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German Pages 228 Year 2013
Andreas Rupschus Nietzsches Problem mit den Deutschen
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
Begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter und Heinz Wenzel Herausgegeben von Günter Abel (Berlin) und Werner Stegmaier (Greifswald)
Band 62
Andreas Rupschus
Nietzsches Problem mit den Deutschen
Wagners Deutschtum und Nietzsches Philosophie
DE GRUYTER
Gedruckt mit Hilfe der Förderung der Trebuth-Stiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft
ISBN: 978-3-11-032100-5 e-ISBN: 978-3-11-032126-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: Meta Systems, Wustermark Printing: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
dem Andenken meines Großvaters Dr. Günter Fritsch gewidmet
Vorwort Dieses Buch wurde im Wintersemester 2012/13 von der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Bis dahin war es ein langer Weg. Als Deutscher über das Problem des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche mit den Deutschen zu schreiben, ist ein in mehrfacher Hinsicht selbstbezügliches und entsprechend verwinkeltes Unternehmen. Dafür, dass ich es dennoch zu einem Abschluss führen konnte, bin ich vielen zu Dank verpflichtet. An erster Stelle möchte ich meinem philosophischen Lehrer und Doktorvater Prof. em. Dr. Werner Stegmaier danken. Mein Verständnis von Philosophie im Allgemeinen und von Nietzsche im Besonderen ist ihm tiefer verpflichtet, als ich sagen kann. Ohne ihn, sein Vertrauen, seine Anregungen und seinen Rat wäre dieses Projekt nie begonnen und noch weniger beendet worden. Herzlich danke ich den weiteren Mitgliedern der Prüfungskommission: Prof. Dr. Paul van Tongeren, der sich sofort bereit erklärte, das Zweitgutachten zu übernehmen, Prof. Dr. Micha Werner, der der Kommission vorsaß, Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann und PD Dr. Ekaterina Poljakova. Ihnen allen bin ich sehr verbunden, ebenso wie Ines Mielke für vielfältige organisatorische Hilfe. Spezieller Dank gebührt der Trebuth-Stiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft. Sie hat nicht nur die Entstehung dieser Arbeit durch ein Stipendium großzügig unterstützt, sondern auch ihre Veröffentlichung mit einem Druckkostenzuschuss gefördert. Über die Jahre hatte ich bei unterschiedlichen Anlässen das Privileg, verschiedene Aspekte meines Themas in internationalem Kreis zu diskutieren: Besondere Erwähnung verdienen die Teilnehmer des von Werner Stegmaier organisierten Greifswalder Nietzsche-Forschungskolloquiums, mit denen ich wiederholt angeregt über Nietzsches Problem mit den Deutschen diskutieren durfte und denen ich wertvolle Anregungen verdanke. Für ihr lebhaftes Interesse an meinen Thesen und ihre Anmerkungen danke ich den Mitgliedern der Nietzsche-Forschungsgruppe Nijmegen unter der Leitung von Paul van Tongeren ebenso wie den Teilnehmern des „Berliner Nietzsche-Colloquiums“. Den Herausgebern der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Werner Stegmaier und Prof. Dr. Günter Abel, danke ich für die Aufnahme in diese Reihe, dem Verlag De Gruyter für die sorgfältige Betreuung des Veröffentlichungsprozesses. Meine Freundin Nicole ist stets die Erste gewesen, mit der ich neue Ideen oder Probleme diskutiert und der ich Arbeitsfassungen der einzelnen Kapitel vorgelegt habe. Auch wenn sie das weit von sich weisen wird: Sie hat wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen, nicht allein mit ihrem unvergleichlichen analytischen Blick und ihren unverblümten Nachfragen zu und ihrer Kritik an unverständlichen Passagen. In Momenten des Zweifels hat sie mir mit ihrem grenzenlosen Vertrauen die nötige Kraft zur Überwindung der Arbeitskrisen gegeben.
VIII
Vorwort
Meine Brüder Matthias, Michael, Christian und Paul Rupschus sowie meine Eltern Uta und Dietmar Rupschus haben meine Forschungen mit großer Teilnahme verfolgt, ebenso wie meine Großmutter Elvira Fritsch und mein Großvater Dr. Günter Fritsch. Sein Wunsch, den Abschluss der Arbeit seines Enkels miterleben zu können, hat sich leider nicht erfüllt. Ich möchte dieses Buch seinem Andenken widmen. Greifswald, im Februar 2013
Andreas Rupschus
Inhalt Siglen
XIII
0 0.1 0.2 0.3
Einleitung 1 Fragestellung 1 Stand der Forschung 2 Aufbau der Untersuchung
1
Richard Wagner und die ‚deutschen Hoffnungen‘ im Frühwerk Nietzsches 15 ‚Deutsche Hoffnungen‘ vor Wagner: Zwischen deutscher Politik und deutscher Kultur 15 Nietzsche, Wagner und das Ideal deutscher Kultur 18 Nietzsches Rezeption von Wagners Begriff des Deutschen 18 Nietzsches Kritik an der deutschen Kultur aus dem Geiste Wagners 21 Originale und angebliche deutsche Kultur 21 Kritik der deutschen Bildung 23 Kritik der deutschen Sprache 25 Die ‚historische Krankheit‘ und der ‚Glaube an das Fertigsein‘ 27 Abwendung von Wagner: Vom Deutschen zum Überdeutschen 29 Wagners Realpolitik als Untreue gegenüber dem Ideal deutscher Kultur 30 Von Wagners Begriff des Deutschen zu Nietzsches Begriff des Überdeutschen 34 Die Rehabilitierung des Kosmopolitismus 34 38 Die Selbstzersetzung des Ideals deutscher Kultur Wagner, der Überdeutsche: Nietzsches Überwindung Wagners in Wagners Namen 40 Nietzsches Neudenken des Deutschen: Vom Mythos zu Evolution und Geschichte 44 Der Überdeutsche und die Zeitlichkeit des Deutschen 46
1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.2.1 1.3.2.2 1.3.2.3 1.3.2.4 1.3.2.5 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1
12
Die Deutschen als Krankheit Nietzsches 52 Ein überwundenes Problem, eine überstandene Krankheit? 52 Europäische statt deutsche Frageperspektive 52 Nietzsches Versuch einer Aufklärung der Deutschen 54 Die Deutschen und die Dialektik der Aufklärung 56 Nietzsches Problem mit den Deutschen als Entstehungsbedingung seiner Philosophie 59 Allergische Reaktionen auf das (meteorologische und geistige) deutsche Klima 59
X 2.2.2 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.2.3.3 2.2.3.4
3
Inhalt
Distanz zu Deutschland und den Deutschen als Gesundheitsmaßregel? 61 Nietzsches Leiden am Deutschen und die ‚große Gesundheit‘ 63 Die Deutschen als Test für Nietzsches Gesundheit und 63 Philosophie Die Deutschen als Nietzsches Schlüssel für seine philosophischen Problemstellungen 65 Die dialektische Geburt der Vornehmheit aus dem ‚deutschen Geist‘ 68 Der große Schmerz des Leidens am Deutschen und die Selbstaufhebung der décadence 70
Nietzsches Problem mit den Deutschen als Problem mit sich selbst 74 3.1 Nietzsches Methodologie der Frage nach dem Problem des Deutschen 74 3.2 Nietzsches Pathologie des Deutschen als negative Pathologie seiner selbst 78 3.2.1 Nietzsches Analyse der deutschen Neigung zum Selbstmord 79 3.2.2 Nietzsches persönliche Erfahrungen als Grundlage seiner Analyse der deutschen Selbstmordneigung 81 3.2.2.1 Alkohol und Nationalismus: Nietzsches Burschenschaftserfahrung 81 3.2.2.2 Nietzsches Erörterung der Folgen des deutschen Musikkonsums als 83 Auseinandersetzung mit den Folgen des eigenen 3.2.2.2.1 Wagner 83 3.2.2.2.2 Schumann 86 3.2.2.3 Die Selbstmorde in Nietzsches Familie und Nietzsches eigene Auseinandersetzung mit der Option des Selbstmords als Ausweg aus seinen Leiden 88 3.2.3 Die Entwicklung von Nietzsches persönlicher Diätetik aus seinen Erfahrungen mit ‚deutschem‘ Lebenswandel 91 3.2.3.1 Nietzsches späte Vernunft im Umgang mit der lebensfeindlichen deutschen Ernährung 92 3.2.3.2 Nietzsches eigene Wanderschaft ohne letztes Ziel als Bedingung für bewegliche Gedanken und Gegenideal zur deutschen ‚Stubenhockerei‘ 96 3.2.4 Nietzsches Heimatlosigkeit und der Phantomschmerz der verlorenen Illusion einer Heimat 98 3.2.5 Der gute Deutsche, der gute Europäer und das Ende der Frage „Was ist deutsch?“ 101 3.3 Nietzsches Auseinandersetzung mit der deutschen ‚WiderspruchsNatur‘ als autogenealogische Reflexion 104
Inhalt
3.3.1 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.4 3.3.4.1 3.3.4.2 3.3.5 3.3.5.1 3.3.5.2 3.3.5.3 3.3.5.4
XI
Zur Genealogie des ‚Volks der Mitte‘: Die Bedingungen der deutschen ‚Widerspruchs-Natur‘ 105 Nietzsches Umwertung der ‚deutschen Tiefe‘ 110 Der innere Sternenhimmel der Deutschen als Ort tieferer 110 Wahrheit? Die täuschende Deutlichkeit der deutschen Tiefe 113 117 Das Volk des Mittelmaßes Die deutsche Konturlosigkeit und das Bedürfnis nach einer orientierenden Leitkultur 117 Das ‚neue Deutschtum‘ auf dem Weg zum ‚letzten Menschen‘ 121 123 Das Potential des Chaos der deutschen Seele Wie ein deutscher Geist ‚geraten‘ kann: Ordnung des Chaos statt Absonderung vermeintlich ‚fremder‘ Gehalte 123 Selbstzucht des einzelnen Deutschen statt Höherzüchtung der deutschen ‚Rasse‘ 127 Nietzsches Entfaltung der Bedingungen der Möglichkeit seiner selbst aus der deutschen ‚Widerspruchs-Natur‘ 131 Katalysatoren und Saboteure der Kultur: Die Deutschen als Vermittler und Verzögerer 131 Luther, Leibniz, Kant, Hegel und Schopenhauer und ihr doppelter Beitrag zur Genese von Nietzsches Philosophie 134 Deutsche Logik: Die Deutschen als Schicksalsvolk des Christentums 141 Jenseits des Verzögerns und Vermittelns: Goethe 144
149 Nietzsche, der ‚Antideutsche‘ Nietzsche als ‚Rechtfertiger‘ der Deutschen 149 Nietzsche gegen die Deutschen: ‚Große Politik‘ gegen ‚kleine Politik‘ 151 4.2.1 Nietzsches Leiden an seiner fortwährenden Isolierung in Deutschland 151 4.2.2 Das Ende von Nietzsches Geduld mit den Deutschen und seine Stilisierung zum Antideutschen 155 4.3 Der Schauspieler Nietzsche und die Rolle des Antideutschen 160 4.3.1 Der Schauspieler Wagner 162 4.3.1.1 Wagners Rolle des Deutschen 162 4.3.1.2 Meyerbeer als Lehrer des ‚Schauspieler-Genies‘ Wagner und Wagners Selbsttäuschung über die verleugneten ‚überdeutschen‘ Quellen seiner Kunst 163 4.3.2 Nietzsches Rolle des Antideutschen als Gegenentwurf zu Wagners Rolle des Deutschen 167 4.4 Die Selbstaufhebung des Deutschen 169 4 4.1 4.2
XII 5 5.1 5.2 5.3
Inhalt
172 Schluss: Nietzsches Liebe zu den Deutschen Nietzsches Ekel vor den Deutschen 172 Nietzsche, der Gefangene der deutschen Sprache, und seine unübersetzbare ‚Kunst des Stils‘ 174 Nietzsches ‚große Toleranz‘ gegenüber den Deutschen 177 Literaturverzeichnis Quellen 182 Literatur 183
199
Personenregister Sachregister
182
205
Siglen
Hinweise zur Zitation Die Schriften Friedrich Nietzsches werden zeichengetreu nach KSA/KGW bzw. KGB zitiert. Bei Zitaten aus längeren Aphorismen bzw. Abschnitten (länger als ca. drei Seiten) und bei Zitaten aus dem Nachlass werden exakte Band- und Seitenangaben gemacht. Der Nachlass wird mit Verweis auf Jahr und Nummer des Notats zitiert, bei Zitaten nach KGW IX, der Neuedition des Nachlasses ab 1885 in differenzierter Transkription nach Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach, werden Signatur und Seite des Notizhefts bzw. der Manuskriptmappe nach Hans-Joachim Mette (vgl. KSA 14.24‒35) angeführt, Durch- und Unterstreichungen als solche kenntlich gemacht und nachträgliche Einfügungen Nietzsches in geschweiften Klammern wiedergegeben. Die Briefe werden mit Verweis auf Empfänger, Datum und Nummer des Briefes sowie Band und Seite der KGB zitiert. Hinzufügungen werden durch eckige Klammern, eigene Hervorhebungen kursiv und mit dem Zusatz „Kursivierung A.R.“ kenntlich gemacht.
Friedrich Nietzsche AC BA CV DS EH FW GD GM GT HL JGB KGB
KGW
Der Antichrist. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Fünf Vorreden zu ungeschriebenen Büchern. Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. Ecce homo. Die fröhliche Wissenschaft. Götzen-Dämmerung. Zur Genealogie der Moral. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Jenseits von Gut und Böse. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper, 24 Bde. in drei Abteilungen, Berlin / New York 1975‒ 2004. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fortgeführt von Volker Gerhardt, Norbert
XIV
KSA
M MA MD NL NW SE ST UB VM WA WB WS Z
Siglen
Miller, Wolfgang Müller-Lauter, Karl Pestalozzi. Bislang 43 Bde. in 9 Abteilungen, Berlin / New York 1967 ff. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 1980. Morgenröthe. Menschliches, Allzumenschliches. Mahnruf an die Deutschen. Nachlass. Nietzsche contra Wagner. Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück. Schopenhauer als Erzieher. Socrates und die Tragoedie. Unzeitgemässe Betrachtungen. Menschliches, Allzumenschliches II: Vermischte Meinungen und Sprüche. Der Fall Wagner. Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück. Richard Wagner in Bayreuth. Menschliches, Allzumenschliches II: Der Wanderer und sein Schatten. Also sprach Zarathustra.
Richard Wagner BB
BMK BY DKDP EB HC JM KR ML MN MO
Das Braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865–1882. Erste vollständige Veröffentlichung nach dem Originalmanuskript Wagners in der Richard-Wagner-Gedenkstätte der Stadt Bayreuth. Vorgelegt und kommentiert von Joachim Bergfeld, Zürich 1975. Bericht an seine Majestät den König von Bayern, in: SD, Bd. 8, S. 125‒176. Bayreuth, in: SD, Bd. 9, S. 311‒344. Deutsche Kunst und Deutsche Politik, in: SD, Bd. 8, S. 30‒124. Einleitung zum dritten und vierten Bande, in: SD, Bd. 3, S. 1‒7. Ausführungen zu „Religion und Kunst“. 2. Heldenthum und Christenthum, in: SD, Bd. 10, S. 275‒285. Das Judenthum in der Musik, in: SD, Bd. 5, S. 66‒86. Die Kunst und die Revolution, in: SD, Bd. 3, S. 8‒41. Mein Leben. Herausgegeben von Martin Gregor-Dellin, München 1963. Die Meistersinger von Nürnberg, in: SD, Bd. 7, S. 150‒271. Modern, in: SD, Bd. 10, S. 54‒60.
Siglen
OD 1 OD 2 OD 3 PA PP SB SD SFN
WID WNE
XV
Oper und Drama. 1. Theil. Die Oper und das Wesen der Musik, in: SD, Bd. 3, S. 233‒321. Oper und Drama. 2. Theil. Das Schauspiel und das Wesen seiner dramatischen Dichtkunst, in: SD, Bd. 4, S. 1‒103. Oper und Drama. 3. Theil. Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft, in: SD, Bd. 4, S. 103‒229. Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel, in: SD, Bd. 10, S. 324‒275. Publikum und Popularität, in: SD, Bd. 10, S. 61‒90. Sämtliche Briefe. Herausgegeben im Auftrage der Richard-WagnerStiftung Bayreuth von Gertrud Strobel u. a., Leipzig 1967 ff. Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, 16 Bde., Leipzig o. J. [1911]. Sendschreiben und kleinere Aufsätze. 5. An Friedrich Nietzsche, ordentlicher Professor der klassischen Philologie an der Universität Basel, in: SD, Bd. 9, S. 295‒302. Was ist deutsch?, in: SD, Bd. 10, S. 36‒53. Was nützt diese Erkenntniß? Ein Nachtrag zu „Religion und Kunst“, in: SD, Bd. 10, S. 253‒263.
Andere AA
BN
CT DWB GMA
HHW HWP
Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen (später Berlin-Brandenburgischen) Akademie der Wissenschaften, 29 Bde., Berlin 1902 ff. Giuliano Campioni / Paulo D’Iorio / Maria Cristina Fornari / Francesco Fronterotta / Andrea Orsucci (Hg., unter Mitarbeit von Renate Müller-Buck), Nietzsches persönliche Bibliothek (Supplementa Nietzscheana, Bd. 6), Berlin / New York 2003. Cosima Wagner, Die Tagebücher. Editiert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2 Bde., München 1976/77. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 33 Bde., Leipzig 1854‒1971. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, 21 Bde., München / Wien 1985‒1998. Heinrich Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden. Herausgegeben von Hans Kaufmann, 2. Aufl., Berlin / Weimar 1972. Historisches Wörterbuch der Philosophie, herausgegeben von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, 13 Bde., Basel 1971‒2007.
XVI LWA MBT
NHB NLK NWB
RGG4
SSW
ThWA
WNH
Siglen
D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], 120 Bde., Weimar 1883‒2009. Giacomo Meyerbeer, Briefwechsel und Tagebücher, 8 Bde., herausgegeben und kommentiert von Heinz Becker (Bde. 1 und 2), Heinz und Gudrun Becker (Bde. 3 und 4), Sabine Henze-Döhring (Bde. 5‒ 8), Berlin / New York 1960‒2006. Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000. Christian Niemeyer (Hg.), Nietzsche-Lexikon, 2., durchges. u. erw. Aufl., Darmstadt 2011. Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter der Leitung von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens (Hg.), NietzscheWörterbuch, bislang erschienen: Bd. 1, Berlin / New York 2004. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearbeitete Aufl., herausgegeben von Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski, Eberhard Jüngel, 8 Bde. und Registerband, Tübingen 1998‒ 2007. Ungekürzte Studienausgabe, Tübingen 2008. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke. Nach der ersten, von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe neu bearbeitet und herausgegeben von Arthur Hübscher, 7 Bde., Leipzig 1937‒1941. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theorie-Werkausgabe in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832‒1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1969‒1971. Stefan Lorenz Sorgner / H. James Birx / Nikolaus Knoepffler (Hg.), Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2008.
0 Einleitung 0.1 Fragestellung Dass Nietzsches Verhältnis zu den Deutschen spätestens von seinem Bruch mit Wagner an bis zu den berüchtigten Attacken des Spätwerks ein angespanntes war, ist kein Geheimnis – trotz entgegengesetzter Vorurteile, die sich als Nachwirkung der ideologischen Vereinnahmungen des 20. Jahrhunderts hartnäckig in der Öffentlichkeit halten.1 Die Forschung hat Nietzsches dezidiert kritische Einstellung zu seinen Landsleuten und den unter ihnen grassierenden „Dummheit[en]“ wie Nationalismus, Antisemitismus und Imperialismus (vgl. JGB 251) mit Recht immer wieder betont.2 Ein Nebenprodukt dieser Verteidigung Nietzsches gegen die Deutschen ist jedoch, dass Nietzsches späte Selbstinszenierung als Antideutscher, der mit den Deutschen nichts gemein und nichts zu tun habe, unter der Hand weithin fortgeschrieben wurde.3 Im Bild von Nietzsche, dem Antinationalisten, bekennenden Europäer und Bewunderer der französischen Kultur, scheinen die Deutschen Platz nur als Negativfolie zu haben, von der Nietzsche möglichst weit wegzurücken sei. Diese Auffassung hat mittlerweile sogar den Weg in Lexika und Biographien
Diese Geschichte einer beispiellosen Vereinnahmung und die Kontroverse über Nietzsches Mitverantwortung hat die Forschung Jahrzehnte lang beschäftigt und wird sie weiter beschäftigen. Sie soll hier nicht noch einmal erzählt werden. Vgl. dazu bes. Santaniello, Nietzsche, God, and the Jews, und Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, der, anders als Santaniello, Nietzsche weiterhin zumindest partiell in die Verantwortung nimmt, sofern der Nationalsozialismus Tendenzen von Nietzsches Denken, und sei es in noch so „verdorbene[r] und verfälschte[r], bloß selektiv umgesetzte[r]“ Weise, aufgenommen habe (S. 352). Das hat ihm scharfe Kritik eingebracht (vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 436‒438) und weitere Diskussionen nach sich gezogen. Vgl. etwa Golomb / Wistrich, Nietzsche’s Politics, Fascism and the Jews, die, wenn auch ohne konkreten Bezug auf Aschheim, das Problematische einer Argumentation wie seiner vehement betonen: „to hold Nietzsche responsible, even indirectly, for Auschwitz, is to make a mockery of the history of ideas and to turn things on their head“ (S. 321). Vgl. die wegweisenden Studien von Walter Kaufmann und Henning Ottmann: Kaufmann, Nietzsche, und Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche. Diesen Preis zahlt etwa Sarah Kofman, die in ihrer vehementen Verteidigung Nietzsches gegen den Antisemitismusvorwurf Nietzsche schlicht als „größte[n] Deutschenverächter“ zeichnet (vgl. Kofman, Die Verachtung der Juden, S. 13‒22) und dies mit Blick auf ihre Intention auch tun muss – ihre Streitschrift ist nicht der Ort, Nietzsches nuancierte Haltung zu den Deutschen zu erörtern. Auch die wichtige Studie Der französische Nietzsche von Giuliano Campioni muss hier genannt werden. Indem Campioni seiner verdienstvollen Leistung, den bedeutenden Beitrag der „französischen Kultur“ „zum verborgenen Gewebe“ von Nietzsches Texten aufzudecken, die Intention vorausschickt, das Bild von Nietzsche als einem „typische[n] Vertreter des deutschen, antiromanischen Geistes“ „radikal in Frage stellen“ zu wollen (Campioni, Der französische Nietzsche, S. 1), etabliert er unter der Hand schon das umgekehrte Bild jenes Titel gebenden, allem Deutschen ganz entrückten ‚französischen Nietzsche‘, das dieser in seinen eigenen späten Stilisierungen selbst gern von sich entwarf.
2
Einleitung
gefunden.4 Adäquat erfasst ist sein komplexes Verhältnis zu den Deutschen damit jedoch nicht: Dass die Deutschen und er „im Gegensatz“ waren, „unberührbar füreinander“, schloss für Nietzsche eben nicht aus, dass er ohne sie „nicht möglich“ war, wie er in einem späten Notat vermerkt (NL 1888/89, 25[7], KSA 13.641). So rätselhaft, ja widersinnig dies anmutet, so symptomatisch ist es für sein nie ganz zur Ruhe kommendes Leiden an und Ringen mit seinen Landsleuten, über die er 1888, zur Zeit seiner schärfsten Angriffe auf sie und Abgrenzungen von ihnen, gegen jede Evidenz schrieb, er liebe sie (NL 1888, 19[1], KSA 13.539). Auf diese paradoxe Konstellation wird gegen Ende unserer Untersuchung zurückzukommen sein. Sie zeigt ebenso wie die 2536 Verwendungen von „deutsch“ und Derivaten allein in der KSA (über 2000 mehr als für das Wortfeld Frankreich): Die Deutschen wurden für Nietzsche zur Obsession. Er kam von ihnen nicht los, obwohl oder eben weil er sie als zutiefst fragwürdig empfand. Wenngleich er sich in vieler Hinsicht in der Tat im Gegensatz zu ihnen sah, konnte Nietzsche nicht leugnen, dass auch er ein Deutscher war. Je fragwürdiger ihm die Deutschen wurden, desto fragwürdiger wurde er sich darum selbst. Nietzsches Auseinandersetzung mit ihnen wurde zur Auseinandersetzung mit sich. Sie ist darum bedeutsam für das Verständnis seines Denkens im Ganzen. Wenn dessen Entwicklung bis in die tiefsten Problemzusammenhänge hinein untrennbar mit Nietzsches ganz persönlicher ‚deutscher Frage‘ verbunden ist, wird eine systematische Analyse offener und verborgener Spuren dieser Frage auch Nietzsches Philosophie besser verstehen helfen. Die vorliegende Untersuchung ist der Versuch einer solchen, von der Forschung bislang nicht unternommenen Analyse.5
0.2 Stand der Forschung Nietzsches Problem mit den Deutschen ist als solches nur selten zum Thema gemacht worden. Das mag daran liegen, dass man geneigt ist, es philosophisch gar nicht erst ernst zu nehmen. Symptomatisch dafür ist die Ansicht von Jürgen Busche: „Nietzsche und die Nation – da schreibt ein kritischer Schriftsteller in
Vgl. Diethe, Art. The Germans, bes. S. 108 („He admired French taste and would much rather have been French – anything but German.“), und Niemeyer, Art. deutsch, das Deutsche, die Deutschen, der sich, nach einem Hinweis auf Nietzsches frühe, zumal von Wagner geprägte Deutschtümelei, auf Nietzsches eigene Abgrenzungen gegenüber den Deutschen konzentriert. In Julian Youngs umfangreicher Nietzsche-Biographie verkommt diese Abgrenzung Nietzsches von den Deutschen gar schon zum Klischee, zur Selbstverständlichkeit, die nicht mehr hinterfragt werden muss, zum Anlass für eine gewitzt-ironische Seitenbemerkung: „Once a – indeed ‚the‘ – nation of thinkers, there are no longer any German thinkers (apart from Nietzsche and he, of course, is ‚Polish‘).“ (Young, Friedrich Nietzsche, S. 506) Ich selbst habe unter dem Titel Nietzsche und sein Problem mit den Deutschen (in: NietzscheStudien 40 (2011), S. 72‒105) einen ersten Entwurf zum Thema veröffentlicht.
Stand der Forschung
3
seiner Zeit. Die Philosophie hat das später zu Recht ignoriert.“6 Dass das mangelnde Interesse der Forschung allerdings nicht so wohl gegründet ist, wie Busche annimmt, erhellt aus einer einfachen Beobachtung: Die Nietzsche-Forschung hat viele der zahllosen Stellen, an denen die Deutschen in Nietzsches Werk eine Rolle spielen, im Licht ganz unterschiedlicher Fragestellungen und Erkenntnisinteressen immer wieder zitiert, analysiert und interpretiert. Diese Interpretationen, bei denen die Deutschen eben meist nicht den Haupt-, sondern nur einen Nebengesichtspunkt bilden, der andere Aspekte von Nietzsches Texten zu erhellen hilft oder doch helfen könnte, können und müssen in diesem Unterpunkt nicht im Einzelnen behandelt werden (das bleibt den Detaildiskussionen der folgenden Kapitel vorbehalten). Gleichwohl führen sie vor Augen, dass Nietzsches Problem mit den Deutschen schon deshalb nicht irrelevant für das Verständnis seines Philosophierens sein kann, weil es, gewissermaßen krebsartig, die veröffentlichten Texte wie den Nachlass durchwuchert und so mit verschiedensten anderen Fragestellungen verwachsen ist. Längst nicht alle diese Verknüpfungen sind jedoch deutlich als solche wahrgenommen worden. Die Aspekte von Nietzsches Denken, die vor allen anderen als untrennbar mit den Deutschen verbunden angesehen werden, sind wiederum gerade jene, die den Eindruck der Distanz zwischen Nietzsche und den Deutschen besonders befeuern: seine Kritik des Nationalismus und Antisemitismus und, damit zusammenhängend, seine Gedanken zu Europa und zum ‚guten Europäer‘. „ G u t d e u t s c h s e i n h e i s s t s i c h e n t d e u t s c h e n“ ist zum oft zitierten Signum für Nietzsches Europäertum und die Abwendung von nationalistisch-engstirniger Orientierung geworden.7 So scheint diese in MA II VM 323 formulierte Einsicht der Schlusspunkt von Nietzsches Problem mit den Deutschen zu sein, an dem die philosophische Interpretation enden kann.8 Nietzsches im Lauf der folgenden Jahre angestellte Reflexionen über die Deutschen werden unter der Hand zu Schattengefechten degradiert, die in immer neuen Anläufen dieselben alten Kämpfe neuerlich durchspielen. Übersehen wird dabei jedoch, dass Nietzsches Problem mit den Deutschen eben nicht ad acta gelegt ist – das Problematische in seiner Beziehung zu den Deutschen kann nicht durch einen rationalen Akt zu Grabe getragen werden. Es verfolgt ihn weiterhin und legt einen Schatten auf seine genuin philosophischen Probleme, von dem sie nicht unberührt bleiben – Nietzsches Überlegungen zur großen Gesundheit, zur Philosophie der Ernährung, zu décadence und Selbstaufhebung, zur Kritik der Christentums und der abendländischen Krisis im Ganzen, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Busche, Nietzsche und die Nation, S. 390. Vgl. beispielsweise Diethe, Nietzsche and Nationalism, S. 231; Marti, Art. deutsch, der Deutsche, S. 217; Skirl, Europas Widersprüche in Nietzsches Widersprüchen, S. 37; de Launay, „Peuples et patries“, S. 37, 46; Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, S. 27 u.ö.; Niemeyer, Art. deutsch, das Deutsche, die Deutschen, S. 78 f. S.a. die folgende Anm. Vgl. in diesem Sinn etwa West[f]all, Zarathustra’s Germanity, S. 57, und Morgan, Nietzsche and National Identity, S. 465, die, Ersterer implizit, Letztere explizit, ihre Überlegungen zu den Deutschen unter Rekurs auf diesen Aphorismus beschließen.
4
Einleitung
Während Studien zu Nietzsches Verhältnis zu den Deutschen im Ganzen selten sind, herrscht ein enormer Reichtum an Studien über einzelne deutsche Persönlichkeiten. Das ist kein Widerspruch, denn letztere bekommen Nietzsches Problem mit den Deutschen nur selten in den Blick: Am Verhältnis Nietzsches zu Kant, zu Hegel, zu Schopenhauer etwa hat die Forschung kaum die Frage interessiert, inwiefern Nietzsche ihr Denken für ‚deutsch‘ oder ‚nicht deutsch‘ hält und was dies für ihn philosophisch für eine Rolle spielen könnte. Wenn das Problem in diesen Untersuchungen doch thematisiert wird, so geschieht es meist entweder unter Berufung auf die These, eine deutsche Gestalt repräsentiere für Nietzsche den Deutschen archetypisch – hier ist insbesondere an Luther zu denken –, oder aber ex negativo: mit Blick auf Nietzsches Auseinandersetzung mit denen, die er gerade nicht für ‚typische‘ Deutsche hält: etwa Goethe und (trotz seiner Deutschtümelei) Wagner.9 Auf diese wichtigen Gesichtspunkte wird zurückzukommen sein. Dennoch ist Nietzsches Problem mit den Deutschen zuerst und vor allem ein Problem mit den Deutschen überhaupt – so irritierend dies bei einem Philosophen sein mag, der die Individualität in den Mittelpunkt seines Denkens stellt. Nun zu den Studien, die Nietzsches Problem mit den Deutschen als solches thematisieren. Ein Pionier in dieser Hinsicht ist Henri Lichtenberger. Er stellte bereits im Jahre 1900 Nietzsches Urteile über Deutschland und Frankreich einander gegenüber und entwarf dabei auch ein erstes Bild von Nietzsches schwieriger Beziehung zu seinen Landsleuten. Schon Lichtenberger betonte die Bedeutung von Wagners Ideal einer zukünftigen deutschen Kultur für Nietzsches frühe Auseinandersetzung mit den Deutschen und verwies auf die Wende, die sie seit der zweiten Hälfte der 1870er Jahre nahm.10 Im Weiteren beschränkte er sich darauf, anhand einer Reihe einschlägiger Zitate aus den Werken seit MA Nietzsches Abscheu gegen die Deutschen hervorzuheben, ehe er seine Überlegungen unter Bezug auf Nietzsches dialektischen Gesundheitsbegriff beschloss: Frankreich sei in Nietzsches Augen „plus malade que l’Allemagne“, doch diese „‚décadence‘ n’est pas nécessairement une infériorité“, sondern „le prélude nécessaire […] d’une vie nouvelle et supérieure“.11 Auf deutscher Seite tat man sich, angesichts der Zeitumstände wenig überraschend, eher schwer mit Nietzsches oft harten Urteilen über die Deutschen, monierte sie allenfalls mit deutlich rassistischer und antisemitischer Stoßrichtung als Ergebnis seiner (als bedauerlich empfundenen) Annäherung an das ‚Fremdländische‘,12 thematisierte sie aber im Übrigen kaum. So klagte 1916 Julius Reiner denn auch, die „meisten Schriften über ihn“ ließen „Nietzsches Stellung zu seinem
Die umfangreiche Literatur zu einzelnen deutschen Persönlichkeiten und Nietzsches Auseinandersetzung mit ihnen wird im Einzelnen im Hauptteil diskutiert. Lichtenberger, La France et l’Allemagne jugées par Nietzsche, S. 632. Lichtenberger, La France et l’Allemagne jugées par Nietzsche, S. 650. So Bartels, Friedrich Nietzsche und das Deutschtum.
Stand der Forschung
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Vaterlande ganz unbeachtet“.13 Reiner selbst hielt sie für einen „wichtige[n] Zug in seinem Bilde“ und erkannte mit Recht den „engen Zusammenhang[ ]“ zwischen Nietzsches „Haß gegen deutsches Wesen“ und „einem Haß gegen das Christentum, das in Deutschland Stätte und Pflege gefunden hat.“14 Im Übrigen vermutete er schonungslos deutlich, „nicht nur der überwiegende Aufenthalt im Auslande“ hätte ihn „dem Deutschtum entfremdet[ ]“, sondern „auch Enttäuschungen persönlicher Natur und verletzte schriftstellerische Eitelkeit“, ja sogar Neid auf „so viele unbedeutende Professoren“, die es in Deutschland „zu angesehenen und einträglichen Stellungen gebracht“ hätten, müssten hier mitbedacht werden.15 Über diese Deutung, die strikt auf der biographischen Ebene verharrte, kam man bald hinaus. So erklärte sich für Maximilian Hirsch Nietzsches „völlige Verzweiflung am Deutschtum seiner Zeit“ vor allem dadurch, dass Nietzsches Denken „eine breitere Grundlage braucht, als sie die Schranken der Nation gewähren“. Diese Grundlage sei nach 1876 „ E u r o p a“ geworden. Dennoch zeige sich gerade „in den bitteren Schmähungen“ Deutschlands „immer noch Liebe, unerwiderte, zornige Liebe, die gerade da verachtet, wo sie liebt.“16 Eine solche Hassliebe war bereits in dem erstmals 1918 erschienen und seitdem mehrfach neu aufgelegten Versuch einer Mythologie Ernst Bertrams konstatiert worden.17 Bertram legte mit dem Kapitel „Das deutsche Werden“ einen gewichtigen, wenn auch nicht unproblematischen Beitrag zum Verhältnis Nietzsches zu den Deutschen vor.18 Die Kapitelüberschrift verweist auf JGB 244, einen von Nietzsches großen Aphorismen über die Deutschen, und tatsächlich stützt sich seine Argumentation weithin auf den dortigen Ausspruch „Der Deutsche selbst i s t nicht, er w i r d , er „entwickelt sich“.“ Mit diesem als Faktum vorausgesetzten Satz will Bertram Nietzsches kritische Beziehung zu den Deutschen relativieren und in ihr Gegenteil kippen lassen: Auch noch jene „Äußerung[en] Nietzsches über das Deutschtum“, die „zweifelnd oder verneinend“ sind, hätten „im deutschen immanenten Werden ihre innerste Mitte“: im „heraklitischen Strom eines ewigen deutschen Werdens“.19 Weil Bertram den metaphysikkritischen Impetus dieses deutschen Werdens, dessen Pointe für Nietzsche nicht zuletzt darin besteht, dass es nichts ‚an sich‘ Deutsches geben kann, verkennt, kann er die von Nietzsche nicht nur in MA II VM 323 geforderte Entdeutschung der Deutschen als ‚eigentliches‘ deutsches Wesen deuten und so zur Ideologie eines „‚Deutscher werden‘“ machen, das sich im Grunde „gegen die Selbst‚Entdeutschung‘“ richtet. So wird Nietzsche (und mit ihm seine Konzeption des
Reiner, Friedrich Nietzsche, Kapitel 8: „Kritik des Vaterlandes“, S. 55‒65, hier S. 65. Reiner, Friedrich Nietzsche, S. 61, 65. Reiner, Friedrich Nietzsche, S. 56. Hirsch, Friedrich Nietzsche, Kapitel 8: „Nietzsche und Deutschland“, S. 146‒161, hier S. 148 f., 151. Bertram, Nietzsche, S. 95. Bertram, Nietzsche, S. 76‒105. Bertram, Nietzsche, S. 83 f.
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Übermenschen) noch gegen seinen Willen, „unbewußt“, zum vom „Stigma seines tiefdeutschen Wesens“ Gezeichneten.20 Über die Brücke zu Heraklit gelangt Bertram zur von Nietzsche im Frühwerk unter Anschluss an eine breite kulturgeschichtliche Tradition kolportierten geistigen Verbindung zwischen Griechen und Deutschen: „Die ganze Geburt der Tragödie“, heißt es etwa, „ist eigentlich schon eine solche geniale Deutschdeutung des Griechentums“.21 Für Bertram freilich bleibt dieses Band zwischen griechischer und deutscher ‚Seele‘ auch im späteren Schaffen Nietzsches unangetastet. Hatte Bertram den „rassenbiologisch[en]“ Gesichtspunkt zumindest noch als eine begriffliche Vereinfachung angesehen,22 machte Fritz Krökel derartige Einschränkungen nicht mehr. Er rahmte seine Untersuchung zum Einfluss der französischen Moralisten auf Nietzsches Denken mit Überlegungen zum ‚deutschen‘ Nietzsche und ließ dort keinen Zweifel daran, dass „in der Frage nach der Beschaffenheit seines [sc. Nietzsches] Blutes vor allem sein philosophisches Werk zu befragen“ sei.23 Nietzsche decke in seiner „deutschen Reihe der geistigen Ahnen“ „sein Bluterbe“ auf, und nur deshalb sei er „so unnachsichtig“ gegen sie, „weil Nietzsches Instinkt ihm das Stehenbleiben verbietet; er verstärkt die aus innerem Antrieb begonnene Bewegung, indem er sich an den älteren Denkern stößt und von ihnen abstößt.“24 So richtig und wichtig die Beobachtung ist, dass Nietzsche Vorgängern wie Luther, Kant oder Hegel noch in der kritischen Abgrenzung von ihnen wichtige Impulse verdankte, so problematisch ist die biologistische Verkürzung, die sich dazu versteigt, Nietzsches scharfe Kritik an seinen zeitgenössischen Landsleuten als eine „Bitterkeit“ angesichts der „ E n t a r t u n g des Deutschen“ zu interpretieren, d.h. in Krökels Logik: einer Entartung des eigenen Blutes.25 Dennoch sah Krökel im Einfluss des französischen Denkens auf Nietzsche eine unabdingbare Voraussetzung zur „reichere[n] Ausprägung eines deutschen Philosophencharakters“ – gerade in dieser Selbsterziehung durch Bezug auf das Fremde zeige sich der eigentlich deutsche Charakter.26 Bald danach glitt die Forschung vollends in eine ideologische Hybris ab, die uns hier nicht lange beschäftigen muss. Alfred Baeumlers zwischen 1933 und 1945 kanonische und mithin für den Zeitgeist exemplarische Studie Nietzsche, der Philosoph und Politiker hat die „dauernde Spannung, in der sich Nietzsche gegenüber Bertram, Nietzsche, S. 87, 93. – Ähnlich wie Bertram argumentieren zu etwa gleicher Zeit Römer, Nietzsche, Bd. 2, Kapitel 5.1: „Vaterland“, S. 132‒157, der zu dem Schluss kommt, Nietzsche sei „ein Deutscher im eigentlichsten Sinn des Wortes“, „ein deutscher Prophet, wenn je einer es war“ (S. 156), und Bessell, Nietzsche und das deutsche Schicksal, der sich offen mit Bertrams Deutung solidarisiert. Bertram, Nietzsche, S. 103. Bertram, Nietzsche, S. 88. Krökel, Europas Selbstbesinnung durch Nietzsche, S. 10. Krökel, Europas Selbstbesinnung durch Nietzsche, S. 5. Krökel, Europas Selbstbesinnung durch Nietzsche, S. 11. Krökel, Europas Selbstbesinnung durch Nietzsche, S. 6, vgl. auch S. 151 f.
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‚Deutschland‘ befindet“, schlicht dadurch erklären wollen, „daß er auf die germanischen Untergründe mit einer Unbeirrbarkeit und Kraft zurückgeht wie keiner vor ihm“.27 Seine Enttäuschung betreffe nicht etwa „das Wesen“, „die mangelnde Moral oder die mangelnde Geistigkeit der Deutschen“, sondern nur den Umstand, dass die Deutschen ihre germanischen Anlagen noch nicht in politisch-kulturelle Hegemonie über Europa umgemünzt hätten.28 Da Baeumler dies nicht am Text belegen kann, beschränkt er sich darauf, in möglichst hoher Frequenz das Attribut „germanisch“ (oder wahlweise „nordisch“) auf Nietzsches Philosophie anzuwenden. Walter Kaufmann hat über die Argumentationsweise Baeumlers das Nötige gesagt,29 ebenso wie über die trüben Einlassungen Richard Oehlers, die Nietzsche mit der nationalsozialistischen Weltanschauung ganz und gar im Einklang sehen.30 Jenseits der insbesondere nach 1945 vieldiskutierten Frage, ob Nietzsche für die katastrophale Entwicklung der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zum Zivilisationsbruch verantwortlich sei oder nicht,31 ob er in diesem Sinne ‚allzudeutsch‘ oder ‚undeutsch‘ gewesen sei, war es lange nicht möglich, nicht erwünscht oder doch zumindest abwegig, der Bedeutung von Nietzsches Problem mit den Deutschen für sein Denken nüchtern nachzugehen. Erst in den 1980er Jahren änderte sich die Lage in dieser Hinsicht allmählich, zunächst mit Margaret Wills’ Dissertation über das Deutschlandbild in den Werken Heines und Nietzsches von 1983. Wills wählte eine strikt systematische Vergleichsperspektive, die die Entwicklungen und Verschiebungen in Nietzsches Auseinandersetzung mit den Deutschen kaum beachtet. Das ist mit Blick auf ihr primäres Erkenntnisinteresse durchaus konsequent: Sie will weniger die Analysen Heines und Nietzsches für sich auf ihr literarisches und philosophisches Eigengewicht hin reflektieren als vielmehr unter Bezug aufeinander (und Annäherung aneinander) wechselseitig erklären. Aufgrund dieser komparativen Anlage wagt sich Wills kaum an die weiterführende Interpretation zitierter Textpassagen. Problematisch ist ihre Voraussetzung eines deutschen Sonderwegs, der vom heutigen, differenzierten Forschungsstand aus, auf dem die Sonderwegstheorien allmählich „erodieren“,32 kaum noch Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, hier S. 88. Würzbach, Friedrich Nietzsche und das Deutsche Schicksal, und Lutz, Nietzsche, sind im Wesentlichen Variationen der Sichtweise Baeumlers. Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 105. Kaufmann, Nietzsche, S. 190 f. Oehler, Friedrich Nietzsche und die deutsche Zukunft, S. 5, 15 f., 46 f., 84‒89, 127 f., 130 u.ö. Vgl. dazu Kaufmann, Nietzsche, S. 337 f. Die Frage nach der Verantwortung Nietzsches für den Gang der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist allerdings schon viel früher heftig diskutiert worden: Schon während und nach dem 1. Weltkrieg stritt man sich, ob Nietzsche für den deutschen Imperialismus und den Krieg, ja die moralische Verwahrlosung der Deutschen verantwortlich sei oder gerade im Gegensatz dazu stehe. Vgl. (mit Blick auf die Diskussion in Amerika) Ratner-Rosenhagen, American Nietzsche, S. 132‒144. So Hoeres, Der Krieg der Philosophen, S. 578. Selbst Hans-Ulrich Wehler, „einer ihrer ehedem profiliertesten Vertreter“, so Hoeres weiter, „verwendet die Allzweckwaffe ‚Sonderweg‘ bisweilen nur noch in Anführungszeichen“ (S. 578). Hoeres’ Untersuchung philosophischer Diskurse auf
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in dieser strikten Form haltbar ist: „chief characteristic of the social structure […] of German society […] throughout the nineteenth century“ sei der „authoritarian aspect“.33 Diese zugespitzte Verallgemeinerung in sich sehr unterschiedlicher Entwicklungen in den deutschen Territorien wird permanent auf die Aussagen Heines und Nietzsches bezogen, wodurch diese implizit immer wieder objektivierend als Bestätigung der vorausgesetzten sozialen Strukturen Deutschlands gewertet statt auf ihr kritisches und zumal im Falle Nietzsches selbstkritisches Potential hin befragt werden. Folglich überrascht es nicht, dass Wills in ihrem Fazit festhalten möchte, dass sich in der Deutschlandkritik Heines wie Nietzsches selbst ‚typisch deutsche‘ Eigenschaften zeigen, typisch nämlich im Sinne der von Wills vorausgesetzten autoritären Mentalität der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.34 Nach Wills’ eher soziologischem Ansatz versuchte sich dann Tarmo Kunnas an einer philosophischen Deutung des Problems, die sich nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich, auf persönliche Gesichtspunkte von Nietzsches Auseinandersetzung mit den Deutschen einlassen will: Nietzsche habe „sein Land und seine Landsleute vor allem als Philosoph“ betrachtet. Insbesondere habe er, gegen den Trend seiner Zeit, Einsicht in die Tatsache gehabt, dass es keinen „absoluten Nationalcharakter“ gibt, dass Nationen nur „eine relative Einheitlichkeit“ haben.35 Trotz dieser Nietzscheschen Bedenken, die Kunnas treffend herausarbeitet, scheint er selbst durchaus an einem recht festen Begriff des Deutschen zu hängen, der seine guten Beobachtungen letztlich an ihre Grenze führt: So nennt er Nietzsches scharfe Kritik an den Deutschen „auch irgendwie deutsch“; die vielfachen Perspektiven, die er auf das Deutsche wirft, seien „ohne Zweifel deutsch“.36 Damit wendet Kunnas jedoch, sichtlich etwas ratlos, Nietzsches Kategorien des Deutschen auf diesen selber an, ohne dies seinerseits nochmals zu reflektieren und offenbar auch ohne es selbst zu merken. Dass gerade hier, in dieser Selbstbezüglichkeitsfigur, ein entscheidender Punkt von Nietzsches Problem mit den Deutschen liegt, bleibt verborgen. Auch die verdienstvolle Beobachtung, dass „Vieles, was Nietzsche über die Deutschen sagt, […] nicht speziell die Deutschen, sondern das ganze Europa“ betreffe, wird dann nicht mehr auf ihre Bedeutung im Kontext von Nietzsches eigenem Denken befragt, sondern einfach objektiviert und sogar in die Gegenwart projiziert: „Vielleicht ist das ein Zeugnis dafür, daß das von Nietzsche kritisierte deutsche Denken – gut oder schlecht – eine weite Ausstrahlung in der heutigen Welt hat.“37 englischer und deutscher Seite während des 1. Weltkriegs zeigt, dass, jedenfalls für diesen speziellen Gegenstand, von einem „ideengeschichtliche[n] Sonderweg“ (S. 578) Deutschlands nicht gesprochen werden kann. Vielmehr zeigten sich auf beiden Seiten auffällig ähnliche Tendenzen. Wills, The Image of Germany in the Works of Heinrich Heine and Friedrich Nietzsche, S. 167 f., vgl. auch S. 118 f. u.ö. Wills, The Image of Germany in the Works of Heinrich Heine and Friedrich Nietzsche, S. 220 f. Kunnas, Nietzsche und die Deutschen, S. 107. Kunnas, Nietzsche und die Deutschen, S. 113. Kunnas, Nietzsche und die Deutschen, S. 112.
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In seiner großen Untersuchung über die Begriffe „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche lieferte Gerd Schank Anfang des neuen Jahrtausends auch Darstellungen von Nietzsches Charakterisierungen der europäischen Völker. Auf die Deutschen geht Schank hierbei ausführlich ein.38 Seine ausgewogene Darstellung von Nietzsches Urteilen über die Deutschen ist schon darum verdienstvoll, weil sie Nietzsches differenzierte, oft scheinbar widersprüchliche Analysen erst deutlich vor Augen treten lässt. Schank hebt außerdem zu Recht hervor, dass Nietzsche zwischen „Germanen“ und „Deutschen“ skrupulös unterscheidet.39 Seine eher auf die Feststellung von Begriffsbedeutungen als auf Begriffsverschiebungen ausgelegte Interpretationsmethode bedingt jedoch, dass er nicht zwischen Aussagen des früheren und späteren Nietzsche unterscheidet, sondern sie in der Absicht einer systematischen Gesamtschau der Begriffsnuancen gleichberechtigt zusammenstellt. Obwohl Schank in seiner Studie überzeugend nachgewiesen hat, dass ein biologischer Begriff von „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche nicht oder nur an verschwindend wenigen Stellen nachweisbar ist, hat man Nietzsche noch in jüngster Zeit immer wieder Züchtungsprogramme in ebendiesem biologistischen Sinn unterstellt. Auch Daniel Conways im Jahre 2005 erschienene Studie Nietzsche’s Germano-mania ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Conway möchte, vornehmlich unter Bezug auf Völker und Vaterländer, das 8. Hauptstück von JGB, beweisen, dass Nietzsche trotz seiner Kritik an den Deutschen „has by no means given up on them as the European people of world-historical destiny“.40 Diese These ist nicht von vornherein abwegig – im Rahmen von Nietzsches später Behauptung, er rechtfertige die welthistorischen Vergehen der Deutschen und sei ohne sie nicht denkbar, trifft sie in gewisser Weise zu, sofern nämlich Nietzsche selbst sich als schicksalhaft empfindet. Um diesen Gesichtspunkt geht es Conway freilich nicht: Er deutet Völker und Vaterländer als verbindliche, in sich abgeschlossene Blaupause für die Zukunft Europas – was ihn nicht davon abhält, bei Bedarf vermeintliche Züchtungs- bzw. Selektionsanweisungen aus anderen Texten einzugliedern –, und zwar im Sinne eines „project of racial engineering“. In diesem Projekt erweise sich Nietzsche als „inveterate – if complicated – Germanophile“, weil „[t]he overwhelmingly dominant identity of Nietzsche’s empire is Germanic“.41 Das glaubt Conway daraus ableiten zu können, dass das 8. Hauptstück sich überwiegend mit den Deutschen beschäftigt und „ignores most European peoples and nations“.42 Setzt man allerdings nicht schon voraus, dass Nietzsche sich im 8. Hauptstück von JGB als „racial matchmaker“ betätigt43 – und dazu hat man mit Blick auf Schanks Forschungen allen Anlass –, so liegt eine nüchterne Erklärung für die Konzentra
Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 89‒106. Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 93. Conway, Nietzsche’s Germano-mania, S. 7. Conway, Nietzsche’s Germano-mania, S. 7, 12, 26. Conway, Nietzsche’s Germano-mania, S. 26. Conway, Nietzsche’s Germano-mania, S. 11.
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tion auf die Deutschen weit näher: dass sie Nietzsche auf eine fundamentale Weise zu einem Problem, nämlich auch und gerade zu einem Problem mit sich selbst, geworden waren, von dem Nietzsche nicht loskam – ohne dass ihn dies nolens volens schon zu einem Propheten neuen Deutschtums machen müsste, wie Conway anzunehmen scheint und damit unter der Hand die Geister der Interpretation Ernst Bertrams wieder heraufbeschwört. Gilbert Merlios Aufsatz Nietzsche et les Allemands aus dem Jahr 2006 hat mit solchen spekulativen Entwürfen wenig im Sinn. Er ist eine wohltuend sachliche Bestandsaufnahme von Nietzsches wechselvoller Auseinandersetzung mit den Deutschen, die sich zwar meist bewusst darauf zurückzieht, Nietzsche selbst sprechen zu lassen, d.h. besonders wichtige Textstellen zum Thema zusammenzustellen, die aber doch wiederholt wichtige Beobachtungen formuliert: So konstatiert er, dass „la France fonctionne comme un système de signes qui permet de vanter tout ce que Nietzsche hait en Allemagne“.44 Daneben ist Merlios Hinweis darauf hervorzuheben, dass Nietzsches „façon de dire: ceci est allemand, ceci n’est pas allemand, est plus affirmative que démonstrative“. Die Frage, was es bedeutet, dass sich hier in seiner „germanophobie“ „l’envers (l’image spéculaire) de la teutomanie“ zeigt, verfolgt Merlio leider nicht weiter.45 Gemeinsam ist vielen älteren wie neueren Studien die Auffassung, Nietzsches Nachdenken über die Deutschen sei entweder gar keiner Entwicklung unterworfen46 oder aber zumindest keiner nennenswerten Entwicklung seit seinem Bruch mit Wagner. Sie neigen darum dazu, Aussagen aus unterschiedlichen Perioden schlicht zusammenzuziehen, um Nietzsches kritisches Deutschland-Bild aufzuzeigen. Natürlich bestehen Kontinuitäten, und diese werden in den nachfolgenden Kapiteln auch anzusprechen sein – aber es gibt doch zugleich immer wieder Verschiebungen, und gerade sie sind zum Verständnis der Entwicklung seines Denkens bedeutsam und müssen hier besonders interessieren. So kann diese Untersuchung nicht einfach in einer Systematisierung von Nietzsches Verwendungsweisen des Begriffsfeldes „deutsch“ bestehen, sondern muss auch und gerade den philosophischen, historischen und persönlichen Hintergründen der Evolution von Nietz-
Merlio, Nietzsche et les Allemands, S. 25. Merlio bezieht sich dabei auf die Interpretation von Bludau, Frankreich im Werk Friedrich Nietzsches. Merlio, Nietzsche et les Allemands, S. 18. Besonders signifikant ist hier die Verfahrensweise Ernst Bertrams. Im Sinne seines Anliegens, Nietzsche gleichermaßen zu enthistorisieren wie zu mythologisieren – die später ihre Fortsetzung in Baeumlers These finden würde, Nietzsches Philosophie habe überhaupt keine Entwicklung erfahren, sei „von Anfang bis zu Ende“ gleich (Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 88 u.ö.) –, stellt er bewusst Zitate aus verschiedenen Zeiten zusammen, und zwar meist ganz ohne Quellenangabe. Aber auch noch in jüngerer Zeit hat (freilich ohne ideologische Implikationen) Papíor, Gedanken zur Genealogie von Nietzsches deutschen und Deutschland-Sorgen, nicht signifikant zwischen Äußerungen des frühen und des späten Nietzsche unterschieden, und West[f]all, Zarathustra’s Germanity, hat Nietzsches Kritik an der gegenwärtigen deutschen Kultur zu Zeiten der UB mit seiner späteren Kritik Mitte der 1880er Jahre gleichsetzt.
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sches Selbstdiskurs über die Deutschen nachgehen, statt diesen Diskurs einfach nur abzutun als „Verlegenheit“ Nietzsches angesichts des Umstands, dass sich „die Frage: ‚was ist deutsch?‘ […] nie definitiv beantworten“ lässt.47 Dass die kontinuierliche Intensität von Nietzsches mit sich selbst geführter Debatte über die Deutschen die Interpreten nicht von der erstaunlichen Unterbewertung der philosophischen Bedeutung des Problems abgehalten hat, könnte zuletzt auch darauf zurückzuführen sein, dass man sein Verhältnis zu den Deutschen nicht als das erkannt hat, was es wesentlich ist: ein Selbstverhältnis. Dass die Erbitterung über die Deutschen auch auf ihn selbst, den gebürtigen und sozialisierten Deutschen, zurückfallen musste, und dass seine Kritik an verschiedenen geistigen Tendenzen der Deutschen folglich als eine verklausulierte Selbstkritik zu entschlüsseln ist, ist wohl ab und an gesehen worden – aber Konsequenzen für die Nietzsche-Interpretation wurden daraus nicht gezogen. So deutet Bertram Nietzsches „späte[ ] Deutschenfeindschaft“ zwar als „Selbsthass[ ]“, aber nicht als einen, der spezifisch etwas über Nietzsches Denken aussage, sondern der seinerseits „typisch[ ] deutsch[ ]“ sei – und zwar im Sinne von Bertrams eigener spekulativer Deutung des ‚deutschen Wesens‘.48 In jüngerer Zeit bemerkt Kunnas, Nietzsche kämpfe in Auseinandersetzung mit den Deutschen „gleichsam gegen gewisse Dimensionen seiner eigenen Persönlichkeit“,49 und Merlio vermutet, in Nietzsches Hass auf die Deutschen sei auch „une bonne dose de haine de soi“ zu verorten.50 Eine Vertiefung dieser Gesichtspunkte sucht man jedoch bei beiden vergebens. Selbst im Fall von Aphorismen, die nur dann verständlich werden, wenn man sie rekursiv deutet – gedacht wird hier an so prominente Fälle wie M 207, JGB 244 oder FW 357 –, ist die Selbstbezüglichkeit von Nietzsches Problem mit den Deutschen kaum je eingehend thematisiert worden.51 Vielmehr wurden die Aussagen, die Nietzsche über die Deutschen macht, meist strikt positivistisch verstanden52
Marti, Art. deutsch, der Deutsche, S. 217. Bertram, Nietzsche, S. 86. Kunnas, Nietzsche und die Deutschen, S. 112. Merlio, Nietzsche et les Allemands, S. 17. Eine wichtige Ausnahme bildet Werner Stegmaiers Interpretation des Aphorismus FW 357 (Stegmaier, „Ohne Hegel kein Darwin“; überarbeitete und erweiterte Fassung erschienen in: Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 355‒384). M 207 ist, unseres Wissens nach, nie in dieser Weise gesehen worden; für JGB 244 hat Zibis, Die Tugend des Mutes, S. 137 f., dies bemerkt, aber aufgrund anderer Erkenntnisinteressen nicht weiter verfolgt. Dies gilt zumal – aber keineswegs ausschließlich – für die frühe Forschung vor 1945. Auch eine so einflussreiche Studie wie Helmuth Plessners Die verspätete Nation leitet unausdrücklich zentrale Motive aus einer Verabsolutierung von Nietzsches auf individuellen Erfahrungen beruhenden Aussagen über die Deutschen in JGB, bes. JGB 240 und 244, her (s. dazu 3.3.5.2). Noch in neuester Forschungsliteratur begegnet der unbefangene, objektivierende Umgang mit Nietzsches Charakterisierung der Deutschen, so etwa in Bezug auf das gesamte 8. Hauptstück von JGB bei Conway, Nietzsches Germano-mania; in Bezug auf FW 357 bei Wills, The Image of Germany in the Works of Heinrich Heine and Friedrich Nietzsche, S. 179 f., und bei Langer, Nietzsche’s Gay Science, S. 231.
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und konnten so schlicht wie „disparate Gedankengänge“ erscheinen.53 Nur wenige waren so vorsichtig wie Merlio, der, wenn auch sehr allgemein, zu bedenken gibt: „Nietzsche ne parle pas un ‚jargon de l’authenticité‘ (Jargon der Eigentlichkeit) nationaliste.“54 Gewiss wollte Nietzsche auch für sich klären, was die Deutschen ausmachte, was ihre zentralen Eigenschaften waren, aber er wusste doch, dass die Antworten, die er finden würde, Antworten auf Fragen waren, die er sich in seinem Leiden am eigenen Deutschsein stellte und die er immer auch als Deutscher beantwortete – mithin: Nietzsche wusste, dass seine Antworten auf diese Fragen über die Deutschen ihm nicht nur und nicht in erster Linie über die Deutschen Aufschluss geben würden, sondern über sich selbst.
0.3 Aufbau der Untersuchung Eine Untersuchung, die Nietzsches Problem mit den Deutschen im Kontext seiner geistigen Entwicklung betrachten will, um dadurch die Hintergründe dieser Entwicklung besser verstehen zu können, muss sowohl chronologisch als auch systematisch vorgehen. Beide Untersuchungsebenen sind jedoch nicht zu trennen, sondern ineinander verschränkt: Sie müssen sich fortwährend wechselseitig ergänzen. Nur so können einerseits die persönlichen und historischen Gesichtspunkte, die Nietzsche die Deutschen zum Problem werden ließen, andererseits seine Arbeit am Begriffsfeld des Deutschen und ihre philosophischen Implikationen angemessen verstanden werden, denn sie stehen in unmittelbarer Beziehung zu- und Rückwirkung aufeinander. Das erste Kapitel geht der spezifischen Ausprägung nach, die Nietzsches ‚deutsche Hoffnungen‘ im Zusammenhang mit der Enttäuschung der Reichsgründung 1871 (1.1) unter Anschluss an Richard Wagners Ideal der Wiedergeburt deutscher Kultur erhalten (1.2). Nietzsches damaliges Problem mit den (zeitgenössischen) Deutschen und ihrer vermeintlich ‚unoriginalen‘, ‚epigonalen‘ Kultur verbindet sich mit dem Ideal einer noch zu schaffenden ‚originalen‘, ‚wahren‘ deutschen Kultur. In seinen Reflexionen über diese kulturelle Herausforderung, die er, wie Wagner selbst, vom Kunstwerk der Zukunft erhofft, lehnt er sich eng an Wagners Typologie des Deutschen an. Seine eigene begriffliche Arbeit führt Nietzsche jedoch schon bald über sie hinaus (1.3). Paradoxerweise gerät Nietzsche so gerade im Bemühen, die begrifflich-theoretische Grundlegung des Projekts deutscher Kulturerneuerung zu leisten, in Widerspruch zu diesem Projekt: Das mythologisch-metaphysische Ideal deutscher Kultur zersetzt sich in Nietzsches Denken selbst und transformiert sich in ein neues, zeitliches Ideal, das die Dichotomie von ‚echter‘ und ‚falscher‘ deutscher Kultur hinter sich lässt: das der überdeutschen – und damit der europäi-
Papíor, Gedanken zur Genealogie von Nietzsches deutschen und Deutschland-Sorgen, S. 128. Merlio, Nietzsche et les Allemands, S. 33.
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schen – Kultur. In der Zeit von MA setzt Nietzsche den damit vorgegebenen Weg konsequent fort und betreibt nun offen die Ablösung von Wagner, nachdem er seinen in WB unternommenen Versuch, Wagner für sich zu retten, indem er ihm unter der Kompromissformel des ‚Überdeutschen‘ den selbst vollzogenen Paradigmenwechsel unterschiebt, als aussichtslos erkannt hat. Sowohl Kapitel 2 wie Kapitel 3 knüpfen chronologisch bei MA an, folgen aber einem jeweils anderen systematischen Gesichtspunkt. Kapitel 2 deutet die Deutschen als eine Krankheit, an der Nietzsche leidet. Für kurze Zeit scheint diese Krankheit sogar überwunden (2.1): Seine Beschäftigung mit dem Thema geht in MA und den Zusätzen VM und WS merklich zurück, es steht für ihn nicht mehr im Vordergrund. Sein Problem mit den Deutschen scheint philosophisch zu Ende gedacht und gelöst und die Aufklärung der Deutschen über die Notwendigkeit ihrer Entdeutschung (vgl. MA II VM 323) nur noch eine Frage der Zeit. Seine persönlichen Erfahrungen belehren Nietzsche jedoch eines Besseren (2.2): Deutschland und die Deutschen werden ihm erneut und auf ganz neue, fundamentale Weise zum Problem: Im geistigen und meteorologischen deutschen Klima erlebt Nietzsche in den 1880er Jahren immer wieder tiefe Rückschläge, philosophische wie gesundheitliche. Gerade an diesen Rückschlägen lernt Nietzsche jedoch zu wachsen – darum spielt sein Kranksein am Deutschen für die Herausbildung seines Konzepts einer ‚großen Gesundheit‘ eine bedeutsame Rolle: Ohne diesen ‚großen Schmerz‘ wäre, so deutet es Nietzsche, in letzter Konsequenz auch die Umwertung nicht möglich gewesen. Das dritte Kapitel setzt an bei einer Konsequenz aus Nietzsches eigener Erkenntniskritik: Wenn aller Sinn zeitlich und perspektivisch ist, es also keine Objektivität im hergebrachten Sinn gibt, ist Nietzsches Begriff des Deutschen zunächst und vor allem eines: Ergebnis und Zeichen seines Problems mit ihnen (3.1). Damit ist aber die Krankhaftigkeit, die er den Deutschen zuschreibt, eine Spiegelung seiner eigenen Krankheit am Deutschen (3.2). So gibt Nietzsches Kritik an den Deutschen Aufschluss über das, was er an ihnen nicht vertrug, und vor allem: über diejenigen ‚deutschen‘ Eigenschaften und Neigungen, die er an sich überwunden glaubte – oder noch überwinden wollte. Nietzsches Distanzierung von den Deutschen birgt darum immer auch ein Eingeständnis seiner Nähe zu ihnen. Nachdem Nietzsche dies erkannt hat, nimmt seine Auseinandersetzung mit den Deutschen zunehmend Züge einer Autogenealogie an (3.3): Nietzsche leitet sich von den Deutschen her und macht sich so zur letzten Konsequenz der dialektischen Rolle des Vermittlers und Verzögerers, die er den Deutschen in der Geschichte zuschreibt: Nietzsche ist einerseits Erbe geistiger Potentiale, die er für sich zu nutzen versteht – aber andererseits hat sich sein Denken auch und gerade im Widerstand zu und Widerstreit mit den Deutschen geformt. Kapitel 4 befasst sich eingangs damit, wie Nietzsche diese Relation seiner selbst zu den Deutschen zuletzt zuspitzt zu der Aussage, er allein rechtfertige mit seinem neuen, befreienden Denken die welthistorischen Kulturverbrechen der
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Deutschen (4.1). Dies ist im Zusammenhang einer erheblichen Radikalisierung von Nietzsches Attacken auf die Deutschen seit 1887 zu sehen (4.2). In einem polemischen publizistischen Feldzug hält Nietzsche seine eigene ‚große Politik‘ gegen die ‚kleine Politik‘ des Deutschen Reichs, das er nun zum hauptsächlichen Sachwalter der christlichen décadence- und Ressentimentwerte stilisiert und symbolisch mit dem Christentum in Eins setzt. Nietzsche inszeniert sich dabei als Antideutscher und damit als Gegenmodell zu Wagner und seinem geschauspielerten Deutschsein (4.3). Nur als Antideutscher kann er die ihm verhassten ‚typischen‘ Deutschen, die er zuletzt in Wilhelm II. verkörpert sieht, symbolisch vernichten und so in der Selbstaufhebung des Deutschen zu einem neuen, pragmatischen Verständnis des Deutschseins finden, demzufolge nicht nur der Begriff der Nation, sondern auch die Orientierung des Einzelnen an der Nation ihre Zeit hat und nicht verabsolutiert werden darf (4.4). Nietzsches ‚Todkrieg‘ gegen die Deutschen scheint seine Philosophie absoluter Bejahung damit aber in einen Selbstwiderspruch zu treiben. Hier setzt das Schlusskapitel an. Anhand eines späten Notats, in dem Nietzsche unerachtet seiner hasserfüllten Attacken in den Werken dieser Zeit von einer Liebe zu den Deutschen spricht, wird danach gefragt, inwiefern er den Konflikt zwischen seinem Ressentiment gegen die Deutschen und seiner Kritik an allem Ressentiment in Einklang zu bringen vermocht oder doch versucht hat. Gerade in der fortwährenden Erregung solcher Konflikte, die sein Denken auf die Probe stellten, könnte die wichtigste Funktion dieses Steins des Anstoßes bestehen, der die Deutschen für Nietzsche bis zuletzt blieben.
1 Richard Wagner und die ‚deutschen Hoffnungen‘ im Frühwerk Nietzsches Wie Nietzsche, so wie er sich zuletzt verstand, zum Schicksal der Menschheit wurde,55 ist ihm Wagner zum Schicksal geworden.56 Erst über den Bruch mit Wagner wurde Nietzsche zum Entdecker einer neuen Freiheit des Denkens vor einem europäischen Horizont. So haben viele philosophische Problemstellungen Nietzsches ihre Wurzeln in der Frage Wagner.57 Auch Nietzsches Problem mit den Deutschen steht in engstem Zusammenhang mit seiner Freundschaft zu und seiner Emanzipation von Wagner.
1.1 ‚Deutsche Hoffnungen‘ vor Wagner: Zwischen deutscher Politik und deutscher Kultur Nietzsches Philosophie ist eine Philosophie der „Erhöhung der Cultur“ (JGB 239), seine Kritik an den Deutschen daher wesentlich Kulturkritik. Als solche setzt sie eine Verschiebung seines Denkhorizonts „[v]on imperialer Größe zur Größe der Kultur“ voraus:58 Ehe Nietzsche „Anwalt der Kultur“59 wurde, war er seit 1865 ein entschiedener Verfechter des „nationale[n] Programm[s]“.60 „Niemals seit 50 Jahren sind wir der Erfüllung unsrer deutschen Hoffnungen so nahe gewesen“, versichert er am 12. Juli 1866, mitten im Deutschen Krieg, seinem Freund Carl von Gersdorff, und fügt hinzu: „Ich beginne allmählich zu begreifen, daß es doch wohl keinen andern, milderen Weg gab, als den entsetzlichen eines Vernichtungskrie-
Vgl. EH Schicksal 8 und Stegmaier, Schicksal Nietzsche?. Über die erste Begegnung und die rasche Herausbildung der engen Freundschaft vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 248‒253 und 291‒303; Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 588‒591 und 622‒627, sowie Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner, S. 21‒48. Vgl. Borchmeyer / Salaquarda, Legende und Wirklichkeit einer epochalen Begegnung, S. 1386, nach denen „die Auseinandersetzung mit Wagner – in ihrer ganzen Spannungsweite von glühender Affirmation bis zu fast haßerfüllter Negation – das Zentrum von Nietzsches Denken gewesen ist. Wagner war für seine Philosophie das Paradigma aller Paradigmen“. Vgl. schon Curt Paul Janz’ Beobachtung, „[d]aß Wagner für Nietzsche ein ‚Schicksal‘ war, das ihn bis in die letzten Züge hinein belastet und verfolgt hat, ein letztlich unbewältigtes Problem“, geäußert in der Diskussion zu Montinari, Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren, S. 303. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 18. Ottmann hat die Wandlung in Nietzsches Gewichtung von Politik und Kultur und die Akzentverschiebungen seiner ‚deutschen Hoffnungen‘ eingehend untersucht (Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 11‒21, bes. S. 16‒20). Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 18. Vgl. dazu Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 14‒16; Schmidt, Auf der Suche nach dem Humanum, S. 202‒207; Bergmann, Nietzsche, „the Last Antipolitical German“, S. 31‒58, sowie Emden, Friedrich Nietzsche, S. 30‒42.
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Richard Wagner und die ‚deutschen Hoffnungen‘ im Frühwerk Nietzsches
ges.“ (Nr. 512, KGB I 2.143)61 Diese Worte Nietzsches, ganz im Sinne der Bismarckschen Politik der Zeit abgegeben,62 belegen, dass eine Lösung der ‚deutschen Frage‘ für ihn zu diesem Zeitpunkt politisch-militärische Tragweite besitzen musste. Dennoch deutet sich bereits die Tendenz an, die Politik als bloß instrumentell anzusehen: Der Krieg ist „entsetzlich[ ]“, aber unumgänglich. Nietzsche verstand Politik also schon damals nur als Mittel, nicht als Zweck. Er wollte keine nationale Einheit um der Einheit willen, sie war ihm nur indirekt von Belang, sofern sie eine „Gesinnungseinheit“ war (KGB I 2.143), d.h. sofern sie die deutsche Kultur würde befördern helfen. Nietzsche ordnete die kulturelle Tätigkeit der politischen vor und folgte damit den Idealen des deutschen Bildungsbürgertums,63 dessen Kind er, als Absolvent Schulpfortas und Student der Klassischen Philologie, selbst war. Dass gerade die bildungsbürgerliche Politikferne es ist, die ihm die Politik vorübergehend zum Schlüssel der Verwirklichung der kulturellen Ideale werden lässt, entspricht dabei der Dynamik des doppelbödigen Verhältnisses des Bildungsbürgertums zur Politik.64 Diese Sicht auf die Frage des Deutschen hat Nietzsche bis in den Spätherbst des Jahres 1870 beibehalten. Im Angesicht des deutsch-französischen Kriegs erlebt sie noch einmal einen kurzen, intensiven Antrieb: „Endlich auch bin ich betrübten Muthes, Schweizer zu sein! Es gilt unsrer Kultur! Und da giebt es kein Opfer, das groß genug wäre! Dieser fluchwürdige französische Tiger!“ (an Franziska Nietzsche, 16. Juli 1870, Nr. 87, KGB II 1.131)65 Nietzsche fährt fort (KGB I 2.144): „Es wird […] unsern nationalen Bestrebungen nicht erspart bleiben, europäische Zustände umzuwälzen, jedenfalls ihre Umwälzung zu versuchen.“ Dies ist bezeichnend für Nietzsches damalige Einstufung Europas als eines Mittels zum Zweck der Erfüllung „deutscher Hoffnungen“, die in spiegelverkehrtem Verhältnis zu seiner späteren, ab etwa 1876 vertretenen Ansicht steht. Dass Nietzsche die Notwendigkeit einer militärischen Lösung der deutschlandpolitischen Konflikte zwischen Preußen und Österreich so fraglos unterstützte, war keineswegs selbstverständlich angesichts des Umstands, dass der ‚Bruderkrieg‘ sich in der deutschen Bevölkerung nur geringer Popularität erfreute (vgl. dazu Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800‒1866, S. 783). Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 17 f., hier S. 18, der Nietzsches „bildungsbürgerliche Aversion gegen das politische Geschäft“ betont. Obwohl Nietzsche ihnen zumindest in dieser Hinsicht später verpflichtet bleibt, wird er die deutschen Bildungsideale in den 1870ern radikal kritisieren. Über die Herausbildung der im deutschen Bildungsbürgertum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verbreiteten Vorstellung von Politik als „nachgeordnete[r] Form menschlicher Betätigung“, die gegenüber der „nur kulturell zu verwirklichenden Gesamtheit der Betätigungen als Ziel menschlicher Existenz“ zurücktreten müsse, vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 329‒361, insbes. S. 335‒341, Zitat S. 329 f. Vgl. dazu Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 344‒346. Wie Thomas Nipperdey festhält, erfasste die deutschen Lande „nach Kriegsausbruch“ ein „Sturm nationaler Begeisterung“ (Deutsche Geschichte 1866‒1918, Bd. 2, S. 75). Dieser Sturm scheint auch Nietzsche erfasst und ihn dazu veranlasst zu haben, die Universität um eine Freistellung von der Lehre zu ersuchen, um „dem ungeheuren Rufe Deutschlands, dass Jeder seine d e u t s c h e Pflicht thue“, nachkommen zu können (Nietzsche an Wilhelm Vischer-Bilfinger, 8. August 1870, Nr. 89, KGB II 1.134) – trotz der im Ganzen eher Frankreich zugeneigten Basler
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Dann aber, am 7. November 1870, schreibt er, wiederum an Gersdorff: Vor dem bevorstehenden Culturzustande habe ich die größten Besorgnisse. Wenn wir nur nicht die ungeheuren nationalen Erfolge zu theuer in einer Region bezahlen müssen, wo i c h wenigstens mich zu keinerlei Einbuße verstehen mag. Im Vertrauen: ich halte das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefährliche Macht. (Nr. 107, KGB II 1.155)
Unter dem Eindruck seiner eigenen Kriegserfahrungen erscheint der Krieg nicht länger als Mittel zur Entwicklung einer deutschen Kultur, sondern als Hemmnis dieser Entwicklung.66 Er ist die Verkörperung eines die Kultur ignorierenden und eben darin sinnentleerten Militarismus, Nationalismus und Deutschtums. Die Nation wird zur „sichtbare[n] mechanische[n] Einheit, mit gloriosem Regierungsapparat und militärischem Prunke“ (NL 1870/71, 7[122], KSA 7.174). Die Zeit seines Leidens am Deutschen bricht an. Dem Deutschen Reich, das er zunächst als kulturellen Hoffnungsträger am Horizont behandelt hatte, steht er nun „furchtbar schwarzsichtig“67 gegenüber. Deutlich erkennt Nietzsche, dass die neue politische Macht keine kulturelle Erneuerung, sondern im Gegenteil „ e r h e b l i c h e [ ] Opfer[ ] der Ku l t u r “
Stimmung (vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 369) und auch trotz anders lautender, mit der Niederlegung seiner preußischen Heimatberechtigung verbundener Zusicherungen gegenüber Wilhelm Vischer-Bilfinger, den Verpflichtungen der Lehre auch im Kriegsfall nachkommen zu wollen (vgl. den Brief an Vischer-Bilfinger vom 7. März 1869, Nr. 626, KGB I 2.381). Selbst die Bedenken Cosima von Bülows (vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 374, sowie Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner, S. 49 f.) vermochten Nietzsche nicht umzustimmen. Wie eingenommen er noch im September 1870 von der mit dem Krieg verbundenen Hoffnung auf eine endgültige Lösung der nationalen Frage war, zeigt sich in einem Brief an seinen Lehrer Friedrich Ritschl vom 21. September 1870, keine drei Wochen nach dem entscheidenden deutschen Sieg bei Sedan: „Wann aber wäre man je auf stolzeren Füßen gegangen als jetzt? Und welcher Deutsche, wenn er einen Deutschen wiedersieht, darf jetzt nicht nur weinen, sondern auch – wie zwei Augurn – lachen?“ (Nr. 101, KGB II 1.145) Für den Wandel von der bedingten Befürwortung der Politik zum in der GT erstmals angedeuteten Gedanken, die politische Realität müsse sich an Wagners deutscher Kultur dionysischer Provenienz messen lassen, sind Nietzsches Kriegserlebnisse nicht die alleinige Ursache, wohl aber der in seiner emotionalen Signifikanz ausschlaggebende Auslöser gewesen (vgl. in diesem Sinn schon Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 363). Dafür spricht der Zeitpunkt der ersten expliziten Distanzierung vom Krieg als Beförderer der deutschen Kultur. Der früheste Beleg ist eine Tagebuchnotiz Cosima Wagners vom 24. Oktober 1870: „Brief von Pr. Nietzsche [Nietzsches Brief selbst hat sich nicht erhalten], der wieder genesen nach Basel zurückgekehrt ist; er meldet Befürchtungen für die kommende Zeit, daß der Militarismus und vor allem der Pietismus auf allem drücken werde“ (CT, Bd. 1, S. 303). Henning Ottmann hat zudem den Einfluss Jacob Burckhardts auf Nietzsches Wandlung betont (Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 18‒21, vgl. auch Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 388). In der Tat ist Burckhardts Einfluss auf Nietzsches Denken bedeutsam, zumal für Nietzsches Antithese von Politik und Kultur, die für seine Philosophie im Allgemeinen wie auch für die Frage des Deutschen im Besonderen bis ins Spätwerk hinein zentral bleiben wird (vgl. etwa GD Deutschen 4: „Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten“). Tagebuchnotiz Cosima Wagners vom 24. November 1870, CT, Bd. 1, S. 316.
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(an Friedrich Ritschl, 30. Dezember 1870, Nr. 117, KGB II 1.173) mit sich bringen wird. Wenn er bei alledem die Hoffnung äußert, es werde „eine spätere reichliche und vielfältige Wiedererstattung“ (KGB II 1.173) der kulturellen Einbußen geben, dann hat er kaum eine mögliche Einsichtigkeit der politischen Führung im Blick, sondern eher eine neue ‚deutsche Hoffnung‘: Richard Wagner.
1.2 Nietzsche, Wagner und das Ideal deutscher Kultur 1.2.1 Nietzsches Rezeption von Wagners Begriff des Deutschen „ [ D ] a ß d a s S c h ö n e u n d E d l e n i c h t u m d e s Vo r t h e i l s , j a s e l b s t n i c h t u m d e s R u h m e s u n d d e r A n e r k e n n u n g w i l l e n i n d i e We l t t r i t t : […] Alles, was im Sinne dieser Lehre gewirkt wird, ist ‚ d e u t s c h‘“ (WID, S. 48) – so Wagners Antwort auf seine Frage Was ist deutsch?.68 Er verortet zugleich die Bedeutung des ‚deutschen Wesens‘ in der Weltgeschichte: „und deßhalb ist der Deutsche groß“. Die Größe des Deutschen ist auch für Wagner nicht politische, sondern kulturelle Größe, eine Größe des „ S c h ö n e [n] u n d E d l e [n]“, das „der Welt zu zeigen“ vermag, in was sie sonst nie Einsicht gewonnen hätte (WID, S. 48).69 Es sei, so Wagner, „dem deutschen Geiste bestimmt […], das Fremde, Wagner erfand das Rad des nationalistischen Diskurses, der in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert geführt wurde, nicht neu, nahm vielmehr dessen sich diffus überlagernde Linien auf und verarbeitete sie zu einer schillernden Utopie deutscher „Herrlichkeit“ (WID, S. 38). Vgl. Hein, Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext, S. 154‒188, bes. S. 155, 158‒163, 165 f., 170 f., und Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens…“, S. 41‒147, bes. S. 68 f. – Der Aufsatz Was ist deutsch?, der aufgrund seiner systematischen Anlage die wichtigste Quelle für Wagners Begriff des Deutschen bildet, geht auf Tagebuchnotizen aus dem Jahr 1865 zurück (vgl. Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens…“, S. 55‒57). Wagner hat ihn erst 1878, also nach dem Bruch zwischen ihm und Nietzsche, in den Bayreuther Blättern veröffentlicht. Man wird ihn dennoch für einen Vergleich des Wagnerschen Begriffs des Deutschen mit dem des jungen Nietzsche heranziehen können, da Nietzsche zwar vielleicht nicht den Aufsatz selbst, wohl aber die darin geäußerten Auffassungen Wagners aus dem persönlichen Gespräch gekannt haben wird. Darauf, dass die Frage, was deutsch sei, ein Thema unter ihnen war, deutet etwa der Brief Wagners an Nietzsche vom 24. Oktober 1872 hin, in dem Wagner schreibt, er denke „[u]eber das ‚was ist deutsch?‘ […] immer mehr nach“ (Nr. 372, KGB II 4.103). Tatsächlich lässt diese Bemerkung sogar vermuten, dass Wagner, der sich im Zuge der Herausgabe seiner Gesammelten Schriften und Dichtungen (Leipzig 1871 ff.) auch mit dem Gedanken einer Überarbeitung und Veröffentlichung seiner Tagebuchaufzeichnungen trug (vgl. Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens…“, S. 56), mit Nietzsche über die Umsetzung dieses Plans gesprochen hat. Die Artikelserie Deutsche Kunst und deutsche Politik, 1867 veröffentlicht und von Nietzsche 1869 gelesen (vgl. Nietzsche an Carl von Gersdorff, 4. August 1869, Nr. 19, KGB II 1.36, und dazu Niemeyer, Nietzsches Bildungsvorträge von 1872, S. 42), deckt sich in ihren begrifflichen Bestimmungen des Deutschen weitgehend mit Was ist deutsch?. Vgl. auch BB, S. 86: „Aber was ist dieses Deutsche? Es muss doch etwas wunderbares sein, denn es ist menschlich schöner als alles Übrige?“ – Wagner stellt sich mit der Bestimmung des Deutschen als eines vordringlich „geistige[n] und ästhetische[n] Prinzips“ in die Tradition der Volksgeistidee Herders (Hein, Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext,
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ursprünglich ihm Fernliegende, in höchster objektiver Reinheit der Anschauung zu erfassen und sich anzueignen“ (WID, S. 40). In dieser das deutsche Wesen auszeichnenden „Universalität“ (DKDP, S. 53), die „über die engeren Schranken der Nationalität zu einem Erfassen des rein Menschlichen hinleitet“, zeige sich die Verwandtschaft zum griechischen (ML, S. 221).70 Folglich habe auch nur „der Deutsche“ die Antike „in ihrer reinmenschlichen Originalität“ erkennen können (WID, S. 40 f.). Obwohl Wagner die Größe des deutschen Geistes auch an Gestalten wie dem Stauferkaiser Friedrich II. (ML, S. 221) und den Literaten Goethe und Schiller festmacht, manifestiert sich für ihn das spezifisch Deutsche in erster Linie in der Musik: in Mozart und Beethoven, vor allem aber in der „Erscheinung des musikalischen Wundermannes S e b a s t i a n B a c h“ (WID, S. 49, S. 47). Das Leben Bachs sei die „Geschichte des innerlichsten Lebens des deutschen Geistes während des grauenvollen Jahrhunderts der gänzlichen Erloschenheit des deutschen Volkes“ (WID, S. 47). Wagner unterscheidet den deutschen Geist vom deutschen Volk. Während dieses nach dem Dreißigjährigen Krieg „auf den zehnten Theil seines früheren Bestandes herabgebracht“ gewesen und im Zeitalter des Barock unter Einfluss der französischen Kultur nahezu gänzlich unter „Perrücke und Zopf“ verschwunden sei, habe jener die von Wagner in satten Farben ausgemalte Zeit des Verfalls überdauert, indem er „aus seinem tiefsten Innern“, „aus seinem eigensten innerlichen Schatze sich neu gebar“, d.h. aus den „von außen kommenden Einflüsse[n]“, die der deutsche Geist sich „in seiner früheren Entwicklungsperiode […] innerlichst angeeignet hatte“ (WID, S. 46). Die Neugeburt habe sich in der Musik Bachs vollzogen, der so zum Synonym des deutschen Geistes wird: „Bach’s Geist, der deutsche Geist“, trat „aus dem Mysterium der wunderbarsten Musik, seiner Neugeburtsstätte, hervor“ (WID, S. 48), „aus dem Geiste der Musik“, wie Nietzsche dann sagte. Wagner wähnte die deutsche Gesellschaft und Kultur erneut bedroht (WID, S. 49‒ 51) und sah es, nun selbst die Rolle des deutschen Geistes von Bach übernehmend („Jetzt begreift mich kein Mensch: ich bin der deutscheste Mensch, ich bin der deutsche Geist.“, BB, S. 86), als seine Aufgabe, das Deutsche wiederzubeleben. Nietzsche sollte dafür die theoretische Begründung liefern: „Nun zeigen Sie denn, zu was die Philologie da ist, und helfen Sie mir, die grosse ‚Renaissance‘ zu Stande bringen, in welcher Platon den Homer umarmt, und Homer, von Platons Ideen erfüllt, nun erst recht der allergrösste Homer wird.“ (Wagner an Nietzsche, 12. Feb-
S. 158; vgl. auch Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens…“, S. 45). Zu Herders Volksbegriff und seiner Wirkung vgl. Koselleck, Art. Volk, Nation IX, S. 316‒319. Obwohl Wagner den vierten und letzten Teil seiner Autobiographie Mein Leben erst 1880, lange nach dem Bruch zwischen ihm und Nietzsche, beenden würde, konnte er den ersten Band, auf den wir uns hier und im weiteren Verlauf des Kapitels beziehen, bereits „[z]u Weihnachten 1870 […] einigen Freunden und Vertrauten“ übersenden – als Privatdruck, dessen Betreuung Wagner niemand anderem als Nietzsche übertragen hatte (Gregor-Dellin, Nachwort [zu ML], S. 778 f.). Seine Vertrautheit mit dem Inhalt steht daher außer Zweifel.
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ruar 1870, Nr. 73, KGB II 2.146) Nietzsche folgte dem, zwar nicht ganz, aber doch weitgehend in Wagners Sinn.71 Wie Wagner dachte Nietzsche das deutsche Wesen als Reinkarnation des Griechischen72 und ließ dieses wie jenes „aus dem Geiste der Musik“ entspringen. So deutete er „ d i e d e u t s c h e M u s i k , wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben“, als „ d a s a l l m ä h l i c h e E r w a c h e n d e s d i o n y s i s c h e n G e i s t e s in unserer gegenwärtigen Welt“, als eine Umkehrbewegung zur „Umwandlung und Degeneration des griechischen Menschen“ vom tragischen zum theoretischen Menschen (GT 19, KSA 1.126 f.). Die „ W i e d e r g e b u r t d e s d e u t s c h e n M y t h u s “ (GT 23, KSA 1.147) vollendete sich in Wagners mythischem Musikdrama: Der Mythos, das „verdichtete Bild der Erscheinungen“ (OD, S. 30) oder, wie Nietzsche übereinstimmend vermerkt, „das zusammengezogene Weltbild“ (GT 23, KSA 1.145), dessen „Derivat“ die Geschichte bloß ist73 – wer hätte ihn
Nietzsche dachte die ‚Geburt‘ der Tragödie nicht von Homer her, sondern „aus dem dithyrambischen Satyrchor“ (Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches, S. 51). Über die Differenzen Wagners und Nietzsches in der Auffassung der Griechen vgl. Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, S. 189‒196. Zu diesem Motiv vgl. auch NL 1870/71, 5[23], KSA 7.97; NL 1870‒72, 8[23, 47], KSA 7.229, 241; NL 1871, 11[1], KSA 7.353; NL 1871, 13[2], KSA 7.372 u.ö. – Wagner und Nietzsche stehen damit in der Tradition einer Idee, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert verbreitet hatte: Herder stellte die deutsche Weisheit als neues Vernunfttestament dem alten Vernunfttestament der griechischen gegenüber (vgl. Bertino, „Vernatürlichung“, S. 297), Friedrich Schlegel und Schiller nannten die Deutschen die „Griechen der Neuzeit“ (vgl. Wehler, Nationalismus, S. 66), Fichte zufolge verband sie die Ursprünglichkeit ihrer Sprache (Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 72). Sie alle postulierten damit zugleich die Vorzüglichkeit der griechischen Kultur, eine Tendenz, die sich „im deutschen Geistesleben des achtzehnten Jahrhunderts besonders ausgeprägt“ hatte (StammKuhlmann, Humanitätsidee und Überwertigkeitswahn in der Entstehungsphase des deutschen Nationalismus, S. 170). Deutsches Selbst- und Griechenbild gingen so seit der Wende zum 19. Jahrhundert eine Verschränkung ein, heilsgeschichtlich zugespitzt bei Friedrich Ludwig Jahn: „die G r i e c h e n und […] die D e u t s c h e n , der Menschheit heilige Völker!“ (Jahn, Deutsches Volkstum, S. 38) Die Verknüpfung von griechischem und deutschem Wesen, die Nietzsche vornimmt, ist also zwar von Wagner beeinflusst, muss aber zugleich als Topos der Zeit verstanden werden, mit dem Nietzsche spätestens zu Beginn seines Studiums konfrontiert wurde (vgl. dazu Emden, Friedrich Nietzsche, S. 23‒29). Schon deshalb wird man Campioni, Der französische Nietzsche, S. 166, nicht recht geben können, wenn er sie bereits 1872 schlicht „ein wenig überzeugtes Zugeständnis an Wagner“ nennt. Außerdem steht, anders als Campioni meint, die Tatsache, dass Nietzsche die Verschränkung deutscher und griechischer ‚Seele‘ später verwirft und etwa mit der Behauptung konterkariert, die Franzosen kämen den Griechen ihrer Natur nach näher als die Deutschen (vgl. u.a. JGB 248 und JGB 254), ebenso wenig dem Umstand entgegen, dass er zunächst wirklich an diese Verschränkung geglaubt hat, wie der Befund, dass es unmöglich sei, „in die entfremdete hellenische Welt […] ohne Brücken hinein[zu]springen“ (BA II, KSA 1.689). – Zum Konzept der Ursprünglichkeit des deutschen Volkes und seinem Ausgangspunkt bei Tacitus vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 149‒163. Borchmeyer, Art. Mythos, S. 257; zur Übereinstimmung des Mythos-Begriffs beim frühen Nietzsche und bei Wagner vgl. S. 259‒262. Zu Wagners Mythentheorie vgl. außerdem Borchmeyer, Richard Wagner, S. 108‒116, bes. 114, und 206‒208. Vgl. 1.3.2.4.
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hinter dem Schleier scheinbarer Kontingenz deutlicher schauen können als die Deutschen mit ihrer Anlage zur Universalität? Den „Glaube[n]“ der Deutschen an diese „mythenbildende Kraft“ ihrer „ Ve r g a n g e n h e i t “, den einst schon die Griechen besessen hätten, würde Wagners musikalische Offenbarung deutschen Wesens wecken (NL 1872/73, 19[285], KSA 7.508).74
1.2.2 Nietzsches Kritik an der deutschen Kultur aus dem Geiste Wagners 1.2.2.1 Originale und angebliche deutsche Kultur Wie Wagner sich selbst, so machte auch Nietzsche ihn zum Symbol des „deutschen Wesens“ im Gegensatz zur „angeblich deutschen, im Grunde unoriginalen Kultur“ der Zeit (BA II, KSA 1.690): Das zuerst im „[s]o tief[en], muthig[en] und seelenvoll[en], so überschwänglich gut[en] und zart[en] […] Choral Luther’s“, diesem „erste[n] dionysische[n] Lockruf“, ans Licht tretende deutsche Wesen sei in seiner „herrliche[n], innerlich gesunde[n], uralte[n] Kraft“ strikt zu trennen von „diese[r] unsere[r] so fragwürdige[n] Cultur“. Unter ihrem „unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungskrampfe“ habe es bislang verborgen gelegen, ohne mit ihr etwas „gemein“ zu haben (GT 23, KSA 1.146 f.). Diese Gegenüberstellung der „originale[n]“, „wahren“, „eigentlich[en]“ deutschen Kultur, die erst noch errichtet werden müsse (DS 1, KSA 1.163 f.; BA IV, KSA 1.725; BA V, KSA 1.747; CV 4, KSA 1.779), und der nur scheinbar deutschen „modische[n] Pseudokultur der „Jetztzeit““ (BA II, KSA 1.691), die in der gesellschaftlichen Realität begegne und lediglich Zeugnis davon ablege, „dass die Deutschen bis jetzt keine Cultur haben“ (HL 10, KSA 1.325), bildet nicht nur den argumentativen Kern von Nietzsches früher Kritik an der zeitgenössischen deutschen Kultur, paradigmatisch verkörpert im „ B i l d u n g s p h i l i s t e r “ David Friedrich Strauß, der „gerade das, was die Kultur verneint, für die Kultur“ hält (DS 2, KSA 1.165 f.),75 sondern auch und zuerst den der kulturtheoretischen Schriften Wagners: „[…] ‚deutsch‘, ‚deutsch‘, so tönt die Glocke laut über die kosmopolitische Synagoge der ‚Jetztzeit‘ hin“ (DKDP, S. 46). Doch der Klang dieser vermeintlich deutschen Glocke bleibe hohl: „‚Deutschthum‘, ‚deutscher Geist‘, ‚deutsche Redlichkeit‘, ‚deutsche Freiheit‘, ‚deutsche Sittlichkeit‘ wurden nun Schlagwörter, die Niemanden mehr anwidern konnten, als den, der
Unter dem Titel „ F a k t o r e n d e u t s c h e r Ve r g a n g e n h e i t “ gibt Nietzsche in diesem Notat eine Übersicht „unsre[r] M y t h e n w e l t “ und stellt jedem Punkt seine Entsprechung im Œuvre Wagners gegenüber: „Volkskunst der Reformation — Faust, Meistersinger. / Askese und reine Liebe, Rom — Tannhäuser. / Treue und Ritter, Orient — Lohengrin. / Ältester Mythus, der Mensch — Ring des Nibelungen. / Metaphysik der Liebe — Tristan.“ (NL 1872/73, 19[285], KSA 7.508) Mit dem „Faust“ dürfte in diesem Zusammenhang die Faust-Ouvertüre Wagners gemeint sein. Nietzsche war von Wagner zu der Polemik gegen Strauß angeregt worden. Vgl. dazu Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 533‒536, und Niemeyer, Nietzsches Leben, S. 22.
