht darin, daß jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig verpflichtet und verbunden fühlt. [ . . . ] Weil es beinahe sittlich gleichgültig erscheint, eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Namensunterschrift, mehr zu schreiben oder nicht zu schreiben, so kann einer, der Geld und Einfluß hat, jede Meinung zur öffentlichen machen." 36 Der eher mittelmäßige und furchtsame Tagesschreiber kann Einfluß ausüben, weil er zwischen sich und seinen Wirkungen die fast

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Ders.: Nachgelassene Fragmente, Mai-Juli 1885. 35 [43] in: K G W VII 3, S . 2 5 1 . Ders.: Ueber die Zukunft . . . , a . a . O . , 5.Vortrag, S.238. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, § 2 6 1 , in: K G W IV 2, S. 222. Ders.: Ueber die Zukunft . . . , a . a . O . , 3.Vortrag, S. 1 9 7 f . Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 8 1 , S. 84. Ebd., § 4 4 7 , S. 300 f. - Vgl. dazu folgende Formulierung: „Wie nahe liegt es dem Mitarbeiter eines Blattes, sich Manches herauszunehmen, was er nimmermehr thun würde, wofern er es mit seiner Namensunterschrift veröffentlichen s o l l t e . . . Verursacht er nur dem Herausgeber der Zeitung keinen Verdruß, so fällt alle Rechenschaft f ü r ihn hinweg. Es ist so b e q u e m , aus dem Versteck zu schreiben!" (Wuttke, Heinrich: Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeitungswesens. 2. Aufl., Leipzig: Krüger 1875 - l . A u f l . : 1866 - S.23). Nicht nur hier wird offenbar, daß das W e r k Wuttkes Nietzsche angeregt hat; eine persönliche Lektüre kann zwar nicht zweifelsfrei belegt werden, deutet sich aber im Briefwechsel mit Carl von Gersdorff an: siehe K G B I 2, S. 199, und K G B II 6/1, S. 254.

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undurchdringliche Komplexität eines Massenmediums weiß. „Die Pressfreiheit hat diesen muckenden Individuen Luft gemacht: sie können jetzt ohne Gefahr sogar ihr elendes Separatvotumchen schriftlich geben"": der Journalist ist geschützt durch die Einseitigkeit der Kommunikation, durch seine A n o n y mität in einer Redaktion und durch die Struktur- und Sanktionsschwäche der Öffentlichkeit, an die er sich wendet. Unter solchen Voraussetzungen muß das Selbstgefühl wachsen, während das Verantwortungsbewußtsein abnimmt: „Wie schwach verantwortlich fühlt sich der Mensch für seine indirekten und entfernten Wirkungen! Und wie grausam und übertreibend fällt die nächste Wirkung, die wir üben, über uns her - die Wirkung, die wir sehen, für die unser kurzes Gesicht eben noch scharf genug ist! Wie tragen wir an einer Schuld, bloß weil sie so nahe vor unserem Auge steht! Wie messen wir die S c h w e r e verschieden n a c h d e r E n t f e r n u n g ! " 3 8 Wie angedeutet, nehmen die Medien in den Augen Nietzsches nicht nur auf bereits stattfindende Meinungskämpfe Einfluß, sondern greifen schon vorher in die öffentliche Kommunikation ein: „ D i e P r e s s e . - Erwägt man, wie auch jetzt noch alle grossen politischen Vorgänge sich heimlich und verhüllt auf das Theater schleichen, wie sie von unbedeutenden Ereignissen verdeckt werden und in ihrer Nähe klein erscheinen, wie sie erst lange nach ihrem Geschehen ihre tiefen Einwirkungen zeigen und den Boden nachzittern lassen, - welche Bedeutung kann man da der Presse zugestehen, wie sie jetzt ist, mit ihrem täglichen A u f w a n d von Lunge, um zu schreien, zu übertäuben, zu erregen, zu erschrecken, - ist sie mehr als der p e r m a n e n t e b l i n d e L ä r m , der die Ohren und Sinne nach einer falschen Richtung ablenkt?" 39 37 38

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Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1873. 29 [132] in: K G W III 4, S.298. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1881. 15 [11] in: KGW V 2, S. 536. - W a s Nietzsche in diesem Fragment und anderen, bereits zitierten Aphorismen nur als Vermutung formuliert daß Journalisten eine überdurchschnittliche Empfindsamkeit für U m w e l t d r u c k aufweisen und sich daher gerne hinter einem M e d i u m ,verstecken' - ist mittlerweile auch Untersuchungsproblem der empirischen Kommunikatorforschung gewesen; dies mit dem Befund: "They avoid face-to-face contact with their audience. In this w a y , they avoid approving the roar of their audience, but, should they fail to persuade, they also avoid the cat-calls of rejection." (Swanson, G u y E.: Agitation Through the Press. A Study of the Personality of Publicists, in: Public Opinion Quarterly, 2 0 . J h g . 1956/57 Nr. 2, S. 441-456, hier: S.442; siehe aber auch bes. S.455f.). In Ergänzung zum bisher Gesagten ist auch auf eine Studie zu verweisen, in der das Persönlichkeitsbild von Wirtschaftsjournalisten mit jenem ihres Managementpublikums verglichen wurde. Auf der Basis der ermittelten Durchschnittswerte zeigte sich: "The media elite scored significantly higher than the business elite in power motivation, fear of power, and narcissism." (Rothman, Stanley/Lichter, S . R o b e r t : Are Journalists a N e w Class?, in: Business Forum, Spring 1983, S. 12-17; hier: S. 17). A u s der Spannung zwischen starkem Verlangen nach Macht und gleichzeitigem Mißtrauen gegen Macht und vermeintlich Mächtige folgt ein Hang zum feindseligen Wüthen': "Narcissism here means self-absorption born of personal insecurity. The narcissist tempts to build himself or herself up by devaluing other people." (ebd., S. 15). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches II/1 a . a . O . , §321, S. 147.

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Nietzsche sieht also, daß die Massenmedien schon darüber bestimmen, welche Themen überhaupt in die Öffentlichkeit gestellt werden; für ihn ist es „erst der Widerhall, durch den Ereignisse ,Größe' bekommen - der Widerhall der Zeitungen"40, er erkennt hier deutlich die Thematisierungs-, die ,agenda setting'-Funktion der Presse und es steht ihm klar vor Augen, daß sie nicht nur Macht darüber hat, was gemeint wird, sondern auch, über was öffentlich gemeint werden kann41: Hauptsächlich erschreckende, sensationelle Begebenheiten haben eine Chance, veröffentlicht zu werden; nicht unbedingt nach der Bedeutung der Geschehnisse, sondern zuerst nach ihrem Nachrichtenwert wird ausgewählt, was den Leser erreichen' soll; womit man ,schreien' und ,übertäuben' kann, das ist auch in erster Linie eine Meldung wert. Wie es unter solchen Voraussetzungen - die von ihm betonten psychischen Charakteristika des Journalistentypus' eingerechnet - zur Verzerrung, ja zur mutwilligen Konstruktion von Realität und damit zur Irreführung der Öffentlichkeit kommen muß, erlebt er während seines Studiums in Köln, als der preußische König anläßlich der fünfzigjährigen Zugehörigkeit der Rheinlande zu Preußen 1865 in die Stadt einzieht. Seiner Mutter berichtet er: „Die Zeitungen sprechen von dem Jubel und der Begeisterung des Volks. Ich bin selbst in Köln gewesen und kann diesen Jubel beurtheilen. Ich war beinahe erstaunt über eine derartige Kälte der Massen."42 Nietzsche ist damit zum Zeugen eines ,Pseudo-Ereignisses' geworden, das in geradezu erstaunlichem Maße jenem gleicht, welches rund neun Jahrzehnte später als Modellfall in die Geschichte der Kommunikationsforschung eingehen sollte: Köln 1865, - das ist sein ,MacArthur Day in Chicago'. - 43 Was er in der ,Morgenröthe' über die Probleme der Geschichtswissenschaft schreibt, kann vor diesem Hintergrund sicher auch auf sein Bild vom Prozeß der Massenkommunikation übertragen werden: „ F a c t a ! J a F a c t a F i c t a ! - Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn nur diese haben g e w i r k t . Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden. Sein

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D e r s . : Nachgelassene Fragmente, S o m m e r - H e r b s t 1882. 3 [1] (250) in: K G W V I I 1, S. 83. Eine Formulierung von Bernard C o h e n : T h e Press and Foreign Policy. Princeton: Princeton University Press 1963, S. 13. Siehe auch M c C o m b s , Maxwell/Shaw, D o n a l d : T h e Agenda Setting Function o f Mass Media, in: Public O p i n i o n Quarterly, 36. J h g . 1972 N r . 1, S. 1 7 6 - 1 8 7 . Friedrich Nietzsche an seine Mutter in N a u m b u r g , Brief aus der zweiten Julihälfte 1865. N r . 4 7 0 i n : K G B I 2, S. 66. Lang, K u r t / L a n g , Gladys Engel: M a c A r t h u r D a y in Chicago, in (dies.): Politics and Television. C h i c a g o : Quadrangle 1968, S. 3 6 - 7 7 . L a n g / L a n g beobachteten 1953 den Einzug des aus Asien zurückgekehrten Generals Douglas M a c A r t h u r in Chicago und fanden, daß die Tatsachen dieser H e i m k e h r mit der aufgebauschten Medienberichterstattung kaum in Einklang standen. -

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Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf w i r k t , - ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung."44 Auch die Presse berichtet fortlaufend von ,Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung' - in der Vorstellung jener, die vom jeweiligen Ereignis aus ihrer Perspektive einem Millionenpublikum berichten, das sich niemals selber eine ,Vorstellung' von den Dingen machen kann. Das Urteil des einzelnen - er muß es im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen' immer zu allem haben, wenn er sozial überleben will - kann nur auf vermittelte Wirklichkeit zurückgehen, und dadurch kommt es Nietzsche zufolge zum typisch modernen „Ubergewicht der H ä n d l e r und Z w i s c h e n h ä n d l e r , auch im Geistigsten".45 Hierin sieht er die eigentliche Gefahr, die der Mensch gegen sich heraufbeschworen hat, als er die Medienöffentlichkeit schuf: „Denn die M i t t l e r w e s e n fälschen fast unwillkürlich die Nahrung, die sie vermitteln: sodann wollen sie zur Belohnung für ihr Vermitteln zu viel f ü r s i c h [ . . . ] : nämlich Interesse, Bewunderung, Zeit, Geld und Anderes. - ' " " Mit der Presse schwindet das stabilisierende Gewicht der unmittelbaren Erfahrung aus den Themen der Öffentlichen Meinung: was verhandelt wird, ist größtenteils nichts Selbsterlebtes mehr, wie in der überschaubaren Polis und den mittelalterlichen Gemeinschaftsstrukturen. Der moderne Mensch ,erlebt' immer weniger, obwohl die Vermehrbarkeit seines ,Wissens' unermeßlich zu sein scheint. Dieses Wissen aber ist Selbstbetrug - denn die ,Tatsachen', auf die es sich stützt, haben sich erst in den Medien überhaupt begeben: geschehen ist unter der Herrschaft der Vermittler nicht, was sich faktisch ereignet, sondern nur noch, was in ihren Organen erwähnt wird. Bedingt durch die Selektionsregeln der Massenmedien und die besonderen Eigenheiten ihrer Betreiber entsteht schließlich eine Scheinwelt im Kopf jedes Einzelnen, der Presse und Journalismus ausgeliefert ist. So gibt sich die Kultur der Öffentlichen Meinung zwar den Anschein strikter Diesseitigkeit, ist aber in Wirklichkeit nicht weniger auf Glauben gegründet als all das, was sie an Religion und .Unmündigkeit' überwunden zu haben scheint: Die Medien transzendieren die ~Welt, die Zeitung tritt an die

Nietzsche, Friedrich: M o r g e n r ö t h e , a . a . O . , § 3 0 7 , S . 2 2 6 f . D e r s . : Nachgelassene Fragmente, H e r b s t 1887. 9 [ 1 6 7 ] (117) in: K G W V I I I 2, S . 9 8 . 4 ' D e r s . : Menschliches, Allzumenschliches I I / 2 , a . a . O . , § 2 8 2 , S . 3 1 4 f . 44

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Stelle der täglichen Gebete47, die vermeintliche Information' fungiert als Offenbarung und infiziert immer weitere Bereiche des Bewußtseins der öffentlich meinenden Individuen.

2.2.2. Die Struktur der Öffentlichen Meinung und die Zukunft

der Kultur

,Wissen' bewirkt Ohnmacht Der neuzeitliche Bürger hat sein Dasein weitgehend auf die Öffentliche Meinung gegründet: er bemißt seinen Wert im wesentlichen danach, wie er von seinen Mitmenschen bewertet wird, und diese als Öffentlichkeit' erlebten anderen bemessen seinen Wert nach dem Grad seiner Fügsamkeit in das, was ihnen als richtiges Verhalten und sozial notwendiges Wissen gilt. ,Mensch sein' bedeutet ihm: gesellschaftsfähig sein; gesellschaftsfähig sein' bedeutet: das anerkannt Richtige tun, wissen und meinen. Wenn er aber unter diesen Gegebenheiten noch über seinen gesellschaftlichen Rang mitentscheiden will, wenn er nicht nur geduldet, sondern konkurrenzfähig sein will, braucht er einen beständigen Vorsprung - und das heißt: einen ständigen Zuwachs - an Wissen, um auf alle denkbaren Möglichkeiten des öffentlichen Meinens vorbereitet zu sein. Im Zeitalter der öffentlichen Meinungen dient der Wissenserwerb nicht vorrangig der intellektuellen Selbstbildung, sondern der sozialen Absicherung und Beweglichkeit. Folglich wird am Wissen nicht in erster Linie das eigentlich Wißbare geschätzt, sondern es wird - da es den einzelnen in möglichst allen sozialen Beziehungen reaktionsbereit halten soll - zumeist nur so weit verfolgt, wie es instrumenteil gegen die Mitwelt eingesetzt werden kann. ,Wissen ist Macht': dieser Satz kennzeichnet vollständig die Haltung des neuzeitlichen Gebildeten zu seiner ,Bildung', und dabei erscheint ihm VielWissen wesentlich nützlicher als Gut-Wissen, - denn Weniges gut und besser als die meisten zu wissen erregt Mißtrauen und isoliert: „Wo es mächtige Gesellschaften, Regierungen, Religionen, öffentliche Meinungen gegeben hat, kurz wo je eine Tyrannei war, da hat sie den einsamen Philosophen gehasst; denn die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyrannei dringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust: und das ärgert die Tyrannen." 1 Wenig Wissen über Vieles statt viel Wissen über Weniges fordert die öffentlich meinende ,Philisterkultur': „Ehemals warnte man vor Nichts mehr, 47 1

Vgl. ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1884. 25 [2101 in: K G W VII 2, S . 6 5 . Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße III, § 3 , in: K G W III 1, S . 3 4 9 f .

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als den Tag, den Augenblick zu ernst zu nehmen und empfahl das nil admirari und die Sorge für die ewigen Anliegenheiten; jetzt ist nur Eine Art von Ernst in der modernen Seele übrig geblieben, er gilt den Nachrichten, welche die Zeitung und der Telegraph bringt." 2 Mit der Presse hat sich die neuzeitliche Kultur ein Hilfsmittel geschaffen, das ihren Informationsdurst stillen soll: nie ist in größerem Stile Wissen organisiert worden, und nie war es weniger organisch, weniger mit den Menschen verwachsen. Auf der Suche nach immer mehr Neuigkeiten hat der Mensch mit den Massenmedien den Horizont des Selbst-Erlebens gesprengt; die Explosion der festen, vormals in engen Grenzen variierten Themenstruktur seiner öffentlichen Kommunikation mußte zwangsläufig folgen. So treibt er nun in einer immer weiter steigenden Flut von Informationen, zu denen ihm die persönliche Beziehung fehlt und die ihn - ,facta ficta' - in die Irre tragen. Zur Selektion durch die Medien kommt die Selektion durch den Rezipienten. ,Öffentliche Meinungen - private Faulheiten' soll auch sagen, daß der Bildungsbürger gar nicht mehr anders kann als an der Oberfläche ständig sich vermehrender und vermeintlich bedeutsamer Reize zu bleiben. Schnell hinsehen, schnell .meinen' und schnell weitergehen muß jeder, der nicht umgestoßen oder aus der Reihe gedrängt werden will: „Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken, fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen." 3 Will der moderne Mensch nicht in der Flut der Reize ertrinken, so muß er fortwährend ,Komplexität reduzieren' und darf manches nicht erkennen wollen, weil er zur Statussicherung über zu vieles mitreden können muß: „Sein innerlicher Kanon nämlich lautet: ,Ich will Nichts sehen, was der üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin i c h dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdecken? Es giebt schon der alten zu viele.'" 4 So skizziert Nietzsche das sozialpsychologische Konzept der selektiven Wahrnehmung und dessen Erweiterung in der Theorie der Kognitiven Dissonanz: das Nicht-sehenwollen des modernen Menschen läuft auf ein Dasein hinaus, in dem Spannun-

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4

Ders.: Unzeitgemäße IV, § 6 , in: K G W IV 1, S. 34. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, § 2 8 2 , in: K G W IV 2, S.235. - Ergänzend ebd., § 2 8 6 , S . 2 3 7 : „Ich glaube, dass Jeder über jedes Ding [ . . . ] eine eigene Meinung haben muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. A b e r die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen." Ders.: Die fröhliche Wissenschaft. - § 2 5 , in: K G W V 2, S. 73.

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gen jeder Art aus tiefer Furcht vermieden werden und alle Sehnsucht auf innere wie äußere Konsistenz gerichtet ist. 5 Was Nietzsche mit diesem Aphorismus in seinen mittleren Jahren sagt, beherrscht sein Denken schon zur Zeit der ,Unzeitgemäßen Betrachtungen': Das öffentliche Meinen wird motiviert durch ein Bedürfnis nach Dissonanzvermeidung; es wird thematisch strukturiert durch Organe, die das Wissen des öffentlich Meinenden mehr in die Breite als in die Tiefe entwickeln; diese Organe vergrößern ständig den Abstand zwischen den Dingen, die sie vermitteln, und den Rezipienten, denen sie diese Dinge vermitteln: Weil immer mehr Informationen verlangt werden, müssen die Informationen - in jedem Sinne immer weiter hergeholt werden; rechnet man hinzu, daß sich damit auch der Verzerrungsgrad der Information vervielfachen muß, so kann gesagt werden, daß das Weltbild des einzelnen ,Gebildeten' immer mehr zum bloßen MedienArtefakt degenerieren muß. Eine Öffentliche Meinung, die ihrer psychologischen, soziologischen und organisatorischen Gesamtstruktur nach so beschaffen ist, kann zwar als funktional angesehen werden, soweit sie fortwährend einen status quo der Fiktionen aus sich reproduziert, aber für kulturelle Entwicklung kommt sie nicht in Betracht. Nietzsches zweite ,Unzeitgemäße Betrachtung' mit dem Titel ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben' bezieht sich auf diesen Zusammenhang. Der historischen Bildung, die er hier angreift, bedient er sich nur als eines besonders zeitgemäßen Beispiels für die vordergründige Ableitung aus der ,Wissen ist Macht'-Perspektive, daß viel Wissen auch viel Können bedeute. In seinen Augen tritt in der unmäßigen Selbst-Verstopfung der Deutschen mit flachen, dafür aber um so breiteren Geschichtskenntnissen die allgemeine, verpflichtende Sucht nach Neuigkeiten, die als ,Bildung' sozial ausgespielt werden können, übertrieben zutage: der Historismus des Kaiserreichs will im Grunde gar keine Aneignung der Historie - er will die Unterhaltung und das eitle Spiel mit Histörchen. Nietzsche erläutert, worauf er die Geschichtssucht als Symptom einer allgemeinen Geschichten- und Informationssucht hinauslaufen sieht: „Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum [ . . . ] Das Wissen, das im Uebermaasse ohne Hunger, ja wider das Bedürfniss aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv [ . . . ] Das dagegen, was wirklich Motiv ist und was als That

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Siehe hierzu bes. Festinger, Leon: A Theory of Cognitive Dissonance. 3. A u f l . , Stanford: Stanford University Press 1965. Mit besonderem Bezug auf den Prozeß der Öffentlichen Meinung siehe z . B . Smith, D o n D.: Cognitive Consistency and the Perception of Other's Opinions, in: Carlson, Robert O . (Hrsg.): Communications and Public Opinion. New Y o r k / W a s h i n g t o n / L o n d o n : Praeger'l975, S. 1 1 9 - 1 3 3 .

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sichtbar nach aussen tritt, bedeutet dann oft nicht viel mehr als eine gleichgültige Convention, eine klägliche Nachahmung oder selbst eine rohe Fratze." 6 Wo der Mensch sich zuviel mit Dingen auseinandersetzt, die ihn nicht unmittelbar betreffen, wird er apathisch: „So macht der historische Sinn seine Diener passiv und retrospectiv". 7 Schon der Jugendliche wird in der Schule unter einer Fülle von Geschichtskenntnissen erdrückt und in einen Fatalismus gedrängt, der schließlich auch die Erwachsenenwelt beherrscht: „Man blendet einige Vögel, damit sie schöner singen [ . . . ] Das Mittel aber, das verruchte Mittel, das man anwendet, um sie zu blenden, ist a l l z u h e l l e s , a l l z u p l ö t z l i c h e s , a l l z u w e c h s e l n d e s L i c h t . Der junge Mensch wird durch alle Jahrtausende gepeitscht [ . . . ] So aber wie der junge Mensch durch die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern, so hören wir Concerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies Gefühl der Befremdung immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermässig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen zu lassen - das nennt man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung. Ohne Beschönigung des Ausdrucks gesprochen: die Masse des Einströmenden ist so gross, das Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig, ,zu scheusslichen Klumpen geballt', auf die jugendliche Seele ein, dass sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiss. [ . . . ] Der junge Mensch ist so heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiss er es: in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist. In schwermüthiger Gefühllosigkeit lässt er Meinung auf Meinung an sich vorübergehen." 8 Durch die allumfassende Medienöffentlichkeit wird der Mensch nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart lebendig eingemauert: Tag für Tag berichten ihm die Zeitungen von der Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Ungerechtigkeit, Grausamkeit, - kurz: von der individuellen und intellektuellen Unfaßbarkeit der Welt: „Die Menschen durchleben jetzt alle zu viel und durchdenken zu wenig: sie haben Heisshunger und Kolik zugleich und werden deshalb immer magerer, soviel sie auch essen. - " ' Sie müssen ,wissen' wollen, um mit der Öffentlichen Meinung meinen und in der Gesellschaft leben zu können, aber: „Wenn alles, was wird, interessant, des Studiums würdig erachtet wird, so fehlt bald für alles, was man thun s o l l , der Maasstab und das Gefühl, der Mensch wird in der Hauptsache gleichgültig." 10

Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße II, § 4 , in: K G W III 1, S. 268 f. Ebd., § 8 , S . 2 0 1 . » Ebd., § 7 , S. 295 f. 9 Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/2, § 2 0 3 , in: K G W IV 3, S . 2 7 9 f . 10 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1873. 29 [32] in: K G W III 4, S . 2 4 6 . 6 7

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Dies ist die geistige Lage der .Philister' im historisierenden und politisierenden Deutschen Reich; Nietzsche findet sie „bei ihren Frauen und Kindern unter ihren Zeitungen und politischen Alltagsgesprächen, wir hören sie eine Zeit lang reden über Ehe und allgemeines Stimmrecht, Todesstrafe und Arbeiterstrikes, und es scheint uns nicht möglich, den Rosenkranz öffentlicher Meinungen schneller abzubeten." 11 Aber diese vermeintlich wichtigen, „täglich neuen Fragen und Sorgen des öffentlichen Wohles verschlingen eine tägliche Abgabe von dem Kopf- und Herz-Capitale jedes Bürgers", so daß „das politische Aufblühen eines Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht." 12 Im Sog jener Öffentlichen Meinung, die sich nicht mehr an konkreten Lebensproblemen bildet, sondern der Künstlichkeit einer Medienwelt verfallen ist, bleibt die schöpferische Kraft des einzelnen auf der Strecke: „Ich halte es für unmöglich, aus dem Studium der Politik noch herauszukommen als Handelnder."' 3 Wissen lähmt, wenn es nicht Persönlichkeits-, sondern lediglich öffentlichkeitsfunktional angehäuft wird: dies ist die Quintessenz der Geschichts- und Medienkritik Nietzsches und ein Hauptargument seiner Kritik der Öffentlichen Meinung überhaupt. Im vielfach verknüpften Netz der öffentlichen Kommunikation sieht er die bürgerlichen Gebildeten ohne Bodenberührung schweben, vergeblich bemüht, räsonnierend die Knoten zu entwirren, nur um immer tiefer in die ,Stricke der Philisterei' zu geraten: „Nirgends kommt es zu einer Wirkung, sondern immer nur wieder zu einer ,Kritik'; und die Kritik selbst macht wieder keine Wirkung, sondern erfährt nur wieder Kritik." 1 4 Sie sind überaus betriebsam und gesprächig; aber der abseitige, unzeitgemäße Betrachter dieser Kultur der Öffentlichen Meinung glaubt zu sehen, daß sich im Kult um die Öffentliche Meinung in Wirklichkeit nichts bewegt. Der Bürger lähmt sich selbst, indem er sich immer mehr Informationen, immer mehr ,Wissen' in immer größerer Eile aus immer entlegeneren Gebieten beschafft und damit letztlich unter die Herrschaft dessen gerät, was er als Beschaffungsinstrumentarium entwickelt hat: die Presse und die Schule, der Journalist und der Lehrer dienen der Öffentlichkeit nicht; sie hat sich ihnen ausgeliefert und ,meint' nun zu ihren Konditionen. Die Information wird in der bürgerlichen Gesellschaft immer weniger wegen ihres Gehaltes geschätzt: sie ist kaum noch Nachricht in dem Sinne, daß sich der Rezipient wirklich " Ders.: Unzeitgemäße I, § 9 , in: K G W III 1, S . 2 1 1 . 12 Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 4 8 1 , S . 3 2 5 . N a c h diesen Aphorismus ließ Nietzsche dann noch ,Öffentliche Meinungen - private Faulheiten' setzen. 13 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Anfang 1874 - Frühjahr 1874. 32 [63] in: K G W III 4, S. 390. 14 Ders.: Unzeitgemäße II, a . a . O . , § 5 , S . 2 8 0 f .

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nach dem richtet oder richten müßte, was er mit ihr erfährt; statt dessen fungiert sie als bloßes Quantum, an dem sich soziale Kontrolle verwirklichen kann. Am .Wissen' und dem dazugehörigen ,Meinen' - und sei es noch so unwesentlich und unpraktisch - entscheidet sich der Integrationsgrad des Individuums; die Fähigkeit zum schöpferischen Handeln wird dabei weder verlangt noch gefördert, sondern muß allmählich verkümmern: „Die Deutschen haben das Pulver erfunden - alle Achtung!", faßt Nietzsche später in Jenseits von Gut und Böse' zusammen, „aber sie haben es wieder quitt gemacht - sie erfanden die Presse."15 - Der Strukturwandel der Öffentlichkeit durch das gedruckte Wort und das offenbar unaufhaltsame Verlangen nach· mehr ,Bildung' bringt in seinen Augen jedoch nicht nur Lähmung mit sich, sondern - wesentlicher noch - Zerstörung. Öffentlichkeit' oder Die Zerstörung des Geistes Eine Gesellschaft, die aus Mutwillen, aus Zerstreuungssucht, weil sie das Private weder ertragen noch irgend jemandem zugestehen möchte, aus Vergnügen am ,großen Bumbum', unter dem Vorwand der demokratischen Kontrolle oder aus welchen Gründen sonst alle ihre Winkel mit dem Licht der Öffentlichkeit ausleuchtet, richtet sich selbst zugrunde. Je mehr sie die Themenpalette ihrer öffentlichen Kommunikation erweitert, desto diffuser wird ihr Unterscheidungsvermögen: „Moralisch ausgedrückt: es gelingt euch nicht mehr das Erhabene festzuhalten, eure Thaten sind plötzliche Schläge, keine rollenden Donner. Vollbringt das Grösste und Wunderbarste: es muss trotzdem sang- und klanglos zum Orkus ziehn."16 Aber das Erhabene wird nicht nur unerkennbar, es wird auch immer unmöglicher: Kein Talent kann sich mehr auf Dauer „aus dem gierigen Haschen und Drängen, aus dem rastlosen und sich überstürzenden Wellenschlag der Öffentlichkeit" zurückziehen'7, um in Ruhe zu reifen und in angemessener Gesellschaft Maß, Ziel, Kritik und Selbstkritik zu lernen, überall wartet die moderne Kultur mit der Verlockung, den ,Aristokratismus des Geistes' gegen den Ruhm des Tages einzutauschen: „An ihre egoistischen Regungen, an ihre Schwächen und Eitelkeiten richtet sich diese Versuchung, ihnen gerade flüstert jener Zeitgeist zu ,Folgt mir! [ . . . ] hier, bei mir, genießt ihr als Herrn eure freie Persönlichkeit, eure Begabungen dürfen für sich glänzen, mit ihnen werdet ihr selbst an der ersten Stelle stehn, ungeheures Gefolge wird euch begleiten, und der Zuruf der öffentlichen

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Ders.: Jenseits von Gut und Böse. - Vorrede, in: K G W VI 2, S.5. Ders.: Unzeitgemäße II, a.a.O., §5, S.276. Ders.: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. - 4. Vortrag, in: K G W III 2, S. 2 1 9 f .

