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Peter Hartwich Arnd Barocka (Hrsg.)
Psychisch krank
Das Leiden unter Schwere und Dauer
Verlag Wissenschaft & Praxis
Peter Hartwich Arnd Barocka (Hrsg.)
Psychisch krank Das Leiden unter Schwere und Dauer
Mit Beiträgen von: A. Barocka, H. Böker, M. Grube, P. Hartwich, D. Klinger, S. Lubik, S. Matura, K. Maurer, J. Pantel, F. Pfeffer, F. Poustka, D. Prvulovic, I. Roth, A. Stirn, S. Völker, H. Weigand-Tomiuk
Verlag Wissenschaft & Praxis
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-89673-503-4 Wissenschaft & Praxis © Verlag Dr. Brauner GmbH 2009 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094
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Vorwort Sowohl die Forschung als auch die Therapie chronisch psychisch Schwerkranker gehören zu den am meisten vernachlässigten Themen. Infolgedessen besteht gegenüber anderen Bereichen unseres Fachs ein eklatanter Mangel an repräsentativen Studien. So wird in dem Beitrag von HARTWICH untersucht, welche Gründe dafür heranzuziehen sind: Die Stellung und die viel zu geringe Bedeutung der chronisch Kranken in Institutionen, die Forschung betreiben. Des Weiteren spielt der Aspekt der Gegenübertragung gegenüber den Betroffenen eine entscheidende und in der Regel unbewusste Rolle. Am Beispiel der chronischen schizophrenen Erkrankung werden Wege aufgezeigt, wie diese Hürden heute bewältigt werden können. Vom Modell der Depression als Psychosomatose der Emotionsregulation ausgehend hebt BÖKER hervor, dass 15 - 40 % der depressiven Erkrankungen einen chronischen Verlauf nehmen und die Zunahme der Relevanz der Chronifizierung depressiver Erkrankungen epidemiologisch nachweisbar ist. Er ist einer derjenigen in unserem Fach, der Forschung und doch gleichzeitig Psychotherapie betreibt. So vertritt er folgerichtig, dass eine psychoanalytisch orientierte Psychotherapie über einen langen Zeitraum angelegt sein muss. Hierzu hat er spezielle Settings ausgearbeitet, in denen auf die Besonderheit der chronisch depressiven Kranken mit einer modifizierten Technik im Rahmen eines mehrdimensionalen Ansatzes eingegangen wird. Das ist beispielsweise eine der Voraussetzungen für das Wachsen einer neuartigen Beziehungserfahrung für solche Patienten, bei denen diesbezüglich eine frühe Gestörtheit ihr Schicksal begleitet. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht wird die Langzeitprognose von POUSTKA von in der Kindheit beginnenden psychischen Erkrankungen am Beispiel des hyperkinetischen Syndroms und autistischer Störungen dargestellt. Die im Erwachsenenalter überdauernden psychischen Störungen lassen sich mit der Erkenntnis der individuellen entwicklungsgeschichtlichen Bedingungen besser bewältigen. Auch schwerere und schwere organische Erkrankungen führen zu zusätzlichen psychischen Störungen. GRUBE stellt anhand einer wissenschaftlichen Studie an 388 Patienten die Psychotherapie und Begleitung bei Menschen mit Karzinomerkrankungen, deren Rezidiven und Metastasierungen bis hin zum herannahenden Tod dar. Die psychoonkologischen Therapien beinhalten beispielsweise die analytische Arbeit mit Träumen sowie den Umgang mit einer ganz speziellen Form der Gegenübertragung.
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VORWORT
Als ein besonders eindrucksvolles Beispiel stellen MAURER und PRVULOVIC den Verlust der visuell-räumlichen Verarbeitungsfähigkeit bei einem kranken Künstler dar, womit ein tieferer Einblick in das psychopathologische Geschehen bei Alzheimer Erkrankung gelingt. PANTEL und Mitarbeiter haben ein Trainingsprogramm mit teilweise psychoedukativen Komponenten zur Alltags- und Krankheitsbewältigung für Personen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen ausgearbeitet. Sie zeigen, dass es möglich ist, damit Verbesserungen des kognitiven Status, der Lebenszufriedenheit, der Alltagsaktivitäten und der Stimmung zu erreichen. Die Probleme der Patienten mit chronischen Schmerzen werden von Frau STIRN und Mitarbeitern bearbeitet. Sie hebt das „Schmerzgedächtnis“ hervor, welches schon durch Hypersensibilisierung in Kindesalter geprägt sein kann. Psychosomatischen, neurobiologischen und weiteren interdisziplinären Aspekten wird nachgegangen, um eine differenzierte Diagnoseabgrenzung zu erarbeiten. Ein interdisziplinärer Ansatz des psychosomatischen Konsil- und Liaisondienstes zeigt, welche therapeutischen Maßnahmen heute möglich sind. Abschließend wird in zwei Beiträgen gezeigt, wie die Vorstellung von Fällen psychisch chronisch Schwerkranker in einer Workshop-Gruppe von Kollegen für jeden der Beteiligten neue Gesichtspunkte und Anregungen bringt, die einen effektiveren therapeutischen Umgang ermöglichen. Der tiefere Sinn des Buches liegt in der Ermutigung, sich in unserem Fach stärker auf chronisch Kranke einzulassen und zu zeigen, dass es doch eine Reihe von Maßnahmen gibt, die Hilfe und Hoffnung versprechen, wenn die gesteckten Ziele im Rahmen des Machbaren bleiben.
Peter Hartwich und Arnd Barocka
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Inhalt Vorwort..................................................................................................... 5 Inhalt......................................................................................................... 7 Autoren ..................................................................................................... 9 PETER HARTWICH Psychotisch krank – das Leiden unter Schwere und Dauer ....................... 11 HEINZ BÖKER Psychotherapeutische Langzeitbehandlung bei Dysthymie, Double Depression und chronischer Depression ..................................... 17 FRITZ POUSTKA Krank in der Kindheit – gesund im Alter? ................................................. 45 MICHAEL GRUBE Zwischen Leben und Tod – psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung von Karzinompatienten ... 57 KONRAD MAURER, DAVID PRVULOVIC Wenn die Gestalt zerfällt ......................................................................... 79 INES ROTH, SILKE MATURA UND JOHANNES PANTEL Rehabilitative und begleitende Ansätze bei der leichten Kognitiven Beeinträchtigung ..................................................................................... 91 FELIX PFEFFER Wann sind Depressionen therapieresistent? ........................................... 101 AGLAJA STIRN, DORIS KLINGER Der chronische Schmerzpatient (Schmerz aus psychosomatischer Sicht – interdisziplinäre Aspekte)........ 119
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INHALT
SILKE LUBIK, HILDEGARD WEIGAND-TOMIUK Workshopbericht: Einzelfalldarstellung eines langwierigen Krankheitsverlaufes................................................................................ 125 SIEGFRIED VÖLKER, PETER HARTWICH Fallbearbeitung einer chronisch schizophrenen Psychose in einem Workshop mit Kollegen .......................................................... 133
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Autoren Barocka, Arnd, Prof. Dr. med., Ärztlicher Direktor, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie I, Klinik Hohe Mark, Friedländer Str. 2, 61440 Oberursel Böker, Heinz, Prof. Dr. med., Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Lenggstr. 31 CH-8032 Zürich, Schweiz Grube, Michael, Priv. Doz. Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6 - 8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Hartwich, Peter, Prof. Dr. med., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6 - 8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Klinger, Doris, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, HeinrichHoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Lubig, Silke, Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6 - 8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Matura, Silke, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, HeinrichHoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Maurer, Konrad, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Pantel, Johannes, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Pfeffer, Felix, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6 - 8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Poustka, Fritz, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum Frankfurt am Main, Deutschordenstr. 50, 60590 Frankfurt am Main
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AUTOREN
Prvulovic, David, Dr. med., Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Roth, Ines, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Stirn, Aglaja, Priv. Doz. Dr. med., Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Völker, Siegfried, Dr. med., Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse, Uhlandstr. 58, 60314 Frankfurt am Main Weigand-Tomiuk, Hildegard, Dr. med., Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6 - 8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst
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Psychotisch krank – das Leiden unter Schwere und Dauer Wir wenden uns einem Thema zu, das zu den am meisten vernachlässigten, den schwierigsten, den am wenigsten gut erforschten gehört. Es gibt noch nicht einmal eine Definition dessen, was unter schwerkrank allgemeine Gültigkeit hat. Doch neuerdings gibt es einige Psychiater und Psychologen, die psychotherapeutisch arbeiten und forschen und sich auf das lange Leiden unter der Schwere und der Dauer ihrer Patienten einlassen. Hierzu fand ein bemerkenswertes Symposion im Januar 2007 in der Universitätsklinik Zürich statt, mit dem Thema: „Psychotherapie bei Schwerkranken“. Dabei kam zum Ausdruck, dass ein eklatanter Mangel an repräsentativen Studien besteht. Wie ist das zu erklären? 1. Bei Schwer- und Schwerstkranken ist die Fähigkeit zum Einverständnis des Betroffenen bezüglich der Teilnahme an Forschungsprojekten begrenzt. 2. Das Engagement derjenigen, die in der Forschung in Psychiatrischen Universitäten und vergleichbaren Institutionen tätig sind, spiegelt sich in den weiter zurück liegenden Jahrzehnten in der folgenden Tatsache: Schwerkranke Schizophrene mit langer Krankheitsdauer wurden in die Stationen für chronische Patienten in den Landeskrankenhäusern weit ab von ihren sozialen Bindungen – falls es solche noch gab – dauerhaft hospitalisiert. Sie waren damit aus dem Blickfeld der zentralen Themen gerückt. 3. Die Gegenübertragung spielt eine wichtige Rolle. Wie ergeht es denn dem Behandler, der sich über längere Zeit beispielsweise mit schwer gestörten chronische Schizophrenen, die lange Zeit schon hospitalisiert waren, befasst? Die Begegnung mit solchen Menschen, die in ihrer schweren Desintegration seit langem versunken sind, beinhaltet ja folgendes:
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HARTWICH
Das kranke Gegenüber lebt in einer Welt des irgendwie teilweise arrangierten Chaos. Die Denkgesetze, in denen wir so genannte Normale uns in unbekümmerter Selbstverständlichkeit zu bewegen pflegen, sind bei diesen Menschen entordnet, skurril und die Denkinhalte passen auch nicht mehr zu den Emotionen; sie sind desorganisiert, desintegriert und – psychodynamisch gesehen – fragmentiert und das in einem oft über Jahre verharrendem Dauerzustand. Zusätzlich ist ihr Energieniveau herabgesetzt. Wenn wir ihnen nahe sein möchten, werden wir immer wieder über die Grenze des vernünftig Nachvollziehbaren herübergezogen. Ein solcher Sog belastet uns mit einem Gefühlszustand, in dem sich das Unheimliche in uns auszubreiten beginnt. Der zerbrochene Zusammenhang führt den, der sich empathisch annähern möchte, in eine Gefühls-Landschaft, die karg und ausgedörrt ist. Was früher einmal Kraft, Hoffnung und Lebendigkeit war, ist jetzt enttäuschter Resignation gewichen. Wer schafft es, über längere Zeit eine solche trostlose Öde zu betreten, sich darin aufzuhalten und den einsam Leidenden zu begleiten? Schreiten wir dennoch mit mutiger Zuversicht über die Grenze, erfasst uns alsbald ein Sog, der uns ins öde Chaos hineinziehen will und uns unerbittlich unsere eigene Ohnmacht vor Augen hält. Nun bedarf es einer meistens unbewusst bleibenden dauerhaften Kraftanstrengung, um uns dem Zerstörerisch-Krankhaften täglich zu widersetzen. Die Folge davon ist, dass wir auf die Dauer ausgebrannt werden. Damit wird ein einfühlendes Begleiten immer anstrengender und der mühsame Versuch uns abzugrenzen verbraucht immer mehr von unserer Lebensenergie. Angehörige und andere Nahestehende dieser schwer chronisch Kranken halten nur in seltenen Fällen eine solche Dauerbelastung aus, die meisten haben schon längst aufgegeben. Die ohnehin schwierigen Beziehungen, die diese Menschen manchmal doch noch haben, sind völlig ausgedünnt. Was tun wir Fachleute gelegentlich? Wir pflegen uns vor dem Sog ins Dunkle und Unlebendige zu schützen, indem wir uns nicht einlassen, indem wir keine Beziehung anbieten, sondern uns hinter Hilfsmittel, wie Medikamenten, Visiten und Verordnungen verstecken. Ohne dass es uns bewusst wird, schicken wir solche Menschen weg, indem wir sie für nicht psychotherapierbar und nicht heilbar erklären. Manche von uns tun so, als ob die Heilbarkeit das Einzige sei, wofür es sich lohnt.
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Was für ein Irrtum! Wir können von Schwerkranken sehr viel für unsere Arbeit mit allen psychisch kranken Menschen lernen. Mit ihnen können wir wirklich etwas über die Bedeutung, was menschliche Beziehung ausmacht, erfahren. In Folgendem möchte ich versuchen zu verstehen, welche inneren Regeln uns dazu bestimmen mögen, so und nicht anders zu handeln. Wir haben die Chance, tatsächlich ein wenig weiter zu kommen, wenn wir uns auf die frühe Tradition unserer abendländischen Denkgeschichte besinnen: In der griechischen Tragödie ist der Weltgrund ein tragischdionysischer Abgrund, der Abgrund bedeutet Grauen und Chaos im Hades. Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), der später an Progressiver Paralyse gelitten haben soll, geht davon aus, dass wir diesen Abgrund durch den illusorischen Schein der vernunftgläubigen Wissenschaft überdecken. Er bezeichnet diese Mechanismen, die uns von dem Chaos ablenken, als „Selbsterhaltungsbedingungen“. „Der Mensch erträgt das eben nur, indem er sich mit dem Schein von Beständigkeit umgibt“, so wörtlich. All das, was die Philosophie seit Platon für das wahrhaft und beständige Seiende hielt, die Ideen, Gott, das moralische Gesetz und jegliches dieser Art, erweist sich hinsichtlich seines Seins als nichtig, als nichts – lateinisch nihil. Diese große Desillusionisierung ist der moderne Nihilismus. Wenn wir aber in der Philosophiegeschichte noch viel weiter zurückgehen, kommen wir damit zu dem Vorsokratiker Heraklit (550 - 480 v. Chr.), auf den sich Nietzsche gern beruft. Heraklit wird nachgesagt, er habe bereits als tragisch-dionysischer Denker den Abgrund des chaotischen Werdens gesehen. Er hat aber auch die Gleichzeitigkeit des innewohnenden Gegenteils der Dinge im Logos formuliert. Somit können sich sowohl die Denker des Positiven wie auch die des Nihilismus auf ihn berufen. Warum nun dieser Ausflug in unsere abendländische Denkgeschichte? Vielleicht sind wir nicht falsch beraten, wenn wir nicht nur nach solchen Grundanschauungen suchen, die Allgemeingültigkeit zu haben scheinen und somit auch von uns selber leicht nachvollzogen werden können. Es geht vielmehr darum, anzuerkennen, dass es Gruppen von Menschen gibt, auf die eine solche nihilistische Seinsweise tatsächlich in ihrem Leiden und in ihrer Krankheit zutrifft. Bei anderen Menschen, die nur kurzzeitig krank oder dauerhaft gesund sind, mag das anders sein. Bei ihnen sind dann viele andere philosophische Perspektiven und Denkansätze zutreffend.
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Für die Geschichte unseres Fachs ist es spannend, wie sich die oben formulierten Grundgedanken im Versuch des Verständnisses des psychotischen Chaos und der Symptome des Psychose-Kranken wieder finden. Beispielsweise sprechen wir von Schutz und Abwehrmechanismen, die unsere Psyche kreativ konstruiert, um Ängsten, Grauen und nicht aushaltbaren Erlebnissen mit einem – Nietzsche würde sagen – „illusorischen Schein zu überdecken“. Es ist aber bei unseren Kranken nicht allein ein Überdecken, ein Ablenken, nein es ist eine notwendige Selbsterhaltung vor weiterem Zerfall. Und diese Selbstrettungsbemühungen gelingen nicht immer gut. Was tut der Schizophrene? Dem inneren Zerfall wird mit aller Anstrengung etwas entgegen gesetzt, um ihn irgendwie aufzuhalten. Das Resultat sind Symptome wie Wahn und Halluzinationen, diese können dann als Selbsterhaltungsmechanismen dienen. Bei näherer Betrachtung sind diese oft außerordentlich kraftvolle und kreative Konstruktionen. Wir haben sie als Parakonstruktionen bezeichnet. Manchen skurrilen Verhaltensweisen eines chronisch Schizophrenen kann man unter der Perspektive dieses Verständnisses einen Sinn abgewinnen und dieser sollte von uns als solcher verstanden und akzeptiert werden. Damit würden wir den sonderbarsten Verhaltensweisen unseren Respekt zollen. Warum bemühe ich noch mal die griechischen Tragödien und philosophische Denktraditionen im Umgang des Menschen mit dem Phänomen des Chaos für die Problematik des chronisch Schwerkranken? Die Rückbesinnung auf die oben angedeuteten Erfahrungen aus unserer Denktradition bedeutet, dass es sich um kollektive Erfahrungen handelt. Indem wir uns dieser Sichtweise öffnen, werden wir toleranter und finden sogar wertvolle Aspekte in manchen Erlebnisweisen der psychisch chronisch Schwerkranken. Damit begeben wir uns in eine neue Betrachtungsweise, die uns solchen Patienten dann doch näher bringt. Das ist vergleichbar mit der Erfahrung, wenn wir uns mit unseren eignen Träumen beschäftigen und plötzlich erkennen, wie sehr unsere eigenen Erlebnisse im Traum manchen krankhaften Erlebnisweisen des Schizophrenen ähneln können. Eine solche Näheerfahrung macht Beziehung wieder eher möglich. Im Verstehen der Symptome als etwas gegenwärtig Notwendiges bringen wir den mühsam geschaffenen Selbsterhaltungsmechanismen mehr Respekt entgegen. Die Tatsache, dass jemand – ein solch chronisch Schizophrener – beispielsweise vier Mäntel übereinander anzieht, um sich vor Außenreizen zu schützen, oder einer, der sich abwendet, kaum spricht und nur manierierte
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Bewegungen macht oder ein anderer, der keine Neuroleptika zulässt, weil er sich seine göttliche Stimme aus dem Weltall erhalten möchte, können wir als für ihn persönlich gegenwärtig notwendige psychische Mechanismen verstehen. Viele dieser Verhaltensweisen, die wir nun als Symptome respektieren lernen, dienen der Überdeckung oder auch Überbauung des Abgrundes. Wenn wir das so mittragen können und gleichzeitig uns bemühen, unsere eigenen „Überdeckungsmechanismen“ reflektieren, dann sind wir dem Leidenden unter Schwere und Dauer doch näher gekommen als wir am Anfang gedacht haben mögen. In vielen Fällen können wir nun die Angehörigen einfühlsamer beraten und auch den Patienten doch in seiner öden Landschaft eine Weile oder auch länger begleiten, ohne im Sog zu zerfallen. Wir können ihn unterstützen, mit der Krankheit zu leben und stoßen ihn nicht mehr in die einsame Kälte eines unrealistischen Heilungsanspruchs. An dieser Stelle möchte ich an die Äußerung von Daniel Hell aus Zürich erinnern: „Die Psychotherapie der Schwerkranken ist die Nagelprobe der Psychotherapie in der Psychiatrie“. Es wird auch deutlich was damit gemeint ist, wenn gesagt wird – wie im Briefwechsel zwischen Freud und JUNG „ Wir lernen von den Schwerkranken am meisten“. Im Umgang mit schwerkranken Psychosen – das gilt für die Einzel- wie für die Gruppentherapie – unterzieht sich der Psychosen-Therapeut einem Lernprozess, in dem er mehr und mehr chaosfähig werden kann, er gewinnt Einblick in das, was psychodynamisch als das primär Prozesshafte bezeichnet wird. Wobei, genau genommen, dieser Begriff etwas rein Psychodynamisches meint, wohingegen die Vorgänge bei schizophrenen Psychosen etwas Somatopsychodynamisches darstellen und der eben genannte Begriff sich nur auf einen Teilaspekt des Erlebens des chronisch Kranken bezieht. Der chaosfähige Therapeut kann in der Therapie für den Schwerkranken zum Kristallisationskern der Kohäsion werden, sowohl beim Einzelnen als auch in der Gruppe, damit bietet er der Desorganisation und der Fragmentierung im Kranken ein Gegengewicht an, das bildlich mit einem Magnet für deren innere Kohärenzbildung verglichen werden kann. Damit sollen einige Hinweise gegeben sein, wie derjenige, der mit Schwerkranken, insbesondere schwer psychotisch Kranken, umgeht, doch zu einer bleibenden Beziehung zu ihnen kommen kann und therapeutisch wirksam wird ohne sich in der Tragik des Leidens unter Schwere und Dauer aufzulösen.
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HARTWICH
Literatur Gadamer, H.-G.: Die griechische Philosophie und das moderne Denken. In: Der Anfang des Wissens. Reclam, Stuttgart 1999 Hartwich, P.: Schizophrenie. Zur Defekt- und Konfliktinteraktion. In: Böker, H. (Hrsg.) Psychoanalyse und Psychiatrie. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 2006 Hartwich, P.: Grube, M.: Psychosen-Psychotherapie. 2. Aufl. Steinkopff, Darmstadt 2003 Held, K.: Heraklit im modernen Denken: Hegel, Nietzsche, Heidegger. In: Treffpunkt Platon. Reclam, Stuttgart 1990 Hell, D.: Psychotherapie bei Schwerkranken. 4. Januarsymposion (18.1.2007) Zürich, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich. Jung, C.G.: Briefe I 1906 - 1945. Walter, Olten-Freiburg 1981 Nietzsche, F.: In Störig, H.J. Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Kohlhammer, Stuttgart 1955 Stemich Huber, M.: Heraklit, der Werdegang des Weisen. Bochumer Studien zur Philosophie 24. Grüner, Amsterdam-Philadelphia 1996
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Psychotherapeutische Langzeitbehandlung bei Dysthymie, Double Depression und chronischer Depression Einleitung In der Behandlung der schwer Kranken besteht die Nagelprobe der modernen Psychiatrie, wie D. Hell (2007) zu Recht unterstrichen hat. Eine besondere Herausforderung besteht insbesondere auch in der Behandlung der Patientinnen und Patienten mit therapieresistenten und chronischen Depressionen. Aufgrund der Ergebnisse von Querschnittsanalysen, Follow-upStudien und katamnestischen Untersuchungen ist davon auszugehen, dass 15 bis 40 % depressiver Erkrankungen einen chronischen Verlauf nehmen. Mit zunehmender Beobachtungsdauer erhöht sich die kumulative Rezidivwahrscheinlichkeit. So fand beispielsweise Keller (1999) 15 Jahre nach der ersten Indexepisode eine Rezidivwahrscheinlichkeit über 80 %. Die zunehmende Relevanz der Chronifizierung depressiver Erkrankungen ist epidemiologisch nachweisbar und wird durch die Ergebnisse der Versorgungsforschung bestätigt (Wolfersdorf et al. 1985, Kopittke 1989). Weissman und Klerman hatten bereits 1977 die Gruppe der chronisch Depressiven als „unrecognized und poorly treated“ beschrieben. Chronische Depressionen bestimmen die weitere Entwicklung eines Menschen maßgeblich, sie sind mit dessen Lebensgeschichte verknüpft und bei ihrer Bewältigung sind Partner, Familienangehörige und das weitere soziale Umfeld involviert. Der Übergang von Krankheit, verbunden mit der Vorstellung von „akut, traumatisch, behandelbar, geheilt und abgeklungen“ in „Leiden“, verbunden mit Vorstellungen von „chronisch, progredient, ungünstige somatische, psychische und soziale Prognose, lebenseinschränkend, lebensverkürzend“ ist für die Betroffenen – und auch die Behandelnden – häufig verschwommen (vgl. Wolfersdorf, Heindl 2003). Dementsprechend kann das Therapieziel nicht ausschließlich Symptomreduktion und/oder Verhaltensänderung sein, sondern muss sich an einer Langzeitperspektive orientieren, die sowohl die Persönlichkeit des Erkrankten wie auch sein Lebensumfeld miteinbezieht. Bevor der Stellenwert der Psychotherapie, hier mit dem Akzent auf die psychodynamisch orientierte Psychotherapie, in solchen notwendigerweise
BÖKER
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mehrdimensionalen Behandlungsansätzen aufgezeigt wird, soll zunächst der Begriff der chronischen Depression näher bestimmt werden. 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 0,5 1
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Abb. 1: Rezidivraten von 359 Patienten nach einer depressiven Indexepisode (Keller 1999)
Zur Definition der chronischen Depression Zur Begriffsbestimmung einer „chronischen Depression“ wurden sehr unterschiedliche Parameter herangezogen: Verlaufsparameter, Dauer und Häufigkeit depressiver Phasen, Ausgang einer depressiven Episode, Persistenz von psychopathologischer Symptomatik, soziale Konsequenzen, Psychopathologie, Hospitalisationsanzahl und -dauer (Marneros, Deister 1990, Laux 1986, Wolfersdorf, Heindl 2003). Im DSM-IV ist nach Akiskal (1995) die chronische Depression bei einer Major Depressive Disorder oder bei einer typischen depressiven Episode bei bipolar I- bzw. II-Erkankung dann anzunehmen, wenn die typische depressive Episode die vorliegenden Symptome ununterbrochen über mindestens zwei Jahre zeigt. Eine spezielle Schnittstelle der Behandlung stellt die „doppelte Depression“ („double depression“, d. h. Dysthymia in Verbindung mit einzelnen Episoden einer majoren Depression) dar.
PSYCHOTHERAPEUTISCHE LANGZEITBEHANDLUNG
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Mit dem Wechsel von ICD-9 zu ICD-10 entfiel die nosologische Einheit „neurotische Depression“ (ICD-9: F30.4). An ihrer Stelle wurde „Dysthymia“ (ICD-10: F34.1) eingeführt: Diese wird – ohne den früheren komplexen neurosennosologischen Kontext – als lang anhaltende depressive Störung ohne deutliche Remission und mit schwankendem Symptombild mit einem Zeitkriterium (zwei Jahre Mindestdauer) definiert. Die „Dysthymia“ stellt einen Sammeltopf für verschiedene depressive Störungsformen dar, die das gemeinsame Merkmal der Chronizität aufweisen, aber ansonsten hinsichtlich des klinischen Bildes, ihrer neurobiologischen Korrelate und der Therapieergebnisse sehr heterogen sind (Stefanis, Stefanis 1999). Es bestehen Schnittflächen mit der früheren „depressiven Neurose“, der depressiven Persönlichkeit, der depressiven Charakterstruktur und dem depressiven Temperament. Ferner werden auch chronisch depressive Störungen unterhalb der Schwelle zur typischen depressiven Episode dazugerechnet; das Hauptkriterium ist jeweils die zwei-Jahres-Dauer. Diese diagnostisch unbefriedigende Situation ist nicht zuletzt auch nachteilig für Therapiestudien mit dem Einschlusskriterium „Dysthymia“, die nur begrenzt aussagefähig und insbesondere im Hinblick auf die Indikation und die Verlaufsuntersuchungen psychotherapeutischer Behandlungen von geringem Aussagewert sind. Kocsis (2000) unterscheidet vier typische Formen einer chronischen Depression: Dysthymia, double depression, chronische typische depressive Episode sowie rezidivierende depressive Störungen mit inkompletter Besserung zwischen den Episoden. Etwa drei Viertel aller Menschen mit einer Dysthymia haben zumindest eine typische majore depressive Episode, bei etwa einem Viertel aller an einer majoren Depression Erkrankten findet sich auch eine Dysthymie. Die Dysthymie tritt also selten allein, meistens mit einer aufgesetzten typischen depressiven Episode im Sinne der doppelten Depression auf. In einer klinischen Sicht stellen eine episodenüberdauernde depressive Kernsymptomatik, die länger als zwei Jahre anhält, der Verbleib von Restsymptomen nach Episodenremission (partielle Response auf Therapie), eine partielle Symptombesserung mit rascher Dekompensation, eine episodenüberdauernde Selbstunsicherheit (als Ausdruck einer prämorbiden Persönlichkeit, einer depressiven Persönlichkeitsstörung oder als Folge wiederholter depressiver Episoden?) Subtypen der „chronischen Depression“ dar (Wolfersdorf, Heindl 2003, vgl. Abb. 2).