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wirkliche deutsche Bildung in sich hatte“ (WID, S. 50).76 Das wahre Deutsche habe auf Erden derzeit keinen Ort, wohl aber einen Stellvertreter und Heilsbringer – ihn: „O Himmel! sollte dieses ‚Deutsche‘ einen Boden haben! Sollte ich mein Volk finden können! Welch herrliches Volk müsste das werden?“ (BB, S. 86)77 Dem, was „deutsch und ächt“ war, stand für Wagner das mit dem Judentum assoziierte Kosmopolitische gegenüber, dessen Ergebnis eine schlechte Nachahmung der französischen Kultur sei: „und wälschen Dunst mit wälschem Tand / sie pflanzen uns in’s deutsche Land“, bringt es Hans Sachs in der berühmt-berüchtigten Schlusspassage der Meistersinger von Nürnberg auf den Punkt (MN, S. 270).78 „Kopieren und Nachahmen“ als „Wesensmerkmale insbesondere des Undeutschen, des Falschen und Unechten“ (und das hieß in Wagners Augen: des Französischen und Jüdischen), „Ursprünglichkeit und Echtheit“ als „Attribute des wahren Deutschtums“79 – dieses dichotomische Instrumentarium von Inklusion und Exklusion80 übernahm der junge Nietzsche. Dementsprechend prägt es weite Teile von Werk und Nachlass bis 1874. Schon Schopenhauer hatte den von Wagner wie Nietzsche abfällig verwendeten Begriff der Jetztzeit als „symptomatisch für den Optimismus, die Überheblichkeit und den mangelnden ästhetischen Sinn seiner Zeit“ kritisiert (Pröbsting, Art. Jetztzeit, Sp. 648). Vgl. dazu Hein, Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext, S. 161 f., die zu dem Schluss gelangt, die „Gegenüberstellung von idealem und real gelebtem Deutschtum“ sei „konstitutiv […] für Wagners nationalkulturelle Argumentation“: „Echtes Deutschtum erscheint als reines Zukunftsprojekt; es erhält eine heilsgeschichtliche Dimension.“ Nach Hein, Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext, S. 174‒188, lassen sich die Meistersinger als „Sieg des deutschen Geistes über ‚französisch-jüdischen‘ Kultureinfluss“ lesen (S. 174). An ihnen zeige sich „ganz deutlich“ die Unmöglichkeit „eine[r] puristische[n] Trennung zwischen dem Künstler und dem Ideologen Wagner“ (S. 188), wie sie etwa Borchmeyer, Richard Wagner, S. 255‒275, 535 f. u.ö., oder Danuser, Universalität oder Partikularität?, vertreten. Zu den Meistersingern in nationalkultureller Perspektive vgl. auch Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens…“, S. 212‒218. – Wagners Nationalismus ging also nicht nur mit antifranzösischen Einstellungen, sondern auch mit Antisemitismus einher – eine Verbindung, die für das Deutschland des 19. Jahrhunderts charakteristisch ist (vgl. Volkov, Antisemitismus als kultureller Code). Ob Wagners Antisemitismus rassistisch gewesen ist, ist strittig. Nach Borchmeyer habe Wagner, als „Gegner des Rassismus“, im Gegenteil Rassegegensätze überwinden wollen, und zwar durch das „Blut[ ] Jesu“ (HC, S. 283), das die Gleichheit der Rassen herstellen könne (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 331‒333). Auch die berüchtigte „Selbstvernichtung“, die er den Juden in der Schlusspassage von Das Judenthum in der Musik anempfiehlt, sei nicht eliminatorisch zu verstehen, sondern nur Teil der Selbstaufhebung der modernen Gesellschaft in einer „nicht-entfremdeten Gestalt der Menschheit“ (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 385‒387, hier S. 385). Fischer, Richard Wagners Das Judentum in der Musik, S. 39, stimmt der Deutung der Schlusspassage als „versöhnliche[r] Volte“ bei, gibt jedoch zu bedenken, dass zwischen ihr und dem „deutlichen Frührassismus des Textes […] ein nicht zu überwölbender logischer Abgrund“ klaffe. Salmi, „Die Herrlichkeit deutschen Namens…“, S. 67. Vgl. zu diesen Gegensatzpaaren, mit denen Wagner das Deutsche vom Undeutschen scheidet, ausführlich Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens…“, S. 62‒68. Deutsch – undeutsch, national – kosmopolitisch, Kultur – Zivilisation, Idealismus – Materialismus, Originalität – Epigonentum, echt – falsch, edel – verfallen werden in Wagners Schriften demnach äquivalent
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1.2.2.2 Kritik der deutschen Bildung Die Kritik an der zeitgenössischen deutschen Kultur ist für Nietzsche, wie für Wagner, wesentlich eine Kritik an der „Gebildetheit“ (DS 1, KSA 1.160 f., DS 8, KSA 1.205 u.ö.). Die „Gelehrsamkeit“ (GT 19, KSA 1.124) oder „gelehrte[ ] Bildung“ (BA II, KSA 1.689), wie er sie auch nennt, entbehre „wirkliche[r] ächte[r] deutsche[r] Bildung“ (DS 1, KSA 1.161), sei ganz „Frankreich“ und „Judenthum“ (NL 1870/71, 5[43], KSA 7.104) und reproduziere sich selbst in Form technokratischer „abstracter Erziehung“ (GT 23, KSA 1.145). Die „Verläugnung des deutschen, überhaupt des nationalen Geistes“ durch den „undeutschen, beinahe ausländischen oder kosmopolitischen Charakter“ der „Bildungsbemühungen“ führe zu einem „kosmopolitischen Aggregat“, einer „talentlos[en]“ „Nachahmung“ der „im tiefsten Fundamente ungermanischen Civilisation der Franzosen“, die sich „zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller, wie Meyerbeer zu Beethoven“ (BA II, KSA 1.689 f.).81 Die wagnerisierenden antisemitischen Implikationen dieser Passage sind überdeutlich: Der Journalist und überhaupt die Presse waren von Wagner schon seit langen Jahren als „jüdisch“ bezeichnet worden.82 Nietzsche tat es ihm hier wenigstens implizit nach, indem er „Journalist“ und „Meyerbeer“ parallelisierte.83 Giacomo Meyerbeer, der weltberühmte Opernkomponist, bei Berlin als Sohn einer jüdischen Familie geboren, wirkte zwischenzeitlich in Italien und schließlich vor allem in Frankreich, war also entschieden kosmopolitisch geprägt. Wagner, der zunächst sein Verehrer und (entgegen seiner späteren Behauptung, gebraucht. – Zu In- und Exklusion als conditio sine qua non des Nationalismus, vgl. Jansen / Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 8 und 17‒20. – Das in Wagners wie Nietzsches Kulturkritik prominente Motiv der „Nachahmung“ geht auf den Frühnationalismus des späten 18. Jahrhunderts zurück. Bereits damals beklagte man, die Deutschen litten seit Jahrhunderten an der „‚Nachahmungssucht‘“, und warnte vor einer zunehmenden Desintegration des deutschen Volkes (Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 135). Angesichts solcher Töne verwundert die Ansicht von Meyer, Nietzsche und Europa, S. 13, die „antifranzösischen Bemerkungen“ des jungen Nietzsche entsprängen „keinen nationalistischen Antrieben, sondern sind Ausdruck des antagonistischen Denkmodells von (geistiger) Kultur und (pragmatischer) Zivilisation“. Gerade dieses Modell war jedoch manifester Teil der deutschen nationalistischen Antriebe. Vgl. dazu Bollenbeck, Art. Zivilisation, Sp. 1370‒1375. Nietzsche behält den Gegensatz auch später bei (vgl. z.B. NL 1887/88, 9[142], KSA 12.416), bezieht ihn aber nicht mehr auf nationale Gegensätze (vgl. Bollenbeck, Art. Zivilisation, Sp. 1374). – Auch BA ging auf eine Anregung Wagners zurück. „[V]on der schwärzesten Sorge für die d e u t s c h e B i l d u n g erfüllt“ und in dieser Sorge durch die ablehnende Reaktion der akademischen Welt auf GT bestätigt, schrieb Wagner im Rahmen eines „Sendschreibens“ gegen Wilamowitz’ Polemik gegen die GT, das am 23. Juni 1872 in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung erschien: „ W i e s t e h t e s u m u n s e r e d e u t s c h e n B i l d u n g s a n s t a l t e n ? Darnach fragen wir gerade Sie [sc. Nietzsche] […]“ (SFN, S. 300 f.). Vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 483‒485. – Zu Wagners Bildungskritik vgl. WID, S. 50 f.; DKDP, S. 30, 45, 96‒99, 105; BMK, S. 136. Hein, Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext, S. 178. Vgl. jedoch die ausdrückliche Verwendung der Worte „jüdische Presse“ in einer Vorstufe zu ST, die er nur auf Anraten Cosima Wagners später in „heutige Presse“ änderte (Montinari, Kommentar, KSA 14.101).
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Richard Wagner und die ‚deutschen Hoffnungen‘ im Frühwerk Nietzsches
Meyerbeer habe ihm schaden wollen) Profiteur gewesen war,84 hatte ihn in Oper und Drama und Das Judenthum in der Musik als Sinnbild der Nachahmung und des Eklektizismus dargestellt.85 Demgegenüber waren Schiller und zumal Beethoven für Wagner klare Vorbildfiguren: Schiller hatte einst „dem wiedergeborenen [deutschen] Geiste die Gestalt des ‚deutschen Jünglings‘“ (DKDP, S. 36) gegeben, und Beethovens ‚deutschen Genius‘ feierte Wagner 1870 eigens in einer Jubiläumsschrift.86 Aus dem Vorangehenden wird sehr gut deutlich, dass der frühe Nietzsche Wagners Antisemitismus nicht zuletzt deswegen teilte, weil er, wie auch der antifranzösische Dünkel, systematischer Bestandteil von Wagners Konzept von Deutschtum war.87 Die Übernahme dieses Ideals deutscher Kultur durch Nietzsche musste somit notwendig auch diese Tendenzen übernehmen. Ohne sie war Wagners Kulturerneuerungsidee nicht zu haben.88
Vgl. Zimmermann, Giacomo Meyerbeer, S. 256‒262; Linhardt, Richard Wagner, bes. S. 92, 99. Vgl. Zimmermann, Giacomo Meyerbeer, S. 264‒267, und Fischer, Richard Wagners Das Judentum in der Musik, S. 36 f.; über die Motive für diese Schritte Wagners vgl. Fischer, Richard Wagners Das Judentum in der Musik, S. 40‒42, sowie bes. Döhring, Die traumatische Beziehung Wagners zu Meyerbeer, S. 264 und 268‒273. – Auch Wagner hat „die meiste Zeit seines Lebens im Exil gelebt“, „fern der deutschen Heimat einen Großteil seines Œuvres konzipiert und ausgearbeitet“ und „die wesentlichen Impulse und Anregungen […] auf Reisen quer durch Europa erhalten“ (Scholz, Richard Wagner, S. 13) und war in dem Sinne gleichfalls kosmopolitisch geprägt, versuchte diesen Umstand aber unkenntlich zu machen. Vgl. 1.3.2.2 und 4.3. Diese war wiederum für Nietzsches GT von prägender Bedeutung. Vgl. Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, S. 114‒147, und Niemeyer, Nietzsches Bildungsvorträge von 1872, S. 42 und 44 f. Zum Einfluss Wagnerschen Gedankenguts auf die Passage BA II, KSA 1.689 f., vgl. auch Niemeyer, Nietzsches Vorträge „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ im Kontext, S. 180, und Niemeyer, Nietzsches Zeit, S. 3 f. – Schiller war nicht nur für Wagner, sondern auch für den jungen Nietzsche von großer Bedeutung. Vgl. dazu Martin, Nietzsche and Schiller, bes. S. 20‒44, der S. 44 festhält: „Schiller was undoubtedly an important ‚untimely‘ weapon in Nietzsche’s cultural campaign of the early 1870s.“ Nach 1876, so Martin weiter, seien Nietzsches Bemerkungen über Schiller jedoch „usually […] hostile“ (S. 45). Vgl. auch Ulrichs, Braucht ein Übermensch noch Bildung?. Vgl. Hein, Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext, S. 157, die betont, dass die „Identifikation von Juden und Franzosen“ eine „konstitutive Denkfigur“ der Wagnerschen nationalen Schriften sei. Dies lässt sich besonders an Was ist deutsch? beobachten. Wagner spricht dort vom Fremdkörper der „französisch-jüdisch-deutsche[n] Demokratie“, die die Juden dem deutschen Volk in der „lärmenden Bewegung von 1848“ hätten überstreifen wollen (WID, S. 50 f.). Daher muss Marco Brusottis Befund widersprochen werden, dass „selbst beim jungen Nietzsche […] von Antisemitismus als zentralem Bestandteil der Weltanschauung nicht die Rede sein kann“ (Art. Politik, S. 273 f.). Es kann sehr wohl davon die Rede sein – aber bereits 1874 ist es damit vorbei, wie Brusotti selbst treffend herausstellt (Art. Politik, S. 274). Auch Ottmann geht zu weit, wenn er vermerkt, dass Nietzsche „den Rassismus seines Vorbilds“ nie in sein „Ideal ‚deutscher‘ Erneuerung“ implementiert habe und dass „[n]icht erst der ältere Nietzsche […] Anti-Antisemit“ gewesen sei (Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 94, 102). Gleichwohl ist seine These, judenfeindliche Äußerungen in Briefen und Schriften Nietzsches seien einem Maskenspiel zuzurechnen, nicht grundsätzlich zu verwerfen, sie bleibt aber, ebenso wie Christian Niemeyers in eine ähnliche Richtung zielendes Urteil, Nietzsches Antisemitismus habe „im wesentlichen für Rhetorik“ gestanden und dem Zweck gedient, „dem Ersatzvater Wagner unbedingte Ergebenheit zu
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1.2.2.3 Kritik der deutschen Sprache Mit der Gegenüberstellung von „Journalist“ und „Schiller“ machte Nietzsche seine Kulturkritik zugleich auch als Sprachkritik kenntlich – Verkümmerung der Bildung und Verkümmerung der Sprache hängen zusammen: Die Zeitungen brächten mit ihrem „Alltags-Deutsch“ die deutsche Sprache um ihren „metaphysischen Zauber“ und die Leser um ihren „Geschmack“ (DS 12, KSA 1.222, 228).89 Nur so lasse sich der Erfolg des „nachgemachte[n] gleichsam übersilberte[n] Scheinfranzosenthum[s]“ erklären, „auf das sich deutsche Schriftsteller so viel zu Gute thun“ (SE 2, KSA 1.347).90 Gemeint sind etwa das „Sudeldeutsch“ Eduard Devrients, das „seelenlose[ ] Wörtermosaik“ Berthold Auerbachs (DS 11, KSA 1.222),91 der das Deutsche ebenso „falsch und unidealistisch“ verstand wie „Julian Schmidt, [Gustav] Freytag“
signalisieren“ (Nietzsches rhetorischer Antisemitismus, bes. S. 139‒145, Zitat S. 145), problematisch. Denn es gibt hier letztlich keine klaren Kriterien, um Maske bzw. Rhetorik und ‚wahre‘ Meinung zu unterscheiden. Borchmeyer / Figl, Art. Judentum, S. 178 f., und Losurdo, Vor der Kontroverse, S. 168 f., weisen darauf hin, dass sich schon vor Nietzsches Begegnung mit Wagner antisemitische Bemerkungen nachweisen lassen. Das widerspricht jedoch nicht dem engen Zusammenhang von Nietzsches Wagnerverehrung und seinem zeitweiligen Antisemitismus, denn, wie auch Losurdo betont, letzterer erhält „in den Basler Jahren […] deutlicher eine philosophische und politische Bedeutung“ (Vor der Kontroverse, S. 169) – um dann, im Zuge der Abwendung von Wagner, ganz zu verlöschen. Nietzsche mag die „Grenzboten“ (NL 1870‒72, 8[113], KSA 7.266; NL 1871, 9[65], KSA 7.299), das „Centralblatt“ (NL 1872/73, 19[259], KSA 7.501) oder auch die in Augsburg erscheinende Allgemeine Zeitung im Blick haben. In den Grenzboten wurde Nietzsche nach Erscheinen von DS scharf attackiert (vgl. Nietzsche an Carl von Gersdorff, 27. Oktober 1873, KGB II 3.173 f.). Anders als Bergmann (Nietzsche, „the Last Antipolitical German“, S. 96; Nietzsche, Friedrich III and the Missing Generation in German History, S. 212) behauptet, war Gustav Freytag zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ihr Herausgeber (vgl. Art. Grenzboten, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 8, Sp. 278 f., hier Sp. 278). Im Literarischen Centralblatt für Deutschland, 1850 von Friedrich Zarncke gegründet, wo Nietzsche zuvor auch selbst einige Besprechungen veröffentlicht hatte (vgl. z.B. Nietzsche an Erwin Rohde, 29. Mai 1869, Nr. 6, KGB II 1.14, und an Friedrich Zarncke, 14. Juli 1870, Nr. 85, KGB II 1.129 f.), erschienen seit 1872 mehrere Rezensionen zu seinen Werken (vgl. dazu Béland, Nietzsche avant Brandes, S. 556 f., 565, 568 f.). Rohde hatte auf Nietzsches Anregung eine Besprechung der GT dort veröffentlichen wollen, die Zarncke jedoch als „Freundschaftsdienst“ zurückwies (vgl. Nietzsche an Erwin Rohde, 4. Februar 1872, Nr. 198, KGB II 1.288, und an Carl von Gersdorff, 4. Februar 1872, Nr. 197, KGB II 1.286 f., sowie den Kommentar in KGB II 7/1.229). Obgleich er nicht umhin konnte, Karl Hillebrands „8 Artikel ü b e r d i e F r a n z o s e n in der Augsburger Allgem.“ zu loben (Nietzsche an Carl von Gersdorff, 5. Oktober 1872, Nr. 258, KGB II 3.58) und Rohdes Anzeige der GT nach der Ablehnung im Centralblatt dort unterzubringen suchte (Nietzsche an Erwin Rohde, 4. Februar 1872, Nr. 198, KGB II 1.289), hegte er der Allgemeinen Zeitung gegenüber doch „das größte Mißtrauen“ (KGB II 1.289), darin mit den Wagners ganz einig (vgl. Nietzsche an Erwin Rohde, Mitte Februar 1872, Nr. 201, KGB II 1.294). Vgl. 1.2.2.4. Vgl. West[f]all, Zarathustra’s Germanity, S. 44: „The Germans of today […] do not produce. They collect, they gather, and as they gather they come to use only borrowed, common words – German suited for any age, for any culture, because it is speech that opposes nothing.“ Vgl. u.a. auch NL 1874, 37[4], KSA 7.860. Zu Nietzsches Kritik an Auerbach und ihrer Anregung durch Wagner vgl. Köhler, Die Schule der Unterwerfung, S. 109 f.
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(NL 1870‒72, 8[113], KSA 7.266),92 ferner die „plumpe[ ] Nachmacherei“ August von Kotzebues (NL 1872/73, 19[294], KSA 7.510) und der „ e w i g e n G y m n a s i a s t e n“, wie Nietzsche die Jungdeutschen Heinrich Laube und Karl Gutzkow nennt (NL 1872/73, 19[273], KSA 7.504).93 Sie alle, ebenso wie die „Lehrer“ der Bildungsanstalten, die die deutsche Sprache nur noch „in historische[r] Manier“ lehrten, behandelten diese, „als ob sie eine todte Sprache sei“ (BA II, KSA 1.677), und brächten sie mit ihren „ruchlosen Händen“ womöglich vollends dahin (DS 12, KSA 1.228). Wo aber die Sprache tot ist, ist es die Bildung unweigerlich auch (vgl. BA II, KSA 1.675‒680).94
Nach einem Zeugnis des Studenten Louis Kelterborn schien Nietzsche Freytag „so recht als Dichter der Bildungsphilister im Sinne der unzeitgemäßen Betrachtungen aufzufassen“ (Nachbericht, KGB II 7/1.591). Trotzdem spielte Freytags Die Technik des Dramas „an important, but hidden role for Nietzsche’s early concept of tragedy“ (Brobjer, Sources of and Influences on Nietzsche’s The Birth of Tragedy, S. 284 f.). Auch Julian Schmidts Geschichte der deutschen Literatur seit Lessing’s Tod war von Nietzsche, unerachtet seiner Kritik, durchaus rezipiert worden, namentlich zur Vorbereitung seiner Vorlesungen (vgl. Arenas-Dolz, Was ist eine Vorlesung bei Nietzsche?, S. 208, 248‒251, 272 f.). Zu Freytag und Schmidt vgl. auch BA II, KSA 1.685, 687, sowie NL 1870/71, 7[114], KSA 7.164, und NL 1872/73, 19[259], KSA 7.500 f. Beide waren bei Wagner gleichfalls nicht eben beliebt, wie aus Cosima Wagners Tagebüchern hervorgeht, in denen abfällige Bemerkungen Wagners über den Stil Freytags (6. Dezember 1873, CT, Bd. 1, S. 760) und eine säuerliche Reaktion darauf, dass Schmidt ihn „in seinem neuesten Buch […] von oben herunter“ angegriffen hatte (16. Juli 1871, CT, Bd. 1, S. 414), belegt sind. Vgl. auch NL 1870‒72, 8[113], KSA 7.266. Dennoch ist Nietzsches frühes Ideal deutscher Kultur von Hugh Ridley mit den Jungdeutschen in Verbindung gebracht worden: „Both [sc. Nietzsche und das Junge Deutschland] wished to encourage the flowering of a strong national culture, to restore relevance and seriousness to German aesthetics […]“ (Nietzsche and Wienbarg, S. 343). Es dürfte sich hierbei aber allenfalls um einen indirekten Einfluss handeln, vermittelt über Wagner, der den Jungdeutschen in jungen Jahren viel Sympathie entgegengebracht hatte (vgl. z.B. seinen mit den Worten „Es lebe das Junge Deutschland!“ schließenden Brief an Theodor Apel aus dem Jahr 1834, SB, Bd. 1, S. 160), ehe er dann umso schärfer von ihnen abrückte (vgl. MO, S. 56: „Der originellen Schöpfungen unserer neuen jüdischen Mitbürger gewärtig, müssen wir bestätigen, daß auch das ‚Moderne‘ nicht ihrer Erfindung angehört. Sie fanden es als Miswachs auf dem Felde der deutschen Litteratur vor. Ich habe dem jugendlichen Erblühen der Pflanze zugesehen. Sie hieß damals das ‚junge Deutschland‘.“) – wohl nicht zuletzt, um, wie im Falle Meyerbeer, unliebsam gewordene Ähnlichkeiten zwischen ihm und den einst Verehrten zu kaschieren. Zu Wagner und den Jungdeutschen vgl. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 45‒51, und Scholz, Richard Wagner, S. 60‒64. War bei Fichte die deutsche Sprache noch die lebendige gegenüber den „in der Wurzel […] tote[n] Sprache[n]“ (Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 72), verkündete Nietzsche nun seinerseits den Tod (oder jedenfalls den drohenden Tod) auch der deutschen Sprache. Vgl. zum Motiv der ‚toten Sprache‘ in BA, jedoch ohne Bezug auf Fichte, Gamm, Nietzsches Kritik der Bildung, S. 80 f. Wagner nahm Fichtes Dichotomie von lebendigen und toten Sprachen in Oper und Drama auf (vgl. OD 3, S. 211) und Nietzsche bezog sich darauf in WB 9, KSA 1.486 f. Vgl. dazu Montinari, Kommentar, KSA 14.95 f., der jedoch nur auf Wagners Oper und Drama, nicht auf Fichtes Reden als dessen Bezugspunkt hinweist. – Zur Bildungskritik des frühen Nietzsche als Sprachkritik vgl. auch Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche, S. 104‒117.
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1.2.2.4 Die ‚historische Krankheit‘ und der ‚Glaube an das Fertigsein‘ Entsprechend fiel auch das „Ziel“ der „deutsche[n] Jugenderziehung“ aus: „nicht der freie Gebildete, sondern der Gelehrte, […] der möglichst früh nutzbare wissenschaftliche Mensch“. Ihm wurde „die Bildung als historisches Wissen eingeflößt“, statt dass man sie als „ein zusammenhängend lebendiges System von eigenen Erfahrungen“ in ihm wachsen ließ (HL 10, KSA 1.326 f.). So blieb er unfertig und konnte doch glauben, fertig zu sein. Exemplarisch wurde das für Nietzsche an der zeitgenössischen Philosophie deutlich: „Die fünf Denker der Augsburger Allgemeinen […] zeigen alle Untugenden der Zeit, die Hast voran, und schreiben darauf los. Sie schämen sich nicht zu lehren, sehr jung bereits.“95 Angesprochen waren „[Hermann] Ulrici, [Jakob] Frohschammer, [Johann Nepomuk] Huber, [Moritz] Carrière, [Immanuel Hermann] Fichte“, die die Allgemeine Zeitung zum „Inbegriff deutscher Philosophie der Gegenwart“, Nietzsche hingegen zum Inbegriff „der deutschen Denkwirthschaft“ erklärte (NL 1874, 30[18‒20], KSA 7.739 f.).96 In SE stellte er ihnen den Erzieher Schopenhauer entgegen, „ein höheres Tribunal“, „ausserhalb der Universitäten“ und „frei vom Zeitgeiste“ (SE 8, KSA 1.425).97 Anders als Schopenhauer hatte sich die übrige Philosophie „in den Strom der jetzigen Bildung hineinziehn lassen“, statt zu versuchen, ihn zu „beherrsch[en]“ (NL 1873/ 74, 30[15], KSA 7.738). Sie hatte sich gleichermaßen in den „Dienst der Theologen“ und den „der Historie“ gestellt (NL 1874, 32[75], KSA 7.781).98 Diese wurde damit zur Vgl. SE 2, KSA 1.344. Vgl. auch Richard T. Grays Kommentar, in: Gray (Hg.), Nietzsche, Unpublished Writings from the period of Unfashionable Observations, S. 450. Über den Einfluss Schopenhauers auf Nietzsches Kritik an der Universitätsphilosophie und am Schulwesen im Allgemeinen vgl. Gentili, Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie, S. 22 f. Nietzsche führt im Notat 32[75] als Beispiel für diese Dienstbarmachung der „ U n i v e r s i t ä t s p h i l o s o p h i e “ Friedrich Adolf Trendelenburg an, der, als Kritiker Hegels, in dieser Rolle auf den ersten Blick deplatziert scheint. Allerdings war er bis zu seinem Tod 1872 der neuralgische Punkt dessen gewesen, was Nietzsche „Berliner Professorenwirthschaft“ nannte (NL 1872/73, 19[259], KSA 7.501), er hatte dem Neukantianismus den Weg geebnet und einen großen Kreis von Schülern hinterlassen. Zudem hatte er sich, wie sein persönlicher Kontrahent, der von Nietzsche viel gelesene (vgl. Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, S. 36 f., 48 f., 77 f., 247), aber gleichfalls kritisch betrachtete Kuno Fischer (vgl. NL 1872/73, 19[259], KSA 7.501), ausführlich philosophiehistorischen Themen gewidmet, war „in der Philosophie von der Geschichte“ ausgegangen und hatte, trotz seiner Hegel-Kritik, „die Notwendigkeit seines ‚Realidealismus‘ aus der Geschichte zu beweisen“ versucht (Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, S. 125 f.). So konnte Nietzsche ihn in seine Charakteristik der Philosophie seiner Zeit eingliedern, immerhin als Beispiel dafür, was der universitären Philosophie in Zeiten ihrer „ B E D R A E N G N I S S “ durch „Geschichte“, „Kirche“, „Staat“ „[b]estenfalls“ gelingen konnte (NL 1873/74, 30[15], KSA 7.737 f.): nämlich die Philosophie „rein zur Wissenschaft“ zu machen. Das aber hieß für Nietzsche schon „die Flinte in’s Korn werfen“ (NL 1873, 29[199], KSA 7.710). In späterer Zeit hat Nietzsche, trotz seiner Bedenken gegen Trendelenburg, vermutlich dessen Spinozadeutung rezipiert. Vgl. dazu Rupschus / Stegmaier, „Inconsequenz Spinoza’s“?. Zu Trendelenburgs philosophiegeschichtlicher Rolle vgl. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 23‒57.
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„verkappte[n] christliche[n] Theodicee“ (WB 3, KSA 1.445),99 einem „schamlose[n] Philister-Optimismus“, der in seiner „Hegelei und Schleiermacherei“ zu „Rückenkrümmungen vor den deutschen Zuständen“ führte (DS 6, KSA 1.191) – zum „Glauben an das Fertigsein“ (NL 1869, 1[8], KSA 7.13):100 Zur Weltanschauung hypostasiert, schlug der potentielle „Nutzen“ der Historie ganz in einen lebensfeindlichen „Nachtheil“, in die „historische Krankheit“ um (HL 10, KSA 1.331): Die „monumentalische Betrachtung der Vergangenheit“ gab so nicht Antrieb zur Tat, half nicht, das Große als historisch möglich zu denken, sondern hinderte in den Händen der satten und folglich „[u]nthätigen“ Deutschen als „eine Sammlung der „Effecte an sich““ (HL 2, KSA 1.260 f., 263) die Entstehung des Großen mit dem Argument „„seht, das Grosse ist schon da!““ (HL 2, KSA 1.264).101 Auch die antiquarische Betrachtung negierte „das Neue und Werdende“, indem sie „alles Alte und Vergangene […] als gleich ehrwürdig“ hinnahm (HL 3, KSA 1.267).102 Und so würde man bald sagen können: „wir Deutschen empfinden mit Abstraction; wir sind Alle durch die Historie verdorben.“ (HL 4, KSA 1.277)103 Die Kritik am eingebildeten Fertigsein, dem „Sokratismus unsrer Zeit“ (NL 1869, 1[8], KSA 7.13), ist der eigentliche Hintergrund der nationalkulturellen Reflexionen Wagners wie Nietzsches.104 Wagner konstatierte bei den Deutschen eine Vgl. auch NL 1875, 5[58], KSA 8.57 („Deutschland ist die Brutstätte für den historischen Optimismus geworden: daran mag Hegel mit Schuld sein“), und 5[143], KSA 8.76 („Die deutschen Gelehrten und sogenannten Denker, der wirklichen Geschichte fernstehend, haben die Geschichte zu ihrem Thema gemacht und, als geborene Theologen, den Nachweis ihrer Vernünftigkeit versucht.“). Zur Kritik am „hegelschen Optimismus“ im Frühwerk Nietzsches, insbes. in HL, vgl. Meyer, Ästhetik der Historie, S. 32‒36, Zitat S. 35. Nietzsches Schleiermacher-Kritik gehe, wie Sommer, Art. Philosophie und Theologie des 19. Jahrhunderts, S. 418, festhält, „über das Topische nicht hinaus“. Gleichwohl steht Nietzsche in der Tradition des „von ihm so verachteten Schleiermacher“ (so Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, S. 357 f., Zitat S. 357). Vgl. dazu Emden, Friedrich Nietzsche, S. 150‒155, der Nietzsches Dringen auf die potentielle Gefährlichkeit der monumentalischen Historie einordnet in den Kontext des „complex political symbolism“ in Kunst und Wissenschaft, „that marked the newly unified Germany“ (S. 151). Auch die kritische Historie, das „Korrektiv gegen die Tendenzen monumentalischen und antiquarischen Reflektierens“ (Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches, S. 64), konnte, wenn sie die „Grenze im Verneinen des Vergangenen“ nicht fand (HL 3, KSA 1.270), der Beliebigkeit des Suchens nach immer Neuem Vorschub leisten und insofern gefährlich sein. Aber es war nicht diese Haltlosigkeit, sondern die Bequemlichkeit, die Nietzsche mit Blick auf die deutsche Kultur seiner Zeit umtrieb. Zur ‚historischen Krankheit‘ vgl. ferner Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 35‒ 38; Bertino, „Vernatürlichung“, S. 230‒236; Gentili, Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie, S. 88‒101. Hier muss Zachriat, Ambivalenz des Fortschritts, S. 109‒112, widersprochen werden, der namentlich DS und SE (deren gedankliche Verbindung zu Wagner er nicht erwähnt) als „Kritik am nationalistischen Fortschrittspathos“ deutet (S. 110). Auch scheint Zachriat das Ausmaß der Verstrickung des jungen Nietzsche in nationalistische Diskurse zu verkennen, wenn er seine Intentionen darauf verengt, er habe die „Übel des Nationalismus“ aufweisen wollen (S. 112), und so die Kehrseite dieser Bemühungen Nietzsches herunterspielt.
Abwendung von Wagner: Vom Deutschen zum Überdeutschen
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„Volksanlage zu Trägheit und Phlegma“ (WID, S. 51), Nietzsche sprach von einer „phlegmatische[n] Gefühllosigkeit für die Kultur“ (DS 1, KSA 1.163). Diese „Lust an der Unthätigkeit“ sei, so Wagner, die Kehrseite ihrer einzigartigen „Fähigkeit, sich innerlich zu versenken, und vom Innersten aus klar und sinnvoll die Welt zu betrachten“. Denn der dafür notwendige „Hang zur Beschaulichkeit“ mache zugleich anfällig für eine „phantastische[ ] Selbstgefallsucht“, zu der die Deutschen von „Agitatoren eines nichtdeutschen“ – Wagner meint sichtlich: jüdischen – „Volksstamme[s]“ verführt würden: Nichts schmeichelt dem Hange zur Bequemlichkeit und Trägheit mehr, als sich eine hohe Meinung von sich beigebracht zu wissen, die Meinung, als sei man ganz von selbst etwas Großes, und habe sich, um es zu werden, gar keine Mühe erst zu geben. (WID, S. 49‒51)
Diese Worte Wagners sind das klare Vorbild für Nietzsches missbilligende Reaktion auf die kulturelle „Selbstglorification“ der Deutschen im Nachgang des deutschfranzösischen Krieges (DS 1, KSA 1.160): Die gute Meinung, die die deutsche „ P h i l i s t e r - Ku l t u r “ (DS 8, KSA 1.205) von sich selber hatte, machte die „eingewurzelte Lust am Falschen und Unächten, am Uebel-Nachgemachten, an der Uebersetzung des guten Ausländischen in ein schlechtes Einheimisches“ (SE 6, KSA 1.393) erst gefährlich, da sie vergessen ließ, dass das Deutsche „sich erst bilden“ musste, dass die deutsche Kultur nicht fertig war, noch nicht: „ B i l d u n g d e s D e u t s c h e n , nicht Bildung n a c h d e m D e u t s c h e n“ (NL 1872/73, 19[284], KSA 7.508).
1.3 Abwendung von Wagner: Vom Deutschen zum Überdeutschen Nietzsches radikale Kulturkritik der frühen 1870er Jahre war, das haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, keineswegs über Wagners Konzept eines utopischen Deutschtums hinaus, dieses ist im Gegenteil für jene konstitutiv.105 Dennoch hat die Auffassung, Nietzsche habe auch in der Zeit der engen Wagnerfreundschaft schon gegen ihn gedacht,106 auf paradoxe Weise ihre Berechtigung, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen nahm Nietzsche, anders als Wagner selbst, die Kri-
Entgegen der Ansicht Ottmanns führt es daher durchaus nicht in die Irre, Nietzsches „Suche nach der deutsch-griechischen Seele“ eine „nationale“ zu nennen, denn sie war mindestens ebenso „nationalistisch, chauvinistisch oder zeitgemäß“ wie die Suche Wagners (Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 76, vgl. auch S. 78). Sie war nicht nur, wie Ottmann meint, ein Maskenspiel (vgl. dazu Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 79 f. und S. 82 f.). In der Tat deuten sich bereits Anfang der 1870er Jahre in Nietzsches Denken Tendenzen an, die in seine spätere „offen europäisch[e]“ Philosophie mündeten (Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 78), doch verstand Nietzsche sie noch nicht als solche, sondern als Teil seines Konzepts der Hervorbringung des „eigentlich Deutsche[n]“ (CV 4, KSA 1.779). So Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 94.
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Richard Wagner und die ‚deutschen Hoffnungen‘ im Frühwerk Nietzsches
tik an der selbstzufriedenen deutschen Kultur auch nach der Reichsgründung weiter ernst. Zum anderen war es gerade Wagners Begriff des Deutschen, mit seiner schizophrenen Kopplung von Universalität und Nationalismus, der Nietzsche, im Zuge des Versuchs, Wagner treu zu bleiben, über ihn hinausführte. Erst so konnte er dessen metaphysisches Deutschtum in einen historisch geerdeten Begriff des Deutschen auflösen.
1.3.1 Wagners Realpolitik als Untreue gegenüber dem Ideal deutscher Kultur Im Lichte der nationalen Euphorie von Krieg und Sieg hatte sich, so Nietzsche, der „Irrthum“ verbreitet, „dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe“. Wer aber politische Macht mit kultureller Macht verwechsle, der werde „ z u G u n s t e n d e s „ d e u t s c h e n R e i c h e s “ “ „den deutschen Geist […] exstirpiren“ (DS 1, KSA 1.159 f.).107 Dass diese Beurteilung Fleisch vom Fleische Wagners war, ist im vorangegangenen Abschnitt gezeigt worden. Zudem hatte sie einen antipolitischen Impetus, den Wagner, der sich in früherer Zeit mehrmals ähnlich politikkritisch geäußert hatte, hätte teilen müssen. In Oper und Drama hatte Wagner die Ansicht vertreten, dass die Kultur Politik werden müsse – nicht dass umgekehrt die Politik zur Kultur verklärt werden solle: So ist die Kunst des Dichters zur P o l i t i k geworden: Keiner kann dichten, ohne zu politisiren. Nie wird aber der Politiker Dichter werden, als wenn er eben aufhört, Politiker zu sein: in einer rein politischen Welt nicht Politiker zu sein, heißt aber so viel, als gar nicht existiren: wer sich jetzt noch unter der Politik hinwegstiehlt, belügt sich nur um sein eigenes Dasein.
Ansell Pearson, Geist and Reich, betont mit Blick auf diese Stelle, dass „Geist is used strategically by Nietzsche as a rhetorical device designed to bring to light – to highlight – the vacuity not only of Germany’s victory, but of the whole conception of the Reich which followed in its wake.“ ‚Geist‘ sei hier daher nicht „in Hegel’s sense“ zu verstehen (S. 83 f.). Das ist zwar richtig, bleibt aber den Hinweis schuldig, dass Nietzsche offensichtlich an Wagners Begriff des deutschen Geistes anschließt. – Auch Paul de Lagarde hatte mit Blick auf das Deutsche Kaiserreich angemerkt, es fehle ihm ein „spirituelle[r] Kern“ (Sieg, Deutschlands Prophet, S. 164). Er und der frühe Nietzsche sind sich „bei ihrer Kritik an den Zuständen im Bildungswesen und in der Politik Deutschlands vielfach einig“ (Sommer, Philosophie und Theologie des 19. Jahrhunderts, S. 415; vgl. dazu Nietzsches Brief an Erwin Rohde, 31. Januar 1873, Nr. 294, KGB II 3.121), nicht allerdings in der Frage, was gegen die Missstände zu unternehmen sei. Denn Lagardes Idee einer nationalen Religion (vgl. Sieg, Deutschlands Prophet, S. 161‒165) präsupponierte vorgängig, was das Deutsche ausmachen solle, während Nietzsche darauf insistierte, dass das Deutsche erst zu finden sei. Als er 1873, nach Abfassung von BA, Lagardes Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion kennen lernt, ist er, trotz der Parallelen, dementsprechend nicht widerspruchslos begeistert: Die zwar „sehr gute“ Schrift mache „50 Dinge […] richtig“, aber eben auch „50 Dinge falsch“ (Nietzsche an Erwin Rohde, 31. Januar 1873, Nr. 294, KGB II 3.121, vgl. dazu Niemeyer, Nietzsches Vorträge „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ im Kontext, S. 174 f.). Vgl. auch Sommer, Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „hoher Politik“.
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Der Dichter kann nicht eher wieder vorhanden sein, als bis wir keine Politik mehr haben. (OD, S. 53, vgl. S. 66 f.)108
Trotzdem fiel seine Reaktion auf die Reichsgründung weniger eindeutig aus als Nietzsches. Zwar sah auch er seine Hoffnungen bald enttäuscht, teilte Nietzsches in DS geäußerte Bedenken und bekannte dementsprechend, daß die kürzlich gewonnenen ungeheueren Erfolge der deutschen Politik nicht das Geringste dazu vermochten, den Sinn und den Geschmack der Deutschen von einem blöden Bedürfnisse der Nachahmung des ausländischen Wesens abzulenken, und dagegen das Verlangen nach einer Ausbildung der uns verbliebenen Anlagen zu einer dem Deutschen eigenthümlichen Kultur anzuregen (BY, S. 343).
Doch dies hielt ihn nicht davon ab, den von ihm verabscheuten Bismarck wiederholt um finanzielle Unterstützung für das Bayreuther Projekt zu ersuchen109 und auch nicht davon, zu Ehren Kaiser Wilhelms I., den er 1866 noch einen „schwachsinnigen Monarchen“ genannt hatte, einen „Kaisermarsch“ zu komponieren.110 Ein Zeichen dafür, dass Wagner die „verzwickten Alternativen der Gegenwart […] nicht zu überschauen vermochte“,111 war diese lavierende Haltung keineswegs. Wagner wusste sehr genau, was er wollte, und vor allem, was er für die Realisierung seines Bayreuther Vorhabens brauchte – und das war zunächst einmal öffentliche und politische Unterstützung:112 Er, der ehemals scharfe Kritiker Preußens, erteilte dem neuen Preußisch-Deutschen Reich, von dem er später selbst bekannte, es sei „schwer zu beantworten“, was es eigentlich „sagen sollte“ (WNE, S. 254), seinen Segen, um retrospektiv als der Heiland dieser nun Gegenwart gewordenen Zukunft erscheinen und als solcher finanzielle Unterstützung vom Reich beanspruchen zu können.113 Diese Doppelbödigkeit hat Nietzsche lange Zeit kulturidealistisch zu ver-
Auch in Was ist deutsch? erblickte er in der Politik nur einen Störfaktor kulturell-geistiger Entwicklung: „Mit dem Verfalle der äußeren politischen Macht, d. h. mit der aufgegebenen Bedeutsamkeit des römischen Kaiserthumes, […] beginnt dagegen erst die rechte Entwicklung des wahrhaften deutschen Wesens.“ (WID, S. 39) Zur Politikkritik Wagners vgl. auch Brusotti, Art. Politik, S. 266‒272. Diese Bemühungen blieben ergebnislos. Dazu und zum Verhältnis von Wagner und Bismarck überhaupt vgl. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 432‒444. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 640. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 763. Über Wagners politische Bemühungen zwecks Realisierung seines Kunstideals vgl. Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens…“, S. 103 f., 193‒249. Zu Wagners Preußenkritik und seiner Kehrtwende vgl. Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens…“, S. 193‒207. Wagner rückte in diesem Zusammenhang auch von seiner Meinung über Berlin als „Zentrum undeutscher Zivilisation“ ab (Salmi, „Die Herrlichkeit des deutschen Namens …“, S. 194). Bezeichnenderweise hielt Nietzsche an dieser Berlin-Aversion in den frühen 70ern fest (vgl. dazu NL 1872/73, 19[259], KSA 7.501; NL 1873, 29[44, 51], KSA 7.644, 647, sowie Bergmann, Nietzsche, „the Last Antipolitical German“, S. 99) und verweigerte sich auch darin dem Idealismus mit Pragmatismus vertauschenden Versuch Wagners, sein Projekt Bayreuth finanziell abzusichern.
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klären versucht. Anders ist nicht zu verstehen, dass er Wagners Kaisermarsch nicht als die durchsichtige Anbiederung an die neuen Machthaber nahm, die er war,114 sondern als Symbol, um „uns zu erinnern, wie alles noch einmal „gut werden kann““ (Nietzsche an Richard Wagner, 18. Dezember 1873, Nr. 313, KGB II 3.156).115 Und doch hatte Nietzsche die Zweischneidigkeit von Wagners Haltung längst gefühlt, wie sein Unbehagen angesichts der Bitte Wagners zeigt, einen „Aufruf an das deutsche Volk“ zu verfassen, der um finanzielle Unterstützung für Wagners Versuch, eine „Stätte dem deutschen Geiste [zu] bereiten“, werben sollte (Nietzsche an Erwin Rohde, 18. Oktober 1873, Nr. 319, KGB II 3.167). Nietzsche suchte seinen Freund Rohde zu überzeugen, ihm diese Pflicht abzunehmen. Er selbst empfinde sie als „fürchterlich“, da er bereits aus eigenem Antrieb etwas Ähnliches versucht habe, ohne damit jedoch an ein Ende gekommen zu sein (KGB II 3.166 f.). Aber auch die Mittel der „Motivierung“, die Wagner Nietzsche zur Verwendung im Aufruf anempfahl, mögen Nietzsche wenig zugesagt haben: Wagner schwebten Appelle an nationalpatriotische Allgemeinplätze (Abwendung einer drohenden „Schande der Nation“) und Ressentiments vor („Vergleich mit andern Nationen“, um in den Deutschen ein Pflichtgefühl zu wecken, nicht hinter diese zurückzufallen, KGB II 3.167). Jedenfalls konnte Nietzsche nicht umhin, seine Schilderung des potentiellen Inhalts des Aufrufes ironisch zu brechen, durch Einflechtung eines Zitats aus Ernst Moritz Arndts Was ist des Deutschen Vaterland?, damals eine inoffizielle deutsche Nationalhymne: „Der Sinn der Proclamation […] läuft darauf hinaus, daß Groß und Klein, so weit die deutsche Zunge klingt, bei seinem Musikalienhändler Geld bezahlt […]“ (KGB II 3.167, Hervorhebung A.R.). Statt Gott im Himmel Lieder zu singen (wie Arndts Gedicht fortfährt), solle der Deutsche nunmehr gleichsam das Geld im Kasten klingen lassen, ließe sich Nietzsches Adaption unter Bezug auf den berüchtigten, Johann Tetzel zugeschriebenen Ablassmerkvers reformulieren.116 Die Geldspende nimmt Züge eines nationalen Götzendienstes an.117 Nietzsche nimmt damit
Vgl. Hein, Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext, S. 160, die den „Kaisermarsch zum Ruhme des soeben in Versailles gekrönten deutschen Kaisers“ – der im übrigen „in Berlin abgelehnt“ und so lediglich „im Konzertsaal“ gespielt wurde – als Versuch Wagners wertet, sich „nach dem Sieg der preußischen Truppen über Frankreich dem neuen Deutschen Reich anzudienen.“ Vgl. schon Bergmann, Nietzsche, „the Last Antipolitical German“, S. 83: „ignoring the implications of Wagner’s Imperial March, Nietzsche was able to gloss over any incipient political rift between himself and the composer“. Der Spruch „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.“ stammt nicht vom Ablassprediger Tetzel selbst, sondern war schon zuvor volkstümlich gewesen. Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 1, S. 179. Auch in GD Sprüche 33 wird Nietzsche auf Arndts Gedicht ironisch Bezug nehmen: „Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.“ Dazu Heinrich Köselitz: „Ich glaube, daß das „Gott“ […] doch ein Dativ und kein Nominativ ist“ (an Nietzsche, 20. September 1888, Nr. 581, KGB III 6.309). Nietzsche allerdings versichert ihm: „Sie sind noch gar nicht auf meiner Höhe mit Ihrer Auseinandersetzung über Dativ und Nominativ beim Gottesbegriff. Der Nominativ ist ja der W i t z
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die Kritik an Wagners nationaler Vereinnahmung in verklausulierter Form vorweg. Den Aufruf verfasste er dann unter dem Titel Mahnruf an die Deutschen dennoch, in pathetischem Ton – aber auch nicht ohne Spitze gegen die „gewaltig erregten Triebe politischer und nationaler Leidenschaft“, denen durch Unterstützung des Bayreuther Unternehmens Einhalt zu gebieten er „die politischen Vertreter deutscher Wohlfahrt in Reichs- und Landtagen“ aufforderte (MD, KSA 1.897). Wie dem Tagebucheintrag Cosima Wagners vom 31. Oktober 1873 zu entnehmen ist, fühlte sich die Delegiertenversammlung der Wagnervereine, die über den Entwurf abzustimmen hatte, zu dieser „kühnen Sprache“ Nietzsches, die mehr als nur untergründig Kritik an der nationalen Seligkeit in Deutschland übte, „nicht berechtigt“.118 Folgerichtig wurde Nietzsches Mahnruf nicht verwendet und durch einen anderen ersetzt – „[a]us Gründen diplomatischer Klugheit“, wie Dieter Borchmeyer zutreffend konstatiert.119 ‚Nicht berechtigt‘ waren, wie MD zeigt, in Nietzsches Augen vor allem Wagners Avancen an jene „politischen Vertreter“, die die „nationale[ ] Leidenschaft“, den Siegestaumel des Fertigseins, beförderten. Im Frühjahr 1874 konnte Nietzsche dies nicht mehr länger ignorieren: Er [Wagner] hat sich vom Nachdenken über politische Möglichkeiten nicht frei gehalten: zu seinem Unglücke auch mit dem K〈önig〉 v〈on〉 B〈ayern〉 […]. Ebenso unglücklich liess er sich mit der Revolution ein: […] alles ohne jeden Vortheil für seine Kunst und ohne höhere Nothwendigkeit, überdiess als Zeichen der Unklugheit, denn er durchschaute die Lage 1849 gar nicht. […] Ob er mit dem grossen Vertrauen, welches er in Bismarck setzte, Recht hatte, wird eine nicht zu ferne Zukunft lehren. (NL 1874, 32[39], KSA 7.766)120
Nietzsche, der längst „das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefährliche Macht“ (an Carl von Gersdorff, 7. November 1870, Nr. 107, KGB II 1.155) befunden hatte, brauchte die Lehren der Zukunft nicht abzuwarten, um Wagners Vertrauen in Bismarck für unberechtigt zu halten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass zur gleichen Zeit in seinen Notizen erstmals das Bild vom „Schauspieler“ Wagner auftaucht (NL 1874, 32[8], KSA 7.756):121 Weil Wagner sein Projekt Bayreuth mit „deutder Stelle, ihr zureichender Grund zum Dasein.“ (an Köselitz, 27. September 1888, Nr. 1122, KGB III 5.443 f.) Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.412. Tagebucheintrag vom 31. Oktober 1873, CT, Bd. 1, S. 746. Borchmeyer, Richard Wagner und Nietzsche, S. 126. Vgl. zum Thema auch Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 546 f. Vgl. auch Nietzsches Briefe an Malwida von Meysenbug, 11. Februar 1874, Nr. 344, KGB II 3.199, und an Carl von Gersdorff, 11. Februar 1874, Nr. 345, KGB II 3.200, und dazu Gentili, Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie, S. 110. Wie Wolfgang Müller-Lauter festhält, verwendet der späte Nietzsche den Begriff des Schauspielers, um in ihm die Merkmale der „décadence […] des Künstlers Wagner“ zusammenzufassen (Artistische décadence als physiologische décadence, S. 6 f.). Erste Ansätze dieser Deutung fänden sich jedoch, freilich noch nicht unter dem Begriff der décadence, bereits „in Notizen von 1874“ (S. 4). Müller-Lauter bekräftigt damit seine These, Nietzsche habe „den Sachverhalt der décadence von früh an bedacht“, obgleich „das Wort zu einem der zentralen Begriffe seines Philosophierens erst 1888“ geworden sei (S. 1). Zum Schauspieler Wagner s. 4.3.1.
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schen kleinen Tugenden und Beschränktheiten“ (NL 1874, 32[38], KSA 7.765) auflud und verfälschte, nicht zuletzt mit seiner „Rache“ an den Juden (NL 1874, 32[39], KSA 7.766), seinem Antisemitismus – dessen Bedingungen Nietzsche nun zu durchschauen begann, ohne schon von ihm abzurücken –,122 gefährdete er das gesamte Vorhaben der Erhöhung der deutschen Kultur. Wagner diente sich der „Jetztzeit“ an, machte seinen Frieden mit jener Kultur, die er in seinen nationalen Schriften der 1860er Jahre kritisiert hatte und die Nietzsche, in Anknüpfung an ebendiese Schriften, weiterhin scharf kritisierte.123
1.3.2 Von Wagners Begriff des Deutschen zu Nietzsches Begriff des Überdeutschen 1.3.2.1 Die Rehabilitierung des Kosmopolitismus Diese persönliche Enttäuschung war nur das äußerliche Moment eines Entfremdungsprozesses, der sich auch auf begrifflicher Ebene beobachten lässt. Anders als Wagner124 hat Nietzsche die Fähigkeit der Einverleibung des Fremden nie als exklusiv deutsch ausgewiesen, obwohl sie in seinen Überlegungen zur Erhöhung der deutschen Kultur eine beträchtliche Rolle spielt: Die in HL am „Vorbild[ ]“ der Griechen eingeführte „ p l a s t i s c h e K r a f t […], aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen“, ist nicht den Deutschen vorbehalten, sondern für jeden „Menschen“, jedes „Volk[ ]“, jede „Cultur“ überlebensnotwendig (HL 1, KSA 1.251). Eine Kultur, die diese Kraft nicht hat, verkomme, wie zurzeit die deutsche, zu einem „Chaos des gesammten Auslandes“, unfähig, „allmählich d a s C h a o s z u o r g a n i s i r e n“ und sich so „auf sich selbst“ zurückzubesinnen (HL 10, KSA 1.333).125 Besagtes „Chaos“ meint gerade das, was Wagner ‚kosmopolitisch‘ nennt: ein unverbundenes Beieinander
„Drittens beleidigte er die Juden, die jetzt in Deutschland das meiste Geld und die Presse besitzen. Als er es that, hatte er keinen Beruf dazu: später war es Rache.“ (NL 1874, 32[39], KSA 7.766) Nietzsche scheint sich hier konkret auf Das Judenthum in der Musik zu beziehen, das Wagner 1850 erstmals, 1869, als längst anerkannter Komponist, erneut veröffentlichte. Vgl. zu den unterschiedlichen Motiven beider Veröffentlichungen Fischer, Richard Wagners Das Judentum in der Musik, S. 40‒50. Vgl. auch NL 1875/76, 32[32], KSA 7.764 f. Über die Enttäuschung Nietzsches angesichts von Wagners Richtungswechsel vgl. Brusotti, Art. Politik, S. 277 f., und Niemeyer, Nietzsches Leben, S. 22 f. Vgl. 1.2.1. Siemens, Agonal Configurations in the Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 92, hat die metaphysische Grundierung dieses Sich-auf-sich-selbst-zurück-Besinnens prägnant formuliert: „His quest […] for an origin of the German in the light of our ineluctable historicity terminates in a ‚Finding‘ that is a negation of historicity“. Gleichwohl relativiert Siemens kurz darauf sein Urteil, indem er vermerkt, in der HL-Schlusspassage über die plastische Kraft sei „clearly nothing unhistorical about proper being for Nietzsche“ (S. 94).
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verschiedenster Einflüsse. Auch Nietzsche spricht noch in HL in diesem abwertenden Sinn von Kosmopolitismus als einem „Wählen und Suchen nach Neuem und immer Neuem“ (HL 3, KSA 1.267).126 Trotz dieser exoterischen Geringschätzung hatte die Frage, wie es möglich sei, das Deutsche, „das noch nicht existirt“, heranzubilden (NL 1872/73, 19[284], KSA 7.508), Nietzsche unter der Hand zu einer Enttabuierung des von Wagner als jüdisch-französischen Oberflächenglanz verunglimpften Kosmopolitismus veranlasst. Schon in Notaten der Jahre 1872/73 erkennt er das Kosmopolitische als Vorstufe des noch zu bildenden ‚echten‘ Deutschen an: „ Ü b e r d i e B i l d u n g e i n e s d e u t s c h e n Ku n s t s t i l s . / Bevor dieser da ist, ist, um zu einiger Bildung zu kommen, nur der kosmopolitische Weg da.“ (NL 1872/ 73, 19[298], KSA 7.511)127 Der Kosmopolitismus war Teil des Organisationsprozesses, aus dem das ‚wahre‘ Deutsche „ i r g e n d w a n n e i n m a l h e r a u s g e b o r e n w e r d e n“ würde (NL 1873, 29[123], KSA 7.687).128 In diesem Sinn ist es auch zu verstehen, wenn Nietzsche in einem Stufenmodell die „kosmopolitische Nachahmung“ und „Wagner“ aufeinander folgen lässt: Experimentiren, das Drama zu finden, eine Litteratur zu schaffen —: kosmopolitische Nachahmung. Vollendete Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens mit der Kunst — Überwindung des Begriffs „Litteratur“ —: Wagner. (NL 1872/73, 19 [290], KSA 7.509, vgl. auch NL 1870/71‒72, 8[47], KSA 7.241)
Vgl. Horstmann, Art. Kosmopolitismus, Sp. 1164: „Unter bildungstheoretischem Akzent versieht Nietzsche den K. […] mit eindeutig negativem Akzent.“ Wagners Kosmopolitismusbegriff behandelt Horstmann nicht. Vgl. u.a. auch NL 1872/73, 19[255], KSA 7.499; 19[274], KSA 7.505; 19[284], KSA 7.508; 19[290], KSA 7.509; NL 1873, 29[138], KSA 7.693. – Zur Herausbildung eines positiven Verständnisses von Kosmopolitismus im Nachlass der Jahre 1872/73 vgl. Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, S. 189‒196, die die diesbezügliche Bedeutung von Nietzsches Auseinandersetzung mit den Griechen betont, ebenso wie Orsucci, Orient – Okzident, S. 109‒140, demzufolge allerdings der Gedanke der Aneignung des Fremden als notwendiger Bedingung für die Erhöhung der Kultur erst ab 1875 Einzug hält, durch Lektüre Karl Boettichers und Karl Viktor Müllenhoffs. Bergmann, Nietzsche, „the Last Antipolitical German“, S. 113, nennt als ausschlaggebenden Einfluss für die kosmopolitische Wende Nietzsches Rée, mit dem er ab dem Spätsommer 1874 engeren Umgang pflegt (vgl. Benders / Oettermann (Hg.), Friedrich Nietzsche. Chronik, S. 325). Wie gezeigt, lassen sich jedoch bereits in den Notaten der Jahre 1872/73 entsprechende Gedanken finden, wenn auch die von Orsucci und Bergmann geltend gemachten Einflüsse gewiss eine verstärkende Wirkung auf diese Tendenzen hatten. Über den Einfluss Rées auf Nietzsche vgl. auch Borchmeyer / Salaquarda, Legende und Wirklichkeit einer epochalen Begegnung, S. 1329: „Durch Paul Rée ist er mit jenem Typus des gebildeten assimilierten Juden bekannt geworden, der ihm […] bald zum Vorbild eines kosmopolitisch-freien Geistes werden soll, zum Wegbereiter eines metanationalen Europäismus.“ Nach Montinari, Kommentar, KSA 14.551, bezieht Nietzsche sich mit diesem Notat auf Goethes Gespräche mit Eckermann, 3. Mai 1827. Montinari kann allenfalls den letzten Absatz dieses Eintrags der Gespräche meinen, aber auch hier ist höchstens von einer möglichen und sehr vagen, keineswegs zwingenden Verbindung zum Notat 29[123] zu sprechen.
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Wagner war, so deutet es Nietzsche, das Ergebnis der „ k o s m o p o l i t i s c h e [ n ] T e n d e n z “, die seit Goethe und Schiller den Weg des deutschen Geistes vorangetrieben hatte: „Bisher war es die S p r a c h e , an die das Deutsche sich anschloss. Jetzt dazu die M u s i k .“ (NL 1872/73, 19[284], KSA 7.507 f.)129 Ausgerechnet der Kosmopolitismus die Grundlage Wagnerscher Kunst – diese Auffassung, die Nietzsche bis zuletzt aufrechterhalten hat,130 stand quer zu Wagners eigener. Kosmopolitismus und die deutsche Fähigkeit, Fremdes anzueignen, blieben in seinem Verständnis unversöhnliche Gegensätze, eben weil Kosmopolitismus für ihn eklektisches Kopieren des Fremden als Fremden, nicht Umschaffung des Fremden in das Eigene bedeutete. Diese Umschaffung verstand er stattdessen als die spezifisch deutsche Begabung zum Reinmenschlichen. Dass diese These von der Reinmenschlichkeit des Deutschen nur eine inhaltsleere Fiktion und in der kulturkritischen Praxis wertlos war, hatte Nietzsche schon früh klar gesehen.131 Sie war obendrein zirkulär, da sie das Deutsche aus einer schon als spezifisch deutsch gedachten Begabung hervorbringen wollte. So blieb auch sie nur ein Zurückziehen auf sich selbst, sofern sie nicht das Fremde integrieren, sondern die Wahrheit dahinter erfassen wollte, die als solche nur dem Deutschen offen war (vgl. WID, S. 40). Nicht diese Begabung zum Reinmenschlichen, sondern der aktive und produktive Austausch mit anderen Kulturen musste für Nietzsche die Voraussetzung für die „ B i l d u n g d e s D e u t s c h e n“ (NL 1872/73, 19[284], KSA 7.508) sein. Das Zurückziehen auf sich selbst, ohne den Blick auf das Fremde, machte die eigene kulturelle Positionierung
Das entspricht Nietzsches Deutung, deutsche „Klassiker“ seien Klassiker nur, sofern ihre Werke suchende sind (vgl. DS 2, KSA 1.168), d.h. sofern sie den Griechen nachfolgen, an sie anknüpfen und von ihnen lernen, ohne sie nachzuahmen. Vgl. dazu Siemens, Agonal Configurations in the Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 88‒106, und Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, S. 196‒198, bes. S. 196: „In the summer of 1872, so it seems, Nietzsche had weighed out ‚through which men the German spirit had striven most vigorously to learn from the Greeks‘ and had come to the conclusion that it were Goethe, Schiller, and Winckelmann, and not Wagner“. Diesem Nachsatz können wir jedoch angesichts der Entschiedenheit, mit der Nietzsche in den Notaten dieser Zeit Wagner zum Fortführer von „Schiller’s und Goethe’s Ringen“ (NL 1872/73, 19[255], KSA 7.499) erklärt, nicht zustimmen. – Zur Nachfolge als Gegensatz der Nachahmung vgl. LacoueLabarthe, History and Mimesis, S. 224. Vgl. EH MA 2, wo Nietzsche vermerkt, „Wagners Kunst“ rede „allein“ zu einem „Cosmopolitismus des Geschmacks“. Vgl. 4.3. Vgl. NL 1870/71, 5[98], KSA 7.120: „Das „rein Menschliche“ ist eine Phrase, noch mehr: eine Illusion der gemeinsten Art.“ Vgl. auch NL 1873, 29[38], KSA 7.641: „das „Allgemein-Menschliche“ als Wahn.“ Gleichwohl gebraucht Nietzsche die Wendung in MA I 164 selbst, d.h. sogar nach seiner Lösung von Wagner, allerdings im Zusammenhang mit seiner Kritik des Geniegedankens. Dieses Thema bleibt bei ihm immer eng mit Wagner assoziiert. Die Verwendung ist daher wohl auch als ironische Seitenbemerkung an Letzteren zu verstehen: „Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind […]“. Zur Frage des Genies bei Nietzsche vgl. Campioni, Art. Genie; Bertino, „Vernatürlichung“, S. 279‒287; Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 159 f.
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zunichte und förderte jene ‚Philisterkultur‘, die sich, ohne externe Vergleichspunkte zu haben, im Licht eingebildeter eigener Größe sonnte. Deshalb „muss der Kosmopolitismus um sich greifen“. „Staat“ und „Nation“ sind dabei, so Nietzsche, der Kultur nur äußerlich, sind „willkürliche[ ] Begrenzungen“, die man zu Unrecht zum Wesentlichen gemacht und damit um ihr „Mysterium“ gebracht hatte: Durch Verabsolutierung verloren die regulativen Fiktionen „Staat“ und „Nation“ ihre lebensdienliche Funktion. Statt im Horizont des Ideals deutscher Kultur die Fliehkräfte historischer Veränderung durch mythische Überzeichnung zu harmonisieren, schärften sie auf „heillos[e]“ Weise die „Gegensätze“ (NL 1873, 19[141], KSA 7.693), sowohl innerhalb einer Nation als auch zwischen den Nationen: Das in der Komplexität der Gegenwart unsichtbar gewordene Eigene glaubte man nun nicht mehr durch positiven, auch das Gemeinsame in Rechnung stellenden Bezug auf das Andere,132 sondern nur durch aggressive Abgrenzung von ihm (bis hin zu militärischer Unterwerfung) wiedergewinnen zu können. Die potentielle Gefährlichkeit des „politische[n] Fieber[s], das das N a t i o n a l e betonte“ (NL 1872/73, 19[272], KSA 7.504), expliziert Nietzsche seit 1872 immer wieder, zunächst in Notaten,133 dann auch im veröffentlichten Werk.134 Diese Kritik stand nicht zuletzt unter dem Einfluss Jacob Burckhardts: „Gegen die Überschätzung des Staates, des Nationalen. J〈acob〉 B〈urckhardt〉“ (NL 1874, 32[72], KSA 7.780).135 Burckhardt lenkte Nietzsches Aufmerksamkeit auf den Renaissancemenschen als ein mögliches Modell für die Erhöhung der deutschen Kultur.136 Statt, wie noch in der GT, die dionysische „Vernichtung des Individuums“ (GT 16, KSA 1.108), sein Aufgehen im deutschen Wesen zu fordern, mahnte Nietzsche nun, dass „[u]nsre Individuen […] schwach und furchtsam“ seien (NL 1873, 29[132], KSA 7.690). Er hoffte jedoch, als „Muthige[r]“ und „Verwegene[r]“, „dass 100 productive Menschen im Stande sind, die ganze deutsche Cultur zu gründen“, und fand, „dass auf ähnliche Weise die Cultur der Renaissance möglich geworden ist.“ (NL 1873, 29[637], KSA 7.637, vgl. HL 2, KSA 1.260 f.) In diesem Sinne hatte Herder ein nationales Selbstverständnis zu denken versucht, das andere Nationen nicht abwertete: Vaterländer „liegen ruhig nebeneinander und stehen sich als Familien bei“ (zitiert nach Koselleck, Art. Volk, Nation IX, S. 319). Vgl. dazu auch Bertino, „Vernatürlichung“, S. 249 f. und 294‒298. Emden, Friedrich Nietzsche, S. 124 f., sieht kosmopolitische Tendenzen bereits in DS am Werk. Vgl. NL 1872/73, 19[284], KSA 7.508; NL 1872/73, 19[295], KSA 7.510; NL 1874, 32[62], KSA 7.776; NL 1874, 32[71], KSA 7.779 („Als mächtige Nation haben wir eine ungeheure Verpflichtung: voranzugehen! Es ist gar nicht möglich, sich so schneckenhaft abzuschliessen.“). Vgl. SE 7, KSA 1.407. Die Bedeutung Burckhardts, insbesondere seines Buchs Die Cultur der Renaissance in Italien, für den Prozess der Ablösung Nietzsches von Wagner und vom Deutschtum ist von Campioni, Der französische Nietzsche, S. 135‒158, herausgearbeitet worden. Burckhardt vertritt in diesem Werk auch einen positiven Begriff von Kosmopolitismus: „Übrigens ist der Kosmopolitismus ein Zeichen jeder Bildungsepoche, da man neue Welten entdeckt und sich in der alten nicht mehr heimisch fühlt.“ (Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 701 (Anm. zu S. 443)) Vgl. Campioni, Der französische Nietzsche, S. 142‒148.
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1.3.2.2 Die Selbstzersetzung des Ideals deutscher Kultur Obwohl Nietzsche zugeben musste, dass Wagner gerade zur Renaissance „kein Verhältniss“ gefunden habe (NL 1874, 32[58], KSA 7.774), und er ferner um Wagners strikte Ablehnung des Kosmopolitismus (bzw. dessen, was dieser darunter verstand) wusste, glaubte er sich mit seiner Kritik am Nationalen, der die Abwertung anderer Kulturen zunehmend widerstrebte,137 offenbar durchaus noch im Einklang mit Wagner. Keineswegs völlig zu Unrecht: Hatte nicht Wagner selbst es als die Bestimmung des deutschen Geistes bezeichnet, die „engeren Schranken der Nationalität“ zu überwinden (ML, S. 221)? Nietzsche zog also mit seiner Kritik am Nationalismus nur die Konsequenz dessen, was in Wagners Deutschtums-Utopie schon immer impliziert gewesen war – und was Wagner vor seiner nationalistischen Wende auch klar ausgesprochen hatte: 1849, damals Verfechter der später von ihm als ‚jüdisch‘ verfemten Revolution, schrieb er, das „Kunstwerk der Zukunft“ solle „den Geist der freien Menschheit über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen; das nationale Wesen in ihm darf nur ein Schmuck, ein Reiz individueller Mannigfaltigkeit, nicht eine hemmende Schranke sein“ (KR, S. 30). Der spätere Wagner freilich verschob den Akzent von der Überwindung „alle[r] Schranken der Nationalitäten“ auf die Fähigkeit des „deutschen Geiste[s]“, das „rein Menschliche[ ] in jedem fremden Gewande“ sich aneignen zu können (ML, S. 221). So verwischte er die frühere kosmopolitische Implikation der Worte. Dieses Vorgehen ist charakteristisch für seine intensiven Bemühungen, nach der „Kehrtwendung vom Kosmopolitismus zum Nationalismus und Antisemitismus“ jeden Eindruck zum Verschwinden zu bringen, er trage den Kosmopolitismus noch immer in sich.138 Denn dadurch wäre seine Idee eines deutschen Geistes, der exklusiv die Universalität für sich gepachtet hatte, untergraben worden. Dieser Selbstzersetzung auch seines eigenen Ideals spezifisch deutscher Kultur suchte Nietzsche durch Einführung einer weiteren Unterscheidung entgegenzusteuern: Analog zum ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Deutschen unterschied er ein gegenwärtiges, „lächerlich[es]“ „NationalDeutsche[s]“ (NL 1872/73, 19[298], KSA 7.511) von einem zukünftigen.139 Auf diese Weise konnte er noch am 2. Januar 1875 gegenüber der Wagnerianerin Emma Guerrieri-Gonzaga energisch bestreiten, ein „Feind des nationalen Gefühls“ zu sein
Campioni sieht sogar bereits in den Vorlesungen über die Entdeckung des Alterthums bei den Italiänern (Sommersemester 1871) eine Wende in Nietzsches Haltung „zur romanischen, speziell zur französischen Kultur“ (Der französische Nietzsche, S. 140 f.). Döhring, Die traumatische Beziehung Wagners zu Meyerbeer, S. 268‒273, Zitat S. 273. Dieser Eindruck bestand bei den Zeitgenossen durchaus – nicht umsonst wurde Wagner, im Guten wie im Schlechten, immer wieder mit Meyerbeer in Verbindung gebracht, vgl. beispielsweise Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, S. 62, Noiré, Pädagogisches Skizzenbuch, S. 9, oder Naumann, Deutsche Tondichter von Sebastian Bach bis auf die Gegenwart, S. 304‒309. Vgl. 1.2.2.2 und 4.3.1.2. – Zur Unterscheidung des frühen, kosmopolitischen vom späten, nationalistischen Wagner vgl. auch Brusotti, Art. Politik, S. 276. Vgl. DS 11, KSA 1.220; HL 4, KSA 1.277; NL 1873, 29[121], KSA 7.686 f.; NL 1874, 32[83], KSA 7.785.
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(Nr. 413, KGB II 5.5),140 obwohl er kurz zuvor in SE erstmals auch öffentlich verkündet hatte, das Wort „National“ sei unter die „Flausen“ zu rechnen, in die die Welt „jetzt […] eingehüllt“ sei (SE 7, KSA 1.407). Allerdings enthüllte der Brief an Guerrieri-Gonzaga durch seinen fast flehentlichen Ton – […] fragen Sie sich, ich bitte, z. B. darnach, ob ich ein Feind des nationalen Gefühls bin und ob ich das deutsche Reich verunglimpfe, oder ob nicht vielmehr — — doch nein, in solchen Dingen sollen S i e mich rechtfertigen, nicht ich mich. (2. Januar 1875, Nr. 413, KGB II 5.5)
– mehr als er verbarg, dass Nietzsches Argumentation ihn selbst nicht mehr recht überzeugen konnte. Denn wenn die Nation nur eine „willkürliche[ ] Begrenzung[ ]“ war (NL 1873, 19[141], KSA 7.693), mit welchem Kriterium sollte man dann das ‚falsche‘ Nationale vom ‚echten‘ trennen? Ein Zweifel an der Berechtigung dieser Unterscheidung stellte unvermeidlich auch die ihr äquivalente zwischen derzeitiger angeblicher und zu errichtender originaler deutscher Kultur in Frage. Nietzsche hatte, ohne es zu wollen, die Paradoxie von Wagners Begriff des Deutschen offengelegt: War, wie Wagner schrieb, das Deutsche seinem Wesen nach einverleibtes Fremdes,141 was blieb dann bei Abzug des Fremden anderes von ihm als ein bloßes x, ein, mit ihm selbst zu reden, „reines Metaphysicum“142 – mithin eine „willkürliche[ ] Begrenzung[ ]“? Der Dunkelheit und Verschwommenheit dieses „mythologischen Phantom[s]“ wurde sich Nietzsche immer deutlicher bewusst, ebenso wie der „gefährlich[en]“ Konsequenzen, die es haben konnte, „[v]on einem Volke Prädikate auszusagen“. Daher mahnte er sich selbst, dass man „vorsichtig sein“ solle, „etwas deutsch zu nennen“: Wenn wir von d e u t s c h e m G e i s t e reden, so meinen wir die deutschen grossen Geister, Luther, Goethe, Schiller und einige Andere, nicht den [sic!] mythologischen Phantom der vereinigten Ungeistermasse, in der — — — Besser wäre es schon, von lutherartigen Menschen usw. zu reden.
„[Z]unächst“ könne man nur „die S p r a c h e “ deutsch nennen, diese aber als Ausdruck des Volkscharacters zu fassen, ist eine reine Phrase und bis jetzt bei keinem Volke möglich gewesen, ohne fatale Unbestimmtheiten und Redensarten. […] [Z]uletzt ist alles so gemischt, dass erst immer später eine Einheit wieder an der Sprache sich einfindet oder eine Illusion der Einheit sich an ihr einstellt. Ja Deutsche! Deutsches Reich! Das ist etwas, Deutschsprechende ist auch etwas. Aber Race-Deutsche! Das Deutsche als künstlerische Stileigenschaft ist erst noch zu f i n d e n […]. (NL 1873, 29[47], KSA 7.645 f.)143
Vgl. dazu Niemeyer, Art. deutsch, das Deutsche, die Deutschen, S. 78. Vgl. WID, S. 46. Vgl. 1.2.1. Wagner an Nietzsche, 24. Oktober 1872, Nr. 372, KGB II 4.103. Die Stoßrichtung des Begriffs der Rasse ist bei Nietzsche nicht in erster Linie eine biologische, sondern eine soziale und kulturelle, wie Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, gezeigt hat. Dies ist in der zitierten Passage bereits offenkundig, obgleich der kulturelle Horizont des Deutschen in ihr noch explizit als ein zu findender, d.h. abzuschließender und insofern metaphysischer, gedacht wird.
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Hier ist eine bemerkenswerte Verschiebung festzustellen: Statt von der Möglichkeit der „ E i n h e i t eines Vo l k e s “ und damit der Einheit der deutschen Kultur schlicht auszugehen (NL 1872/73, 19[308], KSA 7.513), wird diese Voraussetzung nun bereits als problematisch empfunden: Die Suche nach der „Einheit“ des Deutschen, nach dem „Deutsche[n] als künstlerische[r] Stileigenschaft“, mochte die Suche nach einer bloßen „Illusion“ sein. Jedenfalls war sie ein „Hindurchfühlen und ‑Ahnen, ein Wittern auf fast verlöschten Spuren, ein Herauslesen des Palympsest, ja Myriopsest — vieles Irren Vergreifen möglich!“ (NL 1873, 29[136], KSA 7.691)144 Dass Wagner sich, etwa in seinem „R〈ing〉 d〈es〉 N〈ibelungen〉“, in der Tat vergriffen haben könnte, ganz so wie der „deutsche[ ] Soldat[ ]“ (29[136], KSA 7.691) im deutsch-französischen Krieg,145 schien Nietzsche mehr und mehr im Bereich des Möglichen. Die in ihrer kühlen Kalkuliertheit für Nietzsche enttäuschende Realpolitik des Komponisten146 bot solchen Befürchtungen zusätzliche Nahrung.
1.3.2.3 Wagner, der Überdeutsche: Nietzsches Überwindung Wagners in Wagners Namen Nietzsches Einsichten brachten sein auf Wagner ausgerichtetes Weltbild zunehmend ins Wanken. Er war sich dessen bewusst und hat in WB und den zugehörigen Vorstufen mit großem gedanklichem Aufwand „den besseren Wagner“ für sich gerettet.147 Sein philosophisches Weltbild rettete Nietzsche jedoch nicht: Die Lösung, die er für das Wagner-Dilemma fand, veränderte alles.148 Man dürfe, argumentierte er, „das N a t i o n a l - D e u t s c h e “ bei Wagner „nicht dogmatisch“, sondern nur „künstlerisch“ nehmen: das „ g r o ß e [ ] u n b e f r i e digte[] Herz[], das weit größer ist als eine Nation — das nennt er d e u t s c h“. „[N]ur ihre Feinde“ hätten den „ g r ö ß t e n Deutschen“ „den dummen Wahn, man müsse beschränkt sein, eingeimpft“ (NL 1875, 11[4], KSA 8.190 f.).149 Diese Feinde Wagners verstanden sich freilich als seine „Freunde“. Sie hätten
Vgl. auch NL 1873, 29[121], KSA 7.687, wo Nietzsche andeutet, dass man die deutsche Innerlichkeit nicht nur nicht sah, sondern dass sie gar nicht da war („Es ist wie beim Christenthum; der Protestantismus rühmt sich, dass Alles innerlich geworden ist: darüber ist die Sache verloren gegangen. So ist bei dem Deutschen alles innerlich, man sieht aber auch nichts mehr davon.“) und NL 1874, 32[45], KSA 7.768, mit der zweideutigen Beobachtung, Wagners „jetzige Auffassung des Daseins, Deutschlands usw.“ sei „tiefer“ als die zur Zeit von Oper und Drama, „obwohl sie viel conservativer ist“. Zum Motiv des deutschen Soldaten vgl. auch NL 1873, 29[135], KSA 7.691. Vgl. 1.3.1. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 94. In die folgenden Erwägungen beziehen wir sowohl die vierte UB als auch deren Vorarbeiten ein. Sie weisen zum Teil deutliche Abweichungen auf: Während in den Notaten unverhüllt kritische Töne auffallen, sind sie in der vierten Unzeitgemässen zu bloßen Untertönen gedämpft (vgl. Colli, Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1.909 f.). Vgl. auch NL 1876, 17[4], KSA 8.297.
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„[f]ast zu allen Lebzeiten“ danach getrachtet, ihn zu „dogmatisiren“ (WB 10, KSA 1.496), und ihretwegen erscheine Bayreuth „in besonders schrecklicher ja verwirrender Beleuchtung durch das politische Prunken mit dem Nationalen“ (NL 1875, 12[9], KSA 8.249). So rettete Nietzsche Wagner für sich: Er unterschied zwischen Wagner und den Wagnerianern und projizierte auf sie, was ihm an Wagner zweifelhaft und gefährlich schien.150 Abgesichert durch diese Konstruktion, mit der er sich selbst versichern wollte, Wagner weiterhin loyal zu sein, suchte Nietzsche nun mit Wagnerschen Motiven und in Wagners Namen einen Ausweg aus Wagners Dichotomien. Noch ein letztes Mal greift er die schroffe Entgegensetzung von national und kosmopolitisch auf, allerdings nur, um sie zu suspendieren, indem er den Wagnerschen Standpunkt „nicht national, aber auch nicht kosmopolitisch“ nennen will (NL 1875, 11[4], KSA 8.191). Wenig später hat er einen Begriff gefunden, mit dem er dieses ‚weder national noch kosmopolitisch‘ beim Namen nennen konnte: „ ü b e r d e u t s c h“ (NL 1875/76, 14[4], KSA 8.274; WB 10, KSA 1.505). Dieser Begriff war der Versuch eines Kompromisses: Nietzsches Antinationalismus und Wagners Antikosmopolitismus sollten mit ihm gegeneinander ausbalanciert und ein Mittelweg gefunden werden, der beiden Denkern gerecht wurde. Nietzsche sah noch nicht oder wollte nicht sehen, dass der Begriff des Überdeutschen, der ihn über die Opposition von echter und falscher deutscher Kultur hinausführte, unvermeidlich auch über Wagner hinausführen musste.151 Daran änderte auch nichts, dass er seine, vorsichtig
Nietzsche wird diese Unterscheidung bis ins Spätwerk hinein verwenden (vgl. z.B. NL 1887/ 88, 11[320], KSA 13.134). Andernorts gibt er ihr eine ironische Wendung: „Wenn Wagner hierüber anders denken sollte: nun, so wollen wir bessere Wagnerianer sein als Wagner.“ (NL 1878, 30[82], KSA 8.536) Über den Bayreuther Kreis der Wagnerianer und Nietzsches Kritik an ihnen vgl. Ferrari Zumbini, Nietzsche in Bayreuth, bes. S. 249‒274. Die fundamentale Differenz, die sich damit zwischen den Konzepten der ersten drei UB und der vierten ergibt, wird von Ansell Pearson, Geist and Reich, S. 86, nicht erfasst, wenn er den Begriff des Überdeutschen so behandelt, als sei er schlicht in das Korpus von Nietzsches früher Kulturkritik integrierbar und könne so gut in WB wie in DS, HL oder SE stehen. Auch Görner, Art. Richard Wagner in Bayreuth, S. 433, hält Nietzsches Ideal einer deutschen Kultur in der vierten UB noch für intakt: „er [Nietzsche] hoffte doch auch selbst auf ein deutsches Delphi […].“ Dagegen betont Gentili, Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie, S. 115, mit Blick auf WB zu Recht: „Die Unterscheidung zwischen wahrer Kultur und Pseudokultur der Bildungsphilister, die das Grundgerüst der Kritik in den Unzeitgemässen darstellte, wird sozusagen in regressivem Sinne überwunden.“ Allerdings scheint Gentili, der auf den Begriff des Überdeutschen keinen Bezug nimmt, eher an eine Verschiebung denn eine Überwindung zu denken, wenn er an gleicher Stelle fortfährt: „Wagner wird als Held der neuen nationalen Volkskultur gefeiert, aber der gekünstelte Ton von Nietzsches Apologie, die Weise, in der er – ganz offensichtlich widerstrebend – gewisse Glaubensbekenntnisse verkündet, machen aus Wagner eher das typische Beispiel eines Bildungsphilisters.“ Wagners Eingemeindung in die Bildungsphilister ließe demnach immer noch die Möglichkeit einer ‚wahren‘ nationalen Volkskultur offen.
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gesagt, unorthodoxe Wagnerinterpretation152 dadurch verschleierte, dass er WB in weiten Teilen als „eine äußerst geschickte Mosaikarbeit von Zitaten aus Wagnerschen Schriften“ anlegte.153 Wenn Nietzsche schreibt, dass „der Horizont seiner [Wagners] Menschenliebe zu umfänglich [ist], als dass sein Blick an den Umzäunungen des nationalen Wesens hängen bleiben sollte“, war das zunächst nicht mehr als eine Paraphrase der Worte Wagners, der Deutsche sei dazu bestimmt, „über die engeren Schranken der Nationalität“ hinauszugehen (ML, S. 221). Doch der Nachsatz wertet den Sinn von Wagners Bestimmung völlig um: „Seine Gedanken sind wie die jedes guten und grossen Deutschen ü b e r d e u t s c h und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen.“ (WB 10, KSA 1.505) Wagner wollte die engeren Schranken der Nationalität überwinden, um zu einem Universalen vorzudringen, das seinerseits nur den Deutschen offenstand und, insofern es die Deutschen zu ihrem ‚wahren‘ Selbst kommen ließ, wiederum national war. Nietzsche hingegen sah, dass es keinen Sinn mehr hatte, vom deutschen Wesen als einem ‚an sich‘ zu sprechen, wenn es in diesem Wesen liegen sollte, die nationalen Schranken zu überwinden. Damit war auch an eine in sich geschlossene Einheit der deutschen Kultur nicht mehr zu denken. In einer Vorstufe ließ Nietzsche seinen ‚Idealwagner‘ folgerichtig lediglich noch einen „ B e i t r a g “ suchen, „den die Deutschen der kommenden“ – eben nicht mehr nur deutschen, sondern umfassenderen – „Kultur geben werden“ (NL 1875, 11[4], KSA 8.191). Aus dieser Perspektive konnte Nietzsche sagen: selbst das grossartige Vertrauen, welches Wagner dem deutschen Geiste auch in seinen politischen Zielen geschenkt hat, scheint mir darin seinen Ursprung zu haben, dass er dem Volke der Reformation jene Kraft, Milde und Tapferkeit zutraut, welche nöthig ist, um „das Meer der Revolution in das Bette des ruhig fliessenden Stromes der Menschheit einzudämmen“:154 und fast möchte ich meinen, dass er Diess und nichts Anderes durch die Symbolik seines Kaisermarsches ausdrücken wollte. (WB 10, KSA 1.504)
Nietzsche wird später von WB sagen, es sei eine „Fälschung der Wahrheit zu G u n s t e n d e r D i n g e , die wir l i e b e n“, gewesen (NL 1880, 5[14], KSA 9.184). Wagner sähe sich darin „gar nicht ähnlich“, was „um so besser“ sei (NL 1884, 26[406], KSA 11.257). Montinari, Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren, S. 294. Treffend bemerkt Montinari daher, WB sei „Nietzsches Vision der Zukunft, nicht die Wagners“ (S. 298). Vgl. auch Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner, S. 85: „trotz der Integration Wagnerscher Formulierungen […] läßt sich die höhere Ebene nicht übersehen, von der aus er [Nietzsche] argumentiert.“ – Die Strategie, Wagner „gleichsam gegen sich Partei nehmen zu machen“ (NL 1878, 30[85], KSA 8.537), blieb eine Konstante in Nietzsches Auseinandersetzung mit ihm, nicht nur in den späten 1870er Jahren (vgl. dazu Salaquarda, Wagner als Heilmittel und Gift), sondern bis zuletzt. Vgl. 4.3. Vgl. EB, S. 2: „Dieses Kunstwerk dem Leben selbst als prophetischen Spiegel seiner Zukunft vorzuhalten, dünkte mich ein allerwichtigster Beitrag zu dem Werke der Abdämmung des Meeres der Revolution in das Bette des ruhig fließenden Stromes der Menschheit.“ Wagner bezieht sich hier auf ein Diktum Thomas Carlyles. Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.97, und Montinari, Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren, S. 298.
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Der Kaisermarsch wurde so statt zum Symbol der Herrlichkeit deutscher Kultur zum Symbol für Wagners Vertrauen, dass die Deutschen einen ordnenden, das Chaos organisierenden Beitrag zu einer „kommenden Kultur“ leisten würden, deren Teil sie nur waren, ohne sie ganz auszumachen (NL 1875, 11[4], KSA 8.191). Diese kommende Kultur, die er hier nicht beim Namen nennt, ist die „europäische[ ] Cultur“ (NL 1875, 5[143], KSA 8.76). Der „ e u r o p ä i s c h e M e n s c h“, von Nietzsche 1873 noch als „ a b s t r a k t e [ r ] “ Mensch gescholten, „der alles nachmacht und schlecht“ (NL 1873, 27[24], KSA 7.593), war ihm nun „Zukunftsmensch“ geworden (NL 1875, 5[15], KSA 8.44). Einzig zu ihm und den seinen, den „ M e n s c h e n d e r Z u k u n f t “ (WB 10, KSA 1.505), rede Wagners Kunst.155 So konnte Nietzsche sogar scheinbar schlüssig erklären, dass Wagner, allein in „Sorge“ um die „bessere[ ] Zukunft“ der Menschheit, nicht um sich oder um seine Kunst ihrer selbst wegen, „bei den Gebildeten an[fragte], ob sie sein Vermächtniss, den kostbaren Ring seiner Kunst mit in ihren Schatzhäusern bergen wollen“: Sie sollten „in den Zeiten der Erdbeben und Umstürze […] Schutzgeister der edelsten Besitzthümer der Menschheit“ sein, die diese Besitztümer an die Zukunftsmenschen würden überliefern helfen (WB 10, KSA 1.504 f.).156 Dem steht freilich Wagners eigenes prosaisches Bekenntnis gegenüber, dass er „jetzt reiner Geschäftsmann, d.h. Theater-Unternehmer geworden“ sei (an Nietzsche, 18. Februar 1875, Nr. 637, KGB II 6/1.44). Dass Nietzsche wohl doch richtig gelegen hatte, als er sich notierte: „ T r e u e p r e i s g e b e n zu Gunsten von Lebensstellungen Macht Einfluß (deutscher Meister)“ (NL 1875, 12[11], KSA 8.250), mochte ihm spätestens bei der „Bayreuther Siegesfeier 1876“ (MA II Vorrede 1) dämmern.157 Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 106: „Nietzsche […] reinigt Wagner von aller Verstrickung in seine Zeit.“ Vgl. auch NL 1875/76, 14[4], KSA 8.274. Nietzsche hat seine dortigen Eindrücke später in EH MA 2 geschildert: „Die Anfänge dieses Buchs [sc. MA] gehören mitten in die Wochen der ersten Bayreuther Festspiele hinein; eine tiefe Fremdheit gegen Alles, was mich dort umgab, ist eine seiner Voraussetzungen. Wer einen Begriff davon hat, was für Visionen mir schon damals über den Weg gelaufen waren, kann errathen, wie mir zu Muthe war, als ich eines Tags in Bayreuth aufwachte. […] Ich erkannte Nichts wieder, ich erkannte kaum Wagner wieder. […] W a s w a r g e s c h e h n? — Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden! — Die d e u t s c h e Kunst! der d e u t s c h e Meister! das d e u t s c h e Bier! …“ (vgl. auch NL 1885, 41[9], KSA 11.683) Die teleologische Grundkonstruktion von EH führt in diesem Erlebnisbericht allerdings zu einer starken Stilisierung. Was ihn „mitten drin für ein paar Wochen ab[reisen]“ ließ, war, wie Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner, S. 90, betont, nicht zuletzt sein „schlechter Gesundheitszustand“. Vgl. dazu Nietzsche an Elisabeth Nietzsche, 1. August 1876, Nr. 546, KGB II 5.181. Dennoch weist Borchmeyer darauf hin, dass Nietzsches Brief aus Klingenbrunn an seine Schwester, in dem er schreibt, er müsse „alle Fassung zusammen nehmen, um die grenzenlose Enttäuschung dieses Sommers zu ertragen“ (6. August 1876, Nr. 547, KGB II 5.182), „freilich doppelsinnig sein [mag]. Hinter der Desperation über sein physisches Unvermögen, die langen Aufführungen durchzustehen, könnte sich schon die Desillusionierung durch die Gestalt der Festspiele selber andeuten […].“ (Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner, S. 91) Zudem muss man konstatieren, dass die Festspiele, ganz wie Nietzsche es stark zugespitzt in EH schildert, durchaus Züge einer nationalen Kultstätte
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1.3.2.4 Nietzsches Neudenken des Deutschen: Vom Mythos zu Evolution und Geschichte Dem konstruierten Wagner der vierten UB ging es nicht mehr um „selige Hoffnungen für das deutsche Wesen“ (GT 16, KSA 1.103), nicht mehr um die „ B i l d u n g d e s D e u t s c h e n“ (NL 1872/73, 19[285], KSA 7.508), sondern um dessen Überschreitung. Die Kritik am Glauben der ‚Jetztzeit‘, ‚fertig zu sein‘, die Nietzsche im Anschluss an Wagner entfaltet hatte, hatte sich gesteigert zur Kritik am Glauben, überhaupt je fertig werden zu können: „Die gute Vernunft bewahre uns vor dem Glauben, dass die Menschheit irgend wann einmal endgültige ideale Ordnungen finden werde“ (WB 11, KSA 1.506).158 Damit hatte Nietzsche zugleich eingestanden, dass das Konzept des Deutschen, das er in der GT entwickelt und an dem er sich seitdem theoretisch abgearbeitet hatte, auch bloß eine Variante der nationalen Verengung gewesen war, von der er es so scharf hatte abgrenzen wollen. Die Enttäuschung über Wagner war so eigentlich eine Enttäuschung Nietzsches über sich selbst und zugleich ein heilsamer Schrecken. Mitte April 1877 schreibt er an Karl Hillebrand: nach einem Winter schwerer Erkrankung genieße ich jetzt im Wiedererwachen der Gesundheit Ihre vier Bände „Völker Zeiten und Menschen“ und freue mich darüber wie als ob es Milch und Honig wäre. O Bücher, aus denen eine e u r o p ä i s c h e Luft weht, und nicht der liebe nationale Stickstoff! Wie das den Lungen wohlthut (Nr. 711, KGB II 5.318).
Nietzsche spielt auf die chemische Zusammensetzung von Luft an: Luft besteht zu einem großen Teil aus Stickstoff, doch Stickstoff allein ist tödlich. Verbringt man lange Zeit in einem engen, abgeschlossenen Raum, in dem die Luft nicht zirkulieren kann (und als einen solchen Raum denkt Nietzsche hier den Nationalstaat und konkret das Deutsche Reich), so sinkt der Sauerstoffanteil gefährlich ab – bis man erstickt.159 Eine starre Kultur, die sich jedem frischen Lufthauch, jeder Veränderung und Bewegung widersetzt, ist auf Dauer nicht überlebensfähig. Metaphorisch zugespitzt, expliziert Nietzsche hier einen Schlüsselgedanken seiner Philosophie: die Übertragung der Evolutionstheorie auf den Bereich des Geistigen und der Kultur, der Glaube „an das Werden […] auch im Geistigen“, daran, dass „wir […] h i s t o r i s c h durch und durch“ sind (NL 1885, 34[73], KSA
des Deutschen Reiches angenommen hatten (vgl. dazu Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 719‒ 723) und also Salz in der Wunde seines Leidens an der nationalen Vereinnahmung Wagners sein mussten. WB überwindet folglich das, was Siemens, Agonal Configurations in the Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 92, Nietzsches „longing for closure“, seine „temptation […] to sidestep the problem of history“ genannt hat. Vgl. ähnlich FW 134 („Die deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Wintersiechthum, eingerechnet die Wirkungen der Kellerluft und des Ofengiftes in deutschen Wohnräumen.“) und NL 1884, 28[64], KSA 11.330 („Daß Gott erbarm’! / D e r meint, ich sehnte mich zurück / In’s deutsche Warm, / In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!“), und dazu 3.2.3.