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Meinung wird euch mehr behagen, als eine vornehm gespendete Belobigung aus der Höhe des Genius." 18 In der wachsenden Macht der Öffentlichen Meinung sieht Nietzsche die Tyrannei des Mittelmaßes und die Vernichtung des Herausragenden voranschreiten. Der bürgerlichen Gesellschaft, die ihren Zusammenhalt und ihre innere Orientierung durch immer mehr Öffentlichkeit und die immer ausschweifendere Beteiligung Halb- und Unwissender an immer spezielleren Zivilisationsproblemen gewährleisten will, sagt er den Untergang voraus. Er ist überzeugt, daß das Tragfähige, das wahrhaft Fortschrittliche, das, was Zukunft versprechen soll, nur weitab von Markt und Öffentlicher Meinung zu Kraft und langem Atem kommen kann. Nur wenn eine Gesellschaft sich dazu überwindet, ihren Fähigsten Zurückgezogenheit zuzugestehen und ihnen Zeit zu lassen, damit sie schließlich aus einem Überschuß an Wissen und Können, an organisch gewachsener Persönlichkeit Maßstäbe zu setzen vermögen, bleibt sie überlebensfähig. In der Kultur der Bildungssüchtigen findet sich jedoch diese Geduld nicht mehr: „Alles bei ihnen redet, Niemand weiss mehr zu verstehn. Alles fällt in's Wasser, Nichts fällt mehr in tiefe Brunnen. / Alles bei ihnen redet, Nichts geräth mehr und kommt zu Ende. Alles gackert, aber wer will noch still auf dem Neste sitzen und Eier brüten? / Alles bei ihnen redet, alles wird zerredet. Und was gestern noch zu hart war für die Zeit selber und ihren Zahn: heute hängt es zerschabt und zernagt aus den Mäulern der Heutigen. / Alles bei ihnen redet, alles wird verrathen. Und was einst Geheimniss hiess und Heimlichkeit tiefer Seelen, heute gehört es den Gassen-Trompetern und anderen Schmetterlingen."" Aber auch wer noch ,sitzen' und ,brüten' will, hat keine Chance auf späteres Gehör, wenn er sich nicht schon frühzeitig in die Sachzwänge der Medienöffentlichkeit schickt: „Ehemals wollte man sich einen R u f machen: das genügt jetzt nicht mehr, da der Markt zu gross geworden ist, - es muss ein G e s c h r e i sein. Die Folge ist, dass auch gute Kehlen sich überschreien, und die besten Waaren von heiseren Stimmen angeboten werden; ohne Marktschreierei und Heiserkeit giebt es jetzt kein Genie mehr." 20 Nicht mehr auf die 18 Ebd., S. 2 2 1 . - Fast gleichlautend in Unzeitgemäße III, a. a. O . , § 6, S. 399. " Ders.: A l s o sprach Zarathustra. - Die Heimkehr, in: K G W VI 1, S . 2 2 9 . 20 Ders.: Die fröhliche Wissenschaft, a . a . O . , § 3 3 1 , S.238. - Vgl. zu diesem Aphorismus den Brief seines Verlegers Ernst Schmeitzner an Nietzsche in Basel, 15. November 1878, Nr. 1 1 2 6 in: K G B II 6/2, S. 9 9 4 f f . : „Ich bemühe mich jetzt Leute ausfindig zu machen die f ü r Ihre Bücher ,Lärm' machen, das scheint mir aber gar nicht zu gelingen. [ . . . ] Heutzutage wird jede Waare laut ausgeschrien, da muß jeder mitschrein, sonst wird er überhört." - Sehr ähnlich auch Wuttke, Heinrich: Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeitungswesens. 2. Aufl., Leipzig: Verlag von Joh. Wilh. Krüger 1875 (Erstveröffentlichung 1866), S . 6 0 .

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Substanz kommt es an, sondern auf die hohle Form, die medienwirksame Gebärde; die Kunst erschöpft sich in der Kunst, Aufmerksamkeit zu erregen: „Das Recept, um jetzt Glauben zu finden, heisst: ,Schone dich selber nicht! Willst du deine Meinung in ein glaubwürdiges Licht setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an!'" 21 Derjenige, der sich noch mit Aussicht auf Gehör mitteilen will, muß bereit sein, sofort alles daranzugeben und einzuäschern, was ihn als Intellekt hervorgebracht, geschützt, beherbergt hat; andernfalls dreht sich überhaupt niemand nach ihm um. Wo eine allgegenwärtige, unersättliche Öffentlichkeit den Gang der sozialen Entwicklung bestimmt, hält Nietzsche geistiges Wachstum für unmöglich: ständig wendet sie sich entweder den Scharlatanen und Windmachern zu, oder der Sturm der Öffentlichen Meinung entwurzelt und zerbricht alles, was eigentlich noch der Pflege bedarf und ins Glashaus gehört. Helmut Schelsky hat diesen Gedanken Nietzsches mit einem Essay aufgegriffen und dargelegt, daß „Öffentlichkeit, einstmals die entscheidende Fortschrittskraft der Aufklärung, mehr und mehr zur Bedrohung der geistigen Produktion und Selbständigkeit" wird. 22 Der Bürger lähmt zunächst sich selber mit seiner schrankenlosen Neugier, und er lähmt sodann den Intellektuellen, indem er ihn ständig in die Öffentlichkeit zieht: „Je mehr ein Künstler, ein Schriftsteller, ein Wissenschaftler an Publizität, an medienbegründeter Anerkennung gewinnt, um so geringer wird seine Chance zur Produktivität." 23 - Um so geringer wird auch die Zukunftsaussicht jener Systeme, die alles Neue direkt in den Mühlen ihrer Massenkulturen zerkleinern, wäre mit Nietzsche noch hinzuzufügen. Die ausschließliche Integration einer Gesellschaft durch mediale Öffentlichkeit und eine Öffentliche Meinung, die kaum noch der Vorbereitung kollektiven Handelns dient, sondern sich in planloser Informationsvermehrung erschöpft, muß zu Bewegungsunfähigkeit und Auflösung führen. Wo hinausgreifende Gedanken schon bei ihrer Entstehung ins herrschende Themen-, Werte- und Meinungsuniversum zurücksozialisiert werden, kann keine Entwicklung mehr stattfinden, denn: „Der Wind im Thale und die Meinungen des Marktes von Heute bedeuten Nichts für Das, was kommt, sondern nur für Das, was war." 24 Aber nicht nur die schöpferische Kraft, nicht nur das Werdende wird vom zunehmenden Gewicht des Öffentlichen erdrückt: auch das Subsystem Wissenschaft, dessen Funktion in der Beschreibung des Seienden liegt, bleibt von der allgemeinen Entwicklung nicht verschont. Gemäß der eigenartigen Rolle 21 22

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Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/2, a . a . O . , § 3 1 9 , S . 3 3 2 . Schelsky, Helmut: Die Wüste wächst. Uber die Selbstzerstörung der Kultur in der Bundesrepublik, in (ders.): Der selbständige und der betreute Mensch. Stuttgart: Seewald 1976, S. 1 6 6 - 1 6 9 ; hier: S. 166. Ebd., S. 167. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches II/2, a . a . O . , § 3 3 0 , S . 3 3 5 .

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des Wissens in der Öffentlichen Meinung kommt es dem ,Philister' kaum noch auf ,Wahrheit" an; statt dessen beobachtet Nietzsche, „dass der allergrösste Theil aller Gebildeten noch jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und nichts als Ueberzeugungen begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit G e w i s s h e i t will." 25 Der Wissenschaftler wird unmittelbar gesellschaftlich ,nutzbar gemacht'; er soll hier und jetzt zu allem und jedem sein Urteil bereithalten, ohne daß es noch sonderlich darauf ankommt, ob er sich seine Meinung in Ruhe gebildet hat: „Die Philisterkultur glaubt an sich und darum auch an die ihr zu Gebote stehenden Methoden und Mittel. [ . . . ] ; ihre Sorge ist, den Gelehrten zum Aussprechen seiner Meinungen zu nöthigen und diese dann vermischt, diluirt oder systematisirt dem deutschen Volke als Heiltrank einzugeben. Was ausserhalb dieser Kreise heranwächst, wird so lange mit zweifelnder Halbheit angehört oder nicht angehört, bemerkt oder nicht bemerkt, bis endlich einmal eine Stimme, gleichgültig von wem, wenn er nur recht streng den GattungsCharakter des Gelehrten an sich trägt, laut wird, heraus aus jenen Tempelräumen, in denen die traditionelle Geschmacks-Unfehlbarkeit herbergen soll: und von jetzt ab hat die öffentliche Meinung eine Meinung mehr und wiederholt mit hundertfachem Echo die Stimme jenes Einzelnen." 26 Der Bildungsbürger des neunzehnten Jahrhunderts hat erreicht, daß die Wissenschaften ihm und seinen Ansichten zuarbeiten und die Aufgabe der Prüfung gerade dieser Ansichten immer weniger erfüllen. Von der Aussicht auf schnellen Ruhm verführt, halten die Wissenschaftler selbst auch den notwendigen Abstand zu den Themen des Tages und den vordergründigen Zeitbedürfnissen nicht mehr ein: „Bequemlichkeit will man oder Betrunkenheit, wenn man liest: bei weitem das Meiste, was gelesen wird, ist Zeitung oder Zeitungs-Art. Man sehe sich unsere Revuen, unsere gelehrten Zeitschriften an: jeder, der da schreibt, redet wie vor ,ungewählter Gesellschaft', und läßt sich gehn, oder vielmehr sitzen, auf seinem Lehnstuhle [ . . . ] - Die Freiheit der Presse richtet den Stil zu Grunde und schließlich den Geist [ . . . ] - Die ,Freiheit des Gedankens' richtet den D e n k e r zu Grunde. An den Hochschulen wird immer weniger Wissenschaft ohne furchtsame oder spekulierende Rücksicht auf die Öffentliche Meinung betrieben: „Dagegen drängt sich immer mehr der Geist der Journalisten auf die Universität ein, und nicht selten unter dem Namen der Philosophie; ein glatter geschminkter Vortrag, Faust und Nathan den Weisen auf den Lippen, die Sprache und die Ansichten unserer ekelhaften Litteraturzeitungen [ . . . ] - solche Anzeichen

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Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 6 3 5 , S . 3 7 3 . Ders.: Unzeitgemäße I, a . a . O . , § 8 , S.201 f. Ders.: Nachgelassene Fragmente, April-Juni 1885. 34 [65] in: K G W VII 3, S. 160.

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sprechen dafür, dass der Universitätsgeist anfängt, sich mit dem Zeitgeiste zu verwechseln." 28 Mit der Zeit bildet sich jener Gelehrtentypus heraus, der sich dazu bringen läßt, „ g e w i s s e ,Wahrheiten' zu finden, nämlich aus Unterthänigkeit gegen gewisse herrschende Personen, Kasten, Meinungen, Kirchen, Regierungen, weil er fühlt, dass er sich nützt, wenn er die ,Wahrheit' auf ihre Seite bringt." 29 Immer mehr wissenschaftlichen Intellektuellen wird allenfalls noch „die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer Politik sein zu müssen" 3 0 , und dies wiederum führt dazu, daß die letzte, ehemals verläßliche Institution zur Feststellung des Tatsächlichen und des Möglichen überflüssig und verächtlich wird: „Denn die Nichtakademiker haben gute Gründe zu einer gewissen allgemeinen Missachtung der Universitäten; sie werfen ihnen vor, dass sie feige sind, dass die kleinen sich vor den grossen und dass die grossen sich vor der öffentlichen Meinung fürchten; dass sie in allen Angelegenheiten höherer Kultur nicht vorangehen, sondern langsam und spät hinterdrein hinken; dass die eigentliche Grundrichtung angesehener Wissenschaften gar nicht mehr eingehalten wird." 31

Realkultur und Medienkultur Mit David Friedrich Strauß, dem protestantischen Theologen, einem Hegelianer, dessen Werk ,Der alte und der neue Glaube' im Deutschen Reich vielgelesen und hochgerühmt wird, greift Nietzsche einen Repräsentanten dieser Niedergangs-Wissenschaft, einen seiner Meinung nach typischen „Philisterhäuptling" an 32 : „Es gab einen Strauss, einen wackeren, strengen und straffgeschürzten Gelehrten, der uns eben so sympathisch war, wie Jeder, der in Deutschland mit Ernst und Nachdruck der Wahrheit dient und innerhalb seiner Grenzen zu herrschen versteht; der, welcher jetzt in der öffentlichen Meinung als David Strauss berühmt ist, ist ein Anderer geworden". 3 3 Nietzsche wirft Strauß vor, mit seiner Synthese von Fachautorität und zeitgemäßer Pseudo-Ethik dem Philister nach dem Mund zu schreiben und sich dabei um Themen zu kümmern, für die er nicht mehr kompetent ist: „Wenn man Strauss über die Lebensfragen reden hört, sei es nun über die Probleme der Ehe oder

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Ders.: Unzeitgemäße III, a. a. O., § 8, S. 420 f. Ebd., §6, S.391. - Siehe auch' Nachlaß Ende 1880, 7 [257] in K G W V 1, S.701: „Daher der abscheuliche Anblick des ,Gelehrten' - er [ . . . ] warf sich der Kirche oder dem Regimente oder der öffentlichen Meinung in die Hände, oder der Dichtkunst und der Musik." Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , §469, S. 311. Ders.: Unzeitgemäße III, a . a . O . , §8, S.420. Ders.: Unzeitgemäße I, a . a . O . , §7, S. 189. Ebd., §10, S. 215.

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über den Krieg oder die Todesstrafe, so erschreckt er uns durch den Mangel aller wirklichen Erfahrung, alles ursprünglichen Hineinsehens in die Menschen: alles Urtheilen ist so büchermässig uniform, ja im Grunde sogar nur zeitungsgemäss" ,34 Alles, was Nietzsche an seiner Zeit, ihrer ,Bildung' und ihren Menschen geringschätzt, findet er in Strauß, seinen Schriften und seiner Popularität vereint: einen Hang zur hastigen Buchproduktion, ungenaues Denken, das Vortäuschen von Überlegenheit und Erfahrung in Dingen, die einem eigentlich fremd sind und die verkrampfte Gesuchtheit eines Stils, der den neuen ,Klassiker' kenntlich machen soll, tatsächlich aber nichts weiter darstellt als übelste Sprachvergewaltigung. Verwundert fragt er sich, warum „die aesthetische öffentliche Meinung so matt, unsicher und verführbar ist, dass sie sich ohne Einspruch ein solches Zur-Schau-Stellen der dürftigsten Philisterei gefallen läßt, ja, dass sie gar kein Gefühl für die Komik einer Scene besitzt, in der ein unästhetisches Magisterlein über Beethoven zu Gerichte sitzt." 35 Uberhaupt sieht er in der ,deutschen Cultur der Jetztzeit', im öffentlichen Gebaren der Gelehrten, der Buch- und der Zeitungsmacher die Breitenwirkung der einzelnen Meinungsproduzenten und -vermittler im umgekehrten Verhältnis zu ihrer schöpferischen Kraft: je weniger einer wirklich für kulturelle Fortentwicklung in Betracht kommt, so scheint ihm, desto heftiger wird er in den Medien und von seinen Zeitgenossen gefeiert. Nietzsche vermutet: Einer Öffentlichkeit, die erst durch Massenmedien hergestellt wird und deren Meinungsbildung auch nur über Massenmedien erfolgen kann, weil sie räumlich und sozialstrukturell für direkte Kommunikation viel zu unübersichtlich ist, muß die fortdauernde Reproduktion des Mittelmäßigen, des Halbgegorenen und Leichtverdaulichen systemimmanent sein. W o alles auf Quantitäten berechnet ist, folgt die qualitative Verkümmerung zwangsläufig. So sieht er im Deutschen Reich eine ,Pseudo-Kultur' in voller Blüte, die das Durchschnittliche als avantgardistisch feiert und die wirkliche Avantgarde weder zu W o r t noch sonstwie an die bürgerliche Öffentlichkeit kommen läßt es sei denn, um sie ,vorzuführen' und der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Träger dieser Pseudokultur wiegen ihr Publikum in dem Glauben, daß ein gewisser Endzustand erreicht oder zumindest der Weg dorthin durch ihr Tun vorgezeichnet sei und daß alles andere als reaktionär und dekadent zu gelten habe: „Ich empfinde diesen Taumel und dieses Glück in dem unvergleichlich zuversichtlichen Benehmen der deutschen Roman- Tragödien- Lied- und Historienfabrikanten: denn dies ist doch ersichtlich eine zusammengehörige 34 35

Ebd., § 8 , S. 200. Ebd., § 5 , S. 183.

Der Mensch im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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Gesellschaft, die sich verschworen zu haben scheint, sich der Müsse- und Verdauungsstunden des modernen Menschen, das heisst seiner ,Kulturmomente' zu bemächtigen und ihn in diesen durch bedrucktes Papier zu betäuben. An dieser Gesellschaft ist jetzt, seit dem Kriege, Alles Glück, Würde und Selbstbewusstsein: sie fühlt sich, nach solchen ,Erfolgen der deutschen Kultur', nicht nur bestätigt und sanctionirt, sondern beinahe sakrosankt, spricht deshalb feierlicher, liebt die Anrede an das deutsche Volk, giebt nach Klassiker-Art gesammelte Werke heraus und proclamirt auch wirklich in den ihr zu Diensten stehenden Weltblättern Einzelne aus ihrer Mitte als die neuen deutschen Klassiker und Musterschriftsteller." 36 Nietzsches Grundgedanken sind demnach folgende: Erstens hatte ein gerade beendeter Krieg zur Gründung des Deutschen Reiches, einer rapide an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung gewinnenden Staatsmacht geführt. Zweitens suchte dieses spätgeborene und schwerfällige Kind Europas nach seiner Identität, es suchte nach ,Geist' - nach ,deutschem Geist'. Und drittens wurde ihm dieser Geist von Personen und Institutionen vorgespiegelt, die kaum in der Lage sein konnten, natürlichen, dauerhaften, freien Geist zu schaffen. Da aber sie allein die öffentliche Kommunikation beherrschten mußte eine Art doppelter Kultur entstehen: Hier die hörbare, sichtbare, hastiggewollte, in den Retorten der Presse heißgesiedete, deutschtümelnde ,Pseudo-Kultur', - dort, kaum wahrzunehmen, in die Isolation gedrängt, das letztlich Bleibende, das fest in der deutschen Geistesgeschichte wurzelnde, der von Nietzsche eigentlich als solcher empfundene .deutsche Geist'. Dieser Geist aber „ist ein Fremdling: in einsamer Trauer zieht er vorbei: und dort wird das Rauchfaß vor jener Pseudokultur geschwungen, die, unter dem Zuruf der gebildeten' Lehrer und Zeitungsschreiber, sich s e i n e n Namen, seine Würden angemaaßt hat und mit dem Worte ,deutsch' ein schmähliches Spiel treibt." 57 So, wie Nietzsche hier zwischen ,Kultur' und ,Pseudo-Kultur' unterscheidet, ergibt sich eine gedankliche Verbindung zu dem Begriffsgegensatz ,Realkultur' und ,Medienkultur', der mit einer empirischen Studie über die Kulturszene der Bundesrepublik Deutschland in die Publizistikwissenschaft eingeführt wurde. Parallelen zeigen sich schon in der Ausgangslage: Wie Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen', so setzen auch die Beobachtungen zur Untersuchung ,Realkultur und Medienkultur' in einer geschichtlichen Situation ein, die durch einen drastischen Übergang — Zusammenbruch, Kriegsende, Staatsneugründung - , durch eine rasche soziologische, ökonomische und politische Ebd., § 1 , S. 157. " Ders., Ueber die Z u k u n f t . . a . a. O . , 3. Vortrag, S. 202. 56

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Stabilisierung des Neuen und durch die Entfaltung eines umfangreichen Kulturbetriebes bestimmt ist. Und wie Nietzsche für die Reichsgründung zu zeigen sucht, so findet sich auch hier ein Zusammenwirken einflußreicher Massenmedien mit einer ganz bestimmten Art von Literatur belegt: Die Studie verfolgt die Karrieren der bekanntesten ,Gruppe 47' - Autoren und die auf sie bezogene Berichterstattung des Magazins ,Der Spiegel'. Sie erbringt den Nachweis, daß zwischen beidem ein Zusammenhang besteht und daß dieser Zusammenhang um so enger wird, je ,Spiegel'-angemessener ein Schriftsteller schreibt und handelt: „Wer nur literarische Werke publiziert und sonst nichts, der wird in den Massenmedien kaum ein vielbeachteter Autor." 3 8 Außerdem zeigt sich, daß die Palette jener Literaten, die vom ,Spiegel' besonders geschätzt werden, sich sehr von jener unterscheidet, die Fachleute im .Literaturlexikon des 20. Jahrhunderts' als repräsentativ zusammengestellt haben: „Der Unterschied zwischen dem Bild von der zeitgenössischen deutschen Literatur, das die Berichterstattung des Spiegel liefert und dem Bild von der zeitgenössischen deutschen Literatur, das das Literaturlexikon zeichnet, wird [ . . . ] tatsächlich ζ. T. durch die Berichterstattung des Spiegel über die kulturpolitischen und politischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Schriftsteller hervorgerufen. Die geringe literarische Spezialisierung eines Massenmediums wie des Spiegel muß damit [ . . . ] als eine Ursache für die großen Karrierechancen von Schriftstellern betrachtet werden, die sich im Zeitalter der Massenmedien außerhalb ihrer literarischen Tätigkeit kulturpolitisch und politisch engagieren." 39 Nietzsche hat in seiner vergleichbaren Lage, die ebenfalls durch Aufbruchstimmung und Massenpresse gekennzeichnet war, genau das gleiche gesehen: Erfolg hat und in den ,Kultur'-Betrieb aufgenommen wird nur, wer sich der journalistischen Öffentlichkeit genehm verhält, wer ihre Auswahlkriterien anerkennt, wer sich mit anderen ,Roman-, Tragödien-, Lied- und Historienfabrikanten' in öffentlichen Rundlobegesellschaften zusammenschließt, nicht zu vergessen die pathetische ,Anrede an das deutsche Volk' und das raffinierte Ausnutzen der Unterströmungen des Zeitgeistes: „Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen eines Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen

38

39

Kepplinger, Hans Mathias: Realkultur und Medienkultur. Literarische Karrieren in der Bundesrepublik. Freiburg/München: Karl Alber 1975, S . 8 7 . Ebd., S. 131.

Der Mensch im .Zeitalter der öffentlichen Meinungen'

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Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilirend nachzugehen." 40 Es ändert nichts an der prinzipiellen Vergleichbarkeit beider Situationen, daß die von Nietzsche skizzierte ,Pseudo-Kultur' sich aus einem gewonnenen Krieg entwickelt und die Medienkultur des ,Spiegel' und der ,Gruppe 47' ganz wesentlich von einem verlorenen Krieg und einer vorangegangenen Diktatur her verstanden werden muß: zwar sind die Vorzeichen umgekehrt, aber die folgenden Kausalitäten unterscheiden sich kaum. Wenn zu Zeiten Nietzsches Jubel und nationaler Größenwahn bestimmende Integrationsfaktoren der ,Pseudo-Kultur' waren, so fußt die deutsche Medienkultur der Jetztzeit zum großen Teil auf einer pessimistischen Grundgestimmtheit und einer unbedingten Verdächtigung alles dessen, was als ,deutsch' angesehen werden kann. Ging dort der Primat der Ästhetik unter dem Lärm des Hurrapatriotismus verloren und war man als Schriftsteller schon hinreichend ausgewiesen, wenn man nur einstimmte in den „Irrtum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe" 41 , so wird hier das Bestehen auf ästhetischen Kriterien oftmals von einem gleichermaßen stereotypen wie wirkungsvollen Anklage- und Entrüstungsritual verdrängt - womit für beide Epochen geschlossen werden kann: „Engagement und Entschiedenheit gelten als allgemein anerkannte soziale Legitimation und zählen unter Umständen durchaus mehr als differenzierte Kenntnisse." 42 Nietzsche urteilt angesichts der gründerzeitlichen Pseudo-Kultur: „In Deutschland ehrt man das Wollen mehr als das Können: es ist die rechte Gegend für die Unvollkommenen und Prätensiösen." 43 Und die Literatenemphase der Gründerzeit umfassend, formuliert er ironisch: „Kecklich wagte eine ganze Reihe von Klassikern sich ans Licht: die Zeitschriften und europäischen Zeitungen trugen ihnen das Krönungsdiadem voran und das Ausland geräth bei der immer erneuten Versicherung, daß wir eine große Kultur und große Classiker besäßen, in staunende Verwirrung." 44 Im Ganzen kommt es Nietzsche darauf an, eine gefährliche Entwicklung offenzulegen und damit womöglich ihre Folgen abzuwenden: Er sieht, daß die Öffentliche Meinung zur Meß- und Regelinstanz der bürgerlichen Gesellschaft geworden ist; er sieht aber auch, daß ihre wichtigsten Anzeigeinstrumente Presse und Journalismus im weitesten Sinne — nicht der Aufgabe gewachsen sind, die ihnen im Interesse der Uberlebensfähigkeit und des Fortschritts der 40 41 42 43

44

Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße I, a . a . O . , § 1 , S. 155. Ebd. Kepplinger, a . a . O . , S . 6 1 . Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, November 1882 - Februar 1883. 4 [54] in: K G W VIII 1, S. 127. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1873. 26 [16] in: K G W III 4, S. 185.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Kultur zukommt: weder sind ihre Funktionsträger ausreichend qualifiziert, noch gelingt es den Subsystemen, die wirklich dauerhaften, auf lange Sicht sich durchsetzenden Strömungen zu erfassen und verzerrungsfrei wiederzugeben. Die von ihnen ermittelten Meßwerte entsprechen insgesamt nicht der Realität, sondern liefern das Bild einer Pseudo-Kultur, das nun wiederum in seiner Künstlichkeit das umfassende Ganze zu falschen Reaktionen führen und damit am Ende entweder den Stillstand oder die Selbstvernichtung bringen muß. Eine sichere Kulturperspektive fehle allen, die mit dem Pressewesen verbunden seien, meint Nietzsche mit guten Gründen und als einer derjenigen, die im toten Winkel der herrschenden Blickrichtung ihr Dasein fristen.45 Er hat den Verdacht, daß alles, was man im Rampenlicht beklatscht, nicht von bleibendem Wert sein kann, daß es vom wesentlichen ablenkt und daß der besinnungslose Jubel der Zeitgemäßen nur das erste Wetterleuchten eines kommenden Unheils darstellt; die Genugtuung, seine Warnungen vor der überhitzten Pseudokultur des jungen Reiches im zwanzigsten Jahrhundert geschichtlich gerechtfertigt zu sehen, bleibt ihm erspart. -

2.3.

Zwischenbilanz

Historische, soziologische und thematische Universalität der Öffentlichen Meinung Trotz aller offensichtlichen Polemik, mit der Nietzsche seine Unzeitgemäßen Betrachtungen' anstellt, und trotz der radikal wertenden Stellung, die er gegen die ,Kultur der Jetztzeit' einnimmt, gebraucht er die Schlüsselbegriffe seiner Kritik im wesentlichen logisch und konsistent: ,Öffentliche Meinung' fungiert hier keineswegs nur als da und dort eingestreute Leerformel, mit der etwa auf restaurative Leserkreise spekuliert werden soll; der Ausdruck hat durchaus analytische Bedeutung und kann nicht leichthin unter die Rubrik des rhetorischen Beiwerks abgeschoben werden. Versucht man nun, dessen begriffliches Skelett getrennt vom Organismus der zeitbezogenen Wertung zu betrachten, dann ergeben sich für Nietzsches Vorstellung von der Öffentlichen Meinung drei Grundmerkmale. Erstens: das Phänomen der Öffentlichen Meinung ist historisch universell. Nietzsche erkennt in allen Zeiten und Völkern, soweit sie in seinem Gesichtskreis liegen, ein sozial bewirktes und sozial wirksames Ganzes von geäußerten Einstellungen, das als Öffentliche Meinung verstanden werden kann oder 45

Vgl. ders.: Nachgelassene Fragmente, September-November 1879. 47 [4] in: KGW IV 3, S. 476.