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Chronische Depression •
Dysthymia (sog. neurotische Depression, schwankender Verlauf und unterschiedliche Ausprägung der Symptomatik/Schwere)
> 2 Jahre Zeit
Schweregrad LE
LE
LE
> 2 Jahre Zeit
•
„double depression“ (= Dysthymia und einzelne majore depressive Episoden: doppelte Depression)
LE
LE
Dysthymia
MD/ depr. Episode
> 2 Jahre Zeit
LE
•
Chronische depressive Episode (= typische depressive Episode, länger 2 Jahre)
•
Depressive Entwicklung (langfristige Belastungsreaktion, konstanter Prozess der Verschlechterung)
> 2 Jahre Zeit LE
LE
> 2 Jahre Zeit
•
Posttraumatische Belastungsstörung (mit depressiver Wesensänderung)
Abb. 2: Subtypen der „chronischen Depression“ aus klinischer Sicht (LE = Lebensereignis) (vgl. Kocsis 2000, Wolfersdorf, Heindl 2003)
PSYCHOTHERAPEUTISCHE LANGZEITBEHANDLUNG
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Differentialdiagnostisch sind bei einer chronischen Depression psychische und/oder somatische Komorbidität (Persönlichkeitsstörungen, andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung oder bei chronischem Schmerzsyndrom, schizophrene oder andere nicht-schizophrene wahnhafte Erkrankungen, Abhängigkeitssyndrom und dementielle Erkrankungen) zu berücksichtigen. Die Häufigkeit und Bedeutung der depressiven Symptomatik im Rahmen körperlicher Erkrankungen wurde durch die Untersuchungen von Preskorn (1997) bestätigt: So wurden schwere depressive Störungen bei 25 bis 38 % der Menschen mit soliden Tumoren im Endstadium gefunden, bei 27 bis 35 % der Patienten mit einem Schlaganfall, bei 5 bis 22 % der an Nierenerkrankungen Leidenden, bei 35 bis 50 % der Patienten mit chronischen Schmerzen (!), bei 20 bis 30 % Epilepsie-Kranken, bei 30 bis 50 % der Patienten mit einem Morbus Parkinson, bei 20 % der Menschen nach einem Herzinfarkt und bei jedem zehnten Diabetiker. Somatische und psychische Komorbidität sind stets auch Faktoren, die chronische Verläufe von nicht-chronischen trennen und Prädiktoren für eine Chronifizierung darstellen können. Diese prognostisch ungünstigen Faktoren können in der akuten Depression u. a. auch eine so genannte Therapieresistenz – ein unzureichendes Ansprechen auf die aktuell verwendete Behandlungsmethode – begründen. Die chronische Depression ist differenzialdiagnostisch von einer therapieresistenten Depression abzugrenzen: Therapieresistenz bedeutet NichtAnsprechen der depressiven Symptomatik in der Indexepisode auf eine definierte Therapie, die entsprechend den jeweiligen Behandlungsempfehlungen durchgeführt worden ist. Zu berücksichtigen ist die jeweilige Behandlungsmethode (Antidepressiva, Psychotherapie oder weitere Interventionen). Im Bereich der Psychopharmakotherapie ist Therapieresistenz definiert als Ausbleiben einer mindestens 50 %-Symptomremission nach Gabe zweier chemisch verschiedener Antidepressiva, nacheinander in ausreichender Dosierung (jeweils drei bis vier Wochen in oraltherapeutischer Dosis mit Serumspiegel über Schwellenwert, bei gesicherter Compliance). Bei Verdacht auf eine therapieresistente Depression muss auch eine „Pseudoresistenz“ (ca. 40 bis 50 % aller so genannten therapieresistenten Patienten!) erwogen werden: Die Ursachen einer „Pseudoresistenz“ bestehen in einer Unterbehandlung (zu kurze Behandlung, inadäquate medikamentöse Behandlung u. a. mit zu niedriger Dosierung, fehlender Einsatz einer Psychotherapie) und einer somatischen und/oder psychiatrischen Komorbidität.
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„Therapieresistenz“ lässt sich im Rahmen psychotherapeutischer Interventionen weniger leicht definieren; als Faktoren der Therapieresistenz sind die gewählte Psychotherapie-Methode, die therapeutische Kompetenz der Behandelnden, die Frequenz der Therapiesitzungen, die eventuell notwendige Einzelpsychotherapie (anstelle der Gruppenpsychotherapie), die Abwägung zwischen dem Einsatz von Entspannungsmethoden versus aktivierendem Ansatz und nicht zuletzt die Unterlassung der Einbeziehung von Angehörigen zu berücksichtigen. Von wesentlicher Bedeutung ist die „Passung“ von Patient und Therapeut als wesentliche Grundlage der Entwicklung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung. Auch können sich interaktionelle Faktoren (in Partnerschaft und Familie) als blockierend erweisen und eine autonome Entwicklung des jeweiligen depressiven Patienten erschweren. Soziale Rahmenbedingungen (Arbeitsplatzverlust, lang anhaltende Arbeitslosigkeit, plötzlicher Verlust des Partners, schwere Erkrankungen im familiären Umfeld oder auch eine drohende Ausweisung im Rahmen der Migrationsproblematik) können wesentliche Hemmnisse psychotherapeutisch zu befördernder Entwicklungsprozesse sein.
Depressionen als Psychosomatosen der Emotionsregulation Als hilfreiche Orientierung bei der Durchführung psychotherapeutischer Interventionen erweisen sich Depressionsmodelle, die davon ausgehen, dass chronische Depressionen Folge des Zusammenspiels unterschiedlicher biologischer, psychischer und sozialer Faktoren sind. Das Modell der Depression als Psychosomatose der Emotionsregulation berücksichtigt insbesondere Wechselwirkungszusammenhänge bei der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Syndrome (vgl. Böker 1999, 2008). Eine solche zirkuläre Sichtweise der bio-psycho-sozialen Dimensionen der Depression kann wesentlich zu einer therapeutischen Haltung beitragen, die dem personalen Aspekt depressiven Erlebens im jeweiligen Einzelfall gerecht wird. Das Modell der Depression als Psychosomatose der Emotionsregulatioin (ursprünglich von Mentzos 1991, als Psychosomatose der StimmungsAntriebssysteme beschrieben) geht davon aus, dass prädisponierende biologische Faktoren nicht nur bereits von Geburt oder früher Säuglingszeit an vorhanden sind, sondern auch direkt oder indirekt an der psychischen Entwicklung beteiligt sind (vgl. Engel 1980). In dieser systemtheoretischen, zirkulären Perspektive kann eine konstitutionelle, relativ geringfügige Störung unter den Bedingungen eines bestimmten Milieus und einer bestimmen
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psychosozialen Konstellation zur Entwicklung einer psychischen Struktur beitragen, die mit intrapsychischen Konflikten und Spannungen einhergeht und in einem längeren Prozess zu nun mehr sekundären, u. U. auch zusätzlichen somatischen Veränderungen und Störungen führt. Die somatische Disposition kann im Verlauf der weiteren Entwicklung eine biographische, seelische und soziale Bedeutung erlangen. Psychische und somatische Faktoren stehen gerade auch bei der Entwicklung einer chronischen Depression in einem Wechselwirkungszusammenhang. Subjektiv Erfahrenes (z. B. wiederholte Kontrollverlusterfahrungen, Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts wiederholten Scheiterns) tragen zu einer Veränderung des neurobiologischen Substrates bei. Die Depressionsforschung hat inzwischen eine Vielzahl von biologischen und neurobiologischen Befunden nachgewiesen, die mit Hilfe des Modells der Depression als Psychosomatose der Emotionsregulation auch auf die Ergebnisse der psychologischen und psychoanalytischen Depressionsforschung bezogen werden können.
Vulnerabilität gemischte biologische und psychosoziale Persönlichkeit
Lebensereignisse
Depressiver Affekt signalisiert drohenden oder eingetretenen intrapsychischen Stillstand („Deadlock“ , Gut 1989) Psychobiologische Stressreaktion Dysbalance zwischen Stressachse, serotonergem System und Wachstumsfaktor Präfrontale kortikale Dysfunktion Negative affektive Tendenz Stimmungsabhängige Erinnerung Aktivierung des autonomen Nervensystems
Produktive Änderung Depressives Syndrom
Abb. 3: Depression als Psychosomatose der Emotionsregulation
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Es besteht weitgehende Übereinstimmung darin, dass bei Depressionen neben biologischen Prädispositionen (Genetik, biologische Traumata) frühe Beziehungserfahrungen (mangelnde Reziprozität, gescheitere Intentionalität, mangelnde Kontingenzerfahrungen, psychische Traumatisierung im Sinne von Deprivation und/oder Missbrauch) in Verbindung mit der sich entwickelnden Persönlichkeit wesentlich zur Disposition zu Depression beitragen. Neben der „gemischten biologischen und psychosozialen Vulnerabilität“ und der sich entwickelnden Persönlichkeit tragen im weiteren Verlauf sowohl biologische Ereignisse wie auch Lebensereignisse (aktuelle chronische Belastungen, Verlust, Rollenkonflikte) in Verbindung mit Adaptationsprozessen (biologisch: u. a. Änderung der Rezeptor-Struktur, Überempfindlichkeit für erregende Neurotransmitter, emotional-kognitive Dissoziation, Scheitern dysfunktionaler Bewältigungsversuche) zum Auftreten der unterschiedlich ausgestalteten depressiven Syndrome bei (vgl. Böker 2005). Empirisch gesicherte Vulnerabilitäts- und Risikofaktoren (vgl. Wittchen et al. 2000) sind: • Weibliches Geschlecht • Familiengenetische Faktoren • Neurologische Veränderungen (gestörte Signalübertragung zwischen Neuronen) • Neuroendokrinologische Störungen • Störungen der Schlaf-Wach-Regulation • Dysfunktionale Denkstile • Vorangehende Angsterkrankungen • Abhängigkeit von psychotropen Substanzen • Vorliegen bestimmter körperlicher Erkrankungen (z. B. chronische Syndrome) • Akute und chronische psychosoziale Stressbelastungs-Faktoren (z. B. Trennungssituationen, Arbeitslosigkeit, Lebenskrisen, Verlusterlebnisse, Einsamkeit). Psychodynamisch relevante Auslösefaktoren haben überwiegend den Charakter von Trennung und Verlust (in Partnerschaft, Familie, Beruf) und der daraus sich ergebenden Notwendigkeit der Anpassung an die veränderte Situation.
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Tellenbach (1976, 1988) hatte bereits darauf hingewiesen, dass sich der „Typus melancholicus“ durch ein besonderes Beharrungsvermögen, durch lange Anpassungszeiten und durch eine geringe Fähigkeit, rasch auf Veränderungen zu reagieren, auszeichnet. Das Zurückbleiben hinter notwendigen Entwicklungsschritten (Remanenz) und das Eingeschlossensein in vorhandene Ordnungsstrukturen und Bezüge, deren Überstieg schwierig wird (Inkludenz), tragen dazu bei, dass der Depressive den eigenen Anforderungen stets etwas schuldig bleibt und die zwischenmenschlichen Beziehungen durch Überangepasstheit, verbunden mit Verletzbarkeit und starkem Angewiesensein auf Anerkennung und Wertschätzung, gekennzeichnet sind. Diese Zusammenhänge erweisen sich insbesondere auch im Hinblick auf die Entwicklung chronischer depressiver Störungen von Bedeutung. Dysfunktionale Denkmuster, Interaktionsstile, negative Kindheitserfahrungen und das Nicht-Vorhandensein sozialer Unterstützung sind wesentliche psychosoziale Risikofaktoren für chronische Verläufe (Lara, Klein 1999). Die Untersuchungen von Keller (1997) unterstrichen die Bedeutung von Lebensereignissen auf den Verlauf depressiver Störungen. Es zeigte sich deutlich, dass belastende Lebensereignisse vor der stationären Aufnahme prognostische Bedeutung für den nachstationären Verlauf haben und dass belastende Lebensereignisse im nachstationären Zeitraum ebenfalls signifikant mit Rückfällen verknüpft waren. Der Einfluss von moderierenden Variablen (Geschlecht, Diagnose oder Anzahl früherer depressiver Episoden) war dabei insgesamt als gering einzuschätzen. Die Ergebnisse der Verlaufsforschung (vgl. Wolfersdorf, Heindl 2003) unterstreichen, dass einerseits eine ausreichende symptomatische Besserung, andererseits ausreichend vorhandene Bewältigungsstrategien für mehr oder minder schicksalhaft eintretende Lebensereignisse sowie Zufriedenheit, Bewältigungsfähigkeit und auch Reduktion objektiver sozialer Belastungen sich positiv auf den Verlauf auswirken. Im Hinblick auf die längerfristige Psychotherapie chronisch depressiv Erkrankter ergibt sich dementsprechend die Notwendigkeit, die Einzelpsychotherapie in ein mehrmodales Behandlungskonzept einzubetten, das insbesondere auch das Beziehungs- und Arbeitsumfeld der Betreffenden berücksichtigt und mit einer angemessenen Psychopharmakotherapie verbunden wird. Als negative Prädiktoren bei älteren Patienten (über 60 Jahre) erwiesen sich unabhängig voneinander das Vorliegen einer körperlichen Erkrankung und der Persönlichkeitsfaktor Neurotizismus (Lyness et al. 2002). Als Prädiktoren für Chronizität fanden sich ferner ein früher Krankheitsbeginn, das Vorliegen eines Suchtmittelmissbrauchs und eine komorbide Persönlichkeits-
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störung (Trivedi, Kleiber 2001) und eine unvollständige Symptombesserung (Mueller et al. 1999). Bereits seit längerem ist bekannt, dass in den Familien chronisch Depressiver – im Vergleich mit denjenigen rezidivierender Depressiver – signifikant häufiger ebenfalls depressive Störungen und eine Reihe von Belastungsfaktoren (zahlreiche Todesfälle, Behinderungen, zusätzliche körperliche Faktoren, sekundärer Sedativa- und Alkoholmissbrauch) vorhanden sind (Akiskal 1982). Bei chronisch Depressiven wurde signifikant häufiger Noncompliance für Psychotherapie und Psychopharmakotherapie und vermehrte Behandlungsabbrüche festgestellt (HübnerLiebermann et al. 2001).
Ziele der Psychotherapie Die Circuli vitiosi der Depression Alle Psychotherapie-Verfahren, die empirisch belegte Behandlungserfolge aufgewiesen haben, greifen in der einen oder anderen Weise am selben Punkt an: An der Tendenz depressiver Menschen, sich selbst in Frage zu stellen und sich hilflos-ausgeliefert zu fühlen. Dementsprechend besteht ein wesentliches Ziel psychotherapeutischer Depressionsbehandlung – insbesondere auch bei chronischer Depression – darin, die intrapsychischen, interpersonalen und kommunikativen Teufelskreise der Depression aufzulösen (vgl. Mentzos 1995, Böker 2003). Der Abbau des negativen Selbstkonzeptes depressiver Menschen gelingt am ehesten, wenn von den momentanen depressiven Blockaden ausgegangen und im Gespräch herausgefunden wird, was den Patientinnen und Patienten trotz ihrer Einschränkung noch möglich ist (z. B. gestufte Aktivierung im verhaltenstherapeutischen Ansatz). Die negative Sicht der eigenen Person, der Umwelt und der Zukunft wird in der kognitiven Psychotherapie hinterfragt (Beck 1976, Hautzinger 1991, 2003). Positive Erfahrungen liegen insbesondere auch für die kognitive Verhaltenstherapie depressiver Störungen im Alter vor (Hautzinger 1999, 2000). Die Verhaltenstherapie für diese Zielgruppe ist ein systematischer Versuch, durch Einsatz einer Reihe von therapeutischen Methoden und Strategien, Handlungsspielräume zu erweitern, auf notwendige Selektion von Zielen und Ansprüchen, auf die Optimierung vorhandener Ressourcen und die Kompensation möglicher Defizite hinzuwirken.
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Rückzug
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Anklammerung
↓
↓
Abnahme des Selbstwertgefühls
Abnahme des Selbstwertgefühls
Kognition Depressiver Affekt Partnerschaft und Kommunikation
Schuldgefühle
Fokus nach innen
↓
Gegenseitige Verunsicherung
↓ Zunahme der aggressiven Spannung
Dysfunktionale Kognition
↓
Blockierte Kommunikation
↓
Spannung, Lähmung Subjektiver Ausdruck
↓
Psychomotorik
↓
verzerrte Körperwahrnehmung
↓
Subjektiv als adäquate Ausdrucksgebung erlebt: Fixierung der Depression
Selektive Wahrnehmung Kodierung und Bewertung
Psychosomatische Zirkularität
↓ Zunahme der Blockade durch autonomes Mitschwingen neuronaler Systeme
Abb. 4: Circuli vitiosi der Depression: Foki der Psychotherapie, vgl. Mentzos 1995, Böker 2003
Spezifisch für die chronische Depression wurde das „Cognitive Behavioral Analysis System of Pychotherapy“ (CBASP) entwickelt (McCullough 2000, 2003, 2006). In diesem Ansatz werden behaviorale, kognitive und interpersonelle Strategien integriert. Das CBASP erwies sich als gleich wirksam wie die Pharmakotherapie (mit Nefazadone); die Kombination beider Verfahren war weitaus wirksamer als die beiden Monotherapien (Keller et al. 2000). Die Remissionsraten lagen bei 33 % für CBASP, bei 29 % für das Antidepressivum und bei 48 % für die Kombinationstherapie. Patienten mit Kindheitstraumata (körperlicher oder sexueller Missbrauch, früher Elternverlust, familiäre und soziale Vernachlässigung) profitierten besonders von CBASP. In dieser Gruppe war die medikamentöse Behandlung deutlich weniger wirksam, während die Kombinationstherapie kaum besser als CBASP-Monotherapie abschnitt (Nemeroff et al. 2003). Das CBASP ist speziell auf die Erfordernisse bei ambulanten, chronischdepressiven Patienten zugeschnitten und bisher – mit oder ohne zusätzli-
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che Pharmakotherapie – lediglich in dieser Patientengruppe überprüft worden. Eher ungeeignet ist dieser Ansatz bei Depressionen mit psychotischen Symptomen sowie bei bipolaren Störungsbildern. Die interpersonelle Psychotherapie der Depression versucht, depressiv Erkrankte darin zu unterstützen, die Verbindung der aktuellen Gefühlslage mit dem Beziehungsnetz der Betroffenen erfahrbar zu machen (Klerman et al. 1984, Schramm 1996). Schwerpunkte sind dabei mögliche pathologische Trauerreaktionen nach persönlichen Verlusten (oder auch nach Verlusten sozialer Rollen) und die günstigere Bewältigung interpersoneller Konflikte. Die interpersonelle Psychotherapie (IPT) ist als Kurztherapie konzipiert, kann aber auch bei rezidivierender depressiver Störung in eine niederfrequente Erhaltungstherapie übergeleitet werden. Psychoedukative Elemente, wie die Information über depressive Erkrankungen und deren Behandlung, sind wesentliche Bestandteile in den unterschiedlichen psychotherapeutischen Settings. Sie tragen wesentlich zu einer Entlastung depressiv Erkrankter bei. In kontrollierten Studien konnte gezeigt werden, dass durch psychoedukative Programme das Wissen der Patienten über die Erkrankung vergrößert werden und u. a. auch die MedikamentenCompliance erhöht werden konnte (Rush 1999). Psychoedukative Gruppenprogramme für Angehörige können ferner dazu beitragen, dass durch diese Informationsgruppe auch die Einstellung der Angehörigen gegenüber Patienten und Erkrankung sich positiv verändert (Kronig et al. 1995, Kronmüller et al. 2006). Bei den tiefenpsychologischen Verfahren (psychodynamisch orientierte bzw. psychoanalytische Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) wird davon ausgegangen, dass sich in der aktuellen Begegnung zwischen Patient und Therapeut konflikthafte, teilweise unbewusste Konstellationen abbilden, die in der Lebensgeschichte der Betreffenden von großer Bedeutung waren (Übertragungs- und Gegenübertragungskonstellation). Bei der chronischen Depression ist zu berücksichtigen, dass konfliktuöse Beziehungsmuster sowohl auf der Ebene der partnerschaftlichen Beziehungen wie auch auf der Ebene der so genannten internalisierten Objektbeziehungen häufig überlagert sind durch die Folgen langjähriger dysfunktionaler Bewältigungsstrategien (z. B. soziale Rückzugstendenzen) wie auch durch die Folgen der interagierenden somato-psychischen-psychosomatischen Dimension der Depression (z. B. kognitive Störungen). Die Auswirkungen dieser somato-psychischen-psychosomatischen Circuli vitiosi entziehen sich zunächst dem direkt deutenden Zugang (wie im klassischen psychoanalytischen Setting). Im Dialog zwischen Patient und Therapeut
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werden schließlich neue Erfahrungen ermöglicht, die zum Abbau von defensiven Barrieren und bisherigen ungünstigen und leidvollen Bewältigungsmechanismen beitragen (vgl. Böker 2005, Mentzos 1995). Das therapeutische Vorgehen ist auf mehreren Ebenen angesiedelt (vgl. Schauenburg et al. 1999) und berücksichtigt in einem gestuften Vorgehen zunächst den Kernkomplex depressiver Symptome (Selbstvorwürfe, Suizidalität, Antriebshemmung, Rückzugsverhalten und somatische/vegetative Beschwerden). Die Behandlung der chronischen Depression lässt sich zunächst als „Umweltfürsorge“ im Sinne Winicotts charakterisieren: Grundlage der für den depressiv Erkrankten bedeutsamen empathischen Begleitung und der erlebbaren emotionalen Resonanz ist eine dem depressiv Erkrankten akzeptierende stets auch die eigene Gegenübertragung berücksichtigende psychotherapeutische Haltung. Dabei kann ein psychodynamisches Verständnis der Depression und der sich entwickelnden „Handlungsdialoge“ in der therapeutischen Begegnung schon frühzeitig zu einer konstruktiven Gestaltung des Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehens herangezogen werden. Das psychodynamische Modell der Depression beschreibt insbesondere die Entstehung und Entwicklung einer Persönlichkeit mit einer erhöhten Vulnerabilität, vor allem im Bereich der Regulation der narzisstischen Homöostase (vgl. Mentzos 1995, Böker 1999), Bei einer auf Leistung und Anerkennung festgelegten Persönlichkeit führen Frustration und Kränkung durch Versagung und Verlust zur Entwicklung eines instabilen, negativen Selbstwertgefühls. Angesichts des depressiven Dilemmas, sich selbst wertschätzen zu können in der Begegnung mit dem geliebten anderen, entwickeln sich Abwehr- und Bewältigungsversuche zu zunehmend einengenden Circuli vitiosi (Abb.4: z. B. Abhängigkeit in Beziehungen, Überanpassung, Aggressionshemmung oder auch eine grandiose Verzichtsideologie mit zunehmendem sozialem Rückzug). Erst nach Abklingen der körperlichen Erstarrung ist es oft erst möglich, die prämorbiden depressiven Strukturen und Grundkonflikte zu bearbeiten (Übersicht bei Mendelson 1974, Arieti und Bemporad 1983, Rudolf 1996, Böker 2005). Im weiteren Verlauf zielt die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie darauf, unter verstärktem Einbezug des biographischen Hintergrunds, der verinnerlichten Beziehungen zu wichtigen anderen Personen und unbewusster Konflikte überhöhte Selbstansprüche (hohes Ich-Ideal), Selbstzweifel (Wendung der Aggression gegen das eigene Selbst), Schuldgefühle (strenges, rigides Über-Ich), die Tendenz zu Abhängigkeit (Idealisierung, Trennungsängste, Abhängigkeitsscham, Trennungsschuld) bzw. zu
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forcierter Autonomie (regressive Aktualisierung des grandiosen Selbst in der Manie) zu bearbeiten. Neben den Deutungen der überwiegend unbewussten Dynamik und der Übertragung tragen insbesondere die neuen Erfahrungen im „Hier und Jetzt“ der therapeutischen Beziehung zu einem Abbau defensiver Abwehr- und Bewältigungsstrategien und habitueller Bindungsmuster bei. Im Hinblick auf die Überwindung von chronifizierungsfördernden Haltungen ist es im Rahmen der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie von Bedeutung, individuationsfördernde Schritte einzuleiten, die insbesondere bei Vorliegen einer chronischen narzisstisch-gekränkten Haltung oder bei Vorhandensein einer „fordernden Abhängigkeit“ (demanding dependency, vgl. Arieti und Bemporad 1983) auch mit schmerzhaften Erfahrungen seitens des Patienten einhergeht. Es kann sehr wichtig sein, Patienten rechtzeitig auf solche schmerzhafte Trennungsschritte innerhalb des therapeutischen Prozesses hinzuweisen. Zusammenfassend ist die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie, wenn sie nicht dezidiert als Kurzzeittherapie angewandt wird, über einen längeren Zeitraum angelegt. Zur Orientierung eignen sich vier ambulante Therapie-Settings (vgl. Mentzos 1995, Böker 2000); für die chronische Depression sind insbesondere Setting A, B und D geeignet: Setting A: Niedrige Sitzungsfrequenz (z. B. Abstände von 2 - 4 Wochen über viele Jahre). Die konstant akzeptierende, relativ „distanzierte“ therapeutische Haltung trägt zu der neuen Erfahrung schuldfreier Autonomie und einer schamfreien Bindung an das Objekt bei. Setting B: Mittlere Sitzungsfrequenz (zumeist eine Wochenstunde). Inhaltliche Schwerpunkt: Aktuelle Konflikte (z. B. Partnerschaft, Beruf). Zunächst keine, später gelegentliche Deutung der Übertragung unter Berücksichtigung der Biographie. Zur Therapeutischen Haltung: Es ist von Bedeutung, dass die PsychotherapeutInnen die Ambivalenz im Beziehungserleben der depressiv Erkrankten reflektieren und bei ihren Interventionen berücksichtigen. Setting C: Höhere Sitzungsfrequenz (2 - 3 Wochenstunden). Bearbeitung der persönlichkeitsstrukturellen Komponente der depressiven Erkrankung, insbesondere bei Dysthymie (der neurotischen Depression in der traditionellen Terminologie) und ausgeprägter narzisstischer Problematik. Deutung der Übertragungsbeziehung.
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Evidenzerleben der Patientinnen und Patienten: Die Wertschätzung des anderen bleibt auch trotz der spürbar gewordenen Aggression und Abgrenzung erhalten. Setting D: Ambulante Gruppenpsychotherapie (1,5 Wochenstunden). Bewältigung und Prophylaxe der Erkrankung bei langen Krankheitsverläufen, inkl. psychoedukativer Elemente. Steigerung der sozialen Kompetenz im interaktionellen Erfahrungsaustausch der Gruppenmitglieder. Multilaterale Übertragungen: Erfahrung und Auflösung sozialer Circuli vitiosi in der aktuellen Gruppensituation. Schrittweise Bearbeitung des ambivalenten Wunsches nach dem „IdealObjekt“ (im längeren Therapieverlauf). Für die Indikation und Auswahl des therapeutischen Settings müssen die üblicherweise bei der Indikation psychotherapeutischer Interventionen herangezogenen Kriterien (Leidensdruck, Motivation, Introspektionsfähigkeit, Schwere und Dauer der Erkrankung, Persönlichkeitsstruktur) abgewogen werden. Indikationen zu einer langfristigen niederfrequenten Psychotherapie, in Analogie zur medikamentösen Behandlung auch als Erhaltungspsychotherapie bezeichnet (Schauenburg, Clarkin 2003), sind: • Erhebliche Restsymptomatik zu Therapieende (z. B. Schlafstörungen) • Zurückliegende rasche Rückfälle nach Therapieende • Mehr als drei eindeutige vorherige Episoden • Erste Episode sehr schwer und vor dem 20. Lebensjahr • Ausgeprägte Persönlichkeitsstörung • Ausgeprägte Ängstlichkeit und Scham, soziale Ängste • Soziale Isolierung • Belastende Lebensumstände (Armut, allein erziehend, Gewalt, Krankheit, etc.) • Ausdrücklicher Wunsch des Patienten. Benedetti (1987) hat vier Behandlungsphasen für die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie depressiv Erkrankter beschrieben:
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1. Phase der Abwehr und Betonung der eigenen Hilflosigkeit auf Seiten des Patienten; therapeutischerseits partizipartiv ermutigende Zuwendung. 2. Phase der teilweisen Einsichtsnahme durch den Patienten, von Therapeutenseite schrittweise Aufdeckung des Grunddramas, d. h. des bedrohlich erlebten Verlustes. 3. Phase der allmählichen Bewusstwerdung des „eigenen Beitrags zur Depression“ auf Patientenseite, therapeutischerseits Deutung des abhängigen, selbstverleugnenden Verhaltens des Patienten. 4. Phase der Projektion und Lösung, d. h. der Therapeut wird zunächst zum dominierenden Partner, um sich dann zum „signifikanten Partner“ zu entwickeln unter Bearbeitung von Aggressionen auf der Ebene der Übertragungsbeziehung. Bei der Durchführung der Psychotherapie ist zu berücksichtigen, dass die zur Chronifizierung beitragenden Faktoren auch einen Teil der Dynamik innerhalb der therapeutischen Beziehung bestimmen können. Therapie könne dann chronisch werden und unnötig lang dauern, wenn Patient und Therapeut auf einer der genannten Ebenen „hängen bleiben“ (vgl. Wolfersdorf, Heindl 2003, S. 73), d. h. in der Hilflosigkeit des Patienten und dessen Angewiesensein auf Zuwendung, in der „Klage … über den drohenden Verlust, in der Verleugnung des eigenen Beitrages und der Weigerung zur Übernahme autonomer Verantwortung und in der Beibehaltung einer abhängigen Beziehung des Patienten zum Therapeuten, in der Loslösung nicht möglich wird….“ (S. 73). Dementsprechend hatte Mentzos (1995) im Hinblick auf eine geeignete therapeutische Haltung empfohlen, „den oralen Hunger des Patienten verständnisvoll zur Kenntnis zu nehmen und sogar auch zu benennen, ihn jedoch nicht direkt „fütternd“ zu befriedigen“. In dem schmerzlichen Prozess der Trennung (von sehnsuchtsvoll gesuchten, „umklammerten“ anderen oder auch von eigenen Größenphantasien) erfährt der Depressive – oftmals zum ersten Mal – die narzisstische Zufuhr eines spontanen und natürlichen „Angenommenwerdens“. Ein wesentlicher Fokus der Behandlung besteht darin, den sequentiellen Prozess des Hineingeratens in einen Zustand der Erschöpfung und zunehmenden Erstarrung unter Berücksichtigung aktueller und früherer Beziehungs- und Konfliktmuster zu bearbeiten. Die dilemmatische Verknüpfung von Anlehnungswünschen und Autonomiewünschen mit gleichzeitigen Verlustängsten und Schuldgefühlen wird innerhalb der Übertragungsbeziehung unmittelbar erfahrbar.
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Trotz der erfolgreichen Bearbeitung depressionsfördernder psychodynamischer Zusammenhänge und maladaptiver Bewältigungsversuche können sich spezifische behandlungstechnische Probleme der Depressionsbehandlung einstellen (Böker 2005). Diese bestehen in der möglichen „präsymbolischen Affektansteckung“ (Erleben von Hilflosigkeit und Resignation im Therapeuten, gelegentlich verbunden mit einer unbewussten aggressiven Ablehnung), einer möglichen partiellen temporären Entkopplung von psychischem Prozess und manifester Symptomatik (Verstärkung der depressiven Symptomatik, z. B. bei geringfügigen von außen gar nicht mehr erkennbaren Reizen auf der Grundlage einer Vulnerabilität oder „Narbenbildung“, die zur Aufrechterhaltung rezidivierender depressiver Erkrankungen und chronischer Depressionen beiträgt, vgl. „Kindling Modell“, Post 1990, 1991) und durch unterschiedliche Ebenen der Symbolisierung, bei denen somatopsychische Vorgänge involviert sind.