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11.442).160 Nietzsche war mit Darwins Theorie schon seit einigen Jahren bekannt gewesen161 und hatte bereits erwogen, sie „auf Qualitäten, die wir für ewig halten: moralisch, künstlerisch, religiös usw.“, anzuwenden (NL 1873, 19[132], KSA 7.461), war aber vor den Konsequenzen zunächst zurückgeschreckt: Er halte die „Lehren vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten“ „für wahr“, aber auch „für tödtlich“ (HL 9, KSA 1.319).162 An die Stelle der „Ausschweifungen des historischen Sinnes“ (HL 9, KSA 1.319) hatte er daher „die mythenbildende Kraft“ gestellt (NL 1872/73, 19[285], KSA 7.508), also die lebensdienliche Überformung des Historischen, nicht zu verwechseln mit der auf ihre Weise gleichfalls lebensschädlichen, „Uebersättigung“ und „Ekel[ ]“ hervorrufenden Betrachtungsweise der „überhistorischen Menschen“, nach der „das Vergangene und das Gegenwärtige […] Eines und dasselbe“ ist (HL 1, KSA 1.256).163 Nun, nachdem der
Dies sei es eigentlich, so Nietzsche an gleicher Stelle, „[w]as uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibnitz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind h i s t o r i s c h durch und durch. Dies ist der große Umschwung. Lamarck und Hegel — Darwin ist nur eine Nachwirkung. Die Denkweise H e r a k l i t ’ s und E m p e d o k l e s ’ ist wieder erstanden. Auch Kant hat die contradictio in adjecto „reiner Geist“ nicht überwunden: wir aber.“ (korr. nach KGW IX, N VII 1.147) Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft verschiebt Nietzsche den Akzent auf Darwin: „ohne Hegel kein Darwin“ (FW 357, KSA 3.598). Darüber näher Stegmaier, „ohne Hegel kein Darwin“. Dennoch hat man wiederholt die Ansicht vertreten, Nietzsche sei ein Gegner der Darwinschen Evolutionstheorie gewesen (vgl. beispielsweise Moore, Nietzsche and Evolutionary Theory). Werner Stegmaier hingegen betont, dass Nietzsche, „was den wissenschaftlichen Gehalt von Darwins Evolutionstheorie betrifft, trotz einiger Einwände entschiedener Darwinist in allen Phasen seines Schaffens“ gewesen sei (Darwin, Darwinismus, Nietzsche, S. 269). Zuletzt hat Michael Skowron gezeigt, „dass sich Darwinismus und Antidarwinismus bei Nietzsche ebenso wenig wie andere Gegensätze einfach ausschließen, sondern komplementär ergänzen und zusammengehören und auf einer weiteren Ebene sogar überwunden werden“ (Nietzsches „AntiDarwinismus“, S. 163). Eine wichtige Quelle für seine Kenntnisse über Darwin, den Darwinismus und die Evolutionstheorie ist Langes Geschichte des Materialismus, die er erstmals 1866 liest (vgl. über diese erste Begegnung mit dem Text Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 197‒201). Stegmaier, „ohne Hegel kein Darwin“, S. 76 f., ergänzt: „Auf Darwins Evolutionsgedanken war Nietzsche aber auch schon durch Schopenhauer und durch Emerson vorbereitet, vor allem aber durch Empedokles, auf den auch Lange immer wieder verweist.“ Über Lange und Nietzsche vgl. Salaquarda, Nietzsche und Lange; Stack, Lange and Nietzsche, sowie Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, S. 32‒36 und 249. Vgl. dazu auch NL 1873, 19[132], KSA 7.461, und Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche, S. 270. Angesprochen ist wohl die Willensmetaphysik Schopenhauers, derzufolge im Buch der Geschichte „auf jeder Seite nur das Selbe [steht], unter verschiedenen Formen“, nämlich der sich in aller Erscheinung objektivierende Wille zum Leben (Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Drittes Buch, Kapitel 38, SSW, Bd. 3, S. 504 f.). Allerdings können Nietzsches kritische Äußerungen über die Anschauungsweise des überhistorischen Menschen auch als Versuch gewertet werden, Wagners Mythosbegriff, der, obgleich schon vor seiner ersten Schopenhauerlektüre 1854 ausgebildet (bes. in den Wibelungen (1848/49) und OD (1850/51), vgl. Borchmeyer, Art. Mythos, S. 252‒258), mit den zitierten Bestimmungen Schopenhauers auffällige strukturelle Ähnlichkeiten aufweist, eine eigene, Historie und Mythos austarierende Wendung zu geben. Zum Problem des überhistorischen
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Richard Wagner und die ‚deutschen Hoffnungen‘ im Frühwerk Nietzsches
lebensdienlich geglaubte „ d e u t s c h e [ ] M y t h u s “ (GT 23, KSA 1.147) sich seinerseits als tödlich herausgestellt hatte, kehrte sich das Verhältnis von Mythos und Geschichte um: In Abwendung vom Wagnerschen Mythos begann Nietzsche, die Deutschen radikal evolutionär und folglich auch radikal historisch zu denken.164
1.3.2.5 Der Überdeutsche und die Zeitlichkeit des Deutschen Eine wichtige Rolle spielte dabei der Begriff des Überdeutschen, Nietzsches Gegenbegriff zum Vollendungsstreben seiner Landsleute: Er verhütet die Dogmatisierung und Metaphysizierung des Deutschen, indem er jeden möglichen Begriff des Deutschen als beschränkt ausweist. Darin gleicht er dem Begriff des Übermenschen, Nietzsches Begriff dafür, dass der Mensch nicht auf den Begriff zu bringen ist.165 Nur wer sich dem Drang eines solchen Bestimmungsversuchs zu entziehen verstand, wurde frei zu einem flexiblen Verständnis dessen, was ‚deutsch‘ war. Er war dann ein „guter Deutscher“166 und löste, wie Nietzsche in MA II VM 323 unter Menschen vgl. Bertino, „Vernatürlichung“, S. 234 f. Zu Wagners Auseinandersetzung mit Schopenhauer vgl. Zöller, Art. Schopenhauer, S. 358‒367. Wagner, der Darwin studiert hatte (vgl. dazu Joachim Bergfelds Kommentar, BB, S. 245), wies dessen Theorie nicht schlechterdings zurück, hielt aber ironischerweise ihre Übertragung „auf das philosophische Gebiet“ für ein „Misverständis[ ]“ (PP, S. 84). Genau diese Übertragung nahm Nietzsche vor. Diesem gravierenden Unterschied wird von Birx, Art. Evolution, nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn er nicht nur Nietzsche, sondern auch Wagner „eine evolutionäre Orientierung“ in seiner Weltanschauung zuschreibt (S. 298). Wohl betont Wagner im Ring eine „Prozesskonzeption“ (S. 299), aber eben, wie Birx selbst bemerkt, ein zyklische. Ebendaher kann nach der Götterdämmerung gerade keine „neue und bessere Welt“ folgen (S. 301), sondern Anfang und Ende der Welt sind eins: „Mit dem Ende der aus einer Naturverletzung hervorgegangenen Ordnung Wotans und der Rückgabe des Rings an die Naturelemente wird die Welt in ihren paradiesischen Urzustand zurückgeführt, indem sie endet, beginnt sie neu“ (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 304, vgl. S. 305‒307). Vgl. Stegmaier, Der See des Menschen, das Meer des Übermenschen und der Brunnen des Geistes, bes. S. 157‒159, der festhält, „[d]ass ‚der Übermensch‘ kein Begriff über bisherige Begriffe des Menschen hinaus, sondern die Verflüssigung jedes Begriffs des Menschen ist“ (S. 159). Vgl. dazu auch Simon, Nachwort, und Haase, Der Übermensch in Also sprach Zarathustra und im ZarathustraNachlass 1882‒1885. Der Begriff des guten Deutschen und der des Überdeutschen werden von Nietzsche in der Regel synonym gebraucht: „jede[r] gute[ ] und grosse[ ] Deutsche[ ]“ ist „ü b e r d e u t s c h“ (WB 10, KSA 1.505). Nietzsche benutzt den Begriff ‚überdeutsch‘ nur vier Mal (vgl. neben WB 10 die dazugehörige Vorstufe NL 1875/76, 14[4], KSA 8.274, und JGB 255 f.), allerdings ist er oft (vgl. MA II VM 323; NL 1884, 26[412], KSA 11.261) implizit im Begriff des ‚guten Deutschen‘ präsent. Über das Verhältnis des Begriffs des Überdeutschen bzw. guten Deutschen zum Begriff ‚guter Europäer‘ vgl. 3.2.5. – Obwohl Nietzsche den Begriff des Überdeutschen nicht nur auf Wagner bezieht, sondern ihn lediglich als einen unter weiteren Überdeutschen verstanden wissen möchte, gebraucht er ihn immer im Zusammenhang mit Wagner. Schon das deutet an, dass Nietzsches Problem mit den Deutschen untrennbar mit Wagner verknüpft und seine Dekonstruktion des Deutschen ab MA immer auch eine Dekonstruktion von dessen Begriff des Deutschen ist. – Der Begriff „Überdeutscher“ begegnet bereits bei Franz Grillparzer, allerdings im entgegengesetzten Sinn: als
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dem sprechenden Titel „ G u t d e u t s c h s e i n h e i s s t s i c h e n t d e u t s c h e n“ schrieb, die Wagnersche Frage, was deutsch sei, practisch, gerade durch Ueberwindung seiner deutschen Eigenschaften. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedes Mal den Gürtel, der ihm bis dahin sein n a t i o n a l e s Ansehen gab.
Will ein Volk aber lediglich in sich „bestehen“, so „verkümmert“ es: Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist diess ein Beweis, dass es versteinern will, und ganz und gar M o n u m e n t werden möchte […]. Der also, welcher den Deutschen wohl will, mag für seinen Theil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse.
Was deutsch war, musste so in jeder Zeit unter den Bedingungen dieser Zeit neu bestimmt werden. Bedachte man zudem, „was alles schon deutsch g e w e s e n i s t “, d.h. machte man sich die historische Kontingenz der Bedeutung des Wortes klar, so war die „theoretische Frage: was i s t deutsch?“ notwendig „durch die Gegenfrage [zu] verbessern: „was ist j e t z t deutsch?““ (MA II VM 323).167 Nietzsche ‚übertrieben deutsch‘. Grillparzer hatte 1844 in den Grenzboten das Gedicht „Poesie der Gegenwart“ veröffentlicht, in dem er die zeitgenössische deutsche Poesie, nicht zuletzt ihre nationale Engstirnigkeit (die sich etwa in der verbreiteten Nibelungenbegeisterung zeige), scharf angriff; der Terminus „Überdeutscher“ fiel hier jedoch noch nicht. Im Zuge einer Wiederveröffentlichung im Taschenkalender Huldigung den Frauen. Taschenbuch für das Jahr 1845, herausgegeben von Ignaz Franz Castelli, benannte Grillparzer das im Übrigen unveränderte Gedicht dann in „An die Überdeutschen“ um (vgl. zur Veröffentlichungsgeschichte den Kommentar in: Grillparzer, Sämtliche Werke, Bd. I/10, S. 331‒333). Ob Nietzsche das Gedicht an diesem entlegenen Ort zur Kenntnis genommen hat, ist freilich zweifelhaft. Auch in der von Heinrich Laube besorgten ersten Werkausgabe von 1872, die Nietzsche verwendete, findet sich das Gedicht noch nicht, erst in der Erweiterung von 1887. Unabhängig von der Frage, ob sich Nietzsche in seiner Begriffsprägung auf Grillparzers Gedicht bezog und dabei dessen Begriff umdeutete, bleibt festzuhalten, dass Grillparzer nicht nur in diesem Gedicht, sondern auch andernorts ebenso wie Nietzsche ein scharfer Kritiker der zeitgenössischen deutschen Kultur war und dass Nietzsche diese Kritik in der ersten Hälfte der 1870er Jahre tatsächlich rezipiert hat (vgl. dazu Salaquarda, „Er ist fast immer einer der Unserigen“, bes. S. 237‒250). Bereits Thomas Mann nimmt in den Betrachtungen eines Unpolitischen Nietzsches Forderung der Entdeutschung auf, wenn er feststellt, „daß man seine Deutschheit möglicherweise verlieren muß, um sie zu finden; […] daß gerade die exemplarischen Deutschen Europäer waren und jede Einschränkung ins Nichts-als-Deutsche als barbarisch empfunden hätten“ (Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 70). Es ist freilich nicht mehr im Sinne Nietzsches gesprochen, wenn Mann folgert: „überdeutsch, das heißt: überaus deutsch“ (Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 118; vgl. zu den Äußerungen Manns Borchmeyer, „Ein Dreigestirn ewig verbundener Geister“, S. 12‒15). Denn die Rede von einem ‚überaus Deutschen‘ hat eben mit dem ‚Überdeutschen‘ ihren Sinn verloren. Einem ähnlichen Irrtum scheint Diane Morgan zu erliegen, wenn sie festhält, dass „a good German, such as Goethe, moves gracefully away from his embarrassing national roots into freer air of, for instance, European culture, but in doing so he remains typically German“ (Nietzsche and National Identity, S. 465, Hervorhebung A.R.). Ähnlich argumentiert de Launay, „Peuples et patries“, S. 46: „‚Gut deutsch sein, heißt sich entdeutschen‘, écrit par un Allemand, fait presque figure de paradoxe d’Épimenide. Mais c’est vite oublier que Nietzsche n’exclut ainsi nullement qu’on puisse être
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löste Wagners Idee eines wieder zu sich kommenden Deutschen auf in ein offenes Stufenmodell. Wenn jedoch der Sinn des Begriffs des Deutschen selber flüssig ist, kann es auch keine festen Kriterien dafür geben, was „[o ] r i g i n a l - d e u t s c h“ ist und was nicht (MA II WS 91). Denn diese Kriterien ändern sich ebenfalls laufend, wenn auch nur allmählich. Das ‚Original-Deutsche‘ war so kein Instrument der Identifikation und Aussonderung des vermeintlich Fremden mehr, sondern konnte allenfalls noch spielerisch und ironisch gebraucht werden, wie in MA II WS 91: Die deutsche Prosa, welche in der That nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales Erzeugniss des deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen originalen deutschen Cultur einen Fingerzeig geben, wie etwa, ohne Nachahmung von Mustern, eine wirkliche deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen werde. — Jemand, der längere Zeit über diese Aussichten nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus: „Aber, um des Himmels willen, vielleicht h a b e n wir schon diese originale Cultur, — man spricht nur nicht gerne davon!“
oder in MA II WS 228: Studentendeutsch […]. In dieser Sprache der Ueberlegenheit — der einzigen, die in Deutschland original ist — reden nun unwillkürlich auch die Staatsmänner und Zeitungs-Kritiker […].
In beiden Fällen wertet Nietzsche den zuvor utopisch-normativen Sinn des ‚Original-Deutschen‘ in einen bloß noch deskriptiven, das Gegenwärtige als Gegenwärtiges erfassenden Sinn um.168 comme il faut allemand.“ Gegen Morgan und de Launay ließe sich mit West[f]all, Zarathustra’s Germanity, S. 47, sagen: „Nietzsche understands both the failures of contemporary German culture and the possible future German Greatness as fundamentally German. Neither is more German than the other.“ Auch Morgan betont ganz in diesem Sinne, Nietzsche insistiere darauf, „that national identity should not be seen as something permanent“ (Nietzsche and National Identity, S. 465) – gerade deswegen aber kann man das Attribut „typically German“ nicht nur den guten Deutschen zusprechen. Morgans These erscheint umso fragwürdiger, als es für die Deutschen in Nietzsches Augen keineswegs ‚typisch‘ war, über sich hinauszugehen: Goethe ist eben die Ausnahme, nicht die Regel. Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, nimmt die berühmte Wendung der Entdeutschung zum Ausgangspunkt ihrer These, Nietzsche habe eine „southernization“ der Kultur einleiten wollen (S. 25, 280 u.ö.), „de-Germanize“ bedeute „Italianize“ (S. 27). Damit spitzt Prange Nietzsches Projekt der Erhöhung der Kultur auf ein konkretes Ziel zu und verengt so Nietzsches von ihr mit dem treffenden Begriff „dynamic interculturalism“ bezeichnete (S. 190, 197, 280 u.ö.), bewusst offene Konzeption. Offen war sie gerade darin, dass sie eine persönliche Not wie jene, die Nietzsche selbst eine wesentliche Orientierung im ‚Südlichen‘ nehmen ließ, nicht mehr zu einer allgemeinen Doktrin verabsolutierte. Auch die anderen, äquivalenten Dichotomien von Wagners (und nicht nur Wagners) Deutschtumskonzept kritisierte Nietzsche nun: Er verkehrte die Verwandtschaft der Deutschen zu den Griechen ostentativ ins Gegenteil („die Natur des Franzosen [ist] der griechischen viel verwandter […] als die Natur des Deutschen“, MA I 221, KSA 2.182, vgl. auch WS 214) und entlarvte den Nationalismus als Triebfeder des Antisemitismus, damit eine Einsicht der Nationalismusforschung (vgl. Volkov, Antisemitismus als kultureller Code) vorwegnehmend: „Beiläufig: das ganze Problem der J u d e n ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und
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Das Bleibende des Deutschen ist demnach, dass nichts an ihm „in einem strengen Sinne“ bleibend ist, wenn sich auch verschiedene Beständigkeitsgrade des (deutschen) Nationalcharakters differenzieren lassen: Das, worin man die nationalen Unterschiede findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, nur der Unterschied verschiedener C u l t u r s t u f e n und zum geringsten Theile etwas Bleibendes (und auch diess nicht in einem strengen Sinne). (MA II VM 323)169
So konnte man zwar noch vom ‚deutschen Wesen‘ reden, wie auch Nietzsche es bis zuletzt immer wieder tat, doch nur in einem regulativen Sinn, der die Veränderlichkeit dieses Wesens einrechnete.170 Was Deutsche zu Deutschen macht, sind relative sprachliche und kulturelle Ähnlichkeiten, die sich im Verlauf der Geschichte bei Individuen herausgebildet haben, die in einem relativ geschlossenen Kulturraum leben.171 Damit ist zugleich Nietzsches dezidiert nicht-essentialistischer Volks- und Rassebegriff expliziert.172 höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geistund Willens-Capital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt — und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden —, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen“ (MA I 475). Vgl. die dazugehörigen Vorstufen NL 1876/77, 23[100], KSA 8.439, und NL 1878, 30[70], KSA 8.534. Orsucci, Orient – Okzident, S. 40‒43, weist nach, dass Nietzsche im Zusammenhang seiner vorbereitenden Lektüren für die Vorlesung über den Gottesdienst der Griechen (1875), die Kulturstufen-Theorien der zeitgenössischen ethnologischen Forschung, namentlich von Tylor und Lubbock, rezipiert hat, aus deren „Perspektive […] Rassenmerkmale und Nationalcharaktere belanglos“ geworden seien, „da sie keine Konsistenz und Ausschließlichkeit mehr besitzen und nur mehr transitorisch […] Geltung haben“ (S. 42). Dennoch muss betont werden, dass Nietzsches Denken schon zuvor, wenn nicht diese Richtung eingeschlagen, so doch in sie gewiesen hatte (vgl. 1.3.2.2). Zur Frage der Kulturstufen bei Nietzsche vgl. auch Wotling, Nietzsche et le problème de la civilisation, S. 245‒272. Im Vergleich mit den frühen 70er Jahren (vgl. u.a. GT 16, KSA 1.103; GT 23, KSA 1.146; BA II, KSA 1.685; NL 1870/71, 5[9], KSA 7.94; 5[71], KSA 7.109; NL 1870‒72, 8[23], KSA 7.229; NL 1871, 11[1], KSA 7.355; NL 1873, 29[123], KSA 7.687) gebraucht Nietzsche den Begriff „deutsches Wesen“ nun seltener, und nach MA kaum noch im veröffentlichten Werk, sondern meist in Notaten (vgl. z.B. NL 1885, 41[4], KSA 11.679; 41[14], KSA 11.689; NL 1885/86, 2[111], KSA 12.117; NL 1888, 14[52], KSA 13.243). Dabei ist er sich der Fragwürdigkeit des Begriffs vollkommen bewusst: Wer, wie er in der GT, das „„deutsche[ ] Wesen““ fixieren will, der beginnt unweigerlich zu „fabeln“, d.h. sich metaphysischen Dogmen hinzugeben (GT Versuch 6, KSA 1.20). Vgl. dazu Kunnas, Nietzsche und die Deutschen, S. 107: „Er [Nietzsche] glaubt nicht an einen absoluten Nationalcharakter oder an eine Volksseele im Sinne der Romantiker, aber er weiß, daß dieselbe Erziehung dieselben menschlichen Denkmodelle und dasselbe menschliche Verhalten bedingen. Nationale Literatur und nationale Philosophie haben eine relative Einheitlichkeit.“ Vgl. auch Nietzsches Bestimmung des Begriffs „Volk“ in JGB 268. Vgl. Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 147‒149, der ausführt, dass Nietzsche das Wort „Rasse“ überwiegend (und auch in Bezug auf die ‚deutsche Rasse‘) synonym mit „Volk“ oder mit „Stand“ verwendet: „längerer Aufenthalt in einer bestimmten ‚Umgebung‘ führt zur Herausbildung spezifischer sozialer und kultureller Einheiten: Völker, Stände“ (S. 147, vgl. auch
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Nietzsches Denken hatte sich von einem deutschen, in sich geschlossenen Kulturideal ab- und einer offenen, europäischen Kulturentwicklung zugewendet.173 Das war eine Befreiung seines Denkens im Ganzen.174 Die Auseinandersetzung mit Wagner, die immer auch eine Auseinandersetzung mit den Deutschen war, steht damit in bedeutsamer Verbindung zu seinem Neudenken des Denkens überhaupt: In der Konfrontation mit Wagners utopischem Deutschtum und mit dem Nationalismus, als dessen Vertreter er sich schließlich auch selbst hatte entlarven müssen, hatte Nietzsche die potentielle Gefährlichkeit des lebensverneinenden Seinsglaubens der europäischen Geistesgeschichte am eigenen Leib erfahren175 – des Glaubens an ewige Werte und absolute Grenzen des Denkens.176 S. 227 f. und 261 f. sowie über die Deutschen S. 93‒106, bes. S. 94 und 101 zur synonymischen Verwendung von ‚deutscher Rasse‘ und ‚deutschem Volk‘). Vgl. Meyer, Nietzsche und Europa, S. 16, der mit Blick auf MA II VM 323 von einem „dynamischen Kulturbegriff“ spricht. Vgl. Montinari, Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren, S. 299 f.: „Als Freigeist entschied sich Nietzsche für Historie und Wissenschaft gegen Metaphysik und Religion, für die skeptische Weisheit gegen die ‚Überzeugungen‘, gegen den Glauben überhaupt, für die kühle Vernunft gegen das unreine Denken der Dichter und Künstler wie Wagner“. Nietzsches Loslösung von Wagner war folglich, wie Montinari ganz richtig betont, „philosophische Tat“ (S. 293), d.h. ideelle Entfremdung – sie geht nicht in erster Linie auf konkret datierbare persönliche Streitigkeiten und Enttäuschungen zurück, wie auf Basis von Nietzsches eigener Angabe, Wagner habe ihn „tödtlich[ ]“ beleidigt (an Franz Overbeck, Nr. 384, 22. Februar 1883, KGB III 1.337), wiederholt behauptet worden ist (vgl. Eger, Nietzsches Bayreuther Passion, S. 188). In der Tat war Nietzsche zutiefst aufgebracht, als er nach Wagners Tod 1883 erfuhr, dass Wagner „Briefe darüber gewechselt hat (sogar mit meinen Ärzten) um seine Ü b e r z e u g u n g auszudrücken, meine veränderte Denkweise sei die Folge unnatürlicher Ausschweifungen, mit Hindeutungen auf Päderastie“ (an Heinrich Köselitz, 21. April 1883, Nr. 405, KGB III 1.365). Zu diesem Zeitpunkt lag aber Nietzsches Abwendung von Wagner schon Jahre zurück. Nietzsches Arzt Otto Eiser selbst behauptete zwar nach einem späteren Zeugnis Eugen Kreuzers, Nietzsche den diesbezüglichen Brief Wagners noch 1877 gezeigt zu haben, und fügte hinzu: „Seitdem war der Bruch besiegelt“ (Gilman (Hg.), Otto Eiser and Nietzsche’s Illness, S. 409). Die Zuverlässigkeit dieser Quelle hat jedoch Winteler, Nietzsches Bruch mit Wagner, mit überzeugenden Argumenten bezweifelt (vgl. auch die in Wintelers Beitrag diskutierte Forschungsliteratur zum Thema). Damit ist nicht gesagt, es habe keine persönlichen Spannungen zwischen Nietzsche und Wagner gegeben. Es gab sie durchaus, schon seit 1870/71 (vgl. dazu Landerer / Schuster, „Begehrlich schrie der Geyer in das Thal“; Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, S. 37‒66, sowie Prange, Was Nietzsche Ever a True Wagnerian?, bes. S. 66‒69), aber sie dürfen nicht überbewertet werden: Es bleibt „noch in Bayreuther Zeit“ eine „herzliche[ ] Beziehung“ (Landerer / Schuster, „Begehrlich schrie der Geyer in das Thal“, S. 255). Freilich lässt sich, wie schon Walter Kaufmann betont hat, „das Modell strenger Kausalität“ auf die Genese philosophischen Denkens nicht anwenden. Dennoch ist „[d]as Denken eines Philosophen […] zu einem Teil durch frühe Erfahrungen veranlasst“ (Kaufmann, Nietzsche, S. 23). Vgl. dazu Figl, Interpretation der Jugendschriften Nietzsches, S. 324: „Mit diesem Insistieren auf dem inhärenten biographischen Aspekt eines philosophischen Textes, insbesondere bei Nietzsche, ist in keiner Weise gemeint, daß die philosophische Dimension psychologisch relativiert würde; es ist auch nicht gemeint, daß die genetische Dimension über die Sachdimension den Vorrang erhalten würde. Es soll allerdings betont werden, daß die biographisch-psychologische Dimension einen partiellen Beitrag zum umfassenderen und klareren Verständnis eines Textes geben kann […].“
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Es ist ein noch immer verbreitetes Missverständnis, dass Nietzsches Denken darauf abziele, alle Grenzen, alle Beschränkungen, sie mögen Glaube, Metaphysik, Wahrheit, Moral oder anders heißen, zu beseitigen zugunsten einer absoluten Freiheit. Nicht Grenzen im Ganzen abzuschaffen war Nietzsches Anliegen, sondern auf die Gefahr ihrer Verabsolutierung hinzuweisen. „[J]edes Lebendige“ könne, hält er bereits in HL fest, „nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden“ (HL 1, KSA 1.251). Zu dieser Einsicht in die Notwendigkeit der Horizontbeschränkung hat er sich auch später immer bekannt, allerdings mit anderem Akzent: Zwar haben wir Grenzen – und daher auch Glaube, Wahrheit usf. – nötig und ist ein Leben ohne sie folglich unmöglich (vgl. dazu etwa MA I Vorrede 1, JGB 11, FW 377 u.ö.). Doch ebenso unmöglich ist ein Leben mit ewigen, immer gleichen Grenzen. Daher nennt Nietzsche das „P e r s p e k t i v i s c h e “ die „Grundbedingung alles Lebens“ (JGB Vorrede). „[G]erade die Ve r s c h i e d e n h e i t der Perspektiven“, die fortwährende Erweiterung, Beschränkung und abermalige Erweiterung des Horizonts sei nämlich „für die Erkenntniss nutzbar zu machen“, wenn man nur lernte, das „Für und Wider [d.h. die verschiedenen Perspektiven] i n d e r G e w a l t z u h a b e n und aus- und einzuhängen“ (GM III 12, KSA 5.364 f., vgl. auch MA I Vorrede 6). Grenzen ja – aber auf Zeit, lautet entsprechend das zentrale philosophische Anliegen Nietzsches. Zur zitierten Passage aus GM III 12 vgl. Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘, S. 186 f.
2 Die Deutschen als Krankheit Nietzsches Als Befreiung seines Denkens im Ganzen war Nietzsches Abwendung von einem deutschen Kulturideal zugleich die Genesung von einer Krankheit: Nietzsche hatte, notiert er sich rückblickend, seine „Proben gemacht“, als er sich „nicht durch die große politische Bewegung Deutschlands, noch durch die künstlerische Wagners, noch durch die philosophische Schopenhauers von meiner Hauptsache […] abspänstig machen“ ließ, „doch ward es mir schwer, und zeitweilig war ich krank daran.“ (NL 1884, 26[451], KSA 11.270) Nietzsche war krank an den Deutschen gewesen und hatte, indem er diese Krankheit überwand, zu einer neuen Gesundheit gefunden, einer, wie er es später nennen würde, „ g r o s s e [ n ] G e s u n d h e i t “ (FW 382).
2.1 Ein überwundenes Problem, eine überstandene Krankheit? 2.1.1 Europäische statt deutsche Frageperspektive „Jedem Fortschritt im Grossen“, schrieb er schon in MA I 224, „muss eine theilweise Schwächung vorhergehen […]; selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung […] ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite“. So hatte auch die „Melancholie und Deutschen-Verachtung“, die er, wie er später behauptet, in Klingenbrunn, wohin er nach den Erfahrungen der Bayreuther Festspiele geflohen war, „wie eine Krankheit“ mit sich herumtrug, ihr Gutes. Denn er schrieb dort „von Zeit zu Zeit, unter dem Gesammttitel „die Pflugschar“, einen Satz in mein Taschenbuch“ (EH MA 2). MA I, die Ende April 1878 erschienene „ g r o s s e [ ] L o s l ö s u n g “ (MA I Vorrede 3), die sich u.a. aus diesen Pflugschar-Aufzeichnungen entwickeln sollte, wird auf diese Weise als Ergebnis einer Therapie seiner Krankheit an den Deutschen interpretiert, die im Durchleben der Krankheit selbst bestand: Qua Leidensprozess erhält Nietzsche die Kraft zu gesunden, „ h a r t e [n] Psychologica“ (EH MA 2). Dazu steht nur scheinbar im Widerspruch, dass sich in Notizbuch M I 1, das die Pflugschar enthält,177 lediglich ein einziger direkter Bezug auf die Deutschen findet (NL 1876, 18[26], KSA 8.324). Tatsächlich könnte gerade dies ein Zeichen dafür sein, dass er zur Zeit der Ausarbeitung und Veröffentlichung von MA I das Problem der Deutschen insofern hinter sich glaubte, als er nun die Freiheit dazu fand, den Blick auf allgemeineuropäische Probleme richten zu können. Weitere quantitative Analysen legen dies zusätzlich nahe: Das Begriffsfeld „deutsch“/„Deutsche“/ „Deutschland“ kommt in den Notatgruppen 16‒26, die sich von 1876 bis zum Winter 1877/78 erstrecken (KSA 8.287‒486), insgesamt nur 28-mal vor, gegenüber 74mal in den Notatgruppen 1‒15 von Anfang 1875 bis Frühling 1876 (KSA 8.9‒286) Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.115.
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oder 369-mal in den in KSA 7 veröffentlichten Notaten von 1869 bis Ende 1874. In MA I (ohne die nachträgliche Vorrede von 1886 gerechnet) zählt man nur 18 Erwähnungen in 9 von 638 Aphorismen – verglichen mit der Verwendungsdichte in den vorangegangenen veröffentlichten Texten (30-mal in GT (ohne den Versuch einer Selbstkritik), 104-mal in DS, 41-mal in HL, 52-mal in SE, 32-mal in WB) auffallend wenig. Sein Umgang mit den Deutschen wurde in MA I in der Sache nicht unbedingt milder, wohl aber souveräner: Die Deutschen waren nicht mehr, wie zuvor, im Zentrum seiner Betrachtungen, wenn er auch die kulturellen und politischen Tendenzen in Deutschland weiterhin problematisierte. Nur in zwei Aphorismen von MA I bilden die Deutschen bzw. das Deutsche den Hauptgesichtspunkt: zum einen die deutsche Sprache und der Mangel an einem „mustergültigen, an öffentlicher Beredsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil“ (MA I 203),178 zum andern, unter impliziter Bezugnahme auf einen Ausspruch Paul de Lagardes,179 „die gebildeten Männer des gegenwärtigen Deutschland“ (MA I 408). In MA I 221, 237, 453 und 475 spielen die Deutschen jeweils eine bedeutsame Rolle, doch jedes Mal ist ihre Thematisierung eingebunden in eine dezidiert europäische Fragestellung. MA I 221 entfaltet in einem großen Bogen die komplexen (wechselseitigen) Beeinflussungsverhältnisse der französischen, deutschen und englischen Literatur unter Einbeziehung der antik-griechischen; in MA I 237 wird der verheerende Effekt der deutschen Reformation auf die Kultur der Renaissance in aller Schärfe angeprangert, sie selbst aber doch eingeordnet in die „ausserordentliche[ ] Constellation“ der damaligen europäischen Politik, ohne die Luther „verbrannt worden [wäre] wie Huss“; MA I 453 analysiert Bismarcks politische Ränke im Kontext europäischer Außen- und Großmachtpolitik; in MA I 475 geht es dann um den „ e u r o p ä i s c h e [ n ] M e n s c h e n u n d d i e Ve r n i c h t u n g d e r N a t i o n e n“ und mithin nationaler Perspektiven selbst, bei der „die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, D o l m e t s c h e r u n d Ve r m i t t l e r d e r Vö l k e r zu sein, mitzuhelfen vermögen“.180 MA I 35 nennt Deutschland nur als Beispiel für ein allgemeineres Phänomen („wenigstens in Deutschland, ja in Europa“), ebenso wie MA I 217 („So giebt es in Deutschland […]“). Ganz am Rande schließlich erwähnt MA I 36 neben „französische[n] Meister[n] der Seelenprüfung“ auch einen deutschen, den „Verfasser der „Psychologischen Beobachtungen“, lies: Paul Rée.181 Aus alldem spricht deutlich die stärker auf Europa im Ganzen gerichtete Frageperspektive von MA I. Nietzsche hatte sie sogar noch zusätzlich akzentuiert, indem Die deutsche Sprache besitzt im Kontext von Nietzsches Problem mit den Deutschen ohne Zweifel eine besondere Signifikanz, nicht umsonst ist sie uns in Nietzsches Erwägungen bereits mehrfach prominent begegnet (vgl. 1.2.2.3 und 1.3.2.2). Sie und sein eigenes Verhältnis zu ihr beschäftigen Nietzsche immer wieder. Vgl. dazu 5.2. Montinari, Kommentar, KSA 14.145. Dieser Gedanke von den Deutschen als Vermittlern, der hier erstmals im veröffentlichten Werk explizit auftaucht, nachdem er schon in MA I 237 implizit eine Rolle gespielt hatte, wird Nietzsche bis zuletzt umtreiben. Vgl. 3.3.5. Montinari, Kommentar, KSA 14.126.
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er vor der Veröffentlichung in mehreren Aphorismen Bezüge auf die Deutschen strich:182 MA I 224 lief in der Reinschrift auf einen Passus über die Deutschen zu, während in der endgültigen Fassung jede Bezugnahme auf sie unterbleibt.183 Auch MA I 226 widmet sich nicht den Deutschen, sondern einer Analyse des „gebundene[n] Geist[es]“, für den, so Nietzsche, der Christ und – hier vor allem bedeutsam – der Engländer herausragende Beispiele seien: „Der gebundene Geist […] ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern er fand […] das Engländerthum vor und nahm [es] an ohne Gründe“. In der Vorstufe las sich dies allerdings noch so: „Der gebundene Geist […] ist Deutscher, nicht weil er sich für Deutschland entschieden hat, sondern er fand […] das Deutschthum vor und nahm [es] an ohne Gründe.“184 Im finalen Text tauscht Nietzsche die Deutschen kurzerhand gegen die Engländer aus und kennzeichnet so das Problem des gebundenen Geistes, dem er sich in Form nationaler Einigelung in Deutschland so prominent ausgesetzt sah, als gesamteuropäisches.
2.1.2 Nietzsches Versuch einer Aufklärung der Deutschen Auch in VM und WS deutete alles darauf hin, dass Nietzsche über sein Problem mit den Deutschen hinaus war – nicht in dem Sinne, dass er seinen Frieden mit den bedenklichen geistigen und politischen Entwicklungen im Reich gemacht hätte, wohl aber in dem, dass er es als philosophisch überwunden betrachtete. Zwar findet der Begriff des Deutschen rein quantitativ wieder häufiger Verwendung (62-mal in 12 von 408 Aphorismen von VM und 74-mal in 25 von 350 Aphorismen von WS), dennoch wird man nicht gut davon sprechen können, dass das Deutsche selbst in den Werken von 1879 ein drängendes Thema war. Das verdeutlicht schon ein Blick in die dem Entstehungsprozess von VM und WS zuzuordnenden Notate von Frühling 1878 bis November 1879 (KSA 8.487‒621). Dort nutzt Nietzsche den Begriff nur 25-mal, deutlich seltener als in den veröffentlichten Texten – ein Anzeichen dafür, dass die Deutschen zu dieser Zeit für ihn nicht so sehr eine Fragestellung waren, die er noch zu lösen und mit der er folglich noch für sich, in seinen privaten Notizen, zu ringen hatte. Dem entspricht, dass, eine Tendenz von MA I fortsetzend, die Mehrzahl der Aphorismen von VM und WS, in denen das Deutsche prominent zum Thema gemacht wird, es gerade durch seine Thematisierung in den Hintergrund treten lassen: Sie schauen über das Deutsche hinaus, auf das, „wonach Deutsche streben sollen und was sie erreichen können“ (VM 298), nämlich eben sich im Sinne von VM 323 zu entdeutschen. Und das hieß nun auch: die Hierunter fällt auch der bereits genannte Aphorismus MA I 35. Er wird uns später (2.2.3.2) ausführlicher beschäftigen. Vgl. dazu Montinari, Kommentar, KSA 14.138 und 593. Der von Nietzsche schließlich nicht veröffentlichte Abschnitt findet sich als Notat 20[11] im NL 1876/77, KSA 8.364 f. Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.138.
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„schlechte“, weil nur „ i m p r o v i s i r t e “ „deutsche Prosa“ ablegen und „ g u t u n d i m m e r b e s s e r s c h r e i b e n lernen“ und damit „übersetzbar“, „über die Völker hinweg“ verstehbar werden (WS 87, 95); die Vorstellung verabschieden, es könne „ „ d e u t s c h e C l a s s i k e r “ “ geben, und stattdessen die Beschränktheit jeder als ‚national‘ gedachten Literatur anerkennen (WS 125); davon absehen, „nationale[r] […] Eitelkeit“ zu frönen, die sogar Modefragen nicht schonte und „Trachten“ imaginierte, die „den Deutschen als Deutschen bezeichn[en]“ (WS 215). Sogar da, wo das Deutsche als es selbst und nicht nur als Projektionsfläche eines Darüberhinaus in den Mittelpunkt rückt, tut es das eher in der Rückschau auf Nietzsches persönliche „ U m s c h w e i f e d e s I r r t h u m s “, ohne die er, darin Goethe gleich, nicht darüber hinaus gekommen wäre, „Deutscher von Beruf“ zu sein (VM 227).185 Dieser Blick zurück, auf ein abgeschlossenes Kapitel, das ihn, erneut mit Goethe, gelehrt hatte, dass „der Deutsche m e h r s e i n müsse, als ein Deutscher“ (VM 302), begegnet in verschiedenen Gestalten: In VM 324 stellte Nietzsche Betrachtungen über die Vielgestaltigkeit als „deutsch“ bezeichneter Volksgruppen an, in WS 216 über die französischen Ursprünge „„deutsche[r] Tugend““ (WS 216), die jede deutschtümelnde Begriffsdogmatik in Nichts auflösten. In VM 170 wagt Nietzsche einen Rückblick in Form einer fein empfundenen Selbstkarikierung: Mit kühler, sachlicher Analyse verfolgte er, der in der Vergangenheit selbst nicht ohne Häme gegen Kotzebue gewesen war,186 die Entstehung „jene[r] Verlogenheit und Unächtheit der deutschen Bildung“ nach, „welche sich Kotzebue’s schämte“. Von dieser „Verlogenheit“ losgekommen, sah er klar, was ihn eigentlich dorthin gebracht hatte: eine „im raschen Absinken begriffen[e] […] Reactions- und Restaurationsperiode“ mit einer „Lust an allem h e i m i s c h - n a t i o n a l e n We s e n u n d U r w e s e n“. Aus ihr speise auch „unsere neueste deutsche Musik“ – Wagners Musik – ihren vergeblichen „ a l l e r l e t z t e n Kriegs- und Reactionszug […] gegen den Geist der Aufklärung“. Gerade darin entpuppe sie sich aber als „rasch[ ] verderben[de]“ Frucht, deren Genuss seine Zeit bald gehabt haben würde (VM 171). Dieser selbst in der Tradition der Aufklärung stehende Fortschrittsoptimismus ist charakteristisch für Nietzsches Auseinandersetzung mit den Deutschen in dieser Zeit,187 und nirgendwo Zu Nietzsches eigenwilliger These aus VM 227, Goethe sei in seinem Leben zwei Irrtümern aufgesessen, als er aus sich in seiner ersten Lebenshälfte „einen b i l d e n d e n Künstler“ habe machen wollen und sich in der zweiten für „eine[n] der grössten w i s s e n s c h a f t l i c h e n Entdecker und Lichtbringer“ hielt, vgl. Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 25: „Das ist wenig einleuchtend und höchstens daher verständlich, dass auch der Nietzsche von Menschliches, Allzumenschliches mit seiner ersten Phase, die im Zeichen Richard Wagners stand, gebrochen hatte.“ Vgl. 1.2.2.3. Zum aufklärerischen Impetus von MA überhaupt vgl. Campioni, Art. Aufklärung, S. 201 f.: „N.s Aufklärung ist in dieser Phase einerseits gekennzeichnet durch eine enorme diagnostische Distanz und andererseits durch den Wunsch, mit Hilfe von Vernunft gegen die unkontrollierten, wilden Kräfte der Revolution anzugehen, die den Geist der Aufklärung und des Fortschritts töten.“ Vgl. dazu auch Ottmann, Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung, S. 10, der „seine[ ] ganze Philosophie der Jahre 1876 bis 1882“ „im Grunde“ gedeckt sieht mit „Nietzsches erste[m]
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leuchtet er, der Sache und dem Vokabular nach, heller auf als in VM 323. Es war Nietzsches Versuch, Wagners Frage, was deutsch sei, zunächst aus einem Reflexionsmangel, einem Zustand der Unaufgeklärtheit heraus zu begreifen, in dem noch nicht erwogen wurde, was doch zu erwägen war („Erwägt man zum Beispiel […], so wird man […]“), und sie sodann durch eine genau diese Erwägungen leistende „Gegenfrage“ zu „verbessern“.188
2.1.3 Die Deutschen und die Dialektik der Aufklärung Wenn Nietzsche zwei Jahre später in M 197 von einer regelrechten „ F e i n d s c h a f t d e r D e u t s c h e n g e g e n d i e A u f k l ä r u n g “ spricht, ist von einem ‚raschen Absinken‘ der deutschen „„grosse[n] Reaction““ gegen die Aufklärung nicht eigentlich mehr die Rede, vielmehr von ihrer dialektischen Integration in den Prozess der Aufklärung selbst. „Der ganze grosse Hang der Deutschen“, so Nietzsche, gieng gegen die Aufklärung […]: die Pietät gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietät gegen Alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal voll würden und keinen Raum mehr für zukünftige und neuernde Ziele hätten. Der Cultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus’ der Vernunft, und die deutschen Musiker, als die Künstler des Unsichtbaren, Schwärmerischen, Märchenhaften, Sehnsüchtigen, bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher, als alle Künstler des Wortes und der Gedanken.
All das war zunächst „ k e i n e g e r i n g e a l l g e m e i n e G e f a h r “ für die Aufklärung, wie Nietzsche bereits in M 190 mit dem Hinweis darauf angedeutet hatte, dass „jener matte Glanz“, der vom „silbern glitzernde[n] Idealismus“ „Schiller[s], Wilhelm von Humboldt[s], Schleiermacher[s], Hegel[s], Schelling[s]“ ausging, die „Ausländer“ eine Zeit lang „verführt“ habe. Nach M 197 entpuppten sich diese Entwicklungen indes im Endeffekt als der Aufklärung gerade förderlich. Das deutsche Denken des 19. Jahrhunderts habe, so Nietzsche, die Aufklärung in ihre Dialektik getrieben: Die „Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden“: „die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfindung für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntnis“, sie alle wurden von „hülfreiche[n] Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes“ zu „neue[n] und stärkere[n] Genien
Begriff von Aufklärung“, der „‚Freigeisterei‘“, in Abgrenzung zu seiner späteren Aufklärung der Aufklärung. Ottmanns Auffassung folgen Gerlach, Friedrich Nietzsche und die Aufklärung, und Martin, ‚Aufklärung und kein Ende‘, wobei Martin jedoch betont, die „rejection of defining principles of Enlightenment […], and his shrill, indistinct formulations of a ‚neue Aufklärung‘“ seit Mitte der 1880er „present significant obstacles to interpreting Nietzsche as an ‚Aufklärer‘ in any constructive sense“ (S. 97). Vgl. zu VM 323 1.3.2.5.
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e b e n j e n e r A u f k l ä r u n g , wider welche sie beschworen waren“, und sie wurden es nicht nur im von Nietzsche nun so geschätzten Frankreich, sondern auch und besonders in seinem eigenen Denken und Schreiben.189 Hatte Nietzsche damit einerseits anerkannt, deutschen Denktraditionen verpflichtet zu sein, stellte er sich andererseits zugleich wieder aus den Deutschen heraus. Denn es konnte für ihn kein Zweifel darüber bestehen, dass besagte neue Genien gerade dort, wo sie ihm zufolge vor ihrer Umkehrung in die Welt gesetzt worden waren, zu seiner Zeit keine Heimstatt fanden: Die politischen und kulturellen reaktionären Kräfte waren in Deutschland weiter tonangebend und würden es wohl auf absehbare Zeit bleiben. Von der Einsicht, dass die Deutschen, wenn nicht unbelehrbar, so doch sehr viel schwerer belehrbar sein würden, als er es noch in MA für möglich gehalten hatte, kündet seit M ein neuer, reservierter Ton in der Auseinandersetzung mit ihnen. Zwar setzt er seine aufklärerischen Appelle fort und treibt die Deutschen in M 167 an, von einem „Volke der u n b e d i n g t e n Gefühle“, das Schopenhauer, Wagner und Bismarck zugleich verehrte und ihre Unvereinbarkeit („Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagner’s, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarck’s, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei!“) dabei einfach zu „ v e r g e s s e n“ suchte, zu einem Volk „der R e d l i c h k e i t g e g e n s i c h s e l b e r “ zu werden. Er gibt jetzt aber zu verstehen, dass er um den schweren Stand solcher Aufrufe weiß. So empfiehlt er einen Spruch Lazare Carnots als „tief“ und „beherzigenswerth“ und beantwortet gleichzeitig die Frage, ob man „jetzt [in der Blütezeit des deutschen Nationalismus und seiner Stilisierung Frankreichs zum ‚Erbfeind‘] so von einem Franzosen zu Deutschen sprechen“ dürfe, mit „[v]ielleicht nicht“. Aber auch diese Widerständigkeit der Deutschen gegen den Versuch, sie aufzuklären, konnte Nietzsche in M 197 als unentbehrlich für die Fortführung der (unabschließbaren) Aufklärung verstehen. Denn die „Wellenspiele“ der Reaktion ermöglichten immer aufs Neue die „grosse Fluth“ der Aufklärung – ohne Wellen keine Flut: Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen — unbekümmert darum, dass es eine „grosse Revolution“ und wiederum eine „grosse Reaction“ gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch giebt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft grossen Fluth, in welcher wir treiben und treiben wollen! (M 197)190
Auf die Bedeutung des Entwicklungsgedankens für Nietzsches Neuorientierung der Philosophie wurde bereits eingegangen (1.3.2). Zum Entwicklungsgedanken als ‚deutschem‘ Gedanken vgl. 3.3.5.2, 3.3.5.3. Nietzsches ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ untersucht Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Dass die Wellen- und Flut-Metaphorik am Schluss des Aphorismus – die im Kontext von Nietzsches hochdifferenzierter Metaphorik des Wassers, Sees, Flusses, Stroms und Meeres zu sehen ist (vgl. dazu Stegmaier, Der See des Menschen, das Meer des Übermenschen und der Brunnen des Geistes) – eine Relativierung oder doch Perspektivierung der vorangehenden Worte „die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen“ bedeutet, sofern sie eben die Einsicht in die Lebensnotwendigkeit solcher immer wieder auftretender Gefahren andeutet, scheint Montinari, Aufklärung und Revolution, S. 57, zu übersehen, wenn er mit Blick auf M 197 versichert, die „Gefahr“ sei tatsächlich „vorbei“. Zur von Nietzsche in M 197 proklamierten ‚weiterzuführenden‘ Aufklärung vgl. auch
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Mit dieser historischen Analyse verlieh Nietzsche in M 197 auch Beobachtungen ein neues Gewicht, die sich bereits in WB mit der Bemerkung angedeutet hatten, die Deutschen seien „in der Bewegung der neueren Welt die aufhaltende, verzögernde, beruhigende Macht“ (WB 3, KSA 1.444). Dieser Gedanke beschäftigte ihn seit MA verstärkt. So beschrieb er die Deutschen dort bald als Verzögerer der Entwicklung der Dichtkunst (MA I 221),191 bald als „zurückgeblieben“ und in dieser „Zurückgebliebenheit“ zu „Dingen fähig“, „zu welchen andere Nationen alle Kraft verloren haben“ (VM 319),192 bald auch, wenn nicht sie im Ganzen, so doch Luther (den nicht nur er, sondern auch der deutsche Nationalismus für den ‚deutschesten‘ Deutschen hielt193) als Verzögerer des „völlige[n] Erwachen[s] und Herrschen[s] der Wissenschaften“ (MA I 237). Luther sei auch derjenige gewesen, der „das Friedenswerk“ verhinderte, das Nietzsche „in den Tagen jener Disputation von Regensburg“194 für in greifbare Nähe gerückt hielt. Eben damit habe er aber freilich auch geholfen, „ K r a f t q u e l l e n“ zu erschließen, „so mächtig, dass ohne sie alle Mühlen der modernen Welt nicht mit gleicher Stärke getrieben würden“ (VM 226). In M 197 überführte er diese Interpretationsansätze nun in ein ausgereiftes geschichtsphilosophisches Deutungsmodell, demzufolge die Deutschen den historischen Ent-
Vivarelli, Nietzsche als Verkünder einer neuen Aufklärung. Meyer, Die drei Verwandlungen der Aufklärung, beobachtet im Lauf von MA, M und FW eine Verschiebung in Nietzsches Begriff der Aufklärung, freilich ohne die bedeutsame Verknüpfung der Themenbereiche des Deutschen und der Aufklärung sowohl in MA als auch in M zu beachten. Mit Blick auf die Deutschen heißt es lediglich vage: „In den späteren Büchern von Morgenröte will Nietzsche die Deutschen zu befehlen lehren.“ (S. 243) Zum Aphorismus M 207, auf den sich Meyer, ohne dies eigens zu sagen, hier wohl bezieht, vgl. 3.2. „Lessing machte die französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den Naturalismus — das heisst in die Anfänge der Kunst zurück. […] Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf einmal die grossen Talente […]; sie machten später nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von Rousseau’schem Naturzustand der Kunst und experimentirten.“ Goethe und Schiller, so Nietzsche weiter in MA I 221, suchten diesem Naturalismus zu widerstehen, sie wirkten aus einem „hohen Geist“, wie er es im NL 1876, 17[4], KSA 8.297, nennt. In diesem Notat deutet Nietzsche nicht nur eine Kluft zwischen Goethe und Schiller auf der einen, den übrigen Deutschen auf der anderen Seite an, sondern auch die entwicklungsgeschichtliche Dialektik, die in M 197 zum bestimmenden Motiv wird: Obwohl – oder weil – nach der „Reformation“ der „hohe[ ] Geist“ eingebüßt wurde, schufen Goethe und Schiller aus einem ebensolchen heraus, den nun wiederum ihre Zeitgenossen konterkarierten. Vgl. zum verzögernden Einfluss Deutschlands auf Frankreich auch NL 1880, 3[31], KSA 9.55. Vgl. die Vorstufe im NL 1876/77, 21[14], KSA 8.369. Vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 181‒196. Zu Nietzsches Lutherinterpretation s. 3.3.5. Das Religionsgespräch auf dem Reichstag zu Regensburg (5. April bis 29. Juli 1541) setzte die wenige Monate zuvor vertagten Verhandlungen von Worms fort. Luther selbst nahm nicht daran teil (und konnte das auch gar nicht, da er sich nach wie vor im Bann befand), wurde aber über den Verlauf in Kenntnis gesetzt und stand der protestantischen Seite mit Rat bei. Vgl. dazu Brecht, Martin Luther, Bd. 3, S. 222‒228, und Müller, Art. Religionsgespräche I, Sp. 329.
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wicklungsprozess verzögern und ihn zugleich durch die Verzögerung lebendig halten. Nicht nur in Bezug auf die Aufklärung, sondern auch auf die europäische Geschichte überhaupt begegnet dieses Modell in den Schriften und Notizen der folgenden Jahre immer wieder. In seinem Rahmen wird Nietzsche die Deutschen schließlich sogar gleichsam zum retardierenden Moment der Welt-, wenigstens der europäischen Geschichte erklären.195 Seine Bedeutung liegt dabei nicht so sehr in seiner historischen Belastbarkeit oder auch nur Plausibilität – gegen beides mag man Einwände erheben –, sondern darin, dass es, wie nachfolgend gezeigt werden soll, Nietzsches eigenen Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen entsprach: Wie die Deutschen laut M 197 die Aufklärung verzögerten, brachten sie auch Nietzsches biographischem und philosophischem Werdegang manchen Rückschlag bei, der sich im Nachhinein als hilfreich für ihn erwies. Dass in Nietzsches Bestimmung des Deutschen seit M das Motiv des Verzögerers wesentlich wird, ist so nicht der Versuch Nietzsches, eine neue Geschichtsmetaphysik zu etablieren, der durch die von ihm vorgenommene Verzeitlichung des Denkens ohnehin von vornherein der Boden entzogen gewesen wäre. Vielmehr ist es ein Zeichen für die Aktualisierung von Nietzsches Problem mit den Deutschen.196 Er betrachtete es nicht länger als philosophisch zu Ende gedacht und insofern gelöst, sondern glaubte nun, es als wesentlich verwoben mit jenen geistigen Prozessen verstehen zu müssen, ohne die auch er selbst und seine Philosophie in ihrer Bedingtheit nicht zu begreifen waren.
2.2 Nietzsches Problem mit den Deutschen als Entstehungsbedingung seiner Philosophie 2.2.1 Allergische Reaktionen auf das (meteorologische und geistige) deutsche Klima Während der Arbeit an VM und WS Ende der 1870er Jahre, mit ihrem im Ganzen durchaus erwartungsvollen Blick auf die zukünftige Entwicklung der Deutschen, schien auch sein Gesundheitszustand ein in geographischer Hinsicht verbessertes, d.h. weniger distanziertes Verhältnis zu ihnen und ihren Klimaten in Aussicht zu stellen. Nachdem Nietzsche 1877 erklärt hatte, er lebe „viel lieber unter Deutschschweizern […] als unter Deutschen“ (an Malwida von Meysenbug, 13. Mai 1877,
Vgl. 3.3.5. Ein weiteres Zeichen für diese Aktualisierung ist, dass in der Zeit der Entstehung der M in seinen privaten Notizen die Beschäftigung mit dem Problem des Deutschen wieder zunimmt (98 Verwendungen von „deutsch“ und Derivaten im Nachlass von Anfang 1880 bis Frühjahr 1881, KSA 9.9‒439).
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Nr. 615, KGB II 5.237) und er sich in Rosenlauibad „vor den Deutschen“ (d.h. den deutschen Kurgästen) „abschliessen“ wollte (an Elisabeth Nietzsche, 29. Juni 1877, KGB II 5.249), deutet sich in einem Brief an Elisabeth vom 7. Juni 1879 eine Verschiebung an: „Der Engadin ist mir durch den Überfluß von Deutschen und Baslern fast unbetretbar, das sehe ich jetzt ein (auch s e h r theuer)“ (Nr. 853, KGB II 5.416). Die Bedenken gegen das Engadin sind hierbei offenbar weniger durch die Deutschen (oder die Basler) motiviert, vielmehr durch ein Zusammenspiel dieses Faktors mit einer generellen Überfüllung und Überteuerung. Tatsächlich schätzt Nietzsche bereits im Juli 1879 seine Widerstandskräfte sogar zuversichtlich genug ein, um einen längeren Verbleib unter Deutschen, und gar im deutschen Winter, auszutesten: „Im Grunde meine ich, ich sei hier [in St. Moritz] f ü r einen Norddeutschen Winter sehr gut vorbereitet. (Berlin? und eine Vorlesung hören?)“ (an Elisabeth Nietzsche, 24. Juli 1879, Nr. 868, KGB II 5.429). Den Winter 1879/80 verbrachte er schließlich nicht in Berlin, sondern in Naumburg197 – und zog Ende Januar 1880 gegenüber Overbeck ein ernüchtertes Fazit über den Aufenthalt in Deutschland: „Es gieng schlecht, ich konnte nicht diese Paar Zeilen schreiben, konnte auch nicht abreisen. […] Oh dieser Winter!“ (Nr. 4, KGB III 1.6 f.) Es sollte der letzte sein, den Nietzsche bis zu seinem geistigen Zusammenbruch im Januar 1889 in Deutschland verbrachte.198 Am 12. August 1880 verlautbart er aus Marienbad an Mutter und Schwester, „Mitte Oktober“ ziehe es ihn wieder „südwärts“, mit der bezeichnenden Begründung: „es hilft nichts – bis jetzt vertrage ich Deutschland noch nicht“ (Nr. 47, KGB III 1.34). Nietzsches Reaktion auf das meteorologische Klima in Deutschland stimmt hierbei mit der auf das geistige vollends überein. Der Brief an Ida Overbeck vom 24. Mai 1880, Nr. 28, KGB III 1.20, spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache: „Ich gestehe, a l l e Nachrichten aus Deutschland werden mir lästig und fremd, und meine Gesundheit zwingt mich fast der C o n s e r v i r u n g halber mich zu verlöthen, wie eine Büchse.“ Und in einem Notat des ausklingenden Jahres 1880 heißt es: Ich halte es nicht in Deutschland aus, der Geist der Kleinheit und der Knechtschaft durchdringt alles, bis in die kleinsten Stadt- und Dorfblätter herab und ebenso hinauf bis zum achtenswerthesten Künstler und Gelehrten – nebst einer gedankenarmen Unverschämtheit gegen alle selbständigen Menschen und Völker. (NL 1880, 7[279], KSA 9.375)
Gleich darauf, im Notat 7[280], KSA 9.375, führt Nietzsche in energischem Ton für die angesprochene „gedankenarme[ ] Unverschämtheit“ ein Beispiel an: „Es giebt wirklich Menschen welche eine Sache damit geehrt zu haben glauben, daß sie
Vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 26‒31 und 37 f. Vgl. Benders / Oettermann (Hg.), Friedrich Nietzsche. Chronik, S. 829 f.
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dieselbe d e u t s c h nennen. Es ist der Gipfel der nationalen Verdummung und Frechheit.“199
2.2.2 Distanz zu Deutschland und den Deutschen als Gesundheitsmaßregel? Angesichts der bedenklichen Effekte „deutsche[n] „Clima[s]“ in jedem Sinne, leiblich und seelisch“, auf seine Gesundheit, musste sich Nietzsche die Frage, „ob ich Deutschland […] mir zumuthen d a r f “ (an Heinrich von Stein, 30. August 1885, Nr. 626, KGB III 3.89), in den 1880er Jahren wiederholt stellen. Seine Antwort fällt stets abschlägig aus. Selbst in einem Dank „für den Brief mit Thüringer Luft und anderem Guten“ lässt Nietzsche seine Skepsis gegenüber dem Leben in besagter Thüringer (und allgemein deutscher) Luft durchscheinen, indem er den ominösen Nachsatz „Dies Jahr komme ich nicht nach Deutschland, aus Sparsamkeit usw.“ anfügt und so das zuvor Gesagte ins Ironische dreht (an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 28. April 1881, Nr. 107, KGB III 1.87, Kursivierung A.R.). Andernorts kommt das unverhohlener zum Ausdruck: Einstweilen glaube ich nicht um Nizza herumzukommen, es ist der einzige Ort, der mir den Stoffwechsel s o a n r e g t , daß ich mich im Kopfe f r e i fühle; das Umgekehrte geschieht an Orten mit Luft-Feuchtigkeit und viel Gewölk. Deshalb ist Deutschland im Ganzen, und unser Naumburg im Besonderen, mir unzuträglich. (an Franziska Nietzsche, 26. Juni 1885, Nr. 606, KGB III 3.57)200
Nietzsche bezieht sich hier vermutlich auf eine Passage aus Wielands Aufsatz Über deutschen Patriotismus (1793), die er zwei Jahre zuvor aus Roscher, Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, S. 822, exzerpiert hatte: „Wieland „daß ich mich 〈nicht〉 entsinnen kann, das Wort deutsch jemals ehrenhalber nennen gehört zu haben“. Werke Ausgabe von 1840 XXXI, 247.“ (NL 1878, 36[4], KSA 8.572 f.) Während Nietzsche in seinem Notat von 1880 Wielands Aussage positiv aufnimmt und sie zur Grundlage einer kritischen Wendung macht, wird sie von Roscher, dem Vater eines Bonner und Leipziger Studienkollegen (vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 184 und 206), bei dem Nietzsche in Leipzig auch selbst Vorlesungen gehört hatte (vgl. den Brief an Hermann Mushacke vom 27. April 1866, Nr. 504, KGB I 2.129), als Zeichen eines „gänzlichen M a n g e l s a n N a t i o n a l g e f ü h l “ kritisiert (Geschichte der National-Oekonomik, S. 821). Vgl. auch Rupschus, Nachweis aus Wilhelm Roscher, Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. – Bereits Wagner hatte vor der übermäßigen Verwendung des Attributs „deutsch“ gewarnt (vgl. DKDP, S. 46, und WID, S. 50). Dabei ging es ihm aber darum, das Wort nicht zu entwerten, es sollte, wenn benutzt, ein Ehrenzeichen sein – und eben dies hielt Nietzsche für absurd. Vgl. auch den Brief an Köselitz vom 22. September 1885, Nr. 630, KGB III 3.93. Seine spätere Darstellung in EH klug 2 stimmt damit überein: „Jetzt, wo ich die Wirkungen klimatischen und meteorologischen Ursprungs aus langer Übung an mir als an einem sehr feinen und zuverlässigen Instrumente ablese und bei einer kurzen Reise schon, etwa von Turin nach Mailand, den Wechsel in den Graden der Luftfeuchtigkeit physiologisch bei mir nachrechne, denke ich mit Schrecken an die u n h e i m l i c h e Thatsache, dass mein Leben bis auf die letzten 10 Jahre […] immer sich nur in falschen und mir geradezu v e r b o t e n e n Orten abgespielt hat. Naumburg, Schulpforta, Thüringen überhaupt, Leipzig, Basel – ebenso viele Unglücksorte für meine Physiologie.“
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Immer wieder fordert dieser „Wolken-Himmel Deutschlands“ (an Overbeck, 9. September 1882, Nr. 301, KGB III 1.255) seinen gesundheitlichen Tribut: „Es ist kein Zweifel“, versichert Nietzsche am 10. November 1882 aus Leipzig an Overbeck, „daß mein Befinden unter dem Eindrucke dieses nordischen Himmels sich verschlechtert hat“ (Nr. 327, KGB III 1.275).201 Und im Jahr darauf heißt es an Malwida von Meysenbug: „es ist mir inzwischen schlecht, recht schlecht gegangen, und meine Reise nach Deutschland war schuld daran. Ich vertrage es nur noch, am Meere zu leben“ (Anfang November 1883, Nr. 472, KGB III 1.453). Sofern irgend möglich, folgte er der Maxime, „ n i c h t in Deutschland [zu] leben“ (an Overbeck, 27. Oktober 1883, Nr. 470, KGB III 1.450), d.h. möglichst auch nicht dorthin zu reisen. Das, notiert sich Nietzsche Mitte der 1880er, verlange nicht nur seine körperliche Gesundheit,202 sondern (sofern das überhaupt noch zu trennen war) ebenso seine „Europäische Mission“: „Grundsätzlich – n i c h t in Deutschland leben, weil Europäische Mission.“ (NL 1884/85, 29[4], KSA 11.337) Doch selbst wenn er nicht nach Deutschland reiste, reiste Deutschland zuweilen zu ihm. Das, „was ich „bedecktes Wetter“ „deutsches Wetter“ und dergleichen nenne“ (an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 14. März 1885, Nr. 581, KGB III 3.22), suchte ihn bald in der Gestalt Paul Lanzkys leibhaftig in Nizza heim – Sodann […] gab es für mich bis vor wenig Tagen einen Deutschen im Hause hier, der m i r sehr zugethan ist, – aber i c h mag die Deutschen wenig, es ist eine andere Art von „ziehendem Gewölk“, und mir gar nicht zuträglich. (an Resa von Schirnhofer, 11. März 1885, Nr. 578, KGB III 3.17)
–,203 bald legte es ihm in Ruta sogar in der Gestalt gleich „zwei[er] mißglückte[r] Deutsche[r]“204 eine „beständige Fußfessel“ an und „vergällt[e] und verekelt[e]“ ihm so „auch diese[n] Ort im Gedächtniß etwas“ (an Meta von Salis, 1. Januar 1887, Nr. 796, KGB III 5.5 f.). Außerdem ließen sich Besuche Nietzsches in deutschen Landen manchmal schlechterdings nicht umgehen. So spricht er Mitte Februar 1885 davon, dass er „später“ im Jahr „nach Deutschland, unter die lieben Deutschen“ „ m u ß “ (an Vgl. ferner die Briefe an Rohde von Anfang Dezember 1882, Nr. 345, KGB III 1.291, und an Overbeck vom 20. Januar 1882, Nr. 369, KGB III 1.318 f. Nicht zuletzt, so Nietzsche später aus Nizza an Overbeck, leisteten seine Augen in Deutschland weniger als im „belebenden und erheiternden Klima“ des Südens (12. November 1887, Nr. 951, KGB III 5.197). Vgl. auch den Entwurf an Lanzky, Mitte März 1885, Nr. 582, KGB III 3.24, und den Brief an Malwida von Meysenbug, 26. März 1885, Nr. 587, KGB III 3.30. Mittmann, Friedrich Nietzsche, S. 61‒ 63, vermutet, Nietzsches allmähliche „Zweifel an Lanzky“ (S. 62), den er zunächst als Verehrer durchaus begrüßte, seien dadurch begründet, dass Köselitz ihm gegenüber im März 1884 andeutete, Lanzky sei ein polnischer Jude (vgl. Köselitz an Nietzsche, 14. März 1884, Nr. 225, KGB III 2.425). Dagegen spricht recht deutlich, dass Nietzsche auch nach dieser Botschaft nicht etwa Lanzkys Judentum ablehnend thematisierte, sondern das ‚typisch‘ Deutsche an ihm betonte. Laut Nachbericht erneut Lanzky und daneben „vermutlich der Lehrer W. E. Altsmann, der im selben Hotel wohnte“ (KGB III 7/3,1.55).
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Marie Köckert (Entwurf), Nr. 574, KGB III 3.12), und sendet von dort dann an Overbeck einen Gruß aus Leipzig! Das wird Dir unvermuthet kommen. Aber es zog mich diesen Herbst unwiderstehlich noch einmal nach Deutschland (wo ich weder für Leib noch für die liebe „Seele“ fürderhin etwas zu suchen habe) um meine Mutter und Schwester noch einmal beisammen zu finden […]. (6. Oktober 1885, Nr. 632, KGB III 3.96, vgl. auch den dazugehörigen Briefentwurf, KGW IX 2, N VII 2.176)205
Am 14. Juli 1886, nachdem er sich, entgegen anders lautender Ankündigungen, im Bemühen um einen neuen Verleger und um Köselitzens musikalische Karriere206 abermals mit einem „deutschen Aufenthalt heruntergebracht“ hatte, „statt mich zu erholen, wie ich’s nöthig hätte“ (an Overbeck (Entwurf), 14. Juli 1886, Nr. 720, KGB III 3.203), blickte er auf die Odyssee der letzten Jahre mit dem Fazit zurück: „jeder Fortschritt auf m e i n e m Wege hat mich bisher auch der Gesundheit im leiblichsten Sinne näher gebracht. Jede Reise nach Deutschland war deshalb bisher immer ein Rückfall, eine Schwächung meiner Kräfte“ (an Overbeck, 14. Juli 1886, Nr. 721, KGB III 3.207).207
2.2.3 Nietzsches Leiden am Deutschen und die ‚große Gesundheit‘ 2.2.3.1 Die Deutschen als Test für Nietzsches Gesundheit und Philosophie Nun entsprach es aber gerade Nietzsches Begriff der großen Gesundheit, dass man sie „nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss!“ Nur wenn man „immer wieder
Elisabeth und ihr Mann Bernhard Förster reisten „Anfang Februar […] endgültig nach Paraguay“ ab (Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 436). Ein weiterer Grund für diese Deutschlandreise Nietzsches war die Klärung der Probleme mit seinem Verleger Schmeitzner: „Schmeitzner’s Sache steht im Vordergrund: er hat in 2 Jahren 4 Mal sein Wort nicht gehalten – richtiger, ich Narr habe vier Mal ihm v o l l e s Ve r t r a u e n geschenkt, und dies nach so vielen schlechten Erfahrungen!!“ (Nr. 632, KGB III 3.98) S. dazu auch Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 403‒405. Vgl. Nietzsche an Overbeck, 20. Juni 1886, Nr. 711, KGB III 3.196, Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 446‒451, sowie Chronik, KSA 15.158 f. Später würde Nietzsche diese Erfahrungen in einer Vorstufe zu EH WA 4 folgendermaßen in Worte fassen: „Von jeder Reise nach D〈eutschland〉 brachte ich einen tiefen Ekel mit zurück, immer irgend wie in meiner Ehre in Stich gelassen. Fast alle meine Winter in Nizza sind mir verloren gegangen, nicht durch die Nähe von Montecarlo, sondern immer bloß durch die obstruktive Nähe Nähe von deutschem Hornvieh und anderen Antisemiten: das verzögert meinen Darm, – jetzt weiß ich, daß man Deutsche mit Rhabarber widerlegt. Jetzt weiß ich, womit man Deutsche widerlegt – mit Rhabarber n i c h t mit Gründen, mit Rhabarber…“ (KSA 14.504) Die ohnehin teilweise wieder durchgestrichene Notiz strich Nietzsche letztlich im Ganzen nochmals durch. Zur Assoziierung der Deutschen mit seinen Verdauungsproblemen, die er seit 1887 mit Rhabarber zu kurieren suchte (vgl. Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, S. 135 f.), vgl. 3.2.3.1.
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gesund“ – und das bedeutet zugleich: immer wieder krank – wird, kann man auch gesund ‚bleiben‘. Gesund ‚bleiben‘ und gesünder werden bedingen sich gegenseitig. Das ist es, was Nietzsche meint, wenn er sich als „gefährlich-gesund“ beschreibt: Entweder man wird gesünder – oder man geht zugrunde (FW 382).208 Nietzsches Immer-wieder-krank- und Immer-wieder-gesund-Werden an den Deutschen wird so zum Test für die Grenzen seiner Gesundheit und seiner Philosophie, an die sie ihn in der Tat mehrmals führen: „Seit 10 Jahren wirkt jede Berührung mit dem deutschen Norden auf mich wie eine Niederlage“, heißt es bedrückt und düster in einem Briefentwurf an seine Mutter vom 29. Januar 1888 (Nr. 979, KGB III 5.236). Nietzsche scheute den Besuch in Deutschland in den 1880er Jahren dementsprechend und verwarf so etwa eine ausgedehnte Recherche in Leipzig mit dem Grund, diese würde das „gefährliche[ ] Experiment[ ]“ „ein[es] g a n z e [ n ] W i n t e r [ s ] in Deutschland“ bedeuten, wovon „mir meine Gesundheit für dies Jahr dringend noch […] ab[rät]“ (an Köselitz, 15. September 1887, Nr. 911, KGB III 5.155). Gleichwohl lässt er keinen Zweifel daran, dass er vorhabe, einst stark genug für dieses „deutsche „Clima“ in jedem Sinne“ (an von Stein, 30. August 1885, Nr. 626, KGB III 3.89) zu sein. Eine solche Aussicht steckt bereits im „noch“ des zitierten Briefes an Köselitz und findet sich in seiner Korrespondenz wiederholt, so im Brief an Mutter und Schwester vom 12. August 1880 („bis jetzt vertrage ich Deutschland noch nicht“, Nr. 47, KGB III 1.34, Kursivierung A.R.) und in dem an Rohde von Anfang Dezember 1882 („ich kann immer noch nicht nordischen Himmel, Deutschland und „die Menschen“ vertragen“, Nr. 345, KGB III 1.291, Kursivierung A.R.). Hinter all den „Niederlage[n]“, die die Deutschen ihm zufügten, gab es doch auch so etwas wie geheime Siege Nietzsches. Sie machen eine angesichts seiner Deutschland-Phobie scheinbar widersinnige Aussage wie die, der „Umgang mit ihnen wäre wohl anzurathen“, weil „fast jeder Deutsche Etwas zu g e b e n“ habe (M 207), erst verständlich. Von einer solchen Erfahrung, die Krankheit in Gesundheit
Zwischen Krankheit und Gesundheit gibt es demnach „nur Gradunterschiede“, hält Nietzsche mit Claude Bernard fest (NL 1888, 14[65], KSA 12.250). Die ‚große Gesundheit‘ ist so, wie Werner Stegmaier betont, „das plausibelste Beispiel für den dialektischen Sinn des Großen: indem man sich gefährlichen ,Krankheiten‘ aussetzt, steigert man seine Abwehrkräfte und kann sich dann noch gefährlicheren Krankheiten aussetzen, immer ohne Gewähr, dass man an ihnen nicht zugrunde gehen wird.“ (Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 606) Zum dialektischen (gegenüber dem qualitativen und quantitativen) Sinn des Großen bei Nietzsche vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 168‒171, hier S. 170: „Danach ist groß das, was nicht nur die bisherigen Maßstäbe überschreitet, sondern sich dadurch steigert, dass es das, was ihm entgegensteht, einbeziehen und für sich fruchtbar machen kann.“ Zum Konzept der großen Gesundheit vgl. ferner bereits Jaspers, Nietzsche, S. 110‒117, der freilich das der großen Gesundheit wesentliche Moment des Sich-aufs-Spiel-Setzens unterbewertet, wenn er sie ohne Vorbehalt als „alles überwindend[ ]“ beschreibt (S. 117); Decher, Vom Sinn der Krankheit, bes. S. 283 f.; van Tongeren, Vom „Arzt der Cultur“ zum „Arzt und Kranken in einer Person“, S. 26 f.; Faustino, Auf der Suche nach der „grossen Gesundheit“; Faustino, Philosophy as a ‚Misunderstanding of the Body‘, bes. S. 212‒218.
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umschlagen ließ, berichtet Nietzsche Köselitz in seinem Brief vom 6. Dezember 1885: Ich habe es, mit meinen zwei Monaten in Deutschland, gerade so weit gebracht als ich es Ihnen hiermit wünschen möchte: es kam mir zur vollen Klarheit, daß ich dort gegenwärtig noch nichts zu suchen habe, und daß andre Aufgaben und „Aufgeber“ dort am Platze sind. Diese Klarheit hat mich nicht g e t r ü b t – Sie dürfen mir’s glauben –, umgekehrt, noch niemals bin ich in einer solchen halkyonischen Meeresstille und Unbekümmertheit in meinem Süden angelangt, so daß selbst die Leibes-Gesundheit sich verbessert zu haben scheint, trotz der gräulichen Strapatzen, welche ich mir seit Sils-Maria [d.h. während seines Aufenthalts in Naumburg und Leipzig von Mitte September bis Ende Oktober] zugemuthet habe. (Nr. 650, KGB III 3.119)
Diese fast von einer Aura der Erleuchtung umwehte „halkyonische Meeresstille und Unbekümmertheit“ hat einen Vorläufer in M 114. Dort spricht Nietzsche von „der furchtbaren nüchternen Helle […], in welcher wir als Leidende die Dinge und durch die Dinge hindurch“ sehen. Im Licht dieser Helle wird man „frei für neue Sichtweisen, für neue Deutungen, für neue Lebensentwürfe“, wie Decher treffend konstatiert.209 Dennoch „ e r q u i c k t “ es, aus ihr wieder „herauszutreten“ (M 114). Die damit angedeutete Abgründlichkeit war auch der ‚halkyonischen Meeresstille‘ eigen.210
2.2.3.2 Die Deutschen als Nietzsches Schlüssel für seine philosophischen Problemstellungen Die briefliche Äußerung vom 6. Dezember 1885 wird umso bedeutsamer, bedenkt man, dass sie gleichsam den Schlusspunkt von Nietzsches bis dahin intensivster Phase philosophischer Auseinandersetzung mit den Deutschen markiert. In den Monaten vor und noch während seines Deutschlandbesuchs 1885 arbeitete Nietzsche sich philosophisch geradezu an den Deutschen ab. Das geht schon allein aus der enormen Verwendungsdichte des Begriffs „deutsch“ und seiner Derivate hervor, die sogar jene der Blütezeit seines deutschen Kulturideals deutlich übersteigt: 369 Verwendungen in den in KSA 7 veröffentlichten Notaten von 1869 bis Ende 1874 stehen 259 Verwendungen im Nachlass von April bis Herbst 1885, KSA 11.423‒ 710, gegenüber. Es lässt sich aber auch für die konkrete inhaltliche Arbeit zeigen, z.B. an den von Nietzsche in dieser Zeit in einem Handexemplar von MA I vorgenommenen handschriftlichen Umarbeitungen von MA I 35.211 Im Ausgangstext ging Decher, Vom Sinn der Krankheit, S. 282. Vgl. dazu 2.2.3.4. – Zu Nietzsches Verwendung des Begriffs „halkyonisch“ für Momente der Vollkommenheit vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 50. Im Rahmen seines bald aufgegebenen Planes, MA vollständig umzuarbeiten (vgl. dazu den Brief an seine Schwester vom 15. August 1885, Nr. 621, KGB III 3.81), hatte Nietzsche damit begonnen, die Aphorismen von MA I einer Revision zu unterziehen. Vor allem in den ersten beiden Hauptstücken von MA I nahm er teils umfangreiche handschriftliche Veränderungen vor. Vgl. dazu Montinari, Kommentar, KSA 14.116.
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es Nietzsche um das Lesen bzw. Nicht-Lesen von Sentenzen: Die „jetzigen Leser von Sentenzen“ hätten „ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen“, da sie „die Kunst der Sentenzen-Schleiferei“ und ihre Fähigkeit, „die Last des Lebens [zu] erleichtern“, nicht mehr „gebührend zu würdigen“ verstünden. Daran zeige sich, „wenigstens in Deutschland, ja in Europa“, eine Tendenz zur „Armuth an psychologischer Beobachtung“. Im Folgenden fällt das Wort „deutsch“ nicht mehr. In für ihn zu dieser Zeit charakteristischer Weise212 hatte Nietzsche zudem im veröffentlichten Text die „Gebildete[n] in Deutschland“ (KSA 14.126), von denen im Druckmanuskript noch die Rede war, durch „Gebildete in Europa“ ersetzt.213 Die handschriftlichen Umarbeitungen von 1885 verhalten sich dazu diametral. Nietzsche steigert dort zum einen das Problem der „Armuth an psychologischer Beobachtung“ zum Problem der Moral selbst, dem philosophischen Problem Nietzsches schlechthin, indem er unter Verschärfung des Tonfalls nun von „moralistische[r] Armseligkeit“ spricht. Zum anderen und darüber hinaus macht er es aber auch radikal zu einem deutschen Problem. Das drückt sich schon im Titel aus, der nicht mehr „ Vo r t h e i l e d e r p s y c h o l o g i s c h e n B e o b a c h t u n g “, sondern „ Vo n d e r m o r a l i s t i s c h e n O b e r f l ä c h l i c h k e i t D e u t s c h l a n d s “ lauten soll. Statt „wenigstens in Deutschland, ja in Europa“ steht nun nur noch „wenigstens in Deutschland“; aus der „Gesellschaft aller Stände“ wird im Handexemplar die „Gesellschaft a l l e r deutschen Stände“; aus dem „Gebildete[n] in Europa“ ist wieder, wie im ursprünglichen Druckmanuskript, der „Gebildete in Deutschland“ geworden, und die „jetzigen Leser“ werden zu „deutschen Leser[n]“ (KSA 14.125 f.).214 Daran zeigt sich: Spätestens Mitte der 1880er Jahre hatte Nietzsches Problem mit den Deutschen eine ganz neue Relevanz gewonnen. Er hatte es zu einem Schlüssel des Verständnisses seiner philosophischen Problemstellungen im Ganzen gemacht. Dass seine Schriften „ w i d e r den deutschen Geschmack“ waren, wie er bereits über die FW schreibt (an Overbeck, 22. August 1882, Nr. 285, KGB III 1.241), hieß so nicht mehr einfach, dass sie den Deutschen missfallen mussten, sondern dass sie aus dieser Geschmacks-Opposition erst erwuchsen.215 Nicht umsonst kündigt Nietzsche am 25. Januar 1884, zur Zeit der Vollendung von Z III, Overbeck gegenüber an: „das Nächste, was ich projektire, z u r E r h o l u n g ! ist ein großer Front-Angriff auf a l l e Arten des j e t z i g e n deutschen Obscurantismus (unter dem Titel „Neue Obscuranten“)“ (Nr. 480, KGB III 1.467). Diese Erholung
Vgl. 2.1. In einer frühen Vorarbeit zu MA I 35 (NL 1876/77, 23[132], KSA 8.450) ging es zunächst um die deutsche Sprache und die „Schwierigkeit“, in ihr gelungene Sentenzen zu bilden (eine verwandte Fragestellung behandelte Nietzsche schließlich in MA I 203 und WS 87). Im Zusammenhang mit der Umarbeitung von MA plante Nietzsche zudem auch einen Aphorismus mit dem Titel „ Wa s i s t d e u t s c h?“ (vgl. NL 1884/85, 32[17, 18, 20], KSA 11.416 f., dazu Montinari, Kommentar, KSA 14.723), wie er ihn dann später mit FW 357 umsetzte. Zum Begriff des Geschmacks in der FW vgl. Mayer Branco, Une „parenté d’oreille“.
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meint keine triviale Zerstreuung, sondern, ganz im Sinne der gleichfalls als „Erholung“ etikettierten GD (EH, An diesem vollkommnen Tage), eine aus vergangenen Anstrengungen gewonnene Leichtigkeit, die, gerade als solche, mühelos und tänzerisch vordringt in noch tiefere Fragenkreise als zuvor – eine „Heiterkeit“, die sich aus dem Ernst speist und ihn noch vertieft (GD Vorwort).216 Schon im nächsten Brief an Overbeck gibt er auf dessen Rat hin den Plan zur „Obscuranten“-Schrift zwar auf – aber nicht endgültig, im Gegenteil: „In der That, wir wollen w a r t e n und auch unsre Feindschaft in’s Große treiben.“ (6. Februar 1884, Nr. 486, KGB III 1.474)217 Denn, wie Nietzsche in EH unter Rückgriff auf Formulierungen schreiben würde, die denen der zitierten Briefe bemerkenswert ähneln, „Feind sein“, „Angreifen“, „Krieg“ führen war die Bedingung einer „starke[n] Natur“ und damit auch ihrer Werke, d.h., in Nietzsches Fall, ihrer Philosophie: „[die starke Natur] braucht Widerstände, folglich s u c h t sie Widerstand“ (EH weise 7).218 Dass Nietzsche die „Feindschaft“ gegen die Deutschen „in’s Große“ treiben, dass er, anders ausgedrückt, in ihnen mindestens ebenso sehr einen Gegner finden wie sich einen erfinden wollte, hieß darum seiner eigenen Heuristik der Not gemäß nichts anderes, als dass er die Deutschen als Gegner nötig hatte.219 1885 erwägt er schließlich ernstlich den Gedanken eines Buches, das die Deutschen zum Hauptgegenstand – zum Hauptangriffspunkt – hat und für das er nicht weniger als ein halbes Dutzend
Über diesen „ g r o s s e [ n ] E r n s t “ (FW 382), der die „Fröhlichkeit einschließt“ und „sich […] durch sie [steigert]“, sowie seinen Zusammenhang mit der großen Gesundheit, die ihn erst ermöglicht, vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 30 f., 614‒619, 625 f. (Zitate 618 und 625). Zu den Begriffen Fröhlichkeit und Heiterkeit bei Nietzsche und ihrem Verhältnis zueinander vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 95‒101, bes. 96: „In der Heiterkeit kommt die Fröhlichkeit zur Reife, zu einem eigenen Maß.“ Dass Nietzsche Anfang Dezember 1883 ebenfalls Overbeck schrieb, „Deutschland“ sei für ihn „jetzt ein überwundener Standpunkt – überhaupt das Leben und Wirken im Norden“ (Nr. 475a, KGB III 7/1.8), ist so nicht als Kapitulation, wohl aber als Beendigung aller Versuche eines Friedensschlusses mit den Deutschen zu verstehen. Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 606, der hervorhebt, dass Nietzsche die Feindschaft als „Mittel“ für die große Gesundheit anempfohlen und „[e]inen solchen FeindFreund […] vor allem in Wagner“ gesehen habe (so auch Hermens, „und so […] nenne ich Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens“, die Wagner als ‚sparring partner‘ interpretiert, d.h. als Gefahr und Krankheit, der sich Nietzsche um der Stärkung seiner Gesundheit willen bewusst aussetzt). Die Deutschen traten freilich dahinter nicht nur kaum zurück, sondern beide Feindschaften sind, wie bereits deutlich wurde, schwerlich voneinander zu trennen (vgl. 1.). Bergmann, Nietzsche, „the Last Antipolitical German“, S. 160, der behauptet, dass Nietzsche die Deutschen in den 1880er Jahren nur deshalb so vehement angriff, weil ihm ein „defined target“, ein „worthy intellectual opponent“ gefehlt habe, verkennt diesen existenziellen Hintergrund von Nietzsches Kritik. – Zu Nietzsches Methode der Heuristik der Not, mit der er den individuellen Nöten hinter alltäglichen wie wissenschaftlichen Orientierungen nachzuspüren suchte, vgl. Stegmaier, Nietzsche zur Einführung, S. 154‒156, und Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 145‒ 148 und 480‒486, der Nietzsches Unterscheidung von Nöten der Verarmung und Nöten der Überfülle des Lebens, zu denen auch die Suche starker Naturen nach Widerständen zu zählen wäre, betont.
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Titelentwürfe anfertigt: „ D i e D e u t s c h e n . / Vermuthungen und Wünsche / von / F.N.“ (34[103], KSA 11.455); „Pfeile. / G e d a n k e n / ü b e r u n d g e g e n d i e d e u t s c h e S e e l e . / Von / Friedrich Nietzsche.“ (34[160], 11.474); „ D i e D e u t s c h e n / von gestern und von übermorgen / Ein Beitrag zur Kritik der deutschen Seele“ (35[80], KSA 11.546); „ Z u r K r i t i k d e r d e u t s c h e n S e e l e . “ (36[33], KSA 11.564); „ „ D e u t s c h . “ / Fragen und Gedankenstriche. / Gedanken über Zucht und Züchtung.“ (36[55], KSA 11.573); schließlich nochmals „ „ D e u t s c h . “ / Fragen und Gedankenstriche.“ (40[70], KSA 11.668).220 Viele Ideen für dieses Vorhaben verwendete Nietzsche schließlich in JGB.
2.2.3.3 Die dialektische Geburt der Vornehmheit aus dem ‚deutschen Geist‘ Auch der Begriff der Vornehmheit, auf dessen Erörterung JGB dann im Ganzen zuläuft, tritt in diesen Plänen auf. Manches spricht dafür, dass Nietzsche die Frage der Hervorbringung des Vornehmen selbst, wie er sie in JGB 295 aus dem Munde Dionysos’ zu Gehör bringt,221 aus seiner Auseinandersetzung mit den Deutschen
Das Notat 40[70], KSA 11.668, enthält neben Titelentwürfen auch eine Liste mit Titeln geplanter Aphorismen zum Thema. Weitere derartige Listen: 34[115], KSA 11.458 f.; 36[46 f.], KSA 11.570; 41[16], KSA 11.689. – Montinari rechnet diesem Projekt unter Bezug auf 34[103] die Notate 34[104‒106, 114 f., 145, 154, 157, 221, 227 f.] zu (Kommentar, KSA 14.724). Das ist noch eine Untertreibung: In jeder der unterschiedlich umfangreichen Notatgruppen 34‒38 und 40‒44 in KSA 11 finden sich gewichtige Ideen und Entwürfe für dieses Vorhaben. – Collis Nachwort (Die nachgelassenen Fragmente von Herbst 1884 bis Herbst 1885 (Gruppe 28‒40), KSA 11.720‒726) weist auf die Bedeutung, die das Problem mit den Deutschen im Nachlass dieser Zeit einnimmt, ebenso wenig hin wie Zittel, Art. Nachlaß 1880‒1885. Fornari, Art. Nachlaß 1885‒1888, S. 144, rechnet den „deutschen Geist“ immerhin zu den „Themen“ des Spätsommers 1885. Röllin, Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885, widmet den Plänen zu einem Werk über die Deutschen nur kurz Aufmerksamkeit (S. 131‒134). Nietzsche habe sich nicht lange damit befasst (S. 132). Die Pläne seien bald, im Zusammenhang mit den Plänen zur Umarbeitung von MA, „gleichsam Makulatur“ gewesen, da „eine Vielzahl der für diese Werke vorgesehenen Entwürfe […] nunmehr den potentiellen Inhalt der Neuauflage von MA aus[machte]“ (S. 146 f.). Das mag für die Pläne „zu einer ‚fünften‘ UB“ und „zu ‚Gai saber‘“ zutreffen (S. 146), für seine Notizen „zu ‚Deutsch‘“ (S. 146) jedoch nur bedingt, da Nietzsche sie in signifikanter Weise für JGB, insbesondere für dessen achtes Hauptstück, verwendete, wie im Folgenden mit einigen Beispielen verdeutlich werden soll: 34[92], KSA 11.450 f. (zu JGB Vorrede); 34[97], KSA 11.452 f. (zu JGB 209 und 244); 34[181], KSA 11.482 f. (zu JGB 295); 35[44], KSA 11.531 (zu JGB 209); 36[44], KSA 11.569 (zu JGB 251); 37[9], KSA 11.583 f. (zu JGB 256); 37[10], KSA 11.584 f. (zu JGB 244); 37[15], KSA 11.590‒592 (zu JGB 256); 38[7], KSA 11.604 f. (zu JGB 11 und 244); 44[8], KSA 11.707 f. (zu JGB 244). Warum Röllin schließlich vermutet, „der Werkplan zu ‚Deutsch‘“ sei „vermutlich auf Anfang Dezember zu datieren“ (Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885, S. 133), obwohl er selbst betont, dass Nietzsche bereits im Frühjahr einen Titelentwurf dazu gemacht (S. 131) und Ende August den Plan schon wieder aufgegeben habe (S. 133), bleibt unklar. Van Tongeren, Die Moral von Nietzsches Moralkritik, S. 137‒171 und S. 213‒256, hat Nietzsches Begriff der Vornehmheit, wie er im neunten Hauptstück von JGB entwickelt wird, ausführlich untersucht (zu JGB 295 im Besonderen S. 243‒246).
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entwickelt hat. Dort lässt Nietzsche Dionysos sagen, er „denke oft darüber nach, wie ich ihn [den Menschen] noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist.“ Das Ergebnis dieser Erwägungen des Gottes bleibt der Aphorismus schuldig, die Vorstufe hingegen legt es, auf höchst rätselhafte Weise, offen: Ich habe alles gethan, sie dumm zu machen, ließ sie in Betten schwitzen, gab ihnen Klöse zu fressen, hieß sie trinken, bis sie sanken, machte sie zu Stubenhockern und Gelehrten, gab ihnen erbärmliche Gefühle einer Bedientenseele ein / Du scheinst mir Schlimmes im Schilde zu führen, die M〈enschen〉 zu Grunde zu richten? / Vielleicht, antwortete der Gott; aber so, daß dabei Etwas für mich herauskommt. / – Was denn? fragte ich neugierig. – / We r denn? solltest du fragen. Also sprach zu mir Dionysos. (NL 1885, 34[181], KSA 11.482 f.)
Wer sind „sie“, von denen Dionysos hier meint, er hätte ihnen „Klöse zu fressen“ und eine „Bedientenseele“ gegeben, sie betrunken und zu „Stubenhockern und Gelehrten“ gemacht? Der weitere Textverlauf wie auch der veröffentlichte Text von JGB 295 scheinen nahezulegen, es seien einfach „die M〈enschen〉“. Ein Blick in die differenzierte Transkription des Notats in KGW IX 1, N VII 1.67, ergibt jedoch, dass Nietzsche niemand anderen als die Deutschen gemeint hatte: {Die Deutschen, von an deren Vorfahren Niemand den Geist u. die guten Anlagen zu entdecken wußte oder irgend eine Lust am argute loqui [d.h. am scharfsinnigen Reden]} / Ich habe{n} alles {Jahrtausende lang noch alles} gethan, sie dumm zu machen, ließ sie in Betten schwitzen, gab ihnen Klöse zu fressen […].222
Der Wortlaut fügt sich nicht zu einem flüssigen Text: Die von uns in geschwungenen Klammern wiedergegebenen Passagen hat Nietzsche nachträglich ergänzt, dann jedoch die damit begonnene Überarbeitung nach „Ich habe“ abgebrochen. Aus diesem Grund entschied sich Montinari offenbar dafür, die Notiz mit dem von Nietzsche durchgestrichenen „Ich“ und ohne die (nicht durchgestrichenen!) „Deutschen“ zu rekonstruieren, verstellte damit aber ungewollt den entscheidenden Gesichtspunkt. Dieser liegt weniger in den Neigungen und geistigen Tendenzen, die den Deutschen zugesprochen werden,223 als darin, dass diese Neigungen und Tendenzen im Rahmen einer teleologischen Geschichtskonstruktion als sinnvoll verbürgt werden, und zwar vom Gott Dionysos persönlich: Er habe ihnen all dies in schöpferischer Absicht auferlegt, damit „Etwas“ „herauskommt“ – genauer: nicht „Etwas“, sondern jemand („ We r denn? solltest du fragen.“). Gemeint ist kein anderer als der „stärker[e], böser[e]“, „tiefer[e]“, „schöner[e]“ Mensch aus JGB
Vgl. das darauf aufbauende Notat im NL 1885, 43[3], KSA 11.702. Die Spuren Dionysos’ sind darin noch erhalten („ein boshafter Gott, welcher deutschfeindlich […] über ihnen waltete, gab ihnen lauter Neigungen ein, mit welchen ein Volk die Thüren auch für das K o m m e n d e s Geistes zuschließt“), hingegen fehlt der nachfolgend als bedeutsam herausgestellte Theodizee-Gedanke. Vgl. dazu 3.2.3.
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295, kurz: der Vornehme.224 Diese „Gedanken über Zucht und Züchtung“, wie man unter Bezug auf einen der oben zitierten Titelentwürfe für sein Projekt über die Deutschen sagen könnte (NL 1885, 36[55], KSA 11.573), spiegeln präzise die Dialektik der großen Gesundheit wider, die Nietzsche während seines Besuches in Naumburg und Leipzig im Herbst 1885 an sich selbst erfuhr: Nietzsche hatte seinem Leiden an all den schlechten Eigenschaften und Gewohnheiten der Deutschen, von denen Dionysos, der „Versucher-Gott“ mit dem „halkyonischen Lächeln“ (JGB 295), erzählt, einen Sinn gegeben: Er sah ein (und daraus ist auch erklärlich, dass der Plan zu einem Buch über die Deutschen Ende 1885 wieder aus den Notizbüchern verschwindet), dass er mit seiner Philosophie in Deutschland „gegenwärtig noch nichts zu suchen habe“, und wusste diese schmerzhafte Erkenntnis, diese „Klarheit“ als Chance zu begreifen – die produktive Deutung seiner Situation verhalf ihm zu einem Moment „halkyonische[r] Meeresstille und Unbekümmertheit“ und zu verbesserter „Leibes-Gesundheit“ (an Köselitz, 6. Dezember 1885, Nr. 650, KGB III 3.119).225
2.2.3.4 Der große Schmerz des Leidens am Deutschen und die Selbstaufhebung der décadence Ein ähnlicher Fall ist die schon angesprochene „drückende Nähe zweier Deutschen“ im Herbst des folgenden Jahres (an Köselitz, 31. Oktober 1886, Nr. 770, KGB III 3.274). Während er ihr ausgesetzt war, „verfasste er gut 30 neue, höchst gewichtige und vergleichsweise lange Aphorismen“ für das V. Buch der FW.226 In der dazugehörigen neuen Vorrede bemerkte Nietzsche unter offensichtlichem Bezug auf JGB 295, ein „grosse[r] Schmerz“ habe ihn „tiefer, strenger, härter, böser“ gemacht. Die Charakteristika dieses Schmerzes treffen zweifelsohne auf die über Jahre wiederholten risikoreichen Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen zu: ein „lange[r] langsame[r] Schmerz“, „der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden“ und der „uns Philosophen [zwingt], in
Diese ‚Theodizee‘ meint, da sie auf einem von Nietzsche selbst erfundenen Gott fußt und insofern immer schon als individuell gesetzte durchschaut ist, keine metaphysische Verklärung des Lebens, sondern ein absolutes Jasagenkönnen: ein Umschaffen der als sinnlos gewussten Welt in für den Einzelnen auf Zeit Sinnvolles. Zum Theodizeegedanken bei Nietzsche vgl. Goedert, The Dionysian Theodicy; Goedert, Art. Theodizee; Striet, Nietzsches Anti-Theodizee, sowie Willers, Das Theodizee-Problem. Nietzsche würde später für diesen Umgang mit Schmerz, Konflikt und Enttäuschung die Formel „amor fati“ prägen (vgl. 4.1 und 5) und ihn mit den Worten umschreiben, nie habe er „so viel Glück“ an sich gehabt, „als in den schmerzhaftesten Zeiten meines Lebens“ (EH MA 4). Die Fähigkeit zu dieser Selbstdeutung ist der Kern von Nietzsches Begriff der großen Gesundheit. Vgl. dazu Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 603, der betont, es gehe bei ihr „nicht darum, den Körper daraufhin zu testen, welche Infektionen er übersteht, sondern allein darum, was Seele und Geist daraus machen“ (Hervorhebung A.R.). Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 55.