Zwischenbilanz

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ausdrücklich so von ihm bezeichnet wird. Im alten Griechenland bildet die alles durchherrschende ,Volksseele' das Fundament der Kulturentwicklung; sie bringt sowohl den schaffenden einzelnen hervor als auch dessen natürliches Widerlager, die wertende ,Volksgunst': in der andauernden Spannung zwischen Individuum und Volksgunst entscheidet sich, was als öffentliche Sprache, öffentliche Kunst, öffentliche Philosophie und öffentliche Politik Bestand haben kann. Auch das Römische Reich beruht auf Öffentlicher Meinung: im achten Abschnitt der Betrachtung über Schopenhauer verweist Nietzsche auf die zunehmende ,Knechtschaft der öffentlichen Meinung' in der untergehenden Republik, und die Uberwindung des Imperium Romanum im Geiste des Christentums stellt er sich später als Umwertungsprozeß vor, der bewußt auf die Vereinnahmung der Öffentlichen Meinung angelegt war. Der konstanten Wirklichkeit der Öffentlichen Meinung entspricht jedoch keine konstante Wirksamkeit: Nietzsche sieht ihre Macht durch die Epochen und Jahrhunderte hindurch zu- oder abnehmen, je nach der Festigkeit der geistigen und sozialen Rahmenbedingungen, in denen sie sich ausformen muß. In Krisen- und Auflösungszeitaltern nimmt die Tyrannei der Öffentlichen Meinung so zu, wie das Vertrauen auf hergebrachte, allgemein geglaubte Sinngebungen der Welt, des Lebens, des Menschen und seiner Institutionen abnimmt: die ,untergehende römische Republik' war aus der Sicht Nietzsches eine solche Geschichtsphase, und ähnlich verhält es sich mit der aufgeklärten, zivilisierten und technisierten Neuzeit. Indem er über das ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen' schreibt, bestreitet er nicht die historische Universalität des Phänomens, sondern er betont dessen zyklischen Charakter und dessen tiefgehenden Wandel unter der völlig neuen und noch völlig unberechenbaren Herrschaft einer medienabhängigen Makro-Öffentlichkeit. Öffentliche Meinung ist das Raster, in dem das Bild jeder Kultur sichtbar wird; hier und jetzt aber ist das Raster ohne erkennbares Bild, im Sturm der Informationen und Meinungen wird jeder Ansatz eines kulturbegründenden Gedankens weggefegt, hat das Volk und der einzelne keine ,Seele' mehr, ist die Öffentliche Meinung ,ohne Sinn, ohne Substanz, ohne Ziel'. Zur Erkenntnis der historischen Universalität der Öffentlichen Meinung fügt sich ein zweites Hauptmerkmal, durch das der Gebrauch des Begriffs in allen Schriften Nietzsches charakterisiert ist: die Öffentliche Meinung ist soziologisch universell. Unter der Öffentlichen Meinung versteht er nicht etwa Form oder Inhalt der Kommunikation bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, sondern ein grundsätzlich offenes System: Jeder hat Zutritt. Im neuzeitlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit geht zwar die Initiative zur Thematisierung und zur Meinungsbildung immer mehr auf eine technologisch und ideologisch besonders gerüstete Vermittlerkaste über, die sich wiederum bevorzugt an einen besonderen Rezipiententypus, den zeitungslesenden und bildungsbeflis-

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

senen Bürger wendet; aber einerseits steht Nietzsche die Tendenz zur Verbürgerlichung der Gesellschaft - das heißt: zur Auflösung aller Klassen- und Standesunterschiede in diesem einen Typus - klar vor Augen, und andererseits trennt er säuberlich die Analyse der Ursachen zu einer gegebenen öffentlichen Meinung von der Betrachtung ihrer letztendlichen Wirkungsbreite: Ganz gleich, wer welche Rolle bei der Erzeugung öffentlicher Meinungen spielt wenn hier nicht alle gleichermaßen beteiligt sind, so sind am Ende doch alle gleichermaßen betroffen. Wie eine Epidemie überzieht die Öffentliche Meinung das Land: wer mit ihr in Berührung kommt und keine Abwehrkräfte in sich trägt, wird „siech und süchtig" von ihr, wie es später in ,Also sprach Zarathustra' heißt.' Die Öffentliche Meinung ruht im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen' niemals in sich; sie ist immer in Bewegung, immer bereit, ihre Kreise weiter zu ziehen und dem einzelnen ein Ja oder Nein abzupressen, indem sie sich an seine innersten sozialpsychischen Reflexe wendet. Nietzsche bleibt völlig unberührt von den rationalistischen und liberalistischen Theorien der Öffentlichen Meinung seiner Zeit; hätte er sie gekannt, so hätte er sie und den in ihnen dominierenden Normativismus sicher als besonders handgreifliche Symptome philiströser Selbsttäuschung bewertet. Ihm geht es einzig um die Funktionswirklichkeit der Öffentlichen Meinung: sie isoliert, sie konformiert, sie nivelliert; so, wie sie sich gegenwärtig im Deutschen Reich präsentiert, wird sie zur Verhinderung kulturellen Fortschritts, zur Zerstörung jeglicher Individualität und zur Verschleierung der Tatsachen über Deutschland und die Deutschen mißbraucht. Wie seine Beschreibung des Öffentlichen in der Antike zeigt, sieht Nietzsche sehr wohl, daß gesellschaftliche Integration am zweckmäßigsten über Öffentlichkeit und Öffentliche Meinung vollzogen wird; er bestreitet aber, daß die Integrationsmethoden der Jetztzeit' die einzig denkbaren und auf lange Sicht auch die einzig funktionalen seien. Dies wiederum führt ihn jedoch nicht dazu, das Faktische zugunsten irgendeiner Wünschbarkeit zu ignorieren. Als drittes Merkmal des Begriffsgebrauchs Nietzsches kann schließlich festgelegten werden: die Öffentliche Meinung ist thematisch universell. Theoretisch kann alles Gegenstand öffentlichen Meinens werden, sofern es genug gesellschaftliche Aufmerksamkeit, das heißt: genug Öffentlichkeit findet. Analysiert man Nietzsches Gebrauch des Begriffs der Öffentlichen Meinung eingehender, so fallen viele Stellen in seinen Schriften auf, an denen er gar kein bestimmtes Meinen im Sinne einer sozial verbindlichen Äußerung zu einem greifbaren, ,öffentlichen' Gegenstand im Auge hat. In seinem Vortrag über .Horner und die klassische Philologie' beklagt er sich beispielsweise über die ' Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. - Vom Vorübergehen, in: K G W VI 1, S.219.

Zwischenbilanz

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Anfeindungen, denen der Philologe ausgesetzt sei, weil ein „unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung" den Gegnern seiner Wissenschaft weitgehende Agitationsfreiheit gebe. 2 Hier sieht er die Öffentliche Meinung insgesamt als Rahmen, in dem durchaus nicht Einstimmigkeit herrschen muß, sondern auch Unschlüssigkeit und Halbheit - also: tendenzmäßige Vielfalt - möglich ist. Dies wird im selben Text noch einmal in den Worten greifbar: „Ueber die klassische Philologie giebt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung" 3 - womit gesagt sein soll: die öffentliche Meinung über das Fach ist zwischen Extremen breit gestreut, sie ist ohne gerade Stoßrichtung und kein handlungsfähiger Wille, so daß „die Schätzung der Philologie in der öffentlichen Meinung sehr abhängig ist von der Wucht der philologischen Persönlichkeiten." 4 In seiner AntiStraußiade bemerkt Nietzsche, „dass das Straussische Bekenntnissbuch bei der öffentlichen Meinung gesiegt habe und als Sieger willkommen geheissen sei" 5 , und Strauss wurde „in der öffentlichen Meinung [ . . . ] berühmt" 6 , woraus zurückgeschlossen werden muß, daß die Öffentliche Meinung schon unabhängig von der Schrift des David Strauß existiert hat und dieses Buch erst irgendwie in ihren Wirkungsbereich hineingeraten ist. ,Öffentliche Meinung' - grammatisch Singular - steht hier offenbar für Pluralismus, Vielfalt der Möglichkeiten, ja Unentschiedenheit und Halbheit; und obwohl der Ausdruck dem üblichen Sinngehalt des Meinens zufolge eigentlich thematisch gebundene Tendenz bezeichnen müßte, steht er hier für Statik, - überspitzt gesagt: für leere F o r m ; die Öffentliche Meinung ist als Institution einfach vorhanden und zunächst unabhängig von übereinstimmenden Äußerungen zu bestimmten Themen. Das deutet auf eine Auffassung des Phänomens hin, wie Niklas Luhmann sie entwickelt hat: Nietzsche versteht in den angeführten Gedankengängen ,Öffentliche Meinung* nicht als Aussage, sondern als Form, als Rahmen, als Brennraum des sozialen Systems, in den laufend Komplexität hineinreduziert wird und dessen Funktion in der Auswahl, im Verhandeln und schließlich im Abfertigen von Themen besteht, die allgemein als wichtig empfunden oder vom Mediensystem als wichtig empfohlen werden. In der Öffentlichen Meinung strukturiert und verkörpert sich die öffentliche Kommunikation einer Gesellschaft. Die Gegenstände dieser öffentlichen Kommunikation sind prinzipiell beliebig, und entsprechend vielfältig sind auch die an ihnen gebildeten öffentlichen Meinungen, die insgesamt wiederum die Struktur der Öffentlichen 2 5 4 5 6

Ders.: Homer und die klassische Philologie, in: K G W II 1, S. 250. Ebd., S. 249. Ebd., S. 250. Ders.: Unzeitgemäße I, § 8 , in: K G W III 1, S.202. Ebd., §10, S.215.

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Meinung ausmachen. Zweifellos sieht Nietzsche den analytischen Unterschied zwischen der Öffentlichen Meinung (großgeschrieben, im Sinne einer Gesamtstruktur) und der öffentlichen Meinung (kleingeschrieben, im Sinne eines wertgeladenen Strukturelements der gesamten Öffentlichen Meinung), wie Tönnies und Lippmann ihn später unabhängig voneinander für die Forschung formuliert haben. 7 Er macht diesen Unterschied jedoch nicht orthographisch deutlich, sondern verwendet einschränkende Attribute, um einzelne öffentliche Meinungen aus der Öffentlichen Meinung herauszuheben: da ist es die „gelehrte Öffentlichkeit" 8 , die „litterarisch-künstlerische Öffentlichkeit" 9 , die „plebejische Öffentlichkeit der sogenannten ,Kulturinteressen'" 1 0 oder auch die „aesthetische Öffentlichkeit" 1 1 , die sich für ihre jeweiligen Objekte ihre „ästhetische öffentliche Meinung" schafft. 12 Nietzsche versteht unter der Öffentlichen Meinung im Ganzen sehr weitläufig die ,Bildung' des philiströsen Reichsbürgers, also alles, was ,man' sozial verbindlich wissen, meinen, äußern muß, einschließlich aller Signale für Meinungen, wie sie beispielsweise in der Mode oder in den herrschenden Geschmacks- und Verhaltenskonventionen zum Ausdruck kommen. Und doch ist diese offensichtliche thematische Universalität begrenzt: sowohl in der Wahl ihrer Gegenstände als auch in dej; Entwicklung ihrer Wertungen kommt die Öffentliche Meinung nicht über die Vorgaben des Zeitgeistes hinaus.

Öffentliche Meinung und ,Zeitgeist' Der Begriff des Zeitgeistes findet sich in fast allen Schriften Nietzsches bis hin zu den nachgelassenen Aufzeichnungen der späten achtziger Jahre. Seine Pläne für den ,Willen zur Macht' aus dem Frühjahr 1888 enthalten sogar die Idee zu einem eigenen Kapitel: auf eine Vorrede - ,Wir Hyperboreer' - und zwei einleitende Abhandlungen - ,Der Wille zur Macht, Erster Theil' und ,'Theorie der decadence' - sollte eine ,Kritik des Zeitgeistes' folgen. 13 Seine ersten, sehr aufschlußreichen Gedanken zum Wesen des Zeitgeistes aber hat er Siehe Tönnies, Ferdinand: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin: Springer 1922, S. 132; Lippmann, Walter: Public Opinion. New Y o r k : The Macmillan Co. 1922, S. 18 (dt.: Die öffentliche Meinung. München: Rütten und Loenig 1964, S.28). ! Nietzsche, Friedrich: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. - 5. Vortrag, in: K G W III 2, S. 2 3 8 f . 9 Ebd., 2. Vortrag, S.173. 10 Ebd., 3. Vortrag, S. 198. " Ders.: Die Geburt der Tragödie. - Vorwort, in: K G W III 1, S. 19. 12 Ders.: Unzeitgemäße I, a . a . O . , § 5 , S. 183. " Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888. 14 [77] in: K G W VIII 3, S.48. 7

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Zwischenbilanz

schon sechzehn J a h r e vorher in dem T r a k t a t über die

Bildungsanstalten

niedergelegt: „Wie stark empfinde ich die G e f a h r des einsamen W a n d e r n s ! U n d wenn ich [ . . . ] aus dem G e w ü h l und der direkten Berührung mit dem Zeitgeiste mich durch F l u c h t zu retten wähnte, so war selbst diese F l u c h t eine Täuschung. F o r t w ä h r e n d , aus unzähligen A d e r n , mit jedem A t h e m z u g e quillt jene A t h m o s p h ä r e in uns hinein, und keine Einsamkeit ist einsam und ferne genug, wo sie uns nicht, mit ihren N e b e l n und W o l k e n , zu erreichen w ü ß t e . " H N i e t z s c h e gesteht hier dem Zeitgeist eine ganz außergewöhnliche Allgegenwart z u ; und er ist nicht nur überall, sondern er ist schlechthin auch unvermeidlich, er ist , A t h m o s p h ä r e ' und damit Lebensbedingung und man kann sich ihm unmöglich ganz entziehen. Ergänzend kann hier A p h o r i s m u s 382 aus dem zweiten Band M e n s c h l i ches,

Allzumenschliches'

herangezogen

werden:

„Letzte

Lehre

der

H i s t o r i e . - , A c h , dass ich damals gelebt hätte!' - das ist die R e d e thörichter und spielerischer M e n s c h e n . Vielmehr wird man, bei jedem Stück G e s c h i c h t e , das man e r n s t l i c h

betrachtet

hat, und sei es das gelobtste

Land

der

Vergangenheit, zuletzt ausrufen: ,nur nicht dahin wieder z u r ü c k ! D e r Geist jener Zeit würde mit der Last von hundert A t h m o s p h ä r e n auf dich d r ü c k e n , des G u t e n und S c h ö n e n an ihr würdest du dich nicht erfreuen, ihr Schlimmes nicht verdauen k ö n n e n . - Zuverlässig wird die N a c h w e l t ebenso über unsere Zeit urtheilen: sie sei unausstehlich, das L e b e n in ihr unlebebar gewesen.

-

U n d doch hält es J e d e r in seiner Zeit aus? - J a und zwar desshalb, weil der Geist seiner Zeit nicht nur a u f ihm liegt, sondern auch i n ihm ist. D e r G e i s t der Zeit leistet sich selber Widerstand, trägt sich selber." 1 5 O b w o h l N i e t z s c h e seinen Zeitgeistbegriff nirgendwo ganz klar und deutlich u m r e i ß t " , erscheint nach diesen sicher maßgeblichen Sätzen ausgeschlossen, daß er in seinem D e n k e n s y n o n y m neben dem Begriff der Ö f f e n t l i c h e n Meinung steht und mit jenem beliebig ausgetauscht werden kann. N i e t z s c h e würde sich ad absurdum führen, wollte er behaupten, daß er auf der P l a t t f o r m der Ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g eine Kritik der Ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g zustande bringen k ö n n t e ; ganz deutlich aber sieht er sich als Kritiker - und auch als Kritiker der Ö f f e n t l i c h e n Meinung - nicht gänzlich gelöst v o m G e i s t seiner Zeit. Man kann demnach annehmen, daß er den Zeitgeist als das U m f a s s e n d e begreift, das s o w o h l die öffentlichen Meinungen als auch deren jeweilige Negationen hervorbringt. Alles D e n k e n , o b zeitgemäß oder , u n z e i t g e m ä ß ' , entspringt demselben Zeitgeist; N i e t z s c h e n i m m t dies an sich selber und seiner Philosophie wahr, als er den merkwürdigen Satz formuliert:

Ders.: Ueber die Zukunft..., a. a. O., 5. Vortrag, S. 223. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches. \ V \ , §382, in: K G W IV 3, S. 163. " Siehe z . B . Anmerkung 13 in Kap.2.1. und Anmerkung 28 in Kap. 2.2.2. 14

15

„Abgerechnet

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

nämlich, dass ich ein decadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz." 17 Was dabei zunächst als kontradiktorisch erscheint, muß sich im Blick auf seinen Zeitgeistbegriff als folgerichtig erweisen: nur auf einer grundlegenden Gemeinsamkeit, nur aus der Verbundenheit in ein und demselben, überhaupt erst Kommunikation ermöglichenden Geist der Zeit kann das Trennende sich zu voller Schärfe entwickeln. Zwei weitere Äußerungen aus späteren Jahren untermauern die Vermutung, daß Nietzsche zwischen dem Zeitgeist und der Öffentlichen Meinung eine Art Rangordnung erkennt. Im Aphorismus ,Mein Begriff von Genie' aus der ,Götzen-Dämmerung' heißt es: „Was liegt [ . . . ] an Umgebung, an Zeitalter, an ,Zeitgeist', an öffentlicher Meinung'!" 18 Nietzsche hätte sicher nicht den Stilbruch begangen, eine Reihung nichtsynonymisch zu beginnen ,Umgebung', ,Zeitalter' - und synonymisch zu beenden; zudem handelt es sich hier offenbar nicht um eine rhetorische Häufung, sondern um eine Deduktion: vom Allgemeinsten, der ,Umgebung' ausgehend, verengt sich die Perspektive im Zeitlichen bis hin zur Öffentlichen Meinung. Demnach wären Umgebung und Zeitalter die Grundlagen des Zeitgeistes, der Zeitgeist aber eine Grundlage der Öffentlichen Meinung und die Öffentliche Meinung schließlich das, was als Oberflächenerscheinung des Zeitgeistes sichtbar wird. Diese Deutung stützt auch ein Nachlaßfragment, mit dem Nietzsche sich darüber beklagt, daß die Moderne keinen Scharfblick für das Genie mehr habe, und zwar „als Folge des milieu, des Zeitgeistes."" Da hier eine Konjunktion fehlt, dürfen ,milieu' und ,Zeitgeist' als Synonyme gelten; ,milieu' aber bedeutete zu Zeiten Nietzsches keineswegs nur soziales Milieu etwa im Sinne der ,Milieutheorie', sondern Umwelt im weit umfassenderen Sinn, Atmosphäre schlechthin. Einer öffentlichen Meinung kann man beipflichten oder ihr entgegentreten, man kann sich ihr stellen oder sich ihr entziehen, eine „siegreich frohe Isolation von den öffentlichen Meinungen" ist immer noch Willenssache 20 den Zeitgeist aber, den alles durchdringenden und in jedem einzelnen sich selber tragenden Geist seiner Zeit, den hat man, ob man will oder nicht. Nietzsche begreift .Zeitgeist' offensichtlich als letztmögliche Kategorie allen Meinens, "wherein everything is generalized save Time itself." 21 Was er im Umkreis der ,Unzeitgemäßen' zuerst entdeckt und in seinen folgenden Werken immer wieder aufgreift, bildet den Kerngedanken der späteren Wissenssoziologie, und seine Vorstellung vom Geist der Zeit findet ihre Entsprechung in Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. - Warum ich so weise bin, §2, in: K G W VI 3, S. 264. Ders.: Götzen-Dämmerung. - Streifzüge eines Unzeitgemässen, §44, in: K G W VI 3, S. 139. " Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr-Sommer 1888. 16 [82] in: K G W VIII 3, S.310. 20 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Ende 1876 - Sommer 1877. 23 [170] in: K G W IV 2, S.562. 21 Brinkley, Robert C.: The Concept of Public Opinion in the Social Sciences, in: Social Forces, 6. Jhg. 1928, S. 389-396; hier: S. 396. 17 18

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Karl Mannheims Begriff der ,totalen Ideologie': „Man kann von der Ideologie eines Zeitalters oder einer historisch-sozial konkret bestimmten Gruppe einer Klasse etwa - in dem Sinne reden, daß man dabei die Eigenart und die Beschaffenheit der t o t a l e n B e w u ß t s e i n s s t r u k t u r dieses Zeitalters bzw. dieser Gruppen meint."22 Genau darauf will Nietzsche wohl hinaus, wenn er von der ausweglosen Befangenheit des Zeitgeistes schreibt, „der sich überall sucht und zu finden glaubt, und die Geschichte auf sein Maass herunterschraubt." 23 Nietzsches Zeitgeistkonzeption ist mit keinem tradierten Begriff aus der Theorie der Öffentlichen Meinung vergleichbar: Weder Ferdinand Tönnies' ,festgewordene öffentliche Meinungen', noch das ,Meinungsklima' der ,Schweigespirale' sind ähnlich weit gefaßt, und die bis heute in der wissenschaftlichen Literatur durchaus übliche Gleichsetzung von ,Zeitgeist' und ,Öffentlicher Meinung' sollte in Erwägung des Nietzsche'schen Entwurfs auf jeden Fall neu überdacht werden.24 Unter dem Blickwinkel der kritisch-rationalen Wissenschaftsphilosophie wird eine solche Revision allerdings mit dem Befund enden, daß ,Zeitgeist' im Sinne Nietzsches ein nicht-empirischer, nicht operationalisierbarer und damit für die praktische Forschung unbrauchbarer Begriff ist. Der Gehalt des Zeitgeistes kann in seiner durchdringenden, sich in jedem einzelnen selber tragenden und jeden Erkenntnisversuch zwangsläufig trübenden Allgegenwart nicht einwandfrei erfaßt werden: Die Einsicht in den Geist ihrer Zeit bleibt den Menschen verschlossen, da all ihre Mittel, diesen Geist dingfest zu machen, selber aus ihm gewachsen sind und der Ansatz zur gleich-zeitigen Analyse sich im klassischen Dilemma jeder immanenten Ideologiekritik totlaufen würde. Letztlich aber kann die Annahme eines ,Zeitgeistes' auch nicht gegen die Behauptung der thematischen Universalität der Öffentlichen Meinung ins Feld geführt werden. Zwar läßt sich unterstellen, daß jede Zeit ihren eigenen Horizont und damit nur einen begrenzten Fundus des Meinens hat; aber diese Endlichkeit ist nur theoretisch konstruierbar und fällt praktisch nicht ins Gewicht, weil sie der Zeit nach der Logik des Zeitgeistbegriffs nicht ins Bewußtsein treten kann - die Möglichkeiten des Meinens und der Öffentlichen Meinung erscheinen ihr immer als total. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. 6. Aufl., Frankfurt/M.: Gerhard Schuhe-Bulmke 1978, S. 54. " Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1873. 29 [51] in: K G W III 4, S. 254f. 24 Vgl. z.B. Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut. Frankfurt a.M./Wien/Berlin: Ullstein 1982, Vorwort S.XII und S. 195 ff. Auch Ferdinand Tönnies verwendet ,Zeitgeist' in seiner Strukturtypologie der Öffentlichen Meinung synonym; vgl. dessen ,Kritik der öffentlichen Meinung'. Berlin: Springer 1922, S. 206. 11

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Die Öffentliche Meinung in Nietzsches Kulturkritik

Exkurs: Carl Ernst August von Gersdorff 25 Uberblickt man Nietzsches Kulturkritik als Ganzes, so zeigt sich, daß hinter aller Radikalität der Kritik und der Sprache eine terminologisch nachvollziehbare, sachlich angemessene, in Grundzügen funktionalistische Betrachtungsweise der Makro-Bereiche eines modernen Gesellschaftssystems verborgen liegt. Nietzsche analysiert das Phänomen der Öffentlichen Meinung in der neuzeitlichen Staatskultur, indem er es wechselnd aus der Perspektive individueller, sozialstruktureller und institutioneller Entwicklung untersucht. Seine Empirie der Kommunikatoren, der Medien, der Rezipienten, der sozialen Kontrolle, der Sozialisation, der ,Bildungsanstalten', der Bildung überhaupt, schließlich der Wissenschaft, vor allem aber der Aufweis der vielfachen Rollenverflechtungen, Funktionsüberkreuzungen, Dysfunktionalitäten - : dies alles ist dem sozialwissenschaftlichen Denken näher, als es zunächst scheinen mag. Mit den ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' liegt noch keine ,richtige' Philosophie, aber auch schon keine reine Zeitkritik und keine ,richtige' soziologische Gegenwartsanalyse mehr vor. Vielleicht kann ihr Schattendasein in der akademischen Nietzsche-Rezeption aus diesem Schwebezustand erklärt werden. Nietzsche verwendet den Begriff der Öffentlichen Meinung nirgendwo so häufig wie in diesen vier Abhandlungen; auch fällt auf, daß der Ausdruck in den veröffentlichten Texten öfter erscheint als in den vorbereitenden Aufzeichnungen. 26 Auf irgendeine Art muß ihm um 1872/73 die Bedeutung des Phänomens noch einmal besonders vor Augen getreten sein. Für einen entsprechenden Anstoß kommt wohl am ehesten sein Freund Carl von Gersdorff in Frage: Gersdorff war dem erkrankten Nietzsche besonders bei der Abfassung der ersten ,Unzeitgemäßen' eine wertvolle Hilfe, er hat für Nietzsche Gedankenfragmente notiert, Vorarbeiten geordnet, Reinschriften und Korrekturen besorgt. In Nietzsches engem, großenteils gelehrten und künstlerischen Freundeskreis nimmt der Landedelmann als pragmatischer und politischer Kopf eine Sonderstellung ein: „Durch Gersdorff stand Nietzsche mit der ,großen Welt' in Verbindung, und es besteht wohl kein Zweifel, daß ihm derselbe vieles von d e m Material zur Verfügung stellte, mit welchem wir den einsamen und stillen Gelehrten zu unserer Überraschung so bald ausgerüstet sehen. Was einige seiner geistigen Ahnen [...] unmittelbar 25

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Siehe zu diesem Abschnitt auch den Aufsatz des Verfassers: Friedrich Nietzsche über die Öffentliche Meinung. Grundzüge seines Denkens in einer Schrift Carl Ernst August von Gersdorffs, in: Nietzsche-Studien, 16.Jhg. 1987, S. 197-208. Vgl. ζ. B. folgende Nachlaßfragmente Nietzsches mit ihrer Endfassung: 29 [10] in: K G W III 4, S. 234 und 29 [15] ebd., S. 239 mit Unzeitgemäße III, §6, in: K G W III 1, S. 391; ebenso 29 [41] in K G W III 4, S.251, mit Unzeitgemäße II, a . a . O . , §9, S.316.

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erlebten, trat an Nietzsche vielfach durch das Gersdorff'sche Medium heran, woraus dann sein lucider Geist, sein Psychologenverstand jene welthaltigen Aphorismen komponierte." 27 Die Freundschaft mit Gersdorff gibt Nietzsche nicht nur wertvolle indirekte Impulse; er übernimmt auch einzelne Formulierungen aus dessen Briefen28, und anders als in seiner sonstigen Korrespondenz kommt hier auch häufiger die Öffentliche Meinung zur Sprache: Gersdorff berichtet ihm beispielsweise von der Lektüre des Werks ,Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung' von Heinrich Wuttke 29 , er schreibt ihm auch, „daß Göthe die volle Wahrheit über die sogenannte öffentliche Meinung ausgesprochen hat in den Worten / Uebers Niederträchtige / Keiner sich beklage / denn es ist das Mächtige / was man dir auch sage"30, und die politischen Spannungen des Jahres 1866 kommentiert er abwägend: „Mein Vater glaubt nicht an den Ausbruch eines Kriegs, da seiner Meinung nach Kabinetskriege so ohne Weiteres nicht geführt werden können, wenn nicht die öffentliche Meinung' der streitenden Parteien von gegenseitiger Erbitterung erfüllt sei."31 Gersdorffs Vater, Carl Ernst August Freiherr von Gersdorff auf Ostrichen, lebenslängliches Mitglied des Preußischen Herrenhauses, Doktor der Philosophie, ein Mann von umfassender Bildung, kann sein Urteil auf eigene wissenschaftliche Studien stützen: er hatte 1846 eine längere Abhandlung veröffentlicht ,Ueber den Begriff und das Wesen der oeffentlichen Meinung'. Ob Nietzsche diesen Traktat gekannt hat, ist nicht mit letzter Sicherheit zu

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Schlechta, Karl (Hrsg.): Die Briefe des Freiherrn Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche. Weimar: Nietzsche-Archiv 1934, Einleitung S. VIII. Vgl. z.B. den Weg, den Gersdorffs Wendung „im lieben niederträchtigen Deutschland" genommen hat (Brief an Nietzsche in Basel, verm. 25. O k t o b e r 1872. Nr. 373 in: K G B II 4, S. 107): Nietzsche übertrug die W o r t e wohl sofort in sein Arbeitsheft - 19 [88] in: K G W III 4, S. 36 - und eröffnete mit ihnen schließlich die Schrift ,Das Verhältniss der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur' (in: K G W III 2, S.271). Carl von Gersdorff an Nietzsche in Basel, Brief v o m 10. Dezember 1875. N r . 729 in: K G B II 6/1, S.254. - Gersdorff bezieht sich hier wahrscheinlich auf die zweite erweiterte, 1875 erschienene Auflage des Buchs. Nietzsche äußerte sich zwar nur abfällig über den Leipziger Hochschullehrer Wuttke, den er als Student kennenlernte (,das Reichswiesel' nennt er ihn in einem Brief an Gersdorff v o m 20. Februar 1867, in: K G B I 2, S. 199), es deutet aber manches darauf hin, daß er dessen vieldiskutiertes W e r k über die Öffentliche Meinung bereits in der Erstausgabe von 1866 kannte und schätzte: Wuttkes Kritik der presse-erzeugten Pseudokultur und der .Gebildeten' erinnert z . T . sehr an Nietzsches ,Unzeitgemäße'; vgl. ,Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung'. 2. A u f l . , Leipzig: Joh. Wilh. Krüger 1875, bes. S. 186 f., 207, 213, 300 f. Carl von Gersdorff an Nietzsche in Basel, verm. Anfang März 1870. Nr. 82 in: K G B II 2, S. 164. Ders. an Nietzsche in Naumburg, Brief v o m 3 1 . März 1866. N r . 1 1 5 in: K G B I 3, S . 8 3 .