Stand der Psychotherapie-Forschung bei chronischer Depression und aktuelle Behandlungsempfehlungen Bei Patienten mit Dysthymien, double depression und chronischer Depression wurden bisher vergleichsweise wenige Psychotherapiestudien durchgeführt (de Jong-Meyer et al. 2007). Dies ist u. a. auch Folge des in den vergangenen Jahrzehnten vorherrschenden Forschungsparadigmas, das weitgehend am Modell der Pharmaforschung ausgerichtet ist. Als Standard gilt hier die randomisierte Studie. Damit ist allerdings zumeist eine einseitige Auswahl der untersuchten Krankheitsbilder (bisher unter weitgehendem Ausschluss der chronischen Depression) und der eingesetzten Therapieverfahren verbunden (monosymptomatische Krankheitsbilder und Kurzzeittherapieverfahren). Die Ergebnisse von randomisierten Studien weisen somit oft nur eine ungenügende externe Validität auf und können nur in sehr eingeschränktem Masse auf die Bedingungen einer Versorgungspraxis generalisiert werden. Gerade auch im Hinblick auf die Erforschung der Behandlungsverläufe der chronischen Depression sind die Vorteile naturalistischer Studien, ihre größere Repräsentativität und Relevanz für die Versorgungspraxis hervorzuheben. Naturalistische Studien mit einem mehrjährigen Längsschnittdesign unter Einschluss der chronischen Depression werden derzeit an mehreren Zentren (in Zürich, Frankfurt/M. und London) durchgeführt. Markowitz (1994) fand in seinem systematischen Review zur Psychotherapie der Dysthymie, das vorwiegend unkontrollierte und nicht-randomisierte
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Studien mit zumeist kognitivem Therapieansatz einschloss, dass unter einer KVT-Standard-Behandlung (20 Sitzungen) nur bei 41 % der Patienten mit Dysthymie oder double depression eine Response erreicht wird. Psychotherapie wurde dementsprechend als ein effektives zusätzliches Behandlungsangebot bzw. als eine Alternative zu einer antidepressiven Medikation in solchen Fällen empfohlen, in denen Patienten die Pharmakotherapie ablehnen. In der Zwischenzeit liegen einige randomisiert-kontrollierte Studien zur Psychotherapie der Dysthymie mit KVT vor. Williams et al. (2000) fanden bei dem Vergleich von medikamentöser Behandlung (mit Paroxetin), der so genannten Problemlösetherapie („problem-solving treatment in primary care“) und Plazebo eine signifikant stärkere Effektivität von Paroxetin gegenüber Plazebo im Hinblick auf die Symptomreduktion (HRSD). Bei den mit Psychotherapie behandelten Patienten fand sich eine signifikant raschere Symptomverbesserung in den letzten Behandlungswochen (einer 11-wöchigen Behandlung). Unter den dysthymen Patienten verbesserte die Behandlung mit Paroxetin – anders als die Problemlösetherapie – signifikant die auf psychische Gesundheit bezogene Lebensqualität, insbesondere bei denjenigen, die bereits höhere Ausgangswerte hatten. Barrett et al. (2001) verglichen in einer ebenfalls randomisiert-kontrollierten Studie den Behandlungserfolg bei dysthymen Patienten, die 11 Wochen lang mit Paroxetin, Problemlöse-Training (nur sechs Sitzungen) oder Plazebo mit clinical management behandelt worden waren. Die Remissionsraten bei den dysthymen Patienten für Medikation (80 %) und Problemelösetherapie (57 %) waren signifikant höher als unter Plazebo (44 %). Ravindran et al. (1999) randomisierten 97 Patienten mit Dysthymie in einen von vier Behandlungsarmen: Sertralin allein, Sertralin und 12 Sitzungen Gruppen-KVT, Plazebo sowie Plazebo und KVT. Während die Kombinationstherapie aus KVT und Sertralin eine tendenzielle Steigerung des Behandlungseffekts gegenüber Sertralin allein aufwies, war die KVT-Monotherapie nicht effektiver als Plazebo. Für die Kombinationsbehandlung ergaben sich hinsichtlich der Bewältigung und der kognitiven Verzerrungen jedoch zusätzliche Effekte. Dunner et al. fanden bei der von ihnen untersuchten kleinen Stichprobe dysthymer Patienten (n = 31) keine statistisch signifikanten Unterschiede (im BDI und in der HRSD) bei dem Vergleich von Pharmakotherapie (mit Fluoxetin) und kognitiver Psychotherapie. Die Drop-out-Rate war in der Pharmakotherapie-Bedingung jedoch signifikant höher.
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Hellerstein et al. (2001) randomisierten 40 dysthyme Patienten, die auf eine 8-wöchige initiale Behandlung mit Fluoxetin partiell respondiert hatten, auf eine Weiterbehandlung mit Fluoxetin oder eine Kombination mit kognitiver Gruppentherapie, die interpersonelle Aspekte betonte. Die Kombinationsbehandlung bewirkte zum Behandlungsende eine höhere Response, bessere interpersonelle und psychosoziale Anpassung sowie geringere Depressivität (in der HRSD, jedoch nicht bei der Selbstbeurteilung mittels BDI). Miller et al. (1999) verglichen in einer weiteren randomisiert-kontrollierten Studie 26 stationäre Patienten mit double depression, die entweder pharmakotherapeutisch (mit Amitryptilin bzw. Desipramin) oder mittels einer Kombinationstherapie mit KVT über einen Zeitraum von 20 Wochen behandelt worden waren. Die Kombinationstherapie führte zu einer signifikanten Erniedrigung des Schweregrades der Depression (HRDS und BDI) und einem signifikant höheren sozialen Funktionsniveau. Allerdings bestanden diese Unterschiede zum Follow-up nach 6 bzw. 12 Monaten nicht mehr. Lediglich 38 % der Patienten blieben insgesamt symptomfrei, während 40 % derjenigen, die ursprünglich auf die Behandlung angesprochen hatten, einen Rückfall erlitten! In der randomisiert-kontrollierten Multicenter-Studie von Keller et al. (2000) wurden insgesamt 681 Patienten mit einem chronischen Verlauf der Depression (35,1 % mit chronischer depressiver Episode, 42,3 % mit double depression, 22,6 % mit inkompletter Remission bei rezidivierender Depression) eingeschlossen und mit dem Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP), dem bisher einzigen psychotherapeutischen Verfahren, das spezifisch zur Behandlung chronischer Depressionen entwickelt wurde (McCullough 2006), und/oder mit Nefazodon behandelt. Die Kombinationstherapie erwies sich der jeweiligen Monotherapie überlegen. Beide Monotherapien waren hinsichtlich der Symptomreduktion (HRSD) am Ende der Akutbehandlungsphase gleich effektiv (Response jeweils 48 %), während die Kombination beider Verfahren einen klinisch bedeutsamen additiven Effekt (73 % Response) erbrachte. Die schnellste und nachhaltigste Response und die höchsten Remissionsraten wurden mit der Kombinationsbehandlung erzielt. In einer Sekundaranalyse dieser Daten (Nemeroff et al. 2003) konnte auch eine signifikante Überlegenheit der Effektivität von CBASP bei chronisch depressiven Patienten mit einer frühen Traumaerfahrung (Missbrauch, früher Elternverlust oder familiäre Vernachlässigung) gegenüber der alleinigen Pharmakotherapie mit Nefazadon nachgewiesen werden.
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Abb. 5: Kognitive Verhaltenstherapie (CBASP) versus Pharmakotherapie bei chronisch Depressiven mit und ohne Kindheitstrauma (Nemeroff et al. 2003).
Schatzberg et al. (2005) untersuchten in einem Cross-over-Design 141 Patienten mit chronischer Depression aus der Studie von Keller et al. (2000), die unter der Monotherapie mit Nefazadon oder CBASP nicht respondiert hatten. Nach 12 Wochen zeigte sich, dass die Umstellung von Nefazadon auf CBASP mit einer signifikant verbesserten Response verbunden war (57 %), die Umstellung von CBASP auf Nefazadon erbrachte eine geringere Response (42 %). Bei denjenigen Patienten, die die Behandlung schließlich abgeschlossen hatten, wurde dieser Unterschied bei Response und Remission zum Therapieende jedoch nicht mehr signifikant. Trotz der bemerkenswerten Ergebnisse der mittels CBASP durchgeführten Studien ist die Validität und Generalisierbarkeit der Aussagen eingeschränkt, Replikationen stehen aus. Ferner bleibt abzuwarten, inwieweit sich dieses psychotherapeutische Verfahren jenseits randomisierter, kontrollierter Studiendesigns im klinischen Alltag bewähren wird. Zur Wirksamkeit der Interpersonellen Psychotherapie (IPT) bei der Behandlung der Dysthymie und double depression liegen derzeit noch keine Metaanalysen, jedoch einige randomisiert-kontrollierte Studien vor. Brown et al. (2002) zeigten anhand ihrer Stichprobe dysthymer Patienten (n = 707), dass die Gruppen mit Sertralin bzw. einer Kombinationstherapie einer al-
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leinigen IPT signifikant überlegen waren; diese Unterschiede erwiesen sich auch während der Follow-up-Untersuchungen (nach 6, 12 und 24 Monaten) als stabil. Eine Kostenanalyse belegt, dass die Inanspruchnahme anderer Gesundheits- und sozialer Dienste bei den psychotherapeutisch Behandelten gegenüber der rein medikamentösen Therapie reduziert wurde. Zu berücksichtigen ist insbesondere, dass die Dosis an Psychotherapie mit durchschnittlich 10 (maximal 12) Sitzungen sehr gering war. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten Markowitz et al. (2005), die 94 dysthyme Patienten einem 16-wöchigen Behandlungsprogramm aus entweder Sertralin, Sertralin mit für Dysthymie modifizierter IPT, IPT allein oder einer – als Kontrollbedingung gedachten – supportiven Kurzzeittherapie zufällig zuwiesen. Die Kombinationstherapie und eine alleinige Pharmakotherapie waren gleich effektiv (Responseraten: 57 % versus 58 %), auch IPT und die supportive Kurzzeittherapie unterschieden sich nicht (Responseraten: 35 % versus 31 %). Empirische Befunde zum Verlauf und Outcome psychoanalytischer Psychotherapie bei chronischer Depression liegen derzeit noch nicht vor. Gerade auch wegen des generellen Mangels an Langzeittherapiestudien sind die vorhandenen Katamnese-Studien zur Langzeitwirkung von Psychoanalysen und analytischen Therapien (Leuzinger-Bohleber et al. 2001, Sandell et al. 1999, 2001) hervorzuheben. Die Ergebnisse der Frankfurter KatamneseStudie unterstreichen den positiven Effekt einer psychoanalytischen Langzeitpsychotherapie/Psychoanalyse insbesondere auch für die depressiv erkrankten Patienten (27,1 % der Gesamtstichprobe). In der schwedischen Langzeitpsychotherapiestudie von Sandell et al. (1999, 2001) wurde nach Beendigung der dreijährigen Untersuchungsphase gezeigt, dass psychoanalytische Psychotherapie eine dauerhafte und zunehmende Symptomreduktion bewirkte. Der erzielte Behandlungserfolg war dabei nicht nur mit einer besseren Lebensanpassung, sondern auch einer relevanten Reduktion der Symptomatik verknüpft. Indikationskriterien für eine psychodynamisch orientierte Psychotherapie bei chronischer Depression basieren derzeit auf klinischer Erfahrung und u. a. auch der Auswertung von langjährigen Verläufen anhand größerer klinischer Stichproben (im Rahmen des „Frankfurter Psychose-Projektes“, vgl. Mentzos 1995, Böker 2005). Die Auswertung von Langzeitverläufen zeigt, dass die prämorbide Struktur der Persönlichkeit einen wesentlichen Einfluss sowohl auf den Verlauf der affektiven Symptomatik als auch auf die somato- und/oder psychotherapeutischen Behandlungsoptionen hat (vgl. Pflug 2002).
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Kritisch bleibt bezüglich der Interpretation der mittels RCTs bei Patienten mit chronischen Depressionen generierten Befunde anzumerken, dass die Stichproben teilweise sehr klein und die Behandlungszeiträume sehr kurz bemessen waren. Bei Patienten mit Dysthymia, double depression und chronischer Depression ist die Berücksichtigung individuell-lebensgeschichtlicher Faktoren von besonderer Bedeutung. Dementsprechend ermöglichen erst längere Therapiedauern die Aufarbeitung individueller störungsbedingender und störungsaufrechterhaltender Faktoren. Angesichts der bisherigen Studienlage wird in der S3-Leitlinie/NVL Depression, die in absehbarer Zeit veröffentlicht wird, empfohlen, bei Dysthymie, double depression und chronischer Depression solle der Patient darüber informiert werden, dass eine Kombinationstherapie mit Psychotherapie und Antidepressiva gegenüber einer Monotherapie wirksamer ist. Auch weisen die vorliegenden Studienergebnisse darauf hin, dass die Compliance bei einer medikamentösen Therapie höher ist, wenn zugleich auch eine Psychotherapie durchgeführt wird. Die Indikation zur Kombinationsbehandlung aus Pharmakotherapie und geeigneter Psychotherapie sollte vorrangig vor einer alleinigen Psychotherapie oder Pharmakotherapie geprüft werden.
Zusammenfassung und Ausblick Es kann davon ausgegangen werden, dass bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung depressiver Syndrome Wechselwirkungen der Wirk- und Auslösefaktoren (biologische Disposition, Persönlichkeit, lebensgeschichtliche Erfahrungen, aktuelle und chronische Belastungen) beteiligt sind. Angesichts dieser zirkularen Prozesse und der Bedeutung der emotionalkognitiven Interaktion lässt sich die chronische Depression als Psychosomatose der Emotionsregulation auffassen. Ferner ist anzunehmen, dass bei der Entwicklung chronisch depressiver Syndrome psychodynamische Faktoren mit funktionellen und strukturellen zentralnervösen Prozessen interagieren. Entsprechend der ätiopathogenetischen psychopathologischen, neurobiologischen und verlaufsbedingten Besonderheiten der chronischen Depression ist eine modifizierte Technik im Rahmen eines mehrdimensionalen Behandlungskonzeptes erforderlich. Die Indikationsstörung erfolgt Individuum-orientiert unter Berücksichtigung des bisherigen Verlaufes der Erkrankung, des Schweregrades und weiterer psychosozialer Variablen (z. B. Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörungen). Im Langzeittherapieverlauf ist eine sequentielle Fokusbildung erforderlich, die stets auf die in der jeweiligen Situation im Vordergrund stehende Symptomatik und Konstellation zielen
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sollte. Die dabei oftmals notwendige komplementäre Verknüpfung unterschiedlicher Therapie- und Psychotherapieverfahren ist dabei jedoch nicht gleichzusetzen mit einem polypragmatischen Einsatz von Kurztherapien. Wesentliches therapeutisches Ziel besteht in der Auflösung der defensiven Strategien und der komplizierenden, die Depression aufrechterhaltenden Circuli vitiosi. In einem langjährigen therapeutischen Prozess werden neue Beziehungserfahrungen – z. B. im Rahmen einer psychoanalytisch orientierten Psychotherapie – ermöglicht, die zu einer allmählichen Überwindung des depressiven Dilemmas (Antagonismus von Selbstwerthaftigkeit versus Objektwerthaftigkeit) beitragen. Angesichts der möglichen Psychotherapietechnischen Probleme – u. a. einer möglichen partiellen, temporären Entkopplung von psychischem Prozess und aktueller Psychopathologie – ist therapeutischerseits eine große Flexibilität, Geduld und Eingestimmtsein erforderlich. Angesichts der Studienlage wird deutlich, dass systematische Studien zur Langzeittherapie der Depression, insbesondere der chronischen Depression, dringend erforderlich sind. Im Hinblick auf die Gegebenheiten in der Versorgung von Patienten mit chronischen Depressionen empfiehlt sich ein mehrstufiges Forschungsdesign; d. h. neben prospektiven, randomisierten Studien zu störungsspezifischen Langzeitbehandlungen sind naturalistische Studien (unter Praxisbedingungen und Berücksichtigung der vielfachen psychiatrischen und somatischen Komorbidität bei chronischen Depressionen) notwendig. Die in langjährigen Psychotherapien und Kombinationsbehandlungen mit chronisch depressiv Erkrankten gesammelten Erfahrungen lassen sich in dem therapeutischen Credo zusammenfassen: „Psychotherapie mit chronisch Depressiven ist Langzeittherapie und wird sich am Einzelfall, der Person und deren Lebenssituation orientieren müssen. Die innere Einstellung dazu muss auf therapeutischer wie auf Patienten-Seite verarbeitet und positiv als Entwicklungsmöglichkeit formuliert werden. Alles andere ist erlernbare Methodik und Anwendung jeweils passender Therapieansätze – schulenübergreifend, manchmal auch unorthodox – und Erfahrung“ (Wolfersdorf, Heindl 2003, S. 161).
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Krank in der Kindheit – gesund im Alter? Wie stabil sind psychiatrische Erkrankungen, die im Kindesalter beginnen? Einleitung Die ICD-10 umfasst im Kapitel F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Dazu gehören ausagierende Verhaltensstörungen, wie das Hyperkinetische Syndrom (Aufmerksamkeits-DefizitSyndrom – ADS), ferner Störungen des Sozialverhaltens mit vorwiegend Regelverletzungen und/oder (impulsiven) Aggressionen (SSV), außerdem emotionale Störungen wie Trennungsängste, Störungen mit sozialer Ängstlichkeit oder generalisierte Angststörungen im Kindesalter. Weiter gehören hierzu der elektive Mutismus und Bindungsstörungen. Ebenfalls im Kindesalter beginnen Tic-Störungen und eine Reihe unter sonstigen Störungen eingeordnete Problemfelder, wie Ausscheidungsprobleme (Enuresis/Enkopresis), des Weiteren die Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, also frühkindlicher Autismus und atypische Formen (zum Beispiel das AspergerSyndrom). Eine Reihe anderer Störungen spielen ebenfalls im Kindes- und Jugendalter eine große Rolle, obwohl sie nicht nur im Kindesalter beginnen, wie zum Beispiel Zwangsstörungen, die im Kindesalter schon häufiger auftreten können, dann die Essstörungen wie Anorexia nervosa und Bulimie und auch gelegentlich früh auftretende Persönlichkeitsstörungen wie vom Borderline-Typus oder Störungen der Geschlechtsidentität im Kindesalter. Auch die umschriebenen Entwicklungsrückstände wie Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache und solche von schulischen Fertigkeiten (Lese- und Rechtschreibstörungen, Rechenstörungen) zählen hierzu. In einer umfassenden Übersicht hat Schmidt (2004), Störungen mit höherer Kontinuität bis in das Erwachsenenalter umfassend beschrieben. Im Folgenden sollen modifiziert und summarisch die wesentlichen Erkenntnisse daraus dargestellt werden.
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POUSTKA Tab. 1: Störungen mit höherer Kontinuität bis in das Erwachsenenalter (EA) (modifiziert nach M. H. Schmidt, 2004)
• Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) – Hyperkinetisches Syndrom (HKS) – 30 - 50 % im EA mit hohem Risiko für Substanzmissbrauch und Delinqenz bei HKS+SSV (Störung des Sozialverhaltens) • Störungen des Sozialverhaltens (SSV) – Prognose ungünstig, wenn Beginn < 10. LJ • Lahey, Loeber, Burke, 2002 • Tic-Störungen – Drittel-Regel? (ein Drittel geheilt im 2. - 3. Lebenskahrzehnt) • Cohrs, Rasch, Altmeyer,2001 • Enkopresis – Gut behandelbar (Enkopresis+Obstipation), außer mit Komorbidität (Aggressionen) • Von Gontard, 2007 • Enuresis – 1 % persistiert ins Erwachsenenalter (männlich > weiblich) – Sekundäre Enuresis in der Adoleszenz hat schlechtere Prognose und geht eher mit psychiatrischen Erkrankungen einher • Von Gontard, 2001 • Mutismus – Persistenz in die Pubertät eher auch im EA; oft „Extremform“ sozialphobischen Verhaltens • Remschmidt et al., 2001 • ReaktiveBindungsstörung – Prognose ungünstig ohne Milieuwechsel; „Quasi-autistiforme“ Störung, HKS, häufig • ERA Studie (O`Connor, Rutter) • Störung mit Trennungsängsten – Ca. 1/6 auch im EA mit Vermeidungsverhalten, Berufsprobleme und Arbeitslosigkeit • Kearney et al.,2003 • Generalisierte Angststörung, Panikstörungen – Risiko für Übergang in das EA hoch (Angststörungen und Depressionen) • Vitiello t al., 1990, Biederman, Faraone, Marras, 1997 • Zwangsstörungen – Deutliche Persitenz in das EA, besonders bei fehlender Distanzierung von den Zwängen • Wewetzer et al., 2001 • Anorexia nervosa – Ca. 25 % persistieren in das EA, Übergang zwischen 20 und 60 % in Bulimie – 0,6 % Mortalität / Jahr – Persönlichkeitsstörungen nach längerem Verlauf häufig – Langer Verlauf, geringes Gewicht, dauerhafte Körperwahrnehmungsstörung verschlechtert Prognose • Herpertz-Dahlman et al., 2001; Steinhausen, 2007
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Bulimia nervosa – 1/3 chronischer Verlauf; häufig mit Impulsivität, Substanzmissbrauch und Angst./ depressiven Störungen • Fichter et al., 1997 – Stimulanzien als therapeutisches Mittel? Posttraumatische Belastungsstörung – Hohe Persistenz ohne Behandlung • Pynoos et al., 1987 Geschlechtsidentitätsstörung – Übergang in Homosexualität bei Jungen hoch; Anpassungsprobleme persistieren bei Komorbidität (Trennungsangst, Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ oder Druck, sich entgegen dem subjektiven geschlechtsspezifischen Empfinden zu verhalten • Meyenburg, 2007 Lese-Schreibschwäche – Prognose schlecht bei phonologischer Störung in der Vorgeschichte, und HKS; andere psychiatrischen Komorbiditäten • Schmidt & Esser, 1993 – Lesestörung persitiert seltener, aber massiv behindernd im Lernprozess Affektive Störungen – 30 % gehen in rezidivierenden depressiven Episoden über – Bei plötzlichen Beginn, psychotischer Symptomatik, psychomotorischer Entwicklungsrückstand sowie hypomanischen Nachschwankungen und familiärer Belastung ist Übergang in bipolare Störung häufig • Strober Carlson, 1982 Geschlechtsidentitätsstörung – Übergang in Homosexualität bei Jungen hoch; Anpassungsprobleme persistieren bei Komorbidität (Trennungsangst, Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ oder Druck, sich entgegen dem subjektiven geschlechtsspezifischen Empfinden zu verhalten • Meyenburg, 2007 Lese-Schreibschwäche – Prognose schlecht bei phonologischer Störung in der Vorgeschichte, und HKS; andere psychiatrischen Komorbiditäten • Schmidt & Esser, 1993 – Lesestörung persitiert seltener, aber massiv behindernd im Lernprozess Affektive Störungen – 30 % gehen in rezidivierenden depressiven Episoden über – Bei plötzlichen Beginn, psychotischer Symptomatik, psychomotorischer Entwicklungsrückstand sowie hypomanischen Nachschwankungen und familiärer Belastung ist Übergang in bipolare Störung häufig • Strober Carlson, 1982
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Einflüsse, die die Kontinuität von psychischen Störungen im Kindesalter aufrechterhalten Umfeld Zum Unterschied von der Klassifikation der Psychiatrie von Erwachsenen hat die Kinder- und Jugendpsychiatrie eine so genannte Multiaxiale Klassifikation eingeführt, die die Zuordnung von psychiatrischen Erkrankungen, aber auch einer Reihe weiterer Bedingungen auf verschiedenen Ebenen, festzuschreiben versucht. Das Achsenmodell (Remschmidt, Schmidt, Poustka, 2006) beschreibt auf diesen verschiedenen Achsen nicht nur das klinische psychiatrische Syndrom, sondern auch verschiedene bedeutsame Eigenschaften, die ein Kind auch haben kann und die, zumindest auch in therapeutischen Bemühungen, mitberücksichtigt werden müssen (siehe Tabelle 2). Tab. 2: Multiaxiale Klassifikation der ICD-10 / Modifikationen für die Kinder- und Jugendpsychiatrie (Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2006)
1. Achse:
Klinisch-psychiatrisches Syndrom
2. Achse:
Umschriebene Entwicklungsrückstände
3. Achse:
Intelligenzniveau
4. Achse:
Körperliche Symptomatik
5. Achse:
Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände
6. Achse:
Globaleinschätzung der psychosozialen Beeinträchtigung
In diesem Multiaxialen Klassifikationssystem ist die Zuordnung von umschriebenen Entwicklungsrückständen, aber auch des entsprechenden Intelligenzniveaus und der körperlichen Symptomatik mit einbezogen. Wichtig ist, dass auch die mit einer Krankheit eng verbundenen abnormen psychosozialen Umstände, die die Entwicklung von Kindern gefährden können, registriert werden, unabhängig davon ob man der Meinung ist, inwieweit dies im Einzelfall tatsächlich mit den anderen Achsen verknüpft ist oder nicht. Dies bedeutet, dass diese Zuordnung möglichst objektiv nach einem bestimmten operationalisierten Katalog der Weltgesundheitsorganisation aufgeführt wird (Poustka und van Goor-Lambo, 2008). Ferner wird in der 6. Achse dann ein Schweregrad definiert, nach dem Motto: wie viel Aufsicht und Pflege braucht das Kind in Bezug auf sein Entwicklungsalter). Das
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heißt, dass unabhängig von der psychiatrischen Symptomatik, die Beeinträchtigung einer möglichen Adaptation an die Funktionen des Alltags festgeschrieben wird. Durch diese Art der Klassifikation wird ein breiter Raum der Einsicht in das Beziehungsgefüge von erschwerenden Umständen geöffnet, die häufig mit einer psychiatrischen Symptomatik mit einhergehen. Beispiele von solchen Beeinflussungen sind in Bezug auf psychosoziale Risikofaktoren zu erkennen, wie die Einflüsse einer postpartalen Depression auf Mütter, Alkoholismus vom Vater, aber auch Armut der Familie, die auch zeigen, dass kumulierende Risikofaktoren eine deutlich negative Auswirkung auf den Beginn und die Kontinuität von psychischen Erkrankungen im Kindesalter selbst haben (Laucht et al., 2000). In einer (noch nicht publizierten) Untersuchung von Schiemann et al., 2007, in Frankfurt, an Kindern, die mit einem Abstinenzsyndrom von Müttern, die entweder im Methadon-Programm waren, oder während der Schwangerschaft Suchtmittel einnahmen, gegenüber einer Kontrollgruppe. Diese Kinder wurden nach etwa fünf bis acht Jahre nachuntersucht. Dabei war, als Ergebnis, einerseits die Drogenexposition des Kindes während der Schwangerschaft bzw. postpartal der stärkste Prädiktor zur Vorhersage sowohl in bezug auf das Verhalten als auch auf die Minderung der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Wenn man Alter, Geschlecht, Geburtsgewicht und Gestationsalter kontrolliert, so haben aber insbesondere die Anzahl der psychosozialen Belastungen und die Anzahl der Betreuungswechsel insofern einen erheblichen Einfluss, als die Kinder einer Kontrollgruppe und die Kinder, die frühzeitig in einer Pflegefamilie aufgenommen wurden bald (sofort oder wenige Wochen nach der Geburt), in Bezug auf ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit und die psychiatrische Symptomatik die besten Ergebnisse zeigten. Hingegen wiesen jene Kinder, die bei der leiblichen Mutter verblieben waren, oder jene, die nicht gleich nach der Geburt, sondern erst Monate oder Jahre später in Pflege kamen, die schlechtesten Ergebnisse auf. Genetik und Umfeld Genetische Einflüsse selbst, in Verbindung mit frühen negativen Einwirkungen aus dem psychosozialen Umfeld von Kindern, scheinen aber in dieser Kombination ebenfalls hohe Einflüsse zu haben, wie die neuseeländische Untersuchung von Caspi et al., 2002, aufklären konnte: Kinder, die wegen einer genetischen Veränderung der Monaminoxidase-Aktivität eine verminderte Aktivität dieses Enzyms aufwiesen und gleichzeitig massive negative
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Einwirkungen im Sinne negativer Erziehungserfahrung (Aggressionen) erlebt hatten, waren später erheblich stärker selbst mit einer Störung des Sozialverhaltens belastet, als wenn eine der zwei Bedingungen (ohne verminderte Monoaminooxidase-Akvitität, bzw. eine erhebliche aggressive Vernachlässigung) fehlten. Ähnlich zeigte O’Conner, 2003, dass Kinder, die gleichzeitig Mütter hatten, die eine so genannte negative Reaktivität aufwiesen, also eine Art disruptive Einwirkung auf die Kindererziehung und gleichzeitig Scheidungskinder waren, also diese beiden Verbindungen, die einerseits genotypisch, andererseits den Umfeldeinfluss Scheidung erfahren hatten, einen bedeutsamen Anstieg externalisiertender, disruptiver Symptomatik zeigten, gegenüber solchen, bei denen einer dieser beiden Faktoren fehlte. Ähnliches zeigte auch Laucht et al., 2007, am Beispiel des so genannten psychosozialen Adversitätsindexes, also einer Zusammenfassung von schwierigen Umfeldeinflüssen auf das Kind, das im Alter von drei Monaten diagnostiziert wurde und gleichzeitig in Bezug auf Polymorphismen des Dopamintransporter-Gens (DAT) einen genetischen Einfluss aufwiesen. Erst beide Bedingungen zusammen hatte ein deutliches Auftreten eines Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms und einer gesteigerter Impulsivität mit aggressiven Verhaltensweisen bei den Kindern in späteren Jahren zur Folge, im Gegensatz dazu, wenn eine dieser beiden Bedingungen fehlte. Insgesamt mehren sich derzeit solche genauen Untersuchungen, die in Langzeitstudien prospektiv untersucht wurden und die zeigen, dass Umfeldeinflüsse und genetische, konstitutionelle Bedingungen, das heißt mindestens zwei ineinander verschränkte Hauptfaktoren, vorliegen müssen, um das Risiko kontinuierlicher Probleme, zumindest bis in das junge Erwachsenenalter hinein, deutlich machen zu können.