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unsre letzte Tiefe zu steigen“; ein „Lehrmeister des g r o s s e n Ve r d a c h t e s “, aus dem „wir […] beständig unsre Gedanken […] gebären“ und der damit „die Liebe zum Leben“ auf eine neue, „ander[e]“ Weise, als „zweite[ ] gefährlichere[ ] Unschuld in der Freude“, möglich machte (FW Vorrede 3 f.).227 „So in der Tat erscheint mir j e t z t jene lange Krankheits-Zeit“, konnte Nietzsche daher in EH schreiben, ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken könnten, – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum L e b e n, meine Philosophie… (EH weise 2)
Die Einsicht, dass diese seine Philosophie sich wesentlich den Deutschen, nämlich seinem Leiden an ihnen, verdankte, sollte sich zuletzt zu einer ungeheuren Konfrontation auswachsen: Nietzsche machte aus dem Begriff des Deutschen zunehmend die Demarkationslinie dessen, was in seinen „Nüstern“ dem Leben abträglich „ r o c h“ (EH Schicksal 1) – Gemeinheit, Gleichmacherei, Mittelmaß, Herdenmoral oder, wie Nietzsche es später, besonders in GM und AC, in einem Wort bündeln würde: Christentum. Damit wurde das Deutsche ein Grenzbegriff im eigentlichen Sinne: Nietzsche fragte nicht einfach, was am Deutschen deutsch sei, sondern was am Deutschen, und mithin auch an ihm, ‚typisch‘ deutsch – zugespitzt gesagt: krank – und was überdeutsch, undeutsch, europäisch – abermals zugespitzt: gesund – sei.228 Die Frage nach der décadence Europas229 kondensierte damit all Vgl. zu Nietzsches Konstituierung der Philosophie aus dem Schmerz van Tongeren, Vom „Arzt der Cultur“ zum „Arzt und Kranken in einer Person“, S. 27; Decher, Vom Sinn der Krankheit, S. 285; Horn, Art. Gesundheit/Krankheit, S. 133, sowie ausführlich Primavera-Lévy, „An sich giebt es keinen Schmerz“, die das Schmerzmotiv in die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion einordnet und Nietzsches Auseinandersetzung mit ihr beleuchtet. Es ist mit Blick auf Nietzsches Verständnis des Schmerzes folgerichtig, dass er in JGB die „Philosophen der Zukunft“ die „Menschen des Experiments“ nannte, die „ s i c h beständig“ riskieren (JGB 210 und 205). In der – signifikanterweise im Juni/Juli 1885 entstandenen – Vorstufe zu JGB 210 hatte er sich diesen Experimentatoren ausdrücklich zugerechnet: „Uns selber nur als eine neue Schaar von Kritikern und Analysten zu bezeichnen, welche sich des E x p e r i m e n t s im weitesten Sinne bedienen – das wäre vielleicht eine erlaubte Tartüfferie zu der uns Manches überreden könnte.“ (KSA 14.363, korr. nach KGW IX 4, W I 6.5) Diese Experimente „im weitesten Sinne“ untersucht im Kontext des Problems der ‚großen Gesundheit‘ Faustino, Philosophy as a ‚Misunderstanding of the Body‘, S. 211 f. Vgl. auch 3.2.2.3. Dieser Gebrauch des Begriffs des Deutschen liefert die Erklärung für eine bereits von Kunnas gemachte Beobachtung: „Vieles, was Nietzsche über die Deutschen sagt, betrifft nicht speziell die Deutschen, sondern das ganze Europa.“ Kunnas verkennt jedoch die philosophische Relevanz dieses Umstandes, wenn er etwas verlegen mutmaßt: „Vielleicht ist das ein Zeugnis dafür, daß das von Nietzsche kritisierte deutsche Denken – gut oder schlecht – eine weite Ausstrahlung in der heutigen Welt hat.“ (Kunnas, Nietzsche und die Deutschen, S. 112) In seinen späten Werken und Notaten macht Nietzsche die décadence zum Begriff für die „Gesammt-Abirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten“, zum Begriff für „Verfall und Erkrankung“ überhaupt (NL 1887/88, 11[227], KSA 13.89), zur Formel, in der er jene Krisenbefunde bündelte, die er dem Abendland, besonders aber seiner Zeit seit langem wiederholt ausgestellt hatte. Nietzsche griff bei seiner Verwendung des Begriffs der décadence auf mehrere wichtige Quellen zurück, voran Paul Bourget, von dem er den Begriff, zunächst als literaturwissenschaft-
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Die Deutschen als Krankheit Nietzsches
mählich zur Frage nach der décadence der Deutschen: Aus den „ P f e i l e [ n ] […] über und gegen die europäische Seele“ wurden die „Pfeile […] ü b e r u n d g e g e n d i e d e u t s c h e S e e l e “ (NL 1885, 34[159 f.], KSA 11.474)230 und ihre Kultur „des N i e d e r g a n g s “, wie Nietzsche sie bereits im Nachlass 1883/84 nennt (24[6], KSA 10.647).231 Er oder die Deutschen – dieser bis zum Rausch gesteigerte Gegensatz ist es, aus dem der späte Nietzsche die tektonische Gewalt hervorgehen lässt, die die Geschichte in zwei Teile bricht (vgl. EH Schicksal 8): „Ich wäre nicht möglich ohne eine Gegensatz-Art von Rasse, ohne Deutsche, ohne d i e s e Deutschen“ (NL 1888/ 89, 25[7], KSA 13.641).232 Noch sein letztes Notat aus dem Januar 1889 („[…] Indem ich dich vernichte Hohenzollern, vernichte ich die Lüge“ (NL 1888/89, 25[21], KSA 13.647))233 kündet von diesem Kampf – dem Kampf Nietzsches um seine „ g r o s s e G e s u n d h e i t “ (FW 382), der für ihn längst zum Kampf um die Gesundheit des Abendlandes, ja der Menschheit überhaupt geworden war oder den er zumindest zu einem solchen stilisierte.234 Nietzsche, Deutscher und Überdeutscher, „décadent“ und „ G e g e n s t ü c k eines décadent“ (EH weise 2), durchlitt an der Frage nach den Deutschen immer wieder seinen ganz persönlichen körperlichen und geistigen „Excess von Schmerzgefühl“ (EH weise 1), um über das „Zufällige[ ]“ „Herr“ zu werden, wie er es in einem Notat ausdrückte, das den leidensvollen Prozess der Konfrontation mit dem Deutschen als prägend schon für seine Kindheit beschreibt: Über wie viel Zufälliges bin ich Herr geworden! Welch schlechte Luft blies mich an, als ich Kind war! Wann waren die Deutschen dumpfer ängstlicher muckerhafter kriecherischer als in jenen fünfziger Jahren, in denen ich Kind war! (NL 1884, 26[230], KSA 11.209)
lichen, aufnimmt. Weiterhin bedeutend sind Claude Bernard und Charles Féré, die Nietzsche entscheidende Impulse für die physiologische Ausdeutung des décadence-Begriffs lieferten. Vgl. zum Begriff der décadence im Ganzen sowie Bourget, Bernard und Féré im Besonderen MüllerLauter, Artistische décadence als physiologische décadence (darin zu Bourget, Bernard und Féré: S. 1‒3, 15‒20); Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 335‒341 (zu Bourget, Bernard und Féré: S. 338‒340); Horn, Nietzsches Begriff der décadence. Zu Nietzsches Quellen für den décadence-Begriff vgl. ferner Volpi, Die Phosphoreszenz des Bösen, sowie Campioni, Der französische Nietzsche, bes. S. 235‒291. Zur Unterscheidung zwischen dem Sachverhalt der décadence und dem Wort „décadence“ vgl. 1.3.1. Zum Notat 34[160] vgl. KGW IX 1, N VII 1.83: „Pfeile. / G e d a n k e n / ü b e r u n d g e g e n d i e e u r o p ä i s c h e {die deutsche} S e e l e / Vo n / F r i e d r i c h N i e t z s c h e.“ Nietzsche streicht „europäisch“ zugunsten von „deutsch“ aus. Schon damals bekannte er, es habe ihn „oft u n b i l l i g gegen das g a n z e Phänomen der europäischen Cultur gemacht, daß ich eine niedergehende Art kennen lernte“. Vgl. 3.5.1. Dazu s. 3.6. Über seine Selbststilisierung zum Schicksal vgl. Stegmaier, Schicksal Nietzsche?. Vgl. ferner 4.1.
Nietzsches Problem mit den Deutschen als Entstehungsbedingung
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Ein Herr des Zufalls in diesem Sinne war ein „wohlgerathner Mensch“ (EH weise 2), der die „Dialektik“, das eigentliche „Symptom“ der décadence (EH weise 1), für sich nutzbar machte: ihren von Nietzsche mit dem Begriff der großen Gesundheit umschriebenen Doppelsinn, als Krankheit in sich gleichzeitig die Voraussetzung für ihre eigene Überwindung zu tragen. Er hatte jene „Dialektiker-Klarheit“ (EH weise 1) erlangt, in der sich die décadence insofern in ihm aufhob, als sie ihre Bejahung ermöglichte. Diese Bejahung war die Einsicht, dass man es gerade „nicht in der Hand“ hat, die décadence „ a b z u s c h a f f e n“, sondern dass sie vielmehr „eine nothwendige Consequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben [ist]“, „so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens“ (NL 1888, 14[75], KSA 13.255 f.).235 Diese „Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt“, diese „Finger für nuances“ (EH weise 1) befähigten dazu, auch noch einen so extremen Leidenszustand wie Nietzsches Kranksein am Deutschen – dessen periodisches Wiederkehren der „Periodik“ der décadence (EH weise 1) sinnfälligerweise entspricht – als notwendig für den eigenen „Aufgang“, für das eigene „Vorwärts“ zu reflektieren. Ebenso befähigten sie dazu, gerade den „schönste[n]“ Moment als „gefährlichste[n]“ zu durchschauen, sofern er Stillstand, d.h. das Gegenteil von Leben und damit gerade jener Moment war, wo Gesundheit wieder in Krankheit umschlug (MA II Vorrede 1).236 Erst wer diese „Finger für nuances“, diese „Hand dafür, P e r s p e k t i v e n u m z u s t e l l e n“, besaß, vermochte es, die „Umwerthung aller Werthe“ vorzunehmen (EH weise 1).237
Indem Nietzsche „sich ihr stell[t] und sie bis auf den Grund durchschau[t]“, begreift er sie eben nicht mehr bloß als „ein notwendiges Durchgangsstadium im Entwicklungsprozess des Lebens“, das noch zu „überwinden“ wäre, wie demgegenüber Borchmeyer, Art. décadence, S. 73 f., festhalten möchte. – Zur Denkfigur der Selbstaufhebung, nach der „[a]lle grossen Dinge […] durch sich selbst zu Grunde [gehen]“ (GM III 27, KSA 5.410), vgl. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, S. 299 f. und 314‒318, Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, sowie Grau, Art. Selbstaufhebung. Bereits Moses Mendelssohn hatte demgemäß in einer Analogie auf die aus seiner Sicht nie abzuschließende Aufklärung bemerkt, dass „die vollkommenste Gesundheit des menschlichen Körpers“ „schon an und für sich eine Krankheit oder der Übergang zur Krankheit genennt werden kann“ (Über die Frage: was heißt aufklären?, S. 8). Zum Gedanken der Unabschließbarkeit der Aufklärung bei Nietzsche vgl. 2.1.3. Selbstaufhebung der décadence und Umwertung aller Werte fallen somit zusammen. Denn nur wer das Auf und Ab des Lebens in seiner Notwendigkeit bejahen kann, kann auch jene ‚ewigen‘ Werte umwerten, die dieses Auf und Ab negieren.
3 Nietzsches Problem mit den Deutschen als Problem mit sich selbst 3.1 Nietzsches Methodologie der Frage nach dem Problem des Deutschen Indem Nietzsche sich auf der Suche nach Widerstand die Deutschen zu seinen Gegnern machte, musste er sie unweigerlich typisieren, ihnen scharfe begriffliche Konturen geben, die einen Angriff erst ermöglichten. Wie aber konnte er nach der Verzeitlichung des Begriffs des Deutschen238 überhaupt noch unterscheiden, was ‚typisch deutsch‘ sei und was nicht, ohne bereits unter der Hand neue metaphysische Voraussetzungen zu machen? Er konnte es, kurz gesagt, indem er den Begriff des Begriffs neu dachte, und zwar als „perspektivischen Begriff“.239 Um im „Fluß der Dinge“ (NL 1881, 11[162], KSA 9.504) überhaupt noch etwas erkennen – d.h. Begriffe bilden – zu können, muss man ihn vorübergehend wieder verfestigen. Dies kann allerdings nicht nach allgemeinen Kriterien erfolgen – denn solche Kriterien setzten schon wieder voraus, dass nicht alles immer fließt –, sondern nur nach individuellen. Individuelle Kriterien sind als solche veränderlich: Je nachdem, unter welchen Gesichtspunkten man eine ‚Sache‘ betrachtet, wird man auch einen anderen Begriff davon bilden. Der Begriff, den man jeweils bildet, spiegelt folglich nicht die Realität wider, sondern nur die Gesichtspunkte, unter denen der, der ihn bildet, die Realität – bzw. einen Teil von ihr – denkt. Jede Erkenntnis, jede Begriffsbildung ist somit Ergebnis „aktive[r] und interpretirende[r] Kräfte“: „Es giebt n u r ein perspektivisches Sehen, n u r ein perspektivisches „Erkennen““ (GM III 12, KSA 5.365). Jeder Begriff bleibt einseitig und typisierend, bleibt vom Urteil des Einzelnen, von seinen „Affekte[n]“ abhängig. Doch je mehr Perspektiven man auf eine Sache – etwa auf die Deutschen – wirft, „ j e m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger“ – d.h.: weniger einseitig – „wird unser „Begriff“ dieser Sache, unsre „Objektivität“ sein.“ (GM III 12, KSA 5.365) Nietzsche konstituiert so eine pragmatische ‚Objektivität‘ – ‚Objektivität‘ durch Plausibilität.240 S. 1.3.2. Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘, S. 88, zum Folgenden vgl. S. 88‒93. Stegmaier weist darauf hin, dass Max Weber mit seinem Begriff des „Idealtypus“ „sehr genau“ an Nietzsches Methode der Begriffsbildung angeschlossen habe (S. 89). Über Nietzsches Einfluss auf Weber vgl. Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, S. 14‒20 und 77‒94. Nach Werner Stegmaier sind Plausibilitäten „Annahmen, die nicht erst ‚gemacht‘ und noch weniger begründet zu werden brauchen“, sondern „selbstverständlich“ sind. Selbstverständlich sind sie darin, dass man sich in seiner Orientierung auf sie verlassen kann – dies jedoch kann man immer nur begrenzt. „[U]nter entsprechenden Umständen“ werden sie daher „von sich aus fraglich“, sehen sich dann also doch Begründungszwängen ausgesetzt und müssen ggf. anderen
Nietzsches Methodologie der Frage nach dem Problem des Deutschen
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Diese ‚Objektivität‘ trägt ihre Anführungszeichen mit gutem Grund: Was in Nietzsches „Augen“ hinreichend ‚objektiv‘ war, musste es in denen eines anderen längst nicht sein.241 Die unter Nietzsches Begriff des Deutschen fallenden Charakteristika blieben trotz all der verschiedenen Perspektiven, die sich in diesem Begriff bündelten (seinen Perspektiven wohlgemerkt), für ihn und nur für ihn ‚objektiv‘ typisch deutsch.242 Mehr, das hatte er selbst gezeigt, war in dieser „unsäglich anders complicirt[en]“ Wirklichkeit (NL 1885, 34[249], KSA 11.505) nicht zu wollen und auch für seine Philosophie nicht notwendig. Denn diese leitete sich immer auch aus Nietzsches eigenen, radikal individuellen Nöten her, nicht zuletzt aus seinem Leiden am Deutschen. Die Aussagen, die er in seinen späteren Werken über das deutsche ‚Volk‘ und sein ‚Wesen‘ machte, waren, seiner eigenen Erkenntniskritik gemäß, auch individuelle Reflexionen über die Bedingungen seines Philosophierens, nicht Lehren darüber, wie die Deutschen ‚wirklich‘ oder ‚an sich‘ waren.243 Vor dem Hintergrund von Nietzsches Typisierungsverfahren wird erst verständlich, warum Nietzsche überhaupt noch sinnvoll von den Deutschen sprechen, sie als Deutsche typisieren und klar gegen andere Nationen abgrenzen konnte, obgleich er doch selbst zugab, dass man einerseits zwischen den Nationen Europas nicht streng, sondern nur relativ und in fließender Abstufung trennen konnte,244 andererseits auch die Deutschen in sich stark differenzieren musste. In MA II VM 324 lässt Nietzsche in diesem Sinne aus den Augen eines „Ausländer[s]“ verschiedene Differenzierungsgrade des deutschen ‚Volkscharakters‘ aufeinandertreffen und sich so gegenseitig relativieren, dass der regulativ-pragmatische Charakter jeder Bestimmung des Deutschen sichtbar wird: Er spricht von den Deut-
Plausibilitäten weichen – die dann wiederum, bis auf Weiteres, „fraglos vorausgesetzt“ werden (Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 15 f.). Vgl. JGB 43, wo Nietzsche mutmaßt, ein „Philosoph der Zukunft“ werde vielleicht sagen: „„Mein Urtheil ist m e i n Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht“ […].“ João Constâncio betont: „seeing with more eyes involves identifying with other persons“. Das bedeutet jedoch nicht, dass Nietzsche behauptete, sich die Perspektiven der anderen aneignen zu können – sondern lediglich eigene Perspektiven auf diese anderen Perspektiven: „Thus the kernel of his new conception of ‚objectivity‘ is the idea that multiplying the number of one’s affective perspectives with a critical (or ‚agonal‘) attitude will eventually give rise to a more personal and partial perspective which will also be more ‚objective‘ – because agonal empathy with as many perspectives as possible will always result in a ‚more complete‘ ‚concept‘ of a ‚thing‘“ (Constâncio, ‚A Sort of Schema of Ourselves‘, S. 135 f., vgl. auch S. 137‒140). Insofern hat Ernst Bertram vollkommen Recht, wenn er Nietzsches Auseinandersetzung mit den Deutschen als „Selbstzergliederung“, „Selbstkritik“, „Selbstcharakteristik“ liest (Bertram, Nietzsche, S. 79 und 89). Bei Bertram gerät Nietzsches Interpretation des Deutschen allerdings wieder zur allgemeinen Lehre über das – essentialistisch aufgefasste – deutsche Wesen. Nietzsches Denken wird so, wie es Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, S. 78, ausdrückt, in „einen prophetischen Mythos zur Rettung der deutschen Nation“ umgestaltet. Zu Bertrams Nietzsche-Interpretation kritisch Kaufmann, Nietzsche, S. 13‒17. Vgl. 1.3.2.
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Nietzsches Problem mit den Deutschen als Problem mit sich selbst
schen im Allgemeinen („Die Zukunft der Deutschen fand er bedroht und bedrohlich: denn sie hätten verlernt, sich zu f r e u e n […].“), differenziert sie aber zugleich: zum einen grob in Nord- und Süddeutsche, die beide „Hochmuth“ zeigen, sich aber darin unterscheiden, dass der Hochmut bei den Norddeutschen durch den „Hang zu gehorchen“, bei den Süddeutschen durch den, „sich’s bequem zu machen“, eingedämmt werde; zum anderen präziser in „Schwaben“, „Berliner“, die im Gegensatz zu den „Süddeutschen“ „sehr spottlustig“ seien und „desshalb Spott“ vertrügen, sowie Sachsen und Thüringer: nirgends gäbe es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntniss, nebst Freigeisterei, und Alles sei so bescheiden durch die hässliche Sprache und die eifrige Dienstbeflissenheit dieser Bevölkerung versteckt, dass man kaum merke, hier mit den geistigen Feldwebeln Deutschlands und seinen Lehrmeistern in Gutem und Schlimmem zu thun zu haben.
Schließlich werden auch die Schwaben nochmals in sich differenziert in die, „die Geist haben“ und „kokett“ sind, sowie die „anderen“, die „noch immer [meinen], Uhland sei ein Dichter und Goethe unmoralisch gewesen“. Es entspricht dabei der Heterogenität der Deutschen, dass der Ausländer „missfiel und gefiel durch einige Behauptungen, je nach den Gegenden, in denen er sich aufhielt.“ Nietzsche macht mit diesem Hinweis auch deutlich, dass es nicht um Tatsachen geht, sondern um die „Behauptungen“ eines Einzelnen – keine Bestimmung des Deutschen kommt über solche individuell gebrochenen Behauptungen hinaus. Gebrochen sind sie hier zumal dadurch, dass ein „Ausländer“ sie macht, der notwendig einen anderen Blick auf die Frage des Deutschen haben muss als ein Deutscher. Es liegt freilich nahe, dass Nietzsche mit diesem „Ausländer“, der zudem bezeichnenderweise über Sachsen und Thüringer besonders ausführlich berichtet, sich selbst, den seit Jahren nicht mehr in Deutschland lebenden Staatenlosen, gemeint hat, der sich von den Deutschen zusehends entfremdet hatte. Von der Analyse der Unterschiede zwischen Deutschen aus verschiedenen Regionen in VM 324 abgesehen, hat Nietzsche nur selten über einzelne deutsche ‚Volksstämme‘ (wie man sich ausdrückte) nachgedacht. Sachsen, Thüringer, Bayern werden in der KSA je unter zehn Mal erwähnt, nur Preußen und Schwaben häufiger: 40 Verwendungen von „Preuße(n)“ / „Preusse(n)“ und „preußisch“ / „preussisch“, 24 nach 1875; 17 Verwendungen von „Schwabe(n)“ und „schwäbisch“, alle nach 1875. In den seltenen Fällen, in denen Nietzsche doch auf sie zu sprechen kommt, geschieht es fast nie in der Absicht, die Deutschen untereinander zu differenzieren. In Bezug auf Preußen und Schwaben, den einzigen, die Nietzsche häufig genug erwähnt, um seine Verwendungsweise der Begriffe stichhaltig zu beurteilen, fällt im Gegenteil auf, dass sie im Wesentlichen als Verkörperungen von Eigenschaften fungieren, die Nietzsche zufolge auch für die Deutschen im Ganzen typisch sind: preußische ‚Klugheit‘ und Militarismus hier, schwäbische ‚Biederkeit‘ und ‚Schlichtheit‘ da. Auch und gerade dass diese Eigenschaften sich im Grunde widersprechen und sich dennoch gleichermaßen in der deutschen ‚Seele‘
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fänden, ist Nietzsche zufolge ‚typisch‘ deutsch (vgl. JGB 244; NL 1885, 37[16], KSA 11.592 f.).245 Doch wie immer die Reflexionen über Preußen und Schwaben im Einzelnen zu beurteilen sind, sie bleiben, wie gesagt, die Ausnahme: Obwohl es Nietzsches Metaphysikkritik zufolge den Deutschen an sich gar nicht geben konnte, sprach er in der Auseinandersetzung mit seinen Landsleuten überwiegend gerade von ihm. Er konnte das tun, weil es ihm nicht darum ging, einen im herkömmlichen Sinn objektiven Begriff des Deutschen (oder, was das betrifft, des Französischen, Englischen usf.) zu entwickeln, sondern einen, der seinem persönlichen Erlebnishorizont entsprach: Nietzsche musste verstehen, was die Deutschen für ihn bedeuteten – und er musste diese Erfahrung in seiner Philosophie offenlegen. Es musste sich dann zeigen, ob seine eigene Erfahrung auch die Erfahrung anderer Deutscher war oder ob sich nicht gerade hier die Geister schieden und in Abgrenzung zu Nietzsches Begriff des Deutschen eine nicht verallgemeinerbare Vielheit der Selbstbeschreibung hervortrat, die als solche eben nicht schon eine ‚deutsche‘, sondern zunächst vor allem eine regionale war.246 In diesem Sinne könnte man sogar davon sprechen, dass die Parallelität von erkenntniskritischer Verabschiedung und pragmatischer Weiterverwendung der Rede von ‚den‘ Deutschen die seinerzeit einsetzende nationalistisch-essentialistische Umdeutung der kulturell so vielfältigen Landstriche in der Mitte Europas in ein vermeintlich gleichförmiges ‚Deutschland‘ systematisch unterlief.247
Vgl. dazu 3.3, und zu Schwaben und Preußen bes. 3.3.2.2 und 3.3.3.2. Über Nietzsches Philosophie als Philosophie der Zeichen, deren Sinn sich dem einzelnen Leser zeigen kann oder nicht und die dem Leser bewusst „einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses“ (JGB 27) lässt, vgl. Stegmaier, Nietzsches Zeichen. Stegmaier hebt hervor (S. 42), dass Nietzsche „nicht vom Verstehen, sondern vom Nicht-Verstehen aus[geht]: Individuen könnten einander als Individuen nicht verstehen.“ Vgl. auch, unter spezifischem Bezug auf EH, Jensen, Ecce homo as Historiography, S. 225: „We readers may not have riddled out the ultimate springs of Nietzsche’s development, and if Nietzsche is right about subjectivity, we cannot. But our acceptance or rejection of his particular perspective’s explanation reveals an important fact about our own perspective spheres, namely that we, as interpretive agents, either are or are not psychologically so predisposed to accept the sorts of explanations issued by an author who was himself predisposed in the relatively unique and idiosyncratic way Nietzsche was.“ Die bisherigen Erklärungsversuche für Nietzsches allgemeine Rede von den Deutschen greifen darum zu kurz: Nach Kunnas, Nietzsche und die Deutschen, S. 107, rede Nietzsche „gern verallgemeinernd“, weil er „instinktiv an eine bestimmte nationale Eigenart“ glaube. Blue, What Was Nietzsche’s Nationality?, S. 80, führt demgegenüber Nietzsches Tendenz, „to lump them [sc. die Deutschen] into a political unit and to describe this diverse population impersonally“, schlicht darauf zurück, dass er seine Zugehörigkeit zu den Deutschen implizit habe ableugnen wollen.
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3.2 Nietzsches Pathologie des Deutschen als negative Pathologie seiner selbst Anfang der 1880er Jahre begann Nietzsche, die ihn körperlich niederdrückende Atmosphäre des „Geist[es] der Kleinheit und der Knechtschaft“ in Deutschland so tief zu empfinden, dass es ihm unmöglich wurde, es dort auszuhalten (NL 1880, 7[279], KSA 9.375).248 Dies fiel, wohl nicht von ungefähr, zeitlich mit seinem Bekenntnis zusammen, er wisse gar nicht, „was „rein geistige“ Probleme sind“ (NL 1880, 4[285], KSA 9.170).249 Folgerichtig begann Nietzsche nun, diese Atmosphäre intensiv auf ihre physiologischen Hintergründe zu befragen,250 ganz im Sinne der von WS an betriebenen „Philosophie der Ernährung“, die „immer wieder auf den engen Zusammenhang zwischen leiblicher und geistiger Nahrung, zwischen Physiologie und Gesinnung, Diät und Moral“ drang.251 So entwickelte er das, was man eine Pathologie des Deutschen nennen könnte. Wenn aber Nietzsches Begriff des Deutschen wesentlich Äußerung seines Problems mit ihnen war, war seine Bestimmung der Deutschen als krank ihrerseits eine Spiegelung seiner eigenen Krankheit am Deutschen. Indem Nietzsche die Deutschen pathologisierte, pathologisierte er sich darum ex negativo immer schon selbst, sofern er gerade jene Eigenschaften der Deutschen als ‚typisch deutsch‘ begriff, die er nicht vertrug. Nietzsches Begriff des Deutschen umfasste so, als idiosynkratischer Begriff, zunächst vor allem das, was er nicht war oder vielmehr nicht sein wollte.252 Er betonte seine Distanz zu Vgl. 2.2.1. Nietzsche zufolge sind Geist und Physiologie nicht zu trennen. Vgl. dazu Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 189‒191. Nietzsche, so Stegmaier, „bindet den Geist […] an den Leib und seine Bedürfnisse, die er nur begrenzt durchschaut“, und entwickle eine „Kunst der Transfiguration“ (FW Vorrede 3), nach der die Philosophie „nicht wie das ‚Volk‘ zwischen Leib und Seele und ‚zwischen Seele und Geist‘ trennen [darf]“: „die Befreiung durch Transfiguration vollzieht sich unter bleibender Bindung an den Leib“ (S. 191 f.). Vgl. zu Nietzsches Begriff der Transfiguration Strong, Friedrich Nietzsche and the Politics of Transfiguration, bes. S. 16–19, 274 f., 287–292. Er konnte dabei, unter neuen Vorzeichen, auf früheren Überlegungen aufbauen: Bereits vor seiner Abwendung von einem deutschen Kulturideal hatte er die abgelehnte gegenwärtige deutsche Kultur als krankhaft bestimmt und dementsprechend den Weg zu einer wahren deutschen Kultur als ein „Zurückstreben zur Gesundheit“ konzipiert (NL 1871, 13[2], KSA 7.372). Vgl. dazu auch SE 6, KSA 1.392 f., wo er sich „empört“ darüber zeigte, dass „Grauheit“, „Formlosigkeit“, „Dumpf- und Stumpfsinn[ ]“, „Unreinlichkeit des Charakters“, „Lust am Falschen und Unächten“, dass „alle diese Krankheiten und Schwächen nie geheilt, sondern immer nur überschminkt werden sollen“. Large, Art. Ernährung, S. 289. Zu Nietzsches Ernährungsphilosophie vgl. auch Lemke, Art. Ernährung, S. 98, der herausstellt, Nietzsche widersetze sich „der traditionellen Metaphysik und ihrem rationalistischen Wertesystem“, indem er die Ernährung „zu einem würdigen philosophischen Gegenstand der philosophischen Ethik“ erhebt. Vgl. ferner Klass, Wie man wird, was man isst, der freilich Nietzsches Ansatz metaphysiziert und damit verkürzt, wenn er „als Maß und Ziel aller Überlegungen zur Frage der Ernährung […] ein klar übersubjektives Prinzip“ am Werk sieht, namentlich „die Stärkung der eigenen Kraft im Dienste des Willens zur Macht“ (S. 412). Während Nietzsches Bild des Deutschen sein negatives Selbstbild war, war sein Bild des Französischen sein positives. Daraus erklärt sich auch, dass Nietzsche den Schweden Strindberg
Nietzsches Pathologie des Deutschen als negative Pathologie seiner selbst
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den Deutschen. Er war ein Begriff der Negation – aber eben als solcher ließ er sichtbar werden, was er scheinbar verhüllte: Nietzsches Nähe zu den Deutschen. Insofern pathologisierte sich Nietzsche in der Pathologisierung des Deutschen sogar doppelt selbst.
3.2.1 Nietzsches Analyse der deutschen Neigung zum Selbstmord In mehreren Notaten der frühen 1880er Jahre entwickelte Nietzsche Überlegungen zu einem Wirkungszusammenhang von Musik, Alkoholkonsum und Lebensmüdigkeit, der bei den Deutschen obwalte. Notierte er sich zunächst: „Temperanz-Bewegung nöthig für Deutschland: die große Mehrzahl der Verbrechen stehen mit Alcohol in Verbindung und ebenso die Selbstmorde!“ (NL 1880, 6[208], KSA 9.252), verband er das Problem des deutschen Alkoholkonsums bald schon mit der deutschen Musik. So beklagte er eine generelle „allgemeine Schwäche“ der Deutschen, die „jetzt in der Musik ihren frappantesten Ausdruck bekommen“ habe, und mutmaßte: „es ist die Rasse der Trunkenbolde! Vielleicht hat dies Trinken sie so schwach und sentimental gemacht.“ (NL 1880, 7[216], KSA 9.362)253 Schließlich wird der Musikkonsum von einer Folge selbst zu einer Ursache gemacht: beides, „übermäßige[r] Gebrauch von Musik und geistigen Getränke[n]“, erscheint nun als Grund dafür, dass, „nach den zuverlässigsten Aufstellungen, die Deutschen an Selbstmördern alle V〈ölker〉 übertreffen“ (NL 1880/81, 10[D74], KSA 9.429). In M 207 vertieft er seine Analyse noch. Der deutsche „Hang zum Selbstmord“ wird hier seinerseits zu einem bedeutsamen Zeichen für jene „Schwerfälligkeit des Geistes“, die Nietzsche für sich zunächst als „allgemeine Schwäche“ beschrieben hatte: Die „Laster“ der Deutschen seien, nach wie vor, der Trunk und der Hang zum Selbstmord (dieser ein Zeichen von Schwerfälligkeit des Geistes, der schnell dazu gebracht werden kann, die Zügel wegzuwerfen); ihre Gefahr liegt in Allem, was die Verstandeskräfte bindet und die Affecte entfesselt (wie zum Beispiel der übermässige Gebrauch der Musik und der geistigen Getränke): denn der deutsche Affect ist gegen den eigenen Nutzen gerichtet und selbstzerstörerisch wie der des Trunkenboldes.
Nietzsches Diagnose einer suizidalen Neigung der Deutschen insgesamt befindet sich durchaus auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung seiner Zeit. In ihr bestand nicht nur weitgehender Konsens darüber, dass die „physische[n], […] geistige[n] und sittliche[n] Charaktereigenthümlichkeiten der Nationalitäten und
für französischer als Zola halten konnte (vgl. Nietzsche an August Strindberg, 27. November 1887, Nr. 1160, KGB III 5.494). Tobias Dahlkvist formuliert dazu: „Strindberg scheint in dem Maße ‚französisch‘ zu sein, wie seine Werke Nietzsches Gedanken widerspiegeln“ (Dahlkvist, Nietzsche und Strindberg, S. 101). Zum Alkoholkonsum der Deutschen vgl. auch NL 1880, 7[188], KSA 9.356.
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Stämme“ für die „Selbstmordfrequenz“ entscheidend seien,254 und dass die „germanischen Länder“ (zu denen auch die skandinavischen gerechnet wurden) besonders zu Selbstmord neigten,255 sondern sie verifizierte auch statistisch Nietzsches Behauptung, die Deutschen wiesen unter allen Völkern, jedenfalls allen europäischen,256 die höchste Selbstmordrate auf: Kamen um 1860 auf je eine Million Menschen in den skandinavischen Ländern 126 Selbstmorde, in deutschen Ländern 112,257 hatte sich nach Untersuchungen Morsellis das Verhältnis an der Spitze der Statistik 1875 umgekehrt: 150 bzw. 165 Selbstmorde unter einer Million Nord- bzw. Süddeutschen standen nun 127,8 unter ebenso vielen Skandinaviern gegenüber.258
Oettingen, Die Moralstatistik 1882 (BN), S. 760. An gleicher Stelle bemerkt Oettingen: „Wir können diesen Gedanken auch so ausdrücken: bei gleicher Disposition im Grossen und Ganzen, bei allgemeiner Zugänglichkeit für die Neigung zum Selbstmorde müssen unter heterogenen Völkerstämmen ganz verschiedene oder dieselben Ursachen in ungleichem Grade als Präservativ gegen die Ausführung des Selbstmords in Wirksamkeit sein.“ Dass sich der Band von Oettingen in der 3. Aufl. von 1882 in Nietzsches Bibliothek findet, zeigt, dass er sich für den Forschungsstand zum Thema in der Tat interessierte. Für seine Notizen aus den Jahren 1880/81 kann diese Auflage freilich nicht die Quelle sein. Die zitierten Passagen finden sich jedoch bereits in der 2. Aufl. des Werkes von 1874 (Die Moralstatistik 1874, S. 710). In Oettingens Sinn äußern sich bereits 1864 Wagner, Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkührlichen menschlichen Handlungen, S. 162, sowie 1879 Morselli, Il Suicidio, dt. Ausgabe von 1881: Morselli, Der Selbstmord, S. 99‒117. Zwar hält Morselli ausdrücklich fest, der Gedanke, „dass es Eigenthümlichkeiten der Bevölkerungen hinsichtlich des Selbstmordes gebe“, entspreche „durchaus dem Ergebniss der statistischen Prüfung“ (S. 100) – unumstritten war diese Ansicht dennoch nicht: Legoyt, Le suicide ancien et moderne, äußerte sich 1881 scharf kritisch namentlich gegen Morsellis Betonung des Rasseeinflusses und legte am Beispiel des Vielvölkerstaats Österreich nahe, es sei methodisch geboten, alle Unterschiede in der Selbstmordrate der verschiedenen Länder statt auf den abstrakten, spekulativen Gesichtspunkt der Rasse auf andere, klarer definierbare Faktoren zurückzuführen: „Si, en Autriche, par exemple, des diverses nationalités dont se compose l’Empire, la nationalité allemande est celle qui fournit le plus de suicides, faut-il ne voir, dans ce fait, qu’une influence de race? Mais ne sait-on pas que les provinces allemandes de l’autriche sont les plus éclairées, les plus industrieuses, les plus entreprenantes, et qu’elles subissent ainsi, plus fortement que les autres, le choc des crises industrielles.“ (S. 200) Vgl. Oettingen, Die Moralstatistik 1874, S. 709, der bereits vor Veröffentlichung der Statistiken, die Deutschland an der Spitze sehen, lapidar festhält: „Es ist bekannt, dass die germanischen Länder die stärkste Selbstmordfrequenz zeigen.“ Die außereuropäischen Völker werden in den meisten Untersuchungen nicht berücksichtigt. Oettingen, Die Moralstatistik 1874, S. 710, und Oettingen, Die Moralstatistik 1882 (BN), S. 760. Die Österreicher rechnet Oettingen zu den „Slaven“ (Die Moralstatistik 1882 (BN), S. 760). Morselli, Der Selbstmord, S. 103. Anders als Oettingen rechnet Morselli die Österreicher zu den Deutschen. – Die statistischen Entwicklungen wurden in der deutschen Öffentlichkeit mit Beunruhigung aufgenommen. Vgl. dazu die Vorbemerkung des anonymen Herausgebers von Morselli, Der Selbstmord, der von der „grosse[n] und allgemeine[n] Aufmerksamkeit“ spricht, „welche die Frage des Selbstmordes gerade gegenwärtig in Anspruch nimmt“ (S. IX).
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3.2.2 Nietzsches persönliche Erfahrungen als Grundlage seiner Analyse der deutschen Selbstmordneigung Die Ursachen, die Nietzsche für die deutsche Selbstmordneigung anführt, decken sich hingegen keineswegs uneingeschränkt mit den diesbezüglichen Auffassungen der zeitgenössischen Forschung. Während die These eines Zusammenhangs zwischen Alkoholismus und Selbstmord damals sehr verbreitet war,259 finden Nietzsches Erwägungen über die Rolle von Musik und geistiger Schwerfälligkeit in der Fachliteratur keine Entsprechung,260 sondern sind vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen zu sehen, die er nun auf die Selbstmordstatistiken projizierte. Seine eigenen Idiosynkrasien gegenüber den Deutschen werden so zu Krankheitssymptomen der Deutschen selbst erhoben.
3.2.2.1 Alkohol und Nationalismus: Nietzsches Burschenschaftserfahrung Das trifft, trotz der Gängigkeit des Motivs,261 sicher auch für seine Betonung der negativen Wirkungen des Alkohols auf die geistige und körperliche Gesundheit der Deutschen zu. Nietzsche war dem Alkoholkonsum gegenüber eher kritisch einge-
Vgl. Art. Selbstmord, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 18, Sp. 316 f., der davon ausgeht, dass „Trunksucht“ unter den „Beweggründe[n]“ zum Selbstmord neben „geschlechtliche[r] Unsittlichkeit“ eine herausgehobene Stellung gebühre (Sp. 316). Vgl. auch die nachfolgende Anmerkung. Oettingen, Die Moralstatistik 1874, S. 728, nennt als statistisch erhobenes Hauptmotiv mit deutlichem Abstand „ G e i s t e s k r a n k h e i t “ (33,3 % der Fälle), sodann „zerrüttete[ ] Ve r m ö g e n s v e r h ä l t n i s s e “ (12,9 %), „ l a s t e r h a f t e s L e b e n (Trunk-, Spielsucht, Lüderlichkeit etc.)“ (11,9 %), „ k ö r p e r l i c h e [ ] Leiden“ (11,4 %), „ Z a n k in den Familien“ (9,8 %), „ F u r c h t vor Strafe“ (9,8 %), „ L e b e n s ü b e r d r u s s “ (5,4 %), „ L e i d e n s c h a f t e n (heftiger Zorn, Verzweiflung, Eifersucht, Ehrgeiz, unglückliche Liebe)“ (3,6 %), „ Ku m m e r über A n d e r e “ (1,2 %) sowie „[a]llgemeine U n z u f r i e d e n h e i t m i t d e r L a g e “ (0,8 %). Morsellis Aufstellung stimmt damit bei Abweichungen im Einzelnen weitgehend überein (Der Selbstmord, S. 256). Nicht als Auslöser, aber als tiefer liegender Faktor wird auch die Religion wiederholt diskutiert. Namentlich in Bezug auf den Anstieg der Selbstmordrate in Deutschland erwägt Oettingen in der 3. Aufl. seines Buches, die Nietzsche späterhin besaß, die Rolle des Protestantismus (Oettingen, Die Moralstatistik 1882 (BN), S. 761). Gerade dieser Zusammenhang von Religion und Selbstmord wird von Nietzsche hier und auch später jedoch nicht explizit in Bezug auf die Deutschen geltend gemacht. Oettingen legte die hohe Selbstmordrate in ‚germanischen Ländern‘ gar noch zugunsten derselben aus: „der Germane mit seiner Hochcultur und seinem tief innerlichen Gemüthsleben, der Protestant mit seiner Neigung zum Zweifel und zur Selbstkritik [trägt] auch eine grössere Selbstmordgefahr in sich […], als der leichtlebige sanguinische Romane […]. Wo viel Licht, da ist eben um so tieferer Schatten.“ (Oettingen, Die Moralstatistik 1882 (BN), S. 762) Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 397, hebt hervor, dass „[s]chon Tacitus […] die Alkoholfreude der Germanen betont“. Nietzsche, der im NL 1885, 43[3], KSA 11.702, ausdrücklich auf das Germanen-Bild des Tacitus hinweist, war dies sicher bewusst.
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stellt.262 Es war durchaus nicht so, dass er Alkohol vollkommen mied – erst im Spätwerk finden sich Wortmeldungen, die auf einen streng antialkoholischen Standpunkt hindeuten (auch dort mit Bezug auf die Deutschen).263 Noch 1885 berichtete er hingegen Elisabeth: Ich gestehe, daß ich eine überraschend wohlthätige Wirkung gespürt habe, seit ich jeden Abend mit einem Glase Bier beschließe. Gerade in solchen stimulanten Klimaten [Nietzsche schreibt aus Nizza] scheint das Bier wie ein Medikament zu dienen. (23. November 1885, Nr. 646, KGB III 3.110)
Übermäßiger Alkoholkonsum wurde von ihm jedoch abgelehnt. Das zeigt sich bereits früh, während seiner Mitgliedschaft in der Bonner Burschenschaft Franconia. Er beteiligte sich zunächst an deren Trinkgelagen, distanzierte sich aber bald davon: „Ich gestehe Dir sehr gern“, schrieb er Carl von Gersdorff am 27. Mai 1865 (Nr. 467, KGB I 2.55), „daß mir der Ausdruck der Geselligkeit auf den Kneipabenden oft im hohen Maße missbehagte, daß ich einzelne Individuen ihres Biermaterialismus wegen kaum ausstehn konnte […].“264 Den Zusammenhang zwischen Trunksucht und nationalistischer Seligkeit, mit dem er schon in der Burschenschaft konfrontiert worden war,265 stellte er spätestens 1880 explizit her, als er unter dem Stichwort „Alcohol“ notierte, „die Deutschen“ wollten „Politik lieber als Arbeit“ und seien „Sklaven des nationalen Dünkels“ (NL 1880, 7[188], KSA 9.356). Wenn nun nicht nur, wie Nietzsche mit der Forschung annahm, zwischen Alkohol und Selbstmord eine Verbindung bestand, sondern zudem, wie er glaubte, zwischen Alkohol und Nationalismus, so war auch eine mögliche Verbindung zwischen Selbstmord und Nationalismus nicht von der Hand zu weisen. Daher konnte Nietzsche den deutschen Alkoholkonsum, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts tatsächlich stark angestiegen war,266 als Bedingung für den Nationalismus mit seinen Dennoch setzte er sich mit dem Thema Trunkenheit unabhängig von seinem Problem mit den Deutschen philosophisch durchaus differenziert auseinander. Vgl. Brusotti, Opfer und Macht, bes. S. 227‒230, hier S. 228: Nietzsche zufolge sei aus der „religiöse[n] Auslegung“ des „physiologische[n] Phänomen[s]“ der Trunkenheit „der ganze Dionysismus“ entsprungen. Vgl. z.B. EH klug 1, KSA 6.280: „Alkoholika sind mir nachtheilig; ein Glas Wein oder Bier des Tags reicht vollkommen aus, mir aus dem Leben ein „Jammerthal“ zu machen, – in München leben meine Antipoden.“ S. auch 3.2.3.1. Vgl. auch den Brief an Raimund Granier, zweite Septemberhälfte 1865, Nr. 479, KGB I 2.83. Vgl. zum Thema ferner Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 139 f. und 159 f., sowie Schmidt, Auf der Suche nach dem Humanum, S. 204 f. Der deutsche Nationalismus hatte in den Burschenschaften bereits früh eine institutionalisierte Form gefunden. Vgl. Jansen / Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 44, und Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 353‒366, 390‒394. Nach Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866‒1918, Bd. 1, S. 129 f., stieg der Alkoholverbrauch von 6,4 Litern reinem Alkohol pro Kopf im Jahr 1850 auf 10,5 Liter pro Kopf 1874 und blieb in den nächsten Jahrzehnten relativ konstant auf diesem hohen Niveau. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts sank er allmählich wieder. Freilich betont Nipperdey, dass „[d]as Trinken“ gerade „in den Mittelschichten“, auf die sich Nietzsches Erfahrungen vordringlich beschränkten und bezogen, „mit der Disziplinierung der Vitalität im Bürgertum, dem Ideal der Respektabilität und auch der anstei-
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metaphysisch fundierten, das Denken einengenden Vorurteilen verstehen, der im gleichen Zeitraum ebenfalls ein kritisches Niveau erreichte.267
3.2.2.2 Nietzsches Erörterung der Folgen des deutschen Musikkonsums als Auseinandersetzung mit den Folgen des eigenen 3.2.2.2.1 Wagner Offenkundiger sind die persönlichen Hintergründe von Nietzsches Pathologisierung der Deutschen bei seiner Behauptung, auch die musikalischen Vorlieben der Deutschen wären eine Prädisposition zum Selbstmord. Denn wenn er für sich notierte, die Krankhaftigkeit der deutschen Musik, in der die „allgemeine Schwäche“ der Deutschen sich widerspiegele, drücke sich in ihrem „unendlich[en] Herumschweifen der Seele nach Emotionen“, in ihrer „äußerste[n] Nervosität“ aus (NL 1880, 7[216], KSA 9.362),268 so war dies ein klarer Verweis auf das Musikdrama Wagners mit seiner ‚unendlichen Melodie‘. Von seinen Charakteren, namentlich Wotan, notierte sich Nietzsche tatsächlich, sie litten „an der Schwäche des deutschen Charakters, […] zu vielerlei und nichts völlig bestimmt“ zu wollen (NL 1880/ 81, 8[110], KSA 9.406).269 Auch mit seiner Kritik am „übermässige[n] Gebrauch der Musik“ in Deutschland als Teil der Rauschzustände, auf die sich der Deutsche „versteht“ (M 207), spielt Nietzsche auf Wagner an. Dies mag freilich auf den ersten Blick unwahrscheinlich wirken: Immerhin notierte sich Nietzsche kurz zuvor, Wagners „Spiel“, seine Kunst bei den Deutschen durch Betonung ihrer Deutschheit in Ruhm zu bringen, sei, gerade weil es „noch nie so offen gespielt worden“ sei wie von ihm, „bis jetzt nicht gelungen“ (NL 1880, 5[35], KSA 9.188).270 Aber, und das ist entscheidend, Wagners Einschmeichelei bei den Deutschen war nur teilweise misslungen, wie Nietzsche im nächsten Notat sogleich einräumt: Auch wenn Wagner „bis jetzt dem Volke nicht lieb wurde“, war er anderen Kreisen in Deutschland längst umso lieber geworden: „einer Klasse von Vornehmen und Überbildeten“ (5[36], KSA 9.189). Wenn Nietzsche in M 207 den „übermässige[n] Gebrauch der Musik und der geistigen Getränke“ unter Deutschen kritisierte, so bezog er sich
genden bürgerlichen Kaffee- und Teekultur im 19. Jahrhundert […] schon etwas zurückgedrängt und […] stärker bei den Unterschichten verbreitet“ war (S. 129). Vgl. 1. Laut Jansen / Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, S. 77, lassen sich seit den 1860er Jahren „Strukturen einer Massenbewegung“ erkennen, die sich von da an bis zum Höhepunkt im Vorfeld des Ersten Weltkriegs immer stärker und umfassender organisiert. Vgl. auch NL 1880/81, 8[28], KSA 9.388 f.: „sie [die Deutschen] machen Musik, nicht um eine Passion zu ertragen und sich zu erleichtern, sondern um sich a u f z u r e g e n ! ! ! Deshalb brauchen sie die leidenschaftlichste Musik.“ Vgl. auch Nietzsches Notat über die „widerliche Beschränktheit der Anhänger Wagners, welche aus jeder Schwäche ihres Meisters ein Dogma und eine Aufforderung machten, daß hier jeder schwach sein solle“ (NL 1880, 4[214], KSA 9.153 f.). Noch in WA lobte er die Deutschen dafür, Wagner so lange widerstanden zu haben (Nachschrift, KSA 6.40 f.).
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gerade auf diese „Klasse von Vornehmen und Überbildeten“: auf das deutsche Bildungsbürgertum, d.h. diejenige Bevölkerungsschicht, in der er selbst verkehrte und auf die seine Analysen über die Deutschen folglich in erster Linie rekurrierten. Ein Jahr später, im Aphorismus FW 86, nimmt Nietzsche die Gesichtspunkte seiner Pathologie des Deutschen aus M 207 auf und spielt, wenn auch ohne Namensnennung, offensichtlich nochmals auf besagte ge- bzw. überbildete Deutsche an: Von „Menschen des Alltags der Seele“ ist da die Rede, die „Theater und Musik“, „Getränk und Trunkenheit“ benötigen, weil sie „des Denkens und der Leidenschaft nicht fähig sind – aber des R a u s c h e s ! “271 Wenn sich Nietzsche aber in M 207 auf das deutsche Bildungsbürgertum bezieht, so bezieht sich seine Kritik an dessen „übermässige[m] Gebrauch der Musik“ offenbar auf die bildungsbürgerliche Wagner-Begeisterung, von der er im Notat 5[36] berichtet und die er am eigenen Leib erfahren hatte. So wird auch der Vorwurf des ‚übermäßigen‘ Musikkonsums verständlich, der zunächst keinen Sinn zu ergeben scheint: Es gab keinen vernünftigen Grund, anzunehmen, dass sie mehr Musik als andere Völker hörten oder etwa in Gestalt der Hausmusik mehr musizierten, oder dass Musik in ihrer Gesellschaft überhaupt eine größere Rolle zukam als anderswo. Im Gegenteil: Sie hatten zwar, auch im 19. Jahrhundert, viele berühmte Musiker und Komponisten hervorgebracht und besaßen mit Leipzig eine bedeutende Musikstadt, dennoch hatte zumal der institutionalisierte Musikbetrieb sein Zentrum nicht in Deutschland, eher schon in Österreich (Wien) und natürlich Frankreich: In Paris, der Welthauptstadt der Musik, geriet so manche Oper zu einem gesellschaftlichen Ereignis ersten Ranges, das den Alltag buchstäblich aus dem Tritt brachte. Das zeigen namentlich die Uraufführungen von Meyerbeers drei Großen Opern Robert le Diable (1831), Les Huguenots (1836) und Le Prophète (1849).272 Vor diesem Hintergrund scheint Nietz Später, in FW Vorrede 4, nimmt er diesen Gedankengang nochmals auf, unter Bezug auf den „„gebildete[n] Mensch[en]““, wie er ihn vor allem im deutschen Gelehrten repräsentiert sah. Vgl. zu Robert le Diable Heinrich Heine, Französische Zustände. Artikel V. Paris, 25. März 1832, in: HHW, Bd. 4, S. 429‒446, bes. S. 431 f., der insbesondere auf die Verbindung der künstlerischen Kraft der Oper mit ihrer gesellschaftlich-symbolischen Bedeutung im Kontext der damaligen politischen Entwicklungen in Frankreich verweist. Durch diese Konvergenz hätte Robert in Paris eine nie dagewesene Wirkung erreicht. Mit Les Huguenots überbot Meyerbeer diesen Erfolg nochmals. „Meyerbeer machte die Oper als Gattung zum Mittelpunkt aller Tagesereignisse wie nie zuvor und wie niemals später mehr. Mit welcher Ungeduld und Aufmerksamkeit die Vorbereitungen zur Premiere öffentlich verfolgt wurden, verrät ein Stimmungsbericht im ‚Journal des Débats‘ vom 18. Jan. 1836: ‚Noch kurze Zeit und Meyerbeers neue Oper wird der Öffentlichkeit übergeben, die begierig auf neue Sensationen wartet. Alle bereiten sich auf die Premiere vor, die jedermann herbeisehnt…‘ […] Nach der Uraufführung hatte Paris und somit die europäische Opernbühne ihre Sensation. Die Grand Opéra wurde zum Zentrum des geistigen Gesprächs. Kaum eine Persönlichkeit von Rang, die nicht irgendwie Stellung nahm […]“ (Becker, Vorwort [zu MBT, Bd. 3], S. 6). Zu Le Prophète vgl. Jackson, Giacomo Meyerbeer, S. 1, die über Meyerbeers Opern schreibt: „their extraordinary success was indicated by an inquorate French National Assembly on the evening of the premiere of Meyerbeer’s third Parisian opera, Le Prophète, in spite of the seriousness of that evening’s debate. This trumped its predecessor’s premiere, Les Huguenots, when fashionable society delayed leaving Paris for the country.“
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sches Behauptung, dass speziell die Deutschen übermäßig von der Musik Gebrauch machten, schlicht abwegig zu sein. Bezieht man sie aber spezifisch auf Wagners Opern und die Minderheit gebildeter Deutscher, die seinerzeit den Kreis ihrer Verehrer bildeten, ergibt sie plötzlich durchaus Sinn: Versteht man mit Nietzsche Wagners Opern als Betäubungsmittel („Was auf jetzige Deutsche wie b e r a u s c h e n d wirkt, das sehe man aus den Themata W〈agner〉s“, NL 1880, 4[270], KSA 9.167) und rechnet ihre erhebliche Länge und besonders die kumulative Länge des Rings hinzu, an deren Folgen Nietzsche während der ersten Bayreuther Festspiele selbst schwer zu tragen gehabt hatte,273 liegt die Vorstellung einer Art WagnerÜberdosis durchaus nahe. Im erhitzten Ton von EH MA 3 wird Nietzsche diesen Gesichtspunkt so ausdrücken: „In Deutschland“ verlangten viele „junge Männer“, die zu einer „instinktwidrig gewählten Thätigkeit“ gedrängt worden waren und folglich „unter einer unabwerfbar gewordnen Last“ hinsiechten, „nach Wagner als nach einem O p i a t , – sie vergessen sich, sie werden sich einen Augenblick los… Was sage ich! f ü n f b i s s e c h s S t u n d e n ! –“ Nietzsche, der, ohne dies anzustreben, mit 24 Jahren auf Initiative Friedrich Ritschls direkt nach seinem Studium in Leipzig zum Professor in Basel berufen worden war, wo er in Wagners Musik Entlastung von den Mühen des Lehralltags suchte, verarbeitete auch hier sichtlich seine eigene Vergangenheit. Was Nietzsche unter dem Schlagwort „übermässige[r] Gebrauch der Musik“ in M 207 als ‚typisch‘ deutsch bestimmte, traf nicht von ungefähr nur auf eine Minderheit der Deutschen zu. Wenn er sich mit den Deutschen auseinandersetzte, ging es ihm regelmäßig nicht um diejenigen, die er im Notat 5[36] als „Volk[ ]“ anspricht (Bauern, Arbeiter etc.), sondern um das deutsche Bildungsbürgertum (Akademiker, Geistliche, Beamte), um das gesellschaftliche Umfeld, dem er selbst entstammte und dessen tradierten Bahnen er lange Jahre, letztlich bis zur faktischen Niederlegung seiner Professur 1879, gefolgt war. Mit der Pathologisierung des deutschen Musikkonsums grenzte sich Nietzsche folglich nicht nur von den Deutschen ab, sondern machte mindestens ebenso sehr die Brüchigkeit dieser Abgrenzung sichtbar: Er war nicht nur selbst einer jener wenigen, dafür umso glühenderen Verehrer von Wagners Musik gewesen, sondern ist von ihr auch nie ganz losgekommen. Obwohl er ihr Krankhaftigkeit zuschrieb, bestritt er ihre Größe selbst nach seinem Bruch mit Wagner nie, und noch im Winter 1886/87 ist er vom Parsifal-Vorspiel, als er es in Monte Carlo zum ersten Mal hört, überwältigt: „rein ästhetisch gefragt: hat Wagner je Etwas b e s s e r gemacht?“ (an Heinrich Köselitz, 21. Januar 1887, Nr. 793, KGB III 5.12)274 Es mag daher kein Zufall sein, dass der Bezug des schon Vgl. Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner, S. 90 f., und 1.3.2.3. Vgl. auch den Bericht über die für Nietzsche zermürbenden Proben zur Götterdämmerung Ende Juli 1876 bei Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 712‒714. Zu Nietzsches Überwältigung durch das Parsifal-Vorspiel vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 504‒508, bes. 504: „Sein entschiedenes Urteil über Wagners Musik und insbesondere seinen Parsifal scheint dem Parsifal-Vorspiel nicht standgehalten zu haben, seine ‚physiologischen Einwände‘ sanken unter der Erschütterung zusammen, die es in ihm auslöste.“
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zitierten Notats 7[216] (KSA 9.362) aus dem Jahr 1880 letztlich offenbleibt: Meinte Nietzsche mit dem Ausspruch „ W i r leiden daran, hinterdrein.“, dass er an der „allgemeinen Schwäche“, die sich in der zeitgenössischen deutschen Musik ausdrücke, in dem Sinne litt, ihre Folgen (Mittelmäßigkeit, Nationalismus, Antisemitismus) nicht zu ertragen und folglich Deutschland und die Deutschen fliehen zu müssen? Oder meinte er, dass er selbst jene „Schwäche“ ebenfalls in sich spürte? Womöglich traf beides zu. Der Unterschied zwischen ihm und den Deutschen läge so nur im Grad des Bewusstseins von der Gefährlichkeit von Wagners Musik und der physisch-psychischen Dispositionen, in deren Dunstkreis sie sich entwickelte.275 Noch in seiner Distanzierung von den Deutschen und ihrer Krankhaftigkeit legte Nietzsche offen, dass er ihre Krankhaftigkeit teilte, ja dass sie wesentlich seine war.
3.2.2.2.2 Schumann Dass in JGB 245 ausgerechnet der romantische Komponist Robert Schumann unter der Hand als Beispiel für den in Deutschland so verhängnisvoll wütenden Wirkzusammenhang von Alkohol, Musik und Lebensmüdigkeit bzw. Krankhaftigkeit erscheint, bestätigt dies abermals. Nietzsche sagt dort von Schumann, er habe einen „unter Deutschen doppelt gefährlichen Hang zur […] Trunkenboldigkeit des Gefühls“ gehabt. Gerade darum sei er, anders als Beethoven, Mozart oder Mendelssohn, „nur noch ein d e u t s c h e s Ereigniss in der Musik“ gewesen.276 In dieser Als Nietzsche ein Jahr später in Monte Carlo wiederum ein Konzert besuchte, meldeten sich, so Stegmaier, die „physiologischen Einwände“ wieder, „nun gegen die Wagner-Nachfolger. Physiologische Einwände sind naturgemäß von wechselnden physiologischen Zuständen abhängig, können also ihrerseits wechseln.“ (S. 506) Dass Nietzsche Wagners Musik im Notat 7[216] als charakteristisch für die deutsche „Schwäche“ ausgeben konnte und zugleich längst erkannt hatte und wiederholt eingestehen würde, dass sie ihrer Genese nach kosmopolitisch war, scheint freilich ein Widerspruch zu sein. Er löst sich auf, bedenkt man, dass die Grenzen zwischen ‚deutsch‘ und ‚nicht deutsch‘ gerade nach Nietzsche nicht mehr streng zu ziehen, dass deutsch ein diffuser Begriff und letztlich nur im europäischen Kontext seiner Genese nach hinreichend zu verstehen war. Sein typisierender Begriff des Deutschen war insofern immer schon an das Nicht-Deutsche, Europäische rückgebunden, als er eben nicht an sich von ihm getrennt, sondern als Sonde, als verdichtende Verkörperung der abendländischen Krisis im Ganzen zu verstehen war. Vgl. auch Adolf Ruthardts Bericht über sein Gespräch mit Nietzsche in Sils im August 1885, zitiert in Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 395 f.: Nietzsche habe sich, so Ruthardt, bei ihm nach dem Grund für die Schumann-Vorliebe seiner Schülerin Zina Fürstin von Mansuroff erkundigt. „Ich antwortete: ‚Das Musikempfinden dieser Russin ist durch und durch deutsch – – –‘. ‚Deutsch‘, unterbrach mich Nietzsche, ‚Deutsch, das ist es eben im Sinne einer nach innen gekehrten Gefühlsduselei und des Versenkens in eine persönliche, kleinbürgerliche, klebrige Gefühlsschwelgerei, welche die Menschheit recht gleichgültig läßt. Schumann war gewiß eine ehrliche Natur und ein großes Talent, jedoch kein Segen für die Tonkunst im allgemeinen, geschweige für die deutsche Musik im besonderen. Das versteckende Insichhinein ist sogar gefährlich, nicht minder gefährlich als das schauspielerische Aussichheraus Richard Wagners.‘“
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metaphorischen Assoziation des deutschen Gefühlslebens mit Alkoholrausch ist auch eine Anspielung auf die Folge des starken deutschen Alkoholkonsums, nämlich die Prädisposition zum Selbstmord, verborgen. Dies wird zumal mit Blick auf die Biographie des Komponisten deutlich: Schumann hatte ein ernstes Alkoholproblem. 1840 war ihm im Gerichtsstreit um die Erteilung des Ehekonsenses von Clara Wiecks Vater Friedrich sogar Trunksucht vorgeworfen (jedoch nicht nachgewiesen) worden. Und, wie zur Bestätigung des von Nietzsche angenommenen Krankheitskomplexes von Alkoholismus und Selbstmord, stürzte er sich tatsächlich 1854 in Selbstmordabsicht in den Rhein und verbrachte seine letzten Jahre auf eigenen Wunsch in einer Nervenheilanstalt.277 So erscheint Schumann in JGB als leibhaftiger Beweis für Goethes berühmtes und durchaus mit Nietzsches Auffassung übereinstimmendes Diktum, das Romantische sei das Kranke.278 Doch genau diesen Schumann hatte Nietzsche einst hoch geschätzt,279 und auch später haben seine Kompositionen immer eine Nähe zu Schumanns bewahrt.280 Eben weil Nietzsche dies wusste, mussten seine Angriffe auf den „süsslichen Sachsen“ (EH klug 4), den mit seiner 1872er Manfred-Meditation281 widerlegt zu haben Nietzsche 1888 nochmals bekräftigte,282 umso schärfer ausfallen: Nietzsche hat sich wiederholt von denen am lautesten und energischsten distanziert, die ihm am nächsten stan-
Vgl. dazu Edler / Draheim / Knechtges-Obrecht / Klassen, Art. Schumann, Sp. 266 und 277‒ 279. Schumanns Alkoholproblem ist wiederholt auch von ihm selbst dokumentiert worden, vgl. dazu Daverio, Robert Schumann, S. 163, 169, 172 u.ö. Nur nebenbei sei bemerkt, dass der in Zwickau geborene Schumann statistisch nicht nur als Deutscher, sondern speziell als Sachse einem erhöhten Selbstmordrisiko unterlag, da die Sachsen zeitgenössischen Forschungen zufolge unter Deutschen die weitaus höchste Suizidrate aufwiesen (vgl. Oettingen, Die Moralstatistik 1874, S. 711 f.; Oettingen, Die Moralstatistik 1882 (BN), S. 758 f., und Morselli, Der Selbstmord, S. 103). Ob Nietzsche dies bewusst war, muss jedoch offenbleiben. Nietzsches komplexe Beziehung zur Romantik, die sich nicht auf ein klares Für oder Wider reduzieren lässt, ist in der Forschung seit jeher stark diskutiert worden. Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 472‒474. Über Nietzsches anfängliche Hochschätzung Schumanns und ihre Verkehrung ins Negative im Zeichen seiner Wagnereuphorie vgl. Janz, Friedrich Nietzsches Verhältnis zur Musik seiner Zeit, S. 319‒321. Zur frühen Schumann-Verehrung ferner Prange, Was Nietzsche Ever a True Wagnerian?, S. 44 und 48. Dazu Janz, Die Kompositionen Friedrich Nietzsches, S. 184. Lemco, Nietzsche and Schumann, bes. S. 45‒54, vermutet sogar, Schumanns „musically miniature style“ (S. 45) habe Nietzsches aphoristischen Denkstil beeinflusst. Vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 477‒483, hier S. 477: „Er [Nietzsche] negiert den früher so hochverehrten Schumann und dessen Manfred-Musik, die er musikalisch, mit dieser Komposition, widerlegen will […].“ Janz befasst sich auch ausführlich mit Hans von Bülows scharf ablehnender Reaktion auf Nietzsches Komposition. S. dazu ferner: Janz, Nietzsches Manfred-Meditation. Dabei schreckte Nietzsche nicht davor zurück, von Bülows ehedem ausgesprochenes vernichtendes Urteil zu seinem Vorteil auszulegen: „Ich habe eigens, aus Ingrimm gegen diesen süsslichen Sachsen, eine Gegenouvertüre zum Manfred componirt, von der Hans von Bülow sagte, dergleichen habe er nie auf Notenpapier gesehn: das sei Nothzucht an der Euterpe.“ (EH klug 4)
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den.283 Nietzsches Verhältnis zu Schumann und generell zur deutschen Romantik und allen, die er dazu rechnete – vor allem natürlich Schopenhauer und Wagner (vgl. FW 370) –, kann darum als eine Art Selbstverleugnung Nietzsches gesehen werden: In seinen postwagnerschen Schriften strebte er immer dem Ideal des Klassischen, als dem eigentlich Gesunden, nach, entpuppte sich aber gerade in dieser Idealisierung des Klassischen als Romantiker. Diese Selbstverleugnung gilt dann analog auch für sein Verhältnis zu den Deutschen insgesamt.
3.2.2.3 Die Selbstmorde in Nietzsches Familie und Nietzsches eigene Auseinandersetzung mit der Option des Selbstmords als Ausweg aus seinen Leiden Auch die starke Neigung der Deutschen zum Selbstmord trennte sie und ihn nicht, einte sie vielmehr. Das kann zunächst mit Blick auf Nietzsches eigene Familie gesagt werden, in der sich binnen weniger Jahre zwei Selbstmorde ereigneten: der seines Cousins Gustav Knieling im April 1879284 und der Theobald Oehlers, seines Onkels mütterlicherseits, im Sommer 1881.285 Besonders Nietzsches Reaktion auf die Nachricht vom Tod Knielings ist aufschlussreich. Sie erreicht ihn wenige Monate, bevor er sich in seinen privaten Notizen mit der Selbstmordthematik intensiv zu befassen beginnt: Wagner ist nur das bekannteste Beispiel dafür. Weitere wären Spinoza, Herder, Dühring und auch Herbert Spencer (vgl. zu Spinoza Rupschus / Stegmaier, „Inconsequenz Spinoza’s“?, S. 307 f.; zu Herder Bertino, ‚Vernatürlichung‘, passim; zu Dühring und Spencer Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 34 f., 130‒137). Die Liste ließe sich fortsetzen. Obwohl der Nachbericht, KGB II 7/3,1.378, betont, „die näheren Umstände“ von Knielings Tod seien „nicht geklärt“, geht Nietzsche in seinem Brief an Mutter und Schwester vom 12. April 1879, Nr. 839, KGB II 5.406 f., offenbar von einem Selbstmord aus, ohne ihn beim Namen zu nennen. Franziskas und Elisabeths Briefe, in denen er vom Tod seines Cousins erfuhr, sind nicht überliefert. Vgl. den Brief an Mutter und Schwester vom 9. Juli 1881, Nr. 125, KGB III 1.102: „Er hat den Tod dem Irrenhause vorgezogen und wahrscheinlich klug daran gethan.“ Seine Familie versuchte allerdings, den Selbstmord zu vertuschen und als Badeunfall auszugeben, was Nietzsche in einem späteren Brief mit den ironisch akzentuierten Worten quittierte: „Ja so klingt es wahrscheinlicher: der arme Th〈eobald〉 hat im Zustande der Gemüthserregung ein Bad nehmen wollen (um sich zu beruhigen), und dabei traf ihn der Schlag. Das kommt oft, oft vor!“ (an Franziska Nietzsche, 13. Juli 1881, Nr. 126, KGB III 1.104, vgl. auch den Nachbericht, KGB III 7/1.120) Es ist auffällig, dass Nietzsche in Brief Nr. 125 Selbstmord nun auch mit Geisteskrankheit in Verbindung bringt und auch in Zukunft, wie sich etwa bei seiner Bewertung Schumanns bereits zeigte, in Verbindung bringen wird, anders als in M 207 und den vorbereitenden Notaten über die deutsche Selbstmordneigung. Obwohl auch andere Forscher Geisteskrankheit als bedeutsamen Einflussfaktor sahen (vgl. z.B. Oettingen, Die Moralstatistik 1874, S. 728, und dazu 3.2.2), ist dies vermutlich ein Ertrag seiner intensiven Auseinandersetzung mit Henry Maudsleys Die Zurechnungsfähigkeit des Geisteskranken, die, nach dem Befund Brusottis (Die Leidenschaft der Erkenntnis, S. 392), in der Tat erst 1881 erfolgte und zur Überarbeitung von mehreren Aphorismen der im Juni dieses Jahres veröffentlichten M führte – M 207 war nicht darunter (vgl. den Nachbericht, KGW V 3.166). Zu Nietzsches MaudsleyLektüre vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, S. 389‒404.
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Die Nachricht von dem Tode G〈ustav〉 K〈nieling〉’s überraschte mich: aber mehr weil ich ihn für zu schwach hielt, so zu enden. Menschen mit schwachem Character und dabei sehr begehrlich (wie er) leben ein allzu elendes Dasein: das Gefühl davon giebt ihnen zuletzt einmal den Muth zum Äussersten. (an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 12. April 1879, Nr. 839, KGB II 5.406 f.)
Mit der Rede vom „schwachen Character“ reiht Nietzsche seinen Verwandten ein in die Riege der ‚typischen‘ Deutschen. Entgegen seiner wenig später entwickelten Gedanken zur deutschen Selbstmordneigung geht er hier jedoch noch davon aus, dass gerade die Schwäche des Charakters vom Selbstmord abhalte. Selbstmord erscheint als eine Tat der Stärke, nicht als aus Trägheit unterlassene Selbsterhaltung. Die Selbstmordstatistiken, in denen die ‚schwachen‘ Deutschen ganz oben standen, mögen zum Umdenken Nietzsches beigetragen haben. Denn der „Muth zum Äussersten“ (KGB II 5.407) bedurfte im Falle der Deutschen ganz spezieller Voraussetzungen, wie Nietzsche dann in M 207 schrieb, und blieb auch, wenn sie gegeben waren, unwahrscheinlich: Ein Deutscher ist grosser Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie thut: denn er gehorcht, w o e r k a n n , wie diess einem an sich trägen Geiste wohlthut. Wird er in die Noth gebracht, allein zu stehen und seine Trägheit abzuwerfen, ist es ihm nicht mehr möglich, als Ziffer in einer Summe unterzuducken […] – so entdeckt er seine Kräfte: dann wird er gefährlich, böse, tief, verwegen, und bringt den Schatz von schlafender Energie an’s Licht, den er in sich trägt und an den sonst Niemand (und er selber nicht) glaubte. Wenn ein Deutscher sich in solchem Falle selbst gehorcht – es ist die grosse Ausnahme –, so geschieht es mit der gleichen Schwerfälligkeit, Unerbittlichkeit und Dauer, mit der er sonst seinem Fürsten, seinen amtlichen Obliegenheiten gehorcht: sodass er, wie gesagt, dann grossen Dingen gewachsen ist, die zu dem „schwachen Charakter“, den er bei sich voraussetzt, in gar keinem Verhältniss stehen.
Nietzsches seit 1880 veränderte Deutung des Selbstmordes wird vor diesem Hintergrund verständlich: Wenn die Deutschen zu entschlossenen Taten kaum einmal zu bewegen waren, so war es angesichts der Höhe der Selbstmordrate unter ihnen kaum plausibel, dass Selbstmord ein Zeichen der Stärke und des Mutes sein sollte. Wahrscheinlicher war da schon die gegenteilige Interpretation: dass der deutsche „Hang zum Selbstmord“ ein „Zeichen von Schwerfälligkeit des Geistes“ war, „der schnell dazu gebracht werden kann, die Zügel wegzuwerfen“ (M 207). Diese Annahme wurde zudem auch von Nietzsches eigener Auseinandersetzung mit der Option des Selbstmords als Ausweg aus der „ f ü r c h t e r l i c h e n L a s t “ seiner Existenz bestätigt. Er hätte sie „längst von [sich] abgeworfen“, berichtete er wenige Monate nach dem Tod Knielings dem Arzt Otto Eiser, „wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte“ (Anfang Januar 1880, Nr. 1, KGB III 1.3). Demnach teilte Nietzsche durchaus den „Hang zum Selbstmord“ (M 207) – war insofern abermals ‚typisch‘ deutsch –, suchte aber dennoch nicht den Freitod. Stattdessen machte er die Anfechtungen,
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die sein Körper ihm stellte, philosophisch fruchtbar, und konnte auf diese Weise, im Sinne der großen Gesundheit, von sich sagen, „[i]m Ganzen“ sei er „glücklicher als je in meinem Leben“.286 Die Deutschen hingegen brachten den Willen zu diesen schrecklichen, aber lohnenden Experimenten nicht auf. Sie waren in ihrer Trägheit unfähig, ihrer Existenz selbst einen Sinn zu verleihen, und warfen sie weg. So gesehen waren sie wiederum ein Gegenbild zu Nietzsche – oder schienen es auf den ersten Blick zu sein. Denn tatsächlich hatte er gerade mit seinem „Sieg über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit“ (an Otto Eiser, Anfang Januar 1880, Nr. 1, KGB III 1.3) exakt jene ‚großen Dinge‘ getan, zu denen die Deutschen nach M 207 in seltenen, unwahrscheinlichen Fällen fähig sind: Rastlos von Ort zu Ort ziehend, mit dem unendlichen Kampf gegen seine rätselhaften körperlichen Beschwerden weitgehend auf sich gestellt, mit seinen Ansichten isoliert, war niemand anders als er selbst es, dem es „nicht mehr möglich [war], als Ziffer in einer Summe unterzuducken“, der „seine Kräfte“ „entdeckt[e]“, „gefährlich, böse, tief, verwegen“ wurde – und sich über die Moral erhob: wenn der Deutsche in den Zustand geräth, wo er grosser Dinge fähig ist, so e r h e b t e r s i c h a l l e m a l ü b e r d i e M o r a l ! Und wie sollte er nicht? Jetzt muss er etwas Neues thun, nämlich befehlen – sich oder Anderen! Das Befehlen hat ihn aber seine deutsche Moral nicht gelehrt! Das Befehlen ist in ihr vergessen! (M 207)287
In der Charakterisierung dieses unwahrscheinlichen Deutschen, der aus „seine[r] deutschen Moral“ heraus, der einzigen, die er „gelehrt“ worden ist, sich über diese Moral erhob, sie aufhob und, darf man hinzufügen, neue Werte setzte, hat Nietzsche ausgesprochen, was seine Pathologisierung des deutschen Alkohol- und Musikkonsums und seine Analyse der deutschen Selbstmordneigung jeweils indirekt ebenfalls zeigen: Nietzsche, in Deutschland geboren und aufgewachsen, war, mitsamt seiner frühen Philosophie bis zum Bruch mit Wagner,288 selbst ein Kind Vgl. dazu Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, S. 299‒302, der aufzeigt, dass Nietzsche die gegenüber Eiser geäußerten Gedanken später in M 114 verarbeitete. Auch dieser Aphorismus, der uns bereits in anderem Zusammenhang beschäftigt hat (2.2.3.1), hätte damit einen impliziten Bezug zu Nietzsches Problem mit den Deutschen. Vgl. zu Nietzsches Selbstmordgedanken dieser Zeit ferner Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 218 f. – Zu Nietzsches philosophischer Lebensaufgabe, die ihn im wahrsten Sinne des Wortes „am Leben“ erhielt, vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 607 f. Wenn Kaźmierczak, Die religiöse Bedeutung der Widersprüche Nietzsches, gerade diese Passage als Beispiel für Nietzsches „nicht zu unterschätzende Begeisterung für Deutsche“ heranzieht (S. 300), verkennt er, dass es Nietzsche hier wesentlich um sich selbst geht. Auch Schäfer, Satyrspiel, S. 32, will in M 207 eine Verherrlichung der Deutschen entdecken. Dabei übergeht er, dass Nietzsches vermeintlich fatale Prophezeiung, der Deutsche werde sich unter bestimmten Bedingungen über die Moral erheben, gerade nicht eine in den Nationalsozialismus einmündende Anstachelung zu Antisemitismus und Nationalismus meinen konnte – denn Antisemitismus und Nationalismus waren ja längst manifester Teil jener ‚deutschen Moral‘, über die der von Nietzsche mit Blick auf sich selbst beschriebene unwahrscheinliche Deutsche hinausging. Vgl. 1.
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jener von ihm gegeißelten deutschen Neigungen, an denen er so litt. Erst als ein solches Kind war er über sie hinaus gewachsen – blieb somit aber, weil sie seine Entstehungsbedingung waren, zugleich notwendig durch sie geprägt.
3.2.3 Die Entwicklung von Nietzsches persönlicher Diätetik aus seinen Erfahrungen mit ‚deutschem‘ Lebenswandel Von hier aus wird erst vollends verständlich, was Nietzsche in einem rätselhaften Notat im Nachlass 1885, das uns bereits in anderem Zusammenhang begegnet ist, Dionysos hatte sagen lassen: dass er den Vornehmen – Nietzsches ethisches Ideal – hervorbringen wolle, indem er den Deutschen bedenkliche Lebensgewohnheiten eingab: {Die Deutschen, von an deren Vorfahren Niemand den Geist u. die guten Anlagen zu entdecken wußte oder irgend eine Lust am argute loqui}/ Ich habe{n} alles {Jahrtausende lang noch alles} gethan, sie dumm zu machen, ließ sie in Betten schwitzen, gab ihnen Klöse zu fressen, hieß sie trinken, bis sie sanken, machte sie zu Stubenhockern u. Gelehrten, gab ihnen erbärmliche Gefühle einer Bedientenseele ein (NL 1885, 34[181], KSA 11.482 / KGW IX 1, N VII 1.67).289
Wir hatten dies zunächst formal aufgefasst: Nietzsches Leiden an den als ihm gegensätzlich gedachten Deutschen und ihrer aus den genannten Faktoren entspringenden Unvornehmheit, ihrer Unreife auch für seine Philosophie, führt ihn gleichsam zum philosophischen Begriff des Vornehmen, der auch diese Unreife noch gelten lassen kann. Wenn aber Nietzsches Pathologisierung der Deutschen wesentlich Selbstpathologisierung ist, so wäre auch in diesen scharfen Äußerungen, die Nietzsche kurz darauf in überarbeiteter Form nochmals notierte – Die Deutschen, an deren germanischen Vorfahren kein Tacitus den Geist, oder auch nur eine Lust am Geistigen, etwa am argute loqui, zu rühmen wußte, haben […] alles gethan, durch viele Jahrhunderte hindurch, sich dumm zu machen […], in überheißen Betten schwitzen, in dumpfen engen Stuben hocken, lauter Schwerverdauliches wie Klöse und schwere fettige Brühen zu ihren Leibspeisen machen, vor Allem trinken bis sie sanken […]. (NL 1885, 43[3], KSA 11.702)
–, eine Selbstreflexion zu vermuten. In der Tat waren es nicht einfach die Deutschen, die, wie Nietzsche schrieb, durch den genannten Lebenswandel mutwillig „die Thüren auch für das K o m m e n d e s Geistes“ zuschlossen (NL 1885, 43[3], KSA 11.702). Auch Nietzsche selbst, der sich diesen Lebenswandel seit seiner Jugend einverleibt hatte und dessen Gefährlichkeit erst nach und nach erkannte, hatte dies lange Zeit getan: Tägliche
Vgl. dazu 2.2.3.3, mit Blick auf die Differenzen zwischen Montinaris Edition und der differenzierten Transkription in KGW IX 1, N VII 1.67.
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stundenlange Arbeit auf der Schulbank bzw. am Schreibtisch, Grundlage deutscher Bildung und deutscher Gelehrsamkeit, prägte ihn bereits in Schüler- und Studentenzeiten, und strukturierte in Basel weiterhin sein Leben. Wohl auch auf diese langjährigen Erfahrungen, denen er dann seine täglichen stundenlangen Spaziergänge und sein Nomadenleben überhaupt entgegenstellte, bezog sich sein Angriff auf die „dumpfen engen Stuben“, in denen die Deutschen „hocken“. Er bekräftigte damit für sich ein Urteil, das er schon in FW 134 ausgesprochen hatte: „Die deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Wintersiechthum, eingerechnet die Wirkungen der Kellerluft und des Ofengiftes in deutschen Wohnräumen.“290
3.2.3.1 Nietzsches späte Vernunft im Umgang mit der lebensfeindlichen deutschen Ernährung Immer wieder erkannte er einverleibte Angewohnheiten als lebensverneinend. Besonders in der „Frage der Ernährung“ habe er aus seinen Erfahrungen erst „spät „Vernunft“ gelernt“ (EH klug 1, KSA 6.279): Nietzsche hatte von Jugend an Magenund Verdauungsprobleme und unterzog sich über die Jahre vielen verschiedenen, oft diametralen Diäten.291 Gegen die deutsche Küche als solche scheint er lange Zeit dennoch keine Bedenken gehabt zu haben. Lediglich vereinzelte und nicht spezifisch gegen deutsches Essen gerichtete Verstimmungen lassen sich registrieren: So klagte der Schüler am 11. September 1863, „schlechtes Fleisch zu Mittag gehabt“ zu haben (an Elisabeth Nietzsche, Nr. 377, KGB I 1.255), und der Student bekannte, „Ragout lieber als Rinderbraten“ zu essen (an Sophie Ritschl, 2. Juli 1868, Nr. 578, KGB I 2.299). Sieht man von einer randständigen ironischen Anspielung auf das „deutsche[ ] Mittagessen“ in WS 91 ab, begann Nietzsche erst Mitte der 1880er Jahre, die Wirkungen der deutschen Küche als deutscher Küche auf seine Gesundheit zu problematisieren. Erste Hinweise darauf gibt ein Brief vom 13. November 1884292 an Mutter und Schwester aus Mentone, in dem es heißt, in Nizza gebe man ihm „genügend zu essen […], und alles hübsch mager gebraten, –
Vgl. auch NL 1881, 11[274], KSA 9.547: „In den gebildeten Kreisen des Nordens herrscht das W i n t e r -Siechtum. — Vielleicht daß die Öfen eine dauernde Vergiftung herbeiführen! Gegen Franzosen gesehn, erscheint der Deutsche, wie ein verkümmerter Ofenhocker.“ Vgl. dazu ausführlich Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, S. 119‒150. Die Ursache für Nietzsches chronische Magen-Darm-Leiden lasse sich, so Volz, „im einzelnen nicht mit Sicherheit bestimmen, jedoch ist am ehesten das Vorliegen einer chronischen Gastritis anzunehmen“ (S. 144). In jüngster Zeit ist demgegenüber die These aufgestellt worden, dass Nietzsche an der Multisystemerkrankung MELAS gelitten haben könnte, für die er alle Kriterien erfüllt habe, und aus der dann auch seine Magen-Darm-Probleme zu erklären wären (Koszka, MELAS, S. 576 f.; zur MELAS-Diagnose kritisch: Klopstock, Friedrich Nietzsche). Datiert auf 14./15. November, mit Poststempel vom 13. November (vgl. Nachbericht, KGB III 7/ 1.526).
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während hier würtembergisch gekocht wird“ (Nr. 555, KGB III 1.556).293 Am 26. Juni 1885 berichtet er dann Elisabeth über „eine g r o ß e G e s a m m t - C o n s u l t a t i o n über meine Gesundheit mit einem alten Arzte“: In Betreff der Nahrung hat er mir geradezu genau dasselbe v e r b o t e n , was ich mir, auf Grund langer Beobachtung jetzt s e l b e r verbiete (und ohne daß er von Letzterem eine Ahnung hatte), nämlich Kartoffeln [d.h. auch Klöße, die zumal in der Nietzsche besonders vertrauten thüringischen und sächsischen Küche typischerweise aus Kartoffeln hergestellt werden], Kohl, Blumenkohl, Essig, Senf, Pfeffer, Schwarzbrod, Zwiebel, Saucen, alle Suppen, Würste, Käse, alle Liqueure und starken Alcoholica.294 Ich bin im Grunde sehr einfach zu ernähren: nur gerade in Deutschland nicht, wo man nicht versteht, mir mein Fleisch auf dem Rost zu braten. Eier, Reis, Gries, Milch usw., vor Allem aber gutes Fleisch. (Nr. 606, KGB III 3.57)
Die „Klöse und schwere[n] fettige[n] Brühen“ (NL 1885, 43[3], KSA 11.702), aber auch das für seinen Geschmack schlecht zubereitete Fleisch waren spätestens in Schulpforta zu seiner regelmäßigen Kost geworden. Das belegt der Speiseplan, den er am 12. August 1859 in sein Notizbuch übertragen hatte: Der Speisezettet [sic!] für die Woche ist folgendermasen [sic!]: / Montag. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Obst. / Dienstag. Suppe Rindfleisch u. Gemüse Butter / Mittwoch. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Obst / Donnerstag. Suppe, Rindfleisch u. Gemüse, Nierenbraten u. Salat. / Freitag. Suppe, Schweinebraten, Gemüse u. Butter oder Klöse Schweinebraten u. Obst od. Linsen u. Bratwurst u. Butter. / Sonnabend. Suppe Rindfleisch, Gemüse, Obst. (NL 1859, 6[77], KGW I 2.104)
Zu dieser Zeit hatte er jedoch offenbar nichts gegen die ‚deutsche‘ (oder eher thüringisch-sächsische) Küche und gedachte sogar durchaus behaglich des Verzehrs der „berühmten Abiturientenklöse“ (NL 1859, 6[77], KGW I 2.131 f.). Als er 1888 die seit 1884/85 von ihm konstatierten Abgründe der deutschen Küche erstmals im veröffentlichten Werk thematisiert, lesen sich seine Ausführungen dann jedoch fast wie eine Nachschrift des Schulpfortaer Speiseplans: Die Suppe v o r der Mahlzeit (noch in Venetianischen Kochbüchern des 16. Jahrhunderts alla tedesca genannt); die ausgekochten Fleische, die fett und mehlig gemachten Gemüse; die Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer! Rechnet man gar noch die geradezu viehischen Nachguss-Bedürfnisse der alten, durchaus nicht bloss a l t e n Deutschen dazu, so ver-
Die im Nachbericht, KGB III 7/1.527, geäußerte Vermutung, das Prädikat „würtembergisch“ enthalte „hier eine Vorstellung des Kargen und Unzulänglichen“, ist sicher zutreffend, aber nicht erschöpfend, da Nietzsche paradoxerweise zugleich, wie der Hinweis auf das ‚magere‘ Nizzaer Essen zeigt, an fettiges, schweres Essen denkt, wie es in seiner Wertung für die deutsche Küche per se typisch ist. Nach einem Bericht Paul Lanzkys aus dem Jahr 1933, der freilich angesichts der großen zeitlichen Distanz mit umso größerer Vorsicht betrachtet werden muss, hatte Nietzsche noch Ende 1883/Anfang 1884 eine Leidenschaft für Cognac und Eiergrog gehabt (zitiert nach Janz, Nachträge zur Nietzsche-Biographie, S. 430).
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steht man auch die Herkunft des d e u t s c h e n G e i s t e s – aus betrübten Eingeweiden… Der deutsche Geist ist eine Indigestion, er wird mit Nichts fertig. (EH klug 1, KSA 6.279 f.)295
Der Gedanke an eine Anspielung auf seine Schulzeit ist nicht so abwegig, wie es zunächst scheint: Denn kurz darauf bringt Nietzsche die „viehischen NachgussBedürfnisse“ explizit mit seinen Schulpfortaer Jahren in Verbindung: Er berichtet, kleinen Mengen Alkohols gegenüber zeige er zwar eine „extreme Verstimmbarkeit“, bei „ s t a r k e [ n ] Dosen“ hingegen habe er schon als „Schüler der ehrwürdigen Schulpforta“ „Tapferkeit“ bewiesen. Und so könnte auch die Sperrung im Hinweis auf „die geradezu viehischen Nachguss-Bedürfnisse der alten, durchaus nicht bloss a l t e n Deutschen“ nicht auf junge Deutsche im historischen, sondern im adoleszenten Sinn gemünzt sein: Schüler etwa. Dass Nietzsche Tapferkeit im Alkoholkonsum bewies, wie er behauptete,296 war freilich eine zweischneidige Bemerkung: „[M]anche Speisen“, hatte Nietzsche sich übereinstimmend vorab notiert, „enthalten Offenbarungen über etwas, woraus wir herkommen. Wie viel Geheimniß steckt zum Beispiel in der Correlation der deutschen Knödel und des deutschen „kindlichen Gemüthes“! … Wenn man erstere im Leibe hat, regt sich sofort das Letztere: man beginnt zu a h n e n! … Oh wie fern man alsbald vom „Verstand der Verständigen“ ist!“ (NL 1888, 14[43], KSA 13.239) Vgl. dazu den Brief Reinhart von Seydlitz’ vom 6. März 1887, Nr. 441, KGB III 6.31, in dem dieser, ganz im Sinne Nietzsches, das Verlangen nach einer „Kur“ äußert und sich dabei der ‚deutschen Knödel‘ als diätetischer Metapher bedient: „Hier unter der Nation misrathner Knödel und dem ganzen schief aufgegangnen Teige germanischer Rasse, wird es mir nach und nach bange; ich bedarf entschieden einer Kur, aus Licht, Farbe und Linie bestehend.“ Nietzsche nimmt auf den „lustige[n] Brief“ in einer Postkarte an Köselitz vom 10. März 1887, Nr. 816, KGB III 5.43, Bezug. Er hatte schon zuvor mit von Seydlitz, der in München lebte, über „die verhängnißvollen Einwirkungen des bedeckten Himmels, der langen feuchten Kälte, der Nähe von Bajovaren und von bairischem Bier“ korrespondiert (24. Februar 1887, Nr. 807, KGB III 5.31). – Bereits Heinrich Heine spricht in seinen Wanderratten von „Suppenlogik mit Knödelgründen“, freilich anders als Nietzsche im Kontext sozialkritischer Überlegungen: „Heut helfen euch nicht die Wortgespinste / Der abgelebten Redekünste. / Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen, / Sie springen über die feinsten Sophismen. // Im hungrigen Magen Eingang finden / Nur Suppenlogik mit Knödelgründen, / Nur Argumente von Rinderbraten, / Begleitet mit Göttinger Wurstzitaten.“ (HHW, Bd. 2, S. 392 f., hier S. 393) Über Nietzsches und Heines Stellung zu den „sozial Unterdrückten“ vgl. mit Bezug auf dieses Gedicht (nicht jedoch auf die hier vordringlich interessierenden ernährungsphysiologischen Gesichtspunkte) Reschke, Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als Franzosen oder wie er sich Heine als Heine sah, S. 87 f., Zitat S. 87. Möglicherweise spielte er an auf Vorkommnisse, die er in einem Brief vom 16. April 1863 (Nr. 350, KGB I 1.236 f.) in zerknirschtem Ton seiner Mutter gestanden hatte: „Wenn ich dir heute schreibe, so ist es mir eins der unangenehmsten und traurigsten Geschäfte, die ich überhaupt gethan habe. Ich habe mich nämlich sehr vergangen und weiß nicht, ob du mir das verzeihen wirst und kannst. […] Ich bin also vorigen Sonntag betrunken gewesen und habe auch keine Entschuldigung weiter, als daß ich nicht weiß, was ich vertragen kann und den Nachmittag gerade etwas aufgeregt war. Wie ich zurückkam, bin ich von Ob〈er〉l〈ehrer〉 Kern dabei gefasst worden, der mich dann Dienstag in die Synode citieren ließ, wo ich zum Dritten meiner Ordnung herabgesetzt und mir eine Stunde des Sonntagsspaziergangs entzogen wurde. Daß ich sehr niedergeschlagen und verstimmt bin, kannst du dir denken und zwar mit am meisten, daß ich dir solchen Kummer bereite durch eine so unwürdige Geschichte, wie sie mir noch nie in meinem Leben vorgekommen ist. […]
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Nicht umsonst fügt er an, er habe sich später gegen jedes geistige Getränk entschieden. Denn wenn Nietzsche darin und auch im Klößeverzehr und im Bücherstudieren am Schreibtisch Tapferkeit bewies, ohne überhaupt zu merken, dass er sie bewies („ich [war] gerade hier rückständig bis zur Heiligkeit“, „ich [begriff] dies ein wenig spät“), so hieß dies zunächst ja nur, dass er die gewohnten Bahnen weiterverfolgte, weil er noch nicht verstand, dass sie ihm schädlich waren. Wirklich setzt sich im Studium fort, was in der Schule begann: Er ließ sich – mit der thüringischen im Übrigen eng verwandte – „Leipziger Küche“ auftischen, er saß weiter in der ‚dumpfen Stube‘. Genau dies waren aber die Grundlagen für jene Verdauungsstörungen, auf die er in EH in ungeheuer radikaler und in dieser Radikalität offensichtlich unhaltbarer297 Weise die „deutsche Bildung – ihr[en] „Idealismus“ –“ zurückführte. Seine über die Jahre entwickelten Idiosynkrasien gegen deutsche Lebensart lassen ihn seinen gesamten bildungsbürgerlichen Lebenslauf im Rückblick als aus der deutschen Küche entsprungen denken: Diese „Bildung“, welche von vornherein die R e a l i t ä t e n aus den Augen verlieren lehrt, um durchaus problematischen, sogenannten „idealen“ Zielen nachzujagen, zum Beispiel der „klassischen Bildung“: – als ob es nicht von vornherein verurtheilt wäre, „klassisch“ und „deutsch“ in Einen Begriff zu einigen! Mehr noch, es wirkt erheiternd, – man denke sich einmal einen „klassisch gebildeten“ Leipziger! – In der That, ich habe bis zu meinen reifsten Jahren immer nur s c h l e c h t gegessen, – moralisch ausgedrückt „unpersönlich“, „selbstlos“, „altruistisch“, zum Heil der Köche und andrer Mitchristen. Ich verneinte zum Beispiel durch Leipziger Küche, gleichzeitig mit meinem ersten Studium Schopenhauer’s (1865), sehr ernsthaft meinen „Willen zum Leben“. Sich zum Zweck unzureichender Ernährung auch noch den Magen verderben – dies Problem schien mir die genannte Küche zum Verwundern glücklich zu lösen. (EH klug 1, KSA 6.279)298
Schreib mir doch recht bald und recht streng, denn ich verdiene es, und keiner weiß mehr als ich, wie sehr ich es verdiene.“ Sein Bild der deutschen Essgewohnheiten überhaupt ist in mehrerlei Hinsicht ein Zerrbild. Selbst wenn man als Maßstab für Nietzsches Wertung das Essen der Arbeiter anlegt, lässt sich „seit den 70/80er Jahren […] eine entscheidende Verbesserung konstatieren, und die war nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ: Die Nahrung war nährwertreicher, leichter verdaulich, schmackhafter, bei allem Unterschied zum ‚Bürgerlichen‘“ (Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866‒ 1918, Bd. 1, S. 127, Hervorhebung A.R.). Noch deutlicher wird die Diskrepanz zwischen Nietzsches Urteil und der historischen Realität im bürgerlichen Bereich, der hier wie anderswo weit eher seinen Bezugspunkt bilden dürfte als die Land- und Industriearbeiter: Dort spielte zu Nietzsches Zeit „die Verfeinerung des Essens eine große Rolle: Abwechslung und Sortenvielfalt, mehr Zutaten, aufwendigere Zubereitung […], Übernahme englischer und französischer Fleischzubereitung“ (Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866‒1918, Bd. 1, S. 126). Die damit angesprochene Internationalisierung der Küche bestätigt Nietzsches andernorts ausgesprochene Beobachtung, Europa wolle eins werden (JGB 256), die er gerade in seinen zuspitzenden Typisierungen der Deutschen wiederholt bewusst außer Acht ließ. Zur Leipziger Küche vgl. den Brief an seine Mutter vom 20. April 1888, Nr. 1023, KGB III 5.301: „Für eine sehr schmackhafte Mahlzeit zahle ich [in Turin], Alles, selbst Trinkgeld eingerechnet, nach Eurem Gelde eine Mark (– und es schmeckt mir zehn Mal besser als in Leipzig, wo ich Widerwillen vor der Küche habe)“.
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Der deutsche Koch wird hier zum christlichen Koch, das Christentum so scheinbar Gebieter über die deutsche Küche, deutsche Ernährung und christliche Moral fallen in eins. Ein Kausalverhältnis ist damit freilich nicht angezeigt, vielmehr eine Wechselwirkung von Ernährung und Moral, bei der körperliche und geistige Trägheit gerade nicht mehr zu trennen sind. Die Parallelisierung der „Leipziger Küche“ mit dem „ersten Studium Schopenhauer’s“ deutet genau dies an, denn Nietzsche rechnete sein einstiges philosophisches Idol längst zu den erwähnten dem Leben entfremdeten Jägern nach idealen Zielen, nicht zuletzt sofern er eben im Moralischen ein Christ geblieben sei (vgl. FW 357). Und in einem Notat hatte er, in ähnlichem Sinn wie die deutsche Küche und das Christentum, auch Christentum und deutschen Alkoholkonsum zusammengedacht: „wie viel Bier ist wieder in der protestantischen Christlichkeit!“ (NL 1888, 14[45], KSA 13.240) In GD Deutschen 2 hatte er beides schließlich gänzlich parallelisiert: „Aber dies Volk hat sich willkürlich verdummt, seit einem Jahrtausend beinahe: nirgendswo sind die zwei grossen europäischen Narcotica, Alkohol und Christenthum, lasterhafter gemissbraucht worden.“ Ergebnis war der Geist der Schwere im wörtlichen, leiblichen Sinn, der „aller feinen und kühnen Beweglichkeit des Geistes“, aber auch des Körpers ledig war und sich in „unsre[r] verstopfte[n] verstopfende[n] deutsche[n] Musik“ ausdrückte – der Musik Wagners, nach der man, wie Nietzsche bekanntlich feststellte, nicht tanzen könne.299
3.2.3.2 Nietzsches eigene Wanderschaft ohne letztes Ziel als Bedingung für bewegliche Gedanken und Gegenideal zur deutschen ‚Stubenhockerei‘ Wenn Nietzsche den deutschen Geist als „Indigestion“ bezeichnet, weist er ihn zugleich als die extremste Ausgeburt der metaphysischen Tradition abendländischen Denkens aus. Denn wenn „[d]as tempo des Stoffwechsels […] in einem genauen Verhältniss zur Beweglichkeit oder Lahmheit der Fü s s e des Geistes“ steht (EH klug 2), so war der deutsche Geist, wie Nietzsche ihn zuletzt polemisch und auch gegenüber seinem eigenen Denken des Deutschen vergröbernd300 dachte, der Geist des Stillstands, der dem Leben entfremdeten Ideale – Ideale, wie sie die deutschen Gelehrten von ihrem Schreibtisch aus verfolgten: „Das Sitzfleisch – ich sagte es schon einmal301 – die eigentliche S ü n d e wider den heiligen Geist.“ Nietzsche wartete nicht darauf, von dieser Sünde erlöst zu werden – er erlöste sich selbst: So wenig als möglich s i t z e n ; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. (EH klug 1)
Vgl. dazu u.a. JGB 240. Vgl. 4. Vgl. GD Sprüche 34.