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klären: er befindet sich nicht in seiner nachgelassenen Bibliothek 32 und er erwähnt ihn weder in seinen Werken und Fragmenten noch in seinen Briefen. Es scheint allerdings nahezu ausgeschlossen, daß der junge Carl von Gersdorff seinen Freund in einer Zeit, da beide enger denn je zusammenarbeiten und Nietzsche sich mehr denn je mit dem Phänomen der Öffentlichen Meinung befaßt, nicht auf den Essay des eigenen Vaters aufmerksam gemacht hat. Wirft man schließlich einen Blick in den Aufsatz des älteren Gersdorff, so finden sich deutliche Anzeichen dafür, daß Nietzsche - ob durch eigenes Studium oder im Gespräch - aus dessen Gedankenvielfalt einigen Nutzen gezogen haben muß. Schon am Anfang seiner zweiundsiebzig Seiten umfassenden Abhandlung stellt Carl von Gersdorff klar, daß er in der Öffentlichen Meinung keine originär neuzeitliche Erscheinung menschlichen Zusammenlebens sieht, sondern eine historisch universelle Sozialinstitution: „Eine öffentliche Meinung, wie ich sie auffasse, muß es im geistigen Menschenleben immer geben, [ . . . ] sö lange Menschen ein geselliges Leben führen; [ . . . ] Sie kann also schon ihrem Begriffe nach weder fehlen, noch ausfallen, noch vernichtet werden, s i e i s t ü b e r a l l u n d i m m e r . " 3 3 Er gesteht zu, daß man sich hierin leicht täuschen könne; wenn man aber glaube, die Öffentliche Meinung sei überhaupt erst mit aufklärerischen Ideen in die Welt gekommen, übersehe man, daß tatsächlich nur eine Veränderung vorgegangen sei, denn „eine Eigenthümlichkeit hat die öffentliche Meinung der Jetztzeit doch vor denen aller früheren Zeiten voraus, und diese ist das B e w u ß t s e i n u m i h r e e i g e n e E x i s t e n z u n d u m i h r e e i g e n e Macht."34 Was aber ist dann ,Öffentliche Meinung'? „Man kann sagen, die öffentliche Meinung ist für alles, wofür sie nicht besonders angeregt ist, gewissermaassen l e e r e F o r m , und das so lange, bis die Aufmerksamkeit ihren inneren Sinn auf einen neuen Gegenstand gerichtet hat."35 Wie gezeigt, findet sich diese Auffassung auch hinter dem Sprachgebrauch Nietzsches: die Öffentliche Meinung ist immer da, sie ist zunächst nicht Gegenstand und Aussage, sondern Raum, in den die Sachen zur Verhandlung gestellt werden. Vgl. das Verzeichnis von Max Oehler: Nietzsches Bibliothek. Vierzehnte Jahresgabe der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs, in: Thierbach, Erhart (Hrsg.): Die Briefe Cosima Wagners an Friedrich Nietzsche. Weimar: Nietzsche-Archiv 1938. Die Bibliothek Nietzsches war allerdings zum Zeitpunkt dieser Bestandsaufnahme schon nicht mehr komplett; er könnte also durchaus die Gersdorff-Schrift besessen haben und man hat sie vielleicht nach seinem Zusammenbruch verschenkt oder an die Familie von Gersdorff zurückgegeben. " Gersdorff, Carl (Ernst August) v o n : Ueber den Begriff und das Wesen der oeffentlichen Meinung. Ein Versuch. Jena: Verlag von J. G. Schreiber (in Commission bei C h r . E. Kollmann) 1846, S . 1 0 . 34 Ebd., S. 31. 35 Ebd., S. 36.

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Auf die N ä h e Nietzsches und Luhmanns in diesem Punkte wurde hingewiesen; hier indessen ist die Vorläuferschaft zu Luhmanns Ansatz noch offenkundiger: „Es gibt [ . . . ] ein Gesetz innerer Erfahrung, vermöge dessen unser Geist in seinem Erkennen und Interesse von äußerer Anregung abhängig ist, so daß er zu einer Zeit nur d a s erkennt und d e m Werth gibt, worauf nach eriolgter Anregung die Aufmerksamkeit den inneren Sinn richtet. Auch dieses Gesetz macht sich für die öffentliche Meinung geltend." 36 Öffentliche Meinung bildet sich über Aufmerksamkeitsregeln: dies ist Luhmanns wie Gersdorffs Grundkonzeption. In ihr wird die Komplexität der Welt auf verhandelnswert erscheinende Themen reduziert, so daß gemeinschaftliche Aktion stattfinden kann. Gersdorff schreibt über den Reduktionsmechanismus: „So gleicht die öffentliche Meinung gewissermaassen einem Saiteninstrumente, das die ganze Welt der Töne in sich schließt; aber nur die berührten Claves schlagen an." 37 ,Die ganze Welt der Töne' - das heißt: die Öffentliche Meinung unterliegt keiner thematischen Eingrenzung, und man kann sie „am passendsten bezeichnen als: ,die in Sitten und Geschichte gegründete, im Conflikte des Lebens sich bildende, erhaltende und verwandelnde Gemeinsamkeit der Werthgebungen eines Volkes an die socialen Objekte seiner Gegenwart.' So ist das ganze sociale Leben Gegenstand öffentlicher Meinung." 3 8 Dieser thematischen Offenheit entspricht die soziologische Totalität: „Ferner steht es von der öffentlichen Meinung fest, daß sie das gemeinsame Eigenthum eines ganzen Volkes ist." 39 Gersdorff beschreibt, wie dieses Meinen seine allumfassende Bedeutung gewinnt, „sich wie eine galvanische Strömung durch den ganzen belebten Volkskörper hinzieht und von jeder seiner Schichten, je nachdem sie empfangs- und leitungsfähig, empfunden wird. Ist es das Pneuma eines dämonischen Elementes, mit dem geschwängert die sociale Athmosphäre uns umgibt? Wir athmen es alle ein, unmerklich allmählich ist es eingeströmt" 40 , und Nietzsche bedient sich eben dieses Bildes, um seine Vorstellung vom ,Zeitgeist' plastisch auszudrücken: „Fortwährend, aus unzähligen Adern, mit jedem Athemzuge quillt jene Athmosphäre in uns hinein" 41 . Die Themen der Öffentlichen Meinung werden nicht unter Wahrheits-, sondern unter Wertgesichtspunkten abgehandelt. Jede öffentliche Meinung bildet sich im Konflikt von Einzel- und Gruppeninteressen und wird dabei so verfremdet, daß sie und mit ihr die Gesamtstruktur der Öffentlichen Meinung < Ebd., Ebd., 38 Ebd., 39 Ebd., 40 Ebd., 41 Siehe 3

37

S. 16. S. 38. S. 12. S. 5. S. 1. Anmerkung 14 dieses Kapitels.

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zuletzt „nicht die Meinung Jedes, nicht die Meinung Aller, sondern [ . . . ] o b j e k t i v d i e M e i n u n g d e s G a n z e n ist." 4 2 Den Verlauf eines solchen Meinungsbildungsprozesses sieht Gersdorff kaum durch rationale Erwägungen bestimmt, sondern durch „psychisch-anthropologische Gründe". 43 Und darin liege eine große Gefahr: gebe es nämlich keine stillschweigende, unterbewußte Ubereinstimmung mehr in den Grundfragen des Zusammenlebens, fehle ein Konsens über das Warum, das Wie, das Wohin, so wirke die Öffentliche Meinung nicht mehr bindend, sondern auflösend. N u r wenn sie auf dem sicheren Fundament eines ,Gemeingeistes' ruhe, könne sie ihre Integrationsfunktion einwandfrei erfüllen. 44 In Nietzsches zweiter U n z e i t g e mäßer' findet sich dieser Gedanke wieder: W o ein Volk „seiner einheitlichen Innerlichkeit nicht mehr sicher ist" und wo „die Einheit der Volksempfindung verloren ging" 45 , dort könne bei allem öffentlichen Lärm und bei aller Steigerung des Konformitätsdrucks in Tagesfragen nicht mehr ernstlich auf Zukunft gehofft werden. Der Typus ,Öffentliche Meinung als Gemeingeist' stellt die weiteste Fassung des Begriffs in Gersdorffs Abhandlung dar. Er ähnelt wohl der Zeitgeist-Konzeption Nietzsches, ist aber doch nicht so ins Absolute gedacht, daß aus ihm der Gedanke der ,totalen Ideologie' sichtbar werden könnte: insofern gehört er eher in die Nähe dessen, was Nietzsche unter der kulturtragenden ,Volksseele' verstand und was später von Tönnies als ,festgewordene öffentliche Meinung' bezeichnet wurde. Gersdorff bleibt immer um empirisch-praktische Klarheit bemüht: die Vorstellung von einem ,Zeitgeist', der sowohl die Öffentliche Meinung als auch alle von ihr abweichenden Meinungen der Zeit in sich begreift und dessen Gesamtcharakter sich erst der Nachwelt enthüllen kann, hätte er vermutlich für fruchtlose Gedankenspielerei gehalten, oder jedenfalls für einen philosophischen Entwurf, der in dieser Form wissenschaftlich kaum in Betracht kommen kann. Ansonsten aber kennzeichnet eine sehr weitreichende Gemeinsamkeit die Auffassungen beider Autoren: Auf der Ebene der „öffentlichen Meinung des Tages" 46 betonen Gersdorff und Nietzsche übereinstimmend die realitätsorganisierende Macht der Presse, und wo Nietzsche einen Ausbreitungsprozeß öffentlicher Meinung schlagwortartig damit beschreibt, daß sie in „hundertfachem Echo" die Stimme eines einzelnen wiederhole und für sich verein-

Gersdorff, a. a. O., S. 12. Ebd., S . 8 . 44 Vgl. ebd., S. 1 7 ff. - W i e Nietzsche, so weist auch Gersdorff hier auf die Offentlichkeitskultur der Griechen hin (S.21). 45 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße II, a . a . O . , § 4 , S.273. 4 ' Gersdorff, a . a . O . , S . 4 2 . 42 4J

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nähme47, gebraucht Gersdorff die fast gleichlautende Formulierung: „Wahrhaft merkwürdig ist es endlich, wie die öffentliche Meinung unserer Tage das Wort, die That, die sie elektrisch trafen, erst in tausendfachem Echo hin und her zu schallen und dann in der Symbolik ihrer Bekenntnisse fest zu halten weiss."48 Auch in bezug auf die langwirkenden kulturellen Folgen, die sich aus der neuzeitlichen Strukturierung der Öffentlichen Meinung durch vermittelte und vervielfältigte Informationen ergeben, findet man in Gersdorffs Essay jene Bedenken wieder, die Nietzsche gegen alle Arten maßloser ,Historie' erhebt: „Da ist es denn beachtenswerth, wie im vielfältig erleichterten Völkeraustausche, dem Litteratur und periodische Presse, ihre Leitungsdrähte über die ganze Welt erstreckend, tägliche Nahrung bringen, ein vormals ungekannter kosmopolitischer Conflikt in den Lebensprozeß der öffentlichen Meinung eingetreten ist, der allerdings die Gesichtskreise der Meinenden erweitert, aber auch die Begründung der Meinungen auf die Länge verflachen kann." 49 Die Folgen der Reizüberflutung sieht er nicht als zwangsläufig verderblich an - im Unterschied zu Nietzsche, der beobachtet, wie immer neue Aufputschmittel „dem ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen" vorgesetzt werden: „Es scheint fast unmöglich, dass ein starker und voller Ton selbst durch das mächtigste Hineingreifen in die Saiten erzeugt werde: sofort verhallt er wieder, im nächsten Augenblicke bereits klingt er historisch zart verflüchtigt und kraftlos ab."50 Gersdorff enthält sich der Gegenwartskritik; aber auch er gesteht zu, daß die Erweiterung der Möglichkeiten öffentlichen Meinens durch ein weltumspannendes Nachrichtenwesen und die unausgesprochene Bürgerpflicht zur Information zerstörerisch wirken kann, wenn einer Kultur der ordnende, auswählende Instinkt abhanden gekommen ist, denn „so steht es wohl fest: lebhafte Athmung und Verbrennung hebt die Lebensthätigkeit des Körpers, den gesunden Körper führt sie zu Kraft und Stärke, den phthisischen dagegen im Fluge zum Tode." 51 Es entspricht ihrer heterogenen Zusammenset-

47 48 49 50

51

Siehe Anmerkung 26 in Kapitel 2.2.2. Gersdorff, a . a . O . , S . 3 9 . Ebd., S. 35. Nietzsche, Unzeitgemäße II, a. a. O., § 5, S. 275 f. - Bemerkenswert hier die metaphorischen Parallelen: ,Nahrung', .Gaumen', die Öffentliche Meinung als .Saiteninstrument'. Mit seiner radikalen Kritik der Massenkommunikation zieht Nietzsche den Schluß von der Ubersteigerung des Informationsangebots auf die Informationsverstopfung bei den Rezipienten und die folgende Lähmung des Gesamtsystems doch allzu schnell. Er bemerkt offenbar nicht, daß auch hier Selektionsmechanismen wirken, die eine totale, zur Ohnmacht führende Reizüberflutung des Individuums wie auch der Gesellschaft verhindern können; vgl. dazu die Diskussion von Ithiel de Sola Pool und Herbert Schiller: Perspectives on Communications Research, in: Journal of Communication, 31.Jhg. 1981 N r . 2 , S. 1 5 - 2 3 . Gersdorff, a.a.O., S . 3 0 .

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zung, „daß die öffentliche Meinung sich nährt, ohne viel zu prüfen, daß sie unmittelbar werthgebend in sich aufnimmt. Fliessen dann die Quellen nicht gesund [ . . . ] , so ist auch von dieser Seite eine gefährliche Erkrankung der öffentlichen Meinung und Unheil für die Gesellschaft zu befürchten." 5 2 Sie kann allerdings nicht nur durch eine Vergiftung ihrer Quellen gefährdet werden, sondern auch aus ihrer unberechenbaren Eigendynamik die Balance gesellschaftlicher Institutionen und damit ihre eigene Existenzgrundlage stören: „So zieht sie sich die Sprache und die Wissenschaft zu ihrem Dienste heran" 5 3 , ja allgemein „verlangt die öffentliche Meinung alles, was ihr an Nahrung und Erbauung gereicht wird, in dialektischer Form, sie will es durchaus für wahr halten können, daß alles, was ihr gefällt, die Probe wissenschaftlicher Digestion ausgehalten habe. J e mehr wir aber die Leistungen derer, die mit lauterer oder unlauterer Absicht in Wort und Schrift ihr Nahrung bieten und auf sie einwirken, in der Nähe betrachten, umso mehr leuchtet uns ein, daß sie nur um deshalb Erfolg haben, weil sie der öffentlichen Meinung des Tages [ . . . ] den verständlichsten und eindringlichsten Ausdruck zu geben wissen." 54 - Man vergleiche, was Nietzsche im achten Abschnitt seiner Strauß-Streitschrift über die Rolle des Gelehrten in der ,Philisterkultur' geschrieben hat. - 5 5 Weiterhin sei noch erwähnt, daß Gersdorff in seiner Charakteristik der Öffentlichen Meinung einen Grundgedanken der Historismuskritik Nietzsches vorweggenommen hat. Auch er führt aus, daß der zeitgemäße Glaube an einen allmächtigen ,Weltprozeß', in dem ,große Männer' keine Rolle spielen wiewohl in Grenzen vertretbar - schnell zu individueller Apathie und kulturellem Verfall führen kann: „Die Selbstüberschätzung der öffentlichen Meinung trägt den Stempel des Radikalismus auf sich. Eins der modernsten ihrer Stichworte ist der gegründete induktorische Satz, daß auf allen Gebieten menschlichen Schaffens forthin bedeutende Persönlichkeiten nicht mehr den Ausschlag geben werden, weil in der gleichmäßig erweckten und gleichmäßig cultivirten Gesellschaft es leicht keinen Saul mehr geben wird, der aus dem Volke herausragt; daß es vielmehr der Geist der Association sei, nachdem sich die Massen instinktmäßig fortbewegen. Wie viel Wahrheit liegt in diesem Satze [ . . . ] , und doch wie wenig braucht die Schraube richtigen Gesichtspunctes verdreht zu werden, um aus demselben Satze alles, was historisch, rein

52 55 i4 5S

Ebd., Ebd., Ebd., Siehe

S. 65. S. 39. S.41 f. Anmerkung 26 in Kapitel 2.2.2.

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vernünftig, oder natürlich [ . . . ] noch Imperatorisches vorhanden ist, [ . . . ] als ein nothwendiges Uebel anzusehen". 56 Carl Ernst August von Gersdorffs weit über seiner Zeit stehender und auch heute noch beeindruckender Versuch über die Öffentliche Meinung dürfte von Harwood Childs als "the most detailed analysis of the subject of public opinion during the first part of-the 19th century" annähernd richtig bewertet worden sein.57 Mit keiner einzigen seiner Hypothesen ist er in die Irre gegangen: was die empirische Sozialforschung an sozialpsychologischen und systemfunktionalen Zusammenhängen im Bereich der Öffentlichen Meinung zutage fördert, findet man hier bereits .induktorisch' erschlossen. Selbst die wichtige Rolle der Stereotypen im Prozeß der Öffentlichen Meinung hat Gersdorff schon gesehen, obwohl sie eigentlich erst mit der Ausbreitung der Massenpresse klar erkennbar wurde: „ D a bilden sich Stichworte, die mehr als die Kraft der Ueberzeugung haben, denn die fehl getroffene Wahrheit hat an solcher Stelle, will sie ihren Platz wissenschaftlich wieder einnehmen, schweren Kampf, es bilden sich Abstraktionen im öffentlichen Urtheile, die ganzen Gebieten verwandter Schätzungen fürder handhabliche Typen bleiben." 58 Ebenso vermutete er, daß ein guter Teil der Macht öffentlicher Meinungen auf dem furchtsamen Schweigen vieler Menschen beruht, und wenn er hier auch nicht weiterdachte, so gab er doch nachfolgenden Forschern den Rat, „schweigendes Enthalten jeder Werthgebung auf seinen Grund zu prüfen." 5 9 Allerdings scheint Gersdorffs Schrift bald nach ihrem Erscheinen in Vergessenheit geraten zu sein, denn bis zu ihrer Wiederentdeckung durch Harwood Childs, der sie wohl während eines Deutschlandaufenthalts in den dreißiger Jahren kennenlernte und erst 1965 in seinem Grundlagenwerk zur Öffentlichen Meinung auf sie verwies, wird sie in der gesamten Fachliteratur nicht erwähnt oder gar zitiert; selbst Ferdinand Tönnies und Wilhelm Bauer, also dem maßgeblichen Theoretiker und dem maßgeblichen Historiker der Öffentlichen Meinung am Beginn des Jahrhunderts, war sie offensichtlich unbekannt. Erwägt man, daß sie in jeder Hinsicht zu den Meisterwerken der ,classical tradition' zu zählen ist, so mutet ihre völlige Wirkungslosigkeit sehr befremdend an. -

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Gersdorff, a. a. O., S. 67. - Siehe auch hier die entsprechenden Nietzsche-Stellen, zit. in Kapitel 2.2., Anm. 51 und 52. Childs, H a r w o o d : Public Opinion. Nature, Formation, and Role. P r i n c e t o n / T o r o n t o / N e w Y o r k / L o n d o n : D . van Nostrand Co. 1965, S . 2 8 . f . Gersdorff, a . a . O . , S.39. Ebd., S. 50.

3. Öffentliche Meinung als soziale Kontrolle 3.1. Vom Idealismus zum Positivismus U m die Mitte der siebziger Jahre vollzieht sich in Nietzsches Denken ein tiefer Wandel. Während er nach außen hin scheinbar unverdrossen als unzeitgemäßer Betrachter mit der philiströsen Öffentlichen Meinung die Klingen kreuzt, während er die Rückbesinnung der Menschen und die Erneuerung der Kultur beschwört, während er die Herrschaft des Genius als des eigentlichen ,Erlösers' fordert und seine Begabung darauf verwendet, Richard Wagner publizistisch den Weg aus dem Exil in der Schweiz zurück ins Reich zu bahnen, gewinnt er innerlich Schritt für Schritt Abstand: Abstand von seiner Professur, die ihm längst schon mehr Belastung als Berufung ist, Abstand vom Schatten Schopenhauers, den er mit seiner dritten ,Unzeitgemäßen' noch als seinen ,Erzieher' verehrt, Abstand von seiner selbstgewählten Rolle als Kritiker und Mahner der Zeit und Abstand auch von seiner blinden Wagnergläubigkeit. „Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! - " , schreibt Wagner ihm noch, als fast zwei Jahre nach der dritten die vierte Unzeitgemäße Betrachtung über ,Richard Wagner in Bayreuth' erscheint, „Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her? - " ' Aber Nietzsche hat zuviel gesehen und erfahren. Er entrichtet den fälligen Tribut an den Meister, indem er das Ereignis .Bayreuth' als Triumph feiert, tatsächlich jedoch wird er dort zum erschreckten und gepeinigten Augenzeugen einer Niederlage, die auch seine eigene ist: alles, was er seither zum Ruhme Wagners bekämpft hat, findet er im Bayreuther Publikum wieder, und befremdet muß er mit ansehen, wie der große Künstler sich bereitwillig seiner Popularität opfert. Nietzsche sieht seinen kulturellen Erweckungsidealismus zur Farce werden; er erkennt, daß hinter all den schönen Worten, großen Gebärden und erhabenen Eindrücken doch immer nur Menschliches, Allzumenschliches sein Spiel getrieben hat. U m dieses Menschliche, Allzumenschliche kreisen in den folgenden Jahren seine Gedanken. Verachtung und Verehrung, die Extreme seiner bisherigen Schriftstellerei, schwinden völlig aus seinen Werken: „Wenn ich einstmals das

' Richard Wagner an Nietzsche in Basel, Brief vom 13. Juli 1876. Nr. 797 in: K G B II 6/1, S. 362.

V o m Idealismus zum Positivismus

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Wort ,unzeitgemäß' auf meine Bücher geschrieben habe, wie viel Jugend, Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in diesem Worte aus!", meint er später. „Heute begreife ich, daß mit dieser Art Klage Begeisterung und Unzufriedenheit ich eben damit zu den Modernsten der Modernen gehörte." 2 Es gibt keinen vollkommenen Bruch in seinem Schaffen; Nietzsche befreit sich aber entschlossen von Perspektiven und Meinungen, die ihm im Laufe der Zeit fremd und verdächtig geworden sind. Er lernt andere Ideen und Menschen kennen: zusehends findet er Gefallen an den französischen Moralisten, und durch Paul Ree, einen Sozialphilosophen jüdischer Abstammung, wird er mit dem zeitgenössischen Positivismus vertraut. Ree, dem man im antisemitischen Bayreuth mit äußerstem Mißtrauen begegnet, ist der Autor eines anonym veröffentlichten Sentenzenbändchens mit dem Titel psychologische Beobachtungen', das Nietzsche sehr beeindruckt; (Menschliches, Allzumenschliches' wird seine Antwort und in mancher Hinsicht sein Seitenstück zu diesem gänzlich unpathetischen und entzaubernden Vademecum: „Ein Irrthum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt - es e r f r i e r t . . . Hier zum Beispiel erfriert ,das Genie'; eine E c k e weiter erfriert ,der Heilige'; unter einem dicken Eiszapfen erfriert ,der Held'; am Schluss erfriert ,der Glaube', die sogenannte ,Überzeugung', auch das ,Mitleiden' kühlt sich bedeutend ab - fast überall erfriert ,das Ding an sich'.. .".3 Nietzsche schreibt auch keine längeren Abhandlungen mehr und streift jenen Unterton der Gelehrsamkeit ab, der hie und da in den ,Unzeitgemäßen' auffällt: Stil und Sprache wirken distanziert, zuweilen locker, aber auch sehr dicht, straff gespannt, schneidend, wesentlich. Im Aphorismus findet er die ihm gemäße Ausdrucksform - nicht nur, weil er wegen seiner angegriffenen Gesundheit nur in kleinen Schritten denken und schreiben kann, sondern vor allem, weil er sein Philosophieren so ins Höchste, Redlichste, Aussagekräftigste zu steigern hofft: „Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der ,Ewigkeit'; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andere in einem Buche sagt, - was jeder Andere in einem Buche n i c h t sagt.. ,".4 Denken und wahrhaftig sein gelten ihm als kompliziertes, immer wieder einmaliges Zusammenspiel von Physis und Psyche, Rationalität und Emotionalität untrennbar ineinander auflösend und sich schließlich subjektiv und unsystematisch im Gedankenblitz entladend.

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Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 - Herbst 1886. 2 [201] in: K G W VIII 1, S. 163. Ders.: Ecce homo. - Menschliches, Allzumenschliches, § 1 , in: K G W VI 3, S . 3 2 1 . Ders.: Götzen-Dämmerung. - Streifzüge eines Unzeitgemässen, § 5 1 , in: K G W VI 3, S. 147.

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Öffentliche Meinung als soziale Kontrolle

Bei alledem will Nietzsche nicht mehr schwärmerischer Herold irgendeines Ideals sein, sondern nur noch nüchterner Diagnostiker am modernen Menschen und seiner Welt. Sein Hang zum Psychologisieren, der schon Teile der ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' kennzeichnet, entwickelt sich zum bewußten Forschungsprogramm: „ H i n t e r f r a g e n . - Bei Allem, was ein Mensch sichtbar werden läßt, kann man fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurtheil soll es erregen? Und dann noch: bis wie weit geht die Feinheit der Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?" 5 Nachdem er lange den Eindruck erweckt hatte, in Wagner alles gefunden zu haben, wird Nietzsche wieder zum Suchenden; mit prüfendem Blick macht er sich auf den Weg durch die neuzeitliche Zivilisation, Gesehenes und Vermutetes, Erstaunen und Skepsis in tausenden von Miniaturen festhaltend: „Ein vieldimensionaler Reichtum wird in diesen knappen Erörterungen zum großen Teil tendenzlos ausgesprochen", meint Jaspers über Nietzsches mittlere Schriften 6 ; es ist keine Philosophie, die sich hier entfaltet, sondern ein kritisches Abstecken des Terrains, auf dem sich eine Philosophie vorbereiten kann, und es wird in vielen dieser Aphorismen „das Unbehagen der modernen Zeit an sich selbst hörbar." 7 Nietzsche will wissen, was ist und wie es ist; den Weg zu sich selber sucht er in der Orientierung an Tatsachen: „Der Positivismus hatte [ . . . ] für Nietzsche die wichtige und fruchtbare Funktion einer Reinigung vom romantischen Rausch, er hatte für ihn die Bedeutung einer Ernüchterung, die immer dann notwendig wird, wenn die Realität dem wahnumflorten Blick des ekstatischen Visionärs zu entschwinden droht. Der Positivismus wird immer dann notwendig, wenn es sich von einem .Betrug' zu befreien gilt". 8 Indem Nietzsche sich dem Menschlich-Allzumenschlichen zuwendet, erscheinen ihm auch Öffentlichkeit und Öffentliche Meinung in anderem Licht. War es ihm bislang hauptsächlich darum gegangen, die Öffentliche Meinung als Gesamtstruktur herrschender Zeitansichten im Gesamtrahmen der Kulturentwicklung auf Nutzen und Schaden hin zu analysieren, so sieht er nunmehr - nachdem er das erkenntnisleitende Ideal einer ,echten deutschen Kultur' für das reine Wissenwollen um die Natur des modernen Menschen aufgegeben hat - bisher wenig erschlossene Seiten des Phänomens als wesent-

Ders.: Morgenröthe. - § 5 2 3 , in: K G W V 1, S. 305. ' Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. 4. A u f l . , Berlin: de G r u y t e r 1 9 8 1 , S . 4 2 f . 7 Schoeck, Helmut: Nietzsches Philosophie des Menschlich-Allzumenschlichen. Kritische Darstellung der Aphorismenwelt der mittleren Schaffenszeit als Versuch einer Neuorientierung des Gesamtbildes. Tübingen: J. C. B. M o h r (Paul Siebeck) 1948, S. 2. 8 Rohrmoser, G ü n t e r : Nietzsches Kritik der Moral, in: Nietzsche-Studien, 1 0 . / l l . J h g . 1981/82, S. 3 2 8 - 3 5 1 ; hier: S. 337. 5

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lieh an. Die vorher dominierende Makro-Perspektive zergliedert er in zahllose mikrosoziologische Problemstellungen, und das funktionale Abwägen der Öffentlichkeit, der Öffentlichen Meinung, der Gesellschaft, des einzelnen und der Kultur gegeneinander - also: das Experimentieren mit System-Abstraktionen - wird überlagert von der Lust an der psychologistischen Enthüllung des Konkreten. Das Phänomen der Öffentlichen Meinung hat gleichzeitig sowohl ,Gesellschafts'-als auch ,Gemeinschafts'-Aspekte. Man kann fragen: Welche Rolle spielt die Öffentliche Meinung als Strukturelement sozialer Großsysteme neben und zwischen anderen Elementen?, - und man kann fragen: Wie wirkt sie direkt auf den Menschen? Wie wirkt der Mensch auf sie zurück? Welche Bedeutung hat sie im alltäglichen Miteinander? Wann, wie und wo wird sie Ursprung, Inhalt oder Zweck sozialer Beziehungen? "Statics, in sociology as in mechanics, is a special case of dynamics. It is not structure but the forces producing structure that interest us." 9 Dieser Satz könnte epigrammatisch über großen Teilen des ,Menschlich-Allzumenschlichen', der ,Morgenröthe', der ,Fröhlichen Wissenschaft' und der noch folgenden Werke Nietzsches stehen, — wenngleich dann auch in noch weiter gesteigerter Eindringlichkeit und mit wiederum verschobenem Schwerpunkt. Es wäre freilich verfehlt, den unzeitgemäßen Betrachter Friedrich Nietzsche dagegen einfach als Statiker und Systematiker zu charakterisieren; aber erst in seiner mittleren Schaffensperiode entwickelt er die unterschwellige sozialpsychologische Grundtendenz willentlich, wissentlich zur Meisterschaft, erst hier - und nirgendwo sonst in solcher Breite - wird ihm der ,Mensch im Verkehr" 0 , der Mensch in der Öffentlichkeit, der Mensch als Öffentlichkeit mit all seinen entsprechenden Eigenschaften, Einstellungen und Meinungen zum sorgsam sezierten Studiengegenstand.

3.2. Die Faktoren

gesellschaftlicher

Integration

durch Öffentliche

Meinung

Sprache und Kommunikation „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste

' H o m a n s , G e o r g e C a s p a r : The H u m a n G r o u p . 5. Aufl., L o n d o n : Routledge & Kegan Paul 1965, S.282. 10 ,Der Mensch im Verkehr' ist das sechste Hauptstück von ,Menschliches, Allzumenschliches I' betitelt; man könnte damit jedoch einen großen Teil der mittleren Werke Nietzsches überschreiben.