Zwei Beispiele häufiger kinderpsychiatrischer Erkrankungen mit Langzeitfolgen Zur Störung der Aufmerksamkeit und des hyperkinetischen Verhaltens Diese Störung gehört zur häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnose. Die Prävalenz wird häufig mit 3 bis 5 % im schulpflichtigen Alter angegeben, wobei die Störung in der Bevölkerung kontinuierlich verteilt ist und von etwa 1 bis 2 % für die harte enge Anwendung dieser Kriterien bis zu 17 %, wenn dies weiche Kriterien betrifft, schwanken können. Die Prävalenz scheint in der Zeit zwischen sechs und elf Jahren am höchsten ausgeprägt vorzukommen. Barkley (1996) unterscheidet in der Subklassifikati-
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on den so genannten Mischtypus, der in 50 bis 75 % der Fälle vorkommt, das heißt, dass sowohl unaufmerksames als auch hyperaktives und impulsives Verhalten gleichzeitig vorkommen, während vorwiegend der nur unaufmerksame Typus mit etwa 20 bis 30 % Vorkommenshäufigkeit eingeschätzt wird (zwar weist dieser Typus eine hohe Validität, aber eine geringe Reliabilität auf, das bedeutet, Experten sind sich häufig über die Zuordnung dieser Diagnose uneinig). Der am geringsten vorkommende Typus wird als hyperaktiv-impulsiver Typus (15 % Häufigkeit) beschrieben, Barkley (1996). Es gibt genügend gesicherte Daten, die deutlich anzeigen, dass sich beim Übergang von der kindlichen Störung in das Adoleszenz- und Erwachsenenalter ein Aufmerksamkeits-Defizit mit hyperkinetischer Störung nicht einfach „auswächst“, sondern, dass es in etwa 30 bis 70 % der Fälle zu einem Persistieren der charakteristischen Symptome von der Kindheit in das Erwachsenenalter kommt (Barkley, 2002). Dadurch wächst auch das Bewusstsein, dass diese Störung im Erwachsenenalter weiter bestehen kann, und dass es sich quasi um ein Thema mit Variationen im Altersverlauf handelt. Biederman et al. 2000 unterscheiden Remissionskriterien nach folgenden Schlagworten: syndromal: die diagnostischen Kriterien sind nicht mehr vollständig erfüllt, ferner symptomatisch: es gibt weniger als fünf Symptome (siehe DSM-IV) oder die Remissionskriterien sind funktionell, das heißt, die Störung ist zwar in etwa noch vorhanden, sie hat aber keine Auswirkungen auf die Funktionen im Alltag. Biederman et al. (2000) sahen, dass im Erwachsenenalter diese Probanden nach 20 Jahren 60 % eine syndromale Remission und nur in etwa 10 % eine funktionelle Remission aufweisen, das heißt, die klinisch relevanten Symptome mit assoziierten Einschränkungen persistieren in einem hohen Prozentsatz (85 bis 90 % Häufigkeit). Die gesamte Prävalenzrate im Erwachsenenalter wird nach älteren Untersuchungen (Wender, 2001) mit einer Prävalenzrate von etwa 4 % eingeschätzt. Die wesentlichen Veränderungen am Übergang in die Adoleszenz sind bei dieser Störung durch eine stark verminderte Hypermotorik gekennzeichnet, so dass die Probanden als Kinder, die früher sehr stark an der Übermotorik im Rahmen ihrer Aufmerksamkeits-Störung litten, äußerlich ruhig erscheinen, aber trotzdem erhebliche Defizite in ihrer Konzentration, Vorausschau und Planung sowie im Arbeitsverhalten aufwiesen. Gleichzeit nimmt das Vermeidungsverhalten zu und damit die Schwierigkeit diese Population in ein Hilfssystem einbinden zu lassen. Dies entspricht zwar in der Ablösungsphase einem normalen Bestreben, die Lücke zwischen dem Selbstanspruch und der tatsächlichen Problembewältigung nimmt aber deutlich zu (Adam et al., 2002).
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Bei der ADHS-Symptomatik im Erwachsenenalter ist daher die Aufmerksamkeitsstörung weniger deutlich in Form einer sichtbaren äußeren, hypermotorischen Aktivität zu erkennen, sondern es dominiert eher das Gefühl einer inneren Unruhe, eine Affektlabilität, ein desorganisiertes Verhalten, eine mangelhafte Affektkontrolle und Impulsivität, und ferner häufiges emotionales Überreagieren und ein gestörten Sozialverhalten (Krause und Krause, 2002). Es gibt Hinweise, aber eher nur in einer Reihe von Einzelfallschilderungen als in Form systematischer Untersuchungen über Verlaufsfomen im höheren Alter, dass auch 50- bis 60-Jährige immer noch relevante Störungen aufweisen können. Gleichzeitig sind die Komorbiditäten bei Erwachsenen mit ADHS bedeutsam, weil es mindestens zu einer komorbiden Diagnose bei etwa 51 % der Untersuchten kommt, ein Alkoholmissbrauch bei Erwachsenen mit ADHS um etwa das drei- bis vierfache erhöht erscheint, mit Hinweisen auf eine ebenfalls erhöhte Prävalenz von gleichzeitig bestehenden Angststörungen, Schlafstörungen und einer deutlich erhöhten Rate dissozialer Persönlichkeitsstörungen (Sobansky und Alm, 2004). Daher sind insbesondere die sozusagen angeborene Komplikationen bei ADHS bedeutsam, nämlich die Komorbidität sowohl im Kindes- und Jugendalter als auch bei Erwachsenen mit dissozialem Verhalten. In prospektiven Studien scheint dies in etwa 12 bis 23 % bei Erwachsenen ein bedeutsamer Faktor zu sein (Sobansky und Alm, 2004). Sowohl im Kindes- und Jugendalter dominieren in diesen Zusammenhängen so genannte multimodale Therapiekonzepte, die entsprechend den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgenommen werden sollen (Leitlinien in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 2006). Dies umfasst bei Jugendlichen und Erwachsenen auch eine zunächst Psychoedukation und Beratung, und zwar auch im Erwachsenenalter mit Familienbezug bzw. mit dem Partner. Als therapeutische Mittel dominieren medikamentöse Therapie (Stimulanzien), Selbstinstruktions- und Selbstmanagementprogramme, Paartherapie, Berufs- und Drogenberatung (Adam et al., 2002). Die Prognose ist im Langzeitverlauf bei einer Komorbidität mit Störung des Sozialverhaltens und Angststörungen grundsätzlich schlechter (Newcome, 2004). Dabei kommt es mit zunehmendem Alter in Bezug auf aggressive und dissoziale Störungen auch eher zu einem so genannten Komorbiditätsshift, insbesondere dann, wenn frühzeitig die Beeinflussung des Kardinalsymptoms Impulsivität beim ADHS nicht genügend behandelt werden konnte. Dies trifft vor allem auch dann zu, wenn bei starker Ausprägung Stimulanzien alleine nicht genügen und atypische Neuroleptika mit der Fähigkeit, die Impulsivität zu reduzieren nicht eingesetzt wurden.
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Prognose der autistischen Störungen Autistische Störungen beziehen sich auf Schwierigkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion, von Auffälligkeiten der Kommunikation und Sprache und schließlich auch Verhaltensmuster, die repetitiv und stereotyp sind, oder auch umgrenzte Interessen und Aktivitäten zeigen. Diese Symptomatik tritt bereits vor Ende des dritten Lebensjahres deutlich auf. Die Vorkommenshäufigkeit nimmt in epidemiologischen Untersuchungen seit den 80er Jahren sehr stark zu. Von ursprünglich 4 bis 5 pro 10.000 auf ½ % und in den letzten Untersuchungen bis zu 1 % für die so genannte autistische Spektrumstörung (Fombonne 2005, Baird et al., 2006). Die starke Zunahme, vor allem in den Angaben zur Prävalenz in englischsprachigen Feldforschungen, hängt deutlich mit der Einführung der Beschreibungen von Asperger durch Lorna Wing, 2001, zusammen, bei der erstmals im breiten englischsprachigen Raum bekannt wurde, dass es auch bei Kindern, die nicht geistig behindert sind, autistische Störungen in großem Ausmaß gibt. Dementsprechend ist in den neueren Epidemiologien auch der Anteil von geistiger Behinderung von etwa ¾ der Population mit Autismus auf manchmal 30 bzw. 25 % zurückgegangen (Poustka et al. in Hartwich, 2008). Der Phänotyp in Zwillingsstudien zeigt eine relativ hohe Konkordanz von eineiigen gegenüber zweieiigen Zwillingen mit einer der größten Unterscheidungen, die es im neuropsychiatrischen Sektor überhaupt gibt. Dementsprechend wurde die Heretibilität auf über 90 % geschätzt. In einigen prospektiven Untersuchungen, wie die von Howlin et al., 2004, wird der Outcome bei einer Nachuntersuchung im Alter von sieben Jahren bei neu Untersuchten im Erwachsenenalter (Bereich 21 bis 48 Jahre alt, IQ > 50) mit 58 % als schlecht bzw. sehr schlecht eingeschätzt. Knapp 20 % waren halbwegs angepasst und nur 22 % der Untersuchten hat in Bezug auf Verselbständigung einen sehr guten oder guten Verlauf gezeigt. Bei keinem der Nachuntersuchten war die Kernsymptomatik nicht mehr nachweisbar. Offenbar sind bestimmte Fähigkeiten, wie die der Fähigkeit zu relativ guter Imitation, ein erheblich günstiges prognostisches Merkmal und auch die therapeutischen Bemühungen sind dann erfolgreicher, wenn es sich um Kinder mit relativer guter Intelligenz und umschriebenen Fähigkeiten und Fertigkeiten handelt. Immerhin war möglich eine dauernde stationäre Unterbringung für 80 % der Betroffenen zu vermeiden.
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Konklusion Insgesamt kann man feststellen, dass viele der früh auftretenden psychischen Störungen im Kindesalter mit unterschiedlicher Häufigkeit und unterschiedlicher Komorbidität in das Erwachsenenalter persistieren. Dies lässt sich vor allem am hyperkinetischen Syndrom sehr umfassend demonstrieren, aber auch an den neuerdings ebenfalls sehr häufig diagnostizierbaren autistischen Störungen. Eine hohe Persistenz weisen auch Essstörungen und Zwangsstörungen auf, während die typischen Angststörungen im Kindesalter eine relativ bessere Langzeitprognose zu haben scheinen. Auffällig sind die engen Verschränkungen genetischer und widriger Umfeldbedingungen, die sich insbesondere am Beispiel der impulsiven Aggressivität in Bezug auf die Entwicklung dissozialer Persönlichkeitsstörungen und bei Impulskontrollstörungen im Rahmen des Aufmerksamkeits-Defizit- und hyperkinetischen Syndroms zeigen. Die Beziehungen, etwa zu Borderline-Persönlichkeitsstörungen, scheinen sich mehr und mehr zu bestätigen. Daher sind die Kenntnisse so genannter kinderpsychiatrischer Erkrankungen und die zunehmend verfügbaren multimodalen Behandlungsmethoden notwendig, um einer relativ großen Population im Erwachsenenalter helfen zu können bzw. deren Prognose zu verbessern.
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POUSTKA
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Zwischen Leben und Tod – psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung von Karzinompatienten “The positive and more vital aspects of living with cancer can be mobilised in a very short time, as the pressure put on the end of life leaves the way clear for a creative burst. It is like a bud opening and disclosing its potential flowering“. (Lawrence Goldie, 2005)
Einleitung (theoretischer Teil): Alexander Mitscherlich formulierte 1967 in seiner Monographie „Krankheit als Konflikt“ Folgendes: „Ist eine ... Zerreißung der höheren Organisationseinheit, also eine Zerreißung des psychosomatischen Simultangeschehens eingetreten, so liegt eine Defektautonomie in der Regulation körperlicher Prozesse vor. Und dann mag man mit Recht sagen, dass wir dem, was sich im Symptombereich abspielt, nicht mehr verstehend folgen können, weil ihm ... das psychische Korrelat fehlt. ... Wo das leib-seelische Geschehen derart zerrissen ist, verläuft eine der definitiven Grenzen des psychologischen Zugangs zur Krankheit. ... Ein klassisches Beispiel dafür ... ist das Krebswachstum.“ Trotz des Fehlens kausaler Annahmen in psychosomatischen Modellen (Tschuschke 2002) lässt sich empirisch häufig eine Schuldattribuierung vieler Patienten an die eigene Person feststellen (Muthny et al. 2004): 34 Prozent von Brustkrebspatientinnen gaben „eigene seelische Probleme“, 26 Prozent „hohe Ansprüche an mich selbst“ und 23 Prozent „ungünstige Lebenseinstellung“ als verursachende Faktoren für die Krebserkrankung an. Die Verarbeitungsvoraussetzungen für Karzinomerkrankungen sind folgende (Grube, 2005 a, 2005 b): Tumorlokalisation, Tumorstaging, soziale Unterstützung, soziale Schicht, das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung, bestehende Vortraumatisierung, Stabilität der Abwehr, Neurotizismus sowie die Akzentuierung der Persönlichkeitsstrukturanteile. Je nach Situation und Zeitverlauf können diese intraindividuell variieren.
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Bei Karzinompatienten wird Angst häufig als Grundgefühl erlebt: 1. auf die Krankheit bezogen bezüglich Diagnostik, Prognose und Therapie, 2. auf die Zukunft bezogen, wo Fragen nach Lebensqualität, Sterben und Tod im Mittelpunkt stehen, 3. auf das Selbst bezogen, was die Faktoren Attraktivität und Selbstwert angeht sowie 4. auf das soziale Umfeld bezogen wegen notwendiger Rollenveränderungen oder des erlebten Statusverlusts. Die Phasen des Krebserlebens bzw. des Wissens um die Karzinomerkrankung können in Anlehnung an Fawzy (1999) folgendermaßen eingeteilt werden: Erfahren der Diagnose, Behandlungsphase, Remissionsphase, Auftreten von Metastasierung oder Rezidiv und Terminalphase („to care not to cure“). Welche Besonderheiten sind in der Diagnoseund Behandlungsphase zu berücksichtigen? Hier stehen meistens so genannte „reife“ Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Isolierung und Intellektualisierung im Vordergrund. Diese wirken bipolar: einerseits stellen sie als angstreduzierende Faktoren eine wichtige Schutzfunktion dar, andererseits kann hiermit eine Verminderung von Behandlungsmotivation einhergehen. Häufig wird in der Diagnose- und Behandlungsphase altes Konfliktmaterial aktiviert. Darüber hinaus kommt es zu oft intensiver Trauerarbeit wegen des Verlusts von Gesundheit; das Zeigen von intensiven Gefühlen wird oft als Schwäche erlebt. In der Familie oder auch zusammen mit signifikanten Bezugspersonen stellt sich häufig kollektive Trauer ein. Auch ist diese Phase gekennzeichnet von antizipatorischer Trauer, indem das Unvermeidbare vorweggenommen wird, z. B. vor Operationen mit teilweise die Körperrepräsentanz (Joraschky 1995) stark verändertem Charakter oder auch vor allogenen Knochenmarkstransplantationen mit der dann notwendig werdenden Isolierung (Lindemann 1944, 1979). Eine Patientin, die die Diagnosephase eines Mammakarzinoms durchlebt, berichtet von einem Traum: „Plötzlich steht ein sehr alter, zum Teil schon kaputter Kinderwagen aus der Jahrhundertwende vor mir. In ihm liegt etwas. Etwas, das lebt, es soll ein Baby sein, ist aber keins. Es ist lebendes Fleisch, weich und beweglich. Es hat die etwas größere Form eines Basket-
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balls und das Fell einer Robbe, grau gemustert, glitschig und feucht. Dort, wo sich ein Kopf befinden könnte, an dem Ende des Basketballs, gibt es einen kleinen spitzen Einlass (der Mund), um ihn kleine durchsichtige Schwimmflossen, die wie Schmetterlingsflügel hin und her wedeln. Zähne, Augen, Ohren, Nase, Haare gibt es nicht. Insgesamt ein abstoßender Anblick, dennoch bin ich freundlich zu diesem Etwas, rede mit ihm, kümmere mich um es.“ Die Patientin arbeitet heraus, dass sie in dem Traum die Konfrontation mit dem Amorphen, stark Aggressiven und wenig Ästhetischen des Karzinoms sieht. Sie beschreibt ihren Konflikt, dass sie sich mit ihrer Krebserkrankung kaum auseinander setzen könne, da die Vorstellung eines destruierenden Tumors sehr problematisch sei. Andererseits verlange sie von sich, dass sie sich darum bemühen müsse, ihre Erkrankung anzunehmen, mit ihr zu leben und einen Umgang mit dieser zu finden, die das Aggressive und Zerstörerische so beeinflusst, dass es sich nicht zu intensiv gegen sie wendet. In der Remissionsphase sind Betroffene häufig mit der „Damoklesschwertproblematik“ befasst, die Frage: gibt es wirklich Sicherheit, steht ganz im Vordergrund des Erlebens. Da die medizinisch geprägten invasiven Behandlungsmaßnahmen an einen vorläufigen Endpunkt gekommen sind, bleibt Zeit zur Introspektion, die nicht selten in eine Sinnkrise führt: ggf. brauchen die Patienten Unterstützung bei vorliegender positiver Veränderungsmotivation, z. B. im beruflichen oder auch partnerschaftlichen Bereich. In der inneren Auseinandersetzung mit Rezidiv und Metastasierung ist es wichtig, gemeinsam die Konfrontation mit der zunehmend als limitiert erlebten Lebensspanne auszuhalten. Hierbei sollte der Therapeut das Prinzip Hoffnung erhalten und die Aufklärung zwar wahrheitsgetreu, aber schonend durchführen (Hartwich, 1978, 1991; Grube 1995). In dieser Phase werden häufig Themen wie Tod und die Angst vor dem Prozess des Sterbens angesprochen. Die vorgenannte Patientin träumt Folgendes: „Plötzlich öffnet sich auf der gegenüberliegenden Seite die schwere Außentür, Licht fällt herein und die fremde Frau, vielleicht so um die 60, betritt beherzt und schwungvoll die Kirche. Ich freue mich für sie, dass sie scheinbar so schnell den Weg gefunden hat. In diesem Moment öffnet sich die dazwischen (zwischen der Frau und mir) liegende Außentür und ein riesiger Pandabär (schwarz-weiß gefleckt) kommt auf den Hinterbeinen stehend/gehend mit Gebrüll (wie ein aufrecht stehender Grizzly) herein. Mich ergreift Angst und Panik und mein
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einziger Gedanke ist, nichts wie raus hier, bevor er mich sieht, und ich verschwinde behutsam aus der Kirche. Der Bär folgt mir nicht.“ Hierzu berichtet die Patientin, dass sie während der Chemotherapiezyklen immer wieder Frauen begegnet, die berichten, dass bei ihnen eine Metastasierung oder ein Rezidiv gefunden worden sei. Dies beträfe auch Frauen, die nichts in ihrem Leben falsch gemacht hätten. So ertappe sie sich häufiger bei dem Gedanken, dass sie sich frage, wer von den anwesenden Frauen früher einen Rückfall oder eine Metastasierung erleide, sie selbst oder andere. Die Vorstellung eines Rezidivs oder einer Metastasierung sei so bedrohlich, dass es für sie kaum aushaltbar sei. Der Traum gebe ihr Hoffnung trotz der darin enthaltenen Angst und Panik, da sich das Bedrohliche nicht ihr selbst zugewendet habe. Auch versuche sie die Bedrohung in ihrer Vorstellung zu verkleinern: Im Traum werde der gefährliche Grizzly mit Attributen eines ungefährlichen Bären ausgestattet. Im Abstand von ca. 14 Tagen träumt die Patientin Folgendes: „Ich nehme dieses Etwas aus dem Kinderwagen und lege es auf das Abdeckblech der Regentonne, um es zu wickeln. Es wehrt sich, ich kann es nicht halten, es ist glitschig, rund, wendig. Es entgleitet mir und rutscht schnell nach unten in den Spalt zwischen Regentonne und Hauswand, in dem es sich zu verkriechen versucht. Ich will es noch packen. Plötzlich hat es so etwas wie einen Schwanz, aber nicht aus Haaren, sondern dieses Sehhundfell/fleisch. Ich greife nach diesem Schwanz, lasse aber schnell wieder los, aus Angst, es evtl. durch den Zugriff zu verletzen (das Gewicht hängt daran, die Zugkraft könnte zu stark sein) und auch aus Angst davor, gebissen zu werden. Denn dieses Etwas ist sehr beweglich und wehrt sich heftig. Es verschwindet tief in der Spalte, in der Erde.“ Zu diesem Traum assoziiert die Patientin, dass es hier um das Unkontrollierbare gehe. Etwas, was sich nicht so vorhalte, wie man es sich wünsche oder wie es vorauszusehen sei. Sie wisse nicht, wie sie damit umgehen solle. Einerseits sei es ihr wichtig, das Amorphe fassen zu können, andererseits habe sie jedoch auch Angst, dass diese Kraft sich gegen sie wende, wenn sie zu beherzt zufasse. Hierbei beginnt die Patientin zu weinen und berichtet von ihrer starken Furcht, dass der Karzinomverlauf ebenso unkontrollierbar und gefährlich werden könne wie das Wesen im Traum. In der Terminalphase steht das Loslassenkönnen im Sinne eines endgültigen Objektverlusts im Mittelpunkt. Viele Patienten möchten die letzten Dinge regeln, sie berichten von ihrer Angst vor Kontroll- und Autonomieverlust. Sie erhoffen sich weitestgehende Schmerzfreiheit und bringen zum Ausdruck, dass Nähe auch ohne Worte im Schweigen entstehen kann. Häu-
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fig trauert die Familie kollektiv, der bevorstehende endgültige Objektverlust wird vorweggenommen. In dieser Phase ist es für Angehörige wichtig, zu wissen, dass sie an einem ruhigen Ort von dem geliebten Menschen Abschied nehmen können und – wie vonseiten der Krankenhausseelsorge mitgetragen – der Trauer ein Ort gegeben wird. Indikatoren des Verarbeitungsprozesses sind die Verarbeitungsstadien nach Kübler-Ross (Kübler-Ross 1979, 1981): Verleugnung, Aggressivität, Trauer, Verhandeln und Akzeptanz. Diese Klassifikation, bei der die beschriebenen Phasen teilweise auch nebeneinander bestehen können, ist von Verena Kast (1990) modifiziert worden: Neben Verleugnung bestehe am Anfang häufig auch ein Schock, der in ein Gefühlschaos münde. Dann gehe es um Trennen und Loslassen, Suchen oder Finden, bis sich ein neuer Weltbezug, der in der Entwicklung neuer Lebensformen oder der Vorbereitung auf das Sterben besteht, einstellt. Bei der psychoonkologischen Beratung ist oft im Gegensatz zu anderen psychotherapeutischen Interventionen eine starke Motivation vorhanden, in kurzer Zeit Veränderungen zu erreichen (Goldie 2005). Es geht darum, die noch vorhandenen Lebensmöglichkeiten zu erkennen und wahrzunehmen. Aufgrund der oft limitierten Zeitspanne ist es für den Therapeuten besonders wichtig, Bindungen aufzubauen, einen schnellen Zugang zum Ausdrücken von Emotionen zu finden, die Verleugnung der Themen Tod und Sterbeprozess hinter sich zu lassen, um zu einer Neudefinition der Lebensprioritäten zu kommen (Spiegel et al. 1981, 1989; Spiegel & Glafkides 1983). Manchmal lassen sich auch Übertragungsaspekte im Traum erkennen: „Um die Kirche (links?) gibt es zwei kleinere Handwerkshäuschen, in denen je ein Arbeiter sitzt, die sich um diese Kirche kümmern. Einer sitzt in einem Häuschen an einem Fenster, an dem ich vorbeigehe. Er ist etwa um die 40 Jahre alt, groß (fast zu groß für das Häuschen) und das Fenster, hat blonde Haare, trägt ein buntes klein kariertes Hemd und lächelt mich fröhlich an. Ich bin irritiert, wie man in dieser toten Welt so fröhlich sein kann, und frage mich, ob ihm etwas ‚fehlt’, denn jemand, der mit Totem arbeitet, kann nicht normal sein.“ Die Patientin sagt zu dem Traum, dass der Mann in dem Häuschen der Therapeut sein müsse. Dieser sei häufig guter Dinge und reagiere freundlich. Sie frage sich, wie er die belastenden Themen aushalten könne, die für sie oft unerträglich seien. Er stelle für sie eine Kraftquelle dar, die an einem maroden Organismus arbeite, der durch die Karzinomerkrankung nichts „Höheres“, „Sakrales“ mehr darstelle. Auch seelisch sei der Organismus oft emotionsleer, antriebsarm, müde und fühle sich schon wie tot an. Sie drehe
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die Aggressionen um: nicht sie sei ärgerlich wegen der unerreichbaren Gesundheit des Therapeuten, sondern im Traum mache sie den Therapeuten zu einem „Anormalen“, der der eigentlich Kranke sei, da er Interesse an Morbidem und „Nekrophilem“ habe. Im kollektiven Umgang mit Leben und Tod findet sich häufig das Verleugnen der Todesseite wieder. So wird in Ausstellungskatalogen oder auf entsprechenden Internetseiten von dem 1911 entstandenen Bild „Tod und Leben von Gustav Klimt“ nur die rechten 3/5 gezeigt (Lebensseite), während die linken 2/5 nur selten abgebildet werden (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Gustav Klimt 1911 „Tod und Leben“
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Bei der Gegenübertragung ist neben der Verleugnung des Bedrohlichen mit einer Konfrontation bezüglich eigener früherer Verlusterfahrungen oder befürchtungen zu rechnen, nicht selten folgt eine Flucht in Überaktivität, die mit ausgeprägten Distanzwünschen bis hin zu Euthanasie- und Todeswünschen einhergehen kann. Durch die Karzinomerkrankung wird häufig ein Ohnmachtserleben hervorgerufen, da therapeutische Allmachtsvorstellungen konterkariert werden. Demzufolge ist es oft so, dass psychoonkologisch tätige Therapeuten über eine ausgeprägte Trauerfähigkeit verfügen, eine fundierte existenzielle Basis besitzen, sich flexibel auf die schneller als sonst wechselnden Themen einstellen, einen guten Realitätsbezug aufweisen, hoch empathisch sind und selbst eine gute Fokussierungs- bzw. Hierarchisierungsfähigkeit aufweisen müssen. Häufig bringen sie eine fundierte Selbsterfahrung sowie ein höheres Lebensalter mit, bevor sie sich zutrauen, sich den existenziellen Themen in der Begegnung mit Karzinomerkrankten, insbesondere final Erkrankten zu stellen. Bei dieser Arbeit ist es erforderlich, dass der Tod dem Therapeuten „über die Schulter schauen“ darf (siehe Abb. 2).
Abb. 2: Arnold Böcklin 1872 „Selbstbildnis mit fiedelndem Tod“
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Fragestellung (empirischer Teil): Wie stellt sich die konsiliarische psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung bei stationär onkologisch behandelten Karzinomerkrankten dar? Methodik: Um eine systematische Erfassung des präsentischen Leids zu ermöglichen, wurde auf die psychoonkologische Basisdokumentation (Herschbach 2006, Herschbach et al. 2003, 2004) zurückgegriffen, die befriedigende Gütekriterien aufweist. Mittels einer fünfstufigen Fremdrating-Skala können die somatischen wie auch die psychischen Belastungen erhoben werden (siehe Tab. 1). Tab. 1: Psychoonkologische Basisdokumentation Psychoonkologische Basisdokumentation PB1. Somatische Belastungen (0 1 2 3 4)
Der Patient / die Patientin leidet unter…. …Erschöpfung / Mattigkeit …Schmerzen. …Einschränkungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens …weiteren somatischen Belastungen
nicht nicht nicht nicht
wenig wenig wenig wenig
mittelmäßig mittelmäßig mittelmäßig mittelmäßig
ziemlich ziemlich ziemlich ziemlich
sehr sehr sehr sehr
nicht nicht nicht
wenig wenig wenig
mittelmäßig mittelmäßig mittelmäßig
ziemlich ziemlich ziemlich
sehr sehr sehr
nicht nicht nicht nicht nicht
wenig wenig wenig wenig wenig
mittelmäßig mittelmäßig mittelmäßig mittelmäßig mittelmäßig
ziemlich ziemlich ziemlich ziemlich ziemlich
sehr sehr sehr sehr sehr
(z.B. Übelkeit, Verlust von Körperteilen, sexuellen Funktionsstörungen) PB2. Psychische Belastungen (0 1 2 3 4)
Der Patient leidet unter…. …Schlafstörungen. …Stimmungsschwankungen / Verunsicherung. …kognitiven Einschränkungen (z.B. Konzentrations- / Gedächtnisstörung)
…Hilflosigkeit / Ausgeliefertsein. …Angst / Sorgen / Anspannung …Scham / Selbstunsicherheit ...Trauer / Niedergeschlagenheit / Depressivität ...weiteren psychischen Belastungen (z.B. Wut, Ärger, Schuldgefühle) PB3. Zusätzliche Belastungsfaktoren
Belastende Probleme im Freundes- und Familienkreis Belastende wirtschaftliche / berufliche Probleme Weitere zusätzliche Belastungsfaktoren Das aktuelle emotionale Befinden ist durch krankheitsunabhängige Faktoren beeinflusst
Ja Ja Ja Ja
Nein Nein Nein Nein
PB4. Psychosoziale Unterstützung
Bei dem Patienten / der Patientin besteht aktuell eine Indikation für eine professionelle psychosoziale Unterstützung Ja Nein
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Untersuchte Gruppe: Untersucht wurden 388 Patienten, die durchschnittlich 7,4 Tage auf einer onkologischen Station in stationärer Behandlung waren. Diese wurden konsiliarisch untersucht und psychiatrisch-psychotherapeutisch versorgt. Es handelte sich um 302 Frauen und 86 Männer. Sie waren im Durchschnitt 58,3 Jahre alt. 143 von ihnen (36,9 %) wiesen eine Metastasierung auf. Die Patienten waren im Mittel ca. 18 Monate über das Vorliegen einer Karzinomerkrankung aufgeklärt. Über die weiteren patientenbezogenen Daten informieren Tab. 2 und Tab. 3. Tab. 2: Untersuchte Gruppe
N = 388 Variable
AM
SD
Alter Länge Aufklärung
58,3 J. 18,0 Mon.