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Die Beweglichkeit des Körpers entspricht der der Gedanken – das wurde seine Devise. Das hieß nun folgerichtig, dass man nur Gedanken vertrauen darf, die beweglich, auf Zeit gefasst sind, die immer wieder überdacht, verschoben, neu gedacht, durch andere ersetzt werden können. Gedanken, die nicht zur Ruhe kommen, sind aber heimatlose Gedanken – und so war tägliches Spazierengehen nur eine Bedingung für diese einzig vertrauenswürdige Art von Gedanken. Nicht umsonst setzt Nietzsche dem Spazierengehen und Wandern bewusst das als ‚deutsch‘ apostrophierte Hocken in der Stube entgegen: Denn die „freie[ ] Bewegung“ war auch, aber eben nicht nur im Sinn des Spazierengehens oder Wanderns gemeint. Dieses setzt für sich genommen immer noch einen Ort voraus, von dem aus man aufbricht und zu dem man danach zurückkehrt. Dabei konnte die Wanderung gerade im Deutschland des 19. Jahrhunderts sogar durchaus den Zweck haben, sich an diesem Ort, der Heimat, nach der Heimkehr noch umso heimischer zu fühlen. Ein solches Wandern war in Nietzsches Sinn bloß als Wandern getarntes Hocken in der dumpfen Stube.302 Nietzsche bezog sich daher mit der „frei[en] Bewegung“ auch auf sein rastloses Wandern von Ort zu Ort ohne letztes Ziel, auf der Suche nach dem für die jeweilige Jahreszeit immer wieder neu zu suchenden besten Klima. Wiederum bewusst setzte er diesem idealen Klima das deutsche als per se ungesundes Klima entgegen, das, im Sinne seiner übrigen Kritik, gleichfalls Verdauungsstörungen Vorschub leistete: Eine zur schlechten Gewohnheit gewordne noch so kleine Eingeweide-Trägheit genügt vollständig, um aus einem Genie etwas Mittelmässiges, etwas „Deutsches“ zu machen; das deutsche Klima allein ist ausreichend, um starke und selbst heroisch angelegte Eingeweide zu entmuthigen. (EH klug 2)303
Zu denken ist hier insbesondere an Jahns Idee der ‚vaterländischen Wanderungen‘. Vgl. dazu Cusack, The Wanderer in Nineteenth-Century German Literature, S. 106: „the leaders of the [national] movement, especially Friedrich Ludwig Jahn, advocated pedestrian tours as a means of furthering this political aim [sc. die nationale Einheit], taking the view that these would foster a sense of the essential unity of the German people. These ideas, far from remaining confined to a coterie of nationally minded students and the members of Jahn’s athletics movement, the Turnbewegung, were effectively communicated to the wider populace, with the result that the patriotism became an important motive for domestic tourism.“ Heine, so Cusack weiter (S. 105‒117), habe diesen ‚patriotischen‘ Tourismus in seiner Harzreise karikiert. Darin erweist er sich als ein wichtiger Vorläufer von Nietzsches Projekt der Entdeutschung. Vgl. 2.2.
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3.2.4 Nietzsches Heimatlosigkeit und der Phantomschmerz der verlorenen Illusion einer Heimat Der nicht nur im formalen Sinne staaten- bzw. heimatlose304 Nietzsche war in mehrfacher Hinsicht aus seiner deutschen Heimat ausgewandert: in geographischklimatischer, im Sinne des täglichen Lebensvollzugs und erst unter diesen Bedingungen letztlich auch in gedanklicher Hinsicht, d.h. so, dass diese Heimat für ihn gar nicht mehr existierte.305 Nietzsche konnte nicht mehr in sie zurückkehren, selbst wenn er gewollt hätte, weil es, mit FW 124, „kein „Land“ mehr“ gab und – folglich – auch nie gegeben hatte. Seine Wanderungen hatten ihn nicht nur physisch an zahllose Orte in verschiedenen Ländern, sondern damit auch geistig zu neuen, eben beweglichen Gedanken gebracht, die nicht mehr in irgendeiner Weise durch nationale Traditionen einzuhegen waren, sondern auch diese selbst noch als Fiktionen durchschauten: Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als „moderne Menschen“, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des „historischen Sinns“ zwiefach falsch und unanständig anmuthet. (FW 377)
Vgl. His, Friedrich Nietzsches Heimatlosigkeit, S. 169: Nachdem Nietzsche Ende der 1860er Jahre seine preußische Staatsangehörigkeit niedergelegt hatte, befand er sich, der Schweizer Terminologie nach, tatsächlich im „staatsrechtliche[n] Zustand“ der „Heimatlosigkeit“. Vgl. dazu Parkes, Wanderers in the Shadow of Nihilism, S. 587, der mit Bezug auf FW 377 dem „literal ground of one’s being in the sense of homeland“ das Wandern „as a mode of cultural nomadism“ entgegenstellt. Parkes hat dabei nur Nietzsches kulturelle Nomadenexistenz im Blick, wie sie sich etwa in seinen Lektüren zeigt, nicht seine tatsächliche geographische Heimatlosigkeit. Auch Zittel, Abschied von der Romantik im Gedicht, versteht das Wandern bei Nietzsche in erster Linie als „Wanderer-Metapher“ (S. 205): „Nietzsches Wanderschaft ist eine des Geistes“, heißt es mit Recht (S. 206) – aber sie ist dennoch nicht von seiner physischen Wanderschaft zu trennen. „Wandern und Gehen“ „steht“ nicht nur für „seinen Denkstil“ (S. 205), es prägt ihn auch. Das hat Jung, Nietzsches Philosophie des Wanderers, S. 337, zu Recht hervorgehoben: „Sich den Reichtum perspektivischer Erkenntnis zu erwerben verlangt auch ein Herumgehen, das sich als Bewegungsform in einen vielfältigen Umgang mit Dingen, Menschen, Landschaften übersetzt und an der Fülle der Erscheinungen die Fähigkeit zum wechselnden Blick erprobt.“ Nicht über eine allgemeine Bemerkung zu Nietzsches Wandererleben hinaus gehen Coutinho / Sigurdsson, Wandering Beyond the Bounds, S. 73: „during Nietzsche’s most productive years, he wanders constantly, the epitome of a good European. […] He seeks not only physical health in wandering but also inspiration: a philosophy of health, whose purpose is to overcome the sickly thinking of the spirit that remains confined in the city.“ Im Weiteren denken Coutinho und Sigurdsson Nietzsches Begriff der Heimatlosigkeit von den drei Verwandlungen des Geistes her, die Zarathustra beschreibt (Z I Verwandlungen, KSA 4.29‒31). Weniger Nietzsches eigene Nomadenexistenz als vielmehr seinen (freilich nur aus ihr zu verstehenden) ‚nomadischen‘ Begriff von einem Europa „[w]echselnde[r] Rhythmen“ untersucht Mattenklott, Der „werdende Europäer“ als Nomade (Zitat S. 147).
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Das schloss Anfechtungen nicht aus, wie Nietzsche sie in FW 124, fünf Jahre vor FW 377, beschrieben hatte. FW 124 bleibt ohne expliziten persönlichen Bezug – sehr persönlich ist dagegen das Gedicht „ D e r F r e i g e i s t “ aus dem Nachlass 1884: In FW 124 thematisiert Nietzsche den horror vacui dessen, der einsieht, dass der „Ocean“ „unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit“. Ihn „befällt“ daraufhin „das Land-Heimweh […], als ob dort mehr F r e i h e i t gewesen wäre“, doch er muss feststellen: „es giebt kein „Land“ mehr“. Dieser horror vacui begegnet in „ D e r F r e i g e i s t “ in Form eines Zwiegesprächs, das einen Blick wirft auf Nietzsches eigene Situation eines Menschen, der seiner deutschen Heimat ledig geworden ist: Der Freigeist . Abschied
Antwort .
„Die Krähen schrei’n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n — Wohl dem, der jetzt noch — Heimat hat!
Daß Gott erbarm’! D e r meint, ich sehnte mich zurück In’s deutsche Warm, In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!
Nun stehst du starr, Schaust rückwärts ach! wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt — entflohn?
Mein Freund, was hier Mich hemmt und hält ist d e i n Verstand, Mitleid mit d i r ! Mitleid mit deutschem Quer-Verstand!
Die Welt — ein Thor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt.
NL 1884, 28[64], KSA 11.329 f.
Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. Flieg’, Vogel, schnarr’ Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! — Versteck’, du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn! Die Krähen schrei’n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n, Weh dem, der keine Heimat hat!“
Der in der Heimat Gebliebene warnt den Heimatlosen vor dem heranziehenden Winter, in dem ihm, da er die Heimat verlassen hat, nichts mehr Schutz werde bieten können und dessen Gefahren er daher vollkommen ausgesetzt sein wird. Der Heimatlose hingegen weiß zwar durchaus um die Gefahr seiner eigenen Hei-
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matlosigkeit – ebenso aber weiß er darum, dass der „Halt“, den seine einstige „Heimat“ bot, wenn nicht für alle, so doch für ihn selbst noch gefährlicher ist. Denn die Freiheit, die er nötig hat, die Freiheit des „„offne[n] Meer[s]““ (FW 343), ist im „Stuben-Glück“ der „Heimat“ nicht zu haben. Dieses „Stuben-Glück“ kann dennoch für den „deutsche[n] Querverstand“ gerade die Bedingung seines Maßes an Freiheit sein, weil er auf der „Winter-Wanderschaft“ durch „tausend Wüsten“ umkäme. Bindungen des Denkens wie der Nationalismus mit seiner Heimat-Idylle, die dem einen so viel Freiheit einräumen, wie er gerade noch aushält, können den anderen durch die engen Grenzen, die sie ihm auferlegen, zu Grunde richten. Ein solcher Mensch hat die Heimatlosigkeit nötig – er findet Halt nicht auch im Haltlosen, sondern nur im Haltlosen.306 Der Spott des Freigeists über die Warnungen des Daheimgebliebenen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Warner und Gewarnter nicht zwei Personen sind. Nietzsche führt in „ D e r F r e i g e i s t “ ein Gespräch mit sich selbst: Der erste Teil des Gedichts ist eine durchaus ernst zu nehmende Erzählung vom Verlust jener Bindungen, die Nietzsche einst einen tragfesten Halt zu versprechen schienen. War dieser Halt auch eine Illusion, konnte sich das Bedürfnis nach ihm gleichwohl weiterhin von Zeit zu Zeit einstellen, gerade angesichts der Gefährlichkeit der Heimatlosigkeit. Die überspannte Bejahung dieser Gefahr seitens des Freigeists Nietzsche („Daß Gott erbarm’! / D e r meint, ich sehnte mich zurück“) und der aggressive Spott auf den Daheimgebliebenen in Form einer Parodie der Mitleidsmoral behaupten mehr eine Leichtigkeit im Umgang mit dieser Not, als dass sie sie einlösten: Halt in sich selbst, in der eigenen Leichtigkeit zu finden ist schwer, es erfordert „Lernen und Einüben“ und wird nicht immer gelingen.307 Nietzsche wusste das gut und gestand es wenige Jahre später in JGB 241 freimütig ein: „Wir „guten Europäer“: auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten […].“ Nur das gestattet man sich ab und an, was man sich eigentlich versagt, und man müsste es sich nicht gestatten, wenn man es nicht nötig hätte.308 Was sich Nietzsche kurz zuvor in JGB 240 gestattet hatte, war jedoch Diesen paradoxen Halt bestimmt Nietzsche, in der Formulierung Werner Stegmaiers, in FW 377 zunächst als „Halt an einem Gegenglauben“, der „nicht ein Glaube an etwas [ist] – außer an die Möglichkeit seiner eigenen Selbstüberwindung“ (Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 551, 569). So ist er ein Halt in sich selbst, „in der eigenen Leichtigkeit“ (S. 569), wie Nietzsche dann in FW 380 ausführt. Stegmaier hat beide Aphorismen eindringlich im Zusammenhang interpretiert (Nietzsches Befreiung der Philosophie, Kapitel 18, „Halt im Haltlosen“, S. 539‒575). Vgl. zu Nietzsches Konzeption eines Halts in sich auch Bertino, „Vernatürlichung“, S. 312: „Nietzsches Herausforderung besteht vor allem darin, ein Ideal voller lebendiger Widersprüche zu leben, das illusionäre Festlegungen wie den Nationalismus […] zurücklässt und Halt nur noch in der eigenen Verantwortung zum eigenen Handeln erwartet.“ Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 574. Angesichts dieses unverblümten Eingeständnisses, zuweilen von „atavistische[n] Anfällen von Vaterländerei und Schollenkleberei“ angewandelt zu werden (JGB 241), kann der Behauptung von Parkes nicht recht gegeben werden, dass „in Beyond Good and Evil the good Europeans are characterised as being too reasonable to succumb to ‚atavistic attacks of fatherlandishness and soil
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keineswegs ein Loblied auf die Deutschen oder eine Reprise alter Träume deutscher Größe: Es war, anhand des Vorspiels zu den Meistersingern, eine kritische, differenzierte Reflexion über die Deutschen und ihren spezifischen Charakter, „von Vorgestern und von Übermorgen“ zu sein, „ n o c h k e i n H e u t e “ zu haben.309 Nietzsche lag es fern, dieses ‚Dazwischensein‘, das das Deutsche als „Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches“ auswies, zu verherrlichen. Er wies vielmehr auf seine Zweischneidigkeit hin („das hat Feuer und Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, die zu spät reif werden“), die sich sowohl „im besten“ wie „im schlimmsten Sinn“ auswirken könne. Diese Reflexion über Gefahren und Potentiale des deutschen Charakters, die für Nietzsches Auseinandersetzung mit den Deutschen insgesamt und besonders in JGB charakteristisch ist, macht Nietzsche durch sein Bekenntnis zum „Rückfall“ in die deutsche „Enge“ in JGB 241 auch zum Gegenstand der Selbstkritik: Schon wer das Problem mit den Deutschen hatte, wer es ernst nahm, machte sich der Beschränkung des Blickwinkels schuldig, indem er ihm eine Wichtigkeit zuwies, die die anderer Probleme überstieg.
3.2.5 Der gute Deutsche, der gute Europäer und das Ende der Frage „Was ist deutsch?“ In JGB 244 kommt Nietzsche nochmals in aller selbstkritischen Härte auf dieses Dilemma zu sprechen. Er schreibt dort, es kennzeichne „die Deutschen, dass bei ihnen die Frage „was ist deutsch?“ niemals ausstirbt“. Das ist nicht bloß die Wiederholung der bereits bekannten Kritik an der Wagnerschen Frage, sondern ein Selbstbekenntnis:310 Indem Nietzsche es für ein Kennzeichen der Deutschen addiction‘“ (Parkes, Wanderers in the Shadow of Nihilism, S. 586, vgl. auch S. 589). Treffend ist hingegen die Analyse von Bertino, „Vernatürlichung“, S. 309, der gute Europäer sei „im Bedürfnis nach Halt, das auch er hat, immer auch in Gefahr, z. B. in einen Nationalismus zurückzufallen – vor dem ihn dann wieder seine ‚Rechtschaffenheit‘ bewahrt“. Dies kann noch weiter präzisiert werden: Die Rechtschaffenheit (vgl. FW 377) schützt den guten Europäer nicht von vornherein davor, in beschränkte Gefilde wie den Nationalismus zurückzufallen, wohl aber befähigt sie dazu, schnell wieder aus ihnen heraus und erneut Halt in sich selbst zu finden – statt, wie „dumpfe zögernde Rassen“ (Nietzsche denkt sichtlich an die Deutschen), dazu „halbe Jahrhunderte nöthig“ zu haben (JGB 241). Strauss, Studies in Platonic Political Philosophy, S. 190, und mit Bezug auf ihn Lampert, Nietzsche’s Task, S. 245, haben darauf hingewiesen, dass Nietzsche sich hier auf Heinrich Heines dritten Brief Über die französische Bühne bezogen haben könnte: „diese [die Franzosen] begreifen nicht die Gefühlsweise eines Volkes, das nur ein Gestern und ein Morgen, aber kein Heute hat, das sich der Vergangenheit beständig erinnert und die Zukunft beständig ahnet, aber die Gegenwart nimmermehr zu fassen weiß, in der Liebe wie in der Politik.“ (Über die französische Bühne, Dritter Brief, in: HHW, Bd. 6, S. 21‒27, hier S. 27) Darauf hat bereits Merlio, Nietzsche et les Allemands, S. 18, hingewiesen: „Nietzsche est profondément allemand parce qu’il ne cesse en effet de se la [d.i. die Frage ‚Was ist deutsch?‘] poser.“ Auf das damit angezeigte Dilemma, sich gerade durch den Versuch einer Bestimmung des
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erklärte, nach dem Deutschen zu fragen, entlarvte er sich als Deutscher – denn kaum ein Zeitgenosse hatte diese Frage mit größerer Beharrlichkeit gestellt als er und würde sie weiter stellen. Aber bereits dass er die Frage nach den Deutschen stellte, und sei es, um scharfe Kritik an ihnen zu üben, implizierte, dass das Deutsche etwas ganz Besonderes sei. Sogar der „Zweifel“ daran, dass man „die Deutschen mit Auszeichnung „tief“ […] nennen“ könne und die Befürchtung, es handele sich bei dieser „deutsche[n] Tiefe […] im Grunde [um] etwas Anderes und Schlimmeres“, war schon „beinahe zeitgemäss und patriotisch“ (JGB 244). So entpuppte sich Nietzsche in seinen eigenen Augen als Mensch des beschränkten Horizonts, als ‚typischer‘ Deutscher, d.h. als Gegenteil dessen, was er sein wollte, ein ‚guter Deutscher‘ bzw. ein ‚guter Europäer‘. Nietzsches Begriff des guten Europäers ist mit dem des guten Deutschen (und dessen Synonym, dem Überdeutschen) eng verwandt.311 Beide werden von Nietzsche im Zusammenhang mit seiner Loslösung vom Ideal deutscher Kultur gebildet: Nachdem Nietzsche in WB den guten Deutschen, der hier „gute[r] und grosse[r] Deutsche[r]“ heißt, zur Erläuterung des Begriffs „ ü b e r d e u t s c h“ eingeführt hat (WB 10, KSA 1.505),312 erscheint der Begriff des guten Europäers erstmals in MA I 475: „ g u t e [ ] E u r o p ä e r “ arbeiten „durch die That an der Verschmelzung der Nationen“, „wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, D o l m e t s c h e r u n d Ve r m i t t l e r d e r Vö l k e r zu sein, mitzuhelfen vermögen.“ Nietzsche nutzt den Begriff des guten Europäers hier, um unter der Hand seinen Appell an die Deutschen aus VM 323 vorwegzunehmen, sich als „ g u t e Deutsche“ zu erweisen und ihre „deutschen Eigenschaften“ zu überwinden.313 Und in WS 87 wiederholt er diesen Appell an seine Landsleute wiederum im Namen der „guten Europäer[ ]“: „Desshalb muss jetzt ein Jeder, der gut europäisch gesinnt ist, g u t u n d i m m e r b e s s e r s c h r e i b e n lernen: es hilft Nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist […].“314 So wäre ein guter Deutscher zugleich ein guter Europäer, und Nietzsche notierte sich dies 1884 auch explizit:
Deutschen, der zur Abgrenzung von den Deutschen nötig war, immer schon als ‚deutsch‘ zu erweisen, geht Merlio nicht ein. Bereits Niemeyer, Art. „guter Europäer“, S. 153, hat festgehalten, dass „diese Denkfigur [des guten Europäers] […] im engen Kontext mit N.s (zunehmend von Distanz und Kritik bestimmter) Lesart der Vokabel deutsch gesehen werden muss“. – Zum Begriff des Überdeutschen vgl. 1.3.2.3 und 1.3.2.5. In einer Vorstufe nennt Nietzsche ihn bereits schlicht den „guten Deutschen“ (NL 1875/76, 14[4], KSA 8.274). Im NL 1880, 7[14], KSA 9.319, würde er in ähnlichem Zusammenhang wie in MA I 475 den Begriff „gute Europäer“ durch „die ganz unbedenklich guten Deutschen“ ersetzen, „welche produktiv“ und „ Ve r m i t t l e r gewesen [sind]“ und „europäisch gearbeitet“ haben. Vgl. zu WS 87 Bertino, „Vernatürlichung“, S. 301: „Der gute Europäer, ein kulturelles Ideal mit politischen Implikationen, ist ein guter Kommunikator; er weiß den Nationalismus durch Kommunikation zu untergraben und zu überwinden“.
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Er [Schopenhauer] ist einer der bestg e b i l d e t e n Deutschen, das will sagen ein E u r o p ä e r. Ein g u t e r Deutscher – man verzeihe mir’s, wenn ich es zehnmal wiederhole – ist kein Deutscher mehr. (NL 1884, 26[412], KSA 11.261)
Dieses Notat macht verständlich, warum Nietzsche nur den guten Europäer, nicht aber den guten Deutschen zum philosophischen Schlagwort der Überwindung „nationale[r] Herzenskrätze“ (FW 377) erhob:315 Wer ein guter Deutscher ist, ist eben kein Deutscher mehr – so sollte man ihn auch nicht mehr einen Deutschen nennen. Der gute Deutsche ist der beschränktere Begriff, ihm ist selbst noch die nationale Perspektive eigen, die er überwinden will. Er ist in diesem Sinn ein Zugeständnis an Nietzsches Bedürfnis nach einem zeitweiligen Halt in der Deutschtümelei. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er ihn relativ selten benutzt: Von den im Ganzen neun Verwendungen lassen sich nur sieben dem überschreitenden Sinn der Entdeutschung zuordnen.316 Von diesen sieben Stellen wiederum finden sich
Die guten Europäer sind Nietzsche zufolge die sichtbaren Zeichen dafür, dass Europa im Grunde „ E i n s w e r d e n w i l l “, mithin der Beweis, dass der „Nationalitäts-Wahnsinn“ nur „krankhafte Entfremdung“ ist (JGB 256). Der antinationalistische Impetus des Begriffs ist in der Forschung gründlich herausgearbeitet worden. Witzler, Europa im Denken Nietzsches, S. 198‒212, entwickelt ihn vornehmlich an ‚guten Europäern‘ französischer Provenienz. Venturelli, Die gaya scienza der „guten Europäer“, S. 195, arbeitet heraus: „Ganz sicher ist für den guten Europäer kennzeichnend, dass er sich der nationalistischen Zersplitterung des europäischen Kontinents und der sinnlosen Verschwendung wirtschaftlicher und sozialer Ressourcen widersetzt, zu der die Rüstungspolitik der verschiedenen europäischen Staaten und besonders Deutschlands unweigerlich führt.“ Venturelli betont zudem, dass der „gute Europäer der Fröhlichen Wissenschaft“, da es ihm um eine „höhere Synthese zu tun“ sei, „notwendigerweise jenseits der Entgegensetzung von deutscher und französischer Kultur“ stehe (S. 197). Gerade darin geht er, könnte man ergänzen, über den Begriff des guten Deutschen hinaus. Ein solcher guter Europäer würde sich sichtlich nicht dem Unternehmen verschreiben, „an overarching idea of Europe with fixed attributes“ zu konzipieren, wie Elbe, Europe, S. 89, richtig herausstellt. Denn dies würde seine Heimatlosigkeit bereits wieder konterkarieren. Wenn aber, wie Elbe weiter ausführt, zur „liberation from past constraints of European culture“ „a European rather than a national response“ benötigt wird (S. 107), stellt sich die Frage, ob der gute Europäer seine Grenze und Beschränktheit letztlich im eigenen Europäischsein finde. Doch der gute Europäer wäre keiner, wenn er nicht auch über Europa hinaus zu gehen versuchte: „Der ‚ g u t e E u r o p ä e r ‘ geht über Europa und seine Moralität hinaus, um auch zu ihr einen Spielraum zu gewinnen, um auch sie kritisch sehen zu können, um auch an sie nicht einfach glauben zu müssen. Er hat in ihr wohl seine Heimat, will aber auch in ihr heimatlos, auch und gerade für sie ein Tauwind werden, der ihr zerbrechliches Eis zerbrechen lässt.“ (Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 569, vgl. auch S. 570‒574 und Schirmacher, Wie eurozentrisch ist Nietzsche?, bes. S. 187) WS 146 („Wem es an gründlichem Wissen gebricht, der mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben. Denn der gute Deutsche sagt da nicht: „er ist unwissend“, sondern: „er ist von zweifelhaftem Charakter.““) und FW 104 („Aber sobald er [der preußische Offizier] spricht und sich bewegt, ist er die unbescheidenste und geschmackwidrigste Figur im alten Europa – sich selber unbewusst, ohne allen Zweifel! Und auch den guten Deutschen unbewusst, die in ihm den Mann der ersten und vornehmsten Gesellschaft anstaunen und sich gerne „den Ton von ihm angeben“ lassen.“) fallen hier heraus: In beiden Aphorismen scheint Nietzsche den ‚guten Deutschen‘ eher
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vier im Nachlass,317 sind also Zeugnis seines Ringens mit sich selbst und den eigenen Nöten, auch dem Bedürfnis nach ‚Vaterländerei‘, von dem er sich lösen wollte. Von diesem Primat des privaten Gebrauchs zeugt auch, dass der Begriff des guten Deutschen nicht mehr fällt, als Nietzsche in FW 357 die Gedanken veröffentlicht, die er bereits in 26[412] mit Blick auf den guten Deutschen entworfen hatte: „Aber er [Schopenhauer] hat die Frage [sc. ob das Dasein überhaupt einen Sinn habe] g e s t e l l t – als ein guter Europäer, wie gesagt, und n i c h t als Deutscher.“ Dennoch kam Nietzsche vom Begriff des guten Deutschen nicht ganz los, verwendete ihn zuletzt, wiederum im Kontext einer ‚heiteren Deutschtümelei‘, in der Vorrede der M, in der er sich auch als „späte[n] Deutsche[n] in jedem Betrachte“ bezeichnet (M Vorrede 3). So beschrieb sich Nietzsche im Bemühen um Abgrenzung von den Deutschen immer wieder als Deutscher von exzeptioneller Stellung, als Deutscher, der sein eigenes Deutschsein kritisch reflektiert hatte.318 Damit aber bleibt nach wie vor die Frage offen, wann Nietzsche seine „atavistische[n] Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei“ (JGB 241) je abgelegt hätte, wenn diese bereits in der bloßen Frage nach dem Deutschen, sei es nach dem ‚typischen‘ oder dem ‚guten‘ Deutschen, bestanden. Die Antwort konnte nur lauten: erst wenn die Frage nach dem Deutschen, die sich ihm durch sein Leiden an den Deutschen zu stellen begonnen hatte, sich für ihn erübrigt hätte, wenn die Deutschen für ihn kein Problem mehr wären, wenn er sich nicht mehr wünschte, „meinen Z〈arathustra〉 nicht deutsch geschrieben zu haben“ (NL 1887, 9[188], KSA 12.450). Ob dies möglich war, musste sich zeigen.
3.3 Nietzsches Auseinandersetzung mit der deutschen ‚Widerspruchs-Natur‘ als autogenealogische Reflexion Nietzsches Versuch, aus dem Deutschen auszubrechen, trieb seine Philosophie buchstäblich in immer neue Höhen der Selbstreflexion. Diese dialektische Struktur bestimmt auch inhaltlich seine Auseinandersetzung mit den Deutschen und ihrer Geschichte. Nicht umsonst korreliert die „Widerspruchs-Natur“ (JGB 244), die Nietzsche den Deutschen zuschreibt, exakt seinem widersprüchlichen Verhältnis zu ihnen. Wie er deutsch und überdeutsch ist, so sind es die Deutschen insgesamt. In Nietzsches Augen ist die Widersprüchlichkeit der Deutschen, ihre Doppelgesichtigkeit von Deutschsein und Überdeutschsein, auf ihn selbst übergegangen: In ihm setzt sie sich in gesteigerter Form fort und findet ihren Höhepunkt.
im Sinn seines Spottnamens von den ‚lieben Deutschen‘ zu gebrauchen (vgl. Z IV Begrüssung, KSA 4.350; NL 1885, 41[2]3, KSA 11.671; NL 1888, 15[99], KSA 13.465). NL 1875/76, 14[4], KSA 8.274; NL 1880, 7[14], KSA 9.319; NL 1884, 26[377 und 412], KSA 11.250 und 261. Vgl. auch den Brief an Malwida von Meysenbug, Ende Juli 1888, Nr. 1078, KGB III 5.378.
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3.3.1 Zur Genealogie des ‚Volks der Mitte‘: Die Bedingungen der deutschen ‚Widerspruchs-Natur‘ Kann in Nietzsches Philosophie überhaupt noch sinnvoll von einem Volk, das „widerspruchsvoller“ als andere Völker ist (JGB 244), geredet werden? Immerhin folgt aus seinem nicht essentialistischen Volks- oder Rassebegriff,319 dass jedes Volk in gewissem Grade widersprüchlich sein muss, da es sich nur über relative kulturelle Ähnlichkeiten zwischen Individuen konstituiert. Nietzsche gibt dies auch ausdrücklich zu: Jedes Volk bemerke an sich Widersprüche und Unberechenbarkeiten, die Deutschen wundern sich nur mehr über sich als andere: „die Deutschen [sind] unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind“ (Kursivierung A.R.). Dennoch attestiert Nietzsche dem „Chaos“ „der deutschen Seele“ in JGB 244 eine eigene Qualität, die nicht nur auf einer ‚subjektiven‘ Selbstwahrnehmung der Deutschen beruht: Angesichts der Undefinierbarkeit der Deutschen seien sie „die Verzweiflung der Franzosen“; vor ihren „Räthseln“ blieben die „Ausländer […] erstaunt und angezogen [stehen]“. JGB 244 ist nicht nur einer der gewichtigsten Aphorismen, die Nietzsche den Deutschen gewidmet hat,320 sondern auch einer der schillerndsten, dunkelsten, die er je geschrieben hat. Man wird dies bei ihm, dem großen Künstler philosophischer Schriftstellerei, nicht für eine Nachlässigkeit halten, vielmehr für die bewusste Entscheidung, die Rätselhaftigkeit der Deutschen, von der der Aphorismus handelt, in seiner schriftstellerischen Form zu reflektieren: Der Text besteht, nach einer kurzen Einleitung, in der Nietzsche ankündigt, „ein wenig Vivisektion der deutschen Seele“ betreiben zu wollen, um „über die deutsche Tiefe“ umzulernen, aus Vgl. 1.3.2.2 und 1.3.2.5. Gerd Schank zufolge verwendet Nietzsche das Wort „Rasse“ überwiegend (und auch in Bezug auf die ‚deutsche Rasse‘) synonym mit „Volk“ oder mit „Stand“. Obgleich er sich häufig biologischer Metaphorik bedient, wenn er von „Rasse“ spricht, ist die Stoßrichtung des Begriffs keineswegs in erster Linie eine biologische, sondern eine soziale und kulturelle: „längerer Aufenthalt in einer bestimmten ‚Umgebung‘ führt zur Herausbildung spezifischer sozialer und kultureller Einheiten: Völker, Stände“ („Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 147‒149, hier S. 147, vgl. auch S. 227 f. und 261 f., sowie über die Deutschen S. 93‒106, bes. S. 94 und 101, zur synonymen Verwendung von ‚deutscher Rasse‘ und ‚deutschem Volk‘). Vgl. zum Begriff der Rasse bei Nietzsche auch Günzel, Art. Rasse, S. 304, der Nietzsches Begriff der Rasse „im Geistigen“ fundiert sieht, d.h. „in der Zielgebundenheit und in der Gemeinschaft“, und Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 364, der betont, Nietzsche gebrauche den Begriff „noch unbefangen“. Das gilt nicht nur für JGB oder dessen achtes Hauptstück, Völker und Vaterländer, in dem die Deutschen ohnehin fast allgegenwärtig sind, sondern für sein gesamtes Werk. JGB 244 ist völlig auf das Problem des Deutschen fokussiert; der Begriff „deutsch“ und seine Derivate finden sich hier auf drei Seiten 38-mal – ein einsamer Rekord sogar bei Nietzsche. Andere hervorstechende und umfangreiche Aphorismen zum Thema, wie M 207 oder FW 357, bleiben dahinter zurück (24 bzw. 32 Verwendungen). Selbst GD Deutschen verzeichnet, obwohl mehr als doppelt so lang, mit 44 Verwendungen des Begriffsfeldes im Ganzen kaum mehr als JGB 244.
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Nietzsches Problem mit den Deutschen als Problem mit sich selbst
einem einzigen langen Abschnitt, der von Gedankenstrichen durchzogen ist, die jeweils einen Sprung in der Gedankenführung, einen gleichsam spontanen Wechsel der Denkrichtung anzeigen, mit dem Nietzsche die verschiedenen Ecken der „Höhlen, Verstecke, Burgverliesse“ der „deutsche[n] Seele“ ausleuchtet.321 Die Ursache für die Widerspruchsnatur der Deutschen nun liege, so Nietzsche in JGB 244, in „ihrer Herkunft“, die „vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt [ist], als wirklich gebaut“: Ein Deutscher, der sich erdreisten wollte, zu behaupten „zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ würde sich in der Wahrheit arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen zurückbleiben.
Die Deutschen seien „ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elementes“, ein „„Volk der Mitte“ in jedem Verstande“ (JGB 244). Mit dieser Formulierung lässt Nietzsche anklingen, dass der Begriff des Volkes der Mitte mehrere Bedeutungsebenen hat. Er ist zunächst gemeint als ein Begriff für die gemischte Natur der Deutschen, weist aber zugleich auf die geographische Bedingung der Möglichkeit dieser Natur hin: Deutschlands Lage im Zentrum Europas.322 Sie machte Deutschland in Nietzsches Augen in größerem Maße, als es die „so altgemischten Länder[ ]“ Europas ohnehin alle waren (NL 1884, 25[115], KSA 11.44), zu einem kulturellen Schmelztiegel und bewirkte damit erst seine „Vergeistigung“: „Wer rechnet nach, was den Slaven oder den Kelten oder den Juden für die Vergeistigung Deutschlands alles verdankt wird!“ (NL 1885, 43[3], KSA 11.702)323 Insbesondere den Einfluss der Slawen machte Nietzsche in Notaten mehrfach stark.324 Deutschlands Lage machte es aber auch, wie im Dreißigjährigen Krieg, den Nietz Zu Nietzsches Formen und Methoden philosophischer Schriftstellerei vgl. Stegmaier, Nietzsche zur Einführung, S. 98‒113, und Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, wo Stegmaier, nach allgemeinen Ausführungen auf S. 7‒15, in den Kapiteln 4‒20 jeweils eine andere schriftstellerische Methode Nietzsches an verschiedenen Aphorismen des V. Buchs der FW vorführt und erläutert. Zu Nietzsches differenzierten Verwendungsweisen des Gedankenstrichs vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 175‒177. Zu weiteren Bedeutungen des Begriffs ‚Volk der Mitte‘ s. 3.3.3, 3.3.4. In GM I 5 vertritt er hinsichtlich der Kelten dann eine andere Position: „Die Kelten, beiläufig gesagt, waren durchaus eine blonde Rasse; man thut Unrecht, wenn man jene Streifen einer wesentlich dunkelhaarigen Bevölkerung, die sich auf sorgfältigeren ethnographischen Karten Deutschlands bemerkbar machen, mit irgend welcher keltischen Herkunft und Blutmischung in Zusammenhang bringt, wie dies noch Virchow thut: vielmehr schlägt an diesen Stellen die v o r a r i s c h e Bevölkerung Deutschlands vor.“ Zu Nietzsches Bezugnahme auf die von Virchow dargelegte Theorie eines keltischen Einflusses auf die Deutschen vgl. Orsucci, Orient – Okzident, S. 343 f. Vgl. z.B. NL 1884, 25[268], KSA 11.81 („vom Ausland her eine Verbesserung, zumal durch S l a v e n b l u t “); NL 1884, 25[419], KSA 11.122 („das jetzige Deutschland ist eine vor-slavische Station und bereitet dem panslavistischen Europa den Weg“). Zu den Deutschen und den Juden s. 3.3.3.1, 3.3.4.2.
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sche als prägendes Ereignis in der Entwicklung der Deutschen bewertete, zum Schauplatz, auf dem die europäischen Mächte ihre Konflikte austrugen. Damit wurde es auch Schauplatz „eine[r] unfreiwillige[n] Mischung mit wenig verwandten Rassen“ durch „Unzucht des Krieges“ (NL 1885, 43[3], KSA 11.702 f.). Genau diese Kollision zahlreicher „Instinkte“ sei es gewesen, die die Deutschen „umfänglicher“ und „widerspruchsvoller“ als andere Völker gemacht habe (JGB 244).325 Es ist bedeutsam, dass Nietzsche in JGB 244 mutmaßt, bei den Deutschen sei ein „Übergewicht des vor-arischen Elementes“ zu verzeichnen.326 In GM wird er darauf aufbauend folgern, dass die Deutschen seiner Zeit mit den Germanen, die zur „Eroberer- und H e r r e n - R a s s e […] der Arier“ (GM I 5) gehört hätten, nichts zu tun hatten, obwohl beide noch immer fälschlicherweise in Verbindung gebracht würden: Das tiefe, eisige Misstrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder — ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem Jahrhunderte lang Europa dem Wüthen der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutverwandtschaft besteht). (GM I 11)327
Vgl. auch die Vorstufe, NL 1885, 43[3], KSA 11.702 f.: „Man möchte fast glauben, daß, wenn es endlich doch so etwas geben sollte, wie „ d e u t s c h e n Geist“, er erst durch Entdeutschung, ich meine durch Mischung mit ausländischem Blut ermöglicht worden ist. Wer rechnet nach, was den Slaven oder den Kelten oder den Juden für die Vergeistigung Deutschlands alles verdankt wird! Am wichtigsten aber mag die Blut-Mischung selber gewesen sein, indem sie im gleichen M〈enschen〉 verschiedene Instinkte und nicht immer nur „zwei sondern zwanzig Seelen“ in Eine Brust anpflanzte, jene ungeheure Blut-Verderbniß der Rasse, welche in Europa nicht ihres Gleichen hat und endlich aus dem Deutschen ein alles verstehendes, alles nachfühlendes und sich aneignendes Volk der Mitte, der Vermittlung gemacht hat — eine Ferment-Rasse, bei der nunmehr „kein Ding unmöglich ist“.“ Diese Überlegungen gehen vermutlich auf die Lektüre eines von der Forschung noch nicht ermittelten „deutsche[n] Anarchist[en]“ zurück, von der Nietzsche im NL 1885, 44[8], KSA 11.707 f., berichtet. Vgl. dazu Orsucci, Orient – Okzident, S. 347 f. Dass Nietzsche dieses Misstrauen, das den zeitgenössischen Deutschen entgegengebracht wird, „genießt“, wie Cancik, Nietzsches Antike, S. 123, unter Bezug auf diese Passage behauptet, geht aus dem Wortlaut von GM I 11 nicht hervor. Cancik führt gleich darauf zum Beleg eine um die Entweihung des „Mysterium[s] aller unserer Deutschheit“ besorgte Passage aus DS an (DS 12, KSA 1.228) und unterstellt damit ohne weitere Begründung, dass es Nietzsche auch in den späten 1880ern nach wie vor um jene Verherrlichung eines idealen, zukünftigen Deutschtums gegangen sei, die er bis Mitte der 1870er Jahre betrieben hatte. – Nach Orsucci, Orient – Okzident, S. 345, war der „Hinweis auf den ‚physiologischen‘ Niedergang des ‚arischen‘ Elements eine damals zentrale und verbreitete These“, die Nietzsche aus einem Forschungsbericht Rudolf Virchows von 1874 vertraut war. Dieser Gedanke spielte auch bei Jean Louis Armand de Quatrefages de Bréan eine Rolle. Er vertrat nach der Gründung des Deutschen Reiches unter preußischer Führung im Anschluss an den deutsch-französischen Krieg die Aufsehen erregende Auffassung, der ‚rein arische‘ Typus habe sich nur in Süddeutschland erhalten, wohingegen das preußische Volk einen mehrheitlich finnischen Ursprung und folglich kein Anrecht auf die Vormachtstellung im Deutschen Reich habe (Orient – Okzident, S. 341 f.). Die These, dass die Germanen ‚reine‘, ‚unvermischte‘ Arier waren, entnahm Nietzsche wohl, so Orsucci weiter, Theodor Poesches Die Arier, das sich in seiner
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Die Kluft zwischen Germanen und zeitgenössischen Deutschen korrespondiert mit einem Bruch in der Entwicklungsgeschichte der Deutschen, der sich Nietzsche zufolge im 16./17. Jahrhundert ereignet habe: Die Deutschen, von denen ich hier nur rede, sind etwas Junges und Werdendes: ich trenne sie ab von den Deutschen der Reformation und des dr〈eißigjährigen〉 Krieges und will nicht an der Geschichtsfälscherei [sc. des Nationalismus und seiner These von der Ursprünglichkeit der Deutschen] Antheil haben, welche über diese Kluft hinwegspringt: wie als ob damals nichts geschehen wäre. Daß sich in dem 16. Jahrhundert etwas mit ihnen zugetragen hat, was dem Untergang einer früheren Rasse gleich kommt, wird sich schwerlich leugnen lassen […] — das muß im Ganzen die Folge einer furchtbaren Blutverderbniß gewesen sein, hinzugerechnet, daß die männlichen Männer fort und fort in’s Ausland giengen und im Auslande starben oder verdarben. Andererseits hat damals eine unfreiwillige Mischung mit wenig verwandten Rassen stattgefunden: die Unzucht des Krieges war, nach allen Beschreibungen, über die Maaßen unheilvoll. Es gab wohl hier und da noch Reste einer stärkeren Rasse: z.B. ist der Musiker Händel, unser schönster Typus eines M a n n e s im Reiche der Kunst, ein Zeugniß davon: oder, um ein Weib zu nennen — Frau Professor Gottsched, welche mit Fug und Recht eine gute Zeit lang über die deutschen Professoren das Scepter geführt hat, — man sehe sich doch die Bilder von Beiden an! (NL 1885, 34[104], KSA 11.455, korr. nach KGW IX 1, N VII 1.121 f.)328
persönlichen Bibliothek findet (Orient – Okzident, S. 344). Orsuccis Behauptung, es bedeute „einen offenkundigen Widerspruch“, dass Nietzsche in GM I 11 einerseits „die ‚vornehme Rasse‘, mit ihrer ‚entsetzlichen Heiterkeit […] in allem Zerstören‘“ verherrliche, andererseits „an ebenderselben Stelle“ „den anthropologischen Unterschied[ ] zwischen Deutschen und Germanen“ betone (Orient – Okzident, S. 345), ist hingegen nicht nachvollziehbar. Denn diese „Bemerkungen über das ‚vorarische‘ Element“ bedeuten nicht schon, wie Orsucci auf S. 345 schreibt, „daß ‚blonde Bestie‘ und ‚arische Eroberer-Rasse‘ nicht mehr als eine Vision seien“ und dass mithin Nietzsche die historische Realität der ‚blonden Bestie‘ zugleich behauptet und bestreitet, sondern nur, dass Germanen/Arier (bzw. die „b l o n d e B e s t i e “, GM I 11) auf der einen, zeitgenössische Deutsche auf der anderen Seite nicht identisch und nicht einmal ähnlich sind. – Das berüchtigte Schlagwort von der ‚blonden Bestie‘ hat, nach den wichtigen Vorarbeiten von Brennecke, Die blonde Bestie, Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 253‒262, vollends in den Kontext von Nietzsches Schriften und Nietzsches Zeit eingeordnet und damit entmythologisiert. Die ‚blonde Bestie‘ sei, so Ottmann, „nur ein Beispiel“ für „Nietzsches Ideal des griechischen Heros wie der agonalen Kultur“ und „eine der Chiffren für seine Platonumkehrung wie für seine Moral- und Kulturphilosophie, nichts, was sich rassistisch deuten läßt“ – aber doch „ein typischer Fall für Nietzsches sorglose, provokante, mißverständliche Wortwahl“ (Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 257, 262). Vgl. zum Thema auch Art. blond, in: NWB, Bd. 1, S. 405‒411, hier S. 407‒411, und Schank, Nietzsche’s „Blond Beast“. Andernorts rechnet er unter den Komponisten neben Händel auch Schütz und Bach zu den „ a u s g e s t o r b e n e [ n ] Deutsche[n]“ (EH klug 7, KSA 6.291). – Vgl. über die von Nietzsche konstatierte Kluft zwischen früheren und späteren Deutschen auch Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 97 f., der allerdings auf die im Folgenden noch zu erörternde Wechselhaftigkeit der Nietzscheschen Datierung hinsichtlich des Bruchs nicht eingeht. Auch scheint Schank der Ansicht zu sein, dass Nietzsche die extreme Vermischung der Deutschen mit anderen Völkern vor den Bruch in der Entwicklung der Deutschen setze, d.h. den ‚alten‘ Deutschen zuschlage, wenn er schreibt, „die zahlreichen ‚Elemente‘ näher aufzudröseln, aus denen das Volk der Deutschen sich […] zusammensetzen könnte“, sei für Nietzsche „umso weniger von Interesse [gewesen], als er in der Geschichte der Deutschen eine große ‚Kluft‘ glaubt feststellen zu können“ (S. 97). Nietzsche zufolge nimmt aber die „Blut-Mischung“, die den Deutschen der Neuzeit ihr besonderes Gepräge gibt (NL
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Es ist auffällig, dass Nietzsche den Zeitpunkt des Übergangs von ‚alten‘ zu ‚jungen‘ Deutschen immer wieder anders bestimmt, wie an zwei markanten Fällen deutlich wird: Ein Jahr bevor er sich in 34[104] notierte, die ‚jungen‘, ‚werdenden‘ Deutschen der Neuzeit seien von denen der Reformation strikt zu trennen, macht er demgegenüber Luther zu ihrem Ausgangspunkt: „Zuletzt: wir sind noch ganz j u n g . Unser letztes Ereigniß ist immer noch L u t h e r , unser einziges Buch immer noch die B i b e l .“ (NL 1884, 25[162], KSA 11.56) Er wiederholt dies in einem späteren Notat nochmals, wo Luther in seine bis in sein eigenes Jahrhundert reichende Charakteristik der ‚modernen‘ Deutschen einbezogen wird (NL 1885, 43[3], KSA 11.703). Tatsächlich ist die Auffassung einer geistesgeschichtlichen Kontinuität von Luther bis zu ihm, Nietzsche, im Nachlass wie im veröffentlichten Werk nicht nur gängig, sondern nimmt sogar eine Schlüsselstellung ein.329 In GM II 3 geht er noch weiter und hält es sogar für möglich, von den „alten deutschen Strafen“ des Mittelalters („vierzehnte[s] und fünfzehnte[s] Jahrhundert“ und früher), wie „Steinigen“, „Rädern“, „Sieden des Verbrechers in Öl oder Wein“, die er in einer (freilich mehrere Jahre zurückliegenden) Vorstufe explizit „ S t r a f e n bei den Germanen“ genannt hatte (NL 1883, 8[5], KSA 10.326), auf die zeitgenössischen Deutschen zu schließen. Diese hätten gerade deshalb „ein „Volk von Denkern““ werden können, weil die Erinnerung an die „brutale[n]“ Strafen sie „„zur Vernunft““ gebracht habe (GM II 3).330 Dieses deutsche kollektive Gedächtnis sollte angesichts der im veröffentlichten Werk wie im Nachlass postulierten Trennlinie zwischen Germanen und Deutschen bzw. ‚alten‘ und ‚jungen‘ Deutschen, über die hinweg sich allenfalls „Reste“ erhalten haben (NL 1885, 34[104], KSA 11.455), kaum möglich sein. In GD Deutschen 2 wird er die Annahme einer Kontinuität von mittelalterlichen zu zeitgenössischen Deutschen in einer Nebenbemerkung gleichwohl
1885, 43[3], KSA 11.702), erst nach dieser Kluft bzw. aufgrund derselben (Reformation, Dreißigjähriger Krieg) ihren Anfang. Auch Schanks These, es deute auf ein geringes Interesse Nietzsches an den einzelnen ‚Elementen‘ des deutschen Mischcharakters hin, dass er nicht versuchte, „die zahlreichen ‚Elemente‘ näher aufzudröseln“, aus denen die Deutschen bestehen (S. 97), überzeugt nicht. Denn wenn man zugestehen wird, dass er sie nicht in erschöpfender Weise – nicht aber gar nicht – ‚aufdröselte‘, so wird man dies keinesfalls Desinteresse, vielmehr das Bewusstsein dafür nennen müssen, dass die Bestandteile des ‚deutschen Wesens‘, gerade weil sie so zahlreich sind, sich gar nicht vollständig ergründen lassen. Diesem Umstand nun, der Nietzsche dazu bewegt, die „Unordnung“ als Hauptcharakteristikum der (‚modernen‘) Deutschen zu bezeichnen (JGB 244), bringt er nicht etwa Desinteresse, sondern starkes Interesse entgegen. Vgl. 3.3.5. Zu Nietzsches Erörterung der Bedingungen der Vernunft in GM II 3 vgl. Giacoia Junior, Zu Nietzsches Satz „„autonom“ und „sittlich“ schliesst sich aus“, S. 171 f.: „Nietzsche entdeckt in den gemeinsamen Bereichen zwischen der obligatio des Privatrechts und der Barbarei primitiver Strafen den anthropologischen Grund der Entstehung der Kategorien und Konzepte, aus deren Vertiefung und Vergeistigung die Figuren auftauchen, die später Merkmale der Gesellschaft und Moral werden, wie zum Beispiel die moralische Vorstellung von Schuld, das Gefühl von Pflicht, das Verantwortungsbewusstsein und die Autonomie. Ihnen […] gehen finstere Bedingungen voraus“.
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nochmals vertreten („dies Volk hat sich willkürlich verdummt, seit einem Jahrtausend beinahe“).331 Nietzsche verschiebt also den Bruch in der „Geschichte der deutschen Seele“ (NL 1885, 43[3], KSA 11.703) mehrfach. Diese Schwankung in der Freilegung der Genealogie der Deutschen ist jedoch kein Widerspruch, sondern einfach die natürliche Folge von Nietzsches genealogischem Verfahren: Es liegt im Wesen der Genealogie, dass sie, „je weiter sie zurückgeht, desto hypothetischer und perspektivischer wird“, dass ihre Ergebnisse nie dogmatisch, sondern stets kritisch zu verstehen sind, als Regulativ der Selbstkritik dessen, der die Genealogie betreibt.332 Je weiter Nietzsche den Weg der Deutschen zurückverfolgte, umso mehr verschiedene und miteinander unvereinbare, aber jeweils eben nur hypothetische Deutungsmöglichkeiten ergaben sich für die Frage, wie sie wurden, was sie waren.
3.3.2 Nietzsches Umwertung der ‚deutschen Tiefe‘ 3.3.2.1 Der innere Sternenhimmel der Deutschen als Ort tieferer Wahrheit? Was aber waren die Deutschen? Nietzsche brachte seine Antwort konsequenterweise auf eine paradoxe Pointe: „Der Deutsche selbst i s t nicht, er w i r d , er „entwickelt sich“. „Entwicklung““, so Nietzsche weiter, ist deshalb der eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer Formeln: — ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik gesetzt hat). (JGB 244)
Das Ausland war Nietzsche zufolge von der Widersprüchlichkeit der Deutschen nachhaltig irritiert, aber eben auch fasziniert und „angezogen“. Bereits in M 190 hatte er bemerkt, die Deutschen hätten ihre Nachbarn um die Wende zum 19. Jahrhundert mit ihrer Bildung „verführt[ ]“: Und was verführte im Grunde die Ausländer […]? Es war jener matte Glanz, jenes räthselhafte Milchstrassen-Licht, welches um diese Bildung leuchtete: dabei sagte sich der Ausländer „Das
Auch im NL 1884, 25[115], KSA 11.44, findet sich die Annahme einer solchen Kontinuität, die dort sogar schon im 8. Jahrhundert, bei Karl Martell, ansetzt. Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘, S. 63‒93, hier S. 64. Nietzsche, so Stegmaier, habe nicht „Genealogie als Geschichte, sondern Genealogie als Kritik“ gewollt (S. 65): „durch die Hypothetisierung und Perspektivierung ihrer Herkünfte kann sie [die Genealogie] gerade ihre eigenen Blindheiten in den Blick bekommen“ (S. 64). Stegmaier nennt die Genealogie daher auch Nietzsches „‚Methode‘ des Problematisch-Machens“ (Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 163). Vgl. zum Thema ferner Bertino, „Vernatürlichung“, S. 105‒107, hier S. 107: „Die Genealogie handelt stets von nur Hypothetischem, nur Vermutbarem, letztlich Ungewissem.“
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ist uns sehr, sehr ferne, da hört für uns Sehen, Hören, Verstehen, Geniessen, Abschätzen auf; trotzdem könnten es Sterne sein! Sollten die Deutschen in aller Stille eine Ecke des Himmels entdeckt und sich dort niedergelassen haben? Man muss suchen, den Deutschen näher zu kommen.“
Das „räthselhafte Milchstrassen-Licht“, das den Weg zu den „Sterne[n]“ zu weisen schien, leuchtete, so Nietzsche nun in JGB 244, den europäischen Nachbarn aus der „Tiefe“ der deutschen Seele entgegen. Mit dieser „Tiefe“, heißt es noch in einer Vorstufe zu JGB 244 ausdrücklich, hätten „die Deutschen […], wie sie wenigstens selber vermeinen, {es} […] weit, {„}bis an die Sterne weit{“} getrieben“ (NL 1885, 27[10], KSA 11.585 / KGW IX 4, W I 6.49).333 In ihr – in sich – schienen die Deutschen auf eine im Wortsinne tiefere Wahrheit gestoßen zu sein, ein entlegenes Leuchten wie das von Sternen.334 Aber genau über diesen Schluss von der Breite, Vielfalt und Wechselhaftigkeit der deutschen Erfahrungen auf deren Tiefe wollte Nietzsche „um[ ]lernen“ (JGB 244). Nicht zuletzt von Hegels System mit seiner Bewegung des Begriffs und von Wagners Musik mit ihrer unendlichen Melodie schien dem Ausland das ‚deutsche‘ Leuchten auszugehen. Hegel freilich hatte sich zumindest nicht selbst dazu verstiegen, das deutsche Wesen zum Prinzip der Wahrheit zu erheben, wenn auch, wie Nietzsche vermutete, sein Entwicklungsdenken erst aus den Bedingungen der Vielfalt der deutschen ‚Seele‘ möglich geworden war.335 Vielmehr hatte er alle „Volksgeister“ gerade „um ihrer Besonderheit willen, in der sie als existierende Individuen ihre objektive Wirklichkeit und ihr Selbstbewußtsein haben, überhaupt beschränkte“ genannt. Es sei die in den „Schicksale[n] und Taten“ der Volksgeister „erscheinende Dialektik der Endlichkeit“, „aus welcher der allgemeine Geist, der Geist der Welt, […] sich hervorbringt“.336 Wagner hingegen hatte in der Tat radika Vgl. Goethe, Faust I, V. 570‒574. Goethe lässt dort zunächst Fausts Famulus Wagner sagen: „Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen, / Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen; / Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht, / Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.“ Darauf Faust ironisch: „O ja, bis an die Sterne weit!“ Vgl. den Nachbericht zu KGW IX 1‒4, S. 68. Nietzsche mag in diesem Zusammenhang an das berühmte Wort Kants aus dem Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft gedacht haben, das im Bild des inneren Sternenhimmels der ‚deutschen Seele‘ eine paradoxe Umwertung erfährt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: d e r b e s t i r n t e H i m m e l ü b e r m i r u n d d a s m o r a l i s c h e G e s e t z i n m i r .“ (AA, Bd. 5, S. 161) Dass Nietzsche mit dem Ausspruch vertraut war und wiederholt in seinen Texten und Notaten auf ihn Bezug nahm, zeigt Groddeck, „Oh Himmel über mir“. Auf M 190 bezieht sich Groddeck nicht. Ryan, The Rise and Fall of Zarathustra’s Star, kündigt in seiner Untersuchung über Nietzsches (und Zarathustras) „language of the stars“ an, neben Z auch „all the places where star is mentioned in his writings outside the Zarathustra text“ untersuchen zu wollen (S. 258), geht auf M 190 jedoch ebenfalls nicht ein. Vgl. dazu 3.3.5. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 340, ThWA, Bd. 7, S. 503. Auch dass Hegel in den Grundlinien das „germanische Reich“ zum vierten jener vier „welthistorischen Reiche“ macht, die „die Prinzipien der Gestaltungen dieses Selbstbewusstseins in dem Gange seiner [sc. des Geistes] Befreiung“ seien (§§ 352, 358, ThWA, Bd. 7, S. 508, 511), darf nicht als Verherrlichung eines
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ler als jeder andere, abgesehen vielleicht von Fichte (den Nietzsche in einer Vorstufe und noch im Druckmanuskript zu JGB 244 ausdrücklich Wagner zur Seite gestellt hatte),337 das verbreitete Bewusstsein der Deutschen, ein werdendes Volk, eine noch nicht fertige Nation zu sein,338 zum expliziten philosophischen Prinzip etwa den Weltgeist im Geheimen regierenden deutschen Geistes missverstanden werden. Denn zum einen hatte er mit dem germanischen Reich nicht nur die Deutschen, sondern die „germanischen Völker“ im Unterschied zu den Völkern des antiken „römische[n] Reich[s]“ und so ebenso gut etwa Angelsachsen und Franzosen gemeint (§§ 357 f., ThWA, Bd. 7, S. 511), zum anderen war das germanische Reich gerade als solches Prinzip doch nur ein Moment „in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes“, das „in der Weltgeschichte […] nur einmal Epoche machen“, danach aber „nicht mehr“ in ihr „zählen“ kann (§ 347, ThWA, Bd. 7, S. 506). Auf Epochen aber folgen weitere Epochen. Das germanische Reich ist damit nicht das Ende der Geschichte, sondern ihr Ende nur insoweit, als sie für Hegel Geschichte, d.h. von seinem historischen, endlichen Standpunkt aus erfassbar war. Folglich hat, in den entschiedenen Worten Ottmanns, „dieser Schluß [der Grundlinien] […] mit Germanismus, Rassismus oder Nationalismus rein gar nichts zu tun.“ (Ottmann, Die Weltgeschichte, S. 271) Vgl. NL 1885/86, 1[196], KSA 12.55 / KGW IX 2, N VII 2.62 („man muß schon bis zum letzten Wagner u. seinen Bayr. Blättern hinuntersteigen um einem ähnlichen Sumpfe von Anmaaßung, Unklarheit u. Deutschthümelei zu begegnen{, wie es die Reden an die D. N. sind.}“), und Druckmanuskript, KSA 14.369 f. („Jean Paul wusste, was er that, als er sich wüthend gegen Fichte’s unverschämte und verlogne Schmeicheleien erklärte (man muß in der That schon bis zum letzten Wagner und seinen Bayreuther Blättern heruntersteigen, um einem ähnlichen Sumpf von Anmaaßung, Unklarheit und Deutschthümelei zu begegnen, als es Fichte’s Reden über die Deutsche Nation sind).“). In JGB 244 strich Nietzsche an dieser Stelle den Bezug auf Wagner. – Fichte spielt, wie für Nietzsche überhaupt, so auch für sein Problem mit den Deutschen nur eine untergeordnete Rolle, mit wenigen, eher nebensächlichen Thematisierungen, die ihm entweder, wie in den angeführten Fällen, Deutschtümelei oder aber, zusammen mit zahlreichen anderen deutschen Philosophen, ‚Schleiermacherei‘ vorwerfen (EH WA 4). Für eine „intensive[ ] Auseinandersetzung Nietzsches mit dem Werk Fichtes“, wie sie Taver, Nietzsches Auseinandersetzung mit Fichte, S. 365, annimmt, spricht wenig. Die von Taver angeführten Strukturanalogien und Begriffsverwandtschaften allein lassen nicht zwingend auf Nietzsches Vertrautheit mit oder gar den Einfluss von Fichtes Philosophie auf die seine schließen, ebenso wenig wie der Umstand, dass Fichte wie Nietzsche in Schulpforta gelernt hatte. Thomas H. Brobjer kommt zu dem nüchternen Befund: „Nietzsche’s only known relation to Fichte is that he, like all the pupils at Pforta, took part in the centenary celebrations of Fichte’s birth in 1862“; keines von Nietzsches späteren „hostile and general statements about Fichte […] necessarily implies a reading of him“; auch über ihn habe Nietzsche aller Wahrscheinlichkeit nach sehr wenig gelesen, selbst eine Lektüre der in JGB 244 angeführten Fichte-Kritik Jean Pauls ist nicht gesichert (Brobjer, Nietzsche as German Philosopher, S. 67). Unentschieden bezüglich der Intensität der Auseinandersetzung bleibt Traub, „So ruft, mit grossem Munde, der grosse Fichte!“. Dieses Motiv findet sich, worauf bereits Ernst Bertram hingewiesen hat, u.a. bei Fichte, Friedrich Schlegel, Novalis, Hölderlin und Goethe (Bertram, Nietzsche, S. 80). Bertram versucht es sogar bis auf Luther zurückzuführen: Seine theologische Position, dass „[d]ies Leben […] nicht ein Fromms e i n , sondern ein Frommw e r d e n , nicht ein Gesunds e i n , sondern ein Gesundw e r d e n“ sei – Bertram zitiert ohne Quellenangabe eine neuhochdeutsche Übersetzung der Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind von 1521 (vgl. LWA, Bd. 7, S. 299‒457, hier S. 336) –, sei ein „Bekenntnis zum Werden“ und schon darin „deutsch“ (Bertram, Nietzsche, S. 80). Auch Wagner und auch der frühe Nietzsche selbst haben dieses Motiv
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transformiert und also zum Schlüssel der wahren Welterkenntnis hypostasiert.339 Darum war es nur folgerichtig, dass es, ohne ihn beim Namen zu nennen, gerade seine Gedanken über die ‚deutsche Tiefe‘ waren, von denen aus Nietzsche seinen Prozess des ‚Umlernens‘ entwickelte.
3.3.2.2 Die täuschende Deutlichkeit der deutschen Tiefe Die Keimzelle dieser Umwertung der deutschen Tiefe hatte Nietzsche bereits in Z IV Begrüssung, KSA 4.350, gelegt. Dort lässt er Zarathustra in seiner Höhle zu den höheren Menschen sagen: „Meine Gäste, ihr höheren Menschen, ich will deutsch und deutlich mit euch reden.“ Diese Ankündigung ruft jedoch Getuschel unter seinem Publikum hervor: („Deutsch und deutlich? Dass Gott erbarm! sagte hier der König zur Linken, bei Seite; man merkt, er kennt die lieben Deutschen nicht, dieser Weise aus dem Morgenlande! / Aber er meint „deutsch und derb“ — wohlan! Das ist heutzutage noch nicht der schlimmste Geschmack!“)340
Die kleine Szene ist zweifellos eine Anspielung auf Was ist deutsch?.341 Wagner hatte dort zunächst die Forschungsergebnisse Jacob Grimms zusammengefasst, in ihrer Utopie eines zukünftigen Deutschtums auf ihre Weise verwendet (vgl. 1.2). Elke Emrich hat in einem Streifzug durch die deutsche Literatur von ca. 1770‒1870 die extreme Pluralität der Urteile über den ‚deutschen Charakter‘ gleichfalls mit dieser Selbstwahrnehmung der Deutschen in Verbindung gebracht (Emrich, Der janusköpfige Deutsche). Ernst Bertram hat Nietzsches eigenes Wort vom Deutschen, der nicht „i s t “, sondern „w i r d “ (JGB 244), genau in diesem von Nietzsche kritisierten metaphysischen Sinne interpretiert: Für Nietzsche schließe das deutsche Wesen als Werden „ein umschreibbares Sein logisch und selbst metaphysisch aus[ ]“. Darin gleiche es gar „dem Reiche Gottes“ (Bertram, Nietzsche, S. 81, 83). Bertrams mit fast heiliger Ernsthaftigkeit vorgetragene Interpretation verkennt jedoch, dass es Nietzsches Absicht gewesen war, solche hochtrabenden Gedanken über die „deutsche Tiefe“ der Lächerlichkeit preiszugeben: „mag die „deutsche Tiefe“ sein, was sie will,“ schreibt er am Ende von JGB 244, „– ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu lachen?“ So hatte Nietzsche auch seine eigenen Überlegungen in JGB 240, nach denen die Deutschen „von Vorgestern und von Übermorgen“ seien und „ n o c h k e i n H e u t e “ hätten, gleich darauf als „Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen“ verspottet (JGB 241) und damit die nationalistische Verherrlichung der deutschen Widerspruchsnatur von vornherein unterlaufen. Der Art. derb, in: NWB, Bd. 1, S. 615‒619, hier S. 617, nimmt an dieser Stelle eine positive Konnotation des Wortes „derb“ im Sinne von „schlicht, gerade“ an, wohl aufgrund von Nietzsches Zusatz „Das ist heutzutage noch nicht der schlimmste Geschmack!“. Ein Geschmack, der „nicht der schlimmste“ ist, ist jedoch nicht schon gut und folglich kein Argument gegen die nachfolgend aufgezeigte, tatsächlich negative oder doch zumindest ambivalente Konnotation von „derb“ in der zitierten Passage. Zum „schlimmste[n] Geschmack“ vgl. unten 3.3.3.2. Darauf hat bereits Montinari, Kommentar, KSA 14.340, hingewiesen. West[f]all, Zarathustra’s Germanity, der sich extensiv der Auslegung der kurzen Passage widmet, entgeht dieser für die Interpretation entscheidende Umstand hingegen. So nimmt er die Passage zum Anlass einer spekulativen Deutung, die den Bogen zurück zu Nietzsches Kritik an David Friedrich Strauß spannt: „To speak Germanly and coarsely, deutsch und derb, is still possible. Zarathustra could speak with
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Nietzsches Problem mit den Deutschen als Problem mit sich selbst
„daß ‚diutisk‘ oder ‚deutsch‘ nichts anderes bezeichnet als das, was uns, den in uns verständlicher Sprache Redenden, heimisch ist“,342 und diesen Befund dann folgendermaßen erläutert: Das Wort „deutsch“ findet sich in dem Zeitwort „deuten“ wieder: „deutsch“ ist demnach, was uns d e u t l i c h ist, somit das Vertraute, uns Gewohnte, von den Vätern Ererbte, unserem Boden Entsprossene. (WID, S. 37)
Wagner hob damit auf eine Bedeutung des Wortes „deutsch“ ab, die im entsprechenden Artikel des Grimmschen Wörterbuchs aus dem Jahr 1860 an vierter Stelle aufgeführt wird: „in gutem sinne heiszt deutsch reden offen, deutlich, derb, rücksichtslos sprechen, kein blatt vor den mund nehmen“. Bereits in Sebastian Brants Narrenschiff ist dieser Sinn belegt, ehe er von Luther entscheidend geprägt wird, der „undeutsch geradezu für unverständlich [gebraucht]“.343 Schon bei ihm lässt sich eine Verknüpfung des Deutlichkeitsaspekts, den er paradigmatisch in seinem Sendbrief vom Dolmetschen entwickelt,344 mit einer anderen Nuance des Worts feststellen, nach der „deutsch […] das edle und treffliche“ beschreibt.345 So heißt es in Wider die himmlischen Propheten: Denn wer mit solchem verstand zum sacrament gehet, das er die wort deutsch odder deutlich ym hertzen hat, Nehmet hyn und esset, das ist meyn leyb etc., wilchs er aus den vorgehenden predigen lernet und merckt und drauff und damit das sacrament empfehet, der empfehet es recht und höret nicht eyttel zungen reden, sondern rechten verstand.346
an earthy strength, crudely, coarsely. To do so would be to oppose the Germanity of Strauss with a Germanity of Germany, of the land itself.“ (S. 56) Mit Blick darauf folgert Westfall: „Zarathustra is the one who spoke thus – Germanly, in German, deutsch und derb. Zarathustra was German.“ (S. 56) Bereits vor Grimm äußerte sich in diesem Sinn Adelung, Art. Deutsch, in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 1. Teil, Sp. 1472‒1474, hier Sp. 1472 f.: „Die vernünftigsten Wortforscher sind auf das alte Thiod, Volk, gefallen, aber ohne den wahren Sinn dieses Wortes einzusehen. Thot, Dot, ist ein altes, noch nicht ganz veraltetes Wort, welches einen Blutsfreund bedeutet, und mit dem Hebr. [ ﬢוֹﬢdôd], ein Freund, ein Geliebter, eine mehr als zufällige Verwandtschaft hat. Im Oberdeutschen bedeutet Gediet noch jetzt das Geschlecht, und Dot einen Pathen. Dot, Deut, scheinet also überhaupt einen nahen Verwandten bedeutet zu haben, und wurde nachmahls auch collective von einem Haufen solcher verwandten Personen, von einer Familie, oder einem Volke, denn die ältesten Völker waren doch eigentlich nichts als Familien, gebraucht.“ Grimm, Art. deutsch, in: DWB, Bd. 2, Sp. 1043‒1048, hier Sp. 1046 f. Vgl. Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, in: LWA, Bd. 30/2, S. 627‒646, hier S. 637: „den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden […], sondern, man mus die mutter ihm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen mann auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet.“ Grimm, Art. deutsch, in: DWB, Bd. 2, Sp. 1045. Luther, Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament, 1. Teil, in: LWA, Bd. 18, S. 37‒125, hier S. 124, vgl. auch S. 123.
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„[D]eutsch odder deutlich“ meint hier einmal die wörtliche Deutlichkeit desjenigen, dessen Muttersprache Deutsch ist, zugleich aber die Deutlichkeit, mit der man die Worte „ym hertzen“ trägt, d.h. die Aufrichtigkeit, mit der man sich zu ihnen bekennt. Diese Verknüpfung, in der ‚deutsch‘ einen Beiklang von ‚wahrhaftig‘ erhält, machte Wagner in seiner Argumentation stark und spitzte sie noch zu. Aus dem Deutschen als dem, „was uns, den in uns verständlicher Sprache Redenden, heimisch ist“, wird das, „was uns d e u t l i c h ist“ – und zwar eben nicht mehr nur ‚uns Deutschen‘, sondern ‚uns Menschen‘. Denn Wagner macht die Deutschen zu den Verdeutlichern par excellence, den Rätsellösern der Menschheit: der sich erkennende Deutsche verstand es nun auch, sich und der Welt zu zeigen, was Shakespeare sei, den sein eigenes Volk nicht verstand; er entdeckte der Welt, was die Antike sei, er zeigte dem menschlichen Geiste was die Natur und die Welt sei. Diese Thaten vollbrachte der deutsche Geist aus sich, aus seinem innersten Verlangen sich seiner bewußt zu werden. (WID, S. 48)
Nicht nur „ d e r M u s i k e r “, auch das Deutsche wurde Wagner folglich eine Art „Telephon des Jenseits“ (GM III 5): eine genuine „Fähigkeit, sich innerlich zu versenken, und vom Innersten aus klar und sinnvoll die Welt zu betrachten“ (WID, S. 49) und „ d a s S c h ö n e u n d E d l e “, kurz: das Wahre zu schauen (WID, S. 48). So war es nach Wagner zuletzt die innere Tiefe der Deutschen, die es ihnen erlaubte, deutlich auf den Kern der Dinge zu schauen. Dass Nietzsche Zarathustra, den „Weise[n] aus dem Morgenlande“, der „die lieben Deutschen nicht [kannte]“, d.h. wohl: nicht gut kannte, das Wagner-Wort „deutsch und deutlich“ unbedarft übernehmen ließ (Z IV Begrüssung, KSA 4.350), lässt sich darum als Reflexion auf jene Faszination des Auslands für die ‚tiefen‘ Deutschen und ihre Funde im inneren Sternenhimmel entschlüsseln, die Nietzsche in M 190 und JGB 244 konstatierte. Anders als Zarathustra hatte der König zur Linken, der die Deutschen offenbar besser kannte, bereits durchschaut, dass es mit diesem „deutsch und deutlich“ nichts sei und dass man stattdessen von „deutsch und derb“ sprechen müsse. Wo die Grimms noch synonym von „deutlich“ und „derb“ gesprochen hatten, grenzt Nietzsche im Z die ‚deutliche‘ Deutlichkeit der Deutschen, d.h. den überhöhten Deutlichkeitsbegriff Wagners, von einer ‚derben‘ Deutlichkeit ab. In JGB 244 spricht Nietzsche dann nicht von deutscher Derbheit, wohl aber von deutscher Biederkeit: „der Deutsche [liebt] die „Offenheit“ und „Biederkeit“: wie b e q u e m ist es, offen und bieder zu sein!“ ‚Bieder‘ aber kann, so die Gebrüder Grimm 1854 im ersten Band ihres Wörterbuchs, auch ‚derb‘ bedeuten: Zuweilen empfängt es [bieder] aber, wie deutsch, mit welchem es daher auch verbunden erscheint, den nebensinn einer plumpen, geraden, derben ehrlichkeit, vielleicht, weil sich die alte, volle form biderb fälschlich dem unverwandten derb anzureihen schien.347
Grimm, Art. bieder, in: DWB, Bd. 1, Sp. 1810 f., hier Sp. 1811. Unter denen, die „bieder“ in diesem Sinn gebrauchen, ist, so der Artikel weiter, u.a. Luther. – Die Art. bieder und derb, in: NWB, Bd. 1, S. 356‒358 und S. 615‒619, ziehen keine Verbindung zwischen ‚bieder‘ und ‚derb‘.
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Bieder nun waren Nietzsche zufolge unter Deutschen zumal die Schwaben, und gerade sie waren aufgrund ihrer Biederkeit umso trügerischer: „„Gutmüthig und tückisch“ – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben!“ (JGB 244)348 Damit war die ‚derbe‘ Deutlichkeit der Deutschen, das „Zutrauliche, Entgegenkommende, die-Karten-Aufdeckende der deutschen R e d l i c h k e i t “, letztlich nur eine „Verkleidung“ und damit nur eine scheinbare Deutlichkeit: Der Deutsche s c h l e p p t an seiner Seele; er schleppt an Allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit „fertig“; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde „Verdauung“. Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker einen Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die „Offenheit“ und „Biederkeit“: wie b e q u e m es ist, offen und bieder zu sein! (JGB 244)
Es war demnach eben nicht die Tiefe ihrer Erfahrungen, aus denen die Deutschen ihre ‚biedere‘, ‚derbe‘ Deutlichkeit und Offenheit zogen, sondern diese war nur eine oberflächliche Täuschung, geboren aus der Unfähigkeit, die Breite jener Erfahrungen zu ‚verdauen‘. Unter dieser Oberfläche verbargen sich psychologisch erschreckende, unbewältigte Abgründe des Seelenballasts vergangener Zeiten.349 Das Deutliche hatte sich ins Täuschende verkehrt, und Nietzsche unterstrich dies, indem er im letzten Satz Wagners etymologischen Schluss von ‚diutisk‘ auf ‚deutlich‘ durch den von ‚tiusch‘ auf ‚täuschend‘ ersetzte: „Zuletzt: man soll seinem Namen Ehre machen, – man heisst nicht umsonst das „tiusche“ Volk, das TäuscheVolk…“ Damit war die Umwertung der deutschen Tiefe, die er zu Beginn des Aphorismus angekündigt hatte, abgeschlossen.
Vgl. zur Biederkeit der Schwaben u.a. auch EH UB 2 („Diese alten Freunde, denen ich als Würtembergern und Schwaben einen tiefen Stich versetzt hatte, […] antworteten so bieder und grob, als ich’s irgendwie wünschen konnte“) und NL 1888, 23[11], KSA 13.612 („Biederkeit des Schwaben“). Zu Nietzsches Haltung zu den Schwaben vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 635. S. dazu auch 3.1. Mit Blick auf Nietzsches berühmte Wendung aus JGB 244, „[d]er Deutsche selbst i s t nicht, er w i r d “, bemerkt Shapiro, Beyond Peoples and Fatherlands, S. 17 f., zum Problem der scheinbaren deutschen Tiefe: „The effect of depth is created by a temporalization of space, a translation of geography into history. […] The German translates space – whether understood architecturally, geographically, or meteorologically – into time.“ Die Breite der Erfahrungen der Deutschen, die, wie Shapiro mit Recht betont, die spezifische geographische Lage Deutschlands zur Bedingung hat, muss notwendig auch eine zeitliche Dimension haben, sofern man Erfahrungen nur in der Zeit machen kann.
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3.3.3 Das Volk des Mittelmaßes 3.3.3.1 Die deutsche Konturlosigkeit und das Bedürfnis nach einer orientierenden Leitkultur Mit dem deutschen „Hang zum Bequemen“ hatte sich Nietzsche schon Anfang der 1880er beschäftigt, damals noch unter der Formel der „verfluchten Neigungen zum Behaglichen und Gemüthlichen“ (NL 1880/81, 8[45], KSA 9.392). Dieser Hang, so Nietzsche damals, gab den Deutschen noch einen weiteren „Hang“ ein, nämlich den „zum Gehorsam“: das „elfte Gebot“, „ u n b e d i n g t [zu] g e h o r c h e n“, sei es vor der „Religion“ oder „vor dem Regimente“, dem „gnädige[n] Herrn“ oder der „Partei“ (M 183, 207; NL 1880, 7[313], KSA 9.383). Ein Ausnahmemensch wie Bismarck, einer der seltenen „Befehlenden […] in diesem Lande“, könne diesen „schwachen Charakter aller Deutschen“, ihren Hang zur „Servilität“, sich zu Nutze machen und einer ganzen Zeit seinen Stempel aufdrücken (NL 1880, 7[312], KSA 9.383; NL 1880/81, 8[83], KSA 9.400).350 Die Veranlagung, sich „den Eindrücken ohne Kampf hin[zugeben], aus Schwäche“ (NL 1880, 7[216], KSA 9.362), verurteile die Deutschen „zur Mittelmäßigkeit des Geistes“, und damit auch zu „jener kurzathmigen Rachgier der Mittelmäßigen“, die Nietzsche später Ressentiment nennen und besonders mit dem Christentum verbinden sollte (NL 1880/81, 8[45], KSA 9.392). Volk der Mitte – das hieß demzufolge auch Volk des Mittelmaßes. Dabei blieb Nietzsche auch in JGB: Gerade die deutsche ‚Mischnatur‘, die Offenheit für Einflüsse aller Art, verbunden mit der Unfähigkeit, ihrer Herr zu werden, sie zu ‚verdauen‘, machte die Deutschen „schwach und unbestimmt“ (JGB 251). Der Ausspruch „Der Deutsche selbst i s t nicht, er w i r d “ (JGB 244) zielte auf genau diese Unfähigkeit, im Fluss der Veränderung in sich selbst Halt zu finden. Sie machte für Nietzsche einen bedeutenden Unterschied zu anderen Völkern aus, die in seinem verzeitlichten Denken streng genommen natürlich gleichfalls fortwährend ‚wurden‘, dabei aber aufgrund höherer Organisationsfähigkeit zu einer Kontur von rela-
Diese Passage ist charakteristisch für Nietzsches „agonales Verhältnis zu Bismarck“, wie es Theodor Schieder genannt hat: „Alle Züge der Bismarck-Enthusiasten und leidenschaftlichen Bismarck-Kritiker und ‑Hasser zugleich sind in ihm [sc. in Nietzsches Bismarckbild] enthalten“ (Nietzsche und Bismarck, S. 332, 337). Tatsächlich erkannte Nietzsche einerseits Bismarcks Stärke an, die es ihm erlaubte, den Deutschen das Reich als Korsett anzunähen (vgl. den Gedichtentwurf „Beim Anblick eines Schlafrocks“, NL 1884, 28[47], KSA 11.318), ebenso wie seine Verachtung der lebensentfremdeten deutschen Bildung (vgl. etwa NL 1884, 26[402], KSA 11.256). Auch ihn, der „[k]ein Deutscher, wie er „im Buche steht““, sei (NL 1884, 26[457], KSA 11.272), rechnete Nietzsche bisweilen, wie etwa Goethe, gar nicht unter die Deutschen. Er falle aus ihnen heraus (vgl. z.B. NL 1888, 15[6], KSA 13.405). Bismarck litt selbst nicht am Fieber des Nationalismus, ja erkannte sogar dessen Gefährlichkeit. Gleichwohl – und das war in Nietzsches Augen sein entscheidendes Vergehen – nutzte er es bei Gelegenheit für seine Ziele – und trug so doch zur Verkleinerung und Verdummung der Deutschen durch den Nationalhass bei. Darum war „die aera Bismarcks“ zugleich „die aera der deutschen Verdummung“ (NL 1885/86, 2[198], KSA 12.164).
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tiver Dauer gelangten. Besonders die Juden zählten für ihn hierunter: sie hatten eine bemerkenswerte Festigkeit errungen, ohne zu versteinern: eine Festigkeit auf Zeit. Die Folge der deutschen Konturlosigkeit war ein Bedürfnis nach besonders starker, damit aber auch starrer Orientierung: Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden w i l l —, mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre dick verbundenen Köpfe an —), und wie sie Alle heissen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. (JGB 251)
Die Deutschen wollten am nationalen Nervenfieber leiden, weil sie aus dem Leiden an ihrer unbestimmten Natur heraus den Drang entwickelt hatten, sich zu bestimmen. Das „starke, aber enge Princip „Deutschland, Deutschland über Alles““ (GM III 26) war hierfür das probate Mittel. Es setzte freilich nicht nur eine klare, d.h. dogmatisch festgelegte und unbewegliche ‚Leitkultur‘ voraus – Nietzsche fasst sie hier in die Schlagworte der „christlich-romantische[n]“, „Wagnerianische[n]“, „teutonische[n]“ und „preussische[n]“ „Dummheit“ –, sondern auch eine strikte Abgrenzung von dem, was nicht zu ihr gehörte oder eher schon: nicht zu ihr gehören sollte: namentlich französische, polnische und jüdische Einflüsse. Dafür mussten die Deutschen notwendig vergessen, wie eng die eigene Kultur mit der anderer Völker verwoben war. Über diesen Verdrängungsmechanismus hatte Nietzsche bereits in MA II WS 216 reflektiert: „der deutsche Jüngling“ vergass die Dankbarkeit, inzwischen hatte man ja das Ohr nach den Predigern des Franzosenhasses hingewendet […]. Wenn er nach seiner Vaterschaft spürte, so mochte er mit Recht an die Nähe Schiller’s, Fichte’s und Schleiermacher’s denken: aber seine Grossväter hätte er in Paris, in Genf suchen müssen, und es war sehr kurzsichtig, zu glauben, was er glaubte: dass die Tugend nicht älter als dreissig Jahre sei.351
Dass zunehmend auch Wagner als Stifter deutscher Identität vereinnahmt wurde, obwohl „die f r a n z ö s i s c h e S p ä t - R o m a n t i k der Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu einander gehören“ (JGB 256), war ein weiteres Beispiel. Über den großen Einfluss, den die Slawen Nietzsche zufolge auf die Deutschen hatten, ist bereits hingewiesen worden.352 Neben der „antifranzösi Die Verbundenheit auch und gerade ‚großer‘ Deutscher mit Frankreich hat Nietzsche wiederholt betont – nicht nur im so prominenten Falle Wagners (vgl. dazu 4.3), auch bei Kant (M Vorrede 3), bei Gluck, Beethoven, Goethe, Friedrich dem Großen und sogar Bismarck (NL 1885, 35[64‒66], KSA 11.538 f.) und natürlich bei „l’adorable Heine“ (NW Wohin), den der letzte Nietzsche geradezu zum Franzosen stilisierte (vgl. dazu 4.2.2). Vgl. 3.3.1.
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sche[n]“ und „antipolnische[n]“ nennt Nietzsche in JGB 251 auch noch die „antijüdische“ Gesinnung der Deutschen. Besonders sie hebt er hervor: Dass Deutschland reichlich g e n u g Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat (und noch auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum „Jude“ fertig zu werden — so wie der Italiäner, der Franzose, der Engländer fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung —: das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss. „Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Östreich) zu die Thore zusperren!“ also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht werden könnte.353
Aber auch den Juden, von denen der „schwach[e] und unbestimmt[e]“ „Instinkt“ der Deutschen glaubte, es seien ihrer in Deutschland „ g e n u g “, hatten sie manches zu danken, wie Nietzsche wenig später in FW 348 betonen wird: Nebenbei bemerkt: Europa ist gerade in Hinsicht auf Logisirung, auf r e i n l i c h e r e KopfGewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine beklagenswerth deraisonable Rasse, der man auch heute immer noch zuerst „den Kopf zu waschen“ hat.354
Bereits de Launay, „Peuples et patries“, S. 51, und Niemeyer, Art. Treitschke, S. 378, haben darauf hingewiesen, dass Nietzsches fingierter Ausruf vermutlich eine direkte Anspielung auf Heinrich von Treitschke ist, dessen Name in JGB 251 auch fällt. Er, der angesehene Historiker, hatte 1879 in seinem Aufsatz Unsere Aussichten, der für großes öffentliches Aufsehen sorgte und den Berliner Antisemitismusstreit auslöste, Ressentiments gegen jüdische osteuropäische Einwanderer in gebildeten Kreisen ‚salonfähig‘ gemacht: „Ihr [sc. Engländer und Franzosen] kennt uns nicht; Ihr lebt in glücklicheren Verhältnissen, welche das Aufkommen solcher ‚Vorurtheile‘ unmöglich machen. Die Zahl der Juden in Westeuropa ist so gering, daß sie einen fühlbaren Einfluß auf die Gesittung nicht ausüben können; über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen […]“ (Unsere Aussichten, S. 22 f.). Nietzsche musste Treitschkes Äußerungen umso tiefer missbilligen, weil sie Verwandtschaft mit jener Position aufwiesen, die er einst, im Windschatten Wagners, selbst zur vermeintlich von Juden beherrschten Presse eingenommen hatte (vgl. dazu 1.2.2.2). Über Treitschkes Beitrag zur antisemitischen Ideologie im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts vgl. Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, S. 31‒33; zum Berliner Antisemitismusstreit im Ganzen vgl. Krieger (Hg.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879‒1881. – Die von Nietzsche eingeklammerte Bemerkung „auch nach Östreich“ dürfte ein Verweis auf Treitschkes entschieden preußischkleindeutsche Gesinnung sein, die auch der Nietzsche aus Bonn bekannte Historiker Heinrich von Sybel, der in JGB 251 gleichfalls genannt wird, teilte. Sybel hatte sich von 1859‒1862 eine Kontroverse mit seinem Kollegen Julius von Ficker über die Bewertung der Italienpolitik der mittelalterlichen römisch-deutschen Kaiser geliefert. Sie wurde zum wissenschaftlichen und publizistischen Brennglas der latent schwelenden öffentlichen Debatte darüber, ob ein deutscher Nationalstaat großdeutsch oder kleindeutsch zu sein habe. Vgl. dazu Brechenmacher, Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen?, bes. S. 102‒110. Zur Bedeutung der Juden für die geistige Entwicklung der Deutschen vgl. auch NL 1885, 43[3], KSA 11.702. Die Bedeutung, die Nietzsche den Juden für die Zukunft Europas beimaß, rekonstruiert ausführlich Stegmaier, Nietzsche, die Juden und Europa. Nietzsche sei, gibt Stegmaier zu bedenken, kein Freund der Juden gewesen – damit aber nicht schon ihr Feind: „Nietzsche hatte keine
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Indem die Deutschen sich von Menschen, von denen sie wesentliche geistige Impulse empfingen, abgrenzten, zogen sie sich also zum einen gleichsam selbst den Boden unter den Füßen weg. Zum anderen würde die Selbstisolation vielleicht tatsächlich zu einer Festigkeit führen, die die Konturlosigkeit überwinden mochte. Doch es würde keine flexible, überlebensfähige Festigkeit auf Zeit sein, wie sie JGB 251 zufolge die Juden entwickelt hatten, die sich „„so langsam als möglich!““, damit aber eben auch ‚so schnell wie nötig‘ veränderten. Vielmehr wäre das Ergebnis eine statische Festigkeit, wie Nietzsche sie, unter Anknüpfung an damals verbreitete Vorurteile in der westlichen Welt, den Chinesen zuschrieb. Sie blieben, so Nietzsche bereits im Nachlass 1881, „durch Jahrtausende unverändert“ (11[274], KSA 9.547). In China sei „die Unzufriedenheit im Grossen und die Fähigkeit der Verwandelung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben“ (FW 24), und eben darum war es für ihn „das Reich der tiefsten Vermittelmässigung“ (FW 377).355 So war es kein Zufall, dass Nietzsche die Deutschen, das ‚Volk der Mitte‘, und China, das ‚Reich der Mitte‘, wiederholt in Verbindung brachte: Er nannte Kant den „grosse[n] Chinese[n] von Königsberg“ (JGB 210)356 und schrieb, die Deutschen hätten „ein Anrecht darauf, alle Art von Mandarinen Europa’s heran zu züchten“ (GM II 3).357 Beide standen ihm für Mittelmäßigkeit, die Deutschen aufgrund ihrer haltlosen Unbestimmtheit, die Chinesen aufgrund des Gegenteils: jenes „[V]ersteinern[s]“,
Sympathie für das jüdische Volk – das Fremde, als das er es wahrnahm, kann kein Gegenstand der Sympathie sein. In seiner europäischen Perspektive gewann er jedoch wachsende Achtung vor ‚den Juden‘ und ihren Tugenden, und Achtung ist, was Fremden als Fremden zuerst gebührt. Aber auch Nietzsches heute so erfreuliche Perspektive auf die Juden, nach der sie Europa dazu verhelfen können, zu einem ‚guten Europa‘ zu werden, macht sie noch zum Mittel, nimmt sie noch in Dienst. Sie kann nicht die Perspektive der Juden selbst sein.“ (S. 91) S. auch 3.3.4.2. Vgl. zur Verknüpfung Chinas mit Mittelmäßigkeit auch NL 1882/83, 4[204], KSA 10.168 („(der letzte Mensch: eine Art Chinese)“); NL 1884, 26[417], KSA 11.263 („die Zeit der Ruhe und des Chinesenthums“). – Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit chinesischem Denken vgl. Hsia / Cheung, Nietzsche’s Reception of Chinese Culture, bes. S. 301‒312; Brobjer, Nietzsche’s Reading About Eastern Philosophy, S. 13, 15 f.; Brobjer, Nietzsche’s Reading about China and Japan. – Hsia und Cheung zufolge begegnet die Vorstellung, dass China „l’empire immobile“, eine starre Kultur sei und sich nicht entwickle, bereits bei Hegel, Schelling und Friedrich Schlegel. Auch Herder und der von Nietzsche als ‚Chinese‘ titulierte Kant konnotieren die Chinesen negativ (Nietzsche’s Reception of Chinese Culture, S. 298 f.). Das Bild chinesischer Unbeweglichkeit lässt sich auch außerhalb des deutschen Sprachraums weithin nachweisen, so etwa bei Alexander Herzen, Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill, vgl. dazu Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell, S. 315‒ 319. Vgl. auch NL 1883/84, 24[6], KSA 10.646 („Kant〈s〉 greisen- und chinesenhafte Musik“); NL 1884, 26[96], KSA 11.175 („die groteske Geschmacklosigkeit dieses Chinesen von Königsberg“); AC 11 („das Königsberger Chinesenthum“). Vgl. auch NL 1884, 26[399], KSA 11.255 f. (die Deutschen als „„das Volk der Mitte“, die Erfinder des Porzellans und einer chinesenhaften Art von Geheimräthen“).
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das er in MA II VM 323 noch mit „Aegypterthum“ assoziiert hatte und in dem nun auch die nationalistischen Deutschen ihre Zuflucht nehmen wollten.358
3.3.3.2 Das ‚neue Deutschtum‘ auf dem Weg zum ‚letzten Menschen‘ Dennoch schien Nietzsche es zu Beginn von JGB 244 zu begrüßen, dass die Deutschen ihre paradoxe untiefe Tiefe, ihre unverdauten Einflüsse, noch ungenutzten Potentiale, die er mit der zweideutigen schwäbischen Biederkeit symbolisierte, im Tausch für das „neue[ ] Deutschthum[ ]“, das „nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die „Schneidigkeit“ vermisst“, „loszuwerden im Begriff“ standen. Nietzsches Metapher vom „Berliner Witz und Sand“ (Kursivierung A.R.)359 macht die von ihm erwartete Wirkung der zur nationalen Mentalität aufgestiegenen „preussische[n] „Schneidigkeit““ deutlich: Sie würde die Deutschen „täglich flacher“ machen (NL 1884, 28[2], KSA 11.297), also gewissermaßen die ‚deutsche Tiefe‘ mit Sand zuschütten und damit auch die inneren Spannungen der Deutschen auflösen.360 Dies wiederum würde auch jenes „Andere[ ] und Schlimmere[ ]“, Unberechenbare hinwegnehmen, das „die deutsche Tiefe […] im Grunde […] ist“ – und so quittiert Nietzsche das bevorstehende Ende der deutschen Tiefe sogar mit einem „Gott sei Dank“. Aber der Eindruck, Nietzsche habe die Zeit „des neuen Deutschthums“ herbeigesehnt, täuscht. Nicht umsonst hat er dessen „„Schneidigkeit““ ebenso in Anführungszeichen gesetzt wie die „„deutsche Tiefe““. Er war nicht der, der Gott ernsthaft für etwas dankte, und auch nicht der, der ‚Schlimmes‘ einseitig moralisch verurteilt hätte: In der Vorrede zur zweiten
Zu Nietzsches Analogisierung von Deutschen und Chinesen über den Verweis auf den Ausspruch zu Kant hinaus vgl. auch die Hinweise von Hsia / Cheung, Nietzsche’s Reception of Chinese Culture: „Chinese were for Nietzsche […] also cowardly, but then so were the Germans of the Reformation era“ (S. 304); „China is in a certain sense used merely as a synonym of ‚slave morality‘ for Nietzsche’s attacks on German idealism and Christianity“ (S. 307). Vermutlich eine Anspielung auf die ‚Sandbüchse des Heiligen Römischen Reiches‘, einem auch damals verbreiteten Beinamen der Mark Brandenburg. Vgl. Art. Sandbüchse des heiligen römischen Reichs, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 17, Sp. 539: „scherzhafte Bezeichnung der Mark Brandenburg wegen ihres vorherrschenden Sandbodens“. Eine auf den ersten Blick mögliche Verbindung zwischen dem Berliner Sand und dem zuvor im Aphorismus erwähnten KotzebueAttentäter Karl Ludwig Sand ist hingegen nicht sinnvoll anzunehmen. Nordau, Entartung, Bd. 2, S. 394 f., hat die Ausführungen über die „preussische „Schneidigkeit““ in JGB 244 zum Anlass genommen, Nietzsches Philosophie überhaupt zur „Philosophie der ‚Schneidigkeit‘“ zu erklären: „Seine Lehre zeigt, wie das System Bismarck sich im Kopf eines Tobsüchtigen spiegelt.“ Allein dass die Deutschen „den Offizier über ihn [sc. Nietzsche]“ stellen, störe Nietzsche am „System der ‚Schneidigkeit‘“, „[a]ber von diesem Uebelstand abgesehen […], findet er alles daran gut und schön“. Angesichts von Nietzsches wiederholter Kritik an der geistigen Enge im Deutschen Reich sind diese Ausführungen, die wie Nordaus übrige Argumentation systematisch aus der These von Nietzsches angeborenem Wahnsinn abgeleitet werden, freilich kaum haltbar. Zu Nordaus Auseinandersetzung mit Nietzsche vgl. Schulte, Nietzsches Entartung 1892.