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Minute der ,Weltgeschichte'".1 - Diese Worte eröffnen ,Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne', Nietzsches ersten zusammenhängenden Versuch, die Idee der Wahrheit, den Vorgang des Erkennens, das Wesen der Sprache und die Struktur der menschlichen Verständigung als verschiedene Seiten ein- und derselben Problematik zu begreifen. Der nachgelassene, von Nietzsche zu Lebzeiten zurückgehaltene Aufsatz entsteht während der Arbeit an den ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' im Sommer 1873; seine Substanz findet sich jedoch schon in Aufzeichnungen zu einer Rhetorik-Vorlesung, die Nietzsche im Wintersemester 1872/73 gehalten hat und überdauert im Kern alle Wandlungen des Denkens und des Denkers bis in den geistigen Zusammenbruch hinein.2 Wie ist es möglich, das Erkennen als eine Erfindung zu bezeichnen, die aus der Verlogenheit kommt? Nietzsche führt aus, daß der Mensch sich schon als Einzelwesen fortwährend belügen muß, wenn er sein bloßes Leben erhalten will: in jedem Augenblick seines Daseins sieht er um sich die unterschiedlichsten Dinge und Vorgänge; wollte er jedem einzelnen auf den Grund gehen und dergestalt seine Existenz auf ,Wahrheit' gründen, so wäre er unweigerlich zum Untergang verurteilt. Will er den Dingen als rein Erkennender entgegentreten, so geht dies auf Kosten seiner Handlungsfähigkeit; will er sich gegen die Dinge seine Handlungsfreiheit bewahren, so kann er dies nur auf Kosten tieferer Erkenntnis: er darf nicht absolut wissen wollen, und sein Wahr-nehmen kann nur ein mechanisch reduzierendes, vordergründiges Hinnehmen einiger Eindrücke von irgendeinem Gegenstand als die summarische .Wahrheit' über diesen Gegenstand sein. Die Menschen sind also „tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht .Formen', ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen."3 Nietzsche sieht jedes Wahrnehmen von vornherein als selektiv, als willkürliches Nehmen, Herausnehmen, Sich-Aneignen. Es erschöpft sich allerdings nicht im groben Ertasten der Dinge neben- und hintereinander, sondern vergleicht die eindringenden Sinnesreize unmittelbar mit ähnlichen, früher oder gleichzeitig erfahrenen, sucht sie ins Bewußtsein einzuordnen und wächst damit über jede Möglichkeit,interesselosen' Erkennens hinaus: wenn ein Reiz

1

Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: K G W III 2, S. 3 6 7 - 3 9 1 ; hier: S . 3 6 9 .

2

Vgl. ders.: Vorlesung über Rhetorik, in: Gesammelte Werke, Band V. München: MusarionVerlag 1922, S. 2 8 7 - 3 2 2 . - Siehe hierzu außerdem Man, Paul de: Nietzsche's T h e o r y of Rhetoric, in: Symposium. A Quarterly Journal in Modern Foreign Literature, 2 8 . J h g . 1974 N r . 1, S. 3 3 - 5 1 .

3

Nietzsche, Friedrich: Ueber W a h r h e i t . . . , a. a. Ο . , S. 370.

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auf den Intellekt trifft, wird er zwangsläufig nicht nur registriert, sondern zugleich bearbeitet, „indem wir die Hauptzüge verstärken, die Nebenzüge vergessen"4, er wird zwischen Erinnerung und Wertung zurechtgefälscht, erhält so seine ,wahre' Form und ist doch längst nur noch ein künstliches Erzeugnis des Wahrnehmenden, das mit einer ,objektiven', vom Subjekt unabhängigen ,Wahrheit' der Sache kaum noch zur Deckung gebracht werden kann: „Unsere ,Außenwelt' ist ein P h a n t a s i e - P r o d u k t , wobei frühere Phantasien als gewohnte eingeübte Thätigkeiten wieder zum Bau verwendet werden."5 Der Mensch glaubt, die Welt zu erkennen und tut dabei doch nichts anderes, als sich seine Welt zu erschaffen: „Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge." 6 Zur Psychologie der Wahrnehmung fügt Nietzsche die Soziologie der Wahrheit. Indem der Mensch sich seine eigene Metaphernwelt schafft, steht er nicht nur in einer Beziehung zur Natur, sondern auch in der Kommunikation mit anderen Individuen. Diese Kommunikation wiederum objektiviert die Metaphern: sie können nicht mehr ganz dem einzelnen als Abbilder seiner Erfahrung gehören, sondern verschleifen sich in der Mitteilung und werden zu konventionellen Bezeichnungen dessen, was ist. „Die erste Convention ist die über das, was als,seiend' gelten soll."7 Das zoon politikon entwickelt Begriffe. Die ,objektive' Welt wird also in der persönlichen Wahrnehmung subjektiviert und im gesellschaftlichen Austausch wieder objektiviert, ohne daß damit allerdings eine ursprüngliche Objektivität des ,Wesens' der Dinge wiederhergestellt würde. Die Abbildung der Welt im Bewußtsein findet ihren Ausdruck im Wort, aber „jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzung des Nicht-Gleichen." 8 Nach diesem Muster werden nicht nur Begriffe gebildet; auch die Regeln ihres Gebrauchs und ihrer ,richtigen' Verknüpfung entstehen durch allmähliches Ubereinkommen, ohne daß dabei eine Wirklichkeit leitende Funktion haben kann: „Wir theilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Canon der Gewissheit!" 9 Mit einem Satz: „Alle r h e t o r i s c h e n F i g u r e n (d.h. das Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1872 - Anfang 1873. 19 [67] in: K G W III 4, S.29. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr-Herbst 1881. 11 [13] in: K G W V 2, S.344. 6 Ders.: Morgenröthe. - §438, in: K G W V 1, S.272. 7 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1872 - Anfang 1873. 19 [229] in: KGW III 4, S. 79. 8 Ders.: Ueber Wahrheit..., a. a. O., S. 373 f. ' Ebd., S. 372. 4

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Wesen der Sprache) sind l o g i s c h e F e h l s c h l ü s s e . Damit fängt die Vernunft an!" 1 0 Dies ist eine wesentliche Einsicht Nietzsches: „Es giebt gar keine unrhetorische ,Natürlichkeit* der Sprache, an die man appelliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten. Die Kraft, welche Aristoteles Rhetorik nennt, an jedem Dinge das heraus zu finden und geltend zu machen, was wirkt und Eindruck macht, ist zugleich das Wesen der Sprache"." Jedes Streben nach Wissenshaltigkeit - wie redlich auch immer vermag sich weder im Vor- noch im Nachhinein von der immanenten Werthaltigkeit der Sprache zu befreien. Daher muß jede Forderung nach Sachlichkeit' als besonders perfide Rhetorik angesehen werden, denn sie behauptet fälschlich eine mögliche Angemessenheit der Wörter an die durch sie bezeichneten Sachen und die Existenz rhetorikfreier Zonen der Rationalität. D e r Mensch wird in die Sprache hineingeboren, in der Sprache denkt und erlebt er, und allein unter der angewöhnten Herrschaft ihrer Gesetze kann er ,Wahrheit' suchen: „Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen." 1 2 Nietzsche sieht Wahrheits- und Erkenntnisglaube als psychologisch und sozialhistorisch erklärbare Phänomene: wahrhaftig sein heißt, so auf der gesellschaftlich festgelegten Klaviatur der Begriffe zu improvisieren, daß nicht gegen die ebenfalls willkürliche, sozial verbindliche Harmonielehre - gegen die V e r nunft', die ,Logik' - verstoßen wird: „Wenn jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der ,Wahrheit' innerhalb des Vernunft-Bezirkes." 1 3 Nicht die Lüge bildet demzufolge den Gegensatz der Wahrheit - denn ,Wahrheit' ist lediglich eine kanonisierte F o r m der Lüge - , sondern die Eigenmächtigkeit im Denken und Reden, der Verstoß gegen den usuellen Gebrauch der Metaphern. Die Möglichkeit des Wahr-seins hängt vom Wesen der Sprache ab, das Wesen der Sprache entwickelt sich in koordinierender Kommunikation und

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Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1872 - Anfang 1873. 19 [215] in: K G W III 4, S. 74. Ders.: Rhetorik-Vorlesung, a . a . O . , S . 2 9 8 . Ders.: Ueber W a h r h e i t . . a . a . O . , S . 3 7 4 f . Ebd., S. 377.

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die Kommunikation wird schließlich selbst wieder von vorhandenen Sprachgesetzen vorstrukturiert. Daraus folgt, daß es keine echte Mitteilung durch Sprache geben kann. Während der Mensch glaubt, sich eines wertneutralen Mediums zu bedienen, unterwirft er sich tatsächlich dessen zahlreichen Zwängen; mit zunehmender Komplexität „ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verständigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe [...]: so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der C o n v e n t i o n hinzu, das heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefühls." 14 So wie sie entsteht und wie sie besteht, begreift Nietzsche die Sprache als eine Völker und Generationen auf sich verpflichtende, grundlegende öffentliche Meinung: Die Worte bilden nicht adäquat Dinge ab, sondern sind Meinungen über die Dinge; die Grammatik spiegelt nicht die Verhältnisse wider, sondern Meinungen über die Verhältnisse; etwas aussagen, etwas erkennen wollen, heißt: nicht anders können, als aus diesem System von Vorurteilen ein neues Vorurteil zu kombinieren' 5 ; und selbst, wo innerhalb derselben Sprachtradition scheinbar antipodische Gegensätze des Denkens aufeinanderprallen, herrscht letztlich doch eine unvermeidliche Generalrichtung: „Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik - ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen — von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen anderen Möglichkeiten der Welt-Auslegung der Weg wie abgesperrt erscheint." 16 Nietzsche formuliert damit einen frühen Prolog zur Soziolinguistik. Besonders an Benjamin Lee Whorfs Hypothesen zur Relativität der Sprache und des Denkens wird die Gemeinsamkeit der Ansätze klar erkennbar: Whorf meint, „daß die Formen des persönlichen Denkens durch unerbittliche Strukturgesetze beherrscht werden, die dem Denkenden nicht bewußt sind. Die 14

Ders.: Unzeitgemäße IV, §5, in: K G W IV 1, S.27. Nietzsche hat dies am prägnantesten für die ,Morgenröthe' formuliert: „ D i e z w e i R i c h t u n g e n . - Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf Nichts, als den Spiegel. - Diess ist die allgemeinste Geschichte der Erkenntniss." (Morgenröthe, a. a.O., §243, S.204f.). " Ders.: Jenseits von Gut und Böse. - §20, in: K G W VI 2, S.28f. 15

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Strukturschemata sind die unbewußten komplizierten Systematisierungen in seiner eigenen Sprache, die sich recht einfach durch unvoreingenommene Vergleiche und Gegenüberstellungen mit anderen Sprachen, insbesondere solchen einer anderen Sprachfamilie, zeigen lassen. Jede Sprache ist ein eigenes riesiges Struktursystem, in dem Formen und Kategorien kulturell vorbestimmt sind, aufgrund deren der einzelne sich nicht nur mitteilt, sondern auch die Natur aufgliedert, Phänomene und Zusammenhänge bemerkt oder übersieht, sein Nachdenken kanalisiert und das Gehäuse seines Bewußtseins baut."17 Für Nietzsche wie für Whorf - der sich auf systematische interkulturelle Sprachvergleiche stützt - und die Soziolinguistik kann die Sprache zwar ,medium' sein, sie ist aber immer zunächst abseits aller subjektiven Absichten objektive ,message'. Ihre Funktion erschöpft sich sicher nicht im bloßen Gebrauch als Tauschmittel - etwa analog zum Geld, wie Parsons zu erklären versucht hat.18 Sie bewerkstelligt auch und vor allem ,soziale Kontrolle', und zwar hier nicht in dem Sinne, daß sie der Gesellschaft oder Gesellschaftsteilen als Mittel zur Verhaltenssteuerung verfügbar ist, sondern vielmehr so, daß sie als autonome Integrationsmacht - wenn auch in weiten Grenzen - Denken und Meinen ihrer Benutzer vorbestimmt. Indem der Mensch das Wort ergreift, wird er auch vom Wort ergriffen: die Sprache durchzieht als das sozial Gemeinsame alle Schichten, Klassen, Gruppierungen und „ist damit in der Lage, über die spezifischen Subsysteme der Kontrolle hinaus eine totale soziale Kontrolle für das Gesamtsystem auszuüben."19 Diese von momentanen Zwecksetzungen losgelöste Funktion der Sprache wird auch von LaPiere in seiner Theorie der sozialen Kontrolle hervorgehoben: "Thus, whatever the society, each member in learning its base language acquires in the process the multitudinous meanings with which that particular language is fraught. [ . . . ] Theoretically at least, these symbolic concepts provide each member with working definitions of the universe at large and of his relations to that universe."20 Stellt man Nietzsches Gedanken zur Funktion der Sprache im sozialen Ganzen neben seine bisher erschlossenen Funktionsvorstellungen von der

" 7 Whorf, Benjamin Lee: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Reinbek: Rowohlt 1963, S. 52 f. - Siehe auch Hennigfeld, Jochem: Sprache als Weltansicht. Humboldt - Nietzsche - Whorf, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 30. Jhg. 1976, S. 435-451. 18 Parsons, Talcott: Language as a Groundwork of Culture, in: ders./Shils, Edward/ Naegele, Kaspar D . / P i t t s , Jesse R. (Hrsg.): Theories of Society: Foundations of Modern Sociological Theory. New York: The Free Press /Collier-Macmillan 1961, S. 971-976. " Hartig, Matthias / Kurz, Ursula: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 170. 20 La Piere, Richard T.: A Theory of Social Control. New York / London / Toronto: McGraw Hill 1954, S.257.

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Öffentlichen Meinung, so läßt sich sagen, daß aus seinem Blickwinkel beide Phänomene auf verschiedenen Ebenen ähnlich, ja einander unterstützend und ergänzend wirksam sind: Sprache und Öffentliche Meinung bestehen aus Konventionen über Wahrnehmungen ohne Rücksicht auf ,objektive Wahrheit', sie verkörpern jeweils ein Urteilsuniversum, das dem Individuum nur die Wahl zwischen Anpassung und Vereinsamung läßt, sie fungieren damit als Meßsysteme für Soziabilität. Wer die Öffentliche Meinung nicht achtet, gilt als asozial, als Quertreiber, als Feind, als böse; wer die Worte und die Regeln ihrer Verknüpfung nicht so gebraucht, wie die Konventionen des Erkennens und der Logik es erfordern, gilt als Lügner oder gerät als Idiot, als dumm ins Abseits.21 Die Sprache ist die Öffentliche Meinung unter der Öffentlichen Meinung: aus ihr wird das Material aller Meinungen gebrochen, die im gesellschaftlichen Konflikt stehen. Wie der Zeitgeist, so trägt auch sie die Merkmale einer ,totalen Ideologie'. Das Material der Meinungen sind die Begriffe. Sie entstehen aus jenem „Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde"22 - dem Trieb zur selektiven Wahrnehmung. Wahrnehmen gilt Nietzsche als gefühlsmäßige Reduktion der Komplexität des Wahrzunehmenden, deren Verlauf durch bereits vorhandene Bilder im Kopf des Wahrnehmenden beeinflußt wird: "Nietzsche obviously anticipated the social psychological notion of the s t e r e o t y p e which modern psychology implicitly treats as an unauthentic mode of orientation to others."23 Er macht aber keinen Unterschied zwischen persönlicher Umweltorientierung und öffentlicher in Gestalt der Sprache oder der Öffentlichen Meinung. „Jedes Wort ist ein Vorurtheil"24 - : damit soll gesagt sein, daß jedes Element der Kommunikation als kulturelles Stereotyp begriffen werden muß und nicht nur ganz bestimmte, ,unauthentische' und sozialpsychisch aktivierende Formeln so bezeichnet werden können. Für Nietzsche gibt es nie eine Authentizität von Wort und Wirklichkeit: die Wirklichkeit besteht gar nicht für sich und kann gar nicht mehr oder weniger zutreffend in der Sprache abgebildet werden; sie wird überhaupt erst mit der Sprache aus- und eingebildet. Wenn folglich von rhetorischer oder stereotypi-

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Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. - § 76, in: K G W V 2, S. 1 0 7 : „Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der W e l t des Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allgemeinverbindlichkeit eines Glaubens [ . . . ] U n d die grösste Arbeit der Menschen bisher w a r die, [ . . . ] sich ein G e s e t z d e r U e b e r e i n s t i m m u n g aufzulegen - gleichgültig, ob diese Dinge wahr oder falsch sind." Ders.: Ueber W a h r h e i t . . . , a . a . O . , S . 3 8 1 . Tiryakian, Edward Α . : Sociologism and Existencialism. T w o Perspectives on Individual and Society. Englewood Cliffs: Prentice Hall 1962, S. 102. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches II/2, § 5 5 , in: K G W IV 3, S . 2 1 5 .

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scher Sprache geredet wird, als ob auch eine wesentlich andere Sprache möglich wäre, dann liegt dem kein wissenschaftliches, sondern ein moralisches Urteil zugrunde. Nietzsche hat den Begriff des Stereotyps schon 1862 als siebzehnjähriger in Anlehnung an die Druckersprache verwendet. In einem Schulaufsatz schreibt er von der „Beschränktheit, der ganzen Menschheit irgend eine spezielle Form des Staates oder der Gesellschaft gleichsam mit Stereotypen aufdrucken zu wollen". 25 Insofern dürfte die bisherige Annahme zu revidieren sein, daß erst Lippmann sechzig Jahre später auf den Vorgang und das Bild für den Vorgang gestoßen ist.26 Aber nachdem er den Gesamtcharakter der Sprache und damit der kommunizierbaren Welt als stereotypisch erkannt hat, verzichtet er auf einen besonderen Ausdruck für diesen Sachverhalt. Sachverhalt' kann freilich nicht bedeuten, daß sich ein .Faktum' hier ,νοη selbst versteht': das Seiende ist ja nur insofern, als es namhaft gemacht wurde, und „es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue ,Dinge' zu schaffen." 27 Für Nietzsche ist nicht die Existenz von Sachen Voraussetzung für Kommunikation, sondern umgekehrt, und ein Medium, das zwischen Kommunikator und Rezipient im verzerrungsfreien Nachvollzug einer für sich bestehenden Sache Sinn übertragen könnte, vermag er sich nicht vorzustellen. Daher käme für ihn auch ,Kommunikation' in der Form, wie manche wissenschaftliche Modelle sie abbilden sollen, nicht in Frage: Er kennt keine Kommunikatoren, die frei bestimmen, was und wie sie kommunizieren; er kennt keine Rezipienten, die sich auch nur ein einziges Mal gänzlich in der Objekt-Rolle gegen einen Kommunikator befänden; er kennt kein neutrales Medium, dessen Funktion im völligen Belieben seiner Benutzer steht; und er kennt schließlich keine ,Information', weil er keine außersprachlichen Gegenstände kennt, von denen her die Sachlichkeit, die Angemessenheit, die Wahrhaftigkeit solcher Informationen beurteilt werden könnte. Welcher Sinn von den Beteiligten in einen Kommunikationsprozeß hineingelegt wird und welchen Gehalt das zu Vermittelnde hat, ist in Nietzsches Augen zweitrangig. Uberall, wo Kommunikation zustande kommt, entsteht 25

26

v

Ders.: Fatum und Geschichte, in: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe Band II, hgg. v. Hans Joachim Mette. München: C . H . Beck 1934, S. 54-59; hier: S.58. Siehe Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut. Frankfurt/München/Wien/Berlin: Ullstein 1982, S.208. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, a . a . O . , §53, S. 98. - Natürlich kann diese Erkenntniskritik als Sprachkritik nicht auf sich selbst zurückgewendet werden. Über derlei .leeren Scharfsinn' siehe Heidegger, Martin: Nietzsche. Erster Band. Pfullingen: Neske 1961, S. 501-504. - Ahnlich Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie. Berlin/New York: de Gruyter 1971, vornehml. Kapitel V: Wille zur Wahrheit und Wille zur Macht, S. 95-115.

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vor allem ein Herrschaftsgebilde mit mehreren potentiellen Kraftzentren Kommunikator, Medium, Rezipient - und einem eingelagerten, verbindenden Kraftquantum, der ,Sache', um die kommuniziert wird. Kommunikation ist Kontrolle, in allen ihren Phasen und allen ihren Belangen, was auch immer mit ihr beabsichtigt sein mag. „ S i c h m i t t h e i l e n , " schreibt Nietzsche später, als er Worte für diese früh schon erlangte Gewißheit gefunden hat, „ist [ . . . ] ursprünglich s e i n e G e w a l t ü b e r d e n A n d e r e n a u s d e h n e n : [ . . . ] das Z e i c h e n ist das (oft s c h m e r z h a f t e ) E i n p r ä g e n e i n e s W i l l e n s a u f e i n e n a n d e r e n W i l l e n . " 2 8 Das bedeutet zunächst weiter: „So ist V e r s t e h e n ursprünglich eine Leidempfindung und Anerkennung einer fremden Macht." 29 Aber im Verstehen kehrt sich auch schon wieder die Wirkung der intendierten Kontrolle um, denn: „ V e r s t e h e n ist ein erstaunlich schnelles entgegenkommendes Phantasiren und Schließen [ . . . ] — Was wirklich g e s c h e h e n ist, ist nach unserem A u g e n s c h e i n schwer zu sagen; - denn wir haben fortwährend dabei gedichtet und geschlossen."30 Der Rezipient ist im Verstehen immer auch mehr oder weniger schöpferisch, immer auch ein Handelnder: verstehen und wahrnehmen vollziehen sich in ein- und demselben psychologischen Grundmuster und sind insofern eine Kontrolle des Kommunikators, als dessen Kommunikationswille - und das heißt: Herrschaftswille - sich in der Deutung seiner Äußerung durch den Adressaten teilweise verliert. Es ist letztlich auch das Verstandene, das sozial bindend auf ihn zurückwirkt, nicht das von ihm Gemeinte. Und zwischen Kommunikator und Rezipient steht als institutioneller Machtfaktor noch das Medium Sprache, dessen gewachsene Sachzwänge eine unabhängige Kontrolle in beide Richtungen des Kommunikationsverlaufs ausüben. Gegen die Sprache wird Nietzsche immer skeptischer: Wer sich verständlich machen will, so meint er, liefert sich aus, wenn er einzig auf die Sprache selbst, auf den ganz eigentlichen Sinn der Worte vertraut: „Wir schätzen uns selbst nicht genug mehr, wenn wir uns mittheilen. [ . . . ] Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus. In allem Reden liegt ein Gran Verachtung. Die Sprache, scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache v u l g a r i s i r t sich bereits der Sprechende. -" 3 1 Das eigentlich Persönliche am Sprechen liegt daher nicht in der Sprache, sondern in den begleitenden para-verbalen Akzenten, die der Sprechende setzt: „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, 28

29 30 31

Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr-Sommer 1883. 7 [123] in: K G W V I I 1, S. 306. Ebd. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr-Herbst 1881. 11 [23] in: K G W V 2, S. 344. Ders.: Götzen-Dämmerung. - Streifzüge eines Unzeitgemässen, § 2 6 , in: K G W VI 3, S. 122.

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sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden kann - kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht g e s c h r i e b e n werden kann. "32 Wo Verständigung wirklich nottut, wo möglichst viel Persönlichkeit und gemeinter Sinn übertragen werden soll, ist der Versuch des Kommunikators unerläßlich, über die Sprache hinauszugreifen, ihre Stör- und Kontrollwirkung mit allen Mitteln zu mindern, ja womöglich ganz aufs Nonverbale auszuweichen und die Strukturierung des Mediums von Grund auf selber in die Hand zu nehmen - „vorausgesetzt, dass er ein Künstler ist, ein Genie der Mittheilung."" Nicht in der Sprache, sondern erst in der Kunst kann sich Kommunikationswille - und damit Herrschaftswille - bis an die Grenzen des Möglichen verwirklichen. Die Hoffnung oder das Hinarbeiten auf einen ,herrschaftsfreien Diskurs' hätte Nietzsche für illusorisch und die Forderung nach einer solchen Kommunikation selbst für den verpuppten Ausdruck eines bestimmten Machtwillens gehalten. Wenn keiner der an einem Kommunikationsprozeß beteiligten herrschen' wollen soll, muß die Herrschaft über den Prozeß einem verbindenden Prinzip zugeteilt werden. Aber welches Prinzip käme dafür in Frage? - : Der Gegenstand der Kommunikation, die ,Sache' - die sich ja erst durch den Austausch der Meinungen bildet? Die ,Wahrheit' - die aber auch nicht an und für sich besteht, sondern mittels rhetorischer Schlußverfahren in das Medium Sprache hineinentwickelt wurde? Oder soll logische Angemessenheit, also ,Vernunft' das objektive Kriterium sein, das jeden gleichermaßen bindet? „Die ,Vernunft' in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson ! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.. ,"34

Öffentlichkeit Jener Weg, den Nietzsche mit dem un-,Unzeitgemäßen' sprachphilosophischen und -psychologischen Traktat ,Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne' einschlägt, führt ihn auch zu neuen Einblicken in die zweite Komponente von ,Öffentlicher Meinung': mit der Analyse von ,Kommunikation' ergibt sich die Notwendigkeit des Nachdenkens über Öffentlichkeit'.

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Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1883. 3 [1] 296 in: K G W VII 1, S. 89. Ders.: Götzen-Dämmerung. - Streifzüge eines Unzeitgemässen, a. a. O., § 24, S. 122. Ebd. - Die ,Vernunft' in der Philosophie, § 5, S. 72.

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Anhand der Schriften seiner ersten Schaffensperiode wurde bereits dargelegt, daß sein Umgang mit dem Begriff, wenn auch nicht definitorisch bestimmt, so doch von erkennbaren Grundsätzen geleitet ist. Die bürgerliche Öffentlichkeit als "general and common idea" zergliedert er in der gegenständlichen Betrachtung zur Öffentlichkeit "in a specialized and functional sense"35: er bezieht sich dann jeweils einschränkend auf besondere Öffentlichkeiten, wie zum Beispiel die gelehrte, die literarische, die ästhetische, die musikalische. Daraus kann geschlossen werden, daß er das soziale Gebilde .Öffentlichkeit' an einzelnen Objekten oder Feldern des Meinens entstehen sieht und nicht als soziologisch abgezirkelte Personengruppe begreift, die zu verschiedensten Themen öffentliche Meinungen entwickelt. Die Auffassung der empirischen Sozialforschung - "most important is the fact that a public is formed around a single issue"36 - beherrscht ersichtlich schon Nietzsches Begriffsgebrauch: unter ,Öffentlichkeit' versteht er jene Individuen, deren Interesse einer gemeinsamen Sache gilt. Der Versuch, solcherart das Phänomen von außen zu fassen und einzugrenzen, muß natürlich um eine Betrachtung der Innenaspekte von Öffentlichkeit' ergänzt werden: so fragt Nietzsche immer wieder nach der Funktions- und Wirkungsweise des Öffentlichen aus der Sicht der Beteiligten und Betroffenen. Er sieht die Öffentlichkeit nie als Neutrum: sie meint immer und besteht geradezu im Austausch, im Kampf von Wertungen um ihre Sache als "the sphere in which public opinion processes operate".37 Öffentlichkeit strukturiert nicht einfach das Seiende, sondern verwirklicht sich in dessen Beurteilung; in ihr synthetisiert sich eine Kraft, deren Ziel zunächst noch nicht sicher erkannt werden kann und in deren Reichweite daher eine besondere Spannung herrscht. „Ich habe mich bestrebt eine Empfindung zu schildern, die mich oft genug gequält hat; ich räche mich an ihr, indem ich sie der Oeffentlichkeit preisgebe."38 Rache, Preisgabe - : es ist nichts Positives, was Nietzsche mit der Gewalt der Öffentlichkeit verbindet. Die Spannung im Kraftfeld jeder Öffentlichkeit sublimiert an den beteiligten Individuen zum Bewußtseinszustand. Sie sind sowohl Subjekte, indem sie sich meinend zu einer bestimmten Sache verhalten, als auch Objekte, indem sie dabei jeweils von den anderen beobachtet und beeinflußt werden. Öffentlichkeit' entwickelt also in ihren Reaktionen auf sich selbst einen Mechanismus

" Die Unterscheidung formuliert Wilson, Francis G.: A Theory of Public Opinion. Chicago: Henry Regnery Co. 1962, S.276. 36 Davison, W. Phillips: The Public Opinion Process, in: Public Opinion Quarterly, 22. Jhg. 1958 Nr. 1, S. 91-106; hier: S. 105. 37 Noelle-Neumann, Elisabeth: Public Opinion and the Classical Tradition: a Re-Evaluation, in: Public Opinion Quarterly, 43. Jhg. 1979 Nr. 1, S. 143-156; hier: S. 152. 38 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße II, Vorwort, in: KGW III 1, S.242.