13,8 44,4
Stat. Verweildauer
7,4 Tage
7,4
N
%
Frauen
302
77,8
Männer
86
22,2
143
36,9
Operationen Chemotherapie
276 213
71,1 54,9
Radiatio
115
29,6
Knochenmarkstr. Antihormontherapie
5 40
1,3 10,3
81 81
20,9 20,9
Metastasen Onkologische Therapie
Leid leicht mäßig mittel
67
17,3
deutlich schwer
85 74
21,9 19,1
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Tab. 3: Untersuchte Gruppen
N = 388 Tumorentität Kopf-Hals Verdauungsorgane Thorax Knochen/Weichteile Mamma Gyn. sonstige Urologische ZNS Lymphome/Leukämie Sonstige
N
%
12 30 51 5 193 29 14 6 45 3
3,1 7,7 13,1 1,3 49,7 7,5 3,6 1,5 11,6 0,8
22 275 11 59 21
5,7 70,9 2,8 15,2 5,4
Krebserleben Diagnose erfahren Behandlung Remissionsphase Rezidiv Terminalphase
Aktueller Funktionsstatus normal Symptome, gehfähig Bettruhe < 50% Bettruhe > 50% ständig bettlägerig
N
%
84 158 73 57 16
21,6 40,7 18,8 14,7 4,1
44 289 1 19 35
11,3 74,5 0,3 4,9 9,0
12
3,1
Kübler-Ross Phasen Verleugnung Trauer Verhandeln Aggression Akzeptanz
Onkologische Therapie Behandlungsabbruch
Bemerkenswert für die von uns konsiliarisch untersuchte Gruppe ist der hohe Anteil psychiatrischer Störungen: 205 der 388 untersuchten Patienten (52,8 %) wiesen psychiatrische Störungen in den Bereichen vorbestehende psychiatrische Störung DSM IV Achse 1, vorbestehende psychiatrische Störung DSM IV Achse 2 und karzinominduzierte psychiatrische Störung auf (siehe Tab. 4). In der konsiliarischen Behandlung wurden im Mittel 2,2 therapeutische Gespräche durchgeführt, die häufig einen supportiven Charakter hatten. Bei der psychopharmakologischen Behandlung standen Antidepressiva im Vordergrund (siehe Tab. 5).
Diagnosename
1
1
posttraumatische Demenz Konversion
,3%
3
Schizoaffektive Psychose
9 ,5% ,3%
2 1
organische Wesensänderung
1,0%
organische Depression
16 4
,5%
Demenz v. Alzh. T.
,3%
1
Amnestisches Syndrom vermeidend-selbstunsichere P.St.
2
1,8%
47 12
1,0%
,3%
7
3
10
1
Analgetikaabhängigkeit
,3%
1,3%
,8% ,3%
4
1
Opiatabhängigkeit
,3%
5
3 1
1
,3%
,8%
2,3%
4,1%
12,1% 3,1%
2,6%
,8%
,3%
Ca.-induz. psych. St. N %
Depressive Reaktion Anpassungsstörung
1
Korsakowsyndrom Ängstl. vermeid. P. St.
1,5%
,3% 4,1%
,8%
4,4%
4,7%
2,1%
vorbest. Achse 2 N %
Delir
6
1 16
Vasculäre Ence.
Angstneurose
zwanghafte P.St. Zyklothymie
3
17
Endogene Depression histrionische P.St.
Hypochondrie Schizophrenie
8 18
Dysthymie
183
% 47,2%
Psychiatrische Störung vorbest. Achse 1 N %
Alkoholismus
Normale Verarbeitung
N
ohne
Tab. 4: Psychiatrische Störungen
ZWISCHEN LEBEN UND TOD
67
GRUBE
68
Tab. 5: Therapieverfahren
N = 388 Verfahren
AM
SD
SUM
Therap. Gespräch
2,2
3,0
834
N
%
Verfahren PT Komplexbeh. PT Psychodyn. ET. PT Supportive Verf.
11 45 332
2,8 11,4 85,8
Antidepressiva Benzodiazepine Neuroleptika
124 103 26
32,0 26,5 6,7
Angehörigengespr.
66
30,8
bei Entl. gebessert
266
68,6
Tab. 6: Gesprächsfoci
N = 834 Variable
N
%
Grundlegende existentielle Problematik
366
43,9
(Diagnoseschock, Zukunftsangst, Verunsicherung, Trauer, Intensität der Emotionen, Vertrauen?, Regeln letzter Dinge, Sterben, Tod)
Psychiatrische Symptomatik
164
19,5
(kognitive Störungen, Antriebsreduktion, Hoffnungslosigkeit, Lebensmüdigkeit, Suizidalität, andere psychiatrische Symptome)
Beziehungsthemen
142
17,1
(Sorge um Kinder, Sorge um andere Familienmitglieder, Beziehungskonflikte, Einsamkeit)
Somatische Auswirkungen
99
11,9
(Angst vor onkologischen Therapiemaßnahmen, körperliche Schwäche, Fatigue, Schmerzen)
Selbstbezug (Autonomieerhalt, eigene Wünsche)
63
7,6
ZWISCHEN LEBEN UND TOD
69
Ergebnisse: Hinsichtlich der Gesprächsfoci ergab sich nach der Häufigkeit folgende Reihenfolge: grundlegende existenzielle Problematik, psychiatrische Symptomatik, Beziehungsthemen, somatische Auswirkung und Selbstbezug. Demzufolge kann eine empirische Gewichtung der unterschiedlichen Angstanteile („Angst als Grundgefühl“, siehe oben) vorgenommen werden (siehe Abb. 3).
auf die Zukunft bezogen (Sterben, Tod)
auf das Soziale bezogen (Familie)
Angst auf das Selbst bezogen (Autonomie)
auf die Krankheit bezogen (Therapie, Diagnostik, Symptome)
Abb. 3: Empirische Gewichtung unterschiedlicher Angstanteile
Die meisten Ängste waren auf die Zukunft bezogen, hier insbesondere Ängste bezüglich Sterben und Tod, gefolgt von Ängsten, die auf das Soziale bezogen waren, insbesondere Ängste um die Familie. An dritter Stelle standen die krankheitsbezogenen Ängste und am Ende die auf das Selbst bezogene Angstanteile (siehe Abb. 3). Darüber hinaus zeigte sich, dass leichtere präsentische Leidenszustände mit länger zurückliegender Aufklärung und schwerere Leidenszustände mit kürzer zurückliegender Aufklärung verbunden waren (siehe Abb. 4).
GRUBE
70
Kruskal Wallis Test: chi² df4 = 30,290; p =, 000 22,0 21,4
20,0 18,0
17,7
Mittelwert Länge Aufklärung [Mon.]
16,0
17,0
17,6 16,2
14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0 leicht
mäßig
mittel
deutlich
schw er
Leid
Abb. 4: Assoziation zwischen Länge des Wissens um die Karzinomerkrankung und dem präsentischen Leid
Auch wurde gefunden, dass bei den Behandlungsarten die tiefenpsychologische Einzeltherapie häufiger mit leichteren Leidenszuständen assoziiert war, während bei deutlicheren oder schweren Leidzuständen eher Komplexbehandlungen oder supportive Therapie angeboten wurden (siehe Tab. 7).
Tab. 7: Behandlungsarten und präsentisches Leid chi² df8 = 19,634; p = ,012 Korrigierte Residuen
Behandlungsart
Komplexb. Tiefenp. ET Support. T.
leicht -,2 3,1 -2,7
mäßig -1,7 ,7 ,2
Leid mittel -,7 -,3 ,6
deutlich 1,2 -1,0 ,4
schwer 1,5 -2,6 1,7
Deutlich wurde, dass bei leichteren Leidzuständen seltener Psychopharmaka eingesetzt wurden; demgegenüber waren Antidepressiva- und Neuroleptikabehandlungen stark mit deutlichen oder schweren Leidenszuständen assoziiert (siehe Tab. 8).
ZWISCHEN LEBEN UND TOD
71
Tab. 8: Psychopharmakatypen und präsentisches Leid chi² df12 = 127,879; p = ,000 Korrigierte Residuen
Psychopharmakon
AD NE BDTR keine
leicht -5,1 -2,2 -2,7 8,6
mäßig -3,5 -1,7 1,6 2,8
Leid mittel 2,2 -,8 ,4 -2,1
deutlich 3,1 1,1 ,1 -3,8
schwer 3,4 3,6 ,7 -5,9
Auch Angehörigengespräche wurden überwiegend dann durchgeführt, wenn der Leidenszustand schwer war (siehe Tab. 9).
Tab. 9: Angehörigengespräche und präsentisches Leid chi² df4 = 24,999; p = ,000 Korrigierte Residuen
Angehörigengespräch nein ja
leicht 3,2 -3,2
mäßig ,7 -,7
Leid mittel ,8 -,8
deutlich -,4 ,4
schwer -4,4 4,4
Auch kamen bei mittleren oder deutlichen Leidenszuständen die meisten Therapiegespräche zustande (siehe Abb. 5).
GRUBE
72
Kruskal Wallis Test: chi² df4 = 15,161; p = ,000 3,00
2,72 2,50
AM Anzahl Gespräche
2,37 2,14
2,00 1,85 1,68 1,50
1,00 leicht
mäßig
mittel
deutlich
schw er
Leid Abb. 5: Assoziation zwischen Anzahl der Gesprächskontakte und dem präsentischen Leid
Betrachtet man mittels einer non-parametrischen Hauptkomponentenanalyse die vorher beschriebenen Einzelvariablen in einem multivariaten Modell (siehe Abb. 6), so zeigte sich, dass eine höhere Anzahl von Therapiegesprächen mit Antidepressivabehandlung, stattfindendem Angehörigengespräch, Neuroleptikabehandlung sowie psychosomatischer Komplextherapie hoch miteinander assoziiert waren. Bezogen auf die präsentischen Leidzustände bestätigten sich die bei den Einzelvariablen beobachteten Assoziationen (siehe Abb. 7).
ZWISCHEN LEBEN UND TOD
1,5
Tief enp. ET
73
BDTR
1,0
ja
,5 A nzahl Gespräche 0,0
nein Support. T.
AD
keine
-,5
Behandlungsart Komplexb.
-1,0
Angehörigengespräch
NE
Psychopharmakon -1,5
Komponentenladungen
-1,5
-1,0
-,5
0,0
,5
1,0
1,5
Abb. 6: Assoziation verschiedener Therapievariablen in einer nonparametrischen Hauptkomponentenanalyse
1,5
Tief enp. ET
BDTR
1,0
ja
,5 A nzahl Gespräche schw er mittel deutlich nein Support. T. AD
mäßig 0,0
-,5
leicht
Leid
keine
Behandlungsart Komplexb.
-1,0
Angehörigengespräch
NE
Psychopharmakon Komponentenladungen
-1,5 -1,5
-1,0
-,5
0,0
,5
1,0
1,5
Abb. 7: Assoziation verschiedener Therapievariablen zum präsentischen Leid in einer nonparametrischen Hauptkomponentenanalyse
GRUBE
74
Fasst man anhand der in der nonparametrischen Hauptkomponentenanalyse beschriebenen Struktur die unterschiedlichen Dimensionen und Quantifikationen der einzelnen Therapieclustern zusammen, so ergeben sich insgesamt 66 unterschiedliche Therapiecluster in Bezug auf die 388 konsiliarisch versorgten Karzinompatienten. In einer multidimensionalen Skalierung konnte gezeigt werden, dass in Bezug auf den Therapieerfolg der konsiliarischen Maßnahme diejenigen Therapiecluster eine Besserung nach sich zogen, die sich auf leichte, mäßiggradige und mittlere Leidenszustände bezogen, bei deutlichen bzw. schwer ausgeprägten Leidzuständen blieb der Status gleich oder die psychische Situation verschlechterte sich weiter (siehe Abb. 8).
3 2 1 0 -1 -2 4
3
2
1
0 -1 -2
1
2
3
4
Leid
5
6
Therapieerfolg gebessert gleich o. verschl.
Abb. 8: Darstellung der unterschiedlichen zum präsentischen Leid assoziierten 66 Therapiecluster in Bezug auf den Therapieerfolg in einer multidimensionalen Skalierung (bei der Achse „Leid“ bedeuten die numerischen Werte folgende präsentische Leidquantifikationen: 1 = leicht, 2 = mäßig, 3 = mittel, 4 = deutlich, 5 = schwer)
ZWISCHEN LEBEN UND TOD
75
Diskussion: Wird im Sinne des im Theorieteil Beschriebenen vorgegangen, so zeigt sich, dass mit bedürfnisgerechten Therapieclustern bei der Mehrheit der auf onkologischen Stationen hospitalisierten Patienten positive, das heißt entlastende Wirkungen bzgl. deren Leids erzielt werden können. Wahrscheinlich kann von mittelbaren positiven Effekten auf Lebensqualität, Coping und Emotionalität ausgegangen werden (Tschuschke 2002, Goldie 2005). Auch im Bereich konsiliarischer psychoonkologischer Betreuung bei onkologisch stationär Behandelten wirken diese Faktoren (Grube 2005 a, 2005 b Kapfhammer 2000, Costantino-Ferrando & Holland 1999, Bron 1983). Darüber hinaus findet diese Art der Begleitung eine hohe Akzeptanz bei Patienten und ihren Angehörigen, aber auch bei den Kollegen in den somatischen Abteilungen: So ist der Kontakt zu den somatisch tätigen medizinischen Kollegen, dem Pflegepersonal, den Kolleginnen und Kollegen in der Anästhesie, der Seelsorge, der Kunst- und Ergotherapie, der Krankengymnastik und Körpertherapie sowie den Sozialarbeitern wichtig, um die aus der jeweils anderen beruflichen Perspektive gewonnen Erfahrungen und Einsichten in die aktuelle psychoonkologische Begegnung mit dem Patienten einfließen zu lassen. Auch ist die gesamte Breite psychiatrischpsychotherapeutischen Wissens erforderlich, um dem Leiden von Karzinomerkrankungen unter den Aspekten „Schwere und Dauer“ gerecht zu werden (Grube 2007).
76
GRUBE
Literatur Bron B (1983) Der Psychiater und der sterbende Patient. In: Peters UH (ed) Psychologie des 20. Jahrhunderts. Kindler, Zürich Costantini-Ferrando MF, Holland JC (1999) Psychoonkologie. In: Helmchen H, Henn F, Lauter H, Sartorius N (eds) Psychiatrie der Gegenwart, Bd. IV, Springer, BerlinHeidelberg-New York Fawzy IF (1999) Psychosocial intervention for patients with cancer: what works and what doesn’t? Eur J Cancer 35:1559 - 1564 Goldie L (2005) Psychotherapy and the treatment of cancer patients: bearing cancer in mind. Routledge, London – New York Grube M (1994) Zur Reliabilität der intrapsychischen Verarbeitungsstadien tödlicher Erkrankungen nach Kübler-Ross am Beispiel HIV-positiver Polytoxikomaner – eine videogestützte Untersuchung. In: Ronge J (ed) Videounterstütztes Arbeiten in der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie. Wissenschaft & Praxis, Ludwigsburg-Berlin Grube M (1995) Verarbeitung der HIV-Infektion und Therapiemotivation bei Polytoxikomanen. Nervenarzt 66:361 - 366 Grube M (2005 a) Das Compliance- und Coping Potenzial betagter konsiliarisch betreuter Karzinompatienten. Z Gerontopsychiatrie 18:23 - 30 Grube M (2005 b) Hirnorganische Störungen in der Konsiliarpsychiatrie unter besonderer Berücksichtigung onkologischer Krankheitsbilder. In: Hartwich P et al. (eds) Hirnorganische Störungen – Diagnostik und Therapie. Wissenschaft & Praxis, Sternenfels-Berlin Grube M (2007) Psychiatrische Erkrankungen bei Karzinompatienten – Ein Beitrag zur Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie. Unveröffentlichte Habilitationsschrift Hartwich P (1979) The question of disclosing the diagnosis to terminally ill patients. Arch Psychiatr Nervenkr 227:23 - 32 Hartwich P (1991) Der Arzt und sein unheilbarer Patient. Ärztezeitschrift Naturheilverfahren 32:11 - 22 Herschbach P (2006) Behandlungsbedarf in der Psychoonkologie – Grundlagen und Erfassungsmethoden. Onkologe 12: 41 - 47 Herschbach P, Marten-Mittag B, Henrich G (2003) Revision und psychometrische Prüfung des Fragebogen zur Belastung von Krebskranken (FBK-R23). Zeitschrift für Medizinische Psychologie 12: 1 - 8. Herschbach P, Brandl T, Knight L, Keller M (2004) Einheitliche Beschreibung des subjektiven Befindens von Krebspatienten: Entwicklung einer psychoonkologischen Basisdokumentation (PO-Bado) Deutsches Ärzteblatt 101:A799 - 802 Joraschky P (1995) Das Körperschema und das Körper-Selbst. In: Brähler E (ed) Körpererleben. Ein subjektiver Ausdruck von Körper und Seele. Psychosozial-Verlag, Giessen
ZWISCHEN LEBEN UND TOD
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79 KONRAD MAURER, DAVID PRVULOVIC
Wenn die Gestalt zerfällt Gestaltwahrnehmung „Das Ganze ist verschieden von der Summe seiner Teile“ ist einer der Hauptlehrsätze der Gestaltpsychologie und stammt von Max Wertheimer. Den Grundstein der Gestalttheorie legte allerdings schon 1890 der österreichische Psychologe und Philosoph Christian Freiherr von Ehrenfels (1869 1932), der die nach ihm benannten Gestaltqualitäten erstmalig beschrieb. Der Beginn der Gestaltpsychologie wird aber erst 1912 angesetzt, als der Frankfurter Psychologe Max Wertheimer seinen Aufsatz über die Scheinund Realbewegung veröffentlichte. In den Gestaltgesetzen werden bestimmte Gesetzmäßigkeiten der visuellen Wahrnehmung formuliert. So besagt etwa das Gesetz der „Präferenz des Näheren gegenüber dem Weiteren“, dass aus einer Gruppe von z. B. Linien, die nebeneinander angeordnet sind, diejenigen, die besonders nah beieinander liegen, als zu einer Form zusammengehörig (z. B. als Säule) wahrgenommen werden und sich von den übrigen Linien absetzen. Ein anderes Gestaltgesetz besagt, dass symmetrische Strukturen bevorzugt als zusammenhängende Formen wahrgenommen werden. Dem Gesetz der Ähnlichkeit nach werden Strukturen mit ähnlicher oder gleicher Helligkeit/Farbe als zusammenhängend gesehen. Allen Gestaltgesetzen ist gemeinsam, dass sie die Art und Weise beschreiben, wie unser Gehirn den mit potentiell unendlich vielen Bildinformationen ausgefüllten Seheindruck in bedeutsame Strukturen und Formen organisiert. Demnach ist der Seheindruck – so wie wir ihn subjektiv wahrnehmen – bereits das Ergebnis einer komplexen visuellen Informationsverarbeitung des Gehirns. Ohne diese Verarbeitungsschritte im visuellen Cortex wäre es nicht möglich, zusammengehörige Strukturen, Objekte oder Personen etc. von ihrem visuellen Hintergrund zu unterscheiden und ihrer als einem einheitlichen Ganzen gewahr zu werden. Ein wesentlicher Mechanismus, der die Integration visueller Reize zu einer kohärenten Entität ermöglicht, wird in der neuronalen Synchronizität vermutet (Uhlhaas und Singer, 2006). Darunter versteht man, dass die elektrische Aktivität verschiedener Neuronen zeitlich in hohem Maße korreliert sein muss. Nur dann ist die Aktivität zwischen diesen beiden Nervenzellen synchron. Nun bezieht sich dieses Phänomen nicht nur auf einzelne Ner-
MAURER PRVULOVIC
80
venzellen sondern auf ganze Nervenzellverbände, die mehr oder weniger weit auseinander liegen können. Ist keine synchrone Aktivität vorhanden, dann ist die Gestaltwahrnehmung gestört bzw. reduziert. Dass Synchronizität, und zwar vor allem in einem bestimmten Frequenzbereich (Gamma Band, 40 Hz), tatsächlich mit erfolgreicher Gestaltwahrnehmung einhergeht und dass Störungen der Gestaltperzeption mit reduzierter Synchronizität im Gamma Band einhergehen, ist am Beispiel der Schizophrenie untersucht worden. So konnte gezeigt werden, dass es im Bereich von mehreren hundert Millisekunden nach Präsentation eines so genannten „Mooney Face“ zu einem starken Anstieg der synchronen oszillatorischen Aktivität im Gamma-Frequenzbereich kommt. Dieser Anstieg spiegelt die bewusste Wahrnehmung eines erkannten Objektes bzw. Gesichts wieder. Mooney Faces sind Photographien von Gesichtern, die nachträglich nur auf die Farbe Schwarz und Weiß reduziert wurden, ohne jede Graustufenverläufe. Werden die Mooney Faces um 180° gedreht, ist es nicht mehr möglich, eine Gesichtsform darin zu erkennen. Schizophrene Patienten zeigten nicht nur eine schlechtere Erkennungsleistung in dieser Mooney Face-Aufgabe im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden sondern auch eine signifikant reduzierte synchrone Gamma-Band Aktivität. Auch bei der Alzheimer-Demenz (AD) treten Defizite und Veränderungen der visuellen Wahrnehmung auf. Dabei lassen sich die jeweiligen Defizite vor dem Hintergrund morphologisch-struktureller sowie funktioneller Schäden in bestimmten Hirnarealen deuten. Zum besseren Verständnis der funktionellen Defizite bei der AD ist es von Vorteil, die funktionelle Anatomie des visuellen Systems noch einmal kurz zu rekapitulieren: In der primären Sehrinde im Occipitallappen findet eine retinotope Abbildung der Erregungsmuster der Netzhaut statt. Von dort aus wird die visuelle Information entlang zweier Hauptpfade in benachbarte und weiter entlegene Regionen weitergeleitet, wo spezifische Aspekte analysiert und repräsentiert werden. So werden entlang des dorsalen Pfades im Parietalkortex die Anordnung, Größe, Position, Orientierung, Perspektive und andere visuellräumliche Aspekte verarbeitet. Dieses Gebiet ist auch von höchster Relevanz für das visuelle Bewusstsein: Menschen mit einem Defekt (z. B. nach Hirninfarkt) im Bereich des rechten Parietallappens erleiden einen Neglekt zur kontralateralen Gesichtsfeldhälfte. Visuelle Reize werden von dort nicht mehr bewusst wahrgenommen, obwohl die Information von der Netzhaut ungestört fortgeleitet und in der Sehrinde abgebildet wird. Auch parietale Störungen geringeren Ausmaßes können bereits zu Störungen der Raumwahrnehmung führen.
WENN DIE GESTALT ZERFÄLLT
81
Der andere Hauptpfad ist der ventrale Pfad, der sich vom inferioren Occipital- bis zum Temporallappen erstreckt. Dort werden nicht nur Farbinformationen kodiert sondern auch Objekte und Gesichter repräsentiert. Störungen in diesem Bereich führen zu Defiziten in der Objekt- und Gesichtserkennung, im Extremfall bis hin zur Gesichts- bzw. Objektblindheit (Prosopagnosie, Objektagnosie).
Das Werk von Carolus Horn: Eine Dokumentation des Gestaltzerfalls Am Beispiel von Carolus Horn (1921 - 1992), einem begnadeten Grafiker und Künstler, sollen die Folgen der AD auf das künstlerische Schaffen im Verlauf der Erkrankung aufgezeigt werden (Maurer und Prvulovic, 2004). Am Beispiel seiner Krankengeschichte können die durch die AD bedingten visuellen Defizite bis hin zum vollständigen Gestaltzerfall eindrucksvoll beobachtet werden. Dies wiederum erlaubt es, einen so nie dagewesenen Einblick zu gewinnen in die durch die Erkrankung veränderte Wahrnehmungswelt des Alzheimer-Patienten. Carolus Horn zeigte bereits sehr früh seine besondere Begabung für das Zeichnen und Malen. Während des zweiten Weltkrieges war er Kriegsgefangener in Russland. Dort half ihm sein Talent zu überleben. Dort zeichnete er Kriegsszenen, Szenen aus dem Gefangenenlager sowie andere Auftragswerke. Als er aus der Gefangenschaft entlassen wurde, heuerte er als Werbegrafiker bei der bekannten Werbeagentur McCann an. Dort designte und erstellte er Werbegrafiken für Coca Cola, Opel, Esso und andere Marken (siehe Abb. 1). Er wurde zu einem der bekanntesten und meist geachteten Künstler seines Fachs.
MAURER PRVULOVIC
82
Abbildung 1
Im Alter von 57 Jahren litt er an Angina pectoris, und 1982 wurde ein Herzinfarkt diagnostiziert, worauf eine Bypass-Operation erfolgte. Obwohl er sich nach der Operation besser fühlte, zeigte er zunehmende Anzeichen von Ängstlichkeit, Unruhe, sowie Wesensveränderungen. Er wurde eigensinniger, gereizter und misstrauisch. Dies waren wahrscheinlich die ersten Anzeichen der Demenzerkrankung. Es folgten Gedächtnisstörungen, Zeitgitterstörungen sowie Orientierungsstörungen. Die Fähigkeit zu rechnen sowie zum abstrakten Denken schwand. Es stellten sich auch Sprachstörungen ein. Obwohl Carolus Horn wegen seiner Klaustrophobie stets eine computertomographische Untersuchung seines Gehirns ablehnte, konnte aufgrund des typischen klinischen Verlaufs die Diagnose einer wahrscheinlichen Alzheimer-Demenz gestellt werden. Sämtliche diagnostischen Kriterien der NINCDS-ADRDA (McKhann et al., 1984) waren hierfür erfüllt. Störungen der visuellen Aufmerksamkeit, der Bewegungswahrnehmung, der Tiefenwahrnehmung, der Farberkennung sowie der Fertigkeit zu zeichnen, sind Teil der klinischen Symptome bei der AD (Cronin-Golomb et al., 1991). Zusätzlich können noch bestimmte formale und kontextuelle Kriterien im Bezug auf das künstlerische Schaffen definiert werden, die hilfreich sein können, den Zusammenhang von Kunst und Demenz besser zu beschreiben.
WENN DIE GESTALT ZERFÄLLT
83
Formale Charakteristiken sind: • Regression (Rückfall zu primitiven, kindlichen Strichzeichnungen mit Verlust der Raumperspektive) • Verzerrung (komisch-groteske Darstellungen) • Kondensation (Überfüllung) • Transformation (Neomorphismen – fremdartige Veränderungen der Anatmie und Physiognomie) • Stereotypie (ornamental anmutende stereotype Wiederholung bestimmter Motive) • Hölzerne Darstellung (Verlust von Tiefeninformation [Schattierung] und von Bewegung) • Desintegration (Vernachlässigung der räumlichen Beziehung zwischen Objekten sowie Verlust der natürlichen Physiognomie von Menschen und Tieren [Prosopagnosie]) Kontextuelle Kriterien sind: • Abstrakte Formen und Kritzeleien • Benutzung überflüssiger Ornamente • Geometrisch-lineare Formen und magische Wesen • Kompositionen, die an Byzantinische Kunst oder Kirchenfensterglaskunst erinnern • Verkleinerung von Objekten, um Defizite im Tieffrequenzbereich auszugleichen Eine Analyse von Carolus Horns Werk während seiner Erkrankung verschafft eine einzigartige Möglichkeit, Einblick zu erlangen, wie die fortschreitende AD seine Wahrnehmung der Welt zunehmend verändert hat. In der Tat spiegeln sich in seinen Zeichnungen und Bildern typische Symptome der AD: • Gestörte Tiefen- und Raumwahrnehmung • Verlust der Fähigkeit, Gesichter, Geschlechter oder verschiedene Altersstufen zu unterscheiden • Veränderte Präferenz im Gebrauch von Farben • Tendenz zum Kritzeln • Psychiatrische und Verhaltenssymptome der Demenz
MAURER PRVULOVIC
84
Seine beiden Bilder des „Eisernen Stegs“ (Abb. 2 a + b), die in unterschiedlichen Krankheitsphasen entstanden sind, zeigen beispielhaft den fortschreitenden Verlust visuell-räumlicher Verarbeitung auf.
2a
2b Abbildung 2a und 2b
So laufen die Fluchtlinien im Bild aus der frühen Erkrankungsphase nur unwesentlich oberhalb des Horizonts zusammen: ein Zeichen, dass die perspektivische Struktur nur leicht gestört ist. Im zweiten Bild dagegen, das aus einer Zeit stammt, in der die Erkrankung mindestens mittelschwer ausgeprägt war, treffen sich die Fluchtlinien weit oberhalb des Horizonts: ein Anzeichen dafür, dass die Perspektive schwer gestört ist. Aus diesem Grund hat der Betrachter des Bildes auch den Eindruck, dass die im Bild gezeigten Personen gleichsam an einer Wand hängen und nicht auf dem Steg entlang gehen. Dazu passt auch, dass die Größe der dargestellten Bordsteinkacheln
WENN DIE GESTALT ZERFÄLLT
85
nicht mit zunehmender Distanz vom Betrachter abnimmt sonder konstant bleibt: Auch dies trägt zu einer deutlichen Störung des Tiefeneindrucks in diesem Bild bei. Im nächsten Beispiel (Abb. 3a) sehen wir, wie sich die Darstellung von Gesichtern verändert:
3a Abbildung 3a
Sind in Abb. 3a noch neomorphistische Tendenzen vorhanden (das Gesicht des Kindes ist wie das Gesicht eines Affen dargestellt), sind in Abb. 3b die Gesichter auf Grundformen reduziert und lassen sich überhaupt nicht mehr voneinander differenzieren. Dies würde sehr gut zum typischen Phänomen der Prosopagnosie (Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen) bei der AD passen.
MAURER PRVULOVIC
86
Abbildung 3b
In Abbildung 3b ist außerdem eine bemerkenswerte Verwechslung von Wolken und Spiegeleiern zu beobachten. Bilder, in denen Carolus Horn Personen mit Doppelgesichtern malt, deuten auf psychotische Phänomene hin (Abb. 4).
WENN DIE GESTALT ZERFÄLLT
87
4 Abbildung 4
Ein weiteres Phänomen ist die Verschiebung der Farbpräferenz: Dominieren zu Beginn der Erkrankung noch vorwiegend dunklere und blaue Farbtöne, ändert sich das Farbverhältnis in seinen späteren Werken massiv zugunsten heller, leuchtender, überwiegend gelb-rötlicher Farben (Siehe Abb. 5a und 5b).
MAURER PRVULOVIC
5a
88
5b Abbildung 5a und 5b
Im Endstadium der Erkrankung ist schließlich der Verlust jeglicher Objektund Gestaltstruktur zu erkennen: Seine Zeichnungen bestehen weitgehend aus Bleistiftkritzeleien (Abb. 6). Wenige Monate später verstarb Carolus Horn.