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Ausgabe der FW schreibt er: „„Incipit t r a g o e d i a“ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf einer Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit p a r o d i a , es ist kein Zweifel…“ Was aber am Ende der erweiterten FW begann, war der „ g r o s s e E r n s t “, jener Ernst, zu dem die durch den Nihilismus zu ungeahnten Möglichkeiten befreite Philosophie sich seiner Hoffnung nach erheben und in der „das Schicksal der Seele sich wende[n]“ würde (FW 381).361 Aus Schlimmem konnte in diesem Sinn auch geschöpft, aus ihm konnte etwas gemacht werden. So betrachtet, konnte gerade die Tilgung des „Andere[n] und Schlimmere[n]“ der unausgeschöpften deutschen Möglichkeiten (JGB 244) zu einem Zustand führen, der in seiner zementierten Mittelmäßigkeit gewissermaßen auf ‚noch Schlimmeres‘, ja ‚Schlimmstes‘ hinauslief. Gerade das neue, ‚flache‘ preußisch-berlinerische Deutschtum könnte darum Nietzsches Antwort auf die Frage sein, was denn der „schlimmste Geschmack“, von dem der König zur Linken redet, sein mochte, wenn es „„deutsch und derb““ nicht war (Z IV Begrüssung, KSA 4.350).362 Und so riet Nietzsche denn am Schluss von JGB 244 auch, wenn nichts sonst, so doch den „Anschein und guten Namen“ der ‚deutschen Tiefe‘ „auch fürderhin in Ehren zu halten“ und sie damit, ganz im Sinne ihrer inhärenten Paradoxie, ein Stück weit vielleicht noch in der Preisgabe zu bewahren: „Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt, für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu lassen: es könnte sogar — tief sein!“ Wenn sich die Deutschen schon dauerhaft verkleinern ließen, so wäre auf diese Weise „unser[ ] alte[r] Ruf, als Volk der Tiefe“, wenigstens „nicht zu billig gegen preussische „Schneidigkeit“ und Berliner Witz und Sand“ veräußert. Im Bann des schlimmsten Geschmacks begannen die Deutschen, „ d e [ m ] l e t z t e n M e n s c h e n“ verdächtig ähnlich zu sehen: „Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren!“ Der letzte Mensch hat das „Chaos in sich“ gezügelt, er kann „keinen Stern mehr gebären“, kann nicht mehr über sich hinauswachsen. Er erstarrt und verkümmert (Z I Vorrede 5, KSA 4.19). Bedenkt man, dass für Nietzsche „Chaos“ das zentrale Charakteristikum der Deutschen ist (JGB 244), und dass es gerade das Gebären von Sternen war, das man einst von den Deutschen erwartet hatte,363 wirkt es beinahe wie eine direkte Warnung an seine Landsleute, wenn er Zarathustra dem Volk verkünden lässt: „Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch“ – noch (Z I Vorrede 5, KSA 4.19).
Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 598‒629. West[f]all, Zarathustra’s Germanity, S. 44, hingegen nimmt an, Nietzsche habe an dieser Stelle auf David Strauß angespielt: „What is in the worst of tastes is the fairground motley David Strauss, as presented in Nietzsche’s first Untimely Meditation“. DS liegt zum Zeitpunkt von Z IV freilich zehn Jahre zurück. Vgl. 3.3.2.1.
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3.3.4 Das Potential des Chaos der deutschen Seele 3.3.4.1 Wie ein deutscher Geist ‚geraten‘ kann: Ordnung des Chaos statt Absonderung vermeintlich ‚fremder‘ Gehalte Nietzsche beurteilt das Seelenchaos der Deutschen, die „Gänge und Zwischengänge“, die „Höhlen, Verstecke, Burgverliesse“ der „deutsche[n] Seele“ (JGB 244) nicht einseitig negativ, sondern mehrdeutig. Bei einem „alles verstehende[n], alles nachfühlende[n] und sich aneignende[n] Volk der Mitte, der Vermittlung“ war eben „„kein Ding unmöglich […]““ (NL 1885, 43[3], KSA 11.702 f.): weder Herren- noch Sklavenmoral, weder das „beste[ ]“ noch das „schlimmste[ ]“ (JGB 240) noch, was das betraf, die Umkehrung des einen in das andere.364 So war es kein Widerspruch, dass die chaotische Natur der Deutschen, wie Nietzsche beobachtete, meist zu Bequemlichkeit und Mittelmäßigkeit führte und doch zugleich die notwendige Bedingung für die Überwindung dieser Mittelmäßigkeit durch Ausnahmefälle war.365 Zwar gab es zumal in der deutschen Gelehrtenwelt mit den „beiden Löwen von Berlin, de[m] Anarchist[en] Eugen Dühring und dem Amalgamist[en] Eduard von Hartmann“, prominente Beispiele für „Mischmasch-Philosophen“. Statt die Vielfalt der geistigen Einflüsse produktiv zu machen und, wie es Nietzsche zufolge die Profession der Philosophie war, neue Werte zu setzen, kurz: zu „ h e r r s c h e n“, vertraten sie einen unausgegorenen Eklektizismus und provozierten so mit Recht „Misstrauen und Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden“ seitens der Wissenschaft (JGB 204).366 Dennoch waren die Deutschen, als „ein Tummelplatz geistiger Es ist diese von Nietzsche den Deutschen zugeschriebene Unberechenbarkeit, auf die sich Thomas Mann in seiner berühmten Kritik an der Zwei-Deutschland-Theorie bezogen hat: Es gebe „nicht zwei Deutschland […], ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das Gute im Unglück, in Schuld und Untergang.“ (Deutschland und die Deutschen, S. 279). Reschke, „Welt-Klugheit“, hat diese doppelbödige Rolle der Mitte und des Mittelmaßes in Nietzsches Denken eingehend untersucht. Die Mitte, hält sie fest, „macht unbeweglich und widerstrebt jeder Dynamik, jedem Lebendigen“, und doch geht „[o]hne Mitte […] jedes Leben, jedes Individuum, jede Kultur an den Rand ihrer Katastrophe, geht ihre Stabilität und Identität verloren.“ (S. 246 f.) Große Individuen, die „an den Rand der Extreme gehen und diese leben, […] instabilisieren alle Kultur“, und so braucht es die „Schwerkraft des Mediokren“, um die „(Über)Lebensfähigkeit“ der Kultur zu garantieren (S. 256). Besonders Hartmanns philosophisches System, das dieser selbst freimütig als Kreuzung aus den Philosophien Hegels, Schellings und Schopenhauers bezeichnete, schien Nietzsche derart absurd, dass er es, seinerseits scherzend, bereits in HL 9, KSA 1.311‒324, und abermals in FW 357, KSA 3.601, als einen einzigen ebenso großen wie feinsinnigen Scherz deutete, den Hartmann sich dem Publikum gegenüber erlaubt habe, ohne dass dieses es bemerkt hätte. Vgl. dazu Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 381 f., der die erwähnte Selbstcharakterisierung Hartmanns aus dem Vorwort der Philosophie des Unbewussten zitiert und zum Konflikt zwischen ihm und Nietzsche weiterführend auf Gödde, Nietzsches Perspektivierung des Unbewußten, S. 165‒ 168, und Wolf, Einleitung, verweist. – Nietzsche hat dennoch sowohl Hartmann wie Dühring intensiv und wiederholt gelesen. Ihre Bedeutung für sein Denken darf nicht unterschätzt werden. Vgl. den Überblick bei Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, S. 66‒69, 246 (zu Dühring) und
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Versuchungen und Kämpfe“ (NL 1885, 43[3], KSA 11.703), nicht per se zur Trägheit verurteilt. Die Abgründe, die diese Trägheit nur verbarg, konnten auch aufbrechen, und eben dies war es, was die Deutschen „sich selber“ derart „unberechenbar[ ], überraschend[ ], erschrecklich[ ]“ machte. Nietzsche zeigte diese geistigen Kämpfe eindrücklich am Beispiel August von Kotzebues und seines Mörders, des Theologiestudenten und Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand: „Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss gut genug: „wir sind erkannt“ jubelten sie ihm zu, — aber auch S a n d glaubte sie zu kennen.“ (JGB 244)367 Beide glaubten, die Deutschen zu kennen, und kannten sie doch nur begrenzt: Kotzebue, der in seinen Lustspielen den deutschen Biedermann zeichnete, wurde damit zwar zum erfolgreichsten Bühnenautor seiner Zeit. Seine Stücke galten Kritikern jedoch als frivol und unsittlich,368 und seine Nationalismuskritik und das damit verbundene Geschichtsbild erregte bei den nationalen Kräften so viel Unmut, dass seine Geschichte des deutschen Reichs 1817 auf dem Wartburgfest feierlich verbrannt wurde.369 Darum war auch Sand, der Kotzebue 1819 in Mannheim ermordete, nach seiner Hinrichtung 1820 bei vielen Deutschen in dem Sinne großer Erfolg beschieden, dass sie ihn in den Rang eines nationalen Märtyrers erhoben.370 Hier ließ sich freilich nicht schlicht von einem Gegensatz von Herren- und Sklavenmoral reden: Sands Tat, der Nietzsche bereits in BA V, KSA 1.750, nur „schwärmerische[ ] Kurzsichtigkeit“ hatte
52‒55, 248 (zu Hartmann); vgl. zu Dühring ferner Venturelli, Asketismus und Wille zur Macht; zu Hartmann Gerratana, Der Wahn jenseits des Menschen, und Jensen, The Rogue of All Rogues. Zum Fall Kotzebue-Sand vgl. Schulze, Sand, Kotzebue und das Blut des Verräters, und Williamson, What Killed August von Kotzebue?. Während Schulze sich weitgehend auf Sand und das Attentat konzentriert, geht Williamson auch ausführlich der Zweischneidigkeit des von Kotzebue hervorgerufenen gesellschaftlichen Echos nach: seinem beispiellosen Erfolg einerseits, seiner Verachtung durch führende Figuren des literarischen Lebens (wie Schiller und die Romantiker) und seinem Konflikt mit den Burschenschaften andererseits. Vgl. Williamson, What Killed August von Kotzebue?, S. 893‒899. Vgl. Williamson, What Killed August von Kotzebue?, S. 913 f., 917. Hinzu kam, dass Kotzebue als eine Art Auslandskorrespondent im Dienst des russischen Zaren stand, was ihm u.a. von Sand als Spionage ausgelegt wurde (Williamson, What Killed August von Kotzebue?, S. 915, 936; Schulze, Sand, Kotzebue und das Blut des Verräters, S. 221 f.). Vgl. Schulze, Sand, Kotzebue und das Blut des Verräters, S. 230. – Heinrich von Stein, den Nietzsche für seine Sache zu gewinnen hoffte und der doch bis zu seinem frühen Tod 1887 überzeugter Wagnerianer, Nationalist und Antisemit blieb (vgl. dazu Stackelberg, The Role of Heinrich von Stein), hatte 1885 oder 1886 (eine genauere Datierung ist nicht möglich) das einaktige Theaterstück Karl Ludwig Sand geschrieben, in dem „der letzte Abend vor Sands Hinrichtung“ beschrieben wird (vgl. Bernauer, Heinrich von Stein, S. 487‒492, Zitat S. 487). Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass Nietzsche von dem Stück wusste, und auch wenn er davon wusste, bezog er sich nicht erkennbar darauf: Während in JGB 244 die Frage nach dem Motiv Sands offenbleibt, befasst sich Steins Stück im Wesentlichen mit seiner Ausdeutung: Für den Sand des Theaterstücks ist die „Kunst […] Ausgangspunkt und Zweck des menschlichen Handelns“, seine „Tat ist zuerst ästhetisch motiviert, nicht politisch“ (Bernauer, Heinrich von Stein, S. 490).
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bescheinigen können,371 war als Gewaltakt eben nicht schon Zeichen einer Herrenmoral, sondern vielmehr einer moralistischen wie nationalistischen Engstirnigkeit. Und Kotzebue, der den Deutschen den Spiegel vorhielt, war in seinen Analysen der deutschen Mentalität, die Nietzsche in einem Notat als „gut[es]“ „Gemälde“ lobte (NL 1885, 36[40], KSA 11.567),372 vielleicht scharf- und hintersinniger, als man ihm zugestehen wollte. Die Deutschen wurden zu Nietzsches Paradebeispiel für das Phänomen, dass „ H e r r e n - M o r a l und S k l a v e n - M o r a l […] sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele“ miteinander ringen (JGB 260). Hatte er dies in JGB 244 mit dem Verweis auf Kotzebue und Sand zunächst nur angedeutet, führte er wenige Sätze später einen Fall an, an dem sich das seeleninterne „harte[ ] Nebeneinander“ (JGB 260) opponierender Willen zur Macht geradezu paradigmatisch beobachten lässt: Die Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle Götter das Fürchten gelernt haben. (JGB 244)
Nietzsche meinte vermutlich Hegel,373 den er nicht nur kurz zuvor erwähnt, sondern bereits in M 193 ähnlich beschrieben hatte: Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als H e g e l , — aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugie-
Vgl. dazu Emden, Friedrich Nietzsche, S. 126 f.: „Nietzsche emphasized in his lectures ‚Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten‘ that the ‚assassination of Kotzebue‘ was an act of ‚shortsighted enthusiasm,‘ triggered by the lack of political orientation in a post-Napoleonic Germany that had betrayed neo-humanist ideals. He thus characterized the emergence of the student corporations as a political and social force in nineteenth-Century Germany as an ill-fated attempt to compensate for the lack of intellectual leadership.“ – Im NL 1885, 36[38], KSA 11.567, nannte Nietzsche Sand abermals einen „lebensgefährliche[n] Schwärmer“, der „vielleicht seine Rache nur an der falschen Stelle nahm“. Bereits in MA II VM 170 hatte Nietzsche Kotzebue diese Hellsicht zugebilligt, die er dort freilich darauf zurückführte, dass er selbst dem Bild, das er malte, vollends entsprach: „so waren sie, so war er“. In einer Vorstufe zur zitierten Passage aus JGB 244 hatte er sich hingegen noch explizit auf Leibniz bezogen: „Leibnitz ist interessanter als Kant – typisch d e u t s c h: gutmüthig, voll edler Worte, listig, geschmeidig, schmiegsam, ein Vermittler (zwischen Christenthum und der mechanistischen Weltansicht), ungeheuer verwegen für sich, verborgen unter einer Maske und höfischzudringlich, anscheinend bescheiden.“ (NL 1884, 26[248], KSA 11.215) Im veröffentlichten Aphorismus haben sich die Attribute aber entscheidend verschoben und mit ihnen vermutlich auch der Adressat der Aussage: Dem Notat zufolge war Leibniz gerade nicht gesellschaftlich abgeschmackt und schwerfällig, sondern im Gegenteil ein „geschmeidig[er], schmiegsam[er]“ Höfling, der sich um ein gutes Einvernehmen mit den Fürsten, deren Anwalt, Bibliothekar und Geschichtsschreiber er war, bemühte und sich womöglich anstößige Verwegenheiten nur „für sich“ erlaubte.
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rig […]: jener Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine feine, gewagte Wortverbindung […]!
In Hegels Denken hatten die Extreme, zwischen denen die deutsche Seele lavierte, zu einer eigentümlichen Form, einer den Deutschen „ e r l a u b t e [ n ] Form des esprit“ gefunden. Äußerlich schwerfällig und mit dem Anschein „höchst moralische[r] Langeweile“ (M 193), im Kern aber kühn und leichtfüßig, deutete sich hier an, worüber sich Nietzsche bis zuletzt „seine schwermüthigen Gedanken“ machte: „was der deutsche Geist sein k ö n n t e “ (GD Deutschen 2).374 Die eigenwillige Sprache von Hegels Schriften machte in Nietzsches Augen allerdings deutlich, dass auch er dieses Potential noch nicht vollends eingelöst hatte. Die Widerspruchsnatur erhob sich in ihm zwar zum philosophisch Waghalsigen, ja Revolutionären und brachte so den für Nietzsche so bedeutsamen Entwicklungsgedanken hervor, konterkarierte sich aber gleichzeitig durch die „Umwicklungen“ mit „abstruse[r] Wissenschaft“ selbst (M 193). Wie ein deutscher Geist aussehen würde, der sich nicht mehr selbst im Wege stand, sondern Herr über sein Chaos geworden war, notierte sich Nietzsche in einer Vorstufe zu JGB 244: Freilich: sobald einmal, in einem Ausnahmefall ein deutscher Geist geräth, und in ihm Ein Wille über die „vielen Seelen“ kommandiren lernt, dann ist solch ein Ausnahme-Deutscher auch sofort gefährlicher, kühner, verwegener, geheimer, umfänglicher, ungeheurer, verschlagener (– und, folglich {darum vielleicht gar gar}, „offenherziger“ –) als die anderen Europäer sich auch nur vorstellen können. (KGW IX 4, W I 5.30)375
Ein solcher Deutscher hätte das Chaos nicht durch Absonderung vermeintlich ‚fremder‘ Gehalte abgeschafft, sondern es geordnet. Damit hätte er auch die Möglichkeiten, die die vielfältigen Einflüsse in ungeordnetem Zustand nur potentiell hatten, verfügbar gemacht. Er könnte dann souverän mit ihnen umgehen und in dieser Souveränität sich produktiv wiederum neue Möglichkeiten erschließen. Er hätte dann nicht nur die deutsche Sprache im Griff – ganz wie Nietzsche es eige-
Houlgate, Nietzsche, Hegel, and the Criticism of Metaphysics, S. 37, sieht demgegenüber in M 193 eine scharfe Kritik an Hegel. Hegel besitze demnach zwar esprit, doch bleibe er letztlich „a deceiver who betrayed his wit and his insight for the sake of his faith in morality and reason; he was a German philosopher in pursuit of mystical ‚depth‘ and ‚thoroughness‘ and thereby lacking the intellectual purity and honesty of self-understanding which Nietzsche prized so highly in himself“. Vgl. zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Hegel eingehend 3.3.5.2 und 3.3.5.3. In KSA 14.369 ist diese Passage nur unvollständig und sinnentstellt wiedergegeben. Dort folgt auf „man vergegenwärtige sich geschwind einen Baiern, der“ (W I 5.32, Z. 48) sofort „gefährlicher, kühner, verwegener, geheimer, umfänglicher, ungeheurer, verschlagener (und folglich „offenherziger“ –) ist, als die anderen Europäer sich auch nur vorstellen können.“ (W I 5.30, Z. 32). In KSA 14 fehlt also über eine halbe Seite Text. – Nietzsche beschrieb seine Notizhefte oft von hinten nach vorn und ließ meist jede zweite Seite für spätere Notizen frei, daher folgt in W I 5 S. 30 auf S. 32.
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nem Bekunden nach hatte.376 Vor allem würde er, indem er die Breite seiner Erfahrungen fortwährend auf ihre Potentiale hin erschloss, in gewissem Sinne tatsächlich das werden, was zu sein man den Deutschen im Ganzen zuschrieb: tief. Darum ist es mehr als nur eine Spitze gegen den deutschen Dünkel metaphysischer Tiefe, wenn Nietzsche Jahre später resümiert: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bücher gegeben, die sie überhaupt besitzen – Grund genug, dass die Deutschen kein Wort davon verstehn…“ (WA, Zweite Nachschrift, KSA 6.46, Kursivierung A.R.)377 Nietzsche markierte damit seine eigene Anwärterschaft auf den Titel des „gefährlicher[en], kühner[en], verwegener[en], geheimer[en], umfänglicher[en], ungeheurer[en], verschlagener[en]“ Deutschen.378 Der Deutsche, der „geräth“, ist damit nichts anderes als ein guter Deutscher oder besser: ein guter Europäer.
3.3.4.2 Selbstzucht des einzelnen Deutschen statt Höherzüchtung der deutschen ‚Rasse‘ Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird ein bemerkenswertes Notat aus dem Nachlass 1885 besser verständlich: Die Deutschen s i n d noch nichts, aber sie w e r d e n etwas; also haben sie noch keine Kultur, — also k ö n n e n sie noch keine Cultur haben! Dies ist mein Satz: mag sich daran stoßen, wer es muß: nämlich wer Deutschthümelei im Schädel (oder im Schilde) führt! — Sie sind noch nichts: das heißt: sie sind allerlei. Sie w e r d e n etwas: das heißt, sie hören einmal auf, allerlei zu sein. Dies letzte ist im Grunde nur ein Wunsch, kaum noch eine Hoffnung; glücklicher Weise ein Wunsch, auf den hin man leben kann, eine Sache des Willens, der Arbeit, der Zucht, der Züchtung so gut als eine Sache des Unwillens, des Verlangens, der Entbehrung, des Unbehagens, ja der Erbitterung: kurz, wir Deutschen w o l l e n Etwas von uns, was man vor uns noch nicht wollte — wir wollen Etwas m e h r ! Daß diesem „Deutschen was wird und noch nicht ist“ — etwas Besseres zukommt als die heutige deutsche „Bildung“, daß alle „Werdenden“ ergrimmt sein müssen, wo sie eine Zufriedenheit auf diesem Bereiche, ein dreistes „Sich-zur-Ruhe-setzen“ oder „Sich-selbst-Anräuchern“ wahrnehmen: das ist mein zweiter Satz, über den ich auch noch nicht umgelernt habe. (36[53], KSA 11.572, korr. nach KGW IX 4, W I 4.12)
Vgl. 5.2. Vgl. etwa auch EH WA 4: „Gesetzt, dass der tiefste Geist aller Jahrtausende unter Deutschen erschiene, irgend eine Retterin des Capitols würde wähnen, ihre sehr unschöne Seele käme zum Mindesten ebenso in Betracht …“ Es ist darum kein Widerspruch zu seiner Kritik an der ‚deutschen Tiefe‘, sondern folgt geradezu aus ihr, dass Nietzsche im späteren Werk die Metapher der Tiefe und des Unterirdischen strategisch zur Verdeutlichung seiner eigenen philosophischen Arbeitsweise nutzt, etwa wenn er die neue Vorrede zur M mit den Worten beginnt: „In diesem Buche findet man einen „Unterirdischen“ an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, dass man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat –, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt […].“ (M Vorrede 1) Schon zuvor erscheint der Begriff „Tiefe“ bei Nietzsche in durchaus positivem Sinn, vgl. etwa Z III Tanzlied 3, KSA 4.285 f., und Z IV Nachtwandler-Lied, KSA 4.395‒404.
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Was zunächst wie die Beschwörung einer monokulturellen Einheit Deutschlands aussieht, entpuppt sich im Weiteren gerade als Plädoyer für die individuelle „Arbeit“ und „Zucht“. Deutschlands Kultur soll eben nicht harmonisiert werden – denn das hieße: sie auf einen Kanon zu verengen. Ein solcher Kanon liefe unvermeidlich auf jene „Zufriedenheit“, jenes „dreiste[ ] „Sich-zur-Ruhe-setzen“ oder „Sich-selbst-Anräuchern““ hinaus, das „etwas Besseres“ verhütet und über das sich folglich „alle „Werdenden“ ergrimmt“ zeigen „müssen“. Vielmehr soll jeder einzelne ‚Werdende‘ fortwährend an der Kultur arbeiten – das aber heißt: an sich arbeiten. Nietzsches schwache „Hoffnung“, dass die Deutschen „einmal auf[hören], allerlei zu sein“, meint so keine Tilgung des „allerlei“, sondern den Versuch jedes Einzelnen, es in einer Ordnung, die aus ihm „Etwas m e h r “ machen kann, aufzuheben und damit zu bewahren. Nietzsche wusste allerdings, dass nicht jeder diesen Versuch unternahm oder unternehmen würde und dass nicht jeder, der ihn unternahm, erfolgreich dabei sein würde: „Mehr Heerdenthier als je“, heißt es im Nachlass 1885 am Ende einer Liste möglicher Themen für sein nicht ausgeführtes Buchprojekt über die Deutschen, „– aber es giebt günstige Bedingungen auch für Einzelne.“ (34[115], KSA 11.459) So blieb die Züchtung der Deutschen, die er thematisierte, immer eine Selbstzucht des je einzelnen Deutschen und seiner individuell verschiedenen Anlagen und nicht, wie Nietzsche vorgeworfen worden ist, ein Züchtungsprogramm, das die ‚deutsche Rasse‘ im Ganzen erhöhen und sie zur Herrin Europas machen sollte.379 Diese vor allem unter dem Eindruck von Nietzsches Vereinnahmung zuerst durch den deutschen Imperialismus, dann den Nationalsozialismus aufgekommene pauschalisierte Lesart, die das populäre Nietzsche-Bild nachhaltig geprägt hat, ist in der Nietzsche-Forschung neuerdings nochmals besonders vehement von Conway, Nietzsche’s Germano-mania, vertreten worden. Conway zufolge habe Nietzsche eine „new pan-European order“ begründen wollen, basierend auf einem „racial contract“, den er v. a. im 8. Hauptstück von JGB, aber auch in GM entwickelt habe. Dieser „contract“ mache deutlich, dass „his vision of ‚Europe‘ is surprisingly narrow and restricted“: „All European peoples and nations will participate politically in Nietzsche’s empire, but only Germans and French will participate fully, i.e. racially, in the new European order.“ Entscheidend sei für Nietzsche aber der deutsche Einfluss: „The overwhelmingly dominant identity of Nietzsche’s empire is Germanic“ (S. 11, 25 f.). „Despite what he both says and implies about the Germans“, fasst Conway seine Eindrücke zusammen, „he has by no means given up on them as the European people of world-historical destiny. At the end of the day, that is, he remains an inveterate – if complicated – Germanophile“ (S. 7). Gegen diese Diagnose sind drei Gesichtspunkte geltend zu machen: Erstens ist es methodisch bedenklich, die Gedanken zu den Deutschen und ihrem Konfliktpotential, die Nietzsche in unterschiedlichen Kontexten und folglich mit je unterschiedlicher argumentativer Zielrichtung niedergeschrieben hat (etwa in seinen von Ironie durchglühten und differenziert abgeschatteten Überlegungen zu den komplexen geistigen Verknüpfungen der europäischen Kultur im 8. Hauptstück von JGB oder den zusehends polemischen Äußerungen der als „Streitschrift“ untertitelten GM) und die im Hinblick darauf, welche ‚Deutschen‘ Nietzsche jeweils meinte, stark zu unterscheiden sind (die zeitgenössischen, die nach dem Bruch in der Frühen Neuzeit oder die ‚alten‘ Deutschen oder Germanen), als eine in sich systematisch geschlossene und verbindliche Blaupause für die europäische Zukunft zu behandeln. Zweitens deutet Conway den Umstand, dass Nietzsche so stark an den Deutschen leidet, dahingehend, dass er ein zwar verkappter, aber notorischer „Germanophile“ sei, statt ihn zunächst einfach darauf zurückzuführen, dass die Deutschen
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Es wäre darum verfehlt, Nietzsches Frage nach den Deutschen zu einer Frage nach der Zukunft der Deutschen zu machen und damit sein Problem mit den Deutschen zu einem Problem der Züchtung zu verkürzen, zur Frage danach, wie man bewirken könne, dass sie ihr ‚innerdeutsches‘ Konfliktpotential ausschöpften.380 Nietzsche gab wohl Hypothesen ab, wie die Deutschen ihr Potential womöglich besser ausschöpfen könnten: Er dachte darüber nach, „ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens“ des „adelige[n] Offizier[s] aus der Mark“ das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzuthun, hinzuzüchten liesse. Doch hier ziemt es sich, meine heitere Deutschthümelei und Festrede abzubrechen: denn ich rühre bereits an meinen E r n s t , an das „europäische Problem“, wie ich es verstehe, an die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste. — (JGB 251)
Aber Nietzsche betonte, dass dies nur ein „Beispiel“ war und zudem eines, das „meine[r] heitere[n] Deutschthümelei“ entsprang: seinem eigenen Leiden an den Deutschen und seinem Wunsch, sie für sich erträglicher zu machen, dem er in solchen eben nicht ganz ernst gemeinten Vorschlägen Luft machte.381 Dass er seine „DeutschthümeNietzsche schon aus biographischen Gründen sehr vertraut waren und ihre Kultur und zumal deren ‚Fehler‘ ihm sehr nahe gehen mussten. Damit wiederholt Conway im Übrigen, nun freilich unter umgekehrten ideologischen Vorzeichen, die Interpretation Ernst Bertrams: „Nietzsche beherrscht nun sein eigenes Reich, in dem der Name ‚deutsch‘ verpönt bleibt; aber dieses Reich selber ist ihm unbewußt ein Reich deutschen Werdens und deutscher Hoffnung geworden […]: schon im Namen trägt der Ü b e r mensch das Stigma seines tiefdeutschen Wesens […]“ (Bertram, Nietzsche, S. 93). Drittens unterstellt Conway Nietzsche einen biologistischen Rassebegriff, der nicht haltbar ist. Dies haben die Untersuchungen Gerd Schanks zu den Begriffen „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche gezeigt. Schank kommt zu dem Schluss, das Wort „züchten“ verweise „in den besprochenen Kontexten [sc. der Nietzscheschen Schriften] immer auf ‚erziehen‘ und ‚erzieherische‘ Maßnahmen“ (Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 356). Folglich habe Nietzsche, wenn er von ‚Züchtung‘ der Deutschen spricht, eine produktive Zusammenarbeit mit Völkern im Auge, an der diese wie auch die Deutschen wachsen könnten: „Das Volk der Deutschen soll […] mit anderen Völkern zusammen […] einen internationalen ‚Völkerbund‘“ bilden, „unter der Führung eines ‚vereinten Europa‘“ (Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 105). Vgl. Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, und Conway, Nietzsche’s Germanomania, und zu beiden die vorangehende Anm. Nietzsche war sich also selbst des psychologischen Hintergrundes von Bemerkungen bewusst, wie er sie sich in einer Vorstufe zu JGB 251 aus dem Nachlass 1885 (34[111], KSA 11.457) notierte: „Die Deutschen sollten eine herrschende Kaste züchten: ich gestehe, daß den Juden Fähigkeiten innewohnen, welche als Ingredienz bei einer Rasse, die Weltpolitik treiben soll, unentbehrlich sind.“ Obwohl er damit keineswegs bereits gesagt hatte, dass die Deutschen bzw. ihre herrschende Kaste Europa oder gar die Welt beherrschen, d.h. die einzigen Mitglieder der „Europa regierenden Kaste“ (JGB 251) sein würden, spürte er doch das Problematische hinter solchen normativen Aussagen. Er hypothetisierte sie darum im veröffentlichten Text, indem er sie nicht nur zu Hinweisen abmilderte, sondern auch betont als seine eigenen und darum beschränkten zur Schau stellte und als ‚deutschtümelnd‘ persiflierte. Es ist daher umso verwunderlicher, dass Conway, Nietzsche’s Germano-mania, S. 22, vermerkt: „his plans for the future of Europe suffer precisely
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lei und Festrede“ an diesem Punkt „abzubrechen“ ziemlich findet, weil er bereits an seinen „ E r n s t “ „rühre“, meint gerade nicht, dass einzelnen, geratenen Deutschen und schon gar nicht den Deutschen im Ganzen in dieser „Kaste“ ein herausgehobener Platz gebühre, gebühren müsse oder gebühren würde. Vielmehr meint es, dass das „[H]inzuthun, [H]inzuzüchten“ – denn darauf bezieht sich das „hier“ des Folgesatzes –, d.h.: das Problem der Züchtung allgemein, eben nicht mit einem von außen aufgenötigten allgemeinen Zuchtplan zu lösen war, sondern nur von jedem für sich, durch individuelle Arbeit an sich. Wer dann dieser „neuen über Europa regierenden Kaste“ angehören würde, die sich, wie er in einem Notat schreibt, aus „den umfänglichsten Seelen, fähig für die verschiedensten Aufgaben der Erdregierung“ (NL 1884, 25[221], KSA 11.72), zusammensetzen würde, hatte nicht Nietzsche zu entscheiden: es musste sich zeigen.382
from a shortage of Heiterkeit, especially with respect to his own role as a broker of the new European union. […] In particular, he is not yet able to laugh at the Germanocentrism that motivates and distorts his vision of a Europe renewed.“ Gerade seine eigene, und sei es invertierte, Deutschtümelei, seinen eigenen „Rückfall in alte Lieben und Engen“ (JGB 241, vgl. dazu 3.2.4) zu verlachen und so zu entkräften ist aber das, was Nietzsche in JGB 251 (und nicht nur dort) tut. Das schließt nicht aus, dass er, wie Niemeyer vermutet, mit seiner ‚heiteren Deutschtümelei‘ zugleich ein ernstes Signal für das „geistige Niveau der Juden“ und gegen die „Vereinseitigungen“ der „sich damals bereits als Herrenrasse fühlenden arisch-antisemitischen Aristokratie“ setzen wollte (Niemeyer, Nietzsches rhetorischer Antisemitismus, S. 159, in diesem Sinne auch Lampert, Nietzsche’s Task, S. 256 f.). Dass Nietzsche dafür eintrat, die Deutschen sollten sich den Juden öffnen und in ein Verhältnis gegenseitiger Bereicherung eintreten, darf nicht mit einer „racial neutralization“ verwechselt werden, wie sie Conway, Nietzsche’s Germano-mania, S. 27‒37, Zitat S. 32, und Cancik, Nietzsches Antike, S. 132, bei ihm am Werk sehen. Cancik verweist zum Beleg auf eine Formulierung aus JGB 251: „Die Juden sind dann ‚aufgesaugt‘. So entsteht die ‚reine‘ europäische Rasse und Cultur [sic!].“ Im Kontext des Aphorismus gesehen, ergibt sich freilich ein anderes Bild: „Einstweilen wollen und wünschen sie [die Juden] vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten danach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein […]; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen […].“ Nietzsche spricht hier sichtlich nicht von einer totalen Assimilation der Juden, an deren Ende sie sich in einer neuen europäischen Rasse aufgelöst hätten und als Juden gar nicht mehr existierten. Denn wer „[e]instweilen“ (!) wünscht, „ein- und aufgesaugt“ zu werden, um „endlich“ „geachtet“ zu werden, der will seine eigene Identität keinesfalls abschaffen, sondern will sich schlicht in die Gesellschaft, in der er lebt, integrieren – wozu aber auch die Bereitschaft der Mehrheit Voraussetzung ist, die Minderheit als Teil der Gesellschaft anzuerkennen und sie insofern ‚aufzusaugen‘. Dass derjenige, der sich integriert, sich damit notwendig ein Stück weit verändert („(der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt)“), liegt in der Natur jedes Integrationsprozesses. Die starke Tendenz zur völligen Assimilation hingegen, die unter deutschen Juden im 19. Jahrhundert zu beobachten ist, war nicht zuletzt eine Folge gerade jener antisemitischen Diskriminierungen, gegen die sich Nietzsche wandte. Nietzsche griff, wie Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 348, beobachtet, mit seinem Konzept einer „Europa regierenden Kaste“ „offenbar auf Platons Idee eines besonderen, für die Regierung Europas und der Welt eigens herangebildeten Standes zurück; aktuell spricht man von gezielter Elitenbildung.“ Diese Kaste würde nicht institutionell regieren (wie z.B. Ottmann,
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Nietzsche, lässt sich festhalten, wollte und konnte die Frage, was die Deutschen in Zukunft sein würden, gerade nicht beantworten – das hätte seinem offenen Kulturbegriff widersprochen. Vielmehr wollte er einen Anstoß dazu geben, dass die Deutschen, jeder für sich, die Verantwortung für ihre Zukunft selbst übernahmen, statt sich der Idee eines „Reichs“ unterzuordnen.
3.3.5 Nietzsches Entfaltung der Bedingungen der Möglichkeit seiner selbst aus der deutschen ‚Widerspruchs-Natur‘ 3.3.5.1 Katalysatoren und Saboteure der Kultur: Die Deutschen als Vermittler und Verzögerer Nietzsche zeichnet, das ist deutlich geworden, von den Deutschen ein janusköpfiges Bild. Diesem Bild entspricht die zweischneidige Rolle, die sie in der Geschichte, wie er sie interpretiert, einnehmen: die des Vermittlers und Verzögerers. Beide Charakteristika durchziehen bereits seit MA I seine Auseinandersetzung mit ihnen.383 Die Deutschen sind einerseits eine „Ferment-Rasse“, ein „Volk der Mitte, der Vermittlung“, und als solches Urheber „fortentwickelte[r] Geiste[r]“ vom Schlage eines Goethe oder Hegel (NL 1885, 43[3], KSA 11.703), andererseits die „ Ve r z ö g e r e r par excellence in der Geschichte“ (WA, Nachschrift, KSA 6.41). Diese Doppelgesichtigkeit entspricht der Unterscheidung von deutsch und überdeutsch/europäisch und ist letztlich nichts anderes als eine Gestalt des Wechselspiels von Gesundheit und Krankheit, das die Periodik der décadence ausmacht (der natürlich auch die Deutschen unterworfen sind). Wie Gesundheit und Krankheit sind das Vermittelnde und Verzögernde nur graduelle Unterschiede: beide entspringen dem Chaos der deutschen Seele, das eben in beide Richtungen ausschlagen kann: hin zu „ganz unbedenklich guten Deutschen, welche produktiv sind, Ve r m i t t l e r gewesen [sind] und […] europäisch gearbeitet [haben]“ (NL 1880, 7[14], KSA 9.319), aber auch zum Gegenteil: Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 129, annimmt), sondern durch die herausragenden Orientierungsfähigkeiten ihrer einzelnen und in ihrer Souveränität voneinander unabhängigen Mitglieder. Diese Orientierungsfähigkeiten würden sie in einer Zeit akuter Orientierungskrisen zur Autorität für andere machen, an die diese sich halten können, und zwar vorübergehend, d.h. solange sich die von ihnen vorgegebene Orientierung als anschlussfähig erwies. Das aber „ist offensichtlich kein politisches Programm mehr“, und selbst wenn es das wäre, „bliebe immer noch ganz offen, wie Nietzsche sich seine Realisierung gedacht hätte“: „Er hat Europa gerade nicht auf politische Programme (wie Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus oder gar Antisemitismus) festgelegt, wollte es, da solche Programme unvermeidlich zu Parteiprogrammen werden, eben davon abhalten und es stattdessen anregen, sich als ‚Cultur-Centrum‘ zu begreifen.“ (Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 348, s. dazu auch Marti, Art. Europa, Europäer, S. 222) – Zum Begriff der Anschlussfähigkeit vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 22‒28, bes. S. 22: „Anschlussfähigkeit zeigt sich darin, ‚was jemand aus einer Situation machen kann‘, ‚wie viel er mit ihr anfangen‘ und ‚was er aus ihr lernen‘ kann.“ Vgl. 2.1.1, 2.1.3.
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Die Deutschen verderben, als N a c h z ü g l e r, den großen Gang der europäischen Cultur: Bismarck L u t h e r z.B.; neuerdings, als Napoleon Europa in eine Staaten-Association bringen wollte (der einzige Mensch, der stark genug dazu war!), haben sie mit den „ F r e i h e i t s K r i e g e n“ Alles vermanscht und das Unglück des Nationalitäten-Wahnsinns heraufbeschworen (mit der Consequenz der Rassenkämpfe in so altgemischten Ländern wie Europa!) (NL 1884, 25[115], KSA 11.43 f.)
Als graduelle Unterschiede konnten beide Momente ineinander umschlagen: Wer „vermittelte, überbrückte“, also Konflikte im weitesten Sinne mediatisierte, Gegensätze abschwächte, der war damit potentiell immer schon „ Ve r z ö g e r e r par excellence“ (NL 1887, 9[3], KSA 12.341). Denn die Überbrückung von Gegensätzen konnte ebenso gut zu einer neuen, fruchtbaren Synthese führen wie das fruchtbare Moment des Konflikts, den Streit gegensätzlicher Standpunkte, abschwächen und damit verschenken. Andererseits konnte die Verzögerung von Entwicklungen eine „Spannung“ erzeugen, ohne die diese Entwicklungen sich gar nicht hätten vollziehen können (JGB Vorrede). So waren die Deutschen Katalysatoren und Saboteure der Kultur zugleich, ohne dass man beides trennscharf voneinander unterscheiden konnte. Nietzsche hat dies in der Vorrede zu JGB auf ein ebenso einprägsames wie provokantes Bild gebracht: „Die Deutschen haben das Pulver erfunden – alle Achtung! aber sie haben es wieder quitt gemacht – sie erfanden die Presse.“ Das Schwarzpulver, für dessen Erfinder Nietzsche offenbar den Franziskanermönch Berthold Schwarz aus Freiburg hielt,384 revolutionierte die Kriegsführung in einer Weise, die in der Frühen Neuzeit, dem Zeitalter der Eroberungen, von entscheidender Bedeutung sein sollte und ohne die auch das (wie Nietzsche es interpretierte) Einigungsprojekt Napoleons, das die Deutschen dem zitierten Notat 25[115] nach vereitelt hatten, nicht denkbar gewesen wäre; der preisgünstige und schnelle Druck von Flugblättern, Zeitungen und Zeitschriften, den Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern ermöglichte, bedingte hingegen einen völlig neuen, virtuellen Raum des Diskurses und führte zu jenem Strukturwandel der Öffentlichkeit, deren großer Kritiker Nietzsche war: „Man sieht es sofort, wie in unserem demokratischen Zeitalter, mit der Freiheit der Presse, der Gedanke plump wird. Die Deutschen haben das Pulver erfunden – alle Achtung! Aber sie haben es wieder quitt gemacht: sie erfanden die Presse.“ (NL 1885, 34[92], KSA 11.450)385
Diese Auffassung war schon zu seiner Zeit im Grunde nicht mehr haltbar, in Deutschland aber gleichwohl noch weit verbreitet. Beides bezeugt der Art. Schwarz, Berthold, in: Herders Conversations-Lexikon, Bd. 5, S. 139, aus dem Jahr 1857. Braatz, Friedrich Nietzsche, der Nietzsches Kritik der öffentlichen Meinung ausführlich untersucht (vgl. bes. S. 19‒73), hält pointiert fest (S. 58): „In der wachsenden öffentlichen Meinung sieht Nietzsche die Tyrannei des Mittelmaßes und die Vernichtung des Herausragenden voranschreiten.“ Zur Entwicklung der Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, und, besonders mit Bezug auf Deutschland und in kritischer Auseinandersetzung mit Habermas, Goldenbaum, Appell an das Publikum, bes. die Einleitung, S. 1‒118.
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Beides konnte man aber auch ganz anders werten: die Erfindung des Schwarzpulvers als Weg zur Mechanisierung des Tötens, die der Presse als Beitrag zur Internationalisierung des Diskurses, die nicht nur neuen, friedlichen Wegen der Konfliktlösung den Weg ebnen, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur von Nietzsche herbeigesehnten kulturellen Einheit Europas leisten konnte. Dieser umgekehrten Deutungsmöglichkeit war sich Nietzsche unzweifelhaft bewusst. Sie betonte nur noch zusätzlich die oszillierende Stellung, die er den Deutschen in der Geschichte der europäischen Kultur zuschrieb. Die meisten deutschen Figuren, mit denen sich Nietzsche in seinem Werk intensiv auseinandergesetzt hat, haben diese zwei Gesichter: Luther, Leibniz,386 Kant, Hegel, Schopenhauer, Wagner.387 Lediglich Goethe und Schiller fallen hier, auf ganz unterschiedliche Weise, aus dem Rahmen.388 Während es weniger verwundert, dass Nietzsche Goethe der Dialektik des Deutschen entrückte,389 erstaunt dieser Befund bei Schiller umso mehr. Er war Schwabe – und müsste demzufolge, nach JGB 244, wenn schon bieder, so doch zugleich tückisch gewesen sein. Ehe wir unsere Überlegungen zur Dialektik des Deutschen weiterführen, scheinen darum einige Worte zum ‚Fall Schiller‘ angebracht. Zwar schreibt Nietzsche Schiller einen oberflächlichen, hohlen Glanz zu (vgl. NL 1885, 36[38 f.], KSA 11.567) – etwas Abgründig-Widersprüchliches wollte er darin Ohne dass er mit ihm je ähnlich intensiv rang wie mit den anderen hier Genannten, wird Leibniz für den späteren Nietzsche zunehmend bedeutsam, zumal im Kontext seines Problems mit den Deutschen. Wagner wird hier einstweilen ausgeklammert. Ihm kommt in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung zu, die es nötig macht, ihn separat zu erörtern. Vgl. 4.3. Drei weitere Gestalten der deutschen Geistesgeschichte, über die Nietzsche wiederholt, jedoch nicht annähernd so intensiv nachdenkt wie über die bislang genannten, sind für seine Konstruktion der geschichtsphilosophischen Dialektik des Deutschen gleichfalls weitgehend bedeutungslos: In seiner Wagner-Phase hatte sich Nietzsche mit Beethoven und insbesondere Wagners Bild von ihm eingehend auseinandergesetzt (vgl. dazu Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, S. 114‒147), danach wandelt sich das Bild. Nietzsche schreibt Beethoven wohl vereinzelt eine Zweinatur zu („Beethoven ist das Zwischen-Begebniss einer alten mürben Seele, die beständig zerbricht, und einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig k o m m t “, JGB 245): Er tituliert ihn einerseits als einen „höhere[n] und besser ausgestattete[n] Menschen“, in dem „eine kräftigere Zukunft vorbereitet“ liege (NL 1884, 26[462], KSA 11.273, vgl. JGB 256), andererseits rechnet er ihn unter „diese ganze romant〈ische〉 Musik“ (NL 1886/87, 7[7], KSA 12.285). Von diesen wenigen Stellen abgesehen, schenkt Nietzsche Beethoven in seinem späteren Denken und auch der späteren Auseinandersetzung mit den Deutschen nur geringe Beachtung. Er bleibt daher im Weiteren außen vor, ebenso wie Friedrich Hölderlin, für den Ähnliches gilt. Nach MA fällt sein Name nur noch in fünf kritischen Nachlassnotaten (NL 1884, 25[172], KSA 11.60; 26[307, 405], KSA 11.232, 257; NL 1885, 34[95], KSA 11.451; NL 1888, 15[87], KSA 13.457 f .), die für unsere Fragestellung von allenfalls peripherem Belang sind (zum divergenten Hölderlin-Bild des frühen und späten Nietzsche vgl. Zittel, Art. Deutsche Klassik). Auch Heinrich Heine spielt in Nietzsches Reflexionen über die dialektische Natur des Deutschen keine Rolle. Allerdings beginnt Nietzsche erst sehr spät, eindringlicher über Heine nachzudenken, und dann vornehmlich, um ihn als antideutsche Figur im Sinne seiner zunehmend polemischen Distanzierung von den Deutschen zu gebrauchen. Vgl. 4.2.2. Vgl. dazu im Einzelnen 3.3.5.4.
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aber nicht sehen: „ K e n n t man noch nicht diesen Schiller?“ – mit dieser verwunderten Frage machte Nietzsche in GD Streifzüge 16 klar genug, dass er selbst es sichtlich nicht für schwer hielt, Schiller zu ‚kennen‘. Dieses einseitige Schillerbild geht einher mit einem generellen Desinteresse Nietzsches: Nachdem er zunächst unter dem Eindruck des Schiller-Verehrers Wagner „unserm einzigen S c h i l l e r “ und den „edelsten und deutschesten seiner Entwürfe“ (BA II, KSA 1.678) großen Enthusiasmus entgegengebracht hatte, schlägt sein Schiller-Bild nach der Abwendung von Wagner ins Negative um. Das führt aber nur in MA zu ausführlichen kritischen Auseinandersetzungen mit ihm. In seinem letzten Schaffensjahrzehnt hat Schiller für Nietzsche hingegen nur noch eine geringe Bedeutung: Nach MA verschwindet sein Name fast völlig aus Nietzsches Werken. Er wird explizit nur noch in sieben Aphorismen (M 190; JGB 245; WA 3, 6, 8; GD Streifzüge 1 und 16) erwähnt und auch dann fast ausschließlich im Sinne beiläufiger Seitenhiebe. Im gesamten Nachlass der Jahre 1880‒1889 (KSA 9‒13) fällt sein Name lediglich 24mal.390 Nietzsche schätzte Schiller in der Zeit nach MA so gering und nahm ihn zugleich so wenig ernst, dass er es nicht einmal mehr für nötig befand, groß angelegte Angriffe auf ihn zu verfassen (wie er es bei Luther, bei Kant, bei Schopenhauer, bei Wagner bis zuletzt nicht müde wurde).391
3.3.5.2 Luther, Leibniz, Kant, Hegel und Schopenhauer und ihr doppelter Beitrag zur Genese von Nietzsches Philosophie Die vier in seinen Augen größten deutschen Philosophen, „Leibnitz Kant Hegel Schopenhauer“, fasste Nietzsche ausdrücklich unter der Kategorie „deutsche ZweiNatur“ zusammen (NL 1884, 26[285], KSA 11.226).392 Er schätzte an ihnen, wie er sich bald darauf notierte, Von „Hunderten derartigen [sc. kritisch-karikierenden] Redewendungen“ Nietzsches, wie sie Merlio, Schiller-Rezeption bei Nietzsche, S. 204, pauschal attestiert, kann keine Rede sein. Die Argumentation von Politycki, Umwertung aller Werte?, S. 364‒377, dem die „‚innige Verwandtschaft‘ beider Schriftsteller […] desto evidenter scheint, je heftiger sich der späte Nietzsche davon zu distanzieren sucht“ (S. 364), überzeugt darum nur bedingt. Nach Brobjer, Nietzsche as German Philosopher, S. 56 f., „there is a marked increase in Nietzsche’s references to almost all ‚great‘ German philosophers at this time [sc. 1884/85]“. Brobjer mag recht haben, dies formell auf „his reading of an as yet unidentified source or sources“ zurückzuführen. Der sachliche Grund hingegen dürfte darin bestehen, dass zu genau dieser Zeit Nietzsches Auseinandersetzung mit seinem Problem mit den Deutschen in eine besonders intensive Phase tritt (vgl. 2.2.3.2), in der er sich, wie nachfolgend zu zeigen ist, als Philosoph immer stärker von (und in Abgrenzung von) diesen deutschen Denkern und ihren von ihm weitergedachten Grundeinsichten her zu verstehen beginnt. Zu Nietzsches Kenntnis und Lektüre von Leibniz, Kant, Hegel und Schopenhauer vgl. Brobjer, Nietzsche as German Philosopher, S. 56 f. (zu Leibniz), S. 60‒ 66 (zu Kant), S. 70‒73 (zu Hegel), S. 45‒56 (zu Schopenhauer). Während er ein intimer Kenner Schopenhauers war und von Kant und Hegel, neben begrenzter eigener Lektüre, durch sekundäre Lektüren durchaus bemerkenswerte Kenntnisse hatte, war seine Kenntnis Leibniz’ aller Wahrscheinlichkeit nach äußerst begrenzt.
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die gründlichste Art R o m a n t i k und Heimweh, die es bisher gab: […] Man will z u r ü c k , durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Alterthums, das Christenthum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werthurtheile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen — immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens: immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europa’s Herr geworden ist und welcher an dem großen „ungeistigen Menschen“, an Luther, seinen Anführer hatte: — In diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille, f o r t z u f a h r e n in der Entdeckung des Alterthums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor Allem der Vorsokratiker —, der bestverschütteten aller griechischen Tempel! (NL 1885, 41[4], KSA 11.678 f., korr. nach KGW IX 4, W I 5.40)
Luther erscheint hier als großer Antipode der genannten Philosophen. Und doch waren sie alle, Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, protestantisch erzogen und, ob gläubig oder nicht, von Luther geprägt und ihre Philosophien ohne Luther kaum zu denken: Leibniz nahm in seiner Theodizee nicht nur Luthers Glaubensbegriff, sondern auch „den luth. Gedanken des deus absconditus auf“.393 Dass Kants Philosophie, obwohl er Luther „kaum gelesen hatte“,394 ohne dessen reformatorisches Werk nicht nur nicht möglich gewesen wäre, sondern wesentliche Analogien zu Luthers Theologie aufweist, ist in der Forschung vielfach herausgearbeitet worden.395 Hegel ist vonseiten der protestantischen Theologie sogar bisweilen als derjenige gedeutet worden, der Luthers Werk vollendet hat.396 Und selbst der Atheist Schopenhauer führt als Hauptgewährsmann für seine These von der Unfreiheit des Willens Luther, namentlich De servo arbitrio, an.397 Wenn aber das in Nietzsches Augen gegenreformatorische, der Renaissance verpflichtete Werk dieser vier Philosophen ohne Luther, ohne Reformation kaum zu denken war, war folglich umgekehrt auch Luther selbst, sofern er sie alle beeinflusst hatte, Vater eines „Stück[s] Gegenreformation“ und gar eines „Wille[ns] zur
Zur Mühlen, Art. Luther, Martin, III. Wirkung, Sp. 591. Zur Mühlen, Art. Luther, Martin, III. Wirkung, Sp. 592. Vgl. z.B. schon Hirsch, Luthers Rechtfertigungslehre bei Kant; in jüngerer Zeit Scharbau (Hg.), Kant, Luther und die Würde des Menschen; Rieger, Das radikal Böse. Vgl. Asendorf, Luther und Hegel. Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Vierter Teil, § 70, SSW, Bd. 2, S. 480; Preisschrift über die Freiheit des menschlichen Willens, SSW, Bd. 4/II, S. 63 f.; vgl. dazu Dietz, Servum arbitrium, S. 182‒189, bes. S. 186.
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Renaissance“ (NL 1885, 41[4], KSA 11.679). Gerade aufgrund dieses doppelbödigen Verhältnisses, das Nietzsche zu ihnen allen, zu Luther,398 Leibniz,399 Kant,400
Bereits Bertram, Nietzsche, S. 64 f., hat die Einsicht gehabt, dass man „sich nicht einen Augenblick irre machen lassen [darf] durch die überaus heftige, ja zügellos gehässige Lutherfeindschaft des Nietzsche jenseits der Wagnerzeit“. Er wertete dies freilich im Sinne seiner essentialistischen Umdeutung und Remetaphysizierung von Nietzsches Begriff des Deutschen, die den Ton des heraufdämmernden Totalitarismus bereits deutlich an sich trug: Die Feindschaft sei „nur Sinnbild eines Bruderzwistes in der eigenen Brust, wie er so wild, so schonungslos gegen sich, so faustischüberdeutsch [!], so unauskämpfbar verhängnisvoll vielleicht nur in einem deutschen Herzen sich zutragen kann.“ Jörg Salaquarda vertiefte dann Jahrzehnte später Bertrams Gesichtspunkt von Nietzsches zweischneidigem Lutherbild entscheidend. Er wies in seinem Nachwort zum Wiederabdruck der Studie von Emanuel Hirsch (Nietzsche und Luther [1921]) darauf hin, wie wichtig es ist, „Gespür für Nietzsches Hinter-Sinn und für das dialektische Moment in seinem Denken“ zu zeigen und dessen Folgen für Nietzsches Auseinandersetzung mit Luther zu bedenken: „Nietzsches dialektischer Geist hat diese Erhebung und Bewegung [sc. die Luthersche Reformation] keineswegs nur negativ aufgefaßt; er hat eine allmähliche Vergeistigung der ungeheuren Stärke, die darin zum Ausdruck kam, nie ausgeschlossen“ (Salaquarda, Nachwort [zu Emanuel Hirsch, Nietzsche und Luther], S. 435, 437). Dennoch ist Hirschs Darstellung eines einseitig negativen Lutherbildes seit MA verschiedentlich wiederholt worden. Baeumer, Nietzsche and Luther, stellt eindrücklich dar, dass Luther, nachdem er zunächst der „Dionysian lurer and leader for a new Reformation of ‚the German spirit‘“ gewesen sei, für den späteren Nietzsche die Verkörperung alles dessen ist, was er an den Deutschen verachtet. Er vermag aber letztlich in Nietzsches Auseinandersetzung mit Luther seit den späten 1870ern nichts als ein „resentment against the chauvinism of the Bismarck era“ zu sehen, nur die Ursache „of all the cultural ills and national evils of Germany“ (S. 149, 157 f.), nicht aber in dialektischer Wendung zugleich die Grundlage für deren Überwindung in Nietzsche. Die Doppeldeutigkeit des Umstands, dass Luther für Nietzsche „is just the embodiment of everything German“ (S. 158), entgeht ihm mithin. In Baeumers Sinn äußert sich auch Orsucci, Orient – Okzident, S. 351‒364, der zwar festhält, in Luther sei die „charakteristische Duplizität der ‚deutschen Seele‘ vollkommen verkörpert“, unter dieser Duplizität aber lediglich „ein[en] Hang zur Begeisterung und zugleich zur Servilität“ versteht (S. 364), nicht die Potentialität innerer Widersprüchlichkeit, die für Nietzsche entscheidend ist. Duncan Large hat zu dieser Widerspruchsnatur Luthers, wie Nietzsche sie zeichnet, treffend festgehalten: „Because Luther always achieved the opposite of what he set out to do, for Nietzsche he becomes a kind of dialectician malgré lui“ (Nietzsche, Luther and the Reformation, S. 132). Auch darin könnte es begründet sein, dass Nietzsche, wie Albrecht Beutel schreibt, bis zuletzt, wenn auch „meist bis zur Unkenntlichkeit überdeckt“, „Respekt und Achtung vor dem Geist Luthers“ gehabt hat. Beutel selbst möchte dies jedoch nur darauf bezogen wissen, „wie er [sc. Luther] gewollt und geschichtlich gewirkt hat“, nicht darauf, „[w]as“ er bewirkt hat (Beutel, Das Lutherbild Friedrich Nietzsches, S. 144; ähnlich bereits Bluhm, Nietzsche’s Final View of Luther and the Reformation, S. 82). Unstrittig ist jedenfalls, dass Nietzsche Luthers Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Sprache Anerkennung gezollt hat (vgl. dazu Bluhm, Nietzsche’s Final View of Luther and the Reformation, S. 82 f.; Large, Nietzsche, Luther and the Reformation, S. 133‒137). Der „Ton der Luther’schen Bibelübersetzung“ hat Nietzsche selbst tief „geprägt“ (Sommer, Art. Luther, S. 226; vgl. dazu ausführlich Large, Nietzsche’s Use of Biblical Language), und er machte es sich zur Aufgabe, die Sprache Luthers in seiner eigenen Schriftstellerei (vgl. 5.2) zu überbieten. Eine umfassende Untersuchung von Nietzsches Leibniz-Bild steht noch aus. Vgl. die ersten Hinweise bei Schlimgen, Nietzsches Theorie des Bewußtseins, S. 32‒38, der Nietzsches Kritik und Würdigung von Leibniz’ Bewusstseinsbegriff darlegt (s. dazu auch Bornedal, The Surface and the Abyss, S. 136 f., 456‒458). Die enge, wohl aber nicht auf direkter Rezeption beruhende Verwandtschaft
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Hegel,401 Schopenhauer402 hatte, waren sie für Nietzsches Interpretation der Genese seiner Philosophie von Bedeutung: Sie trugen im doppelten Sinn dazu bei, dass Nietzsche, ganz im Sinne des Untertitels von EH, werden konnte, was er ist. zwischen dem Perspektivismus Leibniz’ und dem Nietzsches hat Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, herausgearbeitet. Auch Nietzsche zeige „die Welt nach dem Modell der Monade“ (S. 155). Vgl. dazu auch Stegmaier, „ohne Hegel kein Darwin“, S. 71 f. Nietzsches wiederholte harsche Kritik an Kant einerseits, seine gleichwohl tiefgründige und philosophisch hochgradig produktive Auseinandersetzung mit ihm andererseits ist intensiv erforscht und bis in Detailfragen hinein differenziert erörtert worden. Anders als bei Luther und ebenso wie bei Hegel und Schopenhauer wird dabei jedoch die Rolle Kants im Kontext von Nietzsches nachwagnerianischem Problem mit den Deutschen, die Frage nach Kants Philosophie als ‚deutscher‘ Philosophie, kaum diskutiert (vgl. jedoch Anm. 403). Das produktive Moment von Nietzsches Kant-Rezeption haben besonders eindrücklich herausgearbeitet Friedrich Kaulbach (Kaulbach, Autarkie der perspektivischen Vernunft bei Kant und Nietzsche; Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, 1. Teil, bes. S. 210‒218) und Josef Simon (Simon, Die Krise des Wahrheitsbegriffs als Krise der Metaphysik; Simon, Moral bei Kant und Nietzsche; Simon, Der Begriff der Aufklärung bei Kant und Nietzsche). Zu Nietzsches kritischer Auseinandersetzung mit Kant vgl. u.a. Green, Nietzsche and the Transcendental Tradition; Hill, Nietzsche’s Critiques; Bailey, After Kant (Diskussion zu den Werken von Green und Hill); Bailey, Vulnerabilities of Agency; Riccardi, „Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus“, sowie den breit gefächerten Sammelband Himmelmann (Hg.), Kant und Nietzsche im Widerstreit. Die extremen Positionen der älteren Forschung, denen zufolge Nietzsche entweder Hegelianer oder aber strikter Antihegelianer gewesen sei (so zum einen etwa Kremer-Marietti, Nietzsche et Hegel, und Zimmerman, On Nietzsche, zum anderen Deleuze, Nietzsche et la philosophie; vgl. zu dieser Polarisierung kritisch schon Breazeale, The Hegel-Nietzsche Problem) sind mittlerweile einer nuancierten Diskussion über die Parallelen von Hegels und Nietzsches Denken und zumal die Bedeutung Hegels für Nietzsche gewichen. Insbesondere Werner Stegmaier hat herausgearbeitet, inwiefern Nietzsche Hegels Denken aufnahm und an es anschloss (wie beim Begriff des Geistes oder dem des Leibes), aber nicht bei ihm stehen blieb, sondern ihm neue Perspektiven abgewann und über es hinaus ging. Vgl. Stegmaier, Leib und Leben; Stegmaier, Nietzsches Hegel-Bild; Stegmaier, Hegel, Nietzsche und Heraklit; Stegmaier, Geist. Hegel, Nietzsche und die Gegenwart; Stegmaier, Die Substanz muss Fluktuanz werden. Vgl. zum Thema ferner Houlgate, Hegel, Nietzsche and the Criticism of Metaphysics, bes. S. 1‒95, 182‒ 220; den Sammelband Djurić / Simon (Hg.), Nietzsche und Hegel, und in der neueren Forschung bes. Dudley, Hegel, Nietzsche, and Philosophy; Jurist, Beyond Hegel and Nietzsche; Lebrun, L’envers de la dialectique; Vieweg / Gray (Hg.), Hegel und Nietzsche, sowie zuletzt die Sammelbesprechung von Dellinger, Neuerscheinungen zu Nietzsche und Hegel, der auch der Frage offener Forschungsprobleme nachgeht. Nietzsches Denken ist bekanntermaßen von Beginn an tief von Schopenhauer geprägt worden und wird bis zuletzt durch ihn geprägt – das gibt Nietzsche selbst in FW 357 eindeutig zu verstehen (s.u.). Dennoch muss Nietzsches philosophische Entwicklung seit Mitte der 1870er Jahre als eine tief greifende Loslösung von Schopenhauers Willensmetaphysik gesehen werden (vgl. dazu grundsätzlich die Diskussion zu Goedert, Nietzsche und Schopenhauer, S. 16‒26, und im Anschluss daran Salaquarda, Zur gegenseitigen Verdrängung von Schopenhauer und Nietzsche). Dieses komplexe Nähe-DistanzVerhältnis ist mit Blick auf spezifische Begriffe und Problemstellungen vielfältig erforscht worden. Vgl. bes. Jörg Salaquardas Beiträge zum Verhältnis von Schopenhauer und Nietzsche, gesammelt in: Die Deutung der Welt, S. 193‒265 (über Schopenhauers Bedeutung für Nietzsches Religions- und Metaphysikkritik und sein Leibverständnis); Janaway (Hg.), Willing and Nothingness; Müller-Lauter, Über Freiheit und Chaos, S. 29‒41, 114‒121 u.ö. (zum Willensbegriff bei Nietzsche und seinem Verhältnis zu dem Schopenhauers) und 393‒412 (zum Begriff der Dummheit). Die Forschung deckt immer wieder
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Ihr Denken hatte einerseits Vorarbeiten geleistet, ohne die seines nicht möglich gewesen wäre: die Rechtschaffenheit Luthers, die die Wahrhaftigkeit des eigenen Glaubens rücksichtslos hinterfragte und so auch das, „was wir heute als „moderne Wissenschaft“ verehren“, vorbereitete (FW 358); Leibniz’ Auffassung, „dass die Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung ist, n i c h t deren nothwendiges Attribut“ (FW 357, KSA 3.598); die „ k r i t i s c h e Z u c h t “ Kants (NL 1885, 34[221], KSA 11.496), durch die er dahin kam, sein „ungeheures Fragezeichen […] an den Begriff „Causalität““ zu schreiben (FW 357, KSA 3.598); der Entwicklungsgedanke Hegels – „ohne Hegel kein Darwin“ (FW 357, KSA 3.598) ließe sich zu ‚ohne Hegel kein Darwin kein Nietzsche‘ erweitern –; der „redliche Atheismus“ Schopenhauers, der ihn befähigte, als erster das „Problem vom We r t h d e s D a s e i n s “ zu sehen und die Frage „ h a t d e n n d a s D a s e i n ü b e r h a u p t e i n e n S i n n ? “ zu stellen (FW 357, KSA 3.599 f.).403 Wie hoch Nietzsche die Bedeutung der Vorarbeiten Hegels und Schopenhauers für seine Philosophie einschätzte, wird in einem Notat aus dem Nachlass 1883/84 deutlich. Darin beschreibt er den „Gedanke[n] der Wieder〈kunft〉“ als Synthese aus den „beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte[n]“:
neue Verbindungen zu, Bezugnahmen auf und Weiterentwicklungen von Schopenhauerschen Topoi auf, vgl. zuletzt Constâncio, On Consciousness. Diese Einsichten Leibniz’, Kants, Hegels und Schopenhauers hat Nietzsche in FW 357 darauf hin befragt, ob sie „das Werk der „deutschen Seele“, mindestens deren Symptom“ gewesen seien: „Kurz, waren die Deutschen Philosophen wirklich – philosophische D e u t s c h e ?“ (KSA 3.597 f.) Während Nietzsche dies bei den ersten drei bejahte, verneinte er es bei Schopenhauer: Er „glaube nicht“, dass „gerade ein Deutscher [es] gewesen sein müsste“, der das „Problem vom We r t h d e s D a s e i n s “ aussprach, der Atheismus sei ein „gesammt-europäisches Ereigniss“ (KSA 3.599). Mit diesen Reflexionen wiederholte er nochmals Wagners „ a l t e [ s ] P r o b l e m [ ]“ „„ w a s i s t d e u t s c h ?““ (KSA 3.597). Dass diese Frage den europäischen Horizont im Ganzen ebenso ausblendete wie die enge Verzahnung der europäischen Kulturen miteinander, die für ihn im Grunde eine einzige, zusammengehörige Kultur waren, wusste Nietzsche natürlich und hatte sie und die ihr zugrunde liegende beschränkte Betrachtungsperspektive seit langen Jahren bekämpft. So stellte er die Frage in FW 357 deshalb erneut, um sie im Durchspielen ihrer Konsequenzen zu unterlaufen. Das hat Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 355‒384, in seiner kontextuellen Interpretation von FW 357 gezeigt: Nietzsche „entdeckt an Gedanken Leibniz’, Kants und Hegels wohl ,Deutsches‘, doch nur für die ‚deutsche Selbsterkenntniss, Selbsterfahrung, Selbsterfassung‘ eines, der längst Europäer geworden ist, nämlich seiner selbst“ (S. 359): Was er in FW 357 als Gedanken von Leibniz, Kant und Hegel darstellte (vgl. dazu im Einzelnen S. 368‒371), sind, so Stegmaier weiter, letztlich Nietzsches eigene Gedanken, „die niemand vor ihm so radikal gedacht hat, seine ‚deutsche Selbsterkenntniss, Selbsterfahrung, Selbsterfassung‘, die niemand vor ihm so ,tief‘ und in seinem Sinn so ,deutsch‘ erlebt hat.“ (S. 374) Auch bei seiner Verortung Schopenhauers als „guter Europäer“ und „n i c h t als Deutscher“ (FW 357) machte Nietzsche durch hypothetische und konjunktivische Formulierungen deutlich, dass es „um Einschätzungen aus eigenen Interpretations-Perspektiven, nicht um Tatsachen geht“ (Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 375, zur Schopenhauer-Darstellung in FW 357 im Einzelnen S. 375‒378).
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der des We r d e n s , der E n t w i c k l u n g der nach dem We r t h e des D a s e i n s (aber die erbärmliche Form des deutschen Pessimismus erst zu überwinden![)] von mir in e n t s c h e i d e n d e r Weise zusammengebracht alles wird und kehrt ewig wieder (24[7], KSA 10.646).
Andererseits hatte jeder auf seine Weise auch einen Beitrag dazu geleistet, die „Noth“ des europäischen Geistes (JGB Vorrede) zu vergrößern: Luther mit der Bewahrung des Christentums um den Preis der Zerstörung der Renaissance (MA I 237, FW 358, AC 61);404 Leibniz, indem er seine perspektivische Lehre von den Monaden dazu gebrauchte, „zwischen Christenthum und der mechanistischen Weltansicht“ (NL 1884, 26[248], KSA 11.215) zu vermitteln405 und so in seiner Theodizee die Gerechtigkeit Gottes gegen den Augenschein wissenschaftlich zu beweisen; Kant, der, aus dem dogmatischen Schlummer soeben erst erwacht, sich und die darauf folgende deutsche Philosophie, ja das europäische Denken im Ganzen sogleich wieder eingeschläfert habe, indem er die Frage „Wie sind synthetische Urteile a priori m ö g l i c h ?“ mit „ Ve r m ö g e e i n e s Ve r m ö g e n s “, mithin, so Nietzsche, mit einer „Wiederholung der Frage“ beantwortete (JGB 11) und, solchermaßen ruhig gestellt, „das Heerden-Verlangen nach der vollkommenen Unterwerfung unter eine Autorität“ als „„kategorischen Imperativ““ philosophisch legitimierte (NL 1885, 34[85], 11.446 f.; vgl. AC 55); Hegel, der „uns zur Göttlichkeit des Daseins zu allerletzt noch mit Hülfe unsres sechsten Sinnes, des „historischen Sinnes“ zu überreden“ suchte (FW 357, KSA 3.599);406 schließlich Schopenhauer mit seinem „neminem laede“ (JGB 186), seinem „Stehen- und Steckenbleiben in […] den christlich-asketischen Moral-Perspektiven“, denen er doch eigentlich den
Vgl. bereits Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche, S. 10‒ 13. Benz macht den Umstand, „dass L den Sieg des vollkommenen, starken, heidnischen Menschenbildes in der Renaissance“ durch „einen plumpen Angriff auf Rom“, der „die christlichen Frömmigkeitstriebe wieder anfachte“, verhindert habe, zur Ursache für Nietzsches „Ablehnung L“ im Ganzen: „N hasst L als den Vernichter des Menschenbildes der Renaissance, als den Rückschrittler und Hinterwäldler“ (S. 10). Vgl. ferner Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“, S. 636‒642, der im Rahmen der Untersuchung von AC 61 diesen Vorwurf Nietzsches gegen Luther und seine Entwicklung und Verschiebung über die Jahre untersucht hat. Zu FW 358, dem „Höhepunkt“ von Nietzsches „vehemente[r] Auseinandersetzung“ mit Luther, vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 245‒257, der festhält, dass Nietzsche Luther hier „bis zur Karikatur psychologisch typisiert“: „Luther ist Nietzsches Typus des trotzigen religiösen Fanatikers“ (S. 245, 247). Eine wichtige Quelle für diese Typisierung war Johannes Janssens Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgange des Mittelalters. Vgl. dazu Hirsch, Nietzsche und Luther, S. 404‒406, Salaquarda, Nachwort, S. 436 f., Orsucci, Orient – Okzident, S. 353‒364. Vgl. auch NL 1887, 9[3], KSA 12.340 f. Im NL 1885, 35[44], KSA 11.531, spricht Nietzsche in diesem Sinne von „eine[r] Art von dialektischem Fatalismus“ Hegels. Vgl. auch NL 1885/86, 2[106], KSA 12.113.
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„ G l a u b e [ n ] g e k ü n d i g t “ hatte (FW 357, KSA 3.601).407 So „explodirte“, wie „in ihrer Philosophie“ überhaupt, selbst bei Schopenhauer noch die „lange aufgestaute F r ö m m i g k e i t der Deutschen“ (NL 1885, 38[7], KSA 11.605). Gerade diese stufenweise wiederholte Verzögerung der Entwicklung des „freien, s e h r freien Geiste[s]“ war es aber, die dessen Entstehung überhaupt denkbar machte: Sie reicherte „in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes“ an, mit der Nietzsche seine Pfeile „nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen“ konnte (JGB Vorrede).408
So hatte Schopenhauer die Frage nach der christlichen Moral zwar „ n i c h t als Deutscher“ gestellt (FW 357, KSA 1.601), aber wohl, jedenfalls in Nietzsches Interpretation, als Deutscher beantwortet: mit der christlichen Moral. – In unserem Zusammenhang geht es um die Frage, inwieweit Nietzsche selbst glaubte, über Schopenhauers Moralkritik hinausgegangen zu sein, nicht darum, inwieweit er tatsächlich über sie hinausging. Vgl. zum letzteren Aspekt Wicks, Schopenhauerian Moral Awareness as a Source of Nietzschean Nonmorality: Mit der Assoziation von „Schopenhauer’s moral theory with Christianity“ befinde sich Nietzsche zwar „on solid ground“, da es unbestreitbar sei, dass Schopenhauer „came ‚to a stop‘ before the fundamental tenets of Christian morality“. Gleichwohl verdunkle Nietzsche in seiner Kopplung Schopenhauers an das Christentum Aspekte von dessen Standpunkt, die „a distinctly nonmoral quality“ hätten (S. 22), aus denen Nietzsches eigener „nonmoral standpoint“ wesentlich erwachse (S. 34): „what Schopenhauer calls ‚moral awareness‘ shows itself to be […] a nonmoral, or morally suspended awareness“ (S. 26). In diesem Sinn hat jüngst auch Hühn, Von Arthur Schopenhauer zu Friedrich Nietzsche, S. 124, festgehalten, dass „die von Nietzsche aufgeworfene Frage nach dem ‚ We r t h der Moral‘ […] überhaupt bereits durch Schopenhauer eine Antwort erhalten hat, die eine viel größere Nähe zur Moralkritik Nietzsches aufweist als dieser selber hat wahrhaben wollen.“ Auf das produktive Moment der von Nietzsche geschilderten Doppelsinnigkeit des VerzögererSeins der Deutschen hat sich Helmuth Plessner in seiner Studie Die verspätete Nation bezogen: „Wir sind, mit Nietzsche – und nicht nur mit ihm – zu reden, die Zuspätgekommenen, und wir holen als Nation die geschichtliche Verzögerung nicht ein. Aber diese Verspätung ist nicht nur eine Ungunst des Geschicks, sondern […] auch eine schöpferische Möglichkeit und ein Appell an die inneren Kräfte“ (Plessner, Die verspätete Nation, S. 11). Plessner entfaltet seine Erörterung der Entwicklung des ‚deutschen Geistes‘ bis ins frühe 20. Jahrhundert. Dabei bezieht er sich z.T. recht eng auf Nietzsches Gedanken zu den Deutschen und lässt diese in seine Interpretation mit einfließen, so etwa die These, die Deutschen seien immer nur im Werden und hätten kein Heute (JGB 240, JGB 244). Anders als Nietzsche gründet Plessner dies jedoch weniger auf eine kulturelle als eine – von der spezifischen Struktur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bedingte (dazu Plessner, Die verspätete Nation, S. 52) – politische Wurzellosigkeit, die zu einer Identitätssuche im Nebel des historischen Ungefähr geführt habe: „Gerade weil sie in keiner staatlichen Tradition zur Ruhe kommen und in ihrer politischen Ideenbildung um keine Ruhelage schwingen […], suchen sie nach Halt in ihrer Geschichte, und, da sie ihn dort nicht finden, noch vor, noch unter der Geschichte. Darum sind sie von vorgestern und von übermorgen und habe [sic!] kein Heute. […] Statt eines idealen, obzwar fiktiven Ursprungs, welchen die Rechtsexistenz dem Menschen in seiner Freiheit verleiht, sind sie auf der Suche nach einem realen, obzwar mythischen Anfang in ihrer geschichtlichen Existenz, der sich im Dunkel unergründlicher Vorzeit verliert.“ (S. 64) Im 19. Jahrhundert münde dies schließlich in einer Deplausibilisierung der Wissenschaft, mit der Folge, dass der „Glaube an eine allen Relativierungen entzogene zeitlose rationale Basis des Menschseins […] erschüttert“ werde (S. 144). Hierbei wendet Plessner zuletzt sein von Nietzsche beeinflusstes Interpretationsmuster auf diesen selber an und erklärt ihn neben Marx und
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3.3.5.3 Deutsche Logik: Die Deutschen als Schicksalsvolk des Christentums Was Nietzsche in JGB 244, als „Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele“ bezeichnet, nennt er in der Vorrede zur M „die deutsche Logik“ – eine Logik, die die Widersinnigkeit zum Wahrheitskriterium erklärt: Nichts nämlich hat von jeher einen tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, Nichts hat sie mehr „versucht“, als diese gefährlichste aller Schlussfolgerungen, welche jedem rechten Romanen eine Sünde wider den Geist ist: credo q u i a absurdum est (M Vorrede 3).
Das „„trotzdem dass““, wie Nietzsche das „credo q u i a absurdum est“ auch nennt, finde sich bereits bei den „grossen Pessimisten“ Luther und Kant: er [Kant] glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern trotzdem dass ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird. Man darf sich vielleicht, um dies „trotzdem dass“ zu verstehen, an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern grossen Pessimisten, der es einmal mit der ganzen Lutherischen Verwegenheit seinen Freunden zu Gemüthe führte: „wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den G l a u b e n ?“ (M Vorrede 3)409
Hegel habe diese Art zu schließen mit seinem „berühmten realdialektischen Grund-Satze […] „der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend““ lediglich auf eine neue Formel gebracht (M Vorrede 3). Es ist in diesem Sinne zu verstehen, wenn Nietzsche in FW 357 vermerkt: Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth zumessen als dem, was „ist“ – wir glauben kaum an die Berechtigung des Begriffs „Sein“ –; ebenfalls insofern wir unsrer menschlichen Logik nicht geneigt sind einzuräumen, dass sie die Logik an sich, die einzige Art Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden, dass sie nur ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der wunderlichsten und dümmsten –). (KSA 3.599)
Hegel hätte demnach nur ausgesprochen, was die Deutschen immer schon gefühlt hatten: einen Zweifel am „Sein“, eine „instinktiv[e]“ Neigung, der Entwicklung „einen tieferen Sinn“ für das Leben und seine Grundbedingungen beizumessen.410
Kierkegaard zu einer der Triebfedern dieser „Zerstörung der Philosophie als Instanz“ (S. 165, zu Nietzsche bes. S. 173‒177). Die so bewirkte Auflösung des „Zusammenhang[s] der Philosophie mit dem Leben“ sei an der „Heraufkunft“ des „zugleich politischen und weltanschaulichen Dezisionismus“ im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts „wesentlich beteiligt“ (S. 188). Bereits Poljakova, „Das intellectuale Gewissen“, S. 128, weist darauf hin, dass das Luther-Zitat aus De servo arbitrio stammt. Welcher Quelle Nietzsche es entnahm, ist unseres Wissens nach bislang nicht ermittelt worden. Gleichfalls in Richtung dieser Skepsis gegenüber dem Seinsglauben gehen Nietzsches Deutungen von Leibniz’ Auffassung, das Bewusstsein sei bloß akzidentiell, und Kants Bestimmung der Grenzen, innerhalb derer der Begriff Kausalität „überhaupt Sinn hat“ (FW 357, KSA 3.598).
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Womöglich, deutet Nietzsche damit an, haben die Deutschen, dieses Volk der Mischung, das nie „ i s t “, sondern stets „ w i r d “ (JGB 244), ein Gespür dafür, dass der Glaube an ein ewig Seiendes lebensverneinend sei, dass sich in ihm die Erstarrung des Lebens, der Wille zum Tode zeige. Doch je deutlicher sie dies spüren, umso mehr müssen sie, ihrer eigenen Logik gemäß, „Ja“ sagen zum Absurden – zum Sein. Nirgendwo war in Nietzsches Augen so sehr „Ja“ zum Sein und „Nein“ zum Leben gesagt worden wie im Christentum. Daher ist es kein Zufall, wenn er zur Charakterisierung der „deutsche[n] Logik“ jenes berühmte, dem Kirchenvater Tertullian zugeschriebene Bekenntnis „credo q u i a absurdum est“ heranzieht,411 und hinzufügt, mit dieser „gefährlichste[n] aller Schlussfolgerungen“ trete „die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogma’s auf“ (M Vorrede 3). Nietzsche sieht das ‚typisch Deutsche‘ mit dem ‚typisch Christlichen‘ verschränkt – als sei die Logik des Christentums den Deutschen zur Natur geworden. Damit soll nicht behauptet werden, Nietzsche leite das Deutsche kausal aus dem Christlichen ab, wohl aber, dass er eine Strukturgleichheit der ‚deutschen‘ und der ‚christlichen‘ Logik impliziert und damit gleichzeitig die Deutschen als Schicksalsvolk des Christentums interpretiert.412 Wirklich hatte Nietzsche bereits in FW 148 geschrieben, dass „kein Volk jemals christlicher [war], als die Deutschen zur Zeit Luther’s“. Doch auch diese historische Rolle der Deutschen entpuppte sich für ihn als der zweischneidigen ‚deutschen Logik‘ verpflichtet: Wie das Christentum den Deutschen zum Schicksal geworden war, würden umgekehrt die Deutschen dem Christentum zum Schicksal werden. Dass es so kommen könnte – das war es, was Nietzsche in FW 146 seine „ D e u t s c h e H o f f n u n g [ ] “ nannte: Die „Deutschen“: das bedeutet ursprünglich „die Heiden“: so nannten die Gothen nach ihrer Bekehrung die grosse Masse ihrer ungetauften Stammverwandten, nach Anleitung ihrer Uebersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen „die Völker“ bedeutet: man sehe Ulfilas. — Es wäre immer noch möglich, dass die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen machten, indem sie das erste u n c h r i s t l i c h e Volk Europa’s würden: wozu in hohem Maasse angelegt zu sein Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete. So käme das Werk L u t h e r ’ s zur Vollendung, der sie gelehrt hat, unrömisch zu sein und zu sprechen: „hier stehe i c h ! I c h kann nicht anders!“ —
Dieses geflügelte Wort wird auf eine Passage aus De carne Christi zurückgeführt: „mortuus est dei filius: prorsus credibile est, quia ineptum est: et sepultus resurrexit: certum est, quia impossibile“ (De carne Christi 5). In GT hatte er eine gegenteilige Interpretation vertreten, die er in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre in Vorarbeiten zur neuen Vorrede für seinen philosophischen Erstling und zum GT-Abschnitt von EH nochmals wie folgt für sich zusammenfasste: „Tiefer Widerwille gegen das Christenthum: warum? Die Entartung des deutschen Wesens wird ihm zugeschoben.“ (NL 1885/86, 2[110], KSA 12.117); „In diesem Buche gilt die Überpflanzung eines tief un- u widerdeutschen Mythus, des christlichen {in’s deutsche Herz} als das eigentliche deutsche Verhängniß.“ (NL 1888, 14[20], KSA 13.227 / KGW IX 8, W II 5.180)
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Doch ob die Deutschen als Volk im Ganzen je unchristlich werden würden oder nicht – eines war für Nietzsche gewiss: „Die, welche sich am meisten darum bemüht haben, das Christenthum zu halten, zu erhalten, sind gerade seine besten Zerstörer geworden, – die Deutschen.“ (FW 358) Und dass sie es geworden waren, war für Nietzsche in der Tat „das Werk L u t h e r ’ s “. Sein „„hier stehe i c h ! I c h kann nicht anders!““ (FW 146) verlieh der deutschen Empfänglichkeit für das „„trotzdem dass““, das „credo q u i a absurdum est“ (M Vorrede 3) eine radikale Unbedingtheit. Anders als das Renaissancepapsttum begegnete diese Unbedingtheit der dem christlichen Glauben inhärenten Paradoxie nicht mit „vornehme[r] Skepsis, jene[m] L u x u s von Skepsis und Toleranz“. Vielmehr riss sie, so Nietzsche, „mit ehrlichem Ingrimme“ das wieder auseinander, woran die „ s ü d l ä n d i s c h e [ ] Freiheit“ „am sorgsamsten und längsten gewoben hatte“ (FW 358). Damit „ s t e l l t e “ Luther zwar, indem er sie angriff, „ d i e K i r c h e w i e d e r h e r “, wie Nietzsche in einer seiner schärfsten Polemiken gegen Luther und die Deutschen im Ganzen schrieb (AC 61) – doch die Grundlage dieses Angriffs war gleichwohl ein entscheidender Schritt in jener „zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die L ü g e im Glauben an Gott verbietet“: Luther nahm den „Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens“ so streng wie niemand zuvor und lieferte damit eine wesentliche Grundlage, um das christliche Gewissen „zum wissenschaftlichen Gewissen“ „übersetz[en] und sublimir[en]“ zu können (FW 357, vgl. FW 358). Schopenhauers „unbedingte[r] redliche[r] Atheismus“ war der „folgenreichste Akt“ dieses Prozesses (FW 357) – vorerst jedenfalls. Denn auch er blieb noch der christlichen Moral verpflichtet. Den „letzten Schritt“, den „der deutsche Pessimismus […] noch zu thun“ hatte, den, „noch Ein Mal auf eine furchtbare Weise sein Credo und sein Absurdum neben einander [zu] stellen“ (M Vorrede 4), tat Nietzsche selbst: Er kündigte „der Moral das Vertrauen […] – warum doch? A u s M o r a l i t ä t ! “ 413 Nietzsche deutete sich selbst als „Vollstrecker“ des „innersten Willens“ der „deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit“. Deren Pointe bestand eben darin, in einer „ S e l b s t a u f h e b u n g d e r M o r a l “ auszulaufen (M Vorrede 4) – damit aber auch in einer Selbstaufhebung des Christentums, wie Nietzsche in einer später gestrichenen Passage des Druckmanuskripts zu EH weise 7 geschrieben hatte: Das Christenthum meiner Vorfahren {zum Beispiel} zieht in mir seinen Schluß, – eine durch das Christenthum ins Große gezüchtete selber groß gezogene, sonnenrein gewordene Strenge und Lauterkeit in Dingen der Wahrheit des intellektuellen Gewissens wendet sich gegen das Christenthum: in mir richtet sich, in mir überwindet sich das Christenthum selbst. (KSA 14.474)414
Vgl. zu dieser ‚furchtbaren Nebeneinanderstellung‘ von Credo und Absurdum Stegmaier, Nietzsches Hegel-Bild, S. 106: „Er [Nietzsche] löst den Widerspruch aus der Moral heraus, um ihr, nicht mehr dem Widerspruch das Vertrauen zu kündigen.“ Selbst wenn man diese Passage im Lichte von Nietzsches Legende einer polnischen Abstammung lesen würde, auf die er zumal in EH referiert, würde dies die generelle Linie einer Selbstaufhebung, die sich unter Anstoß von Luthers Reformation bis zu ihm vollzieht, nicht
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Der Protestantismus, das „peccatum originale“ der deutschen Philosophie (AC 10) und auch des Pfarrerssohns und ‑enkels Nietzsche,415 ermöglichte so erst, was sich, seiner späten Selbstinterpretation zufolge, in ihm, dem Ergebnis jener „rücksichtslose[n] Rechtschaffenheit des Christenthum[s]“ (FW 377), vollzog: die „Selbstaufhebung“ des Christentums und seiner Moral (GM III 27), die zugleich jener „Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit“ war, den Nietzsche „ U m w e r t h u n g a l l e r We r t h e “ nannte (EH Schicksal 1).416 Aus der Wechselwirkung der Kehrseiten des deutschen ‚Wesens‘ entfaltet so der späte Nietzsche die Bedingungen der Möglichkeit der Genealogie seiner selbst im Horizont der abendländischen Geschichte.
3.3.5.4 Jenseits des Verzögerns und Vermittelns: Goethe Mochte Nietzsche über Wagner, Beethoven, ja sogar Bismarck bisweilen gesagt haben, sie seien eigentlich undeutsch,417 wird diese Auffassung doch bei keinem Deutschen zu einer derart manifesten und bestimmenden Deutungsperspektive wie bei Goethe, dem besten Beispiel für einen Überdeutschen und guten Europäer, das Nietzsche, abgesehen vielleicht von sich selbst, kannte. Er blieb für Nietzsche auch lange nach MA II VM 323 der Einzige, auf den er sich zur Bestätigung seiner dort formulierten Einsicht berufen zu können glaubte: Es scheint, ich bin etwas von einem Deutschen einer aussterbenden Art. Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen — habe ich einmal gesagt: aber das will man mir heute nicht zugeben. Goethe hätte mir vielleicht Recht gegeben. (NL 1884, 26[395], KSA 11.255)418
untergraben: Denn auch die vorgeblichen polnischen Vorfahren Nietzsches werden von diesem als „Protestanten“ dargestellt, die gerade um ihres Protestantismus willen nach Deutschland flohen (NL 1882, 21[2], KSA 9.681). Wenn er sich im NL 1885, 34[157], KSA 11.473 f., notierte, es gebe einen „innerlichen verwegenen Scepticismus in Deutschland“, weil „Allzuviele von den deutschen Philosophen und Gelehrten als Kinder von Predigern und sonstigem Kirchen-Zubehör dem „Priester“ z u g e s e h n“ hätten und „f o l g l i c h nicht mehr an Gott“ glaubten, meinte er damit auch sich selbst. Den Prozess der Selbstaufhebung des christlichen Glaubens, der sich von Luther über Kant zu Nietzsche vollzieht und dessen wesentlicher Bestandteil die Übersetzung und Sublimierung „des christlichen Gewissens […] zum wissenschaftlichen Gewissen“ (FW 357, KSA 3.600) ist, erörtert Poljakova, „Das intellectuale Gewissen“. Vgl. NL 1884, 26[462], KSA 11.273; JGB 256; FW 357; NL 1888, 15[6]2, KSA 13.404. Unter dem jeweils variierenden Personal dieser Un- bzw. Überdeutschen ist Goethe die einzige durchgehende Konstante. Vgl. den Brief an Franz Overbeck, 29. April 1883, Nr. 410, KGB III 1.370: „Gestern las ich mich c i t i r t, mit einiger Verwunderung, weil ich vergessen hatte, so ein Wort gesagt zu haben. Nämlich: „gut deutsch sein heißt sich entdeutschen.“ –“ – Laut dem Nachbericht, KGB III 7/1.376, hatte Nietzsche sich zitiert gelesen in: Conrad, Madame Lutetia!, S. 289. Conrad erklärte sich „keineswegs […] einverstanden“ mit Nietzsches Ausspruch (S. 289). Nietzsches eigentlicher Punkt, dass es eben nichts ‚an sich‘ Deutsches gibt, entging ihm: „Wenn man aus einem gegebenen Nationalcharakter heraus gegen die Ausländereien argumentiert, so geschieht dies eben unter steter Hervorkehrung des Wesentlichen, Eigentümlichen, Wurzelhaften, Bleibenden der Volksseele, und auf die Frage: was
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Was Nietzsche in VM 170 über Goethe schrieb – Goethe stand über den Deutschen in jeder Beziehung und steht es auch jetzt noch: er wird ihnen nie angehören.
– „durchzieht als cantus firmus seine sämtlichen Äußerungen zu Goethe“.419 Trotz hunderter Erwähnungen Goethes in seinen Werken und Notaten lässt sich kaum eine Äußerung über ihn finden, die diese Ausnahmestellung, derzufolge Goethe „unter Deutschen auf feine Weise verschanzt und verkleidet“ gelebt habe (NL 1885, 36[38], KSA 11.567), relativiert: Der „Denker“ Goethe habe die „Wolke“, Nietzsches Ausdruck für die deutsche Unklarheit und die ihm unbekömmliche deutsche Atmosphäre auch im geistigen Sinne, „lieber umarmt“, „als billig ist“ (WS 214);420 er sei, heißt es in zwei von der Lektüre von Prosper Mérimées Lettres à une inconnue geprägten Notaten,421 nicht frei von der „niaiserie allemande“ (NL 1884, 26[412], KSA 11.261, vgl. 26[420], KSA 11.263); schließlich – ein einziges Mal – wird Goethe, als einer unter anderen (hier konkret: Kant, Leibniz, die deutsche Musik, Karl der Große), auch im Kontext der Überlegungen zur ‚deutschen‘ Vermittler-VerzögererDialektik genannt (NL 1887, 9[3], KSA 12.340 f.). Das alles bleiben (in der Mehrzahl bezeichnenderweise unveröffentlichte) Ausnahmefälle, die die klare Linie seiner Goethedeutung eher noch schärfer konturieren als abschwächen: dass Goethe „nicht nur ein guter und grosser Mensch, sondern eine C u l t u r “ und „in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen“ gewesen ist (WS 125).422 Zehn Jahre später, in GD Streifzüge 50, wiederholt Nietzsche dieses Urteil nochmals – und geht sogar darüber hinaus: Ist, fragt er sich, „Goethe nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz Europa bloss ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen […]?“ In Nietzsches Interpretation konnte Goethe, auch als Figur einer großen, zur Ganzheit vervollkommneten Synthese (GD Streifzüge 49), also als Vermittler im eigentlichsten Sinn, auf die europäische Kultur keine Wirkung entfalten, weder eine vermittelnde noch eine verzögernde, weil er ganz außerhalb ihrer, als eigene Kultur dastand, ohne Verbindung. Auch und gerade unter Deutschen hatte er, so Nietzsche, nicht gewirkt. Wenn er gewirkt hatte, so nicht er selbst, sondern eine eingedeutschte Karikatur von ihm, deren Symbol Nietzsche die Formel „„Goethe u n d Schiller““ oder gar „„Schiller und Goethe““ war (GD Streifzüge 16).423 ist deutsch? lassen wir uns nicht mit der ironischen [!] Gegenfrage abspeisen: was ist g e r a d e j e t z t deutsch?“ (S. 290, Kursivierungen A.R.) Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 24. Vgl. Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 26. Zur ‚Wolke‘ vgl. 2.2.2. Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.707. Vgl. auch NL 1885, 41[14], KSA 11.688: Der „große Einsiedler“ Goethe hatte seine „eigene Cultur“, „das übrige deutsche Wesen“ war sein „ G e g e n s a t z “. In einer Vorstufe zu EH WA 1 erwägt Nietzsche sogar die Formel „Goethe und Scheffel“ (KSA 14.502). Bereits in GD Streifzüge 1 hatte Nietzsche auf Viktor von Scheffels seinerzeit enorm populäres patriotisches Versepos Der Trompeter von Säckingen angespielt, als er Schiller den „Moral-Trompeter von Säckingen“ nannte (vgl. dazu Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Fall
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Nietzsches Problem mit den Deutschen als Problem mit sich selbst
So ergibt sich eine interessante Konstellation: Während die Deutschen des späten 19. Jahrhunderts mit Goethe respektive seiner Nationalisierung ihre liebe Mühe und so tatsächlich ein Problem hatten, hatte Nietzsche, der notorisch an den Deutschen litt, mit Goethe gerade kein Problem oder doch keines mit ihm als Deutschem: „Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe“ (GD Streifzüge 51). Sein Verhältnis zu Goethe war ein anderes. Goethe war, anders als alle anderen für ihn bedeutenden Deutschen, selbst Schopenhauer, kein wesentlich negativer Bezugspunkt, über den Nietzsche letztlich hinaus wollte, sondern ein Mensch, in dem Nietzsche sein eigenes Denken, Fühlen und Leben vorweggenommen glaubte, nicht zuletzt seine Sehnsucht nach dem Süden,424 seine Bewunderung Napoleons und seines vermeintlichen europäischen Einigungsprojekts bei gleichzeitiger Ablehnung des Nationalismus und der Deutschtümelei,425 seine Distanz zum Christentum.426 Nietzsche kultivierte über Jahre hinweg ein Verfahren der Legitimation
Wagner / Götzen-Dämmerung, S. 394 f.). – Über Nietzsches Umkehrung der nationalen Vereinnahmung Goethes vgl. Politycki, Umwertung aller Werte?, S. 297 f., 319 f. Vgl. dazu ausführlich Prange, Nietzsche’s Ideal Europe, S. 253‒279, bes. S. 262‒276. Vgl. z.B. GD Deutschen 4: „Goethen gieng das Herz auf bei dem Phänomen Napoleon, – es gieng ihm z u bei den „Freiheits-Kriegen“…“ Vgl. Gerber, Nietzsche und Goethe, S. 136‒144. Nietzsche habe „[f]ür seinen Antinationalismus […], wie auch für andere seiner geistigen Positionen, G o e t h e als Kronzeugen“ aufgerufen: „Er kam aus ganz anderen Antrieben zu einer Kritik am deutschen Nationalismus als Goethe […]. Aber er durfte sich auf Goethe berufen, der am 14. März 1830 zurückblickend auf die deutschen Freiheitskriege von 1813 die bekannte Äusserung zu Eckermann tat, dass er sich zwar damals des Sieges gefreut, aber niemals die Franzosen gehasst habe.“ (S. 136 f.) Goethe habe, so Gerber weiter, Nietzsche „vorgelebt“, wie man „zugleich Deutscher und Weltbürger wird“ (S. 141). Goethe fasste das in den Gesprächen mit Eckermann so: „‚Überhaupt, fuhr Goethe fort, ist es mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. – Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich darin lange befestigt, ehe ich mein sechszigstes Jahr erreicht hatte.‘“ (Gespräche mit Eckermann, GMA, Bd. 19, S. 660) – Zu Nietzsches von Goethe geteilter Verehrung Napoleons s. Dombowsky, Nietzsche as Bonapartist. Vgl. zum ‚Heidentum‘ Goethes etwa NL 1885, 38[7], KSA 11.605 (die „christliche Frömmigkeit“ Hegels, Schellings, Schopenhauers gegenüber „der heidnischen, – für welche Goethe und vor ihm schon Spinoza so viel guten Willen gezeigt haben“; vgl. dazu auch NL 1887/88, 11[138], KSA 13.64), FW 357 („Goethe’s Heidenthum mit gutem Gewissen“, KSA 3.597), GD Streifzüge 51 („auch verstehen wir uns über das „Kreuz“…“). Karl Pestalozzi hat darauf aufmerksam gemacht, dass Goethe selbst Napoleons auf ihn gemünztes Wort „„Voilà un homme!““, auf das Nietzsche in JGB 209 prominent Bezug nimmt, in einem Brief an Karl Friedrich Reinhard als ein heidnisches ecce homo deutet. So könnte der Titel von Nietzsches Schrift EH eine Anspielung auf dieses ‚Heidentum‘ Goethes sein. Freilich ist nicht gesichert, dass Nietzsche den erwähnten Brief Goethes kannte. Vgl. dazu Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 27 f. Vgl. auch Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 341 f. Seggern, Nietzsche und die Weimarer Klassik, S. 102‒104, betont die Bedeutung von Goethes Nähe zu Spinoza für Nietzsches Berufung auf Goethes ‚Heidentum‘. – Zu den Parallelen zwischen Nietzsche und Goethe vgl. ferner Gerhardt, Nietzsche, Goethe und die Humanität, S. 305‒309.