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sozialer Kontrolle: es entsteht ein An- und Ausgleich zwischen den Betreffenden und so die Tendenz zu einer öffentlichen Meinung, die, wie Gersdorff treffend bemerkt hat, nicht die Meinung jedes, nicht die Meinung aller, sondern objektiv die Meinung des Ganzen ist.39 N u r so kann Nietzsches zunächst merkwürdig erscheinende Notiz verstanden werden, Öffentlichkeit sei ein „ M i t t e l g e g e n d i e m a ß l o s e S e l b s t s u c h t d e s I n d i v i d u u m s . " 4 0 Öffentlichkeit ist überall möglich, im Großen wie im Kleinsten: „Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt; und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der grossen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen." 41 Als ihr Gegenstück begreift Nietzsche offenbar nicht die Privatsphäre im üblichen Sinn, nicht die Gemeinschaft der Familie, der Freunde, der kleinen Gruppe: der Mensch lebt entweder mit sich allein oder in der ständigen Bedrohung, .öffentlich* zu werden und der Maßregelung durch die anderen ausgesetzt zu sein. Der Diagnostiker des Menschlich-Allzumenschlichen faßt dieses Existenzdilemma knapp zusammen: „ A u s d e m L a n d e d e r M e n s c h e n f r e s s e r . — In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle." 42 Einsamkeit - oder Öffentlichkeit: so lautet die Alternative. Schon die Zweisamkeit verlangt Vor- und Rücksichten, Kompromisse, Selbstentfrem59

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Bei genauer Analyse erscheint es eigentlich viel zu sperrig, wenn man sagt: ,Die Öffentlichkeit meint', oder ,Die Öffentlichkeit übt soziale Kontrolle aus'. Allerdings zwingt die autonome Logik der Sprache dazu, Vorgänge nach Subjekt, Prädikat und Objekt aufzulösen, obwohl sie empirisch Wirkung und nichts als unmittelbare Wirkung sind, - „und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein .Subjekt' versteht und missversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Τ h u η , als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es f r e i s t ü n d e , Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein ,Sein' hinter dem Thun, Wirken, Werden; der .Thäter' ist zum Thun bloss hinzugedichtet, - das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen ,die Kraft bewegt, die Kraft verursacht' und dergleichen, - unsere ganze Wissenschaft steht noch, trotz all ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die .Subjekte' nicht losgeworden". (Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. - Erste Abhandlung, §13, in: K G W VI 2, S. 293 f.). - So wenig, wie dem Blitz das Leuchten freisteht, steht der Öffentlichkeit' im Sinne Nietzsches das .Meinen' oder die .Kontrolle' frei, oder etwa gar die Kommunikation: mit Nietzsche gedacht, bezeichnen diese Wörter allenfalls verschiedene Gesichtspunkte eines Ganzen, im Grunde aber ein- und dasselbe. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1871 - Frühjahr 1872. 16 [16] in: K G W III 3, S.424. Ders.: Also sprach Zarathustra. - Von den Fliegen des Marktes, in: K G W VI 1, S.61. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I I / l , a . a . O . , §348, S. 156.

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dung, schon sie lenkt Meinen und Verhalten des einzelnen in konforme Bahnen, schon sie verwirklicht sich nur in der Konvention: diesseits der Einsamkeit, auf dem Markt, „wird man mit J a ? oder Nein? überfallen" 43 , hier muß Farbe bekannt und im Ausspielen der richtigen Farbe soziale Tauglichkeit bewiesen werden. Wer die Regeln des Spiels verletzt, sei es versehentlich oder absichtlich, der sieht sich sogleich der zwingenden Macht der allgemeinen Aufmerksamkeit, einer ,Öffentlichkeit als Bedrohung* gegenüberstehen: „ C e n t r u m . - Jenes Gefühl: ,ich bin der Mittelpunct der Welt!' tritt sehr stark auf, wenn man plötzlich von der Schande überfallen wird: man steht dann wie betäubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von Einem grossen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt." 44 Sprache, Kommunikation und Öffentlichkeit regeln das gesellschaftliche Leben über jenes gesatzte Recht hinaus, dessen Beachtung gegebenenfalls von der Staatsmacht erzwungen wird. Folgt man Nietzsche, so bildet sich das Kraftfeld Öffentlichkeit' überall, wo kommuniziert wird: der ,Markt' beginnt, wo die Einsamkeit aufhört. Man stößt hier allerdings auf Widersprüche in seinen Äußerungen, die sich nicht aufheben lassen: „Das Beste und Wesentliche", schreibt er beispielsweise an seinen Baseler Freund und Kollegen Franz Overbeck, „läßt sich nur v o n M e n s c h z u Μ e η s c h mittheilen, es kann und soll nicht ,public' sein" 45 , und an anderer Stelle rühmt er ausdrücklich das Zwiegespräch als „das vollkommene Gespräch, weil Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebärde i n s t r e n g e r R ü c k s i c h t a u f d e n Α η d e r e η , mit dem gesprochen wird, erhält [ . . . ] Beim Zwiegespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens [ . . . ] Wie aber ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern? D a verliert notwendig das Gespräch an individualisierender Feinheit, die verschiedenen Rücksichten kreuzen sich, heben sich auf" 46 , und schließlich gilt: „Wenn 100 beieinander stehen, verliert ein Jeder seinen Verstand und bekommt einen anderen." 47 Aber ,Rücksicht' und Strahlenbrechung' sind auch schon Verzerrungen im Dialog; natürlich wächst deren Einfluß rapide, indem das öffentliche Interesse zunimmt, bis schließlich in jener diffusen, dispersen, durch Massenmedien hergestellten „unausgelesenen Öffentlichkeit" 4 8 die ursprüngliche 43 44

45

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48

Ders.: Also sprach Zarathustra, a . a . O . , S.62. Ders.: Morgenröthe, a . a . O . , §352, S.241. - Im Englischen gibt es für dieses Bewußtsein analog zu Nietzsche den Ausdruck ,the public eye'. Nietzsche an Franz Overbeck in Basel, Brief vom 6. November 1884. Nr. 553 in: K G B III 1, S. 554. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , §374, S.267. Ders.: Nachgelassene Fragmente, November 1882 - Februar 1883. 4 [235] in: K G W VII 1, S. 180. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Winter 1870/71 - Herbst 1872. 8 [84] in: K G W III 3, S.264.

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Absicht der K o m m u n i k a t i o n verdampft und mit einer Nachricht, einer Zeitung, einem B u c h für alle eigentlich keiner mehr wirklich getroffen werden kann - „das W o r t Öffentlichkeit* und ,Publikum' klingt mir, in B e z u g auf meinen ganzen Zarathustra, ungefähr s o wie , H u r e n h a u s ' und ,öffentliches M ä d c h e n ' - P a r d o n ! " 4 9 I m G r u n d e jedoch sieht N i e t z s c h e die konformierende V e r f r e m d u n g einer individuellen Äußerung schon zwischen zwei Interaktionspartnern einsetzen, und insofern gebraucht er seinen Begriff des Öffentlichen nicht ganz konsequent. Mit N i e t z s c h e ist Ö f f e n t l i c h k e i t ' also zu verstehen als sozialpsychisch wirksame Sphäre des-gegenseitigen Beobachtens, der Sanktion und der Steuerung, die sich an einzelnen Gegenständen aufbaut und in öffentlichen Meinungen über diese Gegenstände verwirklicht. In diesen Z u s t a n d der Öffentlichkeit kann jedes soziale G e b i l d e als G a n z e s oder in Teilen geraten, je nachdem, wie weit das N e t z der K o m m u n i k a t i o n u m eine Sache reicht. .Öffentlichkeit' ist die kollektiv e m p f u n d e n e Qualität veränderlicher Quantitäten auf der ganzen Stufenleiter von G e m e i n s c h a f t ' bis .Gesellschaft'. N i e t z s c h e beobachtet, wie empfindlich, ja übersteigert das Wahrnehmungsvermögen des einzelnen im Bewußtsein dieser Q u a l i t ä t reagiert: „ F e i n e r a l s n ö t h i g . - U n s e r B e o b achtungssinn d a f ü r , o b A n d e r e unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn für die Schwächen A n d e r e r : w o r a u s sich also ergiebt, dass er feiner ist, als nöthig wäre." 5 0 Eine öffentliche Situation kann sich z u m Beispiel spontan und ohne räsonnierende Meinungsbildung am Gegenstand ,Höflichkeit' bilden: „Wenn J e m a n d wider Willen einen Andern unhöflich behandelt, z u m Beispiel nicht grüsst, weil er ihn nicht erkennt, so w u r m t ihn diess, o b w o h l er nicht seiner G e s i n n u n g einen V o r w u r f machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei d e m A n d e r n erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung" 5 1 - und Ö f f e n t l i c h k e i t ' meint Nietzsche auch, wenn er fragt: „ W a r u m haben wir nach gewöhnlichen Gesellschaften Gewissensbisse? Weil wir wichtige D i n g e leicht g e n o m m e n haben, weil wir bei der Besprechung von Personen nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben, w o wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und fortgelaufen sind, k u r z weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als o b wir z u ihr gehörten." 5 2 In beiden Fällen erliegt der einzelne einem Prozeß der Öffentlichen M e i n u n g , indem ihn das persönliche Bewußtsein Ö f f e n t l i c h k e i t ' dazu

49

50 51 52

Ders. an Carl von Gersdorff in Ostrichen, Brief vom 12. Februar 1885. N r . 572 in: K G B III 3, S.9. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/2, a . a . O . , §257, S.302. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , §346, S.256. Ebd., §351, S.258.

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führt, sich v o n seiner Subjektivität z u distanzieren u n d sich in d e r O b j e k t R o l l e der a n d e r e n z u s e h e n . " Sobald

das I n d i v i d u u m

aus d e r E i n s a m k e i t

heraustritt,

bedeutet

dies

sorgfältige, w a c h s a m e A n p a s s u n g an alles „ U n b e q u e m e Ö f f e n t l i c h e F ö r m l i c h l e e r e " 5 4 : die F o r m , das K o n - f o r m e w i r d letzten E n d e s v o n j e d e r Ö f f e n t l i c h k e i t verlangt, u n a b h ä n g i g d a v o n , ü b e r w e l c h e G e h a l t e , , M e i n u n g e n ' die B e t r e f f e n den diese F o r m z u w e g e b r i n g e n . Ist die F o r m erst e r k e n n b a r u n d schließlich a n e r k a n n t , so ergibt sich das W e i t e r e n a c h s o z i a l p s y c h i s c h e n Z w a n g s l ä u f i g k e i t e n : „ W e n n m a n die L e u t e d a z u treiben k a n n , sich ö f f e n t l i c h für E t w a s z u erklären, so hat m a n sie meistens a u c h d a z u g e b r a c h t , sich innerlich d a f ü r z u erklären;

sie w o l l e n

fürderhin

als c o n s e q u e n t

erfunden

werden."55

Auch

individuelle H a n d l u n g e n b r a u c h e n ein öffentliches K l e i d k o n f o r m e r B e g r ü n d u n g e n : „ D e r F ü r s t , w e l c h e r z u d e m gefassten E n t s c h l ü s s e , K r i e g m i t d e m N a c h b a r z u f ü h r e n , einen casus belli ausfindig m a c h t , gleicht d e m V a t e r , der s e i n e m K i n d e eine M u t t e r u n t e r s c h i e b t , w e l c h e f ü r d e r h i n als s o l c h e gelten soll. U n d sind n i c h t fast alle öffentlich b e k a n n t g e m a c h t e n M o t i v e u n s e r e r H a n d lungen solche u n t e r g e s c h o b e n e M ü t t e r ? " 5 6 N o c h einmal greift N i e t z s c h e a u c h den G e d a n k e n auf, d a ß Ö f f e n t l i c h k e i t u n d Ö f f e n t l i c h e M e i n u n g i m m e r u n m i t t e l b a r e r auf d e n M e n s c h e n w i r k e n , weil die G r u n d l a g e n d e r T r a d i t i o n s - u n d der I n n e n l e i t u n g i m m e r b r ü c h i g e r w e r -

" Hier ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß Nietzsche das Phänomen der Öffentlichen Meinung nicht über historische, thematische oder sozialstrukturierte Kriterien definiert wissen will, - so etwa, wenn er sich ganz unbefangen notiert: „Das Bewußtsein eines Kranken über seine Krankheit (und über die öffentliche Meinung, die sie erregt) hat sich ganz geändert [ . . . ] und f o l g l i c h a u c h v i e l e W i r k u n g e n d e r K r a n k h e i t . " (Nachgelassene Fragmente, Ende 1880. 7 [109] in: K G W V 1, S.670). Ein solch freier Gebrauch des Begriffs scheint zu seiner Zeit üblich gewesen zu sein: der Modeklatsch galt genauso als ,Öffentliche Meinung' wie die Erörterungen der ,großen' Politik (vgl. ζ. B. Elisabeth Nietzsche an Nietzsche in Naumburg, Brief vom 10. November 1879. Nr. 1253 in: KGB II 6/2, S. 1215). - Sollte aber wissenschaftlich schon bei derlei begrenzten und belanglosen Interaktionen von Öffentlichkeit und Öffentlicher Meinung gesprochen werden, sobald nur der Aspekt der Konformität bewußtseins- und handlungsleitend wird? - Die Alternative wäre, der Definition von Öffentlichkeit und Öffentlicher Meinung numerische Kriterien zu unterlegen. Aber öffentliche Meinungen werden immer in nicht eindeutig fixierbaren Mikro-Bereichen erzeugt und unterliegen auch auf der Mikro-Ebene immer wieder der Bewährung und der Wandlung. Sie entwickeln sich vom Kleinsten ins Große, ohne daß die sozialpsychische Natur des Prozesses irgendwo eine terminologische Zäsur rechtfertigen würde. Wie ungenügend diese Durchgängigkeit mit rein soziologischen Denkmitteln zu begreifen ist, zeigt sich an der Arbeit von Salmon, Charles T. / Kline, F. Gerald: The Spiral of Silence Ten Years Later: An Examination and Evaluation, in: Sanders, Keith R./Kaid, Lynda Lee/Nimmo, Dan: Political Communication Yearbook 1984. Carbondale/Edwardsville: Southern Illinois University Press 1985, S. 3-30. 54 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde in Rom, Brief vom 11. November 1869. Nr. 40 in: KGB II 1, S. 73. 55 Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a.a.O., §548, S.341. 56 Ebd., §596, S. 352 f.

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den: .„Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch mehr, und Jeder soll es mir in's Gesicht sagen dürfen.' - Diese Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der Anrufung Gottes dabei: sie ist s t ä r ker." 5 7 Im Zeitalter der Außenleitung durch die Öffentliche Meinung kann bereits das Diesseits mit der ewigen Verdammnis drohen, denn es gilt mehr denn je: „Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen empfindlicher, als die durch sich selbst."58 Aber aus welchen Motiven entsteht der Druck der Öffentlichen Meinung? Welche Formen nimmt die soziale Kontrolle durch öffentliches Meinen an und mit welchen Methoden setzt sie sich durch? 3.2.1. Das Individuum

unter dem Druck der Öffentlichen

Meinung

Die Motive sozialer Kontrolle Die Frage, warum soziale Kontrolle wirksam werden kann - die Frage also: Warum unterwirft der einzelne sich der mehr oder weniger unverhohlenen und drohenden Aufforderung seiner öffentlichen Umwelt zu konformem Meinen und Verhalten? - , hat Nietzsche schon ansatzweise in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen' erörtert. Er ergänzt nunmehr diesen Ansatz, indem er auch die entgegengesetzte Perspektive einnimmt und nach den Motiven der Mehrheit, der Gesellschaft, der ,Herde' sucht: Was bewegt sie dazu, Anpassung zu verlangen und durch den Ubergang in die Qualität Öffentlichkeit' auch zu erzwingen? „Die Originalität zu unterstützen wird den Menschen außerordentlich schwer." 1 Kollektiver Unmut und allgemeines Mißtrauen richten sich in der Regel gegen jeden, der die Anerkennung der herrschenden Standards verzögert oder völlig verweigert. Wer sein Glück abseits der Vielen sucht, macht sich verdächtig: Wo die Öffentliche Meinung als ,Schutzpatronin' für Geborgenheit sorgt, gelten Einwände gegen sie oder etwa die gelebte Verneinung ihrer Glaubenssätze als Gefährdung der Gesellschaft. Die .gebundenen Geister', wie Nietzsche die öffentlich Meinenden auch nennt, wollen sich ihre Gebundenheit weder durch das Wort noch durch die Tat hintertreiben lassen, denn sie fühlen, daß sie ihnen an sich - als Gebundenheit an allgemeine Meinungen nützlich ist. „Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen 57 58 1

Ders.: Morgenröthe, a.a.O., §152, S. 143. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a.a.O., §549, S.342. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr-Sommer 1874. 34 [17] in: K G W III 4, S. 415.

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Ansichten ebenfalls seinen N u t z e n suche und nur das f ü r wahr halte, was ihm gerade f r o m m t . D a ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen L a n d e s - oder Standesgenossen nützt, s o nehmen diese an, dass seine G r u n d s ä t z e ihnen gefährlich sind; sie sagen oder fühlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich." 2 Nietzsche verweist darauf, „dass der Mensch manche hunderttausend J a h r e lang ein im höchsten G r a d e der Furcht zugängliches Thier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später., in socialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem H e r k o m m e n in Meinung und Thätigkeit beruhte". 3 D e r öffentlich meinende Mitmensch ist bis zu einem gewissen G r a d e berechenbar: ,man' weiß ungefähr, welches Verhalten und welche Äußerungen man von ihm erwarten kann, und dies macht ihn zu einem f ü g s a m e n , jedenfalls ungefährlichen Glied der Gesellschaft. Anders der ,freie Geist', der nach persönlichen Lebensregeln sucht: an ihm ist wenig im Vorhinein festgelegt und niemand weiß mit Sicherheit zu sagen, wohin er sich wenden wird, was er denkt, wie er meint und handelt. Sich einen Begriff von ihm z u machen und sich dadurch die Fähigkeit zur Reaktion zu schaffen, ist das erste Bestreben der gegen ihn gerichteten Mehrheit; hier wird wieder der ,Trieb zur Metapherbildung' wirksam, jene G r u n d t e n d e n z des Intellekts zur Selektion und Verstärkung von Sinneseindrücken, aus der N i e t z s c h e schon die Sprache entstehen sah und die letzten Endes die ganze U m w e l t zu Stereotypen gerinnen läßt: „Was bestimmt uns zu so rascher Verallgemeinerung, daß wir nach Einem Z u g e uns den Menschen denken und schlechterdings niemand das Bild eines A n d e r n unausgeführt lassen will? D i e F u r c h t und die G e w o h n h e i t der F u r c h t : ,er zeigt diesen Z u g - wie, wenn er immer s o wäre? N e h m e n wir es der V o r s i c h t h a l b e r an, nämlich wenn es ein gefährlicher Z u g ist!'" 4 Dieser A f f e k t unterliegt auch der nächsten Stufe des P r o z e s s e s : dem Versuch, den Abweichler sozial zu kontrollieren, indem ihm zumindest das öffentliche Lippenbekenntnis zu den gesellschaftlichen Meinungen a b g e z w u n gen wird: „Jene Moralität, welche am allerstrengsten von J e d e r m a n n gefordert, geehrt und heilig gesprochen wird, die G r u n d l a g e des socialen L e b e n s : was ist sie denn als jene Verstellung, welche die Menschen nöthig haben, u m mit einander o h n e F u r c h t leben zu k ö n n e n ? " 5 So erhebt sich für N i e t z s c h e die Furcht in den R a n g eines allgemeinen Prinzips menschlichen Z u s a m m e n l e bens: aus Furcht vor den Unwägbarkeiten des isolierten Daseins suchen die

2 3 4 5

Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, §227, in: K G W IV 2, S. 195. Ebd., §169, S. 159 f. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1880. 4 [297] in: K G W V 1, S.503. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1880. 3 [23] ebd., S. 383.

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Öffentliche Meinung als soziale Kontrolle

Individuen den Zusammenschluß; damit scheint das gröbste bellum omnium contra omnes zwar überwunden, aber nun liegt der Zusammenschluß selbst als übermächtiger Leviathan gegen den einzelnen auf der Lauer. Es entsteht die .Polarität der Furcht" 6 , das Hin- und Hergerissensein des Menschen zwischen Furcht vor der Vereinsamung und Furcht vor der Gesellschaft. Aber auch die Gesellschaft selbst wird noch - trotz aller augenscheinlichen Kühle und Überlegenheit im Maßregeln und Abfertigen der Widerspenstigen "till communication ceases and the dead member drops from the social body" 7 - von diesem allgegenwärtigen Affekt beherrscht: die Furcht vor dem vermeintlich Gefährlichen, Schädlichen, Unberechenbaren ist der eigentliche kollektive Beweggrund für den Konformitätsdruck auf den einzelnen. In Jenseits von Gut und Böse' findet sich die endgültige Formulierung dieses Sachverhalts: „Nachdem das Gefüge der Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen äussere Gefahren gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche wieder neue Perspektiven der menschlichen Werthschätzung schafft. [ . . . ] Wie viel oder wie wenig Gemein-Gefährliches in einer Meinung, in einem Zustand der Affekte, in einem Willen, in einer Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive: die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der Moral. An den höchsten und stärksten Trieben, wenn sie [ . . . ] den Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederungen des Heerden-Gewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat gleichsam, zerbricht [ . . . ] Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden; Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten Furcht macht, heisst von nun an böse; die billige, bescheidene, sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das M i t t e l m a a s s der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren." 8 Furcht des einzelnen vor Isolation, Furcht des einzelnen vor der Gesellschaft und Furcht der Gesellschaft vor dem einzelnen: in diesem Dreieck vollzieht sich Nietzsche zufolge der größte Teil sozialer Kontrolle. Damit liegt jedoch kein einfacher Reduktionismus vor: zwar spielt soziale Furcht eine Hauptrolle bei der Entstehung und Ausübung sozialer Kontrolle, aber nicht alle, gesellschaftlichen Konformierungsversuche können einwandfrei auf sie zurückgeführt werden. So behauptet zwar in ,Also sprach Zarathustra' der ,Gewissenhafte des Geistes': „Furcht nämlich, das ist des Menschen Erb- und Grundgefühl; aus der Furcht erklärt sich Jegliches, Erbsünde und Erbtugend. 6

7

8

Vgl. Rudensky-Brin, Slata Genia: Kollektivistisches in der Philosophie Nietzsches. Basel: Helbing & Lichtenhahn 1948, S. 63 ff. Ross, Edward Α . : Social Control. A Survey of the Foundations of Order. Cleveland/London: The Press of Case Western Reserve University 1969 (Erstauflage Macmillan 1901), S. 92. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von G u t und Böse. - § 2 0 1 , in: K G W VI 2, S. 124 f.

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A u s der Furcht w u c h s auch m e i n e Tugend, die heisst: Wissenschaft" 9 ; aber der Prediger Zarathustra bestätigt ihn nicht, sondern widerspricht ihm energisch. Eines jener von der Furcht zu unterscheidenden Gefühle, die soziale Kontrolle motivieren können, ist der N e i d : „Alle sehr individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den, der sie ergreift, auf; sie fühlen sich d u r c h die Behandlung, welche J e n e r sich angedeihen lässt, erniedrigt, als gewöhnliche Wesen." 1 0 W e n n einer sich nicht der Öffentlichen M e i nung fügen will, so kann dies Befremden und Furcht, aber auch E m p ö r u n g auslösen: A n d e r s s e i n w o l l e n und -können w e r d e n ihm m i ß g ö n n t , weil er damit das Selbstgefühl der w i d e r w i l l i g Kopformierten beleidigt. Furcht führt zu sozialer Kontrolle, w o ein einzelner als gefährlich und schädlich e m p f u n d e n w i r d ; Neid dagegen entlädt sich in sozialer Kontrolle, w o trotz a priorisch gesetzter Gleichheit noch Unterschiede aufbrechen: „ W o die Gleichheit w i r k lich durchgedrungen und dauernd begründet ist, entsteht jener [ . . . ] H a n g , der im N a t u r z u s t a n d e k a u m begreiflich w ä r e : der N e i d . Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des A n d e r e n über das gemeinsame Maass und will ihn bis dahin herabdrücken - oder sich bis dorthin e r h e b e n " . " A u s der Furcht bildet sich A n p a s s u n g s d r u c k entlang der W e r t u n g s s p a n n e , g u t - b ö s e ' ; der N e i d operiert auf der Dimension , m e h r - w e n i g e r ' oder , g l e i c h - u n g l e i c h ' . Deutlich „klingen hin und w i e d e r bei Nietzsche G e d a n k e n an, aus denen die Einsicht spricht, daß [ . . . ] im Angetriebensein z u m Beneiden die W u r z e l einer sozialen Kontrolle liege, ohne die man sich menschliche Gesellschaft [ . . . ] kaum^denken könne." 1 2 - Öffentliche M e i n u n g entsteht also vielleicht nicht nur aus Isolationsfurcht' 3 ; das als Z u s t i m m u n g fungierende Schweigen im Prozeß der ,Schweigespirale' könnte auch A u s d r u c k individueller N e i d v e r meidung sein. D e m Beneideten liegt w o m ö g l i c h nichts an sozialer Geborgenheit: er verbirgt seine M e i n u n g e n vor der Öffentlichkeit, nicht weil er etwa die Vereinsamung, sondern die Vergesellschaftung durch den N e i d fürchtet: „Sie wollen alle aus sich eine Satzung machen: und w e r nur klettern kann, der gebeut: ,du sollst nicht fliegen'." 1 4 Der Furchtsame fühlt sich unterlegen und w i l l etwas vermeiden, der Neider fühlt sich übervorteilt und will etwas haben. Soziale Kontrolle aus

' Ders.: A l s o sprach Zarathustra. - V o n der Wissenschaft, in: K G W V I 1, S . 3 7 2 f . Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 4 9 5 , S . 3 3 1 . 11 Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/2, § 2 9 , in: K G W IV 3, S . 2 0 0 . 12 Schoeck, Helmut: D e r Neid. Eine Theorie der Gesellschaft. Freiburg/München: Karl A l b e r 1966, S.205. 13 Siehe Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut. Frankfurt am M a i n / W i e n / B e r l i n : Ullstein 1982, bes. Kap. III. 14 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1883. 18 [36] in: K G W VII 1, S . 6 0 6 . 10

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F u r c h t hat wesentlich A b w e h r c h a r a k t e r ; unterliegt ihr kollektiver Neid, so ist sie ihrer N a t u r nach Angriff. D e m N e i d e r kann Ö f f e n t l i c h k e i t ' zum G e n u ß werden: „Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller Fragen gestellt, aller A n t w o r t e n gegeben, um dem U n t e r r e d n e r ein klein wenig W e h zu t h u n ; desshalb dürsten viele M e n s c h e n so nach Gesellschaft: sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft." 1 5 D a s V e r h i n d e r u n g s m o m e n t in der F u r c h t hält N i e t z s c h e für schlechthin dysfunktional; neidgetriebene soziale

Kontrolle

erscheint ihm dagegen positiv, sofern sie den N e i d e r zum Freisetzen eigenen Willens führt. V e r h i n d e r n - oder H a b e n w o l l e n erzeugen am E n d e ganz verschiedene Gesellschaften: „Je nachdem das Gefühl der Schwäche (Furcht) oder das der M a c h t überwiegen, entstehen pessimistische oder optimistische S y steme.""'

D i e tradierte Öffentliche M e i n u n g : Sitte und Sittlichkeit Jedes V o l k entwickelt mit der Zeit aus sich selber eine tragfähige O r d n u n g des Z u s a m m e n l e b e n s , und diese O r d n u n g entsteht, erhält und verändert sich aus der Mitteilung und allgemeinen A n e r k e n n u n g von Meinungen. Menschen werden g e w ö h n t , eine f r e m d e M e i n u n g

h ö h e r zu

„Die taxi-

r e η als die e i g n e " : darin sieht N i e t z s c h e eine G r u n d m a ß n a h m e aller Sozialisation. 1 7 D e r einzelne blickt in seine Gesellschaft wie in einen Spiegel: erst in der K o m m u n i k a t i o n , erst angesichts der Meinungen seiner M i t m e n s c h e n macht er sich ein Bild von der W e l t und von sich selber. N i e t z s c h e versucht, diese Idee ganz durch die Gesellschaft hindurchzudenken: „Die Allermeisten, was sie auch i m m e r von ihrem .Egoismus' denken und sagen mögen, thun trotzdem ihr Lebenlang N i c h t s für ihr ego, sondern nur für das P h a n t o m von ego, welches sich in den K ö p f e n ihrer U m g e b u n g über sie gebildet und sich ihnen mitgetheilt hat, - in Folge dessen leben sie Alle zusammen in einem N e b e l von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen und willkürlichen,

gleichsam

dichterischen W e r t h s c h ä t z u n g e n , Einer immer im K o p f e des A n d e r n , und dieser K o p f wieder in anderen K ö p f e n : eine wunderliche W e l t der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen Anschein zu geben weiss! Dieser N e b e l von M e i n u n g e n und G e w ö h n u n g e n wächst und lebt fast unabhängig von den M e n s c h e n , die er einhüllt" 1 8 . D i e unpersönlichen Meinungen haben nahezu unumschränkte M a c h t . D e r einzelne glaubt aus sich heraus zu handeln und handeln zu müssen, aber 15 16 17 18

Ders.: Ders.: Ders.: Ders.:

Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 5 0 , S . 6 9 . Nachgelassene Fragmente, Sommer 1880. 4 [194] in: K G W V 1, S.478. Nachgelassene Fragmente, Oktober-Dezember 1876. 19 [93] in: K G W IV 2, S.448. Morgenröthe, § 105, in: K G W V 1, S . 9 0 f .