WENN DIE GESTALT ZERFÄLLT
89
Abbildung 6
Carolus Horns Werke zeigen deutliche Veränderungen über die Zeit hinweg und spiegeln so die krankhaften Veränderungen des Gehirns und die bei der AD gestörte visuelle Funktionalität auf mehreren Ebenen wieder (Cronin-Golomb et al., 1991). Der Verlust der Tiefenwahrnehmung und der räumlichen Strukturen ist eines der frühesten Zeichen in seinen Bildern. In der Tat gehören eine Minderperfusion und ein Mindermetabolismus im temporalen und im parietalen Cortex zu den Kardinalzeichen der AD. Die Defizite in diesen Arealen können sehr gut die visuell –räumlichen Störungen bei der AD erklären (parietale Dysfunktion) als auch die Störungen der Objekt- und Gesichtserkennung (inferotemporaler Cortex). In der Tat sind visuell-räumliche Störungen wie etwa die reduzierte Fähigkeit, Winkelgrö-
MAURER PRVULOVIC
90
ßen zu unterscheiden, typisch für die AD (Ska et al., 1990; Prvulovic et al., 2002). Psychotische Symptome sind ebenfalls nicht selten bei der AlzheimerDemenz (Wragg und Jeste, 1989). Bei Carolus Horn finden sich Zeichen für wahnhafte Verkennung, Halluzinationen, depressive Verstimmung sowie Unruhe. Die letzen Werke von Carolus Horn waren im wesentlichen abstrakte Formen und Kritzeleien – am ehesten bedingt durch eine schwere Apraxie und Agnosie mit einem weitgehenden Verlust seiner visuellen Welt. Zusammenfassend zeigt diese Analyse einen engen Zusammenhang auf zwischen neuropsychologischen Defiziten, klinischen Symptomen und Veränderungen der künstlerischen Darstellung. Die Werke von Carolus Horn liefern einen in dieser Form nicht dagewesenen Einblick darin, wie sich die Gestalt aus der Sicht des an Alzheimer Erkrankten über die Zeit verändert bis sie schließlich vollständig zerfällt.
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91 INES ROTH, SILKE MATURA UND JOHANNES PANTEL
Rehabilitative und begleitende Ansätze bei der Leichten Kognitiven Beeinträchtigung 1. Einleitung Die Psychotherapie- und Rehabilitationsforschung hat sich in den vergangenen Jahren vermehrt den Aspekten der subjektiven Krankheitsverarbeitung und ihren psychosozialen Auswirkungen in der Frühphase der Demenz zugewendet. In dieser Phase der Erkrankung lässt die in der Regel noch gut erhaltene Introspektionsfähigkeit eine bewusste und therapeutisch geführte Auseinandersetzung mit den Krankheitsfolgen noch zu und kann hier ggf. zur Prävention depressiver Entwicklungen bei Betroffenen und Angehörigen sowie zur Erschließung und Optimierung noch vorhandener Ressourcen genutzt werden. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang das Projekt „Subjektive Krankheitsverarbeitung und Bewältigung der Demenz im Frühstadium (SUWADEM)“ (Stechl, 2006) genannt. Andere Autoren wiederum wandten sich dem „Sozialen Frühstadium der Alzheimer-Krankheit“ und Aspekten der Krankheitsbewältigung im Familiensystem der Betroffenen zu (Langehennig und Obermann, 2006). Während die genannten Projekte sich insbesondere mit den psychosozialen Folgen der (frühen), gleichwohl klinisch bereits manifesten Demenzerkrankung befassten, lassen moderne Methoden der Frühdiagnostik zunehmend auch eine bereits präklinische Erfassung der beginnenden Demenz zu (Pantel & Schröder, 2006). Insbesondere das Risiko-Syndrom der leichten kognitiven Beeinträchtigung (LKB) hat sich dabei als Standard in der neuropsychiatrischen Diagnostik (z. B. im Rahmen von Gedächtnisambulanzen oder „Memory“Sprechstunden) etabliert. Da für die leichte kognitive Beeinträchtigung – im Gegensatz zur bereits manifesten Demenz – bislang keine medikamentösen Interventionsmöglichkeiten etabliert sind, gewinnen psychosoziale Interventionen in der Rehabilitation und therapeutischen Betreuung hier eine besondere Bedeutung. Im Folgenden sollen daher Möglichkeiten und Grenzen rehabilitativer und begleitender Ansätze in der Behandlung der LKB dargestellt und ein von uns für diese Indikation entwickeltes Gruppenprogramm (PAKT) vorgestellt werden.
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2. Die Leichte Kognitive Beeinträchtigung (LKB) Die LKB oder auch Mild Cognitive Impairment (MCI) stellt eine Form des kognitiven Alterns dar (Pantel und Schröder, 2007). Subsumiert werden diskrete, aber konsistent nachweisbare kognitive Defizite, die noch nicht das Ausmaß einer Demenz haben. Personen mit LKB haben ein erhöhtes Risiko an einer Alzheimer Demenz zu erkranken, entsprechend kann vermutet werden, dass sich ein Teil dieser Personen in einem sehr frühen (präklinischen) Demenzstadium befindet (ca. 15 - 20 % Konversionsrate innerhalb eines Jahres z. B. Geslani et al., 2005). Personen mit LKB stellen daher eine wichtige Zielgruppe für erfolgreiche (Sekundär-)Präventionsstrategien und frühe therapeutische Interventionen dar (Schönknecht et al., 2005; Jelic & Winblad, 2003).
3. Risiko- und Präventionsfaktoren der LKB Neben genetischer Prädisposition stellen insbesondere lebensstilbezogene Faktoren Moderatoren für kognitives Altern dar und können protektiv auf die Entwicklung einer Demenz wirken (Kramer et al., 2004; Solfrizzi et al., 2008). Auch wird die so genannte kognitive Reserve (u. a. Stern, 2002, 2006 und Sánchez et al., 2002) als ein protektiver Faktor diskutiert. Kognitive Reserve bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, auf geistige Potentiale zurückzugreifen, wenn kognitive Fähigkeiten nachlassen. Sie kann bis ins Alter hinein durch Aktivitäten und Beschäftigungen beeinflusst werden und stellt somit einen Ansatz dar, das Demenzrisiko durch Eigeninitiative zu reduzieren. Personen mit einer LKB können von kognitiven Interventionen profitieren, da sie noch kognitive Ressourcen haben, um neue Strategien zu lernen und anzuwenden. Dadurch können sie ihre Belastung (Handicap) reduzieren und Anspannung und Ängste, ausgelöst durch die kognitiven Schwierigkeiten, verringern (Belleville, 2006). Troyer et al. (2008) konnten in einer randomisierten kontrollierten Studie mittels Gedächtnistraining und Edukation über den Lebensstil zeigen, dass Patienten mit LKB Wissen über Gedächtnisstrategien erwerben und behalten und diese im Alltag umsetzen können. Dadurch konnte eine längere funktionale Unabhängigkeit beibehalten werden. Da das Nachlassen von kognitiven Funktionen auch häufig mit Gefühlen wie Scham oder Ärger verbunden ist und dies möglicherweise zu einem sozialen Rückzug führt oder für die betroffenen Personen einen Stressor
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darstellt, kann es notwendig und hilfreich sein, diese Gefühle und die dazugehörigen dysfunktionalen Gedanken im Gruppen- oder Einzelsetting zu bearbeiten und funktionalere Kognitionen zu entwickeln. Hierdurch können auch die sehr häufig im frühen Demenzstadium vorhandenen depressiven Symptome vermindert bzw. der Ausbildung depressiver Syndrome vorgebeugt werden. Depressive Symptome können nicht nur per se die bestehenden kognitiven Defizite verstärken, sie können auch zu einem sozialen Rückzug führen. Dies wiederum kann einen funktionalen Umgang mit bemerkten Gedächtniseinbußen erschweren. In Abbildung 1 ist der oben beschriebene Zusammenhang anhand des psychologischen Defizitsyndroms der frühen Demenz (Pantel) grafisch dargestellt. Das psychologische Defizitsyndrom der frühen Demenz (Pantel,2007)) Neuronale Degeneration Frühe psychologische Intervention „PAKT“
Kognitive Störung
Funktionsverlust
Entzug kognitiver Stimulation Verstärkerverlust „Verlernen“ aus der Übung kommen
Sozialer Rückzug
Frühe Antidementive Therapie
Erleben eigener Defizite Frustration
Scham Verlust an Selbstvertrauen Verlust an Selbstwert ggf. depressive R.
Abb. 1: Das psychologische Defizitsyndrom der frühen Demenz. Es wird angenommen, dass die initialen leichtgradigen Funktionseinschränkungen durch die Entwicklung dysfunktionaler CopingStrategien, einem Verlust an Selbstwert- und Selbstwirksamkeits-erleben, sowie einer Verminderung sozialer Teilhabe aggraviert werden können. Psychologische Interventionen (z. B. PAKT) können an dieser Stelle wirksam eingreifen
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4. Präventions- und Behandlungsmaßnahmen für MCI Bisherige Studien zu psychologischen Interventionen bei LKB und leichter Demenz wurden vorwiegend zur Wirksamkeit des kognitiven Trainings durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass es Verbesserungen im kognitiven Bereich gab, beispielsweise gab es lang anhaltende positive Trainingseffekte in den Bereichen episodisches und Arbeitsgedächtnis (Günther et al, 2003). Auch die Bewertung der eigenen Gedächtnisfunktionen kann sich durch ein kognitives Training verbessern (Rapp et al., 2002). Talassi et al. (2007) untersuchten die Wirksamkeit eines computergestützten spezifisch kognitiven Trainingsprogramms im Vergleich mit einem unspezifischen computergestützten Trainingsprogramm. Das spezifisch kognitive Trainingsprogramm verbesserte den kognitiven und affektiven Status der Patienten. Ball et al. (2002) untersuchten, ob die Verbesserung kognitiver Funktionen einen Langzeiteffekt auf solche Alltagsaktivitäten hat, die zu längerer Unabhängigkeit beitragen. Drei Gruppen wurden jeweils in den Bereichen Gedächtnis, logisches Schlussfolgern und im Bereich Verarbeitungsgeschwindigkeit trainiert. Die Kontrollgruppe erhielt keine Intervention. Die jeweils trainierte Fähigkeit verbesserte sich und die Trainingseffekte blieben über einen Zeitraum von 2 Jahren stabil, danach zeigten sich allerdings keine Generalisierungseffekte auf die alltägliche Funktionsfähigkeit mehr. Tabelle 1 gibt einen Überblick über kognitive Trainingsprogramme.
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Tab. 1: Kognitive Trainingsprogramme in der Rehabilitation der Leichten Kognitiven Beeinträchtigung
Kognitive Trainings Autoren
Titel
Methode
Ergebnis
Rapp et al., 2002
Memory enhancement training for older adults with MCI: a preliminary study
Randomisierte Kontrollstudie zur Überprüfung der Wirksamkeit einer verhaltens- und kognitiven Behandlung mit dem Ziel die Gedächtnisleistung und die Einstellung der Patienten über ihr Gedächtnis zu verbessern.
die behandelte Gruppe zeigte eine bessere Bewertung des Gedächtnisses nach Beendigung der Intervention und nach 6 Monaten. Keine Unterschiede in der Gedächtnisleistung nach post Test, aber nach 6 Monaten zeigten die Behandelten einen leichten Trend hin zum besseren Abruf von Wortlisten
Ball et al., 2002
Effects of Cognitive Training Interventions with older Adults
Randomisierte kontrollierte Studie. 3 Interventionsgruppen mit Training in den Bereich Gedächtnis, logisches Schlussfolgern, Verarbeitungsgeschwindigkeit, 1 Kontrollgruppe ohne Intervention
Die jeweils trainierte Fähigkeit verbesserte sich und blieb über 2 Jahre stabil. Nach 2 Jahren kein Generalisierungseffekt auf Alltagsfunktionen
Günther et al., 2003
Long-term improvements in cognitive performance through computer-assisted cognitive training: a pilot study in a residential home for older people
Computergestütztes kognitives Training. Keine Kontrollgruppe
Positiver über 5 Monate anhaltender Trainingseffekt bezüglich episodischem und Arbeitsgedächtnis
Talassi et al. (2007)
Effectiveness of a cognitive rehabilitation program in mild dementia an MCI: A case control studie
Kontrollierte Studie Computergestütztes kognitives Trainingsprogramm
Computergestütztes spezifisches kognitives Trainingsprogramm verbesserte den kognitiven und affektiven Status der Patienten mit LKB und MD. Trainingsprogramm ohne punktuelle Stimulation von kognitiven Funktionen hatte keine signifikanten Effekte
Belleville (2006)
Improvement of Episodic Memory in Persons wirh Mild Cognitive Impairment and Healthy Older Adults: Evidence form a Cognitive Intervention Programm
Kontrollierte Studie zur Überprüfung der Wirksamkeit von kognitivem Training bei Personen mit MCI. Prä-Post Vergleich. Intervention: Merkstrategien für das episodische Gedächtnis
Personen mit LKB konnten ihre Leistung im episodischen Gedächtnis durch kognitives Training verbessern
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Kognitives Training kann also dazu dienen kognitive Funktionen von Personen mit LKB zu verbessern und möglicherweise den kognitiven Abbauprozess zu verlangsamen (Belleville, 2008). Entscheidend ist aber in diesem Kontext, dass Kognitive Interventionen am wirkungsvollsten scheinen in Kombination mit Interventionen, die psychosoziale Faktoren mit berücksichtigen und die die Selbstregulierungsfähigkeit fördern (Z. B. West & Yassuda, 2004). Da die LKB mit einer Abnahme des Funktionsniveaus einhergehen kann, dieses aber wichtig ist für die Autonomie und die Lebensqualität, ist die Erhaltung des Funktionsniveaus von zentraler Bedeutung (Wadley et al., 2007). Londos et al. (2008) untersuchten 15 Patienten mit LKB, die an einem Gruppentrainingsprogramm für Gedächtnisstrategien teilnahmen. Das Programm beinhaltete neben dem Training kompensatorischer Gedächtnisstrategien auch Psychoedukation über Grundlagen der Gehirnund Gedächtnisfunktion sowie über Faktoren, die das Gedächtnis beeinflussen können. Die Ergebnisse zeigten einige Verbesserungen im Bereich Kognition und eine Verbesserung der Zufriedenheit und Lebensqualität. Joosten-Weyn et al. (2008) untersuchten mittels eines geleiteten Interviews, wie Betroffene mit der Diagnose LKB den kognitiven Abbau erleben und damit umgehen. Es zeigte sich, dass sie Schwierigkeiten und Stressinduzierende Befürchtungen bezüglich sozialer, psychologischer und alltäglicher Funktionsfähigkeiten haben, die allesamt die Entwicklung von Depressionen und sozialer Isolation begünstigen können. Die Autoren kommen zum Schluss, dass es wichtig ist, LKB Patienten spezifische Informationen zur Krankheit zu geben, damit diese besser mit dem Label umgehen können und halten daher ein Unterstützungsprogramm für Personen mit LKB für sinnvoll. Gruppentherapieangebote für Personen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung bzw. beginnender Demenz, die oben genannte Aspekte miteinbeziehen, gibt es in Deutschland jedoch erst vereinzelt an spezialisierten Zentren (z. B. Gedächtnisambulanz der TU München, Gedächtnisambulanz der Uniklinik Frankfurt). Im Folgenden soll daher kurz das von uns am Universitätsklinikum Frankfurt entwickelte und durchgeführte Gruppenprogramm „Psychoedukation zur Alltags- und Krankheitsbewältigung – ein Training für Personen mit Leichter Kognitiver Beeinträchtigung (PAKT)“ vorgestellt werden.
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5. Das PAKT Gruppenprogramm Beim PAKT Gruppenprogramm handelt es sich um ein psychoedukativesund Trainingsprogramm zur Alltags- und Krankheitsbewältigung für Personen mit LKB. Mit dem Programm soll ein möglichst ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden um gezielt auf die oben genannten Aspekte einzugehen. So werden die Betroffenen über die Erkrankung aufgeklärt, es wird vermittelt, wie aktive Sekundärprävention betrieben werden kann, der Aufbau und das Aufrechterhalten von sozialen Kontakten wird gefördert, ungünstige Attributionsstile werden aufgedeckt/bearbeitet und depressiven Symptomen wird vorgebeugt. Weiterhin werden kompensatorische Merkstrategien und Möglichkeiten zum alltagsnahen Einsatz externer Gedächtnishilfen vermittelt. So soll auch die Erhöhung der Eigeninitiative gefördert werden. Durch das Programm erhoffen wir uns eine Zunahme der Lebensqualität der Teilnehmer, die Verminderung depressiver Symptome und eine affektive Entlastung, eine Stabilisierung und ggf. sogar Verbesserung des kognitiven Status, eine Steigerung der Eigeninitiative und somit eine Erhaltung oder Verbesserung des Funktionsniveaus sowie eine Integration kompensatorischer Gedächtnisstrategien und externer Merkhilfen in den Alltag. Unter Zugrundelegung der o.g. Zielsetzungen wurde das PAKT Programm von uns im Rahmen einer Pilotphase im Laufe des Jahres 2007 entwickelt und bereits zweimal in der Gedächtnisambulanz am Klinikum der JohannWolfgang-Goethe Universität in Frankfurt angeboten. Es wird in einer geschlossenen Gruppe von max. 12 Personen unter Leitung eines/r Psychologen/-in, Gerontologen/in bzw. ähnlich qualifizierten Personen angeboten. Das Programm umfasst 12 Sitzungen und 2 Nachtreffen mit einer jeweiligen Dauer von 1,5 Stunden. Die 12 Sitzungen werden im Idealfall über einen Zeitraum von 12 Wochen durchgeführt. Die beiden Nachtreffen finden 3 Monate und 6 Monate nach der letzten Gruppensitzung statt. Bisher nahmen insgesamt 13 Personen mit einer LKB/MCI an den beiden Gruppen teil. Die Altersverteilung lag zwischen 63 und 79 Jahren. Die Geschlechterverteilung war ausgeglichen. Der kognitive Status wurde vor Gruppenbeginn und im Verlauf mit dem CERAD (Morris et al., 1989) erfasst, mögliche depressive Symptome wurden mittels BDI (Beck und Steer, 1987) erhoben. Aufgrund der noch geringen Stichprobengröße konnten noch keine Inferenzstatistischen Analysen durchgeführt werden. Die deskriptiven Analysen weisen jedoch auf eine Verbesserung des kognitiven Status nach Beendigung des Gruppenprogramms hin. Darüber hinaus beobachteten wir eine Abnahme depressiver Symptome. Bei den ebenfalls im
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prä-post-Vergleich erhobenen Werten zur Lebenszufriedenheit und in der Nürnberger Alltagsaktivitätenskala zeigt sich eine Erhöhung der Werte, was auf eine Verbesserung der Lebenszufriedenheit und eine Erhöhung der Alltagsaktivitäten hinweist. Keine Veränderung ließ sich im Bezug auf die dysfunktionalen Einstellungen feststellen. Unsere Erfahrungen der letzten beiden Gruppen zeigten jedoch, dass sich die Teilnehmer am Ende der Gruppe deutlich entlastet fühlten. Wir vermuten, dass der entlastende Effekt des Gruppenprogramms vor allem auf eine erhöhte Selbstwirksamkeit und auf die soziale Unterstützung innerhalb der Gruppe zurückzuführen ist. Dies wurde durch die Teilnehmer bestätigt, die die Entlastung u. a. darauf zurückführten, dass sie mit Hilfe der im PAKT erworbenen Strategien jetzt aktiver einen Einfluss auf ihre Lebenssituation nehmen können. Zum anderen merkten die Teilnehmer, dass sie mit ihrem Problem nicht allein waren und sie konnten vergleichen, wie andere Menschen mit einem ähnlichen Problem umgehen.
6. Ausblick Die oben erwähnten Forschungsergebnisse und unsere ersten Erfahrungen mit den PAKT-Programm weisen nachdrücklich darauf hin, wie wichtig es ist, Menschen mit einer LKB nicht nur mit einer „Frühdiagnose“ mit unklarer Prognose aus der Sprechstunde zu entlassen, sondern ihnen parallel betreuende und unterstützende Angebote zu machen. Es gibt demnach einen großen Bedarf an kontrollierten, randomisierten Studien, um bei dieser Patientengruppe die Wirkung von psychosozialen Interventionen zu evaluieren, die neben den Strategien zum Umgang mit den kognitiven Defiziten auch Schulungen bzgl. Risiko- und Präventionsfaktoren und eine Erhöhung von Eigeninitiative und Selbstwirksamkeitserleben mit einbeziehen.
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101 FELIX PFEFFER
Wann sind Depressionen therapieresistent? Für die Frage „Wann sind Depressionen therapieresistent?“ ist zunächst eine Begriffsklärung wichtig. Denn der Begriff Depression umfasst heutzutage ein recht breites Spektrum an Veränderungen der Stimmung, und der Begriff Therapieresistenz bedarf der Konkretisierung, bezüglich welcher therapeutischer Ansätze und in welchem Ausmaß ein ausbleibender Therapieerfolg auszumachen ist. Die Etablierung der modernen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM IV hat die Sicht depressiver Zustandsbilder dahingehend verändert, dass möglichst gut operationalisierbare klinische Syndrome unter weitgehendem Verzicht auf ätiologische Betrachtungen prägend geworden sind, wohingegen frühere Klassifikationen ätiologische Annahmen in den Vordergrund stellten. ICD-10 und DSM IV haben auch die Sichtweisen von Therapieresistenz bei Depressionen beeinflusst, wobei die Abkehr von ätiologischen Betrachtungen auch durchaus problematisch gesehen werden kann. Gerade bei therapierefraktärer depressiver Problematik taucht die Frage des „warum“ im Sinne üblichen medizinischen Denkens auf, und klassische Perspektiven bieten auch heute Ansätze, die therapeutisch relevant sind. In diesem Beitrag wird zunächst Näheres zu den Begriffen Depression und Therapieresistenz ausgeführt. Im Weiteren wird auf die modernen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM IV und ihre Folgen für die Sichtweise von Therapieresistenz bei Depressionen eingegangen. Anschließend wird im Hinblick auf die ursächliche Betrachtung von Therapieresistenz an die ätiologisch orientierten Konzepte der endogenen und der neurotischen Depression angeknüpft. Hierauf werden Behandlungsoptionen differenziert nach dem jeweiligen Typus der Depression dargestellt. Weiterhin gibt es eine Zusammenstellung von relevanten Faktoren für Therapieresistenz, abschließend eine Schlussbetrachtung.
Der Begriff Depression Der Begriff Depression wird sehr unterschiedlich gefasst. Der die klassische Psychopathologie stark prägende Arzt und Philosoph Jaspers (1913) sah in der Depression eine motivlose, tiefe Traurigkeit, zu der eine Hemmung alles seelischen Geschehens komme; hier wird deutlich, dass mit einer Depression ein in Art und Ausmaß deutlich abnormes psychisches Geschehen
102
PFEFFER
verbunden wurde. In Anlehnung an die klassische Psychopathologie beschrieb der schweizer Psychiater Barz noch 1976, eine Depression trete niemals als isolierte Gefühlsstörung auf, impliziere immer ein Syndrom von psychischen Auffälligkeiten, mit frei flottierender Angst, Störung des Antriebs, Denkverlangsamung und Einengung des Denkens, vegetativen Erscheinungen wie Schlaf-, Appetit- und Verdauungsstörungen, Libidoverlust und Leibgefühlsstörungen im Sinne von Vitalstörungen, die den Abdruck der schweren Verstimmung im Körper darstellten, synthymer Wahn könne vorkommen. Heute herrscht ein sehr viel weiter reichender Gebrauch des Begriffes Depression vor. Die modernen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM IV fordern zwar für ihre Diagnosen gewisse eindeutigere Syndromkonstellationen; das damit umfasste Spektrum an Beeinträchtigungen der Stimmung ist aber recht weit gefasst; den Diagnosen in ICD-10 und DSM IV liegt kein komplexer klinischer Gesamteindruck, sondern ein Cluster bestimmter Symptome zugrunde, was manchmal etwas polemisch als Kochbuchrezeptdiagnostik bezeichnet wird. Die ICD-10 (1992) kennt die Diagnosen depressive Episode leichter, mittlerer oder schwerer Ausprägung, evt. mit somatischem Syndrom, Dysthymia, depressive Anpassungsstörung und organische depressive Störung. Im DSM IV (1994) findet sich statt der depressiven Episode die Diagnose Episode einer Major depression, evt. vom melancholischen Typus; der Begriff Major depression ist etwas strenger gefasst als der Begriff der depressiven Episode in ICD-10. Die klassische Klassifikation (Schneider, 1967. Huber, 1987) unterschied endogene, neurotische, reaktive und organische Depressionen. In diesem Beitrag geht es um eine Beschränkung auf ausgeprägtere klinische Depressionen. Aus systematischen Gründen kann hier auf organische Depressionen nicht näher eingegangen werden.
Der Begriff Therapieresistenz Für den Begriff der Therapieresistenz bei Depressionen gibt es keine einheitliche Definition. Allgemein klinisch könnte man die Therapieresistenz so definieren, dass ein erwarteter Behandlungserfolg längerfristig ausbleibt. Dem Wunsch nach etwas Konkreterem kommt folgende aktuell dominierende Definition nach; ihr zufolge besteht Therapieresistenz, wenn ein
WANN SIND DEPRESSIONEN THERAPIERESISTENT?
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Nichtansprechen auf zwei Behandlungsversuche mit Antidepressiva verschiedener Wirkklassen in jeweils adäquater Dosis und Dauer vorliegt (Thase et al., 1995). Hierbei handelt es sich jedoch um eine rein pharmakologische Bewertung ohne Einbeziehung differenzierter ätiologischer Aspekte in Anlehnung an ICD-10 und DSM IV. Entsprechend der aktuell dominierenden Definition von Therapieresistenz sind nach Bauer (2004) 35 Prozent der Behandlungsfälle als zumindest teilweise therapieresistent einzustufen, nur 65 Prozent erreichen nach dem zweiten Therapieversuch mit Antidepressiva eine Remission (Ausheilung). Nach Schramm et al. (2007) zeigen nach dem zweiten Behandlungsversuch 25 Prozent der Patienten keine Response (Besserung von mindestens 50 Prozent). Schramm et al. (2007) nennen eine Gruppe von 10 Prozent, die auch nach mehreren adäquaten Behandlungsversuchen (mit Antidepressiva) keine angemessene Verbesserung erreichen.
Klassifikation depressiver Störungen in ICD-10 und DSM IV Jede konkrete psychiatrische Nosologie hat Einfluss auf Sicht und Behandlung psychiatrischer Krankheitsbilder, auch wenn eine Nosologie allein konkrete Perspektiven und Behandlungen nicht vorgibt. Um die Einflüsse von ICD-10 und DSM IV auf Sicht und Behandlung psychiatrischer Krankheitsbilder verständlicher zu machen, sei im folgenden zunächst auf Hintergründe der Klassifikation depressiver Störungen in ICD-10 und DSM IV hingewiesen. In ICD-10 und DSM IV sind komplexere ätiologisch orientierte diagnostische Einheiten wie endogene Depression und neurotische Depression aufgegeben worden zugunsten besser operationalisierbarer klinischer Syndrome unter ausdrücklichem Verzicht auf ätiologische Bewertungen. Eine Ausnahme bilden lediglich eindeutig organische depressive Störungen und depressive Anpassungsstörungen. Für ICD-10 und DSM IV sind die Kriterien Schwere und Dauer entscheidend. Welchen Einfluss nun haben ICD-10 und DSM IV auf die Behandlung depressiver Störungen?
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PFEFFER
Eine von Ätiologien freie Betrachtung begünstigt rein syndromatische Behandlungsweisen. Hinzu kommt, dass im Allgemeinen die Anwendung der Medikation einfacher und billiger als Psychotherapie ist. Weiterhin ist eine gewisse Wirkung von Antidepressiva grundsätzlich bei allen Depressionsformen nachweisbar. Unter dem Einfluss von ICD-10 und DSM IV wird somit gut nachvollziehbar, dass die Anwendung der Medikation für die Frage der Therapierbarkeit dominierend wird. Es taucht dabei das Problem auf, dass eine Gewichtung biologischer und psychologischer Faktoren leicht in den Hintergrund tritt.
Wesen und Ätiologie von Depressionen Für das Thema „Wann sind Depressionen therapieresistent?“ ist relevant, an dieser Stelle kurz zu rekapitulieren, wie Wesen und Ätiologie von Depressionen überhaupt allgemein zu verstehen sind. Genaueres gesichertes Wissen hierzu fehlt noch weitgehend. Unterschiedliche Faktoren sowohl auf biologischer als auch auf psychologischer Ebene sind relevant, wobei auch die wechselseitige Beeinflussung der unterschiedlichen Ebenen zu beachten ist. Tiefer gehende Betrachtungen kann es hier jetzt nicht geben; ganz allgemein betrachtet kann für alle ausgeprägteren Depressionen eine gewisse gemeinsame biochemische Endstrecke angenommen werden, die mit dem depressiven Syndrom auf psychischer Ebene korreliert. Hierzu können unterschiedliche ursächliche Faktoren führen. Als mögliche Ursachen der Depression sind zu nennen • Fassbare organische Faktoren, z. B. Hypothyreose und Vitamin B12Mangel, diese sind für die Verursachung von organischen Depressionen relevant, um die es hier jedoch nicht primär geht. • Bezüglich der so genannten funktionellen Depressionen sind von Bedeutung auf der biologischen Ebene: - die hereditäre Disposition und - andere biologische Faktoren (z. B. hormonelle wie im Wochenbett). • Auf der psychologischen Ebene sind dies: - bestimmte ungünstige lebensgeschichtliche Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung der frühen Kindheit, - situative Faktoren (z. B. aktuelle Konflikte) und - erworbene Einstellungen bzw. Denkweisen. • Insgesamt ist auch die Kombination verschiedener Faktoren relevant.