Nietzsches Auseinandersetzung mit der deutschen ‚Widerspruchs-Natur‘
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eigener Ideen über den Gewährsmann Goethe, das sogar so weit ging, dass Nietzsche „die Popularität des Faust bei seinen Zeitgenossen als Vehikel zur Formulierung und Propagierung seiner eigenen Ideen“ nutzte, indem er seine Texte mit Anspielungen auf und Parodien des Faust I und des Schlusses von Faust II durchsetzte.427 Dieses Verfahren führte ihn in GD Streifzüge 49, seinem großen Hymnus auf Goethe, in letzter Konsequenz dazu, Goethe „zum monumentalen Standbild eines Schülers seines Zarathustra [zu machen], in dem Nietzsche alle seine Ideale als schon einmal inkarnierte, damit lebensmögliche, erweist.“428 Nietzsche wusste, dass er Goethe stark typisierte, wenn er ihn zur vollumfänglichen Verkörperung seiner eigenen Ideale machte,429 und doch drückte gerade diese Überhöhung die Verbundenheit aus, die er zu dem Menschen Goethe, wie er ihn verstand, empfand. Das schloss nicht aus, dass er den Schriftsteller Goethe durchaus kritisierte. Es ist bezeichnend, dass das Buch, das er in WS 109 mit Blick auf „Goethe’s Schriften“ „namentlich“ hervorhebt, ausgerechnet die eben nicht von Goethe, sondern von Eckermann aufgezeichneten „Unterhaltungen mit Eckermann“ sind. Das „beste[ ] deutsche[ ] Buch[ ], das es giebt“, waren die Gespräche mit Eckermann eben nicht literarisch, sondern sofern sie im alten Goethe Nietzsches Ideal des freien Geistes lebendig werden ließen.430 Gegen den Schriftsteller Goethe hingegen äußerte Nietzsche, so sehr er ihn bewunderte, wiederholt (leise) Vorbehalte. Insbesondere Faust I – also ausgerechnet jenes Werk, das in den Augen manches deutschen Zeitgenos-
Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 38. Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 39 f. Auf Nietzsches langjährige Idealisierung Goethes zu einem höheren Selbst hat bereits Bertram, Nietzsche, S. 201‒221, und nach ihm und im Anschluss an ihn Heftrich, Nietzsches Goethe, hingewiesen. Vgl. dazu auch Politycki, Umwertung aller Werte?, S. 295‒311. Wie genau Nietzsche darum wusste, drückt das Notat 24[10] aus dem Nachlass 1888 (KSA 13.634 f.) aus, das Nietzsche für GD vorgesehen, aber verworfen hatte (vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.464). Es ist, wie Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 42, festhält, „der persönlichste, differenzierteste Text über Goethe“, den Nietzsche je geschrieben hat. In diesen nuancierten Betrachtungen stellt Nietzsche sein Urteil über Goethe als leibhaftige Verkörperung des guten Europäers und freien Geistes aus GD Streifzüge 49 wieder unter Vorbehalt und mahnt an, was an Goethe bereits vergangen ist. Gerade aufgrund dieser konterkarierenden Wirkung auf die Idealisierung, die Nietzsche in GD betreibt, um Goethe zum Vorbild ohne Einschränkungen machen zu können, mag Nietzsche diesen Text letztlich wieder gestrichen haben. Vgl. zum Notat 24[10] und der darin geäußerten Verehrung von Goethes Novelle auch Müller-Buck, „Oktober-Sonne bis ins Geistigste hinauf“, bes. S. 540‒546, und Görner, Nietzsches Kunst, S. 305‒310. Vgl. Gerhardt, Nietzsche, Goethe und die Humanität, S. 308: „[…] Goethes Gespräch mit dem zunächst nur seine Begeisterung mitbringenden Eckermann [ist] auch weit mehr als ein literarisches Dokument. […] Eckermann gibt Zeugnis von einem ‚Ereignis‘, von einer ‚großen Loslösung‘, seiner unerhörten Ausbildung zum ‚freien Geist‘, in welcher der Genius selbst auf kongeniale Weise wirksam ist: Denn nur der Genius erzieht einen Jüngling zur eigenen Größe. Das ist Nietzsches Überzeugung.“ Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit den Gesprächen vgl. ferner Ronell, Namely, Eckermann, bes. S. 240 f.
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Nietzsches Problem mit den Deutschen als Problem mit sich selbst
sen die deutsche Dichtkunst über die aller anderen Nationen erhob431 – wurde von Nietzsche kritisiert, und zwar auch mit Blick auf „jene[n] sehr deutsche[n] und mild-boshafte[n] unterthänigste[n] Teufel von Mephistopheles!“ (NL 1885, 26[349], KSA 11.243, Kursivierung A.R.)432 Wenn Goethe in irgendeinem Sinne zu den Deutschen gehörte, so am ehesten in der Schriftstellerei (auch wenn er dort mehr geleistet hatte als alle seit Luther): „[S]elbst Goethe’s Prosa“ trug „in ihrer Mischung von Steifheit und Zierlichkeit“ noch das „Feierlich-Plumpe“ der deutschen Sprache an sich, ihr fehlte das „Presto“, zu dem das Deutsche „beinahe“ – aber eben nur beinahe – unfähig war (JGB 28). Als Schriftsteller war Goethe eben das, was er sonst für Nietzsche gerade nicht war: noch zu überwinden, zu überbieten – durch Nietzsche.433
So namentlich die Einschätzung Herman Grimms, aber auch David Friedrich Strauß’. Vgl. dazu Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 32 f. Diese Harmlosigkeit Mephistopheles’ hat Nietzsche bekanntlich in WS 125 unter Adaption Stendhals (vgl. dazu Montinari, Kommentar, KSA 14.192) lächerlich gemacht: „Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein grosser Gelehrter aller vier Facultäten ist der Uebelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiss nicht! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht.“ Vgl. zum Gesichtspunkt des allzu harmlos-biederen ‚deutschen‘ Mephistopheles auch KSA 14.369 / KGW IX 4, W I 5.30 (Vorstufe zu JGB 244), und NL 1885, 34[97], KSA 11.452 f., wo Nietzsche die Möglichkeit eines „ächte[n] deutsche[n] Mephistopheles“ erwägt, der „über die Alpen“, in den Süden, steigt, eines ‚guten deutschen‘ Mephistopheles in Nietzsches Sinne also, den Goethe nur ansatzweise realisiert habe. Vgl. zu Nietzsches Faust-Kritik Gerber, Nietzsche und Goethe, S. 7‒21, 99‒103, Politycki, Umwertung aller Werte?, S. 318‒328, Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 30‒38. Nietzsche nahm für sich in Anspruch, mit dem Z den letzten Schritt getan zu haben, der in der Entwicklung der deutschen Sprache „nach L u t h e r und G o e t h e “ noch zu tun gewesen sei (an Erwin Rohde, 22. Februar 1884, Nr. 490, KGB III 1.479). Diesen Anspruch der Überbietung der beiden zentralen Gestalten der Entwicklung der modernen deutschen Sprache hat West[f]all, Zarathustra’s Germanity, S. 48‒58, untersucht. Nietzsche überwinde demzufolge im Z das „Faustian element“ des Goetheschen Deutschs, das noch „caught between Wort and Tat“ sei (S. 52, 55). Diese Leistung sieht Westfall allerdings weniger in der Sprachkunst des Z selbst als in der inhaltlichen Konstellation von Z IV Zauberer vollzogen (S. 55‒58). Zu Nietzsches „ Ku n s t d e s S t i l s “ (EH Bücher 4) vgl. 5.2.
4 Nietzsche, der ‚Antideutsche‘ 4.1 Nietzsche als ‚Rechtfertiger‘ der Deutschen In Nietzsches Reflexionen über die Entstehung der Krise des europäischen Geistes sind die Deutschen seit den 1870er Jahren immer ein gewichtiger Faktor gewesen, sie waren gewissermaßen die notwendige Bedingung dafür, dass die Krise den Grad erreichen konnte, den sie erreicht hatte. Das machte sie folgerichtig zur notwendigen Bedingung seiner Entstehung, freilich neben anderen notwendigen Bedingungen: Nicht umsonst bezeichnete er sich als „reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes“ – und eben nicht nur des deutschen (FW 377). Zudem betonte er, dass der „wissenschaftliche[ ] Atheismus“ kein exklusiv deutsches, sondern „ein gesammteuropäisches Ereigniss“ war (FW 357). Nietzsches Autogenealogie von den Deutschen her desavouierte so nicht den europäischen Horizont seines Denkens, sondern „sucht[e] im europäischen Horizont deutsche Besonderheiten zu orten, die dazu beitrugen, diesen Horizont zu erweitern“.434 Erst in AC und besonders in EH werden die Deutschen von einer notwendigen zu einer hinreichenden Bedingung seiner Entstehung und die symbolische Assoziierung der Deutschen mit der christlichen Moral und dem Seinsglauben wird zu einer manifesten Gleichsetzung: Immer mehr verengt Nietzsche seinen Blick auf die Deutschen und macht sie zu den fast alleinigen Sachwaltern der „décadenceWerthe“ des Christentums (an Georg Brandes, 20. November 1888, Nr. 1151, KGB III 5.482). In einem hier besonders sprechenden Notat aus dem Jahr 1888, das ursprünglich wahrscheinlich den fünften und letzten Abschnitt des EH-Kapitels über WA hatte bilden sollen,435 beschreibt Nietzsche die weltgeschichtliche Rolle der Deutschen folgendermaßen: – Ein letzter Gesichtspunkt, der höchste vielleicht: ich r e c h t f e r t i g e die Deutschen, ich allein. Wir sind im Gegensatz, wir sind selbst unberührbar für einander, – es giebt keine Brücke, keine Frage, keinen Blick zwischen uns. Aber das erst ist die Bedingung für jenen äußersten Grad von Selbstigkeit, von Selbsterlösung, der in mir Mensch wurde: ich bin die E i n s a m k e i t als Mensch… Daß mich nie ein Wort erreicht hat, das z w a n g mich, mich selber zu erreichen… Ich wäre nicht möglich ohne eine Gegensatz-Art von Rasse, ohne Deutsche, ohne d i e s e Deutschen, ohne Bismarck, ohne 1848, ohne „Freiheitskriege“, ohne Kant, ohne Luther selbst… Die großen Cultur-Verbrechen der Deutschen rechtfertigen sich in einer höheren Ökonomik der Cultur… Ich will Nichts anders, auch rückwärts nicht, – ich d u r f t e Nichts anders wollen… Amor fati… Selbst das Christenthum wird nothwendig: die höchste Form, die gefährlichste, die verführerischeste im Nein zum Leben fordert erst seine höchste Bejahung heraus – m i c h … Was sind zuletzt diese zwei Jahrtausende? Unser l e h r r e i c h s t e s
Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 374. Vgl. dazu Montinari, Kommentar, KSA 14.509.
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Nietzsche, der ‚Antideutsche‘
Experiment, eine Vivisektion am Leben selbst… Bloß zwei Jahrtaus〈ende〉!… (NL 1888/89, 25[7], KSA 13.641)436
Wie alle Nachlasstexte darf auch dieser nur mit Vorsicht belastet werden. Allerdings handelt es sich nicht um eine hingeworfene Notiz, sondern um einen mit Bedacht komponierten, stilistisch voll ausgearbeiteten Text, der sich zudem völlig nahtlos in das Manuskript von EH einfügt: Wie die anderen Abschnitte von EH WA weist er eine beträchtliche Zahl an Auslassungszeichen und Gedankenstrichen auf und beginnt auch mit einem solchen, ebenso wie EH WA 3 und 4. Wie die anderen Abschnitte dieses Kapitels kreist er um das Problem der Deutschen und wie sie erzeugt er durch seinen sprunghaft-verkürzenden Charakter eine ungeheure Dynamik und Anspannung und gleicht darin auch auffällig EH Schicksal 1. Diese Ähnlichkeit ist vermutlich beabsichtigt: Denn stimmt Montinaris Annahme über die ursprüngliche Positionierung des Notats, hätte Nietzsches „letzter Gesichtspunkt“ die Scharnierstelle zwischen EH WA 4 und EH Schicksal 1 gebildet. Zum letztgenannten Abschnitt besitzt das Notat auch eine enge inhaltliche Beziehung, sofern es gewissermaßen die Selbststilisierung Nietzsches zum Schicksal der Menschheit vorbereitet:437 Er sei „die E i n s a m k e i t als Mensch“, steht dort zu lesen, und weiter: „Ich will Nichts anders, auch rückwärts nicht, – ich d u r f t e Nichts anders wollen… Amor fati…“ Damit ist zugleich die inhaltliche Kontinuität angesprochen,
Mit Bezug auf dieses nur selten beachtete Notat schreibt Merlio, Nietzsche et les Allemands, S. 34: „il [Nietzsche] s’est créé avec le concept d’‚allemand‘ une sorte d’alter ego, c’est-a-dire de pôle le plus souvent antagoniste, dont il peut être le contradicteur, mais auquel il peut aussi s’identifier, selon les points de vue qu’il entend hégelienne, une ‚négation déterminée‘ conservant les éléments positifs, mais éliminant les éléments négatifs.“ Exakt im Sinne einer Eliminierung all des Negativen, das er in diesem Notat aufzähle, sei Nietzsches Rede von seiner Rechtfertigung der Deutschen zu verstehen: Nietzsche habe weniger Deutschland selbst denn seine eigene Philosophie rechtfertigen wollen, die er hier, gleichsam als Bewahrerin der „éléments positifs“, dem „portrait peu flatteur qu’il fait souvent de l’Allemagne“ gegenüberstelle (S. 35). Damit ist freilich nicht geklärt, was es bedeuten soll, dass Nietzsche „ohne d i e s e Deutschen“, d.h. auch ohne all das Negative, das Nietzsche Merlio zufolge einfach eliminiert habe, nicht möglich gewesen sei. Merlio unterschätzt mithin die dialektische Denkfigur, die Nietzsches Argumentation zugrunde liegt: die produktive Spannung, die gerade aus dem Leiden an den „éléments negatifs“ erwuchs. In dieser Vorbereitungsfunktion könnte auch ein Grund dafür liegen, dass Nietzsche hier den sonst chronologischen Aufbau des Kapitels „Warum ich so gute Bücher schreibe“ durchbricht: Obwohl WA bereits im September, GD erst im November 1888 erschienen war, stellte Nietzsche nicht das Kapitel über GD, sondern das über WA ans Ende des Kapitels, unmittelbar vor EH Schicksal. Eine weitere Motivation für diesen „Verstoß gegen die Entstehungschronologie“ hat bereits Groddeck, „Die Geburt der Tragödie“ in „Ecce homo“, S. 329, aufgedeckt: „Ich halte die Umstellung in der Reihe der Selbstinterpretationen nicht für zufällig, denn die Überschrift des letzten Kapitels wird dadurch kompositorisch exponiert; erstes und letztes Kapitel dieser Reihe treten in Korrespondenz. […] In solcher Konstellation wird auch das Titelzitat ‚Der Fall Wagner‘ zur mehrdeutigen Formel: es konnotiert ähnlich das Ende, den Untergang Wagners, seinen ‚Fall‘, wie ‚Die Geburt der Tragödie‘ den Anfang und Ausgang des tragischen Philosophen Nietzsche impliziert.“
Nietzsche gegen die Deutschen: ‚Große Politik‘ gegen ‚kleine Politik‘
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in der der Text zu EH WA 1‒4 steht: Nietzsche griff seine ‚Rechtfertigung‘ der Deutschen nicht aus der Luft, er hatte im Gegenteil das ganze Kapitel sorgsam darauf zulaufen lassen: „ein paar harte Wahrheiten“ wolle er den Deutschen sagen, verkündet er in EH WA 2, allen voran, dass sie „[a ] l l e g r o s s e n C u l t u r -Ve r b r e c h e n v o n v i e r J a h r h u n d e r t e n […] a u f d e m G e w i s s e n“ hätten – jene Kulturverbrechen, die sich, wie er im mutmaßlichen fünften Abschnitt schreibt, „in einer höheren Ökonomik der Cultur“ rechtfertigten, nämlich in ihm. Und wie Luther mit seiner Wiederherstellung des Christentums die Renaissance untergraben hatte (EH WA 2, vgl. AC 61), wie Leibniz und Kant mit ihren „Versöhnungen zwischen Wahrheit und „Ideal““ die „grössten Hemmschuhe der intellektuellen Rechtschaffenheit Europa’s“ gewesen waren (EH WA 2, vgl. AC 10), wie die „„Freiheits-Kriege[ ]“ Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon’s gebracht“ hatten, nämlich „aus Europa eine Einheit […] zu schaffen“ (EH WA 2), so würden „[d]ie Deutschen […] auch in meinem Falle wieder Alles versuchen, um aus einem ungeheuren Schicksal eine Maus zu gebären.“ (EH WA 3) Doch gerade indem sie dies versuchten, ermöglichten sie erst, dass dieses Schicksal – die Umwertung aller Werte vorzunehmen – sich vollziehen konnte, denn sie hatten ihn auf diese Weise gezwungen, „mich selber zu erreichen“, hatten ihm sein „Loos“ zugewiesen (EH Schicksal 1) und ihm seine „innerste Natur“ gezeigt: „amor fati“ (EH WA 4).438
4.2 Nietzsche gegen die Deutschen: ‚Große Politik‘ gegen ‚kleine Politik‘ 4.2.1 Nietzsches Leiden an seiner fortwährenden Isolierung in Deutschland Aber warum diese Zuspitzung seiner gesamten Philosophie auf den „Gegensatz“ zwischen ihm und seinen Landsleuten (NL 1888/89, 25[7], KSA 13.641)? Denn offenbar handelte es sich dabei, Nietzsches eigener Erkenntniskritik gemäß, nur um eine „Vordergrunds-Schätzung[ ]“ (JGB 2) – um die Reduktion seines doppelbödigen Verhältnisses zu den Deutschen auf eine saubere und scheinbar simple Gegenüber-
Es ist daher nur folgerichtig, dass Nietzsche es in einer Skizze der Schlusskapitel des AC als die „Mission der Deutschen“ bezeichnet, die „Gegenwerthe“, die vornehmen Werte der Renaissance, zugrunde gerichtet zu haben (NL 1888, 22[10], KSA 13.588). Auch dass die Deutschen von der Höhe der Kultur, die sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht hatten, wieder herabgestiegen waren, gehörte insofern zu dieser Mission – der Mission, Nietzsche hervorzubringen. Es ist so nicht falsch, aber missverständlich, zu behaupten, die Deutschen seien für ihn „the European people of worldhistorical destiny“ gewesen (Conway, Nietzsche’s Germano-mania, S. 7; so auch Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell, S. 750). Denn sie waren es eben nicht in dem Sinne, dass sie zur Herrschaft über Europa oder gar die Welt vorherbestimmt gewesen wären. – Über Nietzsches Schicksal einerseits, Nietzsche als Schicksal andererseits vgl. Stegmaier, Schicksal Nietzsche?.
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stellung: Nietzsche, der Überdeutsche, auf der einen, die ‚typischen‘ Deutschen auf der anderen Seite. Tatsächlich spielte diese polemische Überzeichnung für sein philosophisches Projekt der Umwertung, respektive dessen praktische Umsetzung in Gestalt der ‚großen Politik‘, eine entscheidende Rolle.439 Wenn Nietzsche schrieb, es gehöre „selbst zu meinem Ehrgeiz, als Verächter der Deutschen par excellence zu gelten“ (EH WA 4), ist damit nicht gesagt, dass er tatsächlich dieser Verächter war, aber doch, dass er den Willen hatte, sich dazu zu stilisieren. So wollte er seiner Philosophie endlich Geltung verschaffen, nachdem sie „immer hartnäckiger überhört wor Vgl. dazu Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens, bes. S. 169‒171. Stegmaier führt dort (S. 169) aus, dass Nietzsche in seinen letzten, durch „härtere, gröbere, kämpferischere Sprache“ gekennzeichneten Schriften bestrebt ist, „nun durchzusetzen, was er erkannt hat“. – Zum Begriff der „ g r o s s e [ n ] P o l i t i k “ vgl. EH Schicksal 1: „Der Begriff Politik ist […] gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden g r o s s e P o l i t i k .“ Es war aber kein Krieg „zwischen Volk und Volk“ und „zwischen Ständen“, den Nietzsche hier meinte, sondern einer „quer durch alle absurden Zufälle von Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung“, „ein Krieg […] zwischen Wille zum Leben und R a c h s u c h t gegen das Leben, zwischen Rechtschaffenheit und tückischer Verlogenheit“ (NL 1888/89, 25[1], KSA 13.637). Unter der martialischen Sprache kann leicht verdeckt werden, dass hier nicht von blutigen Kämpfen die Rede ist – sie wären gerade die ‚kleine Politik‘ „zwischen Volk und Volk“ (NL 1888/89, 25[1], KSA 13.637), die Nietzsche so vehement bekämpfte (vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 240‒245). Es ist vielmehr die Rede von Geisterkriegen – Kriegen der Meinungen über gesellschaftliche und existentielle Fragen. Sie sind deshalb Kriege „mit und um Wahrheiten, Moralen, Religionen oder kurz: Ideologien“ (Stegmaier, Schicksal Nietzsche?, S. 109) und ununterscheidbar von „radikalpazifistischen Positionen“ genannt worden (Balke, Die Figuren des Verbrechers in Nietzsches Biopolitik, S. 201). Auch solche Kriege waren freilich in Nietzsches Sinne Kriege auf Leben und Tod, sofern sie darüber entschieden, ob die „ R a c h s u c h t gegen das Leben“, die er vor allem mit der „christlichen Moral“ (EH Schicksal 8) assoziierte, triumphieren würde oder das „Jasagen zum Leben“ (GD Alten 5), der „Wille zum Leben“ (NL 1888/89, 25[1], KSA 13.637). Als in solchem Sinne fundamentalen Krieg, in dem „the parties themselves dissolve, […] become spectres“, hat van Tongeren, Nietzsche as ‚Über-Politscher Denker‘, S. 80, den Geisterkrieg „a (paradoxical) universalisation of war“ genannt, die „destroys every kind of co-existence“. Damit hat er aber nicht schon eine Deutung dieser Universalisierung als „intellectual and artistic contest, which leads individuals to overcome themselves“, ausgeschlossen, wie demgegenüber Drochon, „The Time Is Coming When We Will Relearn Politics“, S. 79, in seiner Kritik an van Tongeren annimmt. Denn wenn der Geisterkrieg jede Koexistenz zerstört, so doch nicht in dem Sinne, dass ein Zusammenleben unmöglich werden muss, sondern so, dass er die fundamentale Entzweiung der Menschen „among themselves, but also within themselves“ offenlegt (van Tongeren, Nietzsche as ‚Über-Politischer Denker‘, S. 80), die nur von den nun als illusionär durchschauten metaphysischen Orientierungen des abendländischen Denkens verdeckt worden war. Gerade hier aber müsste ein „intellectual and artistic contest“ darüber entscheiden, welche neuen Werte des Zusammenlebens sich bewähren, auf Zeit wohlgemerkt – bis unter neuen Umständen neue, wiederum zeitliche Werte an ihre Stelle treten. – Mustergültig erschlossen hat den komplexen Begriff der großen Politik – auch und gerade unter dem Gesichtspunkt seiner wirkungsgeschichtlich so fatalen Missverständlichkeit – Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 239-292.
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den war“,440 besonders in Deutschland: Seit 1887 häufen sich Nietzsches Klagen über die geringe Resonanz seiner Schriften in Deutschland, die schon in früherer Zeit immer wieder begegnen, auffällig. Immer stärker setzte ihm die „stetig wachsende Gleichgültigkeit gegen meine Schr〈iften〉“ zu. Sie zeigte sich drastisch in katastrophalen Verkaufszahlen, in der Weigerung selbst der „Unbefangensten und Muthigsten“ unter den deutschen Verlegern, seine Bücher zu bringen, und darin, dass Rezensionen weitgehend ausblieben (an Franz Overbeck (Entwurf), 8. Juni 1887, Nr. 858, KGB III 5.89, vgl. den Brief an Heinrich Köselitz, 18. Juli 1887, Nr. 878, KGB III 5.113). Angesichts seines bedrückenden publizistischen Schattendaseins erinnerte er sich Ferdinand Avenarius gegenüber, Gottfried Keller habe ihm gesagt, „„mein Name sei in deutschen Zeitschriften so gut wie nicht mehr vorhanden““ (10. September 1887, Nr. 904, KGB III 5.146).441 War er aber doch einmal darin vorhanden, wurde durchweg über seine Bücher „gesündigt“, berichtet Nietzsche mit Blick auf JGB in EH (EH Bücher 1). Entweder klassifizierte man ihn als Vertreter hergebrachter politischer und philosophischer Strömungen oder schlicht als psychiatrisch.442 In beiden Fällen war das Ergebnis das gleiche: Man legte ihn als nicht der Rede wert beiseite, nahm ihn nicht als Denker ernst. Der in den Briefen seit Mitte 1888 geradezu allgegenwärtige, vielfach mit Triumphgesten vorgetragene Hinweis auf seine beginnende Wirkung im Ausland, zumal auf den Erfolg der Kopenhagener Vorlesungen von Georg Brandes,443 kann Stegmaier, Schicksal Nietzsche?, S. 114. Der Nachbericht, KGB III 7/3,1.172, vermutet, Keller habe Nietzsche dies „wohl während seiner Begegnung mit N am 30. September 1884 in Zürich“ berichtet. In diesem Sinne bereits Groddeck / Morgenthaler, Nietzsches Begegnung mit Gottfried Keller, S. 117: „Es ist ja durchaus denkbar, daß Keller Nietzsche 1884 gesagt hat, daß er seinen Namen aus Zeitschriften ‚noch nicht‘ kenne.“ In diesem Fall hätte Nietzsche im Brief an Avenarius mit der Formulierung „nicht mehr“ die Stoßrichtung freilich umgekehrt. Dass sich Nietzsche gerade jetzt dieses Details aus einem so lange zurückliegenden Gespräch erinnert, ist jedenfalls ein umso deutlicheres Zeichen dafür, dass er sich, was das Durchdringen seiner philosophischen Intentionen anbelangt, in Deutschland in einer verzweifelt isolierten Lage wähnte. „Sollte man es glauben, dass die Nationalzeitung […] allen Ernstes das Buch als ein „Zeichen der Zeit“ zu verstehn wusste, als die echte rechte J u n k e r - P h i l o s o p h i e, zu der es der Kreuzzeitung nur an Mut gebreche?…“ (EH Bücher 1) In der zugehörigen Vorstufe notierte er sich ferner: „Ein kleines Licht der Berliner Universität erklärte in der „Rundschau“, offenbar in Rücksicht auf seine eigne Erleuchtung, das Buch für psychiatrisch […]. […] Das litterarische Centralblatt gestand ein, „den Faden“ für mich verloren zu haben (wann hat es ihn gehabt? –)“ (NL 1888, 19[1], KSA 13.541). Vgl. a. WA, Zweite Nachschrift, KSA 6.46, und die Briefe an Franziska Nietzsche, 10. Oktober 1887, Nr. 924, KGB III 5.164 f., an Paul Deussen, 3. Januar 1888, Nr. 969, KGB III 5.221, und an Reinhart von Seydlitz, 12. Februar 1888, Nr. 989, KGB III 5.248 f. Vgl. dazu die Briefe über den Erfolg der Brandes-Vorlesungen, bes.: an Paul Deussen, 3. Mai 1888, Nr. 1026, KGB III 5.307, an Franziska Nietzsche, 27. Mai 1888, Nr. 1039, KGB III 5.321, an Meta von Salis, 17. Juni 1888, Nr. 1048, KGB III 5.336 f., und an Carl Fuchs, 26. August 1888, Nr. 1096, KGB III 5.399. Ein Zettel an seinen Verleger Fritzsch, ursprünglich wohl Beilage zu einem nicht überlieferten Brief Nietzsches, lässt vermuten, dass Nietzsche sogar mit dem Gedanken spielte, den Erfolg der Vorlesungen werbewirksam einzusetzen (an Ernst Wilhelm Fritzsch (Zettel), Mai 1888,
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nicht darüber hinwegtäuschen, wie niedergeschlagen Nietzsche gleichwohl weiterhin über die Behandlung durch die Deutschen war. So verkündete er in EH: „In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und New-York – überall bin ich entdeckt: ich bin es n i c h t in Europa’s Flachland Deutschland…“ (EH Bücher 2).444 Die Betonung des Nachsatzes zeigt: Es ging ihm mit diesem bezeichnenden Vermerk, der auch in Briefen mehrfach in leicht variierter Formulierung begegnet,445 weniger um seine (etwas übertrieben herausgestrichene) internationale Bekanntheit als darum, „das geliebte Vaterland“ zu rügen für den „tückischen Ernst[ ]“, mit dem es „mich seit Jahren gewähren läßt, ohne auch nur zu mucksen…“ (an Reinhart von Seydlitz, 13. Mai 1888, Nr. 1034, KGB III 5.314) Vor der forciert zur Schau gestellten Freude über seinen beginnenden Weltruhm („Sic i n c i p i t gloria mundi…“, an Paul Deussen, 3. Mai 1888, Nr. 1026, KGB III 5.307)446 überwog bis zuletzt der Ärger über „die Deutschen“, die „zu dumm und zu gemein für die H ö h e meines Geistes“ seien (an Franziska Nietzsche, 21. Dezember 1888, Nr. 1204, KGB III 5.543).447 Gerade sie, auf die er zuerst und vor allem hatte wirken Nr. 1042, KGB III 5.326, vgl. a. NL 1888, 16[63], KSA 13.506 f.). Zu Nietzsche und Brandes s. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 566‒568, 584‒590, und Boyer, Georg Brandes et Nietzsche. Nietzsche mag hier auf Mk 6,4 par. anspielen: „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterlande und bei seinen Verwandten und in seinem Hause.“ – Neben Brandes’ Vorlesungen in Kopenhagen und St. Petersburg meint er den Verehrer-Kreis um Heinrich Hengster in Wien (vgl. den Brief von Hengster an Nietzsche, 26. Juli 1888, Nr. 558, KGB III 6.247 f., Nietzsches im Entwurf erhaltenen Antwortbrief von Ende Juli 1888, Nr. 1077, KGB III 5.376 f., und Hengsters Erwiderung darauf vom 27. August 1888, Nr. 571, KGB III 6.273‒275), Anna Dmitriewna Ténicheff und A. I. Urussow in St. Petersburg (vgl. den Brief an Heinrich Köselitz, 9. Dezember 1888, Nr. 1181, KGB III 5.513 f.), August Strindberg in Stockholm, Hippolyte Taine und Jean Bourdeau in Paris (vgl. zu den drei Letztgenannten, neben vielen anderen Briefen, exemplarisch den an Franz Overbeck, 17. Dezember 1888, Nr. 1194, KGB III 5.531) und Karl Knortz in New York (vgl. den Brief an Karl Knortz, 21. Juni 1888, Nr. 1050, KGB III 5.339‒341). – Knortz’ Schreiben war nicht die erste Rückmeldung aus den USA. Bereits Ende 1881 hatte Elise Fincke aus Baltimore ihm im Namen eines kleinen Verehrer-Zirkels ihre Begeisterung über Nietzsches UB ausgedrückt (Elise Fincke an Friedrich Nietzsche, Ende 1881, Nr. 96, KGB III 2.204). Nietzsche nimmt es als „„Huldigungsschreiben““ auf (an Heinrich Köselitz, 17. Januar 1882, Nr. 187, KGB III 1.155, vgl. den Brief an Ida Overbeck, 19. Januar 1882, Nr. 188, KGB III 1.156) und notiert sich auf die Rückseite des Briefes: „Erster a m e r i k a n i s c h e r Brief. / initium gloriae mundi“ (Nachbericht, KGB III 7/1.630, vgl. a. Ratner-Rosenhagen, American Nietzsche, S. 2). Sein Antwortschreiben vom 20. März 1882 (Nr. 212, KGB III 1.157 f.) fällt gleichwohl eher kühl aus. Vgl. die Briefe an Jean Bourdeau, 17. Dezember 1888, Nr. 1196, KGB III 5.533, an Franziska Nietzsche, 21. Dezember 1888, Nr. 1204, KGB III 5.543, und den Entwurf an Ruggero Bonghi, Ende Dezember 1888, Nr. 1230, KGB III 5.568, alle mit ähnlichen Formulierungen. Vgl. neben den bereits genannten anderen Anzeichen dafür, dass „meine Wirksamkeit p e r i p h e r i s c h beginnt und erst von da aus auf das „Vaterland“ zurückströmen wird“, auch den Bericht über das „Lob“ für HL seitens des „ F l o r e n t i n e r Archivio storico“ (an Ernst Wilhelm Fritzsch, 14. April 1888, Nr. 1020, KGB III 5.296 f., vgl. auch den Brief an Franz Overbeck, 27. Mai 1888, Nr. 1040, KGB III 5.323). Vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 590: „Aber in alle Freude mischt sich beständig ein schwer zurückgehaltener Ingrimm darüber, daß ihm [Nietzsche] diese Anerkennung nicht in seinem
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wollen, weil sie es in seiner Sicht nötiger als alle anderen hatten, verweigerten sich – und das betraf, wie Nietzsche fortwährend feststellen musste, nicht zuletzt auch seine engsten Bekannten und Verwandten.448
4.2.2 Das Ende von Nietzsches Geduld mit den Deutschen und seine Stilisierung zum Antideutschen In der Vergangenheit hatte sich Nietzsche bemüht, seinen Landsleuten mittels sorgfältiger Argumentationen die Krisensymptome der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft und Kultur deutlich zu machen. Das lässt sich beispielsweise aus den nuancierten Tönen von JGB und des fünften Buchs der FW (bes. FW 357 f.) ersehen. Und noch in der GD hatte er den „Wunsch“ gehabt, „den Deutschen gerecht zu sein“ (GD Deutschen 1), hatte an ihre mögliche Größe appelliert („Was der deutsche Geist sein k ö n n t e , wer hätte nicht schon darüber seine schwermüthigen Gedanken gehabt!“, GD Deutschen 2), fast wohlwollend ihrer „Tugenden“, wie „Arbeitsamkeit“, „Ausdauer“ und „Mässigung“, sowie der Zeiten gedacht, da man sie „das Volk der Denker“ geheißen habe (GD Deutschen 1). Er hatte dort seine Kritik an der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft mit dem Hinweis darauf geschlossen, was die Deutschen „zu lernen“ hätten, um ihre Unvornehmheit abzulegen (GD Deutschen 6). Trotz aller vorangegangenen Misserfolge hatte Nietzsche sich damit ein letztes Mal als Erzieher der Deutschen empfohlen – freilich fühlte er längst, dass er den Deutschen mit seinen erzieherischen Vorschlägen „zum Räthsel werden“ würde (GD Deutschen 7). Bereits am 29. März 1887 hatte Nietzsche gegenüber dem radikalen antisemitischen Publizisten Theodor Fritsch, der ihm drei Exemptrotz aller Vorwürfe, Kritik und Enttäuschungen heiß geliebten Vaterlande erwächst.“ Zur Frage, inwiefern man bei Nietzsches Verhältnis zu den Deutschen von Liebe sprechen kann, vgl. 5. Vgl. etwa EH WA 4 („Umsonst, dass ich […] nach einem Zeichen von Takt, von délicatesse gegen mich suche. Von Juden ja, noch nie von Deutschen. […] Ich nehme Niemanden aus, am wenigsten meine Freunde, – ich hoffe zuletzt, dass dies meiner Humanität gegen sie keinen Abbruch gethan hat! […] Ich sage es jedem meiner Freunde ins Gesicht, dass er es nie der Mühe für werth hielt, irgend eine meiner Schriften zu s t u d i e r e n; ich errathe aus den kleinsten Zeichen, dass sie nicht einmal wissen, was drin steht.“) und die Briefe an Franz Overbeck, 14. April 1887, Nr. 831, KGB III 5.57 („Es giebt für mich nichts Lähmenderes, Entmuthigenderes als hinein in das jetzige Deutschland zu reisen und mir die vielen gutartigen Personen näher anzusehn, welche sich mir „wohlgesinnt“ glauben. Einstweilen fehlt eben a l l e s Verständniß für mich […]“), an Georg Brandes, 20. November 1888, Nr. 1151, KGB III 5.483 („Auch dürfen Sie darüber nicht böse sein, […] daß ich das Verhalten meiner d e u t s c h e n Freunde gegen mich stigmatisire, das absolut InStichgelassen-sein mit Ehre wie mit Philosophie.“), und an Franz Overbeck, Weihnachten 1888, Nr. 1210, KGB III 5.549 („Dies [die bedrängte Länge der Försters in Paraguay] hindert meine Schwester n i c h t, mir zum 15. Oktober [Nietzsches Geburtstag] mit äußerstem Hohne zu schreiben, ich wolle wohl auch anfangen „berühmt“ zu werden. Das sei freilich eine süße Sache! Und w a s für Gesindel ich mir ausgesucht hätte, Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten wie Georg Brandes… Dabei nennt sie mich „Herzensfritz“… D i e s dauert nun 7 Jahre!“).
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lare seiner Antisemitischen Correspondenz zugesandt hatte, angedeutet, mit seiner ironisch-wohlwollenden Haltung den zeitgenössischen Deutschen gegenüber könne es schon bald vorbei sein: Glauben Sie mir: dieses abscheuliche Mitredenwollen noioser Dilettanten über den We r t h von Menschen und Rassen, diese Unterwerfung unter „Autoritäten“, welche von jedem besonneneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden (z. B. E. Dühring, R. Wagner, Ebrard, Wahrmund, P. de Lagarde – wer von ihnen ist in Fragen der Moral und Historie der unberechtigtste, ungerechteste?), diese beständigen absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe „germanisch“, „semitisch“, „arisch“, „deutsch“ – das Alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen und aus dem ironischen Wohlwollen herausbringen, mit dem ich bisher den tugendhaften Velleitäten und Pharisäismen der jetzigen Deutschen zugesehen habe. / – Und zuletzt, was glauben Sie, das ich empfinde, wenn der Name Z a r a t h u s t r a von Antisemiten in den Mund genommen wird? … (Nr. 823, KGB III 5.51)449
„ N o t w e h r “ gegen „[d]iese Partei [die Antisemiten]“, die „der Reihe nach mir meinen Verleger, meinen Ruf, meine Schwester, meine Freunde verdorben“ hätten, kündigt Nietzsche am 29. Dezember 1887 seiner Mutter gegenüber ausdrücklich an (Nr. 967, KGB III 5.216 f.).450 Spätestens in AC und EH war es dann tatsächlich mit In den drei Ausgaben der Antisemitischen Correspondenz fanden sich mehrere Artikel, die sich auf Z beriefen. Vgl. dazu den Nachbericht, KGB III 7/3,1.93. Ein entsprechender Leserbrief aus der Nietzsche vorliegenden Nr. 7 der Antisemitischen Correspondenz (September 1886) ist abgedruckt im Nachbericht, KGB III 7/3,2.859 f. – Mit dem Verweis auf „E. Dühring, R. Wagner, Ebrard, Wahrmund, P. de Lagarde“ bezog sich Nietzsche auf den Artikel Unsere Arbeit, unsere Ziele! seines Schwagers Bernhard Förster, den dieser im Januar 1887 in der Antisemitischen Correspondenz veröffentlicht hatte (so der Nachbericht, KGB III 7/3,1.92). Auch diese Ausgabe war Nietzsche von Fritsch zugesandt worden (vgl. den Brief an Fritsch vom 23. März 1887, Nr. 819, KGB III 5.46, und dazu den Nachbericht, KGB III 7/3,1.87). Nietzsches Erbitterung über die Verbindung seiner Schwester zu einem der führenden Köpfe der antisemitischen Bewegung drückt drastisch der Entwurf eines Briefes an sie von Ende Dezember 1887 aus (Nr. 968, KGB III 5.218 f.). Ein gewisse Wirkung erzielte Nietzsche bereits durch seine erste Notwehrreaktion, die ablehnenden Briefe an den zunächst so verehrungswilligen Fritsch: Dieser veröffentlichte Ende 1887 wiederum in der Antisemitischen Correspondenz unter Pseudonym eine vernichtende Kritik zu JGB (vgl. Nachbericht, KGB III 7/3,1.256). Nietzsche nahm die Entwicklung durchaus zufrieden zur Kenntnis: „Die antisemitischen Blätter fallen über mich in aller Wildheit her (– was mir hundert Mal mehr gefällt als ihre bisherige Rücksicht)“ (an Franz Overbeck, 3. Februar 1888, Nr. 984, KGB III 5.243). Die Chronologie der Ereignisse (erst Nietzsches Zorn darüber, dass er und sein Z mit den Antisemiten in Verbindung gebracht werden, dann, als Reaktion auf die Zurückweisung von Fritschs Annäherungsversuchen, Fritschs JGB-Verriss) wird von Mittmann, Friedrich Nietzsche, S. 101 f., verdreht und dann so gedeutet, als wären Nietzsches Klagen über die Antisemitische Correspondenz und die darin auftauchende Verknüpfung seiner selbst mit dem Antisemitismus erst eine Reaktion auf Fritschs negative Buchbesprechung, d.h. als ärgere sich Nietzsche im Grunde darüber, als judenfreundlich dargestellt zu werden. Zur Kritik an Mittmanns Studie, deren Kernthese ist, Nietzsches Anti-Antisemitismus beruhe lediglich auf negativen persönlichen Erfahrungen mit Gestalten wie Fritsch oder Förster und schließe einen gleichzeitigen Judenhass nicht aus, vgl. Niemeyer, „Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…“, der, in Anknüpfung an eine frühere Arbeit (Niemeyer, Nietzsches rhetorischer Antisemitismus), nochmals die Hintergründe von Nietzsches frühem Antisemitismus und seiner Abwendung davon aufarbeitet und dabei zumal
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seinem Wohlwollen, seiner „Geduld zu Ende“ (EH WA 2), nicht nur den Antisemiten, sondern den Deutschen im Ganzen gegenüber. Auch sein stetig wachsender Argwohn gegen die kulturellen und politischen Entwicklungen in Deutschland wird hierbei eine Rolle gespielt haben: Das seit langem von ihm beklagte Missverhältnis von Politik und Kultur in Deutschland – in GD Deutschen 4 hatte er es nochmals prominent thematisiert – verschärfte sich weiter: Die deutschtümelnde Gesinnungsschnüffelei griff, so glaubte Nietzsche an einer in breitem Rahmen geführten Diskussion im Kunstwart beobachten zu können, im Laufe des Jahres 1888 nun auch zunehmend Heinrich Heine an und spielte ihn gegen einen seinerseits als deutsch-national imaginierten Goethe aus. Nietzsches Erregung über diese Vorgänge, gegen die er „ohne Milde“ sei (an Ferdinand Avenarius (Entwurf), 20. Juli 1888, Nr. 1065, KGB III 5.359 f.), ist gut dokumentiert.451 Was seine Sorgen über die politischen Entwicklungen anging, so wurde er in ihnen durch die Thronbesteigung Wilhelms II., den er als willfährige Marionette Bismarcks und des antisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker betrachtete, erheblich bestärkt.452 Der nach 99 Tagen auf dem Thron am 15. Juni 1888 an Kehlkopfkrebs verstorbene Friedrich III. war, wie er es in einem Brief an Köselitz ausdrückt, seine „letzte Hoffnung“ gewesen (20. Juni 1888, Nr. 1049, KGB III 5.338 f.).453 Mit Herrschaftsbeginn Wilhelms II. war für Nietzsche endgültig ausgemacht, was er längst befürchtete: „daß die Verlogenheit der christl. {europäischen} Cultur gerade in Berlin {jetzt} auf seinen {ihren} Höhepunkt kommt“ (KGW IX 9, W II 6.132).454 Nicht nur besuchte der Kaiser im September 1888 Papst Leo XIII. in Rom, um, so sah es Nietzsche, einen Pakt mit dem „Repräsentant[en] der Todfeindschaft gegen das Leben“ zu schmieden (EH klug 10).455 Er nannte es auch „seine „christliche Pflicht“, die Sklaven in Afrika zu befreien“ (EH WA 3)456 – in Nietzsches Interpretation ein Musterbeispiel die Rolle Wagners und Bayreuths betont. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der antisemitischen Bewegung vgl. ferner die Einordnung in den historischen Kontext von Ferrari Zumbini, „Ich lasse eben alle Antisemiten erschießen“ (darin zu Fritsch S. 147‒150). Vgl. Müller-Buck, Heine oder Goethe?. Vgl. dazu Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 573‒577, 649 f. sowie 664 f. Eine solche Marionette wurde Wilhelm II. zwar nicht – beide, Bismarck und Stoecker, fielen nach seiner Thronbesteigung recht bald in Ungnade. Dies ändert jedoch nichts an der Richtigkeit von Nietzsches Intuition, der Regierungszeit Wilhelms II. sorgenvoll gegenüberzustehen. Vgl. zu Nietzsche und Friedrich III. Bergmann, Nietzsche, Friedrich III, and the Missing Generation in German History, S. 195 f., 214‒217, und Bergmann, Nietzsche, „the Last Antipolitical German“, S. 171‒179. Bergmann weist auf bemerkenswerte Parallelitäten zwischen Leben und Gesinnung Nietzsches und Friedrichs III. hin. Frühere, von Nietzsche dann gestrichene Fassung des Notats 15[4], KSA 13.402, aus dem Frühjahr 1888. Vgl. KSA 14.763. Zur Editionsgeschichte dieser Passage, die im Druckmanuskript nicht von Nietzsches, sondern von fremder Hand gestrichen worden war, vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.478 f. Nach Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell, S. 528 f., ist diese Aussage Wilhelms II. im Zusammenhang mit den Hoffnungen zu sehen, die sich für den Kardinal Charles Lavigerie aus der kolonialen Expansion der europäischen Großmächte in Afrika ergaben: „Die europäischen Großmächte in Afrika werden bei ihrer Expansion in Afrika dazu aufgerufen, die Befreiung der
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der besagten deutsch-christlichen Verlogenheit: Nicht an der Sklavenbefreiung selbst stieß er sich, eher schon an der imperialistischen Kehrseite des Vorhabens, vor allem aber an der widersinnigen Vorstellung, dass man aus christlicher Pflicht, aus der Pflicht der Sklavenmoral, Sklaven zu irgendetwas ‚befreien‘ könne.457 Das unbewusst verlogene Vorhaben Wilhelms war so ein Sinnbild für das, „[w]as ich den Deutschen am wenigsten vergebe, […] daß sie nicht w i s s e n , was sie thun … lügen.“ (NL 1888/89, 25[2], KSA 13.638) In EH WA 2 würde Nietzsche diese Eigenschaft der Deutschen ihren „„Idealismus““ nennen: Sie, die unfähig seien, ihre chaotische Mischnatur zu organisieren und aufgrund dieser Unfähigkeit die „Gegensätze“, von denen sie sich „nähr[ten]“, unentschieden nebeneinanderstehen ließen und sie auf diese Weise nivellierten, hätten eine „innerlichste[ ] F e i g h e i t vor der Realität“ entwickelt, eine „Feigheit vor der Wahrheit“, ja eine „instinktgewordene Unwahrhaftigkeit“. Diese Unwahrhaftigkeit sei es gewesen, die sie wiederholt in Momenten, da den freien Geistern alles für ihre Entfaltung bereitet war, „Schleichwege zum alten „Ideal““ habe gehen, „Versöhnungen zwischen Wahrheit und „Ideal““ habe suchen, mithin das Christentum habe bewahren lassen. Kurzum: Nietzsche glaubte sich seit Mitte 1888 gründlich genug überzeugt, dass man „grob“ werden musste, um den Deutschen verständlich zu sein: Sie brauchten „harte Wahrheiten“, um überhaupt etwas zu verstehen (EH WA 2).458 So entschloss sich Nietzsche, den „Geisterkrieg“ (EH Schicksal 1), den Krieg im Namen der ‚Umwertung aller Werte‘, fortan mit aller Härte zu führen: Nietzsche machte sich zum Antideutschen; er betonte ausdrücklich den antideutschen Charakter seiner letzten Schriften.459 Da die Vorsilbe ‚anti‘ bei Nietzsche jedoch nicht nur die schwarzen Sklaven aus dem Inferno ihrer Lage zu fördern.“ Wilhelm habe, so Losurdo weiter, „zu den entschiedensten […] Anhängern“ Lavigeries gehört. Vgl. NW Wohin: „Die Norddeutsche Zeitung zum Beispiel […] sieht in den Franzosen „Barbaren“, – ich für meine Person suche den s c h w a r z e n Erdtheil, wo man „die Sklaven“ befreien sollte, in der Nähe der Norddeutschen…“ – Zelinsky, Sieg oder Untergang, S. 54, vertritt die Ansicht, „hinter dem Namen Wilhelms II. als Repräsentant des protestantisch-preußischen Reiches“ verberge sich „der Wagner-Komplex“, Nietzsches Zuspitzung des Konflikts auf eine Duell-Konstellation zwischen ihm und dem Kaiser in seinen letzten Notizen (s. 4.4) sei „nur unter dieser Voraussetzung […] nachvollziehbar“. Angesichts einerseits der hier aufgeführten anderen Gründe, warum Wilhelm II. gleichsam als Verkörperung alles ‚typisch‘ Deutschen Nietzsches Argwohn erregen musste, andererseits der Tatsache, dass Nietzsche zumindest den Künstler Wagner trotz allem vor nationalistischer Vereinnahmung verteidigte (s. 4.3.1), wirkt diese Deutung reichlich überzogen, auch wenn Nietzsche der Umstand, dass Wilhelm II. dem Bayreuther Zirkel mit Sympathie begegnete, vielleicht bekannt gewesen sein mag, wie Zelinsky vermutet (S. 66 f.). Mit dem Ausdruck „harte Wahrheiten“ spricht Nietzsche nicht nur die Schwere der Anklagen an, die er gegen die Deutschen erhebt, sondern verweist auch auf das Bedürfnis der Deutschen nach Dogmatik, nach Lehrsätzen (s. dazu 3.3.3.1). Sogar Nietzsches neue Wahrheit auf Zeit muss ihnen in der Tarnung der „harten Wahrheit“ präsentiert werden. Vgl. dazu die Briefe an August Strindberg vom 8. Dezember 1888 (Nr. 1176, KGB III 5.509), an Heinrich Köselitz vom 16. Dezember 1888 (Nr. 1192, KGB III 5.527), an Helen Zimmern vom 17. Dezember 1888 (Nr. 1197, KGB III 5.537) sowie an Franz Overbeck vom 26. Dezember 1888 (Nr. 1212,
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Bedeutung der Opposition, sondern auch die der Überbietung hat,460 ist der Begriff des Antideutschen (wie der des Antichrist) nicht bloß ein Gegenbegriff zum Deutschen, sondern ist zugleich synonym mit dem Begriff des Überdeutschen, als dem der fortwährenden Überwindung des je ‚typisch‘ Deutschen: Er ist die aggressive Gestalt, die der Begriff des Überdeutschen im Rahmen der großen Politik des Nietzscheschen Spätwerks erhalten musste.461 Die differenzierte Analyse der Rolle der Deutschen in der europäischen Geistesgeschichte tritt in AC und EH gänzlich zurück. Wie Nietzsche zufolge der Deutsche „ g l e i c h [ s t e l l t ] “ (EH WA 4), so stellt nun auch Nietzsche die Deutschen gleich: Seine ganze Aufmerksamkeit gilt nur noch den ‚Verbrechen‘ der Deutschen, ihrer ‚décadence‘, ihrer ‚Krankheit‘ – einer Krankheit, die er nicht nur geistig, sondern ebenso (und untrennbar voneinander) auch physiologisch, im deutschen Lebenswandel, der Ernährung zumal, fundiert sieht.462 Andreas Urs Sommer hat in Bezug auf das Bild, das Nietzsche in den letzten Abschnitten von AC von den Deutschen zeichnet, von einer „sich steigernden Dämonisierung“ der Deutschen gesprochen und dabei „eine heilsgeschichtliche Figur“ am Werke gesehen, die in einer „Bonum-durch-Malum-Typologie“ den Antichristen Nietzsche aus „der Hölle der christlichen Moral“ hervorgehen lasse.463 Die Umwertung wird zum Gefecht nicht KGB III 5.551). – Vgl. den Art. anti, in: NWB, Bd. 1, S. 49‒75, bes. S. 63. Dort wird mit Recht betont, dass mit dem Begriff „antideutsch“ „ein Kampfmoment hereingebracht oder explizit gemacht“ wird. Vgl. Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens, S. 176 f.; s.a. Bergmann, Nietzsche, „the Last Antipolitical German“, S. 6, und Art. anti, in: NWB, Bd. 1, S. 50. Dass Nietzsche ‚überdeutsche‘ Tendenzen nun als ‚antideutsch‘ deutet, zeigt sich auch daran, dass er Personen, denen er vorher Aspekte des ‚Überdeutschen‘ zuschreibt, nun für sich als „antideutsch“ ausweist: „Die Deutschen bekommen ihre großen Männer als Ausnahme und Gegensatz selbst zu ihrer R e g e l: Beethoven, Goethe, Bismarck, Wagner — unsere vier letzten großen Männer —: man kann aus ihnen zusammen auf das Strengste deduziren, was von Grund aus n i c h t deutsch, undeutsch, antideutsch ist …“ (NL 1888, 15[6], KSA 13.405). Besonders deutlich ist dies jedoch bei Heinrich Heine: Er gewinnt für Nietzsche überhaupt erst in den letzten Schaffensmonaten ein größeres Gewicht, nachdem er im Kunstwart als undeutsch und verderblich für die deutsche Kultur attackiert worden war. Nietzsche kehrte das Vorzeichen dieser Kritik um und machte ihn zur antideutschen Figur in seinem Sinne: „Jede Aussage für Heine ist zugleich immer eine Aussage gegen das Reich“ – und ebenso für „die französische Kultur“, die „seine Sichtweise […] auf Heinrich Heine [beherrscht]“ (Müller-Buck, Heine oder Goethe?, S. 279 f.). Die Betonung des Französischen im Denken und Dichten Heines zumal im Spätwerk geht so weit, dass sich von einer Umbürgerung Heines zum Franzosen sprechen lässt. Der antideutsche Franzose Heine war damit „ein gutes Stück Nietzsche-Selbstporträt“, wie Renate Reschke gezeigt hat (Reschke, Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als Franzosen oder wie er sich Heine als Heine sah, Zitat S. 77). Vgl. bes. EH klug 1. Der dort gestellte Befund einer auf ungesunde Ernährung und unzureichende Bewegung zurückgehenden Verdauungsstörung (die Nietzsche dort auch selbst als Bedingung geistiger Trägheit identifiziert) verhält sich analog zu Nietzsches These, die Deutschen nähmen unterschiedlichste, ja gegensätzliche Einflüsse in sich auf und stellten sie unverarbeitet nebeneinander, ohne etwas mit ihnen anfangen zu können. Vgl. 3.2.3.1. Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“, S. 629. Sommer ist zuzustimmen, dass Nietzsche zufolge „die Deutschen unter einer besonderen Anfälligkeit für das Christentum leiden,
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nur zwischen dem Christentum und dem Antichristen, sondern auch zwischen den (‚typisch‘) Deutschen und dem Überdeutschen, der sich nun antideutsch gibt. Es ist ein Kampf zwischen den décadents, den „morbide[n] Wesen“ einerseits, dem „wohlgerathne[n] Mensch[en]“ Nietzsche, der „summa summarum […] gesund, als Winkel, als Specialität […] décadent“ ist andererseits (EH weise 2).464 Die Deutschen werden zur „im Verhältniß zum Christenthum fluchwürdigste[n] Rasse der Geschichte“,465 ‚christlich‘ und ‚deutsch‘ zu Synonymen für die ‚décadence-Werte‘ Europas.
4.3 Der Schauspieler Nietzsche und die Rolle des Antideutschen In EH spielte Nietzsche den Antideutschen. Zu dieser Rolle gehörte, jegliche direkte geistige Verbindung zu den Deutschen zum Verschwinden zu bringen: „ Ve r w e c h s e l t m i c h v o r a l l e m n i c h t ! “ (EH Vorwort 1)466 Weite Strecken von EH sind entsprechend durchzogen von Formulierungen, die die Distanz, ja den Abgrund zwischen ihm und den Deutschen betonen. Dies geschieht bald auf instinktiv-physiologischer Ebene – ich bin […] in meinen tiefsten Instinkten Allem, was deutsch ist, fremd, so dass schon die Nähe eines Deutschen meine Verdauung verzögert (EH klug 5) Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, die allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus. (EH WA 4)
ja, sie sich als eigentlicher Herd dieser moralischen Krankheit erwiesen haben“. Der Schlusssatz von AC 60 – „Ich begreife nicht, wie ein Deutscher je c h r i s t l i c h empfinden konnte…“ – ist dennoch mehr als „ein schwacher Abglanz der früheren Bemühungen Nietzsches, als Prophet einer erneuerten deutschen Kultur aufzutreten“ (S. 628). Er hat seine Pointe darin, dass die Deutschen gerade als verlängerter Arm des Christentums ihn, den überdeutschen Überwinder christlichen Empfindens, dialektisch aus sich hervorgetrieben haben (vgl. 3.3.5 u. 4.1.1). Dass Nietzsche zu diesem ‚wohlgeratenen Menschen‘ hatte werden können, hatte nicht zuletzt seinen langjährigen schmerzhaften Konfrontationsprozess mit den Deutschen zur Bedingung. Vgl. dazu 2.2.3.4. So Nietzsche in einem Brief an Georg Brandes über das Bild, das er in EH von den Deutschen zeichnet (20. November 1888, Nr. 1151, KGB III 5.482). Vgl. auch den Entwurf eines Briefes an Helen Zimmern vom 8. Dezember 1888, Nr. 1180, KGB III 5.512: „die D e u t s c h e n […] durch die Geschichte hindurch als die eigentlich schädliche, verlogene, unheilvolle Rasse“. Vgl. Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, S. 560: „Nietzsche […] überschreibt die biographischen Daten des historisch fassbaren Individuums Friedrich Wilhelm Nietzsche aus Röcken – in dessen Namen schon die Einbettung in die von ihm bekämpfte Kultur des deutschen Reichschristentums anklingt – mit einer anderen Biographie und anderen Verwandtschaftsverhältnissen“. Zu diesen von Nietzsche in EH ins Spiel gebrachten Verwandtschaftsverhältnissen über die unten angesprochene vermeintliche polnische Herkunft hinaus, etwa zu Caesar oder Alexander, vgl. Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, S. 560‒572.
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–, bald auf der des Denkens und Schreibens: Deutsch denken, deutsch fühlen – ich kann Alles, aber d a s geht über meine Kräfte… Mein alter Lehrer Ritschl behauptete sogar, ich concipirte selbst noch meine philologischen Abhandlungen wie ein Pariser romancier — absurd spannend. In Paris selbst ist man erstaunt über „toutes mes audaces et finesses“ — der Ausdruck ist von Monsieur Taine —; ich fürchte, bis in die höchsten Formen des Dithyrambus findet man bei mir von jenem Salze beigemischt, das niemals dumm — „deutsch“ — wird, esprit … Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.467 (EH Bücher 2)
Auch die auf einer familieninternen Erzählung beruhende Legende um seine polnische Abkunft hat hierin ihre hauptsächliche Funktion:468 Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches. Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich immer meine Mutter und Schwester, — mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit. (EH weise 3)469
Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit diesem Luther zugeschriebenen Ausspruch vgl. 3.3.5.3. Vgl. Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, S. 555: „Er [Nietzsche] benutzt die von ihm behauptete Abstammung von polnischen Edelleuten zunächst, um sich von den ‚Deutschen‘ zu distanzieren“. Nietzsche nahm damit Gedanken auf, die er bereits 1882 niedergeschrieben hatte: „was von deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben.“ (NL 1882, 21[2], KSA 9.681) Der zitierte Passus aus EH weise 3 ist jedoch, was die Absonderung von ‚deutschem Blut‘ betrifft, weit strikter. Auch die ursprüngliche Fassung dieses Aphorismus gab sich diesbezüglich etwas weniger absolut: „Denke ich daran, wie oft ich unterwegs als Pole angeredet werde und von Polen selbst, wie selten man mich für einen Deutschen nimmt, so könnte es scheinen, dass ich nur zu den a n g e s p r e n k e l t e n Deutschen gehörte. Aber meine Mutter, Franziska Oehler, ist jedenfalls etwas sehr Deutsches […]“ (KSA 14.472). Von der Erfahrung, als Pole angesehen zu werden, hatte Nietzsche Köselitz am 20. August 1880 aus Marienbad berichtet: „Es giebt viel Polen hier und diese – es ist wunderlich – halten mich durchaus für einen Polen, kommen mit polnischen Grüßen auf mich zu und – glauben es mir nicht, wenn ich mich als Schweizer [!] zu erkennen gebe.“ (Nr. 49, KGB III 1.37) Auch „in der Schweiz und in Italien […] hat man mich oft als Polen angeredet“ (NL 1882, 21[2], KSA 9.681). – Vgl. zu Nietzsches vermeintlicher polnischer Abstammung Devreese / Biebuyck, „Il Polacco“. Ihnen zufolge habe Nietzsche die polnische Geschichte als gleichsam alternative, „virtuelle[ ] deutsche[ ]“ Geschichte gedeutet und dies mit der forciert nach außen getragenen Familienlegende verzahnt (S. 269). Zum möglichen historischen Kern dieser Familienlegende vgl. Devreese, Friedrich Nietzsches Ur-Urgroßvater. – Nietzsches Selbststilisierung zum polnischen Edelmann könnte neben der Familienlegende auch einen zusätzlichen Anhalt in Gottfried Kellers Kleider machen Leute haben. In der Novelle, Teil der von Nietzsche verehrten Leute von Seldwyla (vgl. WS 109), kommt es durch eine Verkettung von Umständen dazu, dass der arme, in Schlesien gebürtige Schneider Wenzel Strapinski, der, Nietzsche nicht unähnlich, einen polnisch klingenden Namen hat, für einen polnischen Grafen gehalten wird. Über Nietzsches Keller-Verehrung vgl. Groddeck / Morgenthaler, Nietzsches Begegnung mit Gottfried Keller.
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Nietzsche, der ‚Antideutsche‘
4.3.1 Der Schauspieler Wagner 4.3.1.1 Wagners Rolle des Deutschen Wie Nietzsche nun den Antideutschen spielte, hatte Richard Wagner in seinen Augen immer den Deutschen gespielt. Den Gedanken, dass Wagner in Wahrheit kein Deutscher sei, hat Nietzsche früh gehegt. Bereits WB lässt sich dahingehend deuten, sofern der ‚überdeutsche‘ Wagner dort als Gegensatz zu seinen deutschen Zeitgenossen geschildert wird,470 und ebenso einige Bemerkungen im Nachlass der späten 1870er Jahre (vgl. etwa NL 1878, 30[149], KSA 8.548). Den deutschen Wagner habe es nie gegeben, notiert Nietzsche sich 1885 (34[227], KSA 11.497), und wenn er in JGB 256 auch zugestand, dass es Momente einer „deutschen Natur Richard Wagner’s“ gebe, namentlich in der Gestalt des Siegfried, so hält er doch im Ganzen auch hier unter Anschluss an WB fest, Wagners Kunst habe aus „ ü b e r d e u t s c h e n Quellen“ geschöpft und habe das ‚Deutsche‘ der Siegfried-Gestalt in der Figur des Parsifal „reichlich quitt gemacht“ (JGB 256, KSA 5.203 f.). Im Spätwerk gelangt Nietzsche dann wiederholt und eindeutig zu dem Urteil: Es ist schwer, in ihm irgend einen deutschen Zug auszumachen. Er hat, als der grosse Lerner, der er war, viel Deutsches nachmachen gelernt – das ist Alles. Sein Wesen selbst w i d e r s p r i c h t dem, was bisher als deutsch empfunden wurde: nicht zu reden vom deutschen Musiker! (WA, Nachschrift, KSA 6.41, vgl. auch EH MA 2)
Wie der Nachsatz zeigt, ging es Nietzsche bei seiner Behauptung, Wagner habe den Deutschen nur gespielt, vordringlich um den Künstler, den Musiker Wagner. Der Denker, der Schriftsteller hingegen sei außerordentlich deutsch: „Die Sensibilität Wagners ist nicht deutsch; um so deutscher ist seine Art Geist und Geistigkeit“, überlegt er für sich (NL 1888, 15[6], KSA 13.407) und meint, wie er schon 1885 notiert, mit Ersterer Wagners Pathos, seine Schauspielkunst, mit Letzterer seine Schriftstellerei: Freilich: so weit er sich selber in das Reich der Erkenntniß begeben hat, verdient er kein Lob, vielmehr eine unbedingte Zurückweisung […]. Will man ihm aber durchaus auch noch als einem „Denker“ zu Ehren und Statuen verhelfen […] wohlan! so empfehle ich, ihn als den G e n i u s d e r d e u t s c h e n U n k l a r h e i t selber darzustellen, mit einer qualmenden Fackel in der Hand, begeistert und eben über einen Stein stolpernd. Wenn Wagner „denkt“, stolpert er. – Aber uns wird der M〈usiker〉 Wagner angehen (NL 1885, 36[14], KSA 11.555).471
Vgl. 1.3.2. Vgl. ähnlich Nietzsches Entwurf eines Briefes an Heinrich von Stein, Mitte März 1885, Nr. 584, KGB III 3.27: „Was aber gar das Reich der Erkenntniß angeht – um des Himmels Willen, wo haben Sie Ihre Augen – was hat da dieses Genie der deutschen Unklarheit zu schaffen, der N i c h t s ordentlich gelernt und A l l e s durcheinander gemantscht hat, Pardon und – – – / Soll denn dieses Genie der deutschen Unklarheit auch noch nach seinem Tode fortfahren Unfug zu stiften?“
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Denn der Musiker Wagner ist „das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence“ (EH klug 6, KSA 6.289).472
4.3.1.2 Meyerbeer als Lehrer des ‚Schauspieler-Genies‘ Wagner und Wagners Selbsttäuschung über die verleugneten ‚überdeutschen‘ Quellen seiner Kunst Die Schauspielerei war für Nietzsche keine unverfängliche Tätigkeit. Im Gegenteil hatte ihn „[d]as Problem des Schauspielers […] am längsten beunruhigt“ (FW 361), und eben besonders in Gestalt Wagners. Was ihn an Wagners Schauspielerei vor allem besorgte, war ihre Unaufrichtigkeit: „Er hatte nicht Stolz genug zu irgend einer Wahrheit über sich, Niemand war weniger stolz“. Die Schauspielerei beschränkte sich nicht auf sein Schaffen, sie reichte bis in die letzten Winkel seiner Existenz: sogar „im Biographischen [blieb er] sich treu, – er blieb Schauspieler.“ (WA, Nachschrift) Was sich der Schauspieler Wagner folglich am wenigsten eingestehen konnte, war, dass er schauspielerte. Auch auf dem Gebiet der Kunst wurde ihm die Schauspielerei so Ziel und Mittel zugleich. Nirgendwo zeigte sich dies deutlicher als an Wagners Verhältnis zu Meyerbeer. Vor dem Hintergrund dieses Verhältnisses lässt sich auch Nietzsches Urteil, Wagner habe den Deutschen nur gespielt, besser verstehen. Wagner hatte bekanntlich Meyerbeer in unerbittlicher Schärfe vorgeworfen, es gehe ihm nur um „ E f f e k t “, nur um Wirkung: seine Musik sei „ W i r k u n g o h n e U r s a c h e “ (OD 1, S. 301). Aber auch Wagner selbst wollte, so Nietzsche, „die Wirkung, […] Nichts als die Wirkung“ (WA 8).473 Was Nietzsche im veröffentlichten Werk nur solchermaßen verklausuliert zu verstehen gab, notierte er sich im Nachlass ausdrücklich: dass Wagner gerade als „Theater-Genie“, als „SchauspielerGenie“ (WA 8) an Meyerbeer angeschlossen habe: Die Sensibilität Ws gehört zur franz. Romantik {die Figuren des {seine typischen Figuren, der} fl. Holländers, Tannhäusers, {Lohengrins} Tristans, Parsivals {nichts von dem Blute} haben Nichts Deutsches {im Leibe}}; sie ist {jedenfalls die Leidenschaft wie ihn W versteht ist jedenfalls} der Gegensatz der deutsch romant. Sensibilität {Sensiblen.}. {Der Ehrgeiz des gro-
Wenn Nietzsche den Künstler Wagner für ‚undeutsch‘ erklärte, so meinte er dies also (wie bei Goethe) in durchaus auszeichnendem Sinn: was an Wagner war, dem sich auch Nietzsche nahe fühlte, war in Nietzsches Sinn nicht deutsch. Dies verkennt Prange, Was Nietzsche Ever a True Wagnerian?, S. 47 f., wenn sie behauptet, Nietzsche habe in EH klug 6 neben den Wagnerianern (auf sie trifft Pranges Analyse sicher durchaus zu) auch Wagner selbst mit seinem Wort vom „Gegengift gegen alles Deutsche par excellence“ und seiner Beschreibung von Tristan und Isolde „as a non-German work of art“ beleidigen und verächtlich machen wollen. Eher schon könnte man davon reden, Nietzsche habe Wagner vor sich selbst beschützen wollen. Vgl. bereits JGB 240, über das Vorspiel der Meistersinger von Nürnberg: „und plötzlich ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt“ (Kursivierung A.R.).
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ßen Stils, den W. hat das ist ganz eigentlich der Romantiker-Ehrgeiz Frankreichs {Frankreichs {in} der dreißiger Jahre Frankr.}} Nach Frankreich weist insgleichen der Wettbewerb um {Fascination, welche M.} die große Oper; der Versuch, den bereits durch Meyerbeer ins Ungeheure gesteigerten {fast von Anfang} auf W ausübte; noch jetzt glaube ich, daß erst Paris der {einzige} Ort ist, wo man Artist genug ist, um das Gesammt-Phänomen Wagner [hier folgt ein größerer Zeichenabstand] u. noch jetzt glaube ich, daß {man} einzig in Paris die Theater-Cultur reich u. {Artist genug ist, um das Außerordentliche am Theater-Genie} weitherzig genug ist, um das Gesammt-Phänomen W. was W. ist, nach zu begreifen. In D. fehlt Alles, um gerade dem Künstler W. gerecht zu werden Paris bleibt die Heimat der Ws Kunst: Das ist nicht der Deutsche in W. den Meyerbeer die große Oper fascinirte, der den Wettkampf mit Meyerbeer aufnahm (sammt allem, was durch M. errungen war…), denn [Nietzsche bricht hier ab]474 […] War das ein deutscher Ehrgeiz, Herr der großen Oper zu werden u. M. zu entthronen? […] Die Fascination, die große Oper, der W. von Anbeginn an unterlag, sein Wettkampf mit Meyerbeer – welche Deutschen Künstler haben je daran gedacht, mit M. zu wetten? […] Man will es heute {noch} nicht {an Wagner} Wort haben, wie viel W. Frankreich verdankt,. {wie sehr er {selbst} nach Paris gehört.} Der Ehrgeiz des großen Stils bei einem Künstler — selbst der {ist} noch {bei Wagner} französisch {an W.} … Und die große Oper! Und der Wettlauf mit Meyerbeer! Und sogar mit Meyerbeerschen Mitteln! Was ist daran deutsch? … Zuletzt erwäge man doch {das Entscheidende:} das Spezifische {was charakterisirt} der Wagnerschen Künstlerschaft:{?} der Histrionismus, {das in-Scene-Setzen}, die Kunst der {jeder Art} der étalage mise en scène, die Kunst {Wille zur} der Wirkung an sich {um der W willen}475 das Genie des Histrionismus, des {des Vortragens, Vorstellens, und} Nachmachens von Genre, Kunst – Darstellens, Bedeutens, Scheinens: ist das {in irgend einem Genre} eine deutsche Art Begabung? […] Aber es ist das Genie Frankreichs! … (NL 1888, 15[6]8, KSA 13.408 / KGW IX 9, W II 6.126 f.)
Nietzsche setzt hier nicht nur, wie er es auch in WA tut, auseinander, dass Wagners Kunst wesentlich in der Schauspielerei bestand, sondern auch, dass sein „Schauspieler-Genie“ (WA 8) wesentlich von Meyerbeer geschult war.476 Nietzsche ging es Alle bis hier zitierten Passagen des Notats, ob durchgestrichen oder nicht, hat Nietzsche letztlich nochmals im Ganzen gestrichen, worauf wir in der Wiedergabe des Notats der Lesbarkeit halber verzichten. In HL 2, KSA 1.263, hatte Nietzsche in Hinblick auf die monumentalische Historie von „„Effecte[n] an sich“, das heisst […] Wirkungen ohne zureichende Ursachen“, gesprochen und sich dabei vermutlich auf Wagners bereits zitierte Kritik an Meyerbeers Kunst als bloßem „ E f f e k t “, als „ W i r k u n g o h n e U r s a c h e “ bezogen (vgl. dazu Rupschus, Nachweise aus Richard Wagner, Oper und Drama). Hier nun wird Wagner selbst derjenige, der sich einer ‚Wirkung an sich‘ bediente. Meyerbeer wird von Nietzsche nur selten ausdrücklich erwähnt, dennoch bildet sein Werk über Jahre hinweg immer wieder einen verborgenen Hintergrund für Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagners Kunst (vgl. neben dem zitierten Notat 15[6]8 etwa NL 1883/84, 24[6], KSA 10.646; NL 1885, 34[42], KSA 11.433 / KGW IX 1, N VII 1.167 f.; NL 1885, 35[64], KSA 11.539 / KGW IX 4, W I 3.70 f.). Nietzsches Analyse der Beziehung beider Komponisten ist dabei erstaunlich komplex und bedürfte einer eigenen Untersuchung. Wir gehen ihr im Folgenden nur insoweit nach, wie sie direkt Aufschlüsse über Nietzsches These, Wagner habe den Deutschen bloß gespielt, geben kann.
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hierbei weniger um das Fortwirken von Meyerbeers Musiksprache, vielmehr um das seines „dramatische[n] System[s]“.477 So spielte die mise en scène, die Inszenierung samt Bühneneffekten und Bühnenbild, für Meyerbeer eine höchst bedeutsame Rolle.478 Dem Notat 15[6]8 zufolge ist die „mise en scène“ oder „Kunst der étalage“ (d.h. Schaufensterkunst) aber auch für das Musikdrama Wagners von eminenter Bedeutung. Dort schreibt Nietzsche ausdrücklich: „{das in-Scene-Setzen}“, das „Darstellen[ ], Bedeuten[ ], Scheinen[ ]“, das also, was Wagners Kunst in Nietzsches Sinn ausmachte, waren „Meyerbeersche[ ] Mittel[ ]“ (NL 1888, 15[6]8, KSA 13.408 / KGW IX 9, W II 6.126). Wagner hatte sie „sammt allem, was durch M. errungen war“ (KSA 13.408 / W II 6.126), aufgenommen und in neue Höhen gesteigert: zu einer „Theater-Rhetorik“, mit der er „ S c e n i k e r par excellence“ wurde (WA 8).479 Der frühe Nietzsche warf Meyerbeer in Wagners Sinn vor, mittels eines „überaus künstlich gesponnene[n] Gewebe[s] von Beeinflussungen aller Art […] dem Publikum einen Erfolg abzuringen“ und grenzte Wagner von diesem „Kunst-Lügenwesen“ mit seinen „beinahe nothwendigen „Kunstmittel[n]““ ab (WB 8, KSA 1.474). Nach dem späten Nietzsche hingegen hatte Wagners „ Ku n s t z u l ü g e n“ (WA 12) Meyerbeer gerade im Einsatz solcher Mittel überboten: Die Überzeugungskraft seiner Schauspielerei reichte so weit, dass er sich selbst über seine SchauspielerNatur, wenigstens über deren Dimension, betrügen konnte. Hatte – was Nietzsche fraglos bewusst war – Wagner bereits über Meyerbeer gesagt, „[d]ieser täuschende Komponist“ gehe „sogar so weit, daß er sich selbst täuscht, und dieses vielleicht ebenso absichtlich, als er seine Gelangweilten täuscht“ (JM, S. 82), war diese neue Qualität für Nietzsche erst bei Wagner erreicht.480 So nannte es Meyerbeer in einem Brief an seine Frau Minna vom 20. Mai 1836 (MBT, Bd. 2, S. 527). Zu Meyerbeers Konzept des Ideendramas, in dem mit allen Mitteln dramatischer und theatertechnischer Kunst ein komplexer philosophischer (ab Les Huguenots insbesondere geschichtsphilosophischer) Diskurs entfaltet wird, vgl. Döhring / Henze-Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, S. 144‒164 und 217‒223. Die Verbindung zwischen Meyerbeer und Wagner lag zeitgenössischen Beobachtern durchaus klar zutage. Zumindest Eduard Hanslick sieht jedoch den Einfluss Meyerbeers eher bei den frühen Werken Wagners, wie Rienzi oder Tannhäuser (vgl. etwa Hanslick, G. Meyerbeer. Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, S. 109 f.), wohingegen der späte Nietzsche das Fortwirken nicht allein von Meyerbeers Musiksprache, sondern zumal von seinem dramatischen System noch in Wagners Spätwerken sah (Nietzsche verweist in 15[6]8 ausdrücklich auf „Lohengrin, Tristan, Parsival“, KGW IX 9, W II 6.127). Die neuere Forschung hat dies bestätigt (vgl. Döhring / HenzeDöhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, S. 144, 147, 153, 260‒267). Bereits Moore, Hysteria and Histrionics, S. 256, hat darauf aufmerksam gemacht, dass Nietzsche Wagner und seiner Kunst, indem er ihn als Schauspieler klassifizierte, „quintessentially ‚Jewish‘ characteristics“ zuschrieb, d.h. solche Charakteristika, die Wagner selbst als ‚jüdisch‘ gebrandmarkt hatte. So wurde Wagner in Nietzsches Deutung seine eigene Karikatur: „According to this logic, if Wagner is an actor, a good actor […], then the nineteenth century’s greatest antiSemite is himself a Jew.“ (S. 257) Schauspielerei als wesentlich ‚jüdische‘ Eigenschaft zeigt sich für Wagner neben Meyerbeer und, in geringerem Maße, Mendelssohn auch bei dem – von Nietzsche
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Folgt man Nietzsches Interpretation, so bestand in dieser Selbsttäuschung vielleicht der eigentliche Sinn von Wagners theatralischer Gabe, die Not, die ihn instinktiv zum Schauspieler machte und alles andere der Täuschung unterordnen ließ: „er w u r d e Musiker, er w u r d e Dichter, weil der Tyrann in ihm, sein SchauspielerGenie ihn dazu zwang“ (WA 8). Wagner, „vielleicht das grösste Beispiel der Selbstvergewaltigung […], das die Geschichte der Künste hat“ (WA 11), wurde zum „Schauspieler-Genie“, weil er nötig hatte, dazu zu werden; seine Schauspielerei vor sich selbst wurde der Boden, auf dem er stand, ohne den er nicht sein konnte. Denn hätte er sie durchschaut und mit ihr, woher sich bis zuletzt seine Kunst speiste, wäre sie als solche in ihrem messianischen Anspruch, krönender Abschluss der Operngeschichte zu sein, schon ad absurdum geführt gewesen: wollte sie doch gerade das Gegenteil dessen sein, was Meyerbeer, das angebliche Verhängnis der Operngeschichte, Wagners Überzeugung nach war.481 Stellte sie sich statt als Gegenteil als Erbe von Meyerbeers Ansatz heraus, würde sich damit zudem auch die Idee der Wiedergeburt des wahren Deutschtums qua Zukunftsmusik, der sie verpflichtet war, selbst aufgehoben haben – schließlich war der deutsche Jude Meyerbeer, der sich in den Kulturen und musikalischen Traditionen Deutschlands, Italiens und Frankreichs gleichermaßen heimisch fühlte und vor diesem persönlichen Erfahrungshorizont einen spezifischen Personalstil ausformte, die Verkörperung der kosmopolitischen – und von Wagner als solcher verhassten – Pariser Musikkultur der Mitte des 19. Jahrhunderts. Meyerbeer war das „Genie Frankreichs“ (NL 1888, 15[6]8, KSA 13.408 / KGW IX 9, W II 6.127), wie Wagner es wider Willen in seiner Nachfolge war. ‚Frankreich‘ aber war hier eben nicht im Sinne einer etwa essentialistisch zu verortenden Nation zu verstehen, sondern als Chiffre für die Idee, „dass E u r o p a e i n s w e r d e n w i l l “ – wie Nietzsche in JGB 256 mit Blick auch auf den „sich selbst“ in seinem Französischsein in später Zeit betont belobigten – Heine, wie Moore zeigt (vgl. S. 256 f.). Überhaupt wiederholt sich bei Heine in gewisser Weise das Verhältnis zu Meyerbeer: Auch Heine schätzte Wagner anfangs stark, kritisierte ihn späterhin umso schärfer und blieb doch bis zuletzt von ihm beeinflusst (vgl. dazu Borchmeyer, Richard Wagner, S. 371‒391). – Nietzsche schrieb den Juden in FW 361 ebenfalls ein besonderes schauspielerisches Talent, eine „Anpassungskunst par excellence“ zu, meinte dies jedoch nicht antisemitisch-diskreditierend wie Wagner und suchte den Grund dafür auch nicht in einem vermeintlich lügnerischen jüdischen ‚Wesen‘, sondern hob die „welthistorische Veranstaltung“ hervor, ohne die dieses Talent ihnen weniger nötig gewesen wäre: den Druck Jahrhunderte langer Diskriminierung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft. Wie die Juden hatten sich, so Nietzsche in FW 361 weiter, auch andere Gruppen, namentlich „Familien des niederen Volkes“, Diplomaten und Frauen, aufgrund eines jeweils spezifischen Druckes, der von der Gesellschaft auf sie ausging, herausragende schauspielerische Fähigkeiten angeeignet. Für diese Verdrängungs-Theorie spricht, dass Wagner auch in späteren Jahren, als Meyerbeer tot und er längst etabliert war, von dem Thema geradezu verfolgt wurde, und zwar im Wortsinn bis in den Schlaf hinein. In von Cosima Wagner aufgezeichneten Träumen der 70er und 80er Jahre versöhnte er sich unter Applaus des Publikums mit Meyerbeer (CT, Bd. 2, S. 515) oder ging mit ihm „Arm in Arm in Paris“, wo Meyerbeer „ihm die Bahnen des Ruhmes [ebnete]“ (CT, Bd. 1, S. 576 f.). Vgl. dazu Döhring, Die traumatische Beziehung Wagners zu Meyerbeer, bes. S. 262 f.
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nicht verstehenden Wagner (und vielleicht auch auf Meyerbeer482) geschrieben hatte (KSA 5.201 f.). Wagner, so zusammenfassend Nietzsches Befund, verleugnete sich instinktiv vor sich selbst und anderen so gründlich, dass er und die anderen die Lüge für Wahrheit hielten. Kaum eine ‚Wahrheit‘ hatten seine Jünger Wagner so gründlich abgenommen wie die, dass er ein „ d e u t s c h e [ r ] Meister“ sei (EH MA 2). Indem Wagner seine nach Frankreich gehörende „Sensibilität“ (NL 1888, 15[6]7, KSA 13.407 / KGW IX 9, W II 6.127) und damit seinen Rang verleugnete und sich als Deutscher gab, machte er sich gemein. Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von ‚deutsch‘ und ‚christlich‘ in Nietzsches Spätwerk war es darum nur folgerichtig, dass Wagner, der „Klingsor aller Klingsore“ (WA, Nachschrift, KSA 6.43), Verführer aller Verführer, schließlich auch „vor dem christlichen Kreuze nieder[fiel]“ (MA II Vorrede 3; NW loskam 1). Durch dieses „Sich-selbst-Verneinen, Sich-selbst-Durchstreichen von Seiten eines Künstlers, der bis dahin mit aller Macht seines Willens auf das Umgekehrte […] aus gewesen war“ (GM III 3; NW Apostel 3), begrub sich Wagner unter den zusammenstürzenden Trümmern seiner eigenen Kunst – ganz wie Klingsor auf Parsifals Bekreuzigung hin unter seinem Zauberschloss begraben wird (PA, S. 363).483
4.3.2 Nietzsches Rolle des Antideutschen als Gegenentwurf zu Wagners Rolle des Deutschen Wagner wird Nietzsche also, in den Worten Werner Stegmaiers, mit der Zeit zum Synonym für den „bloßen Schauspieler mit der bloßen Lust an der Illusion“. Nietz Vgl. JGB 256, KSA 5.202: „dass die f r a n z ö s i s c h e S p ä t - R o m a n t i k der Vierziger Jahre und Richard Wagner aufs Engste und Innigste zu einander gehören“. Nietzsche würde später Meyerbeer und die französische Romantik der 1830er Jahre eng verbunden, ja jenen als eigentlichen Vertreter dieser sehen (vgl. NL 1888, 15[6]7 f., KSA 13.407 f. / KGW IX 9, W II 6.126 f.). Zwar können die nach Robert le Diable entstandenen Werke nicht eigentlich der Romantik zugerechnet werden, doch Meyerbeer blieb mit seinem im Robert entwickelten dramatischen System in den 1840er Jahren der tonangebende Opernkomponist. Die auffällige Wortwahl bei der Umschreibung der „ f r a n z ö s i s c h e [ n ] S p ä t - R o m a n t i k der Vierziger Jahre“, deren Vertreter „Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der Schauläden [vgl. die „Kunst der étalage“ in W II 6.126!]“ gewesen seien, spricht gleichfalls dafür, dass Nietzsche in JGB 256 zumindest auch an Meyerbeer gedacht hat. Es wäre zu überlegen, was es bedeutete, dass der späte Wagner die musikalische Umsetzung seiner Regenerations-Ideologie, die die Menschheit durch Taufe einigen wollte, mit den dramatischen Mitteln betrieb, die er von den Konzepten des tief gläubigen Juden Meyerbeer her entwickelt hatte. Dies kann jedoch nicht hier geschehen. – Zu Nietzsches Kritik an Wagners ‚Niederfall vor dem Kreuz‘ vgl. Knoepffler, Art. Parsifal, demzufolge Nietzsche entgangen sei, dass die von Nietzsche „in erster Linie“ kritisierte „Leib- und Sexualitätsfeindlichkeit“ von Wagners Parsifal „zentrale christliche Grundüberzeugungen“ verdrehe und das Christliche „mit einer Schopenhauer’schen Philosophie der Weltentsagung“ samt „buddhistischen Gedanken“ anreichere (S. 411 f.).
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sche gab sich unter dem Eindruck der Schauspielerei Wagners zunächst als „AntiSchauspieler“, musste aber bald einsehen, dass kein noch so aufrichtiger Mensch (und Nietzsche hatte den Anspruch, der aufrichtigste von allen zu sein) umhinkonnte, gegen andere und gegen sich Schauspieler zu sein.484 Dieses Dilemma nutzte Nietzsche, wie es seiner „ Wo h l g e r a t h e n h e i t “ entsprach, „zu seinem Vortheil“ (EH weise 2): Er nahm sich die „Freiheit zum Schauspielertum in seiner Schriftstellerei“, um der Gesellschaft Aufrichtigkeiten zu sagen, die sie vielleicht lieber nicht gehört hätte, und die sie doch hören musste, um von den ‚décadenceWerten‘ loskommen zu können.485 Nietzsche war damit ein ebenso großer Schauspieler wie Wagner, mehr noch, er hatte die Pathetisierung seiner Spätwerke wesentlich von Wagners Fähigkeit, etwas mit solcher Schwere zu sagen, „bis man’s glaubt“ (WA 1), gelernt: Es ist die ungeheure Überzeugungskraft dieses Pathos, sein Athemanhalten, sein Nicht-Mehrloslassenwollen eines extremen Gefühls, es ist die erschreckende L ä n g e dieses Pathos, mit der Wagner über uns siegt und immer siegen wird: — so daß er uns zuletzt noch gar zu seiner Musik überredet… Ob man mit einem solchen Pathos ein Genie ist? Oder auch nur sein k a n n ?… Man hat bisweilen unter Genie eines Künstlers seine höchste Freiheit unter dem Gesetz, seine göttliche Leichtigkeit, Leichtfertigkeit im Schwersten verstanden. Dürfte man sagen: „Wagner ist schwer, centnerschwer: folglich — kein Genie?“ Aber vielleicht hat man ein Unrecht, die leichten Füße zum Typ des Gottes zu machen. (NL 1888, 15[6]5, KSA 13.406)
Nietzsche stellte damit nur scheinbar den „erste[n] Satz meiner Aesthetik“ in Frage, der nach WA 1 lautet: „„Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen““. Von der Leichtfüßigkeit der Gedanken des freien Geistes selbst, die er strikt von den trägen, realitätsüberfliegenden Gedanken der deutschen ‚Stubenhocker‘ abgrenzte, nahm er keinen Abstand.486 Er öffnete sich lediglich der Einsicht, dass man diese leichtfüßigen Gedanken manchmal unter der Maske des schweren Pathos vortragen müsse, um mit ihnen bei der Zielgruppe durchzudringen. Eben dies trieb ihn zu den antideutsch aufgeladenen, polemisch überspitzten Attacken auf die Deutschen. Und doch war Nietzsches Rolle als Antideutscher zu Wagners Rolle als Deutschem nicht nur im Wortlaut ein Gegenentwurf. Obwohl oder weil Nietzsche bislang seine „Schwäche“ in der Sogwirkung der Wagnerschen Schauspielkunst gehabt hatte – Wir haben hier {an dieser Stelle wir wissen es zu gut!} bisher unsere Schwäche gehabt. u es gereicht {wie mir scheint} uns nicht zur Unehre. {– u. wir wollen uns keinen Stolz aus dieser Schwäche zurechtmachen!…} (NL 1888, 15[6]8, KSA 13.408 / KGW IX 9, W II 6.127)
Stegmaier, Eine Gesellschaft von Schauspielern, S. 261 f. Vgl. dazu auch Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 327 f. Stegmaier, Eine Gesellschaft von Schauspielern, S. 263. Vgl. 3.2.3.2.
Die Selbstaufhebung des Deutschen
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–, konnte er seinerseits die schauspielerische Methode in seinem Sinn, für seine Zwecke weiterentwickeln: Anders als Wagner verneinte Nietzsche in seiner Schauspielerei nicht seine eigene Natur – er bejahte sie: Er spielte den Antideutschen, um der deutschen Gesellschaft gegenüber „ a n s t ä n d i g [ ] “ (EH Schicksal 1) sein zu können.
4.4 Die Selbstaufhebung des Deutschen In den Zuspitzungen des Spätwerkes erscheinen die Deutschen als alleinige Vertreter „der christlichen Werthe, der décadence-Werthe“ (an Georg Brandes, 20. November 1888, Nr. 1151, KGB III 5.482), und Nietzsche, der Antichrist und Antideutsche, als der Überwinder dieser Werte. Nietzsche macht sich damit nicht nur zum Überwinder des Christentums, sondern auch der Deutschen. Im Licht dieser Deutungen ergibt sich ein neuer Blick auf Nietzsches Promemoria-Notizen aus den Tagen um den Jahreswechsel 1888/89 herum. Noch heute werden sie meist als Zeugnis der beginnenden Auflösung seines Verstandes angesehen – denn immerhin deklamierte Nietzsche dort einen „ T o d k r i e g d e m H a u s e H o h e n z o l l e r n“ (NL 1888/89, 25[13], KSA 13.643):487 „[…] Indem ich dich vernichte Hohenzollern, vernichte ich die Lüge“ (NL 1888/89, 25[21], KSA 13.647), lautet das allerletzte Notat aus dem Januar 1889. Was für sich betrachtet bestenfalls wirr, schlimmstenfalls größenwahnsinnig anmutet,488 erhält, betrachtet man es im Kontext von Nietzsches ‚Geisterkrieg‘, einen präzisen philosophischen Sinn.489 Es Nietzsche dachte sogar daran, Wilhelm II. und Bismarck die ersten Exemplare von EH als eine Art förmliche Kriegserklärung zuzusenden (vgl. die Entwürfe Nr. 1171‒1173 von Anfang Dezember 1888, KGB III 5.503‒505). In der Tat neigen sowohl Colli (Die nachgelassenen Fragmente von Anfang 1888 bis Januar 1889, KSA 13.668) als auch Montinari (Kommentar, KSA 14.774) dazu, die zitierte Passage bereits den ersten Tagen nach dem geistigen Zusammenbruch zuzurechnen. Am 26. Dezember 1888 schreibt er an Franz Overbeck: „Ich selber arbeite eben an einem Promemoria für die europäischen Höfe zum Zwecke einer antideutschen Liga. Ich will das „Reich“ in ein eisernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungs-Krieg provociren. Ich habe nicht eher die Hände frei, bevor ich nicht den jungen Kaiser, s a m m t Zubehör in den Händen habe.“ (Nr. 1212, KGB III 5.551) Trotz dieser Bekundungen besteht kein Anlass, zu vermuten, Nietzsche habe einen leibhaftigen Krieg zwischen dem Reich und den anderen europäischen Staaten initiieren wollen. Dies wäre gerade ein Rückfall in jenen „W a h n s i n n“ der „Kanonen“ und „Lazarethe“ gewesen, den Nietzsche mit seinem ‚Todkrieg‘ gegen die Hohenzollern aufs Heftigste angriff (NL 1888/89, 25[14 f.], KSA 13.644 f.). Die Formulierungen des Briefes sind sichtlich im Rahmen der bewussten Übertreibungen zu sehen, die seine ‚große Politik‘ auch in AC und EH kennzeichnen. Dass die Übertreibungen in der Tat bewusst und gezielt waren, zeigt ein später Briefentwurf an Köselitz, in dem Nietzsche unter Anspielung auf die oft derben und bis ins Absurde satirisch zugespitzten Komödien des Aristophanes schreibt, er habe seine Proklamation „in einem heroischaristophanischen Übermuth“ verfasst (30. Dezember 1888, Nr. 1227, KGB III 5.565). Jüngst hat in diesem Sinne Matthew Meyer Nietzsches Werke des Jahres 1888 im Ganzen als dionysische Komödien im Geiste Aristophanes’ interpretiert (The Comic Nature of Ecce Homo). – Losurdo zufolge
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Nietzsche, der ‚Antideutsche‘
lässt sich als Zeichen dafür deuten, dass Nietzsche den Kampf „zwischen Willen zum Leben und R a c h s u c h t gegen das Leben, zwischen Rechtschaffenheit und tückischer Verlogenheit“ (NL 1888/89, 25[1], KSA 13.637), zwischen Antichrist und christlicher Moral, zwischen dem Antideutschen und den Deutschen nochmals in stärker personalisierter Form an die Öffentlichkeit tragen wollte. Nicht mehr Nietzsche gegen die Deutschen als welthistorische Verbrecher im Allgemeinen, sondern Nietzsche gegen die „verbrecherischen“ Hohenzollern sollte nunmehr die Konstellation lauten, konkret: gegen Wilhelm II., den „jungen Verbrecher“ (NL 1888/89, 25[13], KSA 13.643).490 Hinter dieser symbolischen Vernichtung des deutschen Volkes, der weltgeschichtlichen Personifikation der „Lüge“, verbirgt sich nichts Geringeres als jener „Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit“, den Nietzsche „ U m w e r t h u n g a l l e r We r t h e “ nannte (EH Schicksal 1), und zwar in der dichtesten, pointiertesten Formulierung, die Nietzsche ihm überhaupt verliehen hat: Von Wilhelm II. ausgehend, lässt sich eine Kette von Symbolisierungen entfalten, die bis in die größten Problemzusammenhänge der Nietzscheschen Philosophie reicht. Der Kaiser steht für den Nationalismus der zeitgenössischen Deutschen und deren Drang, ‚fertig‘ zu werden (vgl. GD Deutschen 5), die Deutschen wiederum für das Christentum, das Christentum ist der Exponent der décadence-Werte – und sie sind es, die Nietzsche meint, wenn er von der „Lüge“ spricht, die er vernichten wird. Beide, Nietzsche und der Kaiser, sind Deutsche, aber hier stehen sie für unterschiedliche Aspekte dieses Begriffs: Nietzsche für das zum Antideutschen zugespitzte Überdeutsche, der Kaiser für das ‚typisch‘ Deutsche.491 Wie diese Relasteht es gleichwohl „außer Zweifel, dass die ‚anti-deutsche Liga‘ und der Staatsstreich, die der Philosoph erträumt, reaktionär sind“. Losurdo deutet den ‚Todkrieg‘ als letzte Konsequenz eines „eugenische[n] Projekt[s], das eindeutig darauf abzielt, den gesellschaftlichen Block des Ancien Régime zu retten und zu stärken“ (Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell, S. 549). Angesichts der Tatsache, dass Nietzsche gerade „die d y n a s t i s c h e Institution“, d.h. den eigentlichen Kern des Ancien Régime, anklagt, sich in sinnlosen Kriegen „am Blut der Wohlgerathenen und Herrlichen“ zu mästen (NL 1888/89, 25[15], KSA 13.645), ist dieser vermeintlich eindeutige Befund allerdings nicht haltbar. Balke, Die Figuren des Verbrechers in Nietzsches Biopolitik, S. 203, hat zur Konstellation „Nietzsche gegen Wilhelm II.“ angemerkt, dieser Konflikt habe „nur persönlich ausgetragen werden“ können, „[w]eil Nietzsche sich als die Verkörperung der Macht des Lebens“ begriffen und entsprechend eines symbolischen Gegenparts bedurft habe. Im Übrigen vermutet Balke an gleicher Stelle, Nietzsche habe den Kaiser zwar nicht physisch vernichten, aber durchaus zwecks „persönlichkeitsverändernde[r] Maßnahmen“ „arretieren“, also im Wortsinn jenen berühmten „Wagen mit Eisenstäben für Hohenzollern“ zur Anwendung bringen wollen, von dem Nietzsche im NL 1888/89, 25[14], KSA 13.644, spricht. – Bismarck, zuvor von Nietzsche stets als eigentlicher spiritus rector hinter der politisch-kulturellen Schieflage des Reiches angesehen, ist in diesen letzten Notizen interessanterweise nur noch eine Marionette der Hohenzollern, der Vollstrecker ihres Willens: ihr „Zubehör“ und „Werkzeug“, der „Idiot par excellence unter allen Staatsmännern“, der „nie eine Handbreit über die Dyn〈astie〉 Hohenzollern hinausgedacht“ hat (NL 1888/89, 25[13], KSA 13.643, vgl. 25[14], KSA 13.644). Darum konnte Nietzsche in einer Vorstufe zu EH weise 3 über sich notieren, er sei „vielleicht mehr deutsch, als jetzige Deutsche, blosse Reichsdeutsche es noch zu sein vermöchten, – ich, der
Die Selbstaufhebung des Deutschen
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tion derjenigen von antichristlich und christlich, von Wille zum Leben und Wille zum Tode, so entspricht auch Nietzsches ‚Vernichtung‘ des Hohenzollern der Selbstaufhebung zunächst des Deutschen, dann des Christentums. Indem er auf den mit Wilhelm II. assoziierten dogmatischen Begriff des Deutschen seine Kehrseite, den Begriff des Überdeutschen, anwendet und ihn (hier ist wiederum die Mehrdeutigkeit der Vorsilbe ‚anti‘ zu bedenken) gleichsam überbietet, zerschlägt er den dogmatischen Begriff des Deutschen – aber auch den Begriff des Überdeutschen, der nur Sinn ergibt als Gegenbegriff zum dogmatischen Begriff des Deutschen. Beide Begriffe heben sich gegenseitig auf – und ermöglichen dadurch ein neues Verständnis des Begriffs des Deutschen: ein Deutschsein auf Zeit. Die nie letztgültig zu beantwortende Frage, was deutsch sei, kommt in einem pragmatischen Umgang mit dem Deutschen zur Ruhe: Das Deutsche wird zum Anhaltspunkt der Orientierung des Einzelnen, der sich ergibt oder auch nicht ergibt – und der folglich, von Situation zu Situation, immer wieder in Frage gestellt und durch andere Anhaltspunkte ersetzt werden kann. Nietzsche hat damit eine flüssige nationale Identität konzipiert, zu der es gehört, dass man von ihr auch absehen kann. Sie ist daher immer schon eine übernationale, europäische Identität.492 Ob die Deutschen diese Konzeption annehmen würden oder nicht, war eine andere Frage.
letzte a n t i p o l i t i s c h e Deutsche.“ (KSA 14.472) Es mag wiederum mit seiner in EH lancierten Selbstinszenierung als Antideutscher zu tun haben, dass Nietzsche diesen Passus, der Eindeutigkeit halber, im zur Veröffentlichung freigegebenen Text wegließ. Mit Recht betont Morgan, Nietzsche and National Identity, dass Nietzsche kein kategorischer Gegner der Idee einer nationalen Identität war. Allerdings bezieht Morgans eng an MA II VM 323 (s.o. 2.2) angelehnte Interpretation von Nietzsches Konzept nationaler Identität (S. 462‒470) die radikale Idee von Eigenverantwortlichkeit, die im Spätwerk entwickelt wird, nicht mit ein und bleibt insofern auf halbem Wege stehen. Nicht nur die nationale Identität ist zeitlich und veränderlich (wie neben Morgan auch Shapiro, Beyond Peoples and Fatherlands, passim, bes. S. 11, unter Bezug auf das 8. Hauptstück von JGB betont hat), sondern auch die Orientierung des Einzelnen an der Nation hat ihre Zeit, in bestimmten Situationen.