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tatsächlich in vielerlei Hinsicht unauffällig von der Gesellschaft geleitet, erliegt er damit einer Illusion: „,Ich weiss durchaus nicht, was ich t h u e ! Ich weiss durchaus nicht, was ich t h u n s o l l ! ' - Du hast Recht, aber zweifle nicht daran: d u w i r s t g e t h a n ! in jedem Augenblicke! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer."" Die physische Gewalt wird im sozialen Leben von psychischen Zwängen verdrängt, die um so wirkungsvoller sind, je weniger sie deutlich ins Bewußtsein treten: „Wir werden am schlimmsten von unsichtbaren Händen gebogen und gequält." 20 Die Meinungen bilden sich nicht erst am Menschen und im Menschen: in viele von ihnen wird er einfach hineingeboren, er hat sie eben und bedarf nur ausnahmsweise des konkreten Umweltdrucks, um sie auch zu behalten: „ E i g e n e M e i n u n g e n . - Die erste Meinung, welche uns einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere eigene, sondern nur die landläufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft zugehörige; die eigenen Meinungen schwimmen selten obenauf." 21 Das, was in der modernen Forschung ,sozioökonomischer Status' genannt wird und sich unter anderem darin zeigt, "that people vote with the social group to which they belong and that these groups are strongly determined by a few basic social characteristics"22, trägt in der Tat eine Fülle von Meinungen an den Menschen heran, die ihm einfach als Gewohnheiten anhängen und ihm nicht erst durch Isolationsdrohungen aufgezwungen werden. 23 Er lernt sie manchmal überhaupt erst als Meinungen kennen, wenn er - womöglich unabsichtlich - gegen ihre Verstei19 20 21 22

23

Ebd., §120, S. 113. Ders.: Also sprach Zarathustra, a . a . O . , Vom Baum am Berge, S . 4 7 . Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 5 7 1 , S.346. Lazarsfeld, Paul F . : The Election is Over, in: Public Opinion Quarterly, 8.Jhg. 1944, S. 317-330; hier: S.321. Gerade an der Bewertung der Gewohnheit zeigt sich Nietzsches zeitweilig enge geistige Verwandtschaft mit Paul Ree. Zum Vergleich mit dem Aphorismus ,Eigene Meinungen' folgende Stelle aus dessen psychologischen Beobachtungen': „Die Meinungen des gewöhnlichen Menschen sind nicht durch vernünftige Ueberlegung und den Vergleich mit anderen Meinungen, sondern durch Gewohnheit entstanden: Die Gebräuche seines Volkes oder Standes hält er für gut, weil er nur sie von Jugend auf befolgt hat und hat befolgen sehen. / Demnach hat er seine Meinungen nicht, weil er sie für vernünftig hält, sondern er hält sie für vernünftig, weil er sie hat." (Ree, Paul: Psychologische Beobachtungen. Aus dem Nachlaß von * * * . Berlin: Carl Duncker's Verlag - C . Heymons - 1877, S. 103). In einer späteren Veröffentlichung nennt Ree die Gewohnheit auch „die Begründerin fast aller Meinungen" (ders.: Der Ursprung der moralischen Empfindungen. Chemnitz: Ernst Schmeitzner 1877, S.56). Rees heutige wissenschaftliche Präsenz beschränkt sich völlig auf ein Fußnotendasein in der Nietzsche-Forschung. Zwar hat er sich nie von den utilitarisch-positivistischen Hauptströmen seiner Zeit lösen können, aber in mancher Hinsicht wären seine Schriften doch eine Revision wert. Vermutlich würde auch ein Nachzeichnen seines Lebenslaufs manche verdeckten Verbindungen der damaligen europäischen Sozialwissenschaft und -philosophie offenlegen, die in seiner Person zusammenliefen.

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nerungen, gegen die ungeschriebenen Gesetze jedes Standes und jeder Gesellschaft, gegen die Sitten und Normen verstößt. „Die Sitten", schreibt Nietzsche, „spiegeln die Ereignisse von 100 Jahren wieder - nicht die der Gegenwart."·14 Sie stellen die ,festgewordenen* öffentlichen Meinungen darüber dar, wie man in bestimmten Situationen handeln muß. : 5 Wie alle Handlungen und Meinungen, so sind auch sie irgendwann zum Erreichen eines greifbaren Ziels erdacht worden; dann aber haben sie ein Eigenleben entwickelt, ihr eigentlicher Zweck geriet allmählich in Vergessenheit, die Form aber blieb und erlangte als Form eine eigene Macht. Nietzsche errichtet keine Theorie über die Entstehungszusammenhänge von Sitten; er denkt wenig darüber nach, welche Typen von Meinungen und Handlungen am ehesten zu Sitten werden können. U m so eingehender aber beschäftigt ihn die Sitte als ausgebildete, selbständige soziale Kraft: „In den rechtlichen, moralischen und religiösen Dingen hat das Aeusserlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Ceremonie am meisten D a u e r : sie ist der Leib, zu dem immer eine n e u e S e e l e hinzukommt. Der Cultus wird wie ein fester Worttext immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte." 26 Warum also eine Meinung oder Handlung sich aus der öffentlichen Wertschätzung nicht ins Nichts verflüchtigt, sondern als Sitte zum Bestandteil jenes gesellschaftlichen Bodensatzes wird, aus dem sich wieder neue öffentliche Meinungen erheben, erforscht Nietzsche nicht; allein daß es Ansichten und Verhaltensweisen gibt, die sich - am Anfang bloße Mittel - von ihren Zwecken emanzipieren, um anscheinend Selbstzweck zu werden, erscheint ihm interessant. Die Sitte ruht in sich: Sie ist zwar ,Meinung', bedarf aber nicht mehr der Rechtfertigung durch Meinende; sie ist zwar ein Fürwahrhalten, aber ein in hohem Grade objektiviertes; sie erhält zwar immer wieder einen Sinn zugeschrieben, aber dieser Sinn gibt ihr keinen Sinn, er täuscht ihn nur hilfsweise vor: die Sitte ist im Sinne des Wortes das gesellschaftlich Selbstverständliche. Sie bietet kaum Kriterien für zweckmäßiges Handeln auf irgendwelche individuellen oder kollektiven Ziele hin; statt dessen entscheidet sich an ihr jenseits aller subjektiven Zwecksetzungen, ob in diesem oder jenem Fall sittlich gehandelt wird. „ E r s t e r S a t z d e r C i v i l i s a t i o n . - Bei rohen Völkern giebt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt zu sein scheint: peinliche und im Grunde überflüssige Bestimmungen [ . . . ] , die aber die fortwährende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitte zu üben,

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Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Ende 1880. 7 [305] in: K G W V 1, S. 7 1 1 . Vgl. dazu Tönnies, Ferdinand: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin: Springer 1922, S. 53 ff. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches II/2, a . a . O . , § 7 7 , S . 2 2 5 .

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fortwährend im Bewußtsein erhalten: zur Bekräftigung des grossen Satzes, mit dem die Civilisation beginnt: jede Sitte ist besser, als keine Sitte." 27 Die Sitte erzwingt den Gehorsam des einzelnen, sie verlangt von ihm ein eigentlich nutzloses, lediglich formal konformes Handeln oder Meinen. In ihrer Uneigentlichkeit liegt aber gerade ihr gesellschaftlicher Wert: indem sie formale Einheitlichkeit herstellt, pflanzt sie ein allgemeines Bewußtsein für ,richtiges' Verhalten überhaupt und schafft so der Gesellschaft, in der sie geübt wird, eine feste Bewertungsgrundlage: aus dem langen Gehorsam gegen Sitten entsteht zuletzt das Gefühl für Sittlichkeit. Sittlichkeit ist „eben nur die Empfindung für den ganzen Inbegriff von Sitten [ . . . ] , unter denen man lebt und erzogen wurde - und zwar erzogen nicht als Einzelner, sondern als Glied eines Ganzen, als Ziffer einer Majorität. - So kommt es fortwährend vor, dass der Einzelne sich selbst, vermittelst seiner Sittlichkeit, m a j ο r i s i r t." 2S Anhand des verinnerlichten Kanons der Sitten kann das Individuum eigene und fremde Handlungen auf ihre Sittlichkeit' hin bewerten. So drückt die Sitte zwar den einzelnen, gibt ihm andererseits aber auch die Freiheit und die kaum anzutastende Autorität des sittlichen Urteilens über die Handlungen anderer. Der sittliche Mensch steht niemals allein; er ist fest in der Vergangenheit seiner Gesellschaft verankert; er weiß die Macht von Meinungen hinter sich, die alle Zeitlichkeit längst überwunden und denen sich viele Generationen unterworfen haben, und dies ,majorisiert' ihn: selbst wenn die Unsittlichen einmal in der U b e rzahl sein sollten - er ist jedenfalls im Übergewicht. So liegt im Gefühl für Sittlichkeit der letzte Sinn der Sitte, und „der Mensch wurde, mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht." 29 Sitte und Sittlichkeit sind auch wesentliche Faktoren beim Entstehungs-, Ausbreitungs- unci Wandlungsprozeß neuer öffentlicher Meinungen: sie bestimmen mit, welche Meinungen zulässig - ,sittlich' - sind und wie schnell sich die Öffentliche Meinung ändern kann. Ist in einer Gesellschaft die Tradition stark und das Gefühl einer Pflicht gegen das Überlieferte allgemein hochentwickelt, so kann sich sozialer Wandel nur langsam vollziehen, denn „die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuerer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt."' 0 Auf dem Boden der Sitten, also jener Meinungen und Verhaltensweisen, die man berücksichtigen muß, wird erkennbar, welche weiteren man haben darf. Durch das Gewicht der Sitte und das Band der Sittlichkeit

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Ders.: Morgenröthe, a . a . O . , §16, S.25. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/l, a . a . O . , §89, S.48. Ders.: Zur Genealogie der Moral. - Zweite Abhandlung: ,Schuld', .schlechtes Gewissen' und Verwandtes, § 2 , in: K G W VI 2, S.309. Ders.: Morgenröthe, a . a . O . , §19, S.28.

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wird die gegenwärtige Themenstruktur der öffentlichen Kommunikation in Geschichte und Überlieferung verankert: so bleibt ein stetiges, kalkulierbares Fortschreiten gewährleistet. Anders in Zeiten des Umbruchs, in Zeiten der Entwurzelung des Menschen und seiner Werte, in denen das Leben und Meinen nur noch geringfügig vom Althergebrachten bestimmt wird und der Kreis der Sittlichkeit sich immer enger und unscheinbarer zusammenzieht: das Feld der Möglichkeiten öffentlichen Meinens verbreitert sich dann in dem Maße, in dem sich die Gebundenheit an Sittenrichtlinien auflöst; es wächst aber auch die Gefahr für das Individuum, weil die Berechenbarkeit der anderen schwindet und die individuelle Berufung auf ,Sittlichkeit' keinen wirksamen Schutz mehr bietet. In einer solchen Epoche sieht sich Nietzsche: „Im Verhältniss zu der Lebensweise ganzer Jahrtausende der Menschheit leben wir jetzigen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit: die Macht der Sitte ist erstaunlich abgeschwächt und das Gefühl der Sittlichkeit so verfeinert und so in die Höhe getragen, dass es ebenso gut als verflüchtigt bezeichnet werden kann."31 In geschichtlichen Lagen dieser Art steht der gesellschaftliche Zusammenhalt andauernd in Frage: Er ist selbst in gröbsten Grundzügen nicht mehr vorgegeben, weil die Verpflichtung auf eine Sitte, in die jede neue Generation organisch hineinwächst, nicht mehr zwangsläufig und natürlich erfolgt. Nichts versteht sich mehr ,νοη selbst', alles bedarf der täglich erneuerten Rechtfertigung und Bewährung durch labile, kaum noch gemeingeistige Öffentlichkeit. Integration wird nicht mehr auf einem soliden Fundament dauerhafter Meinungen bewerkstelligt, sondern besteht nurmehr im Konflikt von Tagesmeinungen. Der greifbare Niederschlag dieses Wandels ist in Nietzsches Augen der Parlamentarismus, „das heisst die öffentliche Erlaubniss, zwischen fünf politischen Grundmeinungen wählen zu dürfen [ . . . ] - Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Heerde gegen sich."3- Die fünf öffentlichen Meinungen als die Öffentliche Meinung: dies ist die neue und härtere Knechtschaft, die das Vakuum ausfüllt, das die allmähliche Loslösung des Menschen von Sitte und Sittlichkeit geschaffen hat. Der Druck auf den einzelnen ist dadurch gestiegen. Kam er unter der Herrschaft der Sitte noch von außen und von innen - eben als persönliches Empfinden für Sittlichkeit - , so wird er nunmehr immer einseitiger von der unmittelbar gegenwärtigen Umwelt erzeugt, und es fehlt ihm im ,Zeitalter der öffentlichen Meinungen' die große Gesamtrichtung und die allumfassende Dauerhaftigkeit: er baut sich plötzlich und zerstörerisch an Einzelheiten auf, ohne in Permanenz das Ganze von innen zu stützen und zu tragen. 31 32

Ebd., §9, S. 17. Ders.: Die fröhliche Wissenschaft. - § 174, in: K G W V 2, S. 178f.

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Die erlebte Öffentliche Meinung: Polarität des Schweigens und Angst vor Vereinsamung Nietzsche traut den Formeln des Liberalismus nicht. Mag auch die Meinungsfreiheit allerorten proklamiert werden - für ihn bleibt doch unverändert gültig: „Je mehr sich Einer gehen lässt, um so weniger lassen ihn die anderen gehen."" Es ist statthaft, sich im sozialen Leben dieser oder jener sozialen Gruppierung anzuschließen; wer sich aber völlig abschließt, zieht den allgemeinen Unmut auf sich: „ - Wer die Menschen als Heerde betrachtet, und vor ihnen so schnell er kann flieht, den werden sie gewiss einholen und mit ihren Hörnern stossen." 34 Individualität ist trotz aller gegenteiligen Bekundungen der Zeit nur in Grenzen gestattet; schreibt Nietzsche zunächst noch zurückhaltend: „Ein guter Schriftsteller hat nicht nur seinen eigenen Geist, sondern auch den Geist seiner Freunde" 3 5 , so stellt sich ihm dieser ,Collectivgeist' einige Jahre später viel schärfer dar: „Ein Talent haben ist nicht genug: man muss auch eure Erlaubniss dazu haben, - wie? meine Freunde?" 3 6 Und selbst gesetzt, daß diese Erlaubnis erteilt wird, so geht doch die Aufforderung mit ihr einher, man möge auf jeden Fall ,sich selber treu bleiben': „Unsere Anhänger vergeben es uns nie, wenn wir gegen uns selbst Partei ergreifen: denn diess heisst, in ihren Augen, nicht nur ihre Liebe zurückweisen, sondern auch ihren Verstand blossstellen." 37 Wer in der Öffentlichkeit meint, sagt damit nicht nur etwas über den Gegenstand seines Meinens, sondern auch über sich selber. Mit jeder neuen Meinung, die er äußert, bindet er sich zugleich ein wenig fester an die immer umfänglicher werdende öffentliche Meinung, die er durch sein Meinen von sich erzeugt. So verhindert die Kommunikation, daß einer auf Dauer als „das n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e T h i e r " denken, reden und handeln kann. 38 Gelingt derlei soziale Kontrolle jedoch nicht, so wird das Schweigen als Waffe eingesetzt. Nietzsche lernt dieses wirksamste Zwangsmittel der Öffentlichkeit - die Verweigerung von Kommunikation - mit jeder seiner Publikationen aufs N e u e kennen. Verbittert klagt er wenige Wochen vor seinem geistigen Zusammenbruch: „Zehn Jahre: und Niemand in Deutschland hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen das absurde Stillschweigen zu

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Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/l, a . a . O . , §83, S.46. Ebd., §233, S. 121. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , §180, S. 164. Ders.: Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., § 151, S. 99. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/l, a . a . O . , §309, S. 141. Ders.: Jenseits von Gut und Böse, a . a . O . , §62, S. 79.

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vertheidigen, unter dem er vergraben lag" 39 ; er leidet unter dieser völligen Wirkungslosigkeit und schlimmer noch unter der repressiven Toleranz seiner wenigen Bekannten - „es liegt mehr Cynismus im Wohlwollen gegen mich als in irgend welchem Hass..." 4 0 am schlimmsten aber empfindet er „die schauerliche Stille, die man um sich hört. Die Einsamkeit hat sieben Häute; es geht Nichts mehr hindurch. Man kommt zu Menschen, man begrüsst Freunde: neue Ode, kein Blick grüsst mehr." 41 Das kollektive Schweigen, „eine Art Inquisitionscensur, in der es die Deutschen [ . . . ] weit gebracht haben" 42 , löscht den Menschen aus: er ist zwar physisch zugegen, aber als geistige Existenz ein Niemand. „Man büsst es theuer," blickt Nietzsche auf seine philosophische Leistung zurück, „unsterblich zu sein: man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten. -" 4 3 Das Schweigen der Öffentlichkeit oder ihr Verschweigen dessen, was dem Individuum als sein Eigentliches, Wesentliches, Unverwechselbares gilt, ist auf eine ganz bestimmte Wirkung berechnet: „ D a s S c h w e i g e n d e s E k e l s . Da macht Jemand als Denker und Mensch eine tiefe schmerzhafte Umwandlung durch und legt dann öffentlich Zeugniss davon ab. Und die Hörer merken Nichts! glauben ihn noch ganz als den Alten! — Diese gewöhnliche Erfahrung hat manchem Schriftsteller schon Ekel gemacht: sie hatten die Intellectualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten sich, als sie ihren Irrthum wahrnahmen, das Schweigen an." 44 Die Ignoranz und das Schweigen des Kollektivums sollen letzten Endes das abweichende Individuum zum Schweigen bringen. Der sozialpsychologische Wirkungszusammenhang ähnelt jenem zwischen der kollektiven und der individuellen Furcht: hier führt das Schweigen als Mittel der sozialen Kontrolle zum Schweigen als Erzeugnis der sozialen Kontrolle, so daß im Prozeß der Öffentlichen Meinung nicht nur von einer ,Polarität der Furcht', sondern auch von einer Polarität des Schweigens gesprochen werden kann. Wer nicht ausdrücklich gegen die herrschende Meinung auftritt - sei es, weil seine entsprechenden Versuche totgeschwiegen werden, sei es, weil er von sich aus resignierend schweigt - , der ist für sie, meint Nietzsche, denn „jede Miene, die nicht verneint, gilt als Zustimmung; jede Handbewegung, die nicht zertrümmert, wird als Billigung gedeutet."45 39 40 41 42 43 44 45

Ders.: Ecce homo. - Der Fall Wagner, § 4 , in: K G W VI 3, S.361. Ebd. Eb{l., Also sprach Zarathustra, § 5, S. 340. Ders.: Unzeitgemäße III, § 3 , in: K G W III 1, S.349. Ders.: Ecce homo. - Also sprach Zarathustra, a . a . O . Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/2, a . a . O . , §246, S.299f. Ders.: Unzeitgemäße III, a. a. O., § 3, S. 350. - Das Schweigen als eine zwar ,nichtsprachliche', aber eben doch noch ,sprachrelative' Kommunikationsform (Hartig, Matthias / Kurz, Ursula: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik. 4.Aufl., Frankfurt/Main:

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Dabei hält er das ,Schweigen des Ekels' zweifellos für ein AusnahmeSchweigen: im Normalfall schweigt der einzelne viel weniger aus Verachtung gegen die Borniertheit der anderen als vielmehr aus dem Gefühl der Unterlegenheit gegen den gesellschaftlichen Druck und aus Furcht vor der Verlassenheit. Nietzsche ist überzeugt davon, daß diese in schweigendes Dulden umgesetzte Furcht vor der Öffentlichen Meinung bei manchen Menschen stärker entwickelt ist als selbst die Todesangst: „ D e r M ä r t y r e r w i d e r W i l l e n . - In einer Partei gab es einen Menschen, der zu ängstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen mehr als vor dem Tode fürchtete; es war eine erbärmlich schwache Seele. [ . . . ] Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den Lippen immer Ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er für die Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nämlich stand einer seiner alten Genossen, der ihn durch Blick und Wort so tyrannisierte, dass er wirklich auf die anständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Märtyrer und grosser Charakter gefeiert wird." 46 Tatsächlich legt Nietzsche besonders in den beiden Bänden ,Menschliches, Allzumenschliches' sowie in den nachgelassenen Aufzeichnungen aus deren Umkreis das Schwergewicht der Erklärung fast aller sozialer Beziehungen auf diese eine Ursache: „Aus der F u r c h t erklärt sich zumeist die Rücksicht auf fremde Meinungen" 47 , befindet er, um schließlich auch die ganze Epoche als das ,Zeitalter der Furcht' zu kennzeichnen: „Man lernt die Dinge, wie sie in anderen Köpfen sind, man lernt, wie sie geschätzt werden, man thut dasselbe in betreff der Mittel. Man ängstigt sich, abzuweichen, aufzufallen. Unsere Fertigkeiten sind das, was A n d e r e n nutzt und Freude macht. - Unsere größte Freude ist Anderen zu gefallen, unsere beständige Furcht ist, ihnen nicht gefallen zu k ö n n e n . " 4 S Selbst die Sittlichkeit ist ,so verfeinert und in die Höhe getragen, daß sie genauso gut als verflüchtigt bezeichnet werden kann'; angesichts zunehmender Sittenfreiheit besteht sie nicht mehr im Gehorsam gegen Sitten, sondern sie wird auf der Ebene des Halb- und Unbewußten als Bereitwilligkeit zur Furcht vor dem Druck der anderen geübt: „Sittlich sein heißt: in hohem Grade der

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Suhrkamp 1973, S. 37) hat Nietzsche immer wieder stark beschäftigt; im Schweigen sieht er eine der vielsagendsten wie auch der gewalttätigsten Möglichkeiten menschlichen Umgangs; nichts zwingt so sehr zu Selbstreflexion und Selbstpeinigung wie das Angeschwiegenwerden (vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, a. a. O . , § 326, S. 251). Hier wäre auch kulturgeschichtliche Forschung sicher aufschlußreich: im Hebräischen z . B . lassen sich ,Gewalt' und ,Schweigen' etymologisch auf dieselbe W o r t w u r z e l zurückführen. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 7 3 , S. 81. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Ende 1876 - Sommer 1877. 23 [183] in: K G W IV 2, S. 565. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Anfang 1880. 1 [96] in: K G W V 1, S. 357.

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Furcht zugänglich sein; Furcht ist die Macht, von welcher das Gemeinwesen erhalten wird. - [ . . . ] - Die Verfeinerung der Sittlichkeit nimmt mit der Verfeinerung der Furchtsamkeit zu. Jetzt ist die Furcht vor unangenehmen Empfindungen anderer Menschen fast die stärkste unserer unangenehmen Empfindungen. Man möchte gar zu gerne so leben, daß man nichts mehr thue, als was Anderen a n g e n e h m e Empfindungen macht und selber an nichts mehr Vergnügen habe, bei dem nicht diese Bedingung erfüllt wird." 4 ' Schließlich faßt Nietzsche in der ,Morgenröthe' den Prozeß der Sozialisation und der sozialen Kontrolle, wie er sich über Furcht, Kommunikation und Öffentlichkeit am Individuum entwickelt, mit den Worten zusammen: „Alle Handlungen gehen auf Werthschätzungen zurück, alle Werthschätzungen sind entweder e i g e n e oder a n g e n o m m e n e , - letztere bei Weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht, - das heisst: wir halten es für rathsamer, uns so zu stellen, als ob sie die unsrigen wären - und gewöhnen uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist." 50 Wie verschiedenartig sich diese soziale Furcht auch äußern und welche Aktivitäten sie auch hervorbringen mag - Nietzsche führt sie letztlich immer auf eine einzige Ur-Angst zurück: die Angst vor der Einsamkeit. Das Totschweigen und überhaupt alle psychischen Druckmittel der Gesellschaft sind darauf angelegt, diese Angst im Individuum zu wecken, sobald es sich in Meinungen oder Handlungen von der ,Herde' zu entfernen scheint und über das allgemein erlaubte Maß hinaus original sein will. Das Erzeugen von Isolationsfurcht ist schon in den ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' und besonders am Beispiel ,Schopenhauer als Erzieher' ein Thema Nietzsches; auch dieses ins Ideal gesteigerte Vorbild trug, wie jeder Mensch, „eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens"; aber Schopenhauer stand fest und öffentlich zu dieser Einzigkeit, die für ihn eine Fülle von Unannehmlichkeiten nach sich z o g : „Es ist kein Zweifel, dass für den Ungewöhnlichen, der sich mit dieser Kette beschwert, das Leben fast Alles [ . . . ] einbüsst; das Loos der Vereinsamung ist das Geschenk, welches ihm die Mitmenschen machen; die Wüste und die Höhle sind sofort da, er mag leben, wo er will." 51 In Schopenhauer sieht Nietzsche den Typus des Avantgardisten, der überall und zu allen Zeiten bekämpft wird, obwohl man nirgendwo und niemals ohne ihn auskommen könnte; wie er, so wird jeder Nonkonformist irgendwann einmal „vor einen Kreuzweg gestellt; auf dem einen Wege gehend ist er seiner Zeit willkommen, [ . . . ] , hinter seinem Rücken werden ebenso viele Gleichgesinnte, wie vor ihm stehen, und wenn der Vordermann das Losungswort ausspricht,

« Ebd., Frühjahr 1880. 3 [119], S.412ff. 50 Ders.: Morgenröthe, a . a . O . , §104, S.90. 51 Ders.: Unzeitgemäße III, a . a . O . , §3, S.355.

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so hallt es in allen Reihen wieder. [ . . . ] Der andre Weg führt ihn mit seltneren Wanderschaftsgenossen zusammen, er ist schwieriger, verschlungener, steiler; die welche auf dem ersten gehen, verspotten ihn, weil er dort mühsamer schreitet und öfter in Gefahr kommt, sie versuchen es, ihn zu sich herüber zu locken. Wenn einmal beide Wege sich kreuzen, so wird er gemisshandelt, bei Seite geworfen oder mit scheuem Beiseitetreten isolirt." 52 Als unzeitgemäßer Betrachter hatte Nietzsche die Sozialpsychologie noch der Proklamation seiner hochherzigen Ziele untergeordnet; nun aber rückt sie — und mit ihr das Phänomen der Isolationsfurcht — ins Zentrum seines Ineresses: er greift die alten Nebenstränge seines Denkens wieder auf, knüpft sie weiter und verbindet sie miteinander. Das öffentliche Leben und Meinen, so lautet nun sein Befund, täuscht sich und anderen die Rationalität nur vor; seine ultima ratio ist im Ernstfall gerade nicht die unbedingte Gültigkeit der Vernunft, sondern der Appell an ein ganz bestimmtes Gefühl: „ D a s A r g u m e n t d e r V e r e i n s a m u n g . - [ . . . ] Ein kalter Blick, ein verzogener Mund von Seiten Derer, unter denen und für die man erzogen ist, wird auch vom Stärksten noch g e f ü r c h t e t . Was wird da eigentlich gefürchtet? Die Vereinsamung! als das Argument, welches auch die besten Argumente für eine Person oder Sache niederschlägt! - So redet der Heerden-Instinct aus uns." 53 Das ,Argument der Vereinsamung' kehrt in jedem Meinungsbildungsprozeß wieder, sei es nun schon am Anfang, indem der einzelne sich von vornherein nur die öffentlich erlaubten Meinungen gestattet, oder sei es am Ende, indem er sich mit seiner freien, aber abweichenden Meinung alleingelassen sieht. In dem Aphorismus ,Das Gefährliche an freien Meinungen' gibt Nietzsche einen Abriß des Unvermeidlichen: „Das leichte Befassen mit freien Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art Jucken;" - : das Individuum wird sich seiner selbst bewußt, indem es sich die Freiheit des Meinens, die Freiheit zu seinen Meinungen nimmt. Dieses originale Meinen ist mehr als nur das belanglose Äußern irgendeiner Einstellung — es ist autonomes Handeln und wird vom Meinenden daher als Reiz, als Ermutigung zu sich selber empfunden, aber: „giebt man ihm mehr nach, so fängt man an, die Stellen zu reiben;" - , das heißt: die eigenen Meinungen, ernst und wichtig genommen, werden bald als Persönlichkeitsmerkmal erkennbar und damit öffentlich, „bis zuletzt eine offene schmerzende Wunde entsteht, [ . . . ] bis die freie Meinung uns in unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stören, zu quälen beginnt." 54 Dies ist der Punkt, an dem der einzelne vor der Entscheidung steht, sich entweder von seiner Meinung oder von seiner Gesellschaft zu trennen. Nietz52 53 54

Ebd., § 6 , S. 398. Ders.: Die fröhliche Wissenschaft, a . a . O . , §50, S.89. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , §605, S.356.