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Ätiologie und Behandlung Eine ätiologisch orientierte Behandlung ist ein wichtiges allgemeines medizinisches Prinzip. Das Problem von ICD-10 und DSM IV ist ihre weitgehende Beschränkung auf die syndromale Ebene, es geht vor allem um Schwere und Dauer. Die Diagnose nach ICD-10 und DSM IV allein gibt zwar keine Vorgabe für die Art der Therapie, bahnt aber eine Dominanz symptomatischer Behandlungen. Anders ist dies bei der klassischen Klassifikation mit endogener und neurotischer Depression, die noch die ICD-9 prägte: sie legte eine ätiologisch orientierte Behandlung nahe: für die endogene Depression als biologische Entität eine somatische Behandlung und für die neurotische Depression als psychische Entität eine psychologische Behandlung. Zu beachten sind freilich hier die Gründe, die zu ICD-10 und DSM IV und zur Aufgabe der klassischen Klassifikation auf internationaler Ebene führten. Insbesondere folgende Kritikpunkte sind diesbezüglich relevant: Endogene und neurotische Depression sind Prägnanztypen, es gibt aber auch zahlreiche Mischformen, und somit gibt es eine gewisse Schwäche der Abgrenzbarkeit gegeneinander. Diagnosen wie endoneurotische Depression sind zwar für eine differenzierte Behandlung sinnvoll, lassen sich aber schlecht operationalisierbar erfassen und untersuchen. Außerdem muss heute festgestellt werden, dass auch „reine“ endogene Depressionen nicht ausschließlich biologisch sowie auch „reine“ neurotische Depressionen nicht ausschließlich psychogen geprägt sind.
Vorgehen bei Therapieresistenz An dieser Stelle wird auf das praktische Vorgehen bei Therapieresistenz eingegangen. Gerade bei therapieresistenten Depressionen erscheint ein ätiologisches Denken relevant, ein Denken in den Kategorien Schwere und Dauer, wie von ICD-10 und DSM IV nahe gelegt, dagegen eher nicht ausreichend. Eine differenzierte Betrachtung des Einzelfalles ist entscheidend unter Berücksichtigung des Gewichtes konstitutionell-biologischer, psychodynamischer, kognitiv-behavioraler und peristatischer Faktoren.
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Hierfür ist der Umgang mit den Prägnanztypen endogene und neurotische Depression und deren Durchmischung zwar nicht notwendig, aber zumindest hilfreich. Im Folgenden wird ein konkreter Fall von Therapieresistenz vorgestellt. Der Fall ist fiktiv. Es geht um eine 43-jährige Patientin, die bei einem niedergelassenen Psychiater seit 6 Monaten in Behandlung ist wegen Depression; sie ist gedrückter Stimmung, fühlt sich erschöpft, hat Schwierigkeiten mit der Alltagsbewältigung, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Gewichtsveränderungen und zeitweise lebensmüde Gedanken. Es hat bereits drei Medikationsversuche gegeben: zunächst Fluoxetin 20 mg tgl. und anschließend Reboxetin 8 mg tgl. jeweils ohne deutliche Wirkung, unter Mirtazapin 30 mg abends ist es zu einem etwas gebesserten Schlaf gekommen, jedoch hat sich keine signifikante thymoleptische Wirkung eingestellt. Eine ambulanten Psychotherapie ist veranlasst worden, ist aber erfolglos gewesen, die Patientin fühlte sich dadurch nur belastet. Die Patientin erfüllt die Kriterien für eine Episode einer Major depression gemäß DSM IV und damit auch die Kriterien für eine zumindest mittelschwere depressive Episode gemäß ICD-10. Außerdem besteht nach der aktuell dominierenden Definition Therapieresistenz: Zwei Behandlungsversuche mit Antidepressiva verschiedener Wirkklassen in jeweils adäquater Dosis und Dauer führten zu keinem signifikanten Behandlungserfolg. Wir haben es somit eindeutig mit einem Fall einer ausgeprägteren und therapieresistenten Depression zu tun. Dieser eine fiktive Fall soll jetzt um weitere Symptome und Befunde erweitert werden, und zwar in zwei unterschiedlichen Varianten. Bei Variante A kommen hinzu • Früherwachen, Tageschwankungen, Gewichtsverlust über 5 kg und Anhedonie. • Das Klimakterium hat bereits begonnen. • Vor 1 Jahr war die Patientin noch unbeeinträchtigt. • Es gibt eine positive Familienanamnese, die Großmutter litt auch an schweren Depressionen. • Die Patientin repräsentiert einen ordentlichen und leistungsorientierten Typus, versorgt drei Kinder. • Sie macht sich Vorwürfe wegen der Krankschreibung.
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• Ihre Biographie ist ohne besondere Auffälligkeiten. • Ihr soziales Netz ist intakt, es gibt einen unterstützenden Ehemann. Bei Variante B dagegen gibt es an weiteren Symptomen und Befunden • eine Einschlafstörung und Gewichtszunahme, die Stimmung ist kurzfristig auflockerbar. • Es besteht noch kein Klimakterium. • Die Patientin ist schon seit 25 Jahren häufig depressiv verstimmt und schwerfällig, bis vor ½ Jahr gab es jedoch noch eine ausreichende Alltagsbewältigung. • Die Familienanamnese ist negativ. • Es gibt aber eine belastete Biographie: Die Mutter verstarb früh, die Stiefmutter bevorzugte die Halbgeschwister der Patientin. • Bezüglich der sozialen Situation ist relevant, dass der Ehemann seit 1 Jahr nur am Wochenende zu Hause ist und dass die 14-jährige Tochter in der Pubertät ist und sich jetzt deutlich von ihrer Mutter abgrenzt. • Die Patientin repräsentiert einen abhängigen Typus mit Neigung zur Passivität. Was liegt vor? In beiden Fällen liegt eine ausgeprägte depressive Episode bzw. eine Major depression vor, die zunächst therapieresistent ist; dies ergibt sich bereits aus dem fiktiven Fall ohne Betrachtung der jeweiligen Varianten; berücksichtigt man jedoch im weiteren die beiden Varianten, so zeigt sich, dass beide Fälle deutlich verschieden sind. Bei Variante A kann man eine endogene Depression feststellen, nach DSM IV auch eine Major depression vom melancholischen Typus. Bei Variante B dagegen handelt es sich um eine neurotische Depression, nach DSM IV um eine primäre Dysthymia, die sich zu einer Major depression zuspitzt – es liegt somit der Fall einer so genannten „Double depression“ vor, also eine Kombination aus Dysthymia und Major depression. Der fiktive Fall in seinen beiden Varianten macht deutlich, dass bei vergleichbarer Schwere und Dauer der aktuellen depressiven Episode zwei verschiedene klinische Syndrome vorliegen können, die auch bezüglich ihrer Therapieresistenz unterschiedlicher Interventionen bedürfen. An dieser Stelle wird vom konkreten klinischen Fall wieder auf eine abstraktere Ebene zurückgekehrt, auf der allgemeiner das unterschiedliche Vorgehen
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bei den zwei dargestellten Depressionsformen behandelt werden soll. Zunächst wird auf die endogene Depression eingegangen. Ihre Merkmale sollen an dieser Stelle nochmals kurz umrissen werden:
Merkmale der endogenen Depression Die endogene Depression verläuft typischerweise in Phasen, dabei zumindest partiell eigengesetzlich. • Es gibt zwar häufig Anlässe für die Auslösung von depressiven Phasen, aber für das Ausmaß der depressiven Dekompensation gibt es keine ausreichende psychologische Verstehbarkeit. • Die genetische Belastung ist insgesamt deutlich, wenn auch nicht in allen Fällen. • Oft ist eine Kopplung an hormonelle Umbruchsphasen zu erkennen. • Ein Typus melancholicus nach Tellenbach ist bei der endogenen Depression eine häufig anzutreffende Persönlichkeitsvariante. • Es gibt weiterhin eine besondere Qualität der Verstimmung. • Tagesschwankungen und Früherwachen sind typisch, es kommt zu • schweren Verläufen, ein Raptus melancholicus, also eine ohne Planung direkt aus der schweren depressiven Verstimmung heraus erfolgende Suizidhandlung ist möglich. • Grundsätzlich ist ein gutes Ansprechen auf Medikation festzustellen. • Insgesamt zeigt sich eine starke biologische Prägung der Depression (Huber, 1987. Tellenbach, 1983). Man könnte fragen, warum hier die alte Diagnose der endogenen Depression nochmals bemüht wird und nicht einfach auf den Melancholischen Typus der Major depression nach DSM IV zurückgegriffen wird. Der Hintergrund hierfür ist, dass die Diagnose Melancholischer Typus einer Major depression zwar fast immer eine endogene Depression meint, umgekehrt aber nicht jede endogene Depression die DSM IV-Kriterien des Melancholischen Typus der Major depression erfüllt. Die klassische Klassifikation ist in ihrer ätiologischen Ausrichtung doch etwas anders als die DSM IVKlassifikation.
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Maßnahmen bei „therapieresistenter“ endogener Depression Es werden an dieser Stelle mögliche Maßnahmen bei einer „therapieresistenten“ endogenen Depression dargestellt, es wird also von bisher erfolglos vorbehandelten Fällen ausgegangen. Zur Verfügung stehen: • Medikamentöse Maßnahmen, außerdem • Schlafentzug, Lichttherapie und Elektrokonvulsionstherapie als weitere etablierte somatische Verfahren und • die transkranielle Magnetstimulation und die Vagusnervstimulation als neuere somatische Verfahren. • Durchaus relevant sind aber auch begleitende psychotherapeutische Maßnahmen sowie das • therapeutische Setting. Medikamentöse Maßnahmen bei der endogenen Depression Für die im folgenden dargestellten Empfehlungen sind vorwiegend eigene klinische Erfahrungen zugrunde gelegt, da sich neuere Studien nicht mehr auf endogene Depressionen beziehen. Bei der Gruppe der bisher weitgehend erfolglos anbehandelten Patienten bewähren sich immer wieder hoch wirksame Trizyklika wie Amitriptylin oder Clomipramin; auch wenn allgemein bei einer Response auf Antidepressiva ein erster Effekt bereits nach etwa zwei Wochen zu erwarten ist (Benkert et al., 2007), sollte bei diesen bisher therapieresistenten Fällen eine mindestens vierwöchige Anwendung in ausreichend hoher Dosierung erfolgen; falls nach vier Wochen ein gewisses Ansprechen deutlich wird, sollte die Behandlung weitere vier Wochen fortgesetzt werden (Schramm et al., 2007). Bestehen Kontraindikationen gegen die grundsätzlich nebenwirkungsreicheren Trizyklika bzw. wurden diese in ausreichend hoher Dosierung vom Patienten nicht vertragen, ist alternativ an die dual wirksamen selektiven Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (SSNRI) wie z. B. Venlafaxin oder in zweiter Linie auch an hochdosierte selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI), z. B. Escitalopram als hoch wirksamen Vertreter dieser Klasse, zu denken; die teilweise propagierte Ebenbürtigkeit der SSNRI mit den Trizyklika in der antidepressiven Wirksamkeit konnten wir
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insgesamt klinisch nicht nachvollziehen, sehr wohl ist jedoch nach anfänglicher deutlicher Besserung eine Umstellung z. B. vom Trizyklikum Amitriptylin auf den ebenfalls dual wirksamen SSNRI Venlafaxin zur Reduktion von Nebenwirkungen oft sinnvoll. Muss ein erneutes Nicht-Ansprechen auf den neuen Therapieversuch festgestellt werden, ist ein Wechsel des Präparates angezeigt: Ist ein Trizyklikum vertragen worden, ist primär an ein anderes Trizyklikum zu denken, z. B. Clomipramin mit stärker serotonerger Wirkkomponente statt Amitriptylin mit im Vergleich stärkerer noradrenerger Wirkkomponente oder umgekehrt; in zweiter Linie ist auch ein Wechsel der Wirkklasse zu erwägen, z. B. zu einem hochdosierten SSRI. In sehr schweren Fällen erscheint ein Wechsel zu einem irreversiblen MAO-Hemmer wie Tranylcypromin besonders aussichtsreich (Anghelescu, 2005); grundsätzlich kann auch eine Kombination von SSRI mit Mirtazapin versucht werden. Vor einem Wechsel des Antidepressivums ist auch eine Lithium-Augmentation zu erwägen, Studien belegen Ansprechraten von 40 - 50 % (Bauer et al., 1999). Bei Erfolglosigkeit des zweiten neuen Therapieversuches und auch der Lithiumaugmentation ist ein erneuter Wechsel des Antidepressivums zu bedenken, wobei an dieser Stelle auch weitere somatische Therapieverfahren in Betracht zu ziehen sind. Weitere somatische Therapieverfahren bei der endogenen Depression Die Schlafentzugstherapie, sinnvoll zu kombinieren mit Lichttherapie, wird bei bisher therapieresistenten Depressionen und fehlenden Kontraindikationen sinnvollerweise schon beim ersten neuen medikamentösen Behandlungsversuch parallel eingesetzt, um neben den kurzfristigen Effekten am nächsten Tag auch eine raschere Response insgesamt zu ermöglichen. Wesentlich wirksamer, jedoch auch sehr viel invasiver ist die Elektrokrampftherapie: für uns kommt sie überwiegend dann in Betracht, wenn auch ein zweiter neuer Medikationsversuch im stationären Setting bei einer endogenen Depression keinen ausreichenden Effekt erzielt hat; die antidepressive Wirkung der EKT ist der medikamentösen Wirkung auch der Trizyklika überlegen; eine Remissionsrate von 60 - 80 % wird in der aktuellen Literatur angegeben (Schramm et al., 2007); bei alleiniger EKT-Anwendung gibt es allerdings hohe Rückfallraten in den folgenden Monaten; sinnvoll erscheint uns deshalb insbesondere die Anwendung der EKT als Initialzündung, im weiteren ist dann eine fortgesetzte medikamentöse Behandlung
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meist ausreichend; es sei hier noch darauf hingewiesen, dass eine Erhaltungs-EKT grundsätzlich möglich ist, also die regelmäßige Durchführung einer EKT-Anwendung z. B. in monatlichen Abständen, aufgrund der möglichen Langzeitnebenwirkungen auf die mnestischen Funktionen sind wir diesbezüglich jedoch sehr zurückhaltend. Die transkranielle Magnetstimulation ist ein relativ neues Verfahren. Nach der vorliegenden Studienlage kann es noch nicht als grundsätzliche Alternative zur EKT angesehen werden. Die Vagusnervstimulation hat auch bei therapieresistenten Depressionen Wirkung gezeigt (Rush et al., 2000), setzt aber einen operativen Eingriff voraus und ist als erheblich invasiv anzusehen; in Fällen von besonderer Therapieresistenz kann sie in Einzelfällen in Betracht gezogen werden. Nicht-somatische Behandlungsansätze bei der endogenen Depression Wenngleich den somatischen Therapieverfahren bei der endogenen Depression eine wesentliche Bedeutung zukommt, so hat die klinische Erfahrung doch ebenfalls gezeigt, dass nicht-somatische Behandlungsansätze wichtig sind auch oder gerade auch bei bisher therapieresistenten Depressionen. An erster Stelle sei hier die Bedeutung der Auswahl des therapeutischen Settings genannt: eine stationäre Therapie bietet dem Patienten eine Entlastung von Alltagsproblemen, was banal, aber von großer therapeutischer Bedeutung ist, außerdem bietet die stationäre Therapie die Möglichkeit der Komplexbehandlung unter Einschluss von Ergo- und Kunsttherapie sowie Körpertherapie mit synergistischen Effekten. Bezüglich Psychotherapie ist hier auf folgendes hinzuweisen: zumindest stützende Maßnahmen sind stets möglich (Hartwich und Grube, 2003); eine psychodynamisch-orientierte Gruppentherapie speziell für endogen-Depressive, wie sie zur Zeit in unserer Klinik versucht wird, zeigt sich als breit anwendbar; auch andere tiefenpsychologische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze kommen in Betracht. Für das therapeutische Vorgehen und die Auswahl der Behandlungsmethode ist der individuelle Zustand des Betroffenen entscheidend. Die Behandlung der therapieresistenten endogenen Depressionen sei an dieser Stelle abgeschlossen, und es sei jetzt auf das grundsätzlich andere Vorgehen bei therapieresistenten neurotischen Depressionen eingegangen. Vorangestellt seien hierzu die wesentlichen Merkmale der neurotischen Depression.
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Merkmale der neurotischen Depression • Sie zeichnet sich aus durch einen chronischen Verlauf. • Es gibt eine Verstehbarkeit der Symptomatik aus der Lebensgeschichte heraus, in schweren Fällen ist eine hoch problematische Biographie die Regel. • Eine Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen vom abhängigen, narzisstischen, histrionischen und emotional instabilen Typus ist sehr häufig. • Man findet eine eher weniger tiefe, modulierbare Verstimmung. • Grundsätzlich spricht die Störung auf Psychotherapie an. • Insgesamt zeigt sich eine deutliche psychosoziale Prägung. • Eine Zuspitzung der depressiven Symptomatik ist möglich, auf eine chronische Dysthymia pfropft sich dann eine Episode einer Major depression auf, was als „Double depression“ bezeichnet wird. Bei schweren therapieresistenten neurotischen Depressionen liegt meist eine „Double depression“ vor (Hoffmann/Hochapfel, 1999. Huber, 1987).
Maßnahmen bei der „therapieresistenten“ neurotischen Depression meist im Sinne der „Double Depression“ • Grundsätzlich gibt es hier ein Primat der Psychotherapie, deren Anwendung jedoch oft sehr schwierig ist. • In Frage kommen sowohl ein tiefenpsychologisch fundiertes, evtl. psychoanalytisches als auch ein • kognitiv-verhaltenstherapeutisches Vorgehen. • Eine besonders gute Studienlage weist hier ein neueres Verfahren auf: das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) – von James McCullough; hierin werden kognitiv-behaviorale und interpersonelle Strategien integriert (Hoffmann und Hochapfel, 1999. Fennell, 1996. Keller et al., 2000. Mc Cullough, 2003). Allgemein ist festzustellen, dass die Psychotherapie solcher schwerer neurotischer Depressionen sehr langwierig sein kann. Ein zunächst fehlender Effekt auf die depressive Symptomatik schließt insbesondere beim tiefenpsychologischen Ansatz eine längerfristige Wirksamkeit keinesfalls aus. Eine Unwirksamkeit einer Psychotherapie kann in solchen Fällen oft erst nach längerer, mehrmonatiger Behandlung angenommen werden.
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• Eine Kombination mit einer Medikation ist meist, aber nicht in jedem Fall sinnvoll. • Ein stationäres oder tagesklinisches Setting bietet mit der Möglichkeit der Komplexbehandlung unter Einschluss von Ergo-, Kunst- und Körpertherapie Vorteile. Die besondere Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen auch im Vergleich zu Pharmakotherapie konnten Nemeroff et al. (2003) für das CBASP bei Patienten mit Kindheitstraumata und chronischer Depression zeigen. Bezüglich der Auswahl eines konkreten psychotherapeutischen Verfahrens sollten individuelle Faktoren des Patienten ausschlaggebend sein, auch das jeweilige Vorgehen innerhalb eines Verfahrens richtet sich stark nach der individuellen Problematik des jeweiligen Patienten. Der Wechsel der psychotherapeutischen Methode kann dann sinnvoll sein, wenn sich bei einem Patienten ein bestimmtes Verfahren auch nach genügend langer Therapiedauer nicht ausreichend bewährt hat. Somatische Therapien bei der neurotischen Depression Wie bereits erwähnt, gibt es bei der neurotischen Depression ein Primat der Psychotherapie. Somatische Therapien insbesondere bei therapieresistenter neurotischer Depression können jedoch adjuvant angewendet werden. Insbesondere eine antidepressive Medikation ist überwiegend sinnvoll; initial erscheinen eher „mildere“ und nebenwirkungsärmere Präparate wie SSRI oder Mirtazapin angebracht zu sein; bei der Einschätzung der Wirkung der Medikation zu beachten ist der begleitende psychotherapeutische Prozess, der in bestimmten Situationen auch eine vorübergehende vordergründige Verschlechterung hervorrufen kann; in so einem Fall wäre der Wechsel des Antidepressivums zunächst eher nicht sinnvoll. Kurz eingegangen sei hier auch auf die Möglichkeit der Elektrokonvulsionstherapie, die in modernen Manualen auch für solche Formen der Depression nicht ausgeschlossen wird: eigene klinische Beobachtungen in Großbritannien, wo EKT relativ häufig angewandt wird, zeigten deutlich geringere antidepressive Effekte als bei endogener Depression, nicht selten waren jedoch auch insgesamt Verschlechterungen zu beobachten, die am ehesten auf den negativen Einfluss der EKT auf die aggressive neurotisch-depressive Dynamik des Patienten zurückgeführt werden können. Psychodynamisch gesehen hat sich der Arzt in solchen Fällen zu dieser mit aggressiver Aura versehenen Methode verführen lassen, unreflektierte Gegenübertragungsvorgänge spielen hier eine beachtenswerte Rolle.
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Differentialindikation zur Elektrokonvulsionstherapie Anhand der Differentialindikation zur Elektrokonvulsionstherapie (EKT) zeigt sich ganz besonders deutlich die Relevanz der differenzierten Betrachtung von Depressionen bezüglich ihrer Art und Ätiologie; die weitgehende Beschränkung in der Differenzierung auf Schwere und Dauer, wie in ICD10 und etwas weniger in DSM IV praktiziert, birgt gerade bei diesem invasiven Verfahren Gefahren in sich. • Bei schwerer endogener Depression ist EKT eine wertvolle therapeutische Option, falls sich die Wirkung von Medikamenten als unzureichend erweist – bei den betreffenden Patienten ist ganz überwiegend eine positive Resonanz zu erkennen. • Bei schwerer neurotischer Depression dagegen birgt EKT eine erhebliche Gefahr der Verschlechterung in sich durch einen unter Umständen folgenschweren negativen Einfluss auf die Psychodynamik. Die Differentialindikation zur EKT macht die Relevanz der Differenzierung von ätiologischen Aspekten bei Depressionen besonders deutlich, die Schwere allein ist kein ausreichendes Kriterium.
Mögliche Ursachen einer „Therapieresistenz“ An dieser Stelle wird nochmals allgemein auf mögliche Ursachen einer vermeintlichen anhaltenden Therapieresistenz bei allen Depressionen eingegangen. Folgende mögliche Fehler sind zu beachten: • Pharmakotherapeutische Möglichkeiten sind nicht ausgeschöpft, der Dosierungsspielraum und die Vielfalt der Präparate sind nicht ausgenutzt, eine Lithiumaugmentation ist nicht versucht worden. • Psychotherapie ist nicht hinreichend zum Zuge gekommen, es gab keine ausreichende Intensität und Dauer, es wurde ein für den Patienten ungeeignetes Verfahren ausgewählt. • Es ist eine einseitige Pharmako- oder Psychotherapie erfolgt ohne die Möglichkeit synergistischer Effekte. • Eine stationäre Behandlung ist nicht versucht worden. • Organische und toxische Faktoren wie Hypothyreose, depressiogene internistische Medikation wie z. B. Betablocker und Suchtmittelkonsum sind übersehen worden.
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• Eine fehlende Compliance des Patienten ist nicht ausreichend beachtet worden. • Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass ein zu starker sekundärer Krankheitsgewinn den therapeutischen Bemühungen Grenzen setzen kann.
Schlussbetrachtung Abschließend ist folgendes Fazit zu ziehen: Die Frage „Wann sind Depressionen therapieresistent?“ bedarf einer sehr differenzierten Beantwortung. Die aktuell dominierende Definition, nach der Therapieresistenz besteht, wenn ein Nichtansprechen auf zwei Behandlungsversuche mit Antidepressiva verschiedener Wirkklassen in jeweils adäquater Dosis und Dauer vorliegt, wird letztlich dem komplexen Sachverhalt nicht gerecht. Eine reale Therapieresistenz kann nicht allein durch erfolglose Medikationsversuche festgestellt werden, einige weitere Punkte sind zu beachten wie primär psychotherapeutisch anzugehende Problematiken, komplizierende organische und toxische Faktoren und auch ein sekundärer Krankheitsgewinn. Grundsätzlich erforderlich ist bei bisher therapieresistenten Depressionen die Ausschöpfung der therapeutischen Möglichkeiten auf allen Ebenen, wobei eine ätiologische Hypothesenbildung bei der Gewichtung der therapeutischen Verfahren wichtig erscheint. Auch die adäquate Behandlung schwerer Depressionen ist oft sehr langwierig, erst eine mindestens ein Jahr andauernde erfolglose Behandlung unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten mag zur Annahme einer realen Therapieresistenz berechtigen – dies schließt eine noch spätere Besserung unter fortgesetzter Therapie aber keinesfalls aus. Unter Berücksichtigung aller dieser Punkte erscheint die Quote der wirklich dauerhaft therapieresistenten ausgeprägteren Depressionen eher gering zu sein. Die von Schramm et al. (2007) angegebene Zahl von 10 Prozent Depressionen, bei denen keine angemessene Verbesserung auch nach mehreren adäquaten Behandlungsversuchen (mit Antidepressiva) erreicht wird, dürfte deutlich zu unterschreiten sein. Ebenso müsste die von Bauer (2004) genannte Zahl von 35 Prozent ausbleibenden Remissionen nach dem zweiten Therapieversuch mit Antidepressiva bei weiterer differenzierter Behandlung auch mit den aktuell vorhandenen Möglichkeiten deutlich verringert werden können.
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Schramm E, Bauer M (2007) Chronische und therapieresistente Depressionen (ICD-10 F3). In: Voderholzer U, Hohagen F (Hrsg.) Therapie psychischer Erkrankungen State of the Art. 2. Auflage. Elsevier, München, 151 - 177 Tellenbach H (1983) Melancholie, Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik. 4. Auflage. Springer, Berlin – Heidelberg – New York – Tokyo Thase ME, Rush AJ (1995) Treatment-resistant depression. In: Bloom FE, Kupfer DJ (Hrsg.) Psychopharmacology: the fourth generation of progress. Raven Press, New York, 1081 - 1097 World Health Organization (1992) The ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders. Clinical Descriptions and Diagnostic Guidelines
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Der chronische Schmerzpatient (Schmerz aus psychosomatischer Sicht – interdisziplinäre Aspekte) 1. Das Leitsymptom Schmerz Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer aktuellen oder potentiellen Gewebeschädigung verknüpft ist, oder mit Begriffen einer solchen beschrieben ist (Definition der ‚International Association for the Study of Pain‘; http://www.iasp-pain.org). Die Wahrnehmung eines Schmerzreizes (Nozizeption) ist keine notwendige Bedingung für die Empfindung von Schmerzen und im Gegenzug muss intensive Nozizeption nicht als Schmerz wahrgenommen werden. Schmerz ist immer das, was der Patient als solches empfindet und besitzt viele „Gesichter“: Neuropathisch, nozizeptiv, somatisch, psychisch, viszeral usw. Ein sehr frühes Zitat von Galenos von Pergamon (129 bis 199 nach Christus), illustriert die Herausforderung, das Leitsymptom Schmerz angemessen einzuordnen und zu behandeln: Von Pergamon, welcher zeitweilig als Leibarzt des römischen Kaisers Marc Aurel fungierte, formulierte die weise Aussage: „Eine göttliche Aufgabe ist es, Schmerz zu lindern.“ Er fasste das gesamte Wissen der antiken Heilkunde in einem Werk zusammen, das später den Grundstock der arabischen und byzantinischen Medizin bildete. Zur Beurteilung des Schmerzgeschehens ist zunächst die Differenzierung zwischen chronischem und akutem Schmerz von Bedeutung. Als chronisch bezeichnet man Schmerzen ab einer Dauer von sechs Monaten, wobei sich in der Literatur auch chronische Einordnungen ab drei Monaten finden lassen. Wenn es bei akutem Schmerz um ein nozizeptives Input geht, dient dies der Warn- und Rehabilitationsfunktion des Körpers. Zu Beginn der Schmerzentwicklung überwiegen in der Regel somatische Faktoren, die sich auf das Körpererleben auswirken, je länger die Schmerzsymptomatik jedoch währt, desto stärker entwickeln sich psychosozialen Konsequenzen, wie z. B. psychisches Leiden im Sinne einer ängstlichen oder depressiven Symptomatik und sozialer Rückzug.
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Einen gerade im wissenschaftlichen, neurobiologischen Kontext wichtigen Begriff, stellt die Neuroplastizität des Gehirns dar. Bei chronischem Schmerz kann es zu neuroplastischen, elektrophysiologischen und molekularen Vorgängen u. a. im lateralen, medialen Schmerzsystem kommen. Beispielsweise kann aufgrund neuronaler Veränderungen eine übermäßige Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie) entstehen. Durch zentrale Verarbeitungsprozesse auf neuronaler Ebene entwickelt sich im Laufe des Lebens das so genannte „Schmerzgedächtnis“. Dies kann in seiner Entwicklung bereits von frühen Bindungsfaktoren im Kleinkindalter geprägt sein und im Sinne einer Schmerzhypersensibiliserung das Schmerzerleben beeinflussen. Häufig liegt bei Patienten, die über ein chronisches Schmerzgeschehen berichten, eine Diskrepanz zwischen Schmerz und organpathologischem Befund vor oder auch eine Art Therapieresistenz. An dieser Stelle ist eine Abklärung aus psychosomatischer Sicht unabdingbar. Diese Diskrepanz kann sich z. B. bei Zahnschmerz, craniomandibulärer Dysfunktion, orofazialem Schmerz, Kopfschmerz, Bruxismus, abdominellem Schmerz, Myoarthropathie oder Rückenschmerz manifestieren, genauso kann die Diskrepanz jedoch das Bild einer somatoformen Störung, Depression oder Angsterkrankung verkörpern. Des Weiteren ist bei der Schmerzdiagnostik das Einbeziehen kultureller Faktoren, da diese ebenfalls das Schmererleben und dessen Verarbeitung beeinflussen kann.
2. Schmerz und psychosomatische Erkrankungen Schmerz kann bei psychosomatischen Erkrankungen vielfältig zu Grunde liegen, so z. B. bei somatoformen Störungen, Angststörungen, depressiven Störungen, posttraumatische Belastungsstörung oder dissoziative Störungen. Hiervon abzugrenzen sind u. a. psychotische Erkrankungen wie z. B. eine coenästhetische Psychose. Als Diagnosekriterien liegt die ICD-10-Klassifizierung (International Classification of Diseases/WHO) zu Grunde, wobei es manchmal sinnvoll ist, ebenso die DSM-IV-Kriterien (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) hinzuzuziehen. Patienten mit somatoformen Störungen können spezifische Charakteristika aufweisen wie z. B. somatische Fixierung, psychosomatische Behandlungsabwehr, Schonhaltung, inadäquates Coping, Auffälligkeiten im Interaktionsmuster, im Bindungsverhalten oder auch häufigen Arztwechsel (‚Doctor- Hopping‘).