5 Schluss: Nietzsches Liebe zu den Deutschen 5.1 Nietzsches Ekel vor den Deutschen Ein Problem drängt sich mit Blick auf Nietzsches Selbstaufhebung des Deutschen auf: Gründete sie sich nicht auf ein Ressentiment gegen seine Landsleute und ihren Nationalismus? Auf ein Neinsagen zum Leben, auf ein Anders-haben-Wollen? Und widersprach sie damit nicht seiner ‚jasagenden Natur‘, seinem ‚amor fati‘? Diente nicht sein ‚Todkrieg‘ gegen die Deutschen gleichfalls der von ihm kritisierten „ R a c h s u c h t gegen das Leben“ (NL 1888/89, 25[1], KSA 13.637), gegen alles Leben, das nicht so empfinden wollte wie er? Konnte man somit nicht berechtigte Zweifel haben an der Möglichkeit der Umwertung und an dem Leben ohne Ressentiment, um das es bei ihr ging? Gewiss konnte man – und Nietzsche teilte diese Zweifel. Er wusste, wie sehr gerade er, der Kritiker alles Ressentiments, in der Gefahr schwebte, Ressentiments gegen das Ressentiment zu entwickeln.493 Er gestand sogar, derartige Gefühle zu hegen: „es ist unanständig, heute Christ zu sein. U n d h i e r b e g i n n t m e i n E k e l .“ (AC 38) Doch nicht nur vor den Christen ekelte es ihn: Neulich hat ein Herr Theodor Fritsch aus Leipzig an mich geschrieben. Es giebt gar keine unverschämtere und stupidere Bande in Deutschland als diese Antisemiten. Ich habe ihm brieflich zum Danke einen ordentlichen Fußtritt versetzt. Dies Gesindel wagt es, den Namen Z〈arathustra〉 in den Mund zu nehmen! Ekel! Ekel! Ekel! (NL 1886/87, 7[67], KSA 12.321)
Sein Ekel betraf auch die Antisemiten und mit ihnen die Nationalisten im zeitgenössischen Deutschland überhaupt, sein Ekel betraf die deutsche Politik, den Großteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur,494 die deutsche Bildung.495 Insofern ist es zutreffend, wenn Norbert Elias schreibt, dass Nietzsche, indem er mit den Deutschen haderte, „doch im Grunde auch mit sich selbst“ gehadert habe (Elias, Studien über die Deutschen, S. 156). Dass Nietzsche um die Gefahr, er selber könne exakt dem erliegen, was er an den Deutschen kritisierte, gewusst und nicht nur gewusst, sondern, wie nachfolgend auszuführen ist, ihr darüber hinaus auch entgegenzutreten sich bemüht hat, bestreitet Elias freilich. Vielmehr habe Nietzsche, namentlich in seiner Lehre vom Willen zur Macht, ohne es zu ahnen „Entwicklungstendenzen“ Ausdruck gegeben, „die ungeplant und kaum reflektiert in der von ihm häufig angegriffenen kaiserlichdeutschen Gesellschaft seiner Zeit zur Dominanz gelangten“ (S. 157). Über Elias’ Deutung Nietzsches „als Symptom einer spezifisch deutschen Entwicklung“ vgl. kritisch Holzer, Philosoph der Kultur und des Krieges, S. 22‒29, Zitat S. 23. Vgl. GD Deutschen 1: „„Giebt es deutsche Philosophen? giebt es deutsche Dichter? giebt es g u t e deutsche Bücher?“ fragt man mich im Ausland. Ich erröthe, aber mit der Tapferkeit, die mir auch in verzweifelten Fällen zu eigen ist, antworte ich: „Ja, B i s m a r c k!““ Nietzsche hatte früher in der Tat Bismarcks gedruckte Reden (die sich auch in seiner persönlichen Bibliothek finden, vgl. BN, S. 142 f.) begeistert gelesen (vgl. seinen Brief an Carl von Gersdorff, 16. Februar 1868, Nr. 562, KGB I 2.258). Trotz dieser Doppeldeutigkeit ist der Ausruf des nunmehr herb Bismarck-kritischen Nietzsche, der an den neueren Reden des Reichskanzlers allenfalls psychologisches Interesse hatte (vgl. den Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, Anfang Januar 1885, Nr. 568, KGB III 3.4), sicher ironisch gemeint. In ernstem Ton fügt er dann an: „— Dürfte ich auch nur eingestehn, welche
Nietzsches Ekel vor den Deutschen
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Besonders ekelte ihn vor dem Umstand, dass die Deutschen sich „nicht einmal [schämten], bloss Deutsche“ – d.h. nämlich Deutsche „im […] schlimmsten Sinn des Wortes“ (JGB 240): Christen, Nationalisten, Antisemiten – „zu sein“ (EH WA 4): Ihnen ging „jeder Begriff davon ab, wie gemein sie sind“ (EH WA 4). Nietzsche ekelte vor alldem so sehr, dass er beschloss, einen ‚Geisterkrieg‘ zu entfachen, der den Deutschen den Ekel vor sich selber lehren sollte. Nietzsche mag den Antideutschen in der Absolutheit, mit der er besonders in EH vor den Leser tritt, nur gespielt haben, aber die Grundstimmung dahinter war wohl echt, wie sich nicht zuletzt aus Briefen der Zeit entnehmen lässt, auf die bereits verwiesen wurde.496 Und trotzdem sollte diese ‚große Politik‘, dieser ‚Todkrieg‘ kein Ressentiment an sich tragen? War Nietzsches Hass gegen die Deutschen also zuletzt doch der Beweis dafür, dass seine Philosophie der Überwindung des Ressentiments grandios gescheitert war? Diese Frage ist der Ausgangspunkt, von dem im Folgenden eines der rätselhaftesten Notate interpretiert werden soll, das Nietzsche in Bezug auf die Deutschen hinterlassen hat. Gerade eine Untersuchung, die die zentrale Bedeutung von Nietzsches Problem mit den Deutschen für die Genese seiner philosophischen Problemstellungen, ja seines Denkens im Ganzen aufzuweisen versucht hat, darf besagtes Notat nicht ignorieren – denn es scheint alles in Frage zu stellen, was Nietzsche nach seiner Abwendung vom deutschen Kulturideal der frühen 1870er Jahre über die Deutschen geschrieben hat. Darum bildet die Deutung dieser kurzen Nachlasspassage den Schlusspunkt der vorliegenden Arbeit.
Bücher man heute liest?… Vermaledeiter Instinkt der Mittelmässigkeit!“ Was Nietzsche öffentlich nicht „eingestehn“ mag, gesteht er in der Vorstufe für sich: „Sollte ich eingestehn, welche Bücher man jetzt liest? — Dahn? Ebers? Ferdinand Meyer?“ Es ist aufschlussreich, dass Nietzsche mit Felix Dahn, Georg Ebers und Conrad Ferdinand Meyer drei Autoren ins Auge fasst, die, bei aller Unterschiedlichkeit, vor allem für ihre historischen Stoffe bekannt sind. Schon das musste Nietzsche, dem Kritiker der (deutschen) Geschichtsseligkeit des 19. Jahrhunderts, suspekt sein – besonders im Falle Dahns, dessen Roman Ein Kampf um Rom nach Erscheinen 1876 „für mehr als ein halbes Jahrhundert“ die „wirkungsmächtigste Ausgestaltung“ des „Germanenmythos“ war (Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 197, vgl. zu Dahn auch S. 60 f. und 200‒202). Zu Ebers vgl. den Bericht von Meta von Salis aus dem Jahr 1887, zitiert bei Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 533: „Köstlich resümierte er Ebers, der Leipziger Professoren-Töchter in ägyptischer Gewandung und Umgebung dem Herzen der Leser nahe bringe.“ Die Kritik an der deutschen Bildung als einem Trieb, den Menschen institutionalisiert ‚fertig zu machen‘ und ihn so individueller Weiterentwicklung zu entziehen, ist ein durchgehendes Motiv seines Denkens. Vgl. 1.2.2.2 und 3.2.3.2. Vgl. 4.2.1.
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Schluss: Nietzsches Liebe zu den Deutschen
5.2 Nietzsche, der Gefangene der deutschen Sprache, und seine unübersetzbare ‚Kunst des Stils‘ Das bemerkenswerte Notat stammt aus dem September 1888 und ist der erste Abschnitt eines geplanten Vorworts zu GD, das Nietzsche schließlich zu GD Deutschen umarbeitete.497 Es lautet: Man fragt mich oft, warum ich 〈eigen〉tlich meine Bücher d e u t s c h schriebe? Meine Antwort darauf ist immer die gleiche: ich liebe die Deutschen, — Jeder hat seine kleine Unvernunft. Was macht es mir, wenn die Deutschen mich nicht lesen? Um so mehr bemühe ich mich noch darum, ihnen g e r e c h t zu sein. — Und, wer weiß? vielleicht lesen sie mich übermorgen. (NL 1888, 19[1], KSA 13.539)498
Von Ekel ist hier nichts gesagt, vielmehr von Liebe. Man hat Nietzsches Verhältnis zu den Deutschen wiederholt als Hassliebe, als Anziehung noch im Hass, bezeichnet.499 Davon ist hier jedoch nicht die Rede, vielmehr von einer „Liebe mit sehenden Augen“ in Zarathustras Sinn (Z I Natter, KSA 4.88), über die noch näher zu reden sein wird. Man neigt zunächst dazu, dieses Liebesbekenntnis für Ironie zu halten, aber diese Deutung greift wohl zu kurz. Es ist bedeutsam, dass Nietzsche sich zu dieser Liebe bekennt in Reaktion auf die Frage, warum er seine Bücher „ d e u t s c h schriebe“ – einer Frage, die, anders als er suggeriert, nicht etwa andere ihm, sondern die er sich selbst „oft“ gestellt hat. Denn Nietzsche wusste, er wurde von den Deutschen bestenfalls missverstanden, meistens aber: gar nicht gelesen. Nur ein Liebender konnte diese Zurückweisung auf die Dauer ertragen. Und Nietzsche musste sie ertragen können: Denn die einzige Möglichkeit, ihr zu entfliehen, wäre gewesen, seine Muttersprache nicht länger auch als Schreibsprache zu gebrauchen und so seine wichtigste Zielgruppe, die bislang die Deutschen gewesen waren, zu wechseln. Doch dieser Schritt lag nur scheinbar nahe: Nietzsche ahnte, dass er das, was er philosophisch zu sagen hatte, nur in seiner Muttersprache ausdrücken konnte.500 Das fundamentale Dilemma, aus dem Nietzsche nur dadurch zu entkommen hoffte, dass er die Deutschen zu lieben lernte, wird darum erst vor dem Hintergrund dieser Notwendigkeit, auf Deutsch zu schreiben, verständlich. Darauf soll nachfolgend näher eingegangen werden. „Dass es [sc. Z] deutsch geschrieben ist“, notierte er sich im Herbst 1887, „ist viell. {zum Mindesten} ein Übelstand {Fehltritt unzeitgemäß}: ich wünschte es französisch Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.769. Nietzsche verarbeitete die zitierte Passage schließlich in GD Streifzüge 51. Gerade die für die folgenden Erwägungen zentrale Rede von einer Liebe zu den Deutschen ließ er dort jedoch weg. Bertram, Nietzsche, S. 95; Hirsch, Friedrich Nietzsche, S. 151; Kunnas, Nietzsche und die Deutschen, S. 112; zuletzt Merlio, Nietzsche et les Allemands, S. 17. Nichts deutet etwa darauf hin, dass er das von ihm zuletzt so geschätzte Französische auch nur annährend gut genug beherrscht hätte, um darin seine philosophischen Reflexionen auf einem ähnlichen Niveau zu führen wie im Deutschen. Tatsächlich konnte er wohl erst um 1883/84 herum Französisch flüssig lesen. Vgl. dazu Brobjer, Nietzsche, Voltaire and French Philosophy, S. 15‒18.
Nietzsche, der Gefangene der deutschen Sprache
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geschrieben zu haben, damit es nicht {nicht als Befürwortung} mit irgend welchen reichsdeutschen Aspirationen verwechselt wird {erscheint}“ (NL 1887, 9[188], KSA 12.450 / KGW IX 6, W II 1.1). Ihm schwante, mit seinem Z „Perlen vor die Deutschen“ geworfen zu haben (9[190], KSA 12.451 / KGW IX 6, W II 1.1).501 Und doch war er schon 1884 der Meinung, die Deutschen hätten „einen höheren Rang unter den Völkern“ verdient, „weil der Zarathustra deutsch geschrieben ist“ (NL 1884, 25[286], KSA 11.84). Damit war nichts über die Deutschen gesagt, hingegen viel über die Bedeutung, die Nietzsche seinem eigenen Werk beimaß – vor allem aber über den unauflöslichen Zusammenhang des Z mit der Sprache, in der er geschrieben war. Genau dieser unauflösliche Zusammenhang aber bedeutete, dass Nietzsche gewissermaßen dazu verdammt war, auf Deutsch zu schreiben: Es war eben keine andere als diese Sprache, seine Sprache, in der er, wie er selbst glaubte, zur höchsten Meisterschaft gelangt war. Noch am 30. Dezember 1888 betont er im Entwurf eines Briefs an Köselitz: „die höchsten Bücher der M〈ensch〉h〈eit〉 sind deutsch geschrieben“ (Nr. 1227, KGB III 5.566) – „die höchsten Bücher“ aber waren sie eben als deutsche Bücher: Was Nietzsche zum ersten „Meister“ des „Aphorismus“ und der „Sentenz“ „unter Deutschen“ machte, nämlich „in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche n i c h t sagt …“ (GD Streifzüge 51), ließ sich nicht ohne Weiteres in andere Sprachen übertragen. Denn längst nicht alles, was Nietzsche ‚sagte‘, sprach er auch explizit aus, vieles lag im Unübersetzbaren verborgen: in der musikalischen Komposition, im Spiel mit Doppeldeutigkeiten der deutschen Sprache. Nietzsche wusste um diese Schwierigkeit, wie seine Suche nach hervorragenden, meisterhaften Übersetzern502 dokumentiert. Seine Versicherung, WA sei „leichter in’s Französische zu übersetzen als ins Deutsche“ (an Malwida von Meysenbug, 4. Oktober 1888, Nr. 1126, KGB III 5.447),503 widerspricht dem nicht. Sie spielt keineswegs auf eine leichte Übersetzbarkeit der Schrift in andere Sprachen an. Das ist schon aus Nietzsches auf dem Fuße folgender Mahnung zu ersehen: „Freilich, es müßte ein feiner, ein sogar raffinirter Stilist sein, um den Ton der Schrift wiederzugeben –: zuletzt bin ich selber jetzt der einzige raffinirte d e u t s c h e Stilist.“ (KGB III 5.447) Vielmehr verweist Nietzsche mit der Annäherung seiner Wagner-Polemik an die franzö Vgl. Mt 7,6. Vgl. die Briefe an Hippolyte Taine (Entwurf), 8. Dezember 1888, Nr. 1179, KGB III 5.511 („Eine vollkommene und sogar meisterhafte Kenntniß des Deutschen ist freilich die Voraussetzung, um das Buch zu übersetzen.“), und an Helen Zimmern (Entwurf), 8. Dezember 1888, Nr. 1180, KGB III 5.512 („Für die e n g l i s c h e Übersetzung – was denken Sie, verehrtes Fräulein? Sind Sie bei Kräften und gutem Muth, um so etwas auf sich nehmen zu können? […] Aber es muß eine ausgezeichnete sorgfältige und delikate Arbeit sein: denn in sprachlichen Dingen giebt es gar 〈kein〉 größeres Meisterstück als dieses Ecce homo.“) – Nietzsche hatte sich schon sehr früh um Übersetzungen seiner Schriften bemüht. So hatte Marie Baumgartner, die Mutter eines seiner Schüler in Basel, SE ins Französische übersetzt. Es fand sich jedoch kein Verleger dafür. Vgl. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 595, 648. Vgl. auch den Brief an Paul Deussen, 14. September 1888, Nr. 1111, KGB III 5.426.
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Schluss: Nietzsches Liebe zu den Deutschen
sische Sprache auf die „raffinirte[ ]“ Kunst des „Ton[s]“ (KGB III 5.447), die er in WA (und nicht nur dort) etabliert zu haben glaubte: eine im Grunde völlig neue Sprachkunst, die vorher nicht da war, die nur noch mit Vergleichen, nur annäherungsweise erfasst werden konnte und die Nietzsche nun mit Vorliebe unter Anschluss an die französische Sprache umschrieb. Nietzsche hatte die deutsche Sprache lange als defizitär empfunden. Noch in JGB 28 beklagt er ihre Unfähigkeit, gewisse Tempi anzuschlagen und folglich gewisse Gedanken auszudrücken: Der Deutsche ist beinahe des Presto in seiner Sprache unfähig: also, wie man billig schliessen darf, auch vieler der ergötzlichsten und verwegensten Nuances des freien, freigeisterischen Gedankens. […] Alles Gravitätische, Schwerflüssige, Feierlich-Plumpe, alle langwierigen und langweiligen Gattungen des Stils sind bei den Deutschen in überreicher Mannichfaltigkeit entwickelt […]. (JGB 28)504
Aber gerade in den Fesseln dieser deutschen Sprache hatte er zu einer neuen Freiheit des Ausdrucks gefunden: zur „vielfachste[n] Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat. […] Dass dergleichen gerade in deutscher Sprache möglich war, blieb zu beweisen: ich selbst hätte es vorher am härtesten abgelehnt.“ (EH Bücher 4)505 Es war genau diese in der deutschen Sprache entwickelte Kunst des Stils, durch die „für mich allein vielleicht eine „Umwerthung der Werthe“ überhaupt möglich“ wurde (EH weise 1). Denn wenn der Glaube an die Unveränderlichkeit der Werte eine „Verführung von Seiten der Grammatik“ war (JGB Vorrede), mussten die „Finger für nuances“, mit denen Nietzsche „die Hand dafür [bekam], P e r s p e k t i v e n u m z u s t e l l e n“ (EH weise 1), in einer Freiheit der Sprache bestehen, die diesen Glauben an die Grammatik auflösen konnte. Seiner Freiheit des Geistes als Freiheit des Schreibens wurde sich Nietzsche zuletzt immer mehr gewiss. Am 2. Dezember 1887 hatte er Brandes noch geschrieben, seine Schriften seien „irgendworin noch „sehr deutsch““, was Brandes „durch die freie und französisch-anmuthige Art, mit der Sprache umzugehn“, „viel stärker
Vgl., neben vielen anderen Stellen, auch FW 104 und JGB 246. Nietzsches vielfacher Kunst des Stils als Medium seines neuen, befreienden Philosophierens sind in jüngerer Zeit besonders Rüdiger Görner (Nietzsches Kunst, bes. S. 174‒195; Wenn Götzen dämmern, S. 15‒47, 57‒59; Nur Narr, nur Dichter) und Werner Stegmaier (Nietzsches Befreiung der Philosophie, darin: die in Kapitel 4‒20 eingearbeiteten Überlegungen zu „Nietzsches schriftstellerischen Methoden“) nachgegangen. Schlaffer, Das entfesselte Wort, hat sie demgegenüber einseitig als Kunst der Verführung zum ‚Führer‘ interpretiert. Vgl. dazu kritisch Sommer, Rezension [zu Heinz Schlaffer, Das entfesselte Wort], und Stegmaier, Ideologisierung – Entideologisierung, hier S. 343‒ 346. Die einflussreiche Studie von Nehamas (Nehamas, Nietzsche. Leben als Literatur) hat zwar in gewisser Hinsicht Nietzsches Kunst des Stils zum Hauptgegenstand, jedoch auf einer abstrakten Ebene, die Nietzsches Schreibpraxis und ihre konkreten Methoden kaum berücksichtigt. Nehamas gibt dies selbst zu (S. 35). Durch diese Vorgehensweise verliere jedoch die Frage des Stils „most of its significance“, wie Klein, Nietzsche and the Promise of Philosophy, S. 42‒50, Zitat S. 43, in seiner Kritik an Nehamas bemerkt hat.
Nietzsches ‚große Toleranz‘ gegenüber den Deutschen
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empfinden“ werde (Nr. 960, KGB III 5.205 f.). Aber schon im September des folgenden Jahres verkündet er Köselitz über GD selbstbewusst: „es scheint mir, unter uns, daß ich erst in diesem Jahre deutsch – will sagen f r a n z ö s i s c h – schreiben gelernt habe“ (an Köselitz, 12. September 1888, Nr. 1105, KGB III 5.417).506 Allenfalls an Horaz fand seine Schriftstellerei nun noch ihren Meister: Bis heute habe ich an keinem anderen Dichter dasselbe artistische Entzücken wiedergefunden, das mir eine Horazische Ode macht. In gewissen Sprachen, z.B. im Deutschen, ist das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu w o l l e n . (NL 1888, 24[1]7, KSA 13.623)
Und doch glaubte Nietzsche mit EH womöglich selbst Horaz überboten, zumindest aber erreicht zu haben. Darauf jedenfalls deutet ein kurz darauf entstandener Titelentwurf für EH hin, demzufolge EH, nach den ‚französisch‘ geschriebenen WA und GD, nun gar auf Latein verfasst sei, d.h. in seiner Artistik mit der Nuanciertheit dieser von Nietzsche so verehrten Sprache507 gleichzog: „ F r i d e r i c u s N i e t z s c h e / de vita sua. / Ins Deutsche übersetzt.“ (NL 1888, 24[4], KSA 13.633) Zugleich spielte Nietzsche damit ironisch auf die Unübersetzbarkeit seiner Schriften an.
5.3 Nietzsches ‚große Toleranz‘ gegenüber den Deutschen Wenn die un- oder kaum übersetzbaren Nuancen von Nietzsches Stil essentieller Teil seines Umwertungsprojekts waren, blieben die Deutschen notgedrungen sein erstes und wichtigstes Publikum, an das er durch dieselbe Sprache, mit der er zu neuer Freiheit des Denkens gelangt war, paradoxerweise gekettet blieb. Damit aber schien die umwertende Kraft seiner Nuancen in den Wind geschrieben. Dass man ihn in Deutschland so wenig und so schlecht las, musste Nietzsche also nicht nur persönlich schwer bekümmern, sondern auch mit Blick auf seine philosophischen Ziele überhaupt. Und dennoch suggeriert er im Notat 19[1] das Gegenteil: „Was macht es mir, wenn die Deutschen mich nicht lesen?“ (NL 1888, 19[1], KSA 13.539) Die Empfindungen für die Deutschen, die er in dieser Passage notierte, scheinen weniger der status quo seiner Gefühlslage zu sein als vielmehr eine Forderung an sich. Um seiner eigenen Philosophie und ihrer Abkehr von allem Ressentiment gerecht zu werden, musste er von sich sagen können: „ich liebe die Deutschen“. ‚Sie mögen mich lesen oder nicht lesen, was geht das meine Liebe an?‘, musste die Richtschnur seiner Gefühle sein.508 Trotzdem verfinsterte sich Vgl. auch den Brief an Jacob Burckhardt vom 13. September 1888, Nr. 1108, KGB III 5.421. Vgl. etwa JGB 28. In der FW hatte Nietzsche das Christentum mit den Worten kritisiert: „Ein Gott, der die Menschen liebt, vorausgesetzt, dass sie an ihn glauben, und der fürchterliche Blicke und Drohungen gegen Den schleudert, der nicht an diese Liebe glaubt! Wie? […] Eine Liebe, die nicht einmal über das Gefühl der Ehre und der gereizten Rachsucht Herr geworden ist! […] „Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?“ ist schon eine ausreichende Kritik des ganzen Christenthums.“ (FW 141) Wie Montinari, Kommentar, KSA 14.258, aufgezeigt hat, entnimmt Nietzsche den Ausspruch Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (IV, 9: „[…] wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich
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Schluss: Nietzsches Liebe zu den Deutschen
Nietzsches Kritik an den Deutschen unmittelbar nach dem Liebesbekenntnis zu einem ‚Todkrieg‘. Wie war dies zu verstehen? Nietzsche erklärt diese Diskrepanz folgendermaßen: „Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes“ (EH Schicksal 1). Gerade um des Jasagens, um der Liebe zum Leben, zu allem Leben willen musste Nietzsche Nein sagen. Ein ‚Todkrieg‘ gegen die Deutschen aus Liebe zu ihnen also? Aber was trennte dieses Neinsagen um des Jasagens willen vom Neinsagen um des Neinsagens willen? Wie Neinsagen ohne Verneinung denken? Nietzsches Antwort geht deutlich aus seiner Forderung, Abneigung und Gleichgültigkeit mit Liebe zu erwidern, hervor.509 Sie lautet: Indem man zum Nein, das der andere dem eigenen Ja – dessen Nein! – entgegenbringt, seinerseits wiederum Ja sagt. Anders ausgedrückt: Indem man, ganz wie es der Sinn seiner Selbstgenealogie gewesen war, sein eigenes Jasagen nicht als das Jasagen auch aller anderen verabsolutiert.510 Tut man dies nämlich, macht man es wie die Deutschen: an?“, GMA, Bd. 5, S. 232) oder Dichtung und Wahrheit (III, 14). Dort berichtet der alte Goethe über die Hintergründe des Satzes, den er der Philine im Wilhelm Meister in den Mund gelegt hatte. Er habe sich, so Goethe, damit auf einen Lehrsatz aus Spinozas Ethik bezogen: „Jenes wunderliche Wort: ‚Wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe‘ […], erfüllte mein ganzes Nachdenken.“ (GMA, Bd. 16, S. 667, vgl. Spinoza, Ethica V, Prop. 19, Werke, Bd. 2, S. 528: „Qui deum amat, conari non potest, ut Deus ipsum contrà amat.“; vgl. auch den Kommentar zur Wilhelm Meister-Stelle in GMA, Bd. 5, S. 756) Goethes Satz weist aber auch eine auffällige Parallele zur Lutherübersetzung von Joh 21,22 auf, die Nietzsche vielleicht nicht entgangen ist und die seinen Bezug auf Goethe in FW 141 zugleich zu einer Kritik des Christentums aus seinen eigenen Quellen macht: „Als Petrus diesen [den Jünger, „den Jesus lieb hatte“] sah, spricht er zu Jesus: Herr, was wird aber mit diesem? Jesus spricht zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach!“ (Joh 21,21 f.) Nicht von ungefähr erinnert dies an die Worte Jesu Christi „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen“ (Lk 6,27, vgl. Mt 5,44). Der ‚Typus Jesus‘, spielt für Nietzsches späte Philosophie eine bedeutsame Rolle. Vgl. dazu Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens, hier S. 173‒178. Über dieses „persönliche[ ] Eingeständnis der eigenen Ungerechtigkeit in der Erkenntnis moralischer Phänomene“, für das Nietzsche auch den Begriff des „ i n t e l l e c t u a l e [ n ] G e w i s s e n s “ (FW 2) gebraucht, vgl. Poljakova, „Das intellectuale Gewissen“, passim, Zitat S. 144. – Bereits Müller-Lauter, Nietzsche, S. 129, hatte die sich aus Nietzsches amor fati ergebende Notwendigkeit der ‚Bejahung des Verneinten‘ betont: Wer „das Ganze der Welt“ „total“ bejaht, muss „sogar die nihilistischen Verwerfungen billigen, die er selber verwirft.“ In späterer Zeit wies MüllerLauter jedoch energisch darauf hin, dass dieser Standpunkt einer ‚Synthese‘ von Bejahen und Verneinen unmöglich, ja absurd sei: „Die eigentliche Problematik des Zugleich von Ja und Nein im Dionysischen kommt dabei nicht zum Austrag: Wie der eigene ‚Wille zur Tat‘, der das zu Vernichtende von dem für die Zukunft Gewollten scheidet, es in einem damit bejahen können soll. Das ‚Überströmen‘ im verneinenden Tatwillen und in der bejahenden Zuwendung können nicht zusammenfallen, es sei denn: der Tatwille bejahe sich allein in der Selbstliebe. Doch Nietzsches ‚Bejahen und Gutheißen aus einem überströmenden Gefühle von gestaltender Macht‘ drängt ja über das Selbst hinaus. […] Beim späten Nietzsche durchdringen sich Vernichtungswille der Tat und Bejahung auch des Verneinten auf eine Weise, die keine ‚Synthese‘ zuläßt. Was er verflucht, müßte er zugleich segnen.“ (Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht, S. 277‒285, Zitate
Nietzsches ‚große Toleranz‘ gegenüber den Deutschen
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man „ s t e l l t g l e i c h“ (EH WA 4). Genau das wollte Nietzsche nicht, sondern er wollte zumindest versuchen, den Deutschen „ g e r e c h t “ zu werden – und zwar nicht im Sinne einer „kalte[n] Gerechtigkeit“ der „Richter“, sondern in dem der „Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist“ (Z I Natter, KSA 4.88). Deswegen hatte er im Notat 19[1] die Liebe zu den Deutschen und den Versuch der Gerechtigkeit ihnen gegenüber nebeneinandergestellt: Liebe nicht nur als Absehen von den Ungerechtigkeiten des Geliebten – danach wäre sie gerade nicht Gerechtigkeit –, sondern als Einsicht darin, dass die eigene Fähigkeit, gerecht – d.h. unabhängig von der eigenen Perspektive – zu urteilen, illusionär ist.511 Eine solche Liebe mit sehenden Augen hieße, den anderen (bzw. in unserem Fall: die Deutschen) annehmen, nicht trotz, sondern wegen der Defizite, die man ihnen aus der eigenen Empfindung heraus zuschreibt. Es hieße, auf Erwartungen zu verzichten. Um den Deutschen in dieser Weise Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, blieb Nietzsche schlechterdings nichts anderes übrig, als abzuwarten – abzuwarten, ob seine Philosophie, Ergebnis seines individuellen Erlebens, sich für seine deutschen Zeitgenossen als plausibel erwies. Damit sie sich aber als plausibel oder unplausibel erweisen konnte, mussten die Deutschen sie zunächst kennen, und dies war es vor allem, was er mit seinem ‚Todkrieg‘ bezweckte: Den Krieg bringen (vgl. NL 1888/ 89, 25[1], KSA 13.637), das hieß: die Menschen mit seiner Philosophie zu konfrontieren. Es hieß nicht: sie zu zwingen, ihr zuzustimmen – nicht einmal, sie zu zwingen, ihn zu lesen. Am Ende blieb Nietzsche nicht mehr und nicht weniger als ein „wer weiß? vielleicht lesen sie mich übermorgen“. Auch diese Ungewissheit, die ihn womöglich dazu verurteilen würde, ein „ p o s t h u m e [ r ] Mensch[ ]“ zu werden, der „nach dem Tode erst“ zu seinem „Leben“, seiner Wirksamkeit kommen würde (FW 365), musste er bejahen können – und versuchte daher, sie als Vorteil zu begreifen.512 Den Deutschen nicht die eigene, vermeintlich ‚wahre‘ Ansicht, die auch nur eine Perspektive unter Perspektiven sein konnte, aufdrängen, ihnen vielmehr ihre von
S. 283‒285) Reto Winteler hat versucht, Müller-Lauters Urteil zu entkräften, indem er den Einzelnen Nietzsche mit seiner amor fati-Gesinnung von der „überpersönlichen“ welthistorischen Aufgabe trennt, die sich ihm stellte und die zuletzt auch eine Verneinung des vom „(einsamen) Einzelnen“ Nietzsche tragisch Bejahten erfordert habe (Winteler, Nietzsches Ideal eines höchsten Typus Mensch, S. 485). Diese Argumentation erfasst jedoch noch nicht den eigentlichen Punkt der Einheit von Bejahung und Verneinung: Gerade die bewusste Individualisierung der eigenen Urteile im Gegensatz zum hergebrachten Allgemeingültigkeitsanspruch ermöglichte es Nietzsche, zumindest den Versuch einer solchen Segnung des dem eigenen Urteil Entgegenstehenden zu unternehmen. Piazzesi, Liebe und Gerechtigkeit, S. 370, hält unter Bezug auf die zitierte Passage aus Z fest, Zarathustras Gerechtigkeit sei „grundsätzlich ungerecht“, und fährt fort: „Das liebende Bewusstsein dieser Ungerechtigkeit lässt aber auf eine nachträgliche Gerechtigkeit hoffen, als Ergebnis der Praxis der Liebe und der Erkenntnis durch Erfahrung.“ Vgl. GD Sprüche 15: „Posthume Menschen — ich zum Beispiel — werden schlechter verstanden als zeitgemässe, aber besser g e h ö r t . Strenger: wir werden nie verstanden — und d a h e r unsre Autorität…“ Vgl. auch NL 1887, 9[76], KSA 12.375.
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Schluss: Nietzsches Liebe zu den Deutschen
den seinen radikal unterschiedenen Ansichten zugestehen, obwohl – oder: weil – er an diesen Ansichten litt, das war die Geisteshaltung, die Nietzsche an den Tag legen wollte. Nietzsche nennt sie „ g r o s s m ü t h i g e [ ] Selbstbezwingung“ oder „grosse[ ] Toleranz“ (AC 38). Große Toleranz hat der, der „Intoleranz nicht bei andern, sondern bei sich selbst [sucht], als Mangel an Kraft zur Toleranz“.513 Gerade dadurch, dass sich Nietzsche seinen Ekel, seine Intoleranz den Deutschen gegenüber eingestand und sie zu überwinden suchte, nicht aber andersherum forderte, dass die Deutschen ihm gegenüber toleranter und aufgeschlossener sein sollten, wurde die Liebe zu ihnen denkbar. Hinter dieser Selbstaufforderung, das, wovor man sich am meisten ekelt, uneingeschränkt – d.h. immer wieder – zu bejahen, verbarg sich nichts anderes als die ‚ewige Wiederkunft des Gleichen‘, jener Gedanke, den Nietzsches Zarathustra nicht umsonst seinen „abgründlichen“ geheißen hatte (Z III Räthsel 2, KSA 4.199)514: „Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! — Das war mein Überdruss an allem Dasein! — Ach, Ekel! Ekel! Ekel!“ (Z III Genesende 2, KSA 4.274 f.) Dass Nietzsche auch ans Ende seiner erbosten Notiz über Theodor Fritsch ein „Ekel! Ekel! Ekel!“ setzte (NL 1886/87, 7[67], KSA 12.321), ist schwerlich bloßer Zufall: Die ‚ewige Wiederkunft‘ des „Reichsdeutschen“ (EH WA 1), der Verkörperung des kleinsten, des letzten Menschen – das war Nietzsches „Überdruss an allem Dasein“. Diese Zumutung ohne Ressentiment zu denken, war, wie er im selben Notat schreibt, in dem sich sein ‚Liebesbekenntnis‘ zu den Deutschen findet, nur auf Zeit möglich:
Stegmaier, Nietzsches Kritik der Toleranz, S. 206. Vgl. auch S. 205: „Groß ist für Nietzsche nicht einfach das, was andere überragt, sondern das, was fähig ist, das ihm Entgegengesetzte für sich fruchtbar zu machen. […] Die ‚grosse Toleranz‘ wäre danach die, die ihre Paradoxien tolerieren und an ihnen wachsen kann.“ – Neben einer Stelle in AC verwendet Nietzsche den Begriff nur noch drei Mal im Nachlass (vgl. darüber Stegmaier, Nietzsches Kritik der Toleranz, S. 205 f.). Dass er von der ‚großen Toleranz‘ so selten und meist nur für sich sprach, könnte in ihrem Begriff selbst liegen: Denn eine Toleranz, die noch betonen muss, was sie ist, ist schon keine mehr, sondern wird zum moralischen Druck auf den anderen. Vgl. auch Z III Seligkeit, KSA 4.205, sowie besonders EH Z 6, wo Nietzsche den ‚abgründlichen‘ zum „abgründlichsten Gedanken“ steigert. – Genau im Sinn dieser Deutung der ewigen Wiederkunft hat Friedrich Schleiermacher in seinem Prosatext Die Weihnachtsfeier Mt 18,3 („Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“) ausgelegt: „eben dies“ sei „der Kindersinn […], ohne den man nicht ins Reich Gottes kommen kann“: „jede Stimmung und jedes Gefühl für sich hinnehmen und nur rein und ganz haben wollen.“ (Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier, S. 39) Schleiermacher dürfte sich mit dieser Interpretation auch auf den amor dei intellectualis Spinozas, den er bekanntlich sehr schätzte, bezogen haben. Vgl. dazu Schleiermachers Reden Über die Religion, bes. die 2. Rede, 1. Aufl. (1799), S. 54 f., 133. Denselben Bezug auf Mt 18,3 stellt auch Nietzsche in Z I Verwandlungen her, freilich ohne expliziten Bezug auf die ewige Wiederkunft: Der Geist wird „zum Kameele“, dann „zum Löwen“, schließlich „zum Kinde“. Die Auslegung des kindlichen Wesens ähnelt hierbei der Schleiermachers: „Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? […] Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“ (KSA 4.29)
Nietzsches ‚große Toleranz‘ gegenüber den Deutschen
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Man ist nicht umsonst Einsiedler. Das Gebirge ist ein stummer Nachbar, es vergehen Jahre, ohne daß Einen ein Wort erreichte. Aber der Anblick des Lebenden e r q u i c k t : man läßt endlich alle Kindlein zu sich kommen,515 man streichelt jede Art Gethier noch, selbst wenn es Hörner hat. […] Nur der Einsiedler kennt die große Toleranz. D i e L i e b e z u d e n T h i e r e n — zu allen Zeiten hat man die Einsiedler daran erkannt… (NL 1888, 19[1], KSA 13.542)
Das „Gethier“ mit „Hörner[n]“ ist ein klarer Verweis auf die Deutschen, die er in den späten Schriften und Notaten wiederholt als „Hornvieh“ bezeichnete.516 Um eine solche „Art Gethier“, die „Hörner“ hat, die also gefährlich sein kann, lieben zu können, muss man Einsiedler sein, muss man „sich von Zeit zu Zeit von den Menschen erholen“,517 und hier ganz konkret: von den Deutschen erholen – ganz so, wie Nietzsche es getan hat. Er pendelte zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz, fernab vom Deutschen Reich, und kehrte nur selten dorthin zurück. So ist am Ende Nietzsches Problem mit den Deutschen zum Prüfstein seines eigenen Denkens geworden. Denn ob und wie lange er den Forderungen, die ihm seine eigene Philosophie auferlegte, entsprechen konnte, d.h. ob und wie lange er Kraft zur ‚großen Toleranz‘ und zum Leben ohne Ressentiment hatte, musste sich ihm immer wieder aufs Neue zeigen. Und die, an denen es sich ihm zunächst und zumeist zeigte, blieben bis zuletzt seine Landsleute.
Vgl. Mk 10,14 par. Hier ließen sich zahlreiche Stellen anführen. Vgl. beispielsweise GM III 26, KSA 5.407; WA 6, KSA 6.24; EH Bücher 3; NW Antipoden; NL 1886/87, 5[48, 79], KSA 12.201, 219 f.; NL 1888, 11[235], KSA 13.92; NL 1888, 21[6], KSA 13.581. Auch folgende Äußerung aus einem Brief an Josef Viktor Widmann vom 15. September 1887 ist aufschlussreich: „Es steht nicht zum besten mit dem „Deutschen G e i s t e “. Ich selbst, wenn ich eine Reise nach Deutschland nöthig habe, mache mir vorher immer erst mit einem naturwissenschaftlichen Spruche Muth, zum Beispiel: / Um das Rhinozeros zu sehn, / Beschloß nach Deutschland ich zu gehn.“ (Nr. 912, KGB III 5.156) Angesichts dessen scheint eine Verknüpfung des ‚deutschen Rhinozeros‘ mit dem von Nietzsche erfundenen, auffällig gleichlautenden „Reichswurm“ „ R h i n o x e r a“ (WA, Zweite Nachschrift, KSA 6.46, vgl. NL 1888, 15[26], KSA 13.421), die bereits Kaufmann im Kommentar zu seiner Übersetzung von WA erwogen, aber schließlich doch verworfen hatte (Kaufmann (Hg.), Nietzsche, The Birth of Tragedy / The Case of Wagner, S. 186) und die jüngst von Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Fall Wagner / GötzenDämmerung, S. 177 f., erneut vorgeschlagen wurde, nicht so irreführend oder gar absurd wie Thatcher, Nietzsche’s „Rhinoxera“, S. 425 (unter Bezug auf Kaufmann), und Devreese, „Ein neues Thier in den Weinbergen des deutschen Geistes“, S. 452, unterstellen. Dass Nietzsche den Schädling Phylloxera vitifoliae, der in der damaligen Zeit die deutschen Weinpflanzen befallen hatte, zu ‚Rhinoxera‘ verballhornte, ist zwar ohne Zweifel auch ein Bezug auf den (seinerzeit stark nationalistisch aufgeladenen) Rhein, wie Nietzsche selbst mit seinem Hinweis, „ R h i n o x e r a“ hause „in den Weinbergen des deutschen Geistes“ (WA, Zweite Nachschrift, KSA 6.46), klar genug macht. Dennoch hat es seinen Grund, dass er nicht von ‚Rhenoxera‘ spricht, wie nach lateinisch „Rhenus“ für Rhein zu erwarten wäre, sondern von ‚Rhinoxera‘. Denn ihre eigentliche Pointe erhält die Wortneuschöpfung erst, wenn man sie zum in Deutschland hausenden ‚deutschen Rhinozeros‘ bzw. ‚Hornvieh‘ in Bezug setzt, das den deutschen Geist ebenso aggressiv zerfraß (bzw. zertrampelte) wie Phylloxera vitifoliae die deutschen Weinpflanzen – sodass es dazu kommen konnte, dass man in Deutschland „kein Wort von mir mehr [versteht]“ (WA, Zweite Nachschrift, KSA 6.46). Stegmaier, Nietzsches Kritik der Toleranz, S. 206.
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Personenregister Adelung, Johann Christoph 114 Alexander der Große 160 Altsmann, W. E. 62 Ansell Pearson, Keith 30, 41 Apel, Theodor 26 Arenas-Dolz, Francisco 26 Aristophanes 169 Arndt, Ernst Moritz 32 Aschheim, Steven E. 1, 75 Asendorf, Ulrich 135 Auerbach, Berthold 25 Avenarius, Ferdinand 153, 157 Bach, Johann Sebastian 19f., 108 Baeumer, Max L. 136 Baeumler, Alfred 6f., 10 Bailey, Tom 137 Balke, Friedrich 152, 170 Bartels, Adolf 4 Baumgartner, Marie 175 Becker, Gudrun 84 Becker, Heinz 84 Beethoven, Ludwig van 19f., 23f., 86, 118, 133, 144, 159 Béland, Martine 25 Benders, Raymond J. 35, 60 Benz, Ernst 139 Bergmann, Peter 15, 25, 31f., 35, 67, 157, 159 Bernard, Claude 64, 72 Bernauer, Markus 124 Bertino, Andrea Christian 20, 28, 36f., 46, 88, 100–102, 110 Bertram, Ernst 5f., 10f., 75, 112f., 129, 136, 147, 174 Bessell, Georg 6 Beutel, Albrecht 136 Biebuyck, Benjamin 161 Birx, H. James 46 Bismarck, Otto von 16, 31, 33, 53, 57, 117f., 121, 132, 136, 144, 149, 157, 159, 169f., 172 Bludau, Beatrix 10 Blue, Daniel 77 Bluhm, Heinz 136 Boetticher, Karl 35 Bollenbeck, Georg 23 Bonghi, Ruggero 154
Borchmeyer, Dieter 15, 17, 20, 22, 25f., 31, 33, 35, 42f., 45–47, 73, 85, 166 Borggräfe, Henning 23, 82f. Bornedal, Peter 136 Bourdeau, Jean 154 Bourget, Paul 71f. Boyer, Régis 154 Braatz, Kurt 132 Brandes, Georg 149, 153–155, 160, 169, 176 Brant, Sebastian 114 Breazeale, Daniel 137 Brechenmacher, Thomas 119 Brecht, Martin 32, 58 Brennecke, Detlef 108 Brobjer, Thomas H. 26f., 45, 112, 120, 123, 134, 174 Brusotti, Marco 24, 31, 34, 38, 57, 82, 88, 90 Bülow, Cosima von (s. Wagner, Cosima) Bülow, Hans von 87 Burckhardt, Jacob 17, 37, 177 Busche, Jürgen 2f. Caesar, Gaius Iulius 160 Campioni, Giuliano 1, 20, 36–38, 55, 72 Cancik, Hubert 107, 130 Carlyle, Thomas 42 Carnot, Lazare 57 Carrière, Moritz 27 Castelli, Ignaz Franz 47 Cheung, Chiu-yee 120f. Colli, Giorgio 40, 68, 169 Conrad, Michael Georg 144 Constâncio, João 75, 138 Conway, Daniel W. 9–11, 128–130, 151 Coutinho, Steve 98 Cusack, Andrew 97 Dahlkvist, Tobias 79 Dahn, Felix 173 Danuser, Hermann 22 Darwin, Charles 45f., 138 Daverio, John 87 de Launay, Marc B. 3, 47f., 119 Decher, Friedhelm 64f., 71 Deleuze, Gilles 137 Dellinger, Jakob 137 Deussen, Paul 153f., 175 Devreese, Daniel 161, 181
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Personenregister
Devrient, Eduard 25 Diethe, Carol 2f. Dietz, Walter 135 Djurić, Mihailo 137 Döhring, Sieghart 24, 38, 165f. Dombowsky, Don 146 Draheim, Joachim 87 Drochon, Hugo Halferty 152 Dudley, Will 137 Dühring, Eugen 88, 123f., 156 Ebers, Georg 173 Ebrard, Johannes Heinrich August 156 Echternkamp, Jörg 23, 82 Eckermann, Johann Peter 35, 146f. Edler, Arnfried 87 Eger, Manfred 50 Eiser, Otto 50, 89f. Elbe, Stefan 103 Elias, Norbert 172 Emden, Christian J. 15, 20, 28, 37, 125 Emerson, Ralph Waldo 45 Empedokles 45 Emrich, Elke 113 Faustino, Marta 64, 71 Féré, Charles 72 Ferrari Zumbini, Massimo 41, 157 Fichte, Immanuel Hermann 27 Fichte, Johann Gottlieb 20, 26, 112, 118 Ficker, Julius von 119 Figl, Johann 25, 50 Fincke, Elise 154 Fischer, Jens Malte 22, 24, 34 Fischer, Kuno 27 Fornari, Maria Cristina 68 Förster, Bernhard 63, 155f. Förster-Nietzsche, Elisabeth 43, 60–65, 82, 88f., 92f., 155f., 161, 172 Freytag, Gustav 25f. Friedrich II. (Staufer) 19 Friedrich II. von Preußen 118 Friedrich III. (Deutsches Reich) 157 Fritsch, Theodor 155–157, 172, 180 Fritzsch, Ernst Wilhelm 153f. Frohschammer, Jakob 27 Fuchs, Carl 153 Gamm, Gerhard 26 Gentili, Carlo 27f., 33, 41
Gerber, Hans Erhard 146, 148 Gerhardt, Volker 146f. Gerlach, Hans-Martin 56 Gerratana, Federico 124 Gersdorff, Carl von 15, 17f., 25, 33, 82, 172 Giacoia Junior, Oswaldo 109 Gilman, Sander L. 50 Gluck, Christoph Willibald 118 Gödde, Günter 123 Goedert, Georges 70, 137 Goethe, Johann Wolfgang von 4, 19, 35f., 39, 47f., 55, 58, 76, 87, 111f., 117f., 131, 133, 144–148, 157, 159, 163, 177f. Goldenbaum, Ursula 132 Golomb, Jacob 1 Görner, Rüdiger 41, 147, 176 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 108 Granier, Raimund 82 Grau, Gerd-Günther 73 Gray, Richard T. 27, 137 Green, Michael Steven 137 Gregor-Dellin, Martin 15, 19, 31, 85 Grillparzer, Franz 46f. Grimm, Herman 148 Grimm, Jacob 113–115 Grimm, Wilhelm 114f. Groddeck, Wolfram 111, 150, 153, 161 Günther, Friederike Felicitas 26 Günzel, Stephan 105 Guerrieri-Gonzaga, Emma 38f. Gutenberg, Johannes 132 Gutzkow, Karl 26 Haase, Marie-Luise 46 Habermas, Jürgen 132 Händel, Georg Friedrich 108 Hanslick, Eduard 38, 165 Hartmann, Eduard von 123f. Heftrich, Eckhard 147 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 6, 27f., 30, 45, 56, 110–112, 120, 123, 125f., 131, 133–135, 137–139, 141, 143, 146, 150 Hein, Stefanie 18, 22–24, 32 Heine, Heinrich 7f., 84, 94, 97, 101, 118, 133, 157, 159, 166 Hengster, Heinrich 154 Henze-Döhring, Sabine 165 Heraklit 5f. Herder, Johann Gottfried 18–20, 37, 88, 120 Hermens, Janske 67
Personenregister
Herzen, Alexander 120 Hill, R. Kevin 137 Hillebrand, Karl 25, 44 Himmelmann, Beatrix 137 Hirsch, Emanuel 135f., 139 Hirsch, Maximilian 5, 174 His, Eduard 98 Hödl, Hans Gerald 160f. Hoeres, Peter 7 Hölderlin, Friedrich 112, 133 Holzer, Angela 172 Homer 19f. Horaz 177 Horn, Anette 71f. Horstmann, Axel 35 Houlgate, Stephen 126, 137 Hsia, Adrian 120f. Huber, Johann Nepomuk 27 Hühn, Lore 140 Humboldt, Wilhelm von 56 Jackson, Jennifer 84 Jahn, Friedrich Ludwig 20, 97 Janaway, Christopher 137 Jansen, Christian 23, 82f. Janssen, Johannes 139 Janz, Curt Paul 15, 17, 21, 23, 33, 44f., 60f., 63, 82, 86f., 93, 154f., 157, 173, 175 Jaspers, Karl 64 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 112 Jensen, Anthony 77, 124 Jesus Christus 22, 178 Jung, Joachim 98 Jurist, Elliot T. 137 Kant, Immanuel 4, 6, 45, 111, 118, 120f., 125, 133–139, 141, 144f., 149, 151 Karl der Große 145 Karl Martell 110 Kaufmann, Walter 1, 7, 50, 75, 181 Kaulbach, Friedrich 137 Kaźmierczak, Zbigniew 90 Keller, Gottfried 153, 161 Kelterborn, Louis 26 Kern, Franz 94 Kierkegaard, Søren 141 Klass, Tobias Nikolaus 78 Klassen, Janina 87 Klein, Wayne 176 Klopstock, Thomas 92
Knechtges-Obrecht, Irmgard 87 Knieling, Gustav 88f. Knoepffler, Nikolaus 167 Knortz, Karl 154 Köckert, Marie 63 Kofman, Sarah 1 Köhler, Joachim 25 Köhnke, Klaus Christian 27 Köselitz, Heinrich 32f., 50, 61–65, 70, 85, 94, 153f., 157f., 161, 169, 175, 177 Koselleck, Reinhart 19, 37 Koszka, Christiane 92 Kotzebue, August von 26, 55, 121, 124f. Kremer-Marietti, Angèle 137 Krieger, Karsten 119 Krökel, Fritz 6 Kunnas, Tarmo 8, 11, 49, 71, 77, 174 Lacoue-Labarthe, Philippe 36 Lagarde, Paul de 30, 53, 156 Lamarck, Jean Baptiste de 45 Lampert, Laurence 101, 130 Landerer, Christoph 50 Lange, Friedrich Albert 45 Langer, Monika M. 11 Lanzky, Paul 62, 93 Large, Duncan 78, 136 Laube, Heinrich 26, 47 Lavigerie, Charles 157f. Lebrun, Gérard 137 Legoyt, Alfred 80 Leibniz, Gottfried Wilhelm 45, 125, 133–139, 141, 145, 151 Lemco, Gary 87 Lemke, Harald 78 Lessing, Gotthold Ephraim 58 Lichtenberger, Henri 4 Linhardt, Marion 24 Losurdo, Domenico 25, 120, 151, 157f., 169f. Lubbock, John 49 Ludwig II. von Bayern 33 Luther, Martin 4, 6, 21, 32, 39, 53, 58, 109, 112, 114f., 132–139, 141–144, 148f., 151, 161, 178 Lutz, Günter 7 Mann, Thomas 47, 123 Mansuroff, Zina Fürstin von 86 Marti, Urs 3, 11, 131 Martin, Nicholas 24, 56
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Personenregister
Marx, Karl 140 Mattenklott, Gert 98 Maudsley, Henry 88 Mayer Branco, Maria João 66 Mendelssohn, Moses 73 Mendelssohn Bartholdy, Felix 86, 165 Mérimée, Prosper 145 Merlio, Gilbert 10–12, 101f., 134, 150, 174 Meyer, Conrad Ferdinand 173 Meyer, Katrin 28 Meyer, Matthew H. 58, 169 Meyer, Theo 23, 50 Meyerbeer, Giacomo 23f., 26, 38, 84, 163– 167 Meyerbeer, Minna 165 Meysenbug, Malwida von 33, 59, 62, 104, 175 Mill, John Stuart 120 Mittmann, Thomas 62, 156 Montinari, Mazzino 15, 23, 26, 33, 35, 42, 50, 52–54, 57, 65f., 68f., 91, 113, 145, 147–150, 157, 169, 174, 177 Moore, Gregory 55, 165f. Morgan, Diane 3, 47f., 171 Morgenthaler, Walter 153, 161 Morselli, Enrico 80f., 87 Mozart, Wolfgang Amadeus 19, 86 Müllenhoff, Karl Viktor 35 Müller, Enrico 20, 28 Müller, Gerhard 58 Müller-Buck, Renate 147, 157, 159 Müller-Lauter, Wolfgang 33, 72, 137, 178f. Münkler, Herfried 16, 20, 58, 173 Mushacke, Hermann 61 Napoleon I. 132, 146, 151 Naumann, Emil 38 Nehamas, Alexander 176 Niemeyer, Christian 2f., 18, 21, 24, 30, 34, 39, 102, 119, 130, 156 Nietzsche, Carl Ludwig 161 Nietzsche, Elisabeth (s. Förster-Nietzsche, Elisabeth) Nietzsche, Erdmuthe 161 Nietzsche, Franziska 60–64, 88f., 92, 94f., 153f., 156, 161, 172 Nipperdey, Thomas 16, 82, 95 Noiré, Ludwig 38 Nordau, Max 121 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 112
Oehler, Franziska (s. Nietzsche, Franziska) Oehler, Richard 7 Oehler, Theobald 88 Oettermann, Stephan 35, 60 Oettingen, Alexander von 80f., 87f. Orsucci, Andrea 35, 49, 106–108, 136, 139 Ottmann, Henning 1, 15–17, 24, 28f., 40, 43, 55f., 72, 88, 90, 108, 130f., 152 Overbeck, Franz 50, 60, 62f., 66f., 144, 153–156, 158, 169 Overbeck, Ida 60, 154 Papíor, Jan 10, 12 Parkes, Graham 98, 100f. Pestalozzi, Karl 55, 145–148 Piazzesi, Chiara 179 Platon 19, 45, 108, 130 Plessner, Helmuth 11, 140f. Poesche, Theodor 107 Politycki, Matthias 134, 146–148 Poljakova, Ekaterina 141, 144, 178 Prange, Martine 3, 20, 24, 35f., 48, 50, 87, 133, 146, 163 Primavera-Lévy, Elisa 71 Pröbsting, Heinrich 22 Quatrefages de Bréan, Jean Louis Armand de 107 Ratner-Rosenhagen, Jennifer 7, 154 Rée, Paul 35, 53 Reiner, Julius 4f. Reinhard, Karl Friedrich 146 Reschke, Renate 94, 123, 159 Riccardi, Mattia 137 Ridley, Hugh 26 Rieger, Hans-Martin 135 Ritschl, Friedrich 17f., 85, 161 Ritschl, Sophie 92 Rohde, Erwin 25, 30, 32, 62, 64, 148 Röllin, Beat 68 Römer, Heinrich 6 Ronell, Avital 147 Roscher, Wilhelm (jun.) 61 Roscher, Wilhelm (sen.) 61 Rousseau, Jean-Jacques 58 Rupschus, Andreas 2, 27, 61, 88, 164 Ruthardt, Adolf 86 Ryan, Batholomew 111
Personenregister
Salaquarda, Jörg 15, 35, 42, 45, 47, 136f., 139 Salis, Meta von 62, 153, 173 Salmi, Hannu 18f., 22, 31 Sand, Karl Ludwig 121, 124f. Santaniello, Weaver 1 Schäfer, Alfred 90 Schank, Gerd 9, 39, 49, 81, 105, 108f., 129 Scharbau, Friedrich-Otto 135 Scheffel, Viktor von 145 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 56, 120, 123, 146 Schieder, Theodor 117 Schiller, Friedrich 19f., 23–25, 36, 39, 56, 58, 118, 124, 133f., 145 Schirmacher, Wolfgang 103 Schirnhofer, Resa von 62 Schlaffer, Heinz 176 Schlegel, Friedrich 20, 112, 120 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 28, 56, 118, 180 Schlimgen, Erwin 136 Schmeitzner, Ernst 63 Schmidt, Julian 25f. Schmidt, Rüdiger 15, 82 Scholz, Dieter David 24, 26 Schopenhauer, Arthur 4, 22, 27, 45f., 52, 57, 88, 95f., 103f., 123, 133–135, 137–140, 142f., 146, 167 Schütz, Heinrich 108 Schulte, Christoph 121 Schulze, Hagen 124 Schumann, Clara 87 Schumann, Robert 86–88 Schuster, Marc-Oliver 50 Schwarz, Berthold 132 Seggern, Hans-Gerd von 146 Seydlitz, Reinhart von 94, 153f. Shakespeare, William 58, 115 Shapiro, Gary 116, 171 Sieg, Ulrich 30 Siemens, Herman 34, 36, 44 Sigurdsson, Geir 98 Simon, Josef 46, 137 Skirl, Miguel 3 Skowron, Michael 45 Solms-Laubach, Franz Graf zu 74 Sommer, Andreas Urs 28, 30, 136, 139, 145, 159f., 176, 181 Spencer, Herbert 88
Spinoza, Baruch de 27, 88, 146, 178, 180 Stack, George J. 45 Stackelberg, Roderick 124 Stamm-Kuhlmann, Thomas 20 Stegmaier, Werner 11, 15, 27f., 36, 45f., 51, 57, 64f., 67, 70, 72–75, 77f., 85–88, 90, 100, 103, 105f., 110, 116, 119, 122f., 130f., 137–139, 143, 146, 149, 151–153, 159, 167f., 176, 178, 180f. Stein, Heinrich von 61, 64, 124, 162 Stendhal (Henri Beyle) 148 Stoecker, Adolf 157 Strauss, Leo 101 Strauß, David Friedrich 21, 113f., 122, 148 Striet, Magnus 70 Strindberg, August 78f., 154, 158 Strong, Tracy B. 78 Sybel, Heinrich von 118f. Tacitus 20, 81, 91 Taine, Hippolyte 154, 161, 175 Taver, Katja V. 112 Ténicheff, Anna Dmitriewna 154 Tertullian 142 Tetzel, Johann 32 Thatcher, David S. 181 Tocqueville, Alexis de 120 Traub, Hartmut 112 Treitschke, Heinrich von 118f. Trendelenburg, Friedrich Adolf 27 Tylor, Edward Burnett 49 Ulfilas 142 Ulrichs, Lars-Thade 24 Ulrici, Hermann 27 Urussow, A. I. 154 van Tongeren, Paul 64, 68, 71, 152 Venturelli, Aldo 103, 124 Vieweg, Klaus 137 Virchow, Rudolf 106f. Vischer-Bilfinger, Wilhelm 16f. Vivarelli, Vivetta 58 Volkov, Shulamit 22, 48, 119 Volpi, Franco 72 Voltaire 58 Volz, Pia Daniela 63, 92 Wagner, Adolph 80 Wagner, Cosima 17, 23, 26, 33, 166
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Personenregister
Wagner, Richard 1f., 4, 10, 12–26, 28–48, 50, 52, 55–57, 61, 67, 83–86, 88, 90, 96, 101, 110–116, 118f., 133f., 138, 144, 150, 156–159, 162–169, 175 Wahrmund, Adolf 156 Weber, Max 74 Wehler, Hans-Ulrich 7, 20 Westfall, Joseph 3, 10, 25, 48, 113f., 122, 148 Wicks, Robert 140 Widmann, Josef Viktor 181 Wieck, Clara (s. Schumann, Clara) Wieck, Friedrich 87 Wieland, Christoph Martin 61 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 23 Wilhelm I. (Deutsches Reich) 31 Wilhelm II. (Deutsches Reich) 14, 157f., 169– 171 Willers, Ulrich 70 Williamson, George S. 124 Wills, Margaret 7f., 11
Winckelmann, Johann Joachim 36 Winteler, Reto 50, 179 Wistrich, Robert S. 1 Witzler, Ralf 103 Wolf, Jean-Claude 123 Wotling, Patrick 49 Würzbach, Friedrich 7 Young, Julian 2 Zachriat, Wolf Gorch 28 Zarncke, Friedrich 25 Zelinsky, Hartmut 158 Zibis, Alexander Maria 11 Zimmerman, Robert L. 137 Zimmermann, Reiner 24 Zimmern, Helen 158, 160, 175 Zittel, Claus 68, 73, 98, 133 Zola, Emile 79 Zöller, Günter 46 zur Mühlen, Karl-Heinz 135
Sachregister Hauptstellen sind kursiv gesetzt. Abendland, abendländisch 3, 71f., 86, 96, 144, 152 Affekt 74f., 79 Alkohol (s. deutsch → deutscher Alkoholkonsum; trinken) amor fati (s.a. Bejahung) 70, 149–151, 172, 178f. anti (s.a. Antichrist; Antisemitismus; deutsch → antideutsch; Frankreich → antifranzösisch; Polen → antipolnisch) 158f., 171 Antichrist, antichristlich 159f., 169–171 Antike, Altertum 19, 53, 112, 115, 135 Antisemitismus 1, 3f., 22–25, 34, 38, 48, 63, 86, 90, 119, 124, 130f., 155–157, 166, 172f. Aphorismus, Form / Kunst des Aphorismus 105f., 175 Arbeit, arbeiten, Arbeiter 82, 85, 92, 95, 102, 110, 127f., 130f., 155 Arier, arisch 107f., 156 – vor-arisch 106f. Atheismus, Atheist 135, 138, 143, 149 Aufhebung (s. Selbstaufhebung) Aufklärung 54–59, 73 – Dialektik der Aufklärung 56–59 aufrichtig, Aufrichtigkeit / Unaufrichtigkeit 115, 163, 168 Autogenealogie (s. Genealogie) bayerisch, Bayern 76, 94, 126 befehlen, Befehlende 58, 90, 117, 129 Begriff, begrifflich (s.a. deutsch → Begriff des Deutschen) 6, 9, 41, 45f., 48f., 71, 74f., 107, 111, 159 Bejahung, Jasagen (s.a. amor fati) 70, 73, 100, 142, 149, 152, 169, 172, 178–180 Beweglichkeit, Bewegung (s.a. Wanderer) 44, 96–98, 159 bewusst, Bewusstsein (s.a. Selbstbewusstsein) 86, 112, 136, 141, 179 – Bewusstheit 138 – unbewusst 6, 103, 129, 158 Bibel 109, 136
bieder 115f., 133, 148 – deutsche Biederkeit / deutscher Biedermann 115f., 124 – schwäbische Biederkeit 76, 116, 121, 133 Bildung (s.a. deutsch → deutsche Bildung) 152 – Bildungsbürgertum 16, 84f., 95 – Bildungsphilister 21, 26, 41 – Gebildetheit, Gebildete 23, 27, 43, 53, 66, 84f., 92 – klassische Bildung 95 blonde Bestie, blonde Rasse 106–108 Brandenburg 121, 129 Bühne 84, 124, 165 Burschenschaft 81–83, 124 Chaos (s. deutsch → Chaos der deutschen Seele) China, Chinesen, chinesisch 120f. Christ, Christentum, christlich (s.a. Antichrist; deutsch → deutschchristliche Verlogenheit) 3, 5, 28, 40, 54, 71, 95f., 117f., 125, 135, 139–144, 146, 151, 157, 160, 166f., 170–173, 177f. – christliche Logik 142 – christliche Moral 96, 140, 143, 149, 152, 159, 170 – christliche Werte 160, 169 – christliches Gewissen 143f. – unchristlich 142f. Darwinismus 45 décadence, décadent 3f., 33, 70–73, 131, 159f. – décadence-Werte 149, 160, 168–170 Demokratie, demokratisch 24, 132 deutlich, Deutlichkeit 113–116, 142 deutsch, Deutsche, Deutschland (s.a. bieder → deutsche Biederkeit; deutlich, Deutlichkeit; entwickeln → Entwicklung der Deutschen; Ernährung → deutsche Ernährung; Feind → Deutschenfeindschaft; Gegensatz; Germanen; Leben → deutsche Lebensart; Nation) passim – antideutsch, Antideutscher 133, 158–160, 162, 167–171, 173
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Sachregister
– Begriff des Deutschen 18, 39, 41, 46–49, 52, 54f., 65, 71, 74–79, 86, 102–105, 159, 171 – Chaos der deutschen Seele 34, 43, 105, 122f., 126, 131 – deutsch-christliche Verlogenheit 157f. – deutsche Bildung 16, 21–27, 29f., 35, 55, 92, 95, 103, 110, 117, 127, 172f. – deutsche Derbheit 115f., 122 – deutsche Frage 16 – deutsche Gesellschaft 8, 19, 169 – deutsche Heimat (s.a. Heimat) 98f. – deutsche Küche 92–94, 96 – deutsche Kultur 16f., 19, 21–24, 29f., 34, 37, 39–41, 43, 48, 78, 102f., 160 – deutsche Logik 141–144 – deutsche Mittelmäßigkeit 86, 97, 117, 120– 123, 173 – deutsche Musik 19f., 36, 55f., 79, 84–88, 96, 110, 145 – deutsche Prosa 48, 55 – deutsche Rasse 39, 49f., 105, 128 – deutsche Redlichkeit 116 – deutsche Seele 20f., 29, 49, 68f., 72, 76, 91, 105–107, 110f., 116, 123, 125–127, 131, 133, 138, 141 – deutsche Sprache 25f., 48, 53, 148, 174– 179 – deutsche Stubenhockerei 69, 91f., 96f., 99, 168 – deutsche Suizidneigung 44, 79–82, 88f. – deutsche Tiefe 19, 21, 81, 89f., 102, 110– 116, 121f., 127, 141f. – deutsche Widersprüchlichkeit / Widerspruchsnatur 104–110, 113, 126, 131, 134, 136, 141–144 – deutsche Wolke / deutsches Wetter 62, 118, 145 – Deutsch-französischer Krieg 16, 29, 40, 107 – deutscher Alkoholkonsum (s.a. trinken) 79, 81–83, 86f., 90, 93–96 – deutscher Geist 18f., 22, 24, 30, 32, 36, 38f., 42, 68, 94, 96, 112, 115, 118, 126, 136, 140, 149, 181 – deutscher Geschmack 31, 48, 66, 135 – deutscher Idealismus 56, 95, 158 – deutscher Jüngling 24, 118 – Deutscher Krieg (1866) 15 – deutscher Mythos / Mythus 20f., 44–46, 142
– – – – –
deutscher Pessimismus 139, 143 deutscher Stil 39, 53, 125, 175f. deutsches Hornvieh 63, 181 deutsches Klima 61–63 Deutsches Reich 17, 30f., 39, 44, 54, 107, 117, 121, 131, 169f., 181 – deutsches Volk 19f., 22–24, 32, 57, 75, 96, 98, 105–110, 112, 116–120, 122f., 131, 142f., 155, 170 – deutsches Wesen 18, 20f., 31, 35, 42, 44, 49, 75f., 109, 111, 113, 142 – Deutschsein auf Zeit 171 – Deutschtum / Deutschtümelei 17, 21f., 24, 37f., 48, 50, 54f., 103f., 107, 112f., 121, 127, 129f., 146 – entdeutschen, Entdeutschung 3, 5, 13, 47f., 54, 97, 103, 107, 144 – großdeutsch / kleindeutsch 119 – guter Deutscher 42, 46, 48, 101–104, 127, 131, 144 – Junges Deutschland 26 – liebe Deutsche 62, 104, 113, 115, 130, 155 – Mischcharakter der Deutschen 106–108, 142, 148 – National-Deutsches 38, 40 – norddeutsch, Norddeutsche 60, 64, 76, 80 – reichsdeutsch 170, 175, 180 – Süddeutsche, Süddeutschland 76, 80, 107 – typisch deutsch 47, 71, 74f., 78, 85, 89, 102, 142, 170f. – überdeutsch, Überdeutscher 41f., 46f., 71f., 102, 104, 131, 144, 159f., 162, 170 – undeutsch, Undeutsches 22f., 31, 71, 114, 163 – Vermittlerrolle der Deutschen 53, 107, 123, 125, 132 – Vermittler-Verzögerer-Dialektik 58f., 131– 140, 145 – Zwei-Deutschland-Theorie 123 Dialektik, dialektisch (s.a. deutsch → Vermittler-Verzögerer-Dialektik; groß) 4, 56–58, 64, 68–70, 73, 104, 111, 133, 136, 139, 141, 145, 150, 160 Diät, Diätetik, diätetisch 78, 91–96 dionysisch, Dionysos 17, 20f., 37, 68–70, 82, 91, 169, 178 dithyrambisch, Dithyrambus 20, 161 Dogma, Dogmatik, dogmatisch, dogmatisieren, Dogmatisierung 40f., 46, 49, 55, 83, 110, 118, 142, 158, 171 – dogmatischer Schlummer 139
Sachregister
Effekt 28, 164f., 167 Eigenverantwortlichkeit 171 einverleiben, Einverleibung 91f. – Einverleibung des Fremden 34, 39 Einzelner 70, 74, 76f., 128, 130, 171, 179 Ekel (s.a. Toleranz) 45, 54, 62f., 119, 172– 174, 180 Eklektizismus 24, 36, 123 England, Engländer, englisch 8, 53, 77, 95, 112 entfremdet, Entfremdung 5, 20, 22, 34, 50, 76, 103 – lebensentfremdet 96, 117 entwickeln, Entwicklung 5, 31, 50, 56, 58, 73, 141f. – Entwicklung der Deutschen 17, 19, 107– 113, 119f. – Entwicklungsgedanke 44–46, 57, 59, 111f., 126, 138 Erholung 66f. Erkenntnis 51, 74f., 178f. – Erkenntniskritik 75, 77, 151 – Leidenschaft der Erkenntnis 56 – Selbsterkenntnis 138 – Welterkenntnis 113 Ernährung 78 – deutsche Ernährung 92–96, 159 Ernst, großer Ernst (s.a. Heiterkeit) 67, 122, 154 esprit 125f., 161 Europa, Europäer, europäisch 1, 3, 5, 7–9, 16, 35, 43, 47, 50, 52–54, 59, 66, 71f., 75, 77, 80, 86, 95f., 106f., 110f., 119f., 126–133, 135, 138–140, 142, 145, 151, 154, 159, 169 – décadence-Werte Europas 160 – Einheit / Einigung Europas 95, 103, 129, 138, 146, 149, 151, 166 – europäische Identität 171 – europäische Kultur 50, 72, 128, 130, 132f., 145, 157 – europäische Luft 44 – europäische Mission Nietzsches 62 – europäische Rasse 130 – europäische Seele 72 – europäischer Geist 139, 149 – europäischer Horizont 15, 138, 149 – guter Europäer 100–104, 127, 138, 144, 147 Evolution, Evolutionstheorie 44–46
ewige Wiederkehr / Wiederkunft des Gleichen 138, 180 Experiment, experimentieren 35, 58, 64, 71, 89f., 150 Feind, feindlich, Feindschaft 38–40, 67, 119, 178 – Deutschenfeindschaft / Deutschengegnerschaft Nietzsches 67–69, 71 – Erbfeind 57 – lebensfeindlich 28, 92 – Lutherfeindschaft Nietzsches 136 – Todfeindschaft 157 Festigkeit 118, 120 Fiktion 36f., 98 Formen philosophischer Schriftstellerei Nietzsches (s.a. Stil) 105f., 176f. Fortschritt 28, 52, 55, 63 Frankreich, Franzosen, französisch (s.a. deutsch → Deutsch-französischer Krieg) 1f., 4, 6, 16, 48, 57f., 77–79, 84, 92, 95, 101, 105, 112, 118f., 146, 158, 181 – antifranzösisch 22–24, 118f. – französische Kultur 19f., 22–24, 38, 103, 159 – französische Literatur 53, 58 – französische Meister der Seelenprüfung 53 – französische Moralisten 6 – französische Romantik 167 – französische Sensibilität Wagners 162f., 167 – französische Sprache 174–177 – französische Ursprünge deutscher Tugend 55 – französisch-jüdisch / französisch-jüdischdeutsch 22–24, 35 – Genie Frankreichs 164, 166 – Nietzsches Bild des Französischen als positives Selbstbild 78f. – Scheinfranzosentum deutscher Schriftsteller 25 Freiheit (s.a. Geist → Freigeist; Krieg → Freiheitskriege) 15, 51f., 100, 132, 143, 168, 176f. fremd, Fremdes (s.a. entfremdet) 6, 18, 24, 34–36, 38f., 43, 48, 60, 120, 126, 160
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Sachregister
Gegensatz, gegensätzlich 21–23, 36f., 124, 132, 158f., 163, 178 – Nietzsche und die Deutschen als Gegensätze 2, 72, 91, 149–151, 161 – Wagner und die Deutschen als Gegensätze 162f. Geist (s.a. deutsch → deutscher Geist; esprit; Volk) 30, 38f., 58, 69f., 78, 91, 115, 117f., 127, 178, 180 – Beweglichkeit des Geistes 96, 98 – europäischer Geist 139, 149 – Freigeist / freier Geist 35, 50, 76, 99f., 140, 147, 158, 168, 176 – gebundener Geist 54 – Geist der Aufklärung 55f. – Geist der Musik 19f. – Geist der Schwere 96 – Geisterkrieg 152, 158, 169, 173 – Geisteskrankheit 81, 88 – geistig, Geistigkeit 44f., 59f., 69, 72, 78f., 98, 105, 119–121, 123f., 129, 135, 145, 159, 162 – heiliger Geist 96 – reiner Geist 45 – Schwerfälligkeit / Trägheit des Geistes 79, 81, 89, 96, 159 – Vergeistigung 106f. – Weltgeist 111f. – Zeitgeist 6, 27 Gelehrsamkeit, gelehrt, Gelehrter 23, 27f., 55, 60, 69, 84, 90f., 96, 123, 125, 144, 148 Genealogie 105, 110 – Autogenealogie 126f., 137–140, 143f., 149, 178 Genie / Genius (s.a. Frankreich → Genie Frankreichs) 36, 56f., 97, 129, 162, 168 – Schauspieler-Genie / Theater-Genie 163f., 166 Geographie, geographisch 59, 98, 106, 116 gerecht / ungerecht, Gerechtigkeit / Ungerechtigkeit 139, 141, 155f., 178f. Germanen, germanisch (s.a. deutsch) 7, 23, 80f., 111f., 156, 173 – germanische Rasse 94 – Unterscheidung von Germanen und Deutschen 9, 107–109 Geschichte, geschichtlich (s. Historie, historisch)
Geschmack (s.a. deutsch → deutscher Geschmack) 25, 31, 36, 66, 93, 103, 113, 120, 122, 125, 135 Gesundheit (s.a. Krankheit) 4, 21, 44, 52, 59–63, 71, 78, 81, 88, 92f., 97f., 112, 131, 159f. – große Gesundheit 52, 63–65, 67, 70, 72f., 90 Gewissen 118, 143f., 146 – intellectuales Gewissen 178 Glaube 21, 50f., 100, 135, 138, 143f., 177 – Glaube an das Fertigsein 27f., 44 – Glaube an das Werden 44f. – Glaube an die Grammatik 176 – Seinsglaube 50, 141f., 149 Gott, Götter, Göttlichkeit (s.a. dionysisch; Theodizee) 32, 44, 99f., 113, 121, 125, 139, 141, 143f., 161, 168 – Glaube an Gott 143f. – göttliche Leichtigkeit 168 – Liebe Gottes 177f. – Reich Gottes 113, 180 Griechen, Griechenland, griechisch 6, 19–21, 29, 34–36, 48, 53, 108, 135, 142 groß, Größe 15–19, 28f., 33, 36f., 39, 42, 46, 52f., 55–57, 63f., 66f., 70, 73, 85, 89f., 96, 101f., 110, 118, 120, 123, 125, 134f., 138, 141, 143, 145, 148f., 151f., 155, 159, 162, 164, 166, 168f., 173, 180f. halkyonisch (s.a. Meer) 65, 70 Halt, Haltlosigkeit 28, 100f., 103, 117 Heimat, Heimatloser, Heimatlosigkeit (s.a. Wanderer) 97–100, 103, 164 – Heimweh 99, 135 Heiterkeit, Fröhlichkeit (s.a. Ernst) 62, 67, 104, 108, 129f. Herde, Herdenmoral 71, 128, 139 Herrenmoral / Sklavenmoral 123–125 Historie, historisch, Geschichte, geschichtlich 18–20, 26–30, 34, 37, 44–47, 49f., 56, 58f., 69, 72, 95, 98, 108–112, 116, 119, 124, 128, 131, 133, 139–142, 144f., 149, 151, 156, 159–161, 164–166, 170, 173, 179 Horizont 15, 17, 37, 39, 42, 51, 102, 144 – Erfahrungshorizont / Erlebnishorizont 77, 166 – europäischer Horizont 15, 138, 149 horror vacui 99
Sachregister
Ideal, Idealismus, idealistisch 16, 18–29, 31, 37f., 41f., 44, 50, 56, 88, 91, 95–97, 102, 107, 147, 151, 158, 173 Ideologie, ideologisch 1, 5f., 119, 129, 152, 167 Idiosynkrasie, idiosynkratisch 78, 81, 95 Illusion, illusionär 36, 39f., 100, 152, 167, 179 individuell, Individuum 4, 11, 37f., 49, 74– 77, 82, 105, 111, 123, 128, 130, 160, 179 – individuelle Nöte 67, 75 innerlich, Innerlichkeit 19, 21, 29, 40, 115, 144, 158 Instinkt, instinktiv 71, 77, 85, 107, 119, 130, 141, 158, 160f., 166f., 173 Ironie, ironisch 32, 48, 61, 156, 174, 177 Italien 23, 48, 119, 161, 166, 181 Jasagen (s. Bejahung) Juden, Judentum, jüdisch (s.a. Antisemitismus) 22–24, 29, 34f., 38, 48f., 62, 106f., 118–120, 129f., 155f., 165–167 Kausalität 96, 138, 141f. Kelten, keltisch 106f. Kind, Kindersinn, kindlich 94, 180f. Kirche 27, 144 – Kirchenväter 135, 142 klassisch 88, 95 Klima 59–64, 83, 97f. kosmopolitisch, Kosmopolitismus 21–24, 34–38, 41, 86, 166 Krankheit (s.a. Gesundheit) 52, 64f., 67, 71, 73, 81, 87, 103, 131, 159f. – Geisteskrankheit 81, 88 – historische Krankheit 27f. – krankhaft, Krankhaftigkeit 83, 85f. – Pathologie, pathologisch, Pathologisierung 78f., 83–85, 90f. Krieg (s.a. deutsch → Deutscher Krieg; deutsch → Deutsch-französischer Krieg; Geist → Geisterkrieg) 15–17, 19, 30, 40, 55, 67, 132, 152 – Bauernkrieg 135 – Dreißigjähriger Krieg 19, 106–109 – Erster Weltkrieg 7f., 83 – Freiheitskriege 146, 149, 151 – Todkrieg 169f., 172f., 178f. Krise, Krisis 71, 86, 131, 149, 155
Kritik – Bildungskritik 23f., 173 – Erkenntniskritik 75, 151 – Kulturkritik 15, 21–29, 41, 47 – Nationalismuskritik 37f. – Ressentimentkritik 172 – Selbstkritik 11, 75, 81, 101, 110 – Sprachkritik 25f. Kultur (s.a. deutsch → deutsche Kultur; Europa → europäische Kultur; Frankreich → französische Kultur; Kritik → Kulturkritik) 15–17, 33 – Erhöhung der Kultur 15, 34f., 37, 48 – Kulturstufen 49 – Leitkultur 117f. – Ökonomik der Kultur 149, 151 Kunst, Künstler, künstlerisch 30, 38–40, 45, 58, 60, 66, 73, 84, 86, 94, 105, 108 – Dichtkunst 58, 66, 148 – Kunst der étalage / Schaufensterkunst 165, 167 – Kunst der Verführung 176 – Kunst des Befehlens und Gehorchens 129 – Schauspielkunst 162, 168 – Sprachkunst / Kunst des Stils 148, 174– 177 – Wagners Kunst 33, 35f., 42f., 50, 52, 55f., 83, 158, 162–168 Leben, lebendig 19, 21, 26f., 35, 42–44, 51, 61f., 65–67, 71, 73, 98, 123, 125, 127, 149f., 179, 181 – deutsche Lebensart / deutscher Lebenswandel 91–96, 159 – Lebensaufgabe 90 – lebensdienlich 37, 45f. – lebensentfremdet 96, 117 – lebensfähig / überlebensfähig, lebensmöglich 44, 120, 142 – lebensfeindlich 28, 92, 157 – Lebensmüdigkeit, Lebensüberdruss 79, 81, 86f. – lebensnotwendig, Lebensnotwendigkeit 34, 57 – lebensverneinend, Lebensverneinung 50, 92, 142, 149, 172 – Liebe zum Leben 71, 178 – Wille zum Leben / Wille zum Tode 95, 141f., 152, 170f. Leib, leiblich (s.a. Physiologie) 50, 61, 63, 78, 84, 94, 96, 163, 167
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– einverleiben, Einverleibung 34, 39, 91f. – Leibes-Gesundheit 65, 70 Leichtigkeit 77, 100, 168 Leid, leiden 2, 12, 17, 44, 49, 52, 65, 70–73, 75, 86, 89–92, 104, 118, 129, 150 – Leidenschaft 33, 56, 83f., 163 lieb, Liebe, lieben (s.a. amor fati; deutsch → liebe Deutsche) 2, 5, 21, 42, 44, 63, 81, 100, 174, 177–181 Liebe zum Leben 71, 178 Logik 119, 141f. Lüge, lügen, lügnerisch 72, 152, 158, 165– 167, 169f. Maske, Maskenspiel, Verkleidung 24f., 29, 116, 125, 145, 168 Meer, Ozean 52, 57, 62, 99f. – Meeresstille 65, 70 Mensch, Menschheit (s.a. Übermensch) 18– 20, 27, 34, 36–38, 42–46, 53, 60, 64, 69, 71–73, 94, 98–100, 102, 113, 115, 125, 135, 141, 144–147, 149f., 152, 156, 160, 167f., 170, 173, 176f., 179–181 – höherer Mensch 113, 133 – letzter Mensch 120–122, 180 Metapher, Metaphorik, metaphorisch 44, 57, 87, 94, 98, 105, 121, 127 Metaphysik, metaphysisch 5, 12, 21, 25, 30, 34, 39, 49–51, 70, 74, 77, 83, 96, 113, 127, 152 – Geschichtsmetaphysik 59 – Metaphysizierung 46, 136 – Willensmetaphysik 45, 137 Mitleid, Mitleidsmoral 99f., 123 Mitte (s.a. vermitteln) 5, 41, 77, 106f., 117, 120, 122f. – Mittelmaß, Mittelmäßigkeit 71, 86, 97, 117, 120–123, 173 Mittelalter, mittelalterlich 109, 119 Moral, moralisch / unmoralisch, Moralismus, moralistisch (s.a. Christ → christliche Moral; Herde, Herdenmoral; Herrenmoral / Sklavenmoral; Mitleid) 7, 45, 51, 66, 76, 78, 90, 95f., 111, 121, 125f., 139–141, 143f., 149, 152, 156, 180 Musik, musikalisch 19–21, 55–57, 79, 81, 83–87, 90, 96, 108, 110f., 133, 145, 162–168, 175 Mut 16, 37, 89, 101, 153, 175, 181 mythisch, Mythos (s. deutsch → deutscher Mythos)
Nation, national, Nationalismus, nationalistisch 1–3, 5, 8f., 15–19, 22f., 28–30, 32–34, 37–42, 44, 47–50, 53– 55, 57f., 61, 75, 82, 86, 90, 97f., 100– 103, 108, 112f., 117–119, 121, 124f., 128f., 132, 140, 146, 148, 157f., 166, 170–173, 181 – Nationalcharakter 8, 49, 77f., 144 Natur, Naturalismus, natürlich 48, 58, 67, 115, 117f., 123, 151, 158, 162, 165, 169, 172 – Widerspruchsnatur 104, 106, 110, 113, 126, 133f., 136, 141f. Neinsagen (s. Verneinung) Nihilismus 122, 178 Norden, nordisch 7, 60, 62, 64, 67, 76, 80, 92, 135, 158 Not, Nöte 48, 67, 100, 155, 166 Nuance 73, 114, 176f. objektiv, objektivieren, Objektivität 8, 11, 19, 45, 74f., 77, 111 Oper 23f., 84f., 164–167 Orientierung 3, 48, 67, 74f., 118, 131, 152, 171 Österreich 16, 80, 84, 119 paradox, Paradoxie 39, 100, 110f., 121f., 143, 152, 177, 180 Parodie 100, 122, 147 pathetisch, Pathos 33, 122, 168 Perspektive, Perspektivismus, Blickwinkel 51, 53, 57, 74f., 98, 101, 103, 110, 137–139, 179 Pessimismus 139, 141, 143 Physiologie, physiologisch (s.a. Leib) 61, 63, 72, 78, 82, 85f., 92, 95, 107, 116, 119, 159f. plausibel, Plausibilität 59, 74, 140, 179 Polen, polnisch 62, 161 – antipolnisch 118f. – Nietzsche als polnischer Edelmann 143f., 160f. Politik 16–18, 30f., 33, 37, 41f., 52–54, 57, 82, 118, 129, 131, 153, 157, 171f. – große Politik 152, 159, 169, 173 Preußen, preußisch 16f., 31–33, 76f., 103, 107, 118f., 121f., 158 protestantisch, Protestantismus (s.a. Reformation) 40, 58, 81, 96, 135, 144, 158
Sachregister
Psychologie, psychologisch 52f., 66, 116, 129, 139, 172 Rasse, Rassismus 6, 22, 39, 49, 72, 79f., 94, 98, 101, 105–108, 119, 128–132, 149, 152, 156, 160 Realität 74, 158, 168 Rechtschaffenheit 101, 138, 143f., 151f., 170 redlich, Redlichkeit (s.a. deutsch → deutsche Redlichkeit) 21, 57, 122, 138, 143 Reformation (s.a. protestantisch) 21, 42, 53, 58, 108f., 135f., 143 Religion, religiös 45, 58, 81f., 117, 139, 152 Renaissance 19, 37f., 53, 135f., 139, 143, 151 Ressentiment 32, 117, 119, 172f., 177f., 180f. Revolution 33, 38, 42, 55, 57, 126 Romantik, Romantiker, romantisch 86–88, 118, 124, 163f., 167 Sachsen, sächsisch 76, 87, 93 Schauspieler, Schauspielerei 33, 86, 160– 169 Schicksal, schicksalhaft 9, 15, 111, 122, 142, 150f. Schmerz 70–72 Schriftsteller, Schriftstellerei (Nietzsches) 25, 105f., 147f., 162, 168, 176f. Schwaben, schwäbisch (s.a. bieder) 76f., 116, 121, 133 Schweiz, Schweizer 16, 59, 98, 161, 181 Seele (s.a. deutsch → deutsche Seele; Europa → europäische Seele) 25, 32, 53, 61, 63, 78, 83f., 122, 130, 144 Seiendes, Sein 50, 113, 141f., 149 Selbstaufhebung 3, 22, 70–73, 90, 143f., 171 Selbstbewusstsein 111f. Selbstbezüglichkeit 8, 11 Selbsterziehung / Selbstzucht 6, 127f. Selbstkritik (Nietzsches) 8, 11, 55, 75, 91, 101, 104f., 110 Selbstmord (s. Suizid) Selbstüberwindung (s.a. überwinden) 100, 143, 180 Skepsis 61, 141, 143f. Sklaven (s.a. Herrenmoral / Sklavenmoral) 82, 157f. Slawen 80, 106f., 118 Sprache (s.a. deutsch → deutsche Sprache) 20, 33, 39, 42, 76, 114f., 119, 126, 148, 152, 175–177
Staat, staatlich 27, 37, 76, 80, 98, 103, 132, 140, 169 – Nationalstaat 44, 119 – Staatsmänner 48, 170 stark, Stärke 51, 56, 58, 64, 67, 69, 89, 97, 108, 117–119, 132 Stil 26, 35, 39f., 53, 125, 164 – Kunst des Stils 148, 174–177 Süden, südlich (s.a. deutsch → Süddeutsche) 48, 60, 62, 65, 135, 146, 148 Suizid 79–83, 87–90 Symbol, symbolisch, Symbolisierung 21, 32, 42f., 121, 145, 149, 170 System, systematisch 24, 77, 110f., 121, 123, 128, 165, 167 Tanz, tanzen, tänzerisch 67, 96, 125 Theodizee 28, 69f., 135, 139 Thüringen, thüringisch 61, 76, 93, 95 tief, Tiefe (s.a. deutsch → deutsche Tiefe) 23, 57, 67, 69–71, 120, 141, 160f. Tod, tödlich, tot 26, 44–46, 88f., 142, 157, 162, 169–173, 178f. Toleranz, große Toleranz 143, 180f. tragisch, Tragödie 20, 122, 179 trinken, Trunkenheit (s.a. deutsch → deutscher Alkoholkonsum) 69, 79, 82, 84, 86, 91, 94 Typ, typisch, typisieren, Typisierung 4, 8, 11, 45, 47f., 62, 71, 74–78, 85f., 89, 95, 102, 104, 107f., 125, 139, 142, 147, 152, 158–160, 163, 168, 170, 178f. Übermensch 6, 46 überwinden, Überwindung 22, 35, 38, 42, 73, 100, 102f., 120, 123, 136, 139, 143, 148, 159f., 173, 180 Umwertung 111, 113, 116 – Umwertung aller Werte 73, 151f., 158f., 172, 176f. unterscheiden, Unterscheidung 9, 19, 38f., 41, 74, 131f. Verbrechen, Verbrecher 79, 109, 149, 151, 159, 170 Verkleidung (s. Maske) vermitteln, Vermittler, Vermittlung (s.a. deutsch → Vermittlerrolle der Deutschen; deutsch → Vermittler-
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Sachregister
Verzögerer-Dialektik) 53, 102, 125, 131f., 139, 145 verneinen, Verneinung 21, 28, 50, 92, 95, 142, 167, 169, 178f. Vernunft / Unvernunft 28, 44, 55f., 92, 109, 141, 174 Volk, Völker, Volksgeist (s.a. deutsch → deutsches Volk) 18, 29, 34, 39, 42, 44, 47, 49, 55, 60, 78, 80, 83, 85, 105, 111, 114, 116, 152, 175 vornehm, der Vornehme, Vornehmheit / Unvornehmheit 68–70, 83f., 91, 103, 143, 151, 155
110, 113, 123, 126f., 133, 136, 141, 162, 172, 178 Wille 49, 90, 125–127, 135–137, 143, 164, 167, 178 – Wille zum Leben / Wille zum Tode 45, 71, 95, 142, 152, 170f. – Wille zur Macht 78, 125, 172 Wirkung 44f., 61, 79–82, 92, 96, 121, 153, 163f. Wissen, Wissenschaft 27, 58, 103, 123, 126, 138, 140 (wohl)geraten, Wohlgeratenheit 73, 126f., 130, 160, 170
wahr, wahrhaftig, Wahrhaftigkeit, Wahrheit 22, 31, 35f., 38, 41f., 45, 51, 78, 106, 111, 113, 115, 138, 141, 143, 151f., 158, 163, 166f., 179 Wanderer, wandern 92, 96–100 Werden (s.a. entwickeln) 5, 28, 44f., 108f., 112f., 116f., 127–129, 140–142 Wert (s.a. Umwertung) 50, 73, 90, 123, 141, 151f., 160, 169, 176 widersprechen, Widerspruch, widersprüchlich 9, 52, 76, 86, 104–108,
Zeichen, sich zeigen 33, 37, 52, 77, 104, 130, 155, 181 Zeit, Verzeitlichung 44, 46–48, 51, 59, 74, 97, 103, 116–118, 120, 152, 158, 171, 180f. Zivilisation 22f., 31 Zucht, Züchtung 9, 68, 70, 120, 127–143 – Notzucht 87 – Unzucht 98, 107f. Zufall 72f. Zukunft 31, 33, 38, 42f., 48, 56, 59, 71, 75f., 119, 128f., 131, 133, 166