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sehe meint - und er greift damit wieder auf eine Hypothese aus der Periode der ,Unzeitgemäßen' zurück - : Der Entschluß gegen das Ich und für die anderen wird die Regel sein, denn der moderne Mensch ist tatsächlich innerlich so ausgehöhlt, daß er dem Isolationsdruck nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. „Jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen, aber wir wollen nicht hören; wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind, dass uns etwas in das Ohr geraunt werde - und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch Geselligkeit."" Er sieht drohend den „kaum mehr steigerbaren Zustand innerer Unsicherheit, indem sich der abendländische Mensch unserer Tage befindet"' 6 : dieser Zustand verurteilt ihn zu einer Soziabilität, die ihm unter dem dauernden Anpassungsdruck der Öffentlichen Meinung zwar zum Spießrutenlauf wird, aber ohne sie und alle Öffentlichkeit würde ihm das Leben unerträglich. Nicht die anderen sind die Hölle, wie Sartre - Nietzsche mißdeutend gemeint hat, sondern der moderne Mensch ist sich selber die Hölle und zieht aus der Furcht vor dem Alleinsein mit sich selber erst die anderen zu seinen Peinigern groß. Die Isolationsfurcht des Durchschnittsindividuums ist im Grunde nur verkappte Selbstfurcht: „,Ich bekomme mir nicht gut' sagte Jemand, um seinen Hang zur Gesellschaft zu erklären. ,Der Magen der Gesellschaft ist stärker, als der meinige, er verträgt mich.'" 57 Die Palette der Signale, mit denen beim einzelnen Isolationsfurcht hervorgerufen werden kann, weist Viele Nuancen auf. Das Totschweigen zählt sicher zu den gröbsten Maßnahmen, denn es verharrt nicht auf der Ebene des Drohens, sondern zielt sofort darauf ab, eine abweichende Meinung auf keinen Fall öffentlich werden zu lassen. Anders der ,kalte Blick', der ^ e r z o gene Mund', mit dem die Vertreter der vorherrschenden Meinung dem Individuum zu verstehen geben, daß es zumindest noch die Wahl hat zwischen Vereinsamung und Konformität: der einzelne ist noch nicht aufgegeben und als Feind identifiziert, man trennt ihn noch nicht völlig ab und läßt ihm noch den Weg zur ,Umkehr' offen. Seiner sozialen Natur entsprechend, hat der Mensch eine hohe Empfindsamkeit für derlei symbolische Kommunikation entwickelt; die geringsten Andeutungen der Umwelt bezieht er sogleich auf sich und sein Verhalten, vergleicht sie mit früheren Erfahrungen, ordnet sie ein, macht sich aus ihnen ein vollständiges Bild von der Meinung der anderen zurecht: „Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung." 58

Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr-Sommer 1874. 34 [24] in: K G W III 4, S . 4 1 7 . Hofstätter, Peter R.: Die Psychologie der öffentlichen Meinung. W i e n : Wilhelm Braumüller o.J., S.97. 57 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches II/2, a . a . O . , § 2 3 5 , S.297. s» Ders.: Die fröhliche Wissenschaft, a. a. Ο . , § 114, S. 152. 55

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Lob und Tadel, der Ruhm, der gute Ruf, die Ehre und die Schande Die Gesellschaft nimmt kaum je individuelle Meinungen und Handlungen interesselos' zur Kenntnis, sondern wertet in der Regel alles, was der einzelne öffentlich werden läßt: „Was wir thun, wird nie verstanden, sondern immer nur gelobt und getadelt."59 Wer lobt und tadelt, will richten und Macht beweisen, er greift auf Allgemeingültiges zurück und damit über sich hinaus, er führt moralische Maßstäbe in die Kommunikation ein und ,majorisiert' sich an ihnen, - kurz: wo Lob und Tadel laut werden, verwirklicht sich ö f f e n t l i che Meinung'. Wo Öffentlichkeit' sich tadelnd gegen einen einzelnen wendet, wird ersichtlich Konformitätsdruck auf Meinungsbasis ausgeübt und auf Isolationsfurcht spekuliert. Nietzsche behauptet ersteres aber auch vom Lob und sieht Lob und Tadel eingespannt in die Polarität der Furcht: „Ob man lobt oder tadelt: man fürchtet dabei. Mit dem Tadel wollen wir uns fürchten machen, mit dem Lobe wollen wir den Andern heimlich einnehmen, ihn mit uns versöhnen oder uns auf die Seite jener Macht bringen, die wir fürchten." 60 Getadelt wird immer eine Mißachtung der Öffentlichen Meinung: es gilt, mit dem Tadel einen Normverletzer daran zu erinnern, daß er seine Freimütigkeit gegebenenfalls mit dem Verlust sozialer Bindungen bezahlen muß. Aber auch der Gelobte hat vorerst die Norm verletzt, allerdings ohne sie zu mißachten, sondern im Gegenteil: er hat sich ihr in überdurchschnittlicher Konformität ergeben. Der Getadelte ist Objekt sozialer Kontrolle, weil er sich gegnerisch verhält; der Gelobte ist Objekt sozialer Kontrolle, weil er sich bejahender als üblich verhält - beide also letztlich aus dem gleichen Grund: weil sie die innere Balance der Öffentlichkeit stören. Ersterer wirkt als Gefahr, weil er durch sein Auftreten die Gültigkeit der herrschenden Meinung mißachtet, letzterer, weil er durch sein Verhalten dem öffentlich Meinenden Selbstzweifel macht. Mit dem Lob wird der Ubereifrige resozialisiert: „ G e g e n d i e L o b e n d e n . - Α.: ,Man wird nur von Seinesgleichen gelobt!' B.: J a ! Und wer dich lobt, sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!'" 61 Das Lob hat die Funktion eines ,re-equilibrating mechanism' 62 : es ist eine Anerkennung, die herabzieht, indem sie zu erhöhen vorgibt. Daher sieht Nietzsche in ihm auch mehr Zudringlichkeit als im Tadel63 und wertet es als sicheres Anzeichen für noch nicht erreichte 55 60 61 62

63

Ebd., § 2 6 4 , S. 196. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1880. 3 [43] in: K G W V 1, S . 3 8 8 . Ders.: Die fröhliche Wissenschaft, a. a. O., § 190, S. 182. Ein Ausdruck, mit dem Parsons alle Techniken sozialer Kontrolle umfaßt; vgl. Parsons, Talcott: The Social System. Glencoe, III.: The Free Press 1952, S.206. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von G u t und Böse, a. a. O., § 170, S. 102.

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Unabhängigkeit: „So lange man dich lobt, glaube nur immer, dass du noch nicht auf deiner eigenen Bahn, sondern auf der eines Andern bist."64 Das Lob enthält ähnlich Entmutigendes und Abtötendes wie das isolierende Anschweigen, - es vermittelt jenen ,Cynismus des Wohlwollens', der kundtut, daß ,man' trotz aller Anstrengungen des Gelobten immer noch auf einer Höhe mit ihm ist: „Der Enttäuschte spricht. - ,Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte nur Lob -"' 65 . Nietzsche deutet das Lob als maskierte Rache: es soll einer eigenständigen Leistung das herausfordernde, die ,Trägheit der Masse' beleidigende Moment nehmen und sie umwerten von einem Beweis der Individualität in ein Symptom der Kollektivität: „ - Was ist also l o b e n ? Eine Art A u s g l e i c h u n g [ . . . ] , ein Z u r ü c k g e b e n , ein Bezeugen u n s e r e r Macht - denn der Lobende bejaht, urtheilt, schätzt ab, r i c h t e t : er gesteht sich das Recht zu, bejahen zu k ö n n e n , Ehre austheilen zu k ö n n e n ,.." 6 6 Aus dem fortwährenden Lob in der Öffentlichkeit entsteht der Ruhm. Ist das Lob zunächst ein Mittel der sozialen Kontrolle auf der Ebene personaler Kommunikation, so fungiert der Ruhm als Kontrollmittel auf der MakroEbene und in dauerhaften Sozialbeziehungen. Wo gerühmt wird, macht sich die Öffentliche Meinung aus Taten ihr Bild des Täters zurecht. Sie verehrt nur dieses Bild und will auch nichts anderes verehren: der mit seinen Taten berühmte Mensch hinter diesem Bild bleibt ihr immer fremd, ja verdächtig, und „wer weiss, ob sich nicht bisher in allen grossen Fällen das Gleiche begab: dass die Menge einen Gott anbetete, - und dass der ,Gott' nur ein armes Opferthier war! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, - und das ,Werk' selbst ist ein Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist in seine Schöpfungen verkleidet, bis in's Unerkennbare; das ,Werk', das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die ,grossen Männer', wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein; in der Welt der geschichtlichen Werthe h e r r s c h t die Falschmünzerei." 67 Der Ruhm, meint Nietzsche, soll außerordentliche Menschen nicht etwa noch stärken, sondern schwächen, er soll sie verführen und verpflichten; so begeben sich viele Berühmte irgendwann freiwillig in den goldenen Käfig der positiven

M 65 66

67

Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/l, a . a . O . , § 3 4 0 , S. 154. Ders.: Jenseits von G u t und Böse, a . a . O . , § 9 9 , S . 9 1 . Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887. 9 [79] (58) in: K G W VIII 2 S . 4 0 . - Indem Nietzsche so ausschließlich - und in angemessenen Grenzen sicher zu Recht - die soziale Rückbindungskraft des Lobes betont, übersieht er freilich, daß öffentliche Auszeichnung unter Umständen auch ermunternd und damit gerade nicht re-sozialisierend wirken kann. Hier tritt die Schwäche seiner introspektiven Psychologistik, das Fehlen eines .soziologischen Blicks' offen zutage. Ders.: Jenseits von G u t und Böse, a . a . O . , § 2 6 9 , S . 2 3 3 f .

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Öffentlichen Meinung, um schließlich an der Selbstverachtung zu zerbrechen, die sie bei der dauernden Verkleidung in ihr öffentliches Stereotyp empfinden. „Wann war je ein großer Mensch sein eigener Anhänger und Liebhaber? Trat er doch von sich selber beiseite, als er auf die Seite der Größe trat!" 68 Jeder auf Dauer Berühmte muß ein Abhängiger sein: „Die Diktatoren sind les domestiques du peuple, nichts mehr; und der R u h m ist das Resultat der Anpassung - l'adaption d'un esprit ä la sottise nationale Die Sozialisation durch Ruhm allerdings vom Standpunkt einer Moral her verwerfen zu wollen, ist müßig: „Wer nicht begriffen hat, dass jeder grosse Mann nicht nur gefördert, sondern auch, der allgemeinen Wohlfahrt wegen, b e k ä m p f t werden muß, ist gewiss noch ein grosses Kind - oder selbst ein grosser Mann." 70 Der Ruhm verdünnt jene Eigenschaften, um derentwillen man beirühmt wurde: „ V e r l u s t i m R u h m e . - Welcher Vorzug, als ein Unbekannter zu den Menschen reden zu dürfen! ,Die Hälfte unserer Tugend' nehmen uns die Götter, wenn sie uns das Incognito nehmen und uns berühmt machen." 71 Hier kommt Nietzsche auch noch einmal auf die mögliche D y s funktionalität des Öffentlichen zu sprechen: „Ich beklage die Fürsten: es ist ihnen nicht erlaubt, sich zeitweilig im Verkehre zu annulliren und so lernen sie die Menschen nur aus einer unbequemen Lage und Verstellung kennen; der fortwährende Zwang, Etwas zu bedeuten, macht sie zuletzt thatsächlich zu feierlichen Nullen. - U n d so geht es Allen, welche ihre Pflicht darin sehen, Symbole zu sein." 72 Der Ruhm erzeugt jene „allgemeinen öffentlichen Musterbilder" 7 3 , nach denen L o b und Tadel erteilt wird; er wirkt damit auch auf diejenigen zurück, an denen er sich eigentlich gebildet hat. Der Berühmte ist nicht die freieste, sondern eine der unfreiesten Personen in der Gesellschaft: die Macht der Öffentlichen Meinung und damit der sozialen Kontrolle verringert sich nicht etwa, je höher sich das Individuum über deren hauptsächliche Operationsebene erhebt, sondern sie verstärkt sich vielmehr in dem Maße, in dem ein einzelner immer geachteter und damit immer beachteter und damit immer öffentlicher' wird. - 74 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer 1883. 13 [1] in: K G W VII 1, S.462. " Ders.: Nachgelassene Fragmente, November 1887 - März 1888. 11 [206] in: K G W VIII 2, S.325. - Die Notiz basiert auf einer Stelle aus Baudelaires .CEuvres Posthumes'; vgl. ebd., S.VII. 70 Ders.: Menschliches, Allzumenschliches II/2, a . a . O . , §191, S.99. 71 Ders.: Morgenröthe, a . a . O . , §466, S.284. 72 Ebd., §526, S. 306. 73 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1880. 6 [308] in: K G W V 1, S. 607. 74 Siehe dazu Homans, George C.: The Human Group. 5. Aufl., London: Routledge & Kegan Paul 1965, bes. den Abschnitt ,Social Ranking and Leadership' in Kap. VI, S. 147 ff., ebenso Kap. VII ,The Norton Street Gang', S. 156 ff. und Kap. VIII ,The Position of the Leader', S. 172 ff. 68

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Kann der Ruhm als Versuch vertikaler sozialer Kontrolle durch Öffentliche Meinung bezeichnet werden, so erfüllt diese Funktion auf der Horizontalen - also unter Gleichen - der ,gute Ruf'. Der Ruf ist das, was öffentlich über das Pflichtbewußtsein eines Menschen gegen die Erwartungen seiner Umwelt bekannt ist, wobei Nietzsche allgemein voraussetzt: „Unsere Pflichten - das sind die Rechte anderer auf uns."75 Die private Einstellung des Individuums kommt für seinen Ruf zunächst nicht in Betracht; wichtig erscheint allein, daß der einzelne die öffentlichen Anforderungen formal erfüllt. Nietzsche sieht allerdings, daß öffentliche und private Sphäre oft untrennbar ineinander gewachsen sind, wobei die Macht des Öffentlichen immer wieder fühlbar wird: „Wer hat nicht für seinen guten Ruf schon einmal - sich selbst geopfert? -" 76 Zwar ist auch der Ruhm eine Form des Rufs, aber es gibt doch Unterschiede zwischen beiden. Ruhm und Lob gehören von vornherein zusammen, während ein Ruf sowohl gut als auch schlecht sein kann; der Ruhm ist auch nur schwer übertragbar, der Ruf hingegen kann dem einzelnen gleichsam ,angehängt' werden: man hat immer seinen persönlichen Ruhm, aber durchaus nicht immer seinen selbstverantworteten Ruf: „Verwandte eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist."77 Wer Ruhm erlangen will, muß vor allem darauf bedacht sein, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und einzusetzen; wer seinen Ruf wahren will, muß gesteigerte Sorge tragen für die Normerfüllung in seiner unmittelbaren Umgebung, in der Familie, in der Verwandtschaft, bei den Freunden. Wo es um guten oder schlechten Ruf geht, droht immer auch die Sippenhaft; das Schicksal des Berühmten dagegen bildet, wie gezeigt, die Einzelhaft in andauernder Öffentlichkeit. Die Sorge um den guten Ruf nennt Nietzsche ,Ehrgefühl', während er das Bemühen um Ruhm als ,Ehrgeiz' versteht. Anders als Paul Ree, dessen Kategorisierungen sich hier im wesentlichen mit seinen decken, hält er aber Ehrgeiz und Ehrgefühl nicht für gänzlich verschiedene, standesgebundene Affekte. 75 Zwar definiert er das Ehrgefühl negativ als „Furcht vor der schlechten Nachrede" 79 , legt aber auch Wert darauf, daß es ein ,Princip der Ehre' gibt, das mit der Vergesellschaftung des Menschen entstanden sein muß und dessen

75 76 77 78

79

Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe, a . a . O . , § 1 1 2 , S.98. Ders.: Jenseits von G u t und Böse, a . a . O . , § 9 2 , S.90. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 3 2 2 , S . 2 5 1 . Vgl. Ree, Paul: Der Ursprung der moralischen Empfindungen. Chemnitz: Ernst Schmeitzner 1877, S. 122. - Hier verfällt Ree auf den etwas pauschalen Gedanken, daß beispielsweise O f f i z i e r e besonders durch Ehrgeiz (d.h. Auszeichnungsdrang), Gemeine besonders durch Ehrgefühl (d. h. Furcht v o r Schande) motiviert würden. Nietzsche, Friedrich: Mahnruf an die Deutschen, in: K G W III 2, S. 388.

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ursprünglich rein persönlichem Nützlichkeitsdenken entgegenwirkt. Indem der Mensch nach dem Prinzip der Ehre handelt, „ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen Empfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete: er achtet und will geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen." 80 Unter der Herrschaft der Sitte hieß ,ehrbar sein' ebensoviel wie ,sittlich sein'; unter der mehr oder weniger reinen Herrschaft der flüchtigen öffentlichen Meinungen liegt die Ehre des einzelnen im wesentlichen darin, daß er jenem Bild entspricht, das die anderen sich von ihm gemacht haben, und daß er so berechenbar bleibt. Dies kann bedeuten, daß er die Ehre vor sich selber der Ehre vor der Gesellschaft opfern muß - und der außengeleitete Moderne wird es meist zwangsläufig tun, meint Nietzsche, denn: „Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen empfindlicher, als die durch sich selbst" 81 , sie ist, wenn sie moralisch argumentiert, sogar „eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgend ein Verbrechen." 82 Das Gefühl der ,Ehre vor sich selber' sieht Nietzsche als ein allmählich verschwindendes Überbleibsel aus der Epoche der Traditions- und Innenleitung des Menschen, als jeder einzelne noch auf stabile Werte und Autoritäten verpflichtet war und die Öffentliche Meinung unter deren bewährter Herrschaft kaum nennenswerten Schwankungen unterlag. In der modernen Welt dagegen wird die Verpflichtung auf innere Ehre immer mehr von der Verpflichtung auf äußere Ehre verdrängt. „Auf Ruhm hast du den Sinn gericht? / Dann acht' der Lehre: / Bei Zeiten leiste frei Verzicht / Auf Ehre!" 83 reimt Nietzsche, um zu verdeutlichen, daß das ehemals einheitliche Prinzip der Ehre sich in ein dialektisches Verhältnis aufgespalten hat; und was vom Ruhm gilt, trifft in seinen Augen ebenso auf den Ruf zu: „Das, was wir von uns selber wissen und im Gedächtniss haben, ist für das Glück unseres Lebens nicht so entscheidend, wie man glaubt. Eines Tages stürzt Das, was A n d e r e von uns wissen (oder zu wissen meinen) über uns her - und jetzt erkennen wir, dass es das Mächtigere ist. Man wird mit seinem schlechten Gewissen leichter fertig, als mit seinem schlechten Rufe." 84 In diesem Zusammenhang lohnt sich auch ein - teilweise vorgreifender Blick auf Nietzsches Vorstellungen von der Funktion des Rechts. Mit dem Recht, so argumentiert er, wird dem einzelnen entweder Ehre wiedergegeben 80 81 82 83

84

Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, a . a . O . , § 9 4 , S. 89. Ebd., § 5 4 9 , S. 342. Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887. 10 [50] in: K G W VIII 2, S. 146. Ders.: Die fröhliche Wissenschaft, a . a . O . , .Scherz, List und Rache.' Vorspiel in deutschen Reimen, § 4 3 , S . 3 5 . Ebd., Erstes Buch, § 52, S. 90.

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- der Staat rächt sich in seinem Namen an einem, der ihn durch Betrug, Diebstahl oder ähnliches in der Öffentlichkeit als wehrlos bloßstellte oder es wird einem Menschen Ehre genommen, das heißt: er wird der Schande preisgegeben, wenn er ein Verbrechen begangen hat. Nietzsche wendet sich bewußt gegen den einfachen Utilitarismus in der Rechtsphilosophie Rudolph von Jherings: trotz mancher paralleler Ansätze, besonders was das Konzept der ,Sittlichkeit der Sitte' angeht, sehen beide einen jeweils anderen ,Zweck im Recht'. 83 Nietzsche sieht später diesen Zweck im Durchsetzen eines bestimmten Willens zur Macht; aber schon in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren vermeidet er, verschiedene ,sociale Imperative' so wie Jhering typologisch voneinander zu trennen, er weigert sich, die Ehre als dürren, in Strafmaß exakt aufzuwiegenden Rechtsbegriff zu nehmen, und vor allem bestreitet er, daß das Recht als Zwangsgewalt des Staates von Grund auf anderen ,mechanischen' - Gesetzmäßigkeiten folge als die Öffentliche Meinung, die Zwangsgewalt der Gesellschaft, die sich der Psyche bediene.86 Für Nietzsche ist nicht entscheidend, welche Mittel bei der Zwangsausübung im Spiele sind und ob der Druck auf das Individuum in Form einer mechanisch - das heißt: durch Einsperren, Anprangern oder ähnliches erwirkten Strafe oder sogleich durch psychischen Terror erfolgt. In seinen Augen ist die juristische Strafe gar nicht genau zu begrenzen, weil sie immer auch eine völlig unkontrollierbare und zumeist irreparable öffentliche Verurteilung des Bestraften nach sich zieht: „Ein seltsames Ding, unsere Strafe! Sie reinigt nicht den Verbrecher, sie ist kein Abbüssen: im Gegentheil, sie beschmutzt mehr, als das Verbrechen selber."87 Die Strafe ist kein gerechter' Ausgleich, den ein Schädiger der Gesellschaft zu entrichten hat, gegen die er angetreten ist, sondern in erster Linie ein Machtbeweis der Öffentlichkeit vor dem Verbrecher und vor sich selber, das heißt: ein Wiederausbalancieren der Öffentlichen Meinung: „Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und

Siehe Jhering, Rudolph von: Der Zweck im Recht. Erster Band, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1877 (hier zit. n. 3. Aufl. 1893). Zweiter Band: ebd. 1883 (hier zit. n. 3. Aufl. 1898). Nietzsche dürfte von Paul Ree auf Jherings Werk aufmerksam gemacht worden sein: eine Fußnote im zweiten Band ,Der Zweck im Recht' deutet darauf hin, daß Jhering und Ree sich kannten (S. 111). Jedenfalls hat Nietzsche in einem Brief aus St. Moritz (vermutl. 31. Juli 1879, Nr. 870 in: KGB II 5, S. 431 f.) seinen Freund Overbeck in Zürich gebeten: „Ein sonderbarer Bücherwunsch: kannst Du mir vielleicht [ . . . ] das letzte Buch Jherings ,Der Zweck im Recht' schicken?" Overbeck konnte zwar nicht, aber Nietzsche muß das Werk dann doch gelesen haben; jedenfalls bezieht er sich ausführlicher darauf in § 12 der 2. Abhandlung ,Zur Genealogie der Moral' (ersch. 1887): vgl. KGW VI 2, S. 329 ff., sowie das Fragment 7 [69] vom Frühjahr-Sommer 1883, K G W VII 1, S.273. " Zur Typologie der sozialen Imperative vgl. Jhering II, a. a. O., S. 57 und S. 230 f; zur Ehre als Rechtsbegriff ebd., S.497; zur Gegensatzbildung mechanisch/psychologisch ebd., S. 181. 87 Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe, a . a . O . , §236, S.201. 85

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Verhöhnung eines endlich niedergeworfenen Feindes." 8 8 Wenn an der Strafe etwas gefürchtet wird und abschreckt, so ist es viel weniger das formale Strafmaß als vielmehr die öffentliche Verachtung, Schande und Isolation, mit der ein Verbrecher noch leben muß, lange nachdem er juristisch seine Tat gebüßt hat. Nietzsche sieht im Grunde also überall Ehrenstrafen, und die ganze formaljuristische Kontrolle eines Staates wäre in seinen Augen wesentlich wirkungsärmer ohne die letzte und mächtigste Instanz ,Öffentliche Meinung'. In ihrem Angesicht ist der Verbrecher „häufig genug seiner That nicht gewachsen: er verkleinert und verleumdet sie" 8 ', und es liegt an ihr und an dem, was sie gegen den einzelnen heraufbeschwört, wenn er schließlich ,Reue' zeigt: „Man leidet an der Schande, nicht am Verbrechen. Wenige sind so f e i η , hier zu unterscheiden." 90 Aber nicht nur der Kriminelle, sondern auch der ,freie Geist' wird durch die Furcht vor Schande niedergehalten und unfruchtbar gemächt: „Die natürlichen Folgen einer Handlung werden wenig erwogen, so lange öffentliche Strafen und Beschimpfungen unter diesen Folgen sind. Hier fließt die große Quelle aller Oberflächlichkeit."" - Wo Gesellschaft ist, dort ist auch Öffentliche Meinung. Es gibt keine soziale Kontrolle, keine Institution, keine Erfindung des Menschen gegen den Menschen, die ohne die Legitimierung, die Verstärkung oder die Verwirklichung durch ,Öffentliche Meinung' denkbar wäre: dies ist das allgemeinste Fazit aus den soziologischen und sozialpsychologischen Versuchen der mittleren Schaffensperiode Nietzsches. Er schreibt an Paul Ree, wie erdrückend er die Totalität des Phänomens empfindet: „Es ist so viel ü b e r f l ü s s i g e N o t h im Leben, man sollte doch am Schmerz schon genug haben. D a kommt aber alles Leidwesen noch hinzu, welches die M e i n u n g e n mit sich bringen. - / Weshalb fühlt man sich so wohl in der freien Natur? Weil diese keine Meinung^tiber uns hat. - " ' 2

Ders.: Zur Genealogie der Moral. - Zweite Abhandlung, a. a. O., § 13, S. 334. Ders.: Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., § 109, S. 92. 90 Ders.: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1880. 6 [390] in: K G W V 1, S.627. " Ders.: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1882. 3 [1] in: K G W VII 1, S. 66. 92 Ders. an Paul Ree in Jena, Brief aus der 2. Julihälfte 1877. Nr. 627 in: K G B II 5, S.426. 88

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3.2.2. Gegenkontrolle: Die Öffentliche im Willen des Individuums

Meinung

Die reale Dialektik der sozialen Kontrolle Faßt man das bisher Gesagte zusammen, so lassen sich aus den Aphorismen der mittleren Schaffensperiode Nietzsches die Grundzüge eines Modells gesellschaftlicher Selbsterhaltung durch soziale Kontrolle erkennen: Als Treibmittel wirkt die Furcht, als Zwangsmittel fungiert die Öffentliche Meinung, die Integration des Systems vollzieht sich durch Isolationsdruck vom Kollektivum auf das Individuum. Aber Nietzsche glaubt offenbar nicht an eine EinFaktor-Erklärung des Sozialen: So, wie er die Erzeugung des Konformitätsdrucks durch die Gesellschaft im Zustand der Öffentlichkeit' auch auf Beweggründe zurückführt, die nicht mit Furcht in Verbindung gebracht werden können - er erwähnt besonders den Neid - , so fragt er auch auf der Seite des bedrängten einzelnen nach Motiven zu konformem Verhalten, die nicht aus reiner Angst vor Vereinsamung stammen. Er verweist unter anderem auf die Faulheit; aber Faulheit, so zeigt sich bei näherer Untersuchung, ist kein Konformitätsmotiv, sondern nur Ausdruck eines Triebes: auch sie kann aus der Furcht hergeleitet werden. Zutreffend hebt er hervor, daß ein guter Teil allgemein anerkannter Werthaltungen auf bloße Gewohnheit zurückgeht und kaum je mit äußerem Druck durchgesetzt werden muß; und außerdem meint er, daß es neben allem inneren Widerstand auch eine positive Bereitschaft zur Anpassung gibt: „ Z u m L a c h e n ! - Seht hin! Seht hin! Er läuft vor den Menschen w e g - : diese aber folgen ihm nach, weil er v o r ihnen herläuft, - so sehr sind sie Heerde!" 1 Nietzsche hat offensichtlich den Mitläufereffekt im Auge, aber er glaubt, daß nicht Furcht diesen Effekt erzeugt, sondern ein Dabeisein-wo/Ze« aus Begeisterung: man wird angesteckt und mitgerissen von der unmittelbar erlebten Umwelt, „und weil sympathisches Zustimmen und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und Parteifarben dieser Umgebung." 2 Im Gedanken an einen solchen Mitläufertyp, der frei von Isolationsdruck die Konformität bejaht, konstruiert später beispielsweise Robert E. Park sein dynamisches Modell sozialer Kontrolle 3 , und auch Lazarsfeld, Berelson

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Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. - § 195, in: K G W V 2, S. 183. Ders.: Menschliches, Allzumenschliches I, §371, in: K G W IV 2, S.265. Siehe Park, Robert E.: Social Control, in: ders. /Burgess, Ernest W. (Hrsg.): Introduction to the Science of Sociology. 3., Überarb. Aufl., Chicago/London: University of Chicago Press 1969, S. 785-799.

Die Faktoren gesellschaftlicher Integration durch Öffentliche Meinung

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und Gaudet erklären die öffentliche Meinungsbildung mit der Aussage eines ihrer Probanden: "I wanted to vote for the winner!" 4 Offenbar aber sieht Nietzsche, daß sein zweifellos darwinistisch angeregter Ansatz bei der Sympathie nicht allzuviele Konformierungsvorgänge erklären kann; die Idee bleibt als Fragment in seinen Schriften zurück, und er hätte im Großen und Ganzen sicher Edward Ross zugestimmt, der über die Natur der sozialen Kontrolle lakonisch bemerkte: "It is ο b e d i e η c e that articulates the solid, bony framework of social order; s y m p a t h y is but the connective tissue. As well build a skeleton out of soft fibre as construct a social order out of sympathies." 5 Dennoch ist er überzeugt: Furcht kann nicht die einzig konformierende Kraft einer Gesellschaft sein. Ein gänzlich auf Furcht beruhendes Gemeinwesen richtet sich auf Dauer selbst zugrunde: Furcht macht zwar erfinderisch, Furcht hat eine ganze Reihe von Institutionen und kulturellen Errungenschaften hervorgebracht, Furcht vermag die Menschen aneinander zu binden und doch gleichzeitig voreinander zu schützen. Aber was aus der Furcht stammt, trägt unausweichlich den Stempel der Vermeidung und ist immer nur darauf gerichtet, einen bestehenden Zustand zu halten: die Furchtsamen sind vollauf mit ihrer bloßen Existenzsicherung beschäftigt; sie mögen dabei wohl über die Gegenwart hinausgreifen, aber nur so weit, wie sie können und müssen, um eine Bedrohung abzuwehren; sie organisieren zwar die erlebte Welt, aber dieses Organisieren ist bei aller Umsicht und bei aller Feinheit des Hervorgebrachten nur ein unschöpferisches Bewahren des Gleichgewichts ohne willentliches Voranschreiten, ein Verharren im status quo. Die Furcht ordnet das Chaos des Seienden, aber sie beherrscht es nicht. Eine Gesellschaft unter der ausschließlichen Leitung der Furcht hätte keinen Sinn, kein Ziel, keine Zukunft: ihre Geschichte wäre keine Abfolge einer Entwicklung, das heißt: eines Sich-entfaltens, sondern nur ein quälendes, defensives Sich-hinschleppen durch den Lauf der Zeit. Nicht anders könnte man sich die Menschen vorstellen, die sie verkörperten: Wesen ohne Kern, bloße Schatten, ja eigentlich un-wesentliche Abbilder, alles an ihnen Abschwächung, Abwehr, Verteidigung, Rückzug, Rückg