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Bei den somatoformen Störungen nach ICD-10 werden verschiedene Formen differenziert, so z. B. die Somatisierungsstörung (F45.0), die Hypochondrie (F45.1), die somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3) oder die anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.4). Bei der Untersuchung des Schmerzgeschehens ist aus psychosomatischer Sicht weiterhin zu diagnostizieren, ob weitere, psychische Komorbiditäten vorliegen wie z. B. Angst- oder depressive Erkrankungen, auch Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen. Unbehandelte psychische Komorbiditäten beeinflussen die Schmerzschwelle im Sinne einer Senkung der Schmerzschwelle und führen damit zu einer Schmerzverstärkung.
3. Das zentrale Schmerzsystem – Neurobiologische Aspekte Das Schmerzgeschehen ist auch aus neurobiologischer Perspektive komplex organisiert. Die peripheren Schmerzbahnen können via Rückenmark die Informationen zu zentralen Bahnen weiterleiten, von wo aus die Informationen in das laterale und mediale Schmerzsystem gelangen. Das laterale Schmerzsystem ist an den somatosensorischen Cortex gekoppelt, das mediale besteht aus vielen Strukturen des limbischen Systems. Darüber hinaus gibt es kortikale Strukturen, welche die endgültige Bewertung des Schmerzes beeinflussen. Außerdem bestehen nicht nur auf peripherer, sondern auch auf zentraler Ebene schmerzhemmende Systeme. Über Zytokinine wird die Stressachse im neurobiologischen Sinne aktiviert. Dies bedeutet, dass Schmerz, Stress und Affekt miteinander verknüpft sind. Diesem Aspekt ist auch in der Diagnostik und Behandlung Rechnung zu tragen.
4. Interdisziplinäre Aspekte Ein aus organpathologischer Sicht unbegründeter Schmerz ist nicht gleichzusetzen mit „eingebildetem Schmerz“, sondern Anlass zu interdisziplinärer Diagnostik. Wichtig ist in diesem Kontext, den Patienten mit seinem Leidensdruck ernst zu nehmen, da beispielsweise auch bei somatoformen Störungen mittels bilddarstellender Verfahren nachgewiesen werden konnte, dass das Schmerzzentrum trotz fehlendem organpathologischem Nachweis aktiviert wird. Schmerz ist nicht nur somatogen oder psychogen, sondern immer „multifakoriell“ bedingt im Sinne eines biopsychosozialen Ver-
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ständnisses, das die Interaktion von Neurobiologie, psychischen und sozialen Faktoren umfasst. Für eine differenzierte Diagnosestellung ist aus psychosomatischer Sicht eine umfassende und multimodale Anamneseerhebung notwendig, die über die psychosomatische Exploration hinaus, eine genaue Schmerzanamnese, das Erfassen vegetativer Symptome, sowie testpsychometrische Untersuchungen und Einblicke in bisherige Arztberichte anderer Fachdisziplinen umfassen sollte. Insbesondere eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist von großer Relevanz. Wichtige Fragestellungen hierbei sind, ob es sich um ein nozizeptives neuropathisches Geschehen, eine funktionelle, eine psychische Störung oder um eine Kombination handelt. Außerdem sollten Copingstrategien des Patienten erfasst werden und im Rahmen einer Psychotherapie verstärkt vermittelt werden. Coping ist insbesondere bei chronischen Erkrankungen z. B. aus dem rheumatoiden Formenkreis oder bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen ein wichtiges Element. Interdisziplinäre Diagnostik ist vor allem unabdingbar, wenn es um eine Diskrepanz zwischen Beschwerden und organpathologischem Korrelat geht. Die Kooperation und Zusammenarbeit dient dazu, die bestmöglichste Behandlungslösung für den Patienten zu finden. Oftmals ist auch eine parallele oder aufeinander folgende, gemeinsame Behandlung von Bedeutung. Am Frankfurter Universitätsklinikum in der Abteilung für Psychosomatik gibt es zahlreiche Liaisondienste und Konsilarbeit. Die folgende Abbildung veranschaulicht die zahlreichen Konsil- und Liaisondienste in der Abteilung für Psychosomatik:
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Interdisziplinäre Zusammenarbeit – Konsil- und Liaisondienste der psychosomatischen Abteilung (J.W. Goethe Universitätsklinik Frankfurt a.M.
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Der interdisziplinäre Ansatz dient z. B. bei chronischen Schmerzpatienten der Vorbeugung iatrogener Schädigung. Darüber hinaus können Fehldiagnosen und damit Fehlbehandlungen, Opiatmedikation ohne Indikation z. B. bei somatoformen Störungen vermieden werden. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bahnt nicht nur den Weg für eine zielorientiertere, effektive Behandlungsform, sondern wird auch dem starken Leidensdruck der Patienten am ehesten gerecht.
5. Therapie Bei psychosomatischen Schmerz-Erkrankungen kann eine ambulante oder stationäre Therapie indiziert sein. Im Rahmen ambulanter Psychotherapien können je nach individueller Ausprägung der Schmerzsymptomatik, Persönlichkeitsstruktur und psychosozialen Belastungsfaktoren analytische, tiefenpsychologische oder verhaltenstherapeutische Verfahren geeignet sein. Zudem existieren Entspannungsverfahren wie Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen, Autogenes Training oder Biofeedbackverfahren, die zu einer zusätzlichen psychischen Stabilisierung beitragen können. Für eine Indikation zur stationären psychosomatischen Behandlung bei chronischen
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Schmerzpatienten sind Kriterien wie Suizidalität, Analgetika- oder Tranquilizerabusus, Arbeitsunfähigkeit bzw. häufige Fehlzeiten, ausgeprägte häusliche Konfliktsituation, einseitiges somatisches Schmerzverständnis, starker Antriebsverlust, Mangel an Copingstrategien und Chronifizierung maßgebend. Je nach Störungsbild und Indikation kann in einigen Fällen auch eine zusätzliche medikamentöse Behandlung (z. B. mit SSRI bei Komorbidität Angst oder Depression; Duloxetin bei neuropathischem Schmerz und Depression) sinnvoll sein. Bei den somatoformen Störungen gestaltet sich die Interaktion zwischen Arzt und Patient häufig schwierig und nicht selten kommt es zu Abbrüchen der Beziehung. Daher ist ein grundsätzliches Ziel der Behandlung zunächst der Aufbau einer tragfähigen Beziehung. Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass eine differenziert Diagnostik bei chronischen Schmerzpatienten unabdingbar ist, um leitliniengemäß eine effektive, psychosomatische Behandlung einzuleiten. Zeigt der Patient z. B. ein organpathologisches Korrelat und eine psychische Komorbidität, so ist notwendig, interdisziplinär Beides zu behandeln.
Literatur Egle UT, Hoffmann SO, Lehmann KA, Nix WA (2003) Handbuch Chronischer Schmerz, Schattauer, Stuttgart. Egle UT, Hoffmann SO, Joraschky P (2005) Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. Erkennung, Therapie und Prävention der Folgen früher Stresserfahrungen. 3. Auflage, Schattauer, Stuttgart. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-IV-TR; Hogrefe, Göttingen 2003 Egle UT, Hardt J, Nickel R, Kappis B, Hoffmann SO (2002) Früher Stress und Langzeitfolgen für die Gesundheit. Z. Psychosomatische Medizin 48(4): 411-434. Egle UT, Ecker-Egle M-L, Nickel R, van Houdenhove B (2004) Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung. Ein neues biopsychosoziales Krankheitsmodell. Psychother Psych Med; 54: 137 - 147
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Workshopbericht: Einzelfalldarstellung eines langwierigen Krankheitsverlaufes Einleitung Anhand der Falldarstellung eines schweren und langen Krankheitsverlaufes sollte die Komplexität des diagnostischen sowie therapeutischen Vorgehens in der Diskussion mit Workshopteilnehmern erarbeitet werden. Besonderer Fokus sollte auf die Veränderung der psychopathologischen Symptomatik im Laufe der Therapie, die damit verbundenen diagnostischen Einschätzungen und die daraus resultierenden differierenden therapeutischen Haltungen sowie psychiatrisch/ pharmakologischen Implikationen gelegt werden.
Fallvorstellung Die erste stationäre Aufnahme eines 35-jährigen Patienten erfolgte aufgrund von Suizidalität, ausgeprägten Schlafstörungen und selbstverletzendem Verhalten seit dem 12. Lebensjahr. Bezüglich der stationären Aufnahme bestand eine ausgeprägte Ambivalenz. Der Patient wirkte scheu, mied Kontakt und ermöglichte den Therapeuten kaum Einblicke in das innere Erleben zu erhalten. Aus der Vorgeschichte wurde noch ein multipler Substanzmissbrauch sowie ein Suizidversuch berichtet. Der Patient wuchs in der Schweiz als 3. von 4 Geschwistern auf. Der Patient und die Geschwister wurden streng religiös erzogen. Als der Patient 12 Jahre alt war zog die Familie nach Deutschland. Er absolvierte die Realschule, anschließend das Gymnasium. Es gelang ihm eine Ausbildung abzuschließen, danach begann er ein Studium. Den Kontakt zur Familie hatte er weitestgehend abgebrochen. Eine Beziehung war nach 4 Jahren beendet worden. Die Behandlung erfolgte unter den Verdachtsdiagnosen depressive Episode bei emotionalinstabiler Persönlichkeitsstörung und Polytoxikomanie. Biographische Daten waren nur wenige zu erheben, da der Patient dies ablehnte. Die medikamentöse Behandlung mit Cipramil und Chlorprothixen blieb im Wesentlichen ohne Effekt, der stationäre und teilstationäre Rahmen mit den beglei-
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tenden Therapien ermöglichten dem Patienten jedoch sich soweit zu stabilisieren, dass eine Entlassung in die weitere ambulante Behandlung möglich wurde. Diese erfolgte über knapp ein Jahr. Der Patient erschien zuverlässig zu den Terminen, zunehmend traten jedoch dissoziative Symptome auf und schließlich wieder vermehrt suizidale Gedanken sowie selbstverletzendes Verhalten, sodass schließlich wieder die stationäre Aufnahme erfolgt, die sich mit kurzen Unterbrechungen über knapp 1 ½ Jahre zog. Der Patient wurde weiter unter der Diagnose einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ und Polytoxikomanie behandelt. Einer medikamentösen Behandlung stand er sehr ambivalent gegenüber, sodass die erste Phase der Behandlung geprägt war von häufigen medikamentösen Umstellungen und Medikamentenpausen, um dem Patienten sein hohes Kontrollbedürfnis zu lassen. Nachdem sich der Patient während des ersten Aufenthaltes kaum öffnen konnte, imponierte während der ersten Monate des zweiten Aufenthaltes ein unstrukturiertes, sprunghaftes und kaum zu unterbrechendes Mitteilungsbedürfnis. Dabei vermied der Patient jeden Blickkontakt, bei Nachfragen durch die Therapeutin kam es zu dissoziativen Zuständen. Jedes Nachfragen wurde offensichtlich als Grenzüberschreitung erlebt. Es entwickelten sich massive Ängste über das innere Erleben zu sprechen. Häufig kam es nach den Einzelgesprächen zu selbstverletzendem Verhalten. Hier wurde die ausgeprägte Ambivalenz und Ambitendenz des Patienten deutlich sich einerseits mitteilen zu wollen, es andererseits nicht zu dürfen. Der Patient stabilisierte sich selbst durch selbstverletzendes Verhalten, und gelegentlichen Alkohol- oder Amphetaminkonsum. In einer psychodynamischen Interpretation wurde die Therapeutin als Verführerin des Leiblich-Sinnlichen erlebt und musste deshalb auf Distanz gehalten werden. Die Suizidalität war während des gesamten Aufenthaltes in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden. Ein ausgeprägtes Gerechtigkeits- und Wahrheitsempfinden des Patienten ermöglichten eine zuverlässige Absprachemöglichkeit mit ihm, sodass die Behandlung im offenen Bereich möglich war. Erst nach einem halben Jahr war es dem Patienten möglich, einen Blickkontakt aufzunehmen und diesen auch auszuhalten zu können. Obwohl der Patient sehr lange in stationärer Behandlung war erlebt das Pflegepersonal ihn als Unbekannten, Unnahbaren. Der Patient strahlte eine Aura aus, die dazu führte, dass kaum jemand ihn ansprach. In der Gegenübertragung erlebten sich die Mitarbeiter in der Regel als Täter. Alleine während der therapeutischen Einzelgespräche war ein Kontakt herstellbar. Langsam entwickelte sich eine tragfähige therapeutische Beziehung und dem Patienten wurde es möglich, immer wieder kurze biographische Erinnerungen zu berichten. In der Art der Kommunikation zeigte sich deut-
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lich konkretistisches Denken, wodurch es häufig zu Missverständnissen kam. Dadurch war der Patient schnell zu irritieren. Zudem zeigten sich immer wieder ausgeprägte Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Der Patient half sich, indem er mit zahlreichen Notizzetteln zu den Terminen erschien. Psychomotorisch war der Patient meist sehr angespannt, wippte mit den Beinen. Berührungen wurden kaum toleriert. Kam es zu einer körperlichen Berührung, so reagierte er entweder aggressiv oder er dissoziierte. Im Rahmen der zunehmenden Verbesserung der therapeutischen Beziehung konnte sich der Patient auf eine medikamentöse Behandlung einlassen. Versuche erfolgen mit Amisulprid, Chlorpromazin, Flupenthixol und Perazin. Antidepressiv wurde mit Sertralin und später Fluoxetin behandelt. Schließlich erfolgt über lange Zeit eine Behandlung mit Perazin und Chlorpromazin sowie Zodurat.
Diagnostische Arbeitshypothesen aus der Gruppe Aufgrund der ausführlichen Falldarstellung, welche entsprechend nur in gekürzter Form wiedergegeben werden konnte, wurden folgende diagnostische Überlegungen aus der Gruppe vorgetragen. 1. Emotional instabile Persönlichkeitsstörung aufgrund: selbstverletzendem Verhalten, dissoziativen Symptomen 2. paranoide Schizophrenie aufgrund: fehlender Symbolisierungsfähigkeit, extreme Strukturschwäche 3. ADHS aufgrund: eingeschränkter Konzentrationsfähigkeit, paradoxe Wirkung von Amphetaminen (Entspannung und Verbesserung der Konzentration) 4. Autismus aufgrund: Kontaktstörung, Schwierigkeiten bei Veränderungen im häuslichen Umfeld 5. schizoide Persönlichkeitsstörung aufgrund: fehlender Empathiefähigkeit Gleichzeitig wurden in der Gruppe die Ressourcen des Patienten gesehen, der einen Schulabschluss und Beruf erlernt hat.
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Therapeutischer und diagnostischer Prozess Beide Prozesse waren gekennzeichnet durch das nur bruchstückhafte und langsam in Erfahrung zu bringenden biographischem Material. Initial sprachen die vorliegenden Symptome für eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ mit begleitender Polytoxikomanie. Das fehlende Agieren, das scheue, schon schizoid anmutende Verhalten, sowie die absolute Wahrheitsliebe des Patienten führten schließlich zur Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und emotionalinstabilen Anteilen. Im Weiteren Verlauf traten die dissoziativen Symptome immer mehr in den Vordergrund. Der Patient berichtete über dissoziative Fugues, Derealisations- und Depersonalisationserleben. Bei den Behandlern entstand die Phantasie, dass der Patient massiv traumatisiert sein müsse. Der Vater war von dem Patienten als sehr streng dargestellt worden. Phantasien von Misshandlung und Missbrauch gingen allen durch den Kopf. Die Diagnose der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung tauchte auf. Der Patient berichtete zudem, dass er bemerkt habe, dass unter Amphetaminen seine Anspannung und die innerlich erlebte, gelegentlich auch äußerlich sichtbare, Unruhe nachlassen würden. Die leichte Irritierbarkeit, die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, die Schwierigkeiten in Gruppen sowie die paradoxe Wirkung auf Amphetamine ließen den Verdacht auf ein ADS entstehen. Auffällig in den Einzelgesprächen waren die fehlende Symbolisierungsfähigkeit des Patienten und eine auffällige Empathiestörung. So kam es häufig zu Missverständnissen. Auch Witze konnte der Patient oft nicht verstehen. Er berichtete, dass er die Menschen nicht verstehen könne, er wisse zwar was erwartet werde, könne es aber nicht spüren. So gäbe es immer Schwierigkeiten mit Mitmenschen, sodass er sich entschlossen habe, diese zu meiden. Den Wunsch nach Nähe habe er zwar, es sei ihm aber zu anstrengend. Insgesamt habe er das Gefühl, dass es für ihn auf dieser Welt keinen Ort gäbe, an dem er leben könne. Somit tauchte eine weitere Verdachtsdiagnose auf, die der Autismusspektrumstörung. Eine Klärung war jedoch nur durch die Erhebung einer Fremdanamnese möglich, die der Patient lange Zeit ablehnte. Im weiteren Verlauf der Therapie war es dem Patienten möglich, die Erhebung der Fremdanamnese zuzulassen. Zu erfahren war, dass er bei der Geburt stark sehbehindert gewesen sei. In den ersten Lebensjahren konnte dies durch OP’s behoben werden. Bereits
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in den ersten 5 Lebensjahren traten immer wieder Wutanfälle auf. Ansonsten wurde der Patient als eher ruhig und zurückgezogen dargestellt, der sich überwiegend in der Phantasie aufhielt. Schon immer habe er schwer viele Reize aushalten können. Wenn es zuviel geworden sei, habe er Wutanfälle bekommen, getobt und geschlagen. Er habe sich nie in den Arm nehmen lassen, habe Berührungen gemieden. Er sei ein mittelmäßiger Schüler gewesen. Im mündlichen sei er immer schon schlecht gewesen. Er sei leicht ablenkbar gewesen. Als der Patient 12 Jahre alt wurde zog die Familie nach Deutschland. Der Patient begann zu rebellieren, tat nichts mehr für die Schule. Öfters verschwand er von zuhause, schwänzte die Schule, hielt sich nicht mehr an die Familienregeln, konsumierte Drogen. Im Alter von 15 Jahren zog er zu einem Freund, anschließend in eine Jugendwohngruppe. Die Eltern berichteten, dass sie ihren Sohn immer als etwas Besonderes gesehen hätten. Aufgefallen wäre ihnen, dass er auf Veränderungen in der Wohnsituation immer recht heftig reagiert habe, erzählte Geschichten habe er immer sehr ernst und als wahr erlebt. Er habe selten Wünsche geäußert, habe ein außergewöhnliches Gedächtnis. Nachdem die Erhebung der Fremdanamnese möglich geworden war, ergaben sich klare Hinweise sowohl auf ein ADS im Sinne des DSM-IV (4. Auflage, 1996), als auch auf eine Autismusspektrumstörung (ICD-10 Kapitel 5, 2000). Im Vordergrund der Symptomatik standen eine schwere Kontaktstörung, schweres Selbstverletzendem Verhalten, konkretistisches Denken, leichte Ablenkbarkeit, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, innere Anspannung und Unruhe, dissoziative Symptome, eingeschränkte Emphatiefähigkeit, Vergesslichkeit, starkes Gerechtigkeitsempfinden, hartnäckige Schlafstörungen, paradoxe Wirkung auf Amphetamine. Aufgrund der nun vorliegenden Fakten erfolgte ein Therapieversuch mit Methylphenidat, nach 3 Wochen zeigte sich eine Besserung. Insbesondere Kontaktfähigkeit, Konzentration und Aufmerksamkeit besserten sich, die dissoziativen Zustände ließen nach. Der Patient berichtete, sich entspannter zu fühlen, zu Selbstverletzendem Verhalten und oder Intoxikationen kam es seither kaum mehr. Es konnte so eine Stabilität erreicht werden, die eine weitere ambulante Therapie ermöglichte.
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Zusammenfassung Der vorgestellte Krankheitsverlauf zeigt, dass sich Symptome während einer Therapie stark ändern können und immer wieder neu vor dem Hintergrund des sich entwickelnden therapeutischen Prozesses bewertet und interpretiert werden müssen. Es bedarf einer Integration der Schwerpunkte und Ziele der verschiedenen Verfahren und deren zeitliche Abfolge hin auf den jeweiligen Patienten und dessen spezifischen Störungen, um diese individuell aufeinander abzustimmen und zu einem komplexen Behandlungsarrangement zusammen zu fassen. Der therapeutische Prozess entfaltet sich dann als dynamischer Verlauf einer komplexen Behandlungsorganisation. Der Therapeut sollte daher kontinuierlich den Therapieprozess begleiten, um diese Veränderungen zu erkennen und zu interpretieren. Es bedarf somit einer ständigen Offenheit des Therapeuten, sein Setting entsprechend zu adaptieren und nicht in festgelegten Diagnose-Therapie-Schemata verhaftet zu bleiben. Es sollte daher angestrebt werden, dass ein Therapeut in solch schwierigen Verläufen sowohl für die ambulante als auch die stationäre oder teilstationäre Behandlung zuständig ist. Änderungen im aktuellen Therapiesetting in Bezug auf das therapeutische Vorgehen unter Anwendung von strukturstärkenden, kognitiv-behavioralen sowie tiefenpsychologisch orientierten Therapieansätzen sollte in Abhängigkeit mit der Strukturschwäche und Symptomatik des Patienten möglich sein. Hierzu bedarf es in schweren und längeren Therapien zeitweise stationärer Behandlungsabschnitte, um vorübergehend notwendige multipersonelle Übertragungsphänomenen gewährleisten und in ein Behandlungskonzept einfügen zu können.
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Mögliche Therapiesettings Schizophrenie: Neuroleptika, strukturfördernde Psychotherapie, psychoedukative Therapieansätze Schizoide Persönlichkeitsstörung: Förderung emotionaler Kompetenz Emotional instabile Persönlichkeitsstörung: Verhaltensveränderung des selbstverletzenden Verhaltens, Förderung der Mentalisierungsfähigkeit, Verbesserung der Affektregulation Autismus: Verbesserung der Interaktionsfähigkeit und der Kommunikation, Förderung der Empathiefähigkeit ADHS: medikamentöse Therapie, strukturgebende Maßnahmen, Förderung der Interaktionsfähigkeit
Fazit In dieser Behandlung erfolgte die psychodynamische und medikamentöse Behandlung unter Berücksichtigung des psychodynamischen Kontextes und den psychodynamischen Implikationen durch einen Therapeuten (Reimer et al, 2000 S. 392ff) und erwies sich als verbindendes Element. In der Gruppe konnten diese wichtigen diagnostischen und therapeutischen Überlegungen besprochen werden.
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Literatur Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen, DSM-IV (4. Auflage), 1996, Hogrefe H.D. Ling, W. Mombauer, M.H. Schmidt: Internationale Klassifikation psychischer Störungen der WHO ICD-10 Kapitel 5 (4. Auflage 2000), Huber C. Reimer und U. Rüger, Psychodynamische Psychotherapien, Springer 2000, S. 392 ff
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Fallbearbeitung einer chronisch schizophrenen Psychose in einem Workshop mit Kollegen Der Fall Eine Gruppe von 15 Kollegen wählte den Fall eines 26 Jahre alten Patienten aus. Dieser wurde von einer langjährig erfahrenen Nervenärztin und Psychotherapeutin vorgestellt. Es handelte sich um eine psychotische Erkrankung, die den Ausblick auf eine Langzeitbehandlung ermöglichte, welche erst wenig von chronischen Merkmalen geprägt war. Der Patient war nach einer stationären Behandlung von seiner Mutter bei der Therapeutin angemeldet worden. Die Mutter hatte mitgeteilt, ihr Sohn wolle mehr sprechen als dies in der bereits laufenden ambulanten psychiatrischen Behandlung möglich sei. In der Erstbegegnung erlebte die Kollegin einen untersetzten jungen Mann mit dunklen Augen und dunklen Haaren, wobei sie in der Fallvorstellung betonte, dass er nicht dick sei. Er hatte rasch bei ihr den Wunsch geweckt, ihn für eine Therapie anzunehmen, wobei sie an ein Setting von einer Sitzung alle 14 Tage dachte. Gleichzeitig hatte sie aber auch das Empfinden, er „entschwindet mir immer wieder“. Er sei nicht sehr gesprächig. Auch habe er beim zweiten Gespräch geäußert: „Gell, ich bin Ihnen lästig!“ Über Inhalte seines Krankheitserlebens hatte die Kollegin vom Patienten wenig erfahren und auch der Bericht aus der Klinik lag noch nicht vor. Es hätten sich seine Symptome bei einer Semesterabschlussfeier seines Biologiestudiums entwickelt. Über die Inhalte seines psychotischen Erlebens hab er gegenüber der Therapeutin kaum Genaues sagen können. Er konnte jedoch mitteilen, dass seine wahnhaften Symptome unter Neuroleptikabehandlung nach 14 Tagen in der Klinik verschwunden gewesen seien. Vor dem aktuellen Biologiestudium hatte der Patient bereits ein Studium der Forstwirtschaft nach wenigen Semestern abgebrochen. Biographisch war zu erfahren: Der Vater sei Ingenieur, die Mutter sei kaufmännisch tätig und der ältere Bruder sei Arzt.
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Verlauf und Gruppenprozess Die Mitglieder der Gruppe fanden in der Neugier auf den jungen Mann zusammen, der am Anfang einer von Psychoseerkrankung geprägten Lebensentwicklung stand. Die noch in den Vorgesprächen zur Psychotherapie stehende Kollegin brachte verbal und gestisch ihre Verunsicherung und auch eine gewisse Ratlosigkeit mit dem jugendlich wirkenden Patienten zum Ausdruck, welche im Gegensatz zu ihrer Kompetenz und langjährigen Erfahrung stand. So stellte sie beispielsweise an die Gruppe die Frage: „Bin ich überhaupt richtig für diesen Patienten?“ In der Workshopgruppe kam es in dieser Sequenz zu einer konflikthaften Spannung zwischen mehreren Teilnehmern. Zuerst wurde ein Versuch zu einem fürsorglich verstehenden Umgang mit dem Patienten formuliert in dem Bild, er strebe an, sich im Uterus einzunisten. Damit wurde der Behandlerin das Bild des weitestgehenden umfassenden mütterlichen Schutzes mit intensivem emotionalen Ausdruck angeboten. Dies konnte als Gegenidentifikation (Benedetti) zu dem weitgehend sprachlosen Patienten interpretiert werden. Unmittelbar dagegen wurde von einer anderen Kollegin dieses Bild als falsches Verständnis kritisiert, da noch gar keine verstehbare Beziehungsgestalt erkennbar sei. Daraufhin bildete sich in der Gruppe eine aggressive Spannung ab zwischen verstehendem Zugang und Negation, die Lähmung produzieren könnte. Die Frage tauchte auf: Ist der Patient konturlos oder nicht? Dies löste eine weitere Polarisierung in der Gruppe zwischen mehr traditionell psychiatrisch arbeitenden Kollegen und rein psychotherapeutisch tätigen Kollegen aus. Zunächst wurde deswegen der Missstand beklagt, dass Psychiater zu wenig Zeit für Patienten hätten. Auch Anklänge an alte antipsychiatrische Kritik kam auf mit dem Vorwurf an die psychiatrischen Kollegen, das Etikett der Schizophreniediagnose überdecke nur die psychiatrische Hilflosigkeit. Dagegen wurde von psychiatrischer Seite die Forderung nach einer sorgfältigen psychopathologischen Befunderhebung gestellt, welche durch den ausschließlich psychotherapeutischen Zugang nicht genügend gegeben sei. Die rational berechtigte Kritik der Psychiater stellt aber zugleich ein Moment der emotionalen Konfliktdynamik der Gruppe im Bezug zum Patienten dar. Gegen die Spaltung und Desintegration in der Gruppe fanden die Mitglieder nur noch in der Betonung des Zeitmangels in der Arbeit mit Patienten zusammen. Die Dynamik der Interaktion in der Gruppe war hier als Widerhall der antikohäsiv wirkenden Kräfte zwischen Desorganisation und verzweifeltem Bemühungen um Synthese in der Psyche des Patienten zu verstehen. An dieser Stelle war eine Intervention durch die Gruppenleitung erforderlich,
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da die Kohäsionskräfte der Gruppe spürbar überfordert waren. Die desintegrierenden Kräfte des gerade zurückliegenden akuten psychotischen Erlebens wurden noch einmal in Erinnerung gerufen und die Notwendigkeit des Betroffenen „einen Deckel darauf zu setzen“ im Sinne einer notwendigen Verdrängung. Die Lähmung der emotionalen und kognitiven Möglichkeiten in der Gruppe im Widerstreit entsprach der Angst vor dem „Lüften des Deckels“ beim Patienten im Nachgang des stattgehabten Erlebens akuter Überschwemmung in der Psychose. Auch die zurückhaltende Befunderhebung der Kollegin war dem Wahrnehmen dieser notwendigen Abschottung des Patienten zu diesem Zeitpunkt gerecht geworden. Seine Angst vor psychotischer Überwältigung gründet in der Beziehungsangst, welche er vorwegnehmend gegenüber der Ärztin formuliert hatte: „Bin ich Ihnen lästig?“ Die Angst vor erwarteter vernichtend erlebter Beschämung innerhalb einer fürsorglichen Beziehung zu einer Frau wird von ihm unbewusst projektiv umformuliert in die mögliche Belastung des gewünscht fürsorglichen Objekts. Insgesamt konnte in der gemeinsamen Arbeit die innere Erlebensdynamik des Patienten teilweise im Gruppenprozess gespiegelt werden. Diese Sichtbarmachung bereicherte die Erfahrung jedes einzelnen Teilnehmers und eröffnete neue Perspektiven in der Umgangsweise mit chronisch psychotischen Menschen.
Literatur Benedetti, G.: Psychotherapie als existentielle Herausforderung. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1992 Hartwich, P.: Schizophrenie. Zur Defekt- und Konfliktinteraktion. In: Böker,H. (Hrsg.) Psychoanalyse und Psychiatrie. Springer, Berlin-Heidelberg-New York 2006 Hartwich, P., Grube, M.: Psychosen-Psychotherapie. 2. Aufl. Steinkopff, Darmstadt 2003
Frankfurter Psychiatrie-Symposion Peter Hartwich ♦ Arnd Barocka (Hrsg.)
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Wahn. Definition – Psychodynamik – Therapie 2004, 204 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-208-8 Peter Hartwich ♦ Steffen Haas (Hrsg.)
Suizidalität. Diagnostik und Therapie 2003, 120 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-186-9 Peter Hartwich ♦ Steffen Haas (Hrsg.)
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Verlag Wissenschaft & Praxis