Das Buch der Leiden 9783406697623, 9783406697630, 3406697623

'Attar ist einer der größten islamischen Mystiker. Das "Buch der Leiden" stand lange im Schatten seiner &

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German Pages 399 [400] Year 2017

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Table of contents :
Cover
Titel
Zum Buch
Über den Übersetzer und die Autorin des Nachworts
Impressum
Inhalt
ʿAttār und das «Buch der Leiden»
Von Monika Gronke
Farīd od-Dīn ʿAttār: Das Buch der Leiden
Beginn des Buches
1. Hodayfā befragt Haydar über die Offenbarung
2. Alexander und der Bettler
Erstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Gabriel
1. Abū Saʿīd und der Gefangene der Räuber
2. Jesus und der Schlangenbeschwörer
3. Laylā und Madschnūn: Unerfüllte Liebessehnsucht
4. Laylā und Madschnūn: Die vollkommene Liebe
5. Abū Saʿīd und der junge Mann: Die Gabe der Askese
6. Die ferne Königstochter
Zweites Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Isrāfīl
1. Der Feueranbeter in Seenot
2. Frieden zwischen Katz und Maus
3. Der schöne Sklave
4. Sultan Mahmūd und sein Diener Ayāz
5. Schiblī und der Narr: Eine Bitte an Gott
6. Der hungrige Narr und der Ehrenmann
7. Der hungrige Narr und der Wolf
8. Der verwirrte Ehrenmann und der junge Eiferer
Drittes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Michael
1. Der Unwissende fragt Hatem nach seinem Lebensunterhalt
2. Mose und Borch der Schwarze
3. Gottes Zorn und Gottes Güte
4. Sultan Mahmūd und der freigekaufte Mörder
Viertes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens geht zu ʿAzrāʾīl –
Friede sei mit ihm!
1. Hasan weint über sich selbst
2. Bohlūl und das Geheimnis des Toten
3. Der Narr auf dem Friedhof
4. Ein Narr klagt über sein Leben
5. Bohlūl am Grab eines Tyrannen
6. Gottes Grausamkeit
7. Der Mann, der die Milch mit Wasser streckte
8. Der Narr und die Mutter am Grab ihres Sohnes
9. Noah und der Töpfer
10. Maria hört vom Tod Jesu
11. Das Schwerste in Abrahams Leben
12. Alexanders leere Hände
Fünftes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu den Thronträgern und den Engeln
1. Die Vergänglichkeit der Engel
2. Der Vogel beim Leichnam Dschunaids
3. Hārūt und Mārūt am Grund der Grube
4. Das Haus aus der Grube
5. Abū Mūsā und Bāyazīd: Der Traum vom Thron
6. Der Streit zwischen Topf und Schale
7. Abū Saʿīd und der Mühlstein
8. Laylā und Madschnūn: Die Schande der Liebe
9. Wem gehört die Liebe zu Ayāz?
Sechstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Gottesthron
1. König Mālekschāh und die Kuh der alten Frau
2. Meister Sofyān und die treue Nachtigall
3. Nezām ol-Molk und die bitteren Gurken
4. König Mahmūd und sein treuloser Verwalter
5. Der Pharao, das Weidenkörbchen und die vierhundert Sklavinnen
Siebtes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Fußschemel
1. Hārūn ar-Raschīd erfährt, was sein Reich wert ist
2. Anūschirvān der Gerechte
3. Der König und die Hütte der Alten
4. Bohlūl und der geizige König
5. Das Mahl des Fürsten als Hundefraß
6. Ein Ratschlag von Zāher an Sandschar
7. Der Dirham aus geschwärztem Silber
8. Meister Akkāfī gibt König Sandschar Almosen
9. Das Geheimnis von Erhabenheit und Erniedrigung
10. Bohlūl auf Hārūns Thron
Achtes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zur Schicksalstafel
1. Dhū-l Nūn und der Feueranbeter
2. Rede eines Narren in der Derwischkutte
3. Der Mann, der Schönschön hieß
4. Der Narr in der Glaserei
5. Eine kostbare Salbe für einen verwahrlosten Esel
6. Der Verrückte und sein Spiegel
7. Jesus und Eblīs, der Teufel: Gewohnheit und Wahrheit
8. Salomo kann seine Körbe nicht verkaufen
Neuntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Schreibrohr
1. Dhū-l Nūn und sein asketischer Schüler
2. Schiblī ehrt den vollkommenen Dieb
3. Der Falschmünzer in der Derwischkutte
4. Der Prediger von Ghazna und der Mann, der seinen Esel verlor
5. Abū Saʿīd und Loqmān: Stein und Zunderschwamm
6. Nezām ol-Molk und der Narr: Der Glaube und die Welt
Zehntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Paradies
1. Scheich Bāyazīd verlangt Rechenschaft von Gott
2. Das Lächeln des sterbenden Liebhabers
3. Zulaikha sucht Josephs Aufmerksamkeit: Eine Liebeslist
4. Madschnūn in Laylās Viertel
5. Der Araber ohne Tischmanieren
6. Der Staub der Niedrigkeit auf Gottes Saum
7. Mahmūd und Ayāz: Ein Wettstreit im Selbstlob
8. Der Meister, der sich von Gott einen Gast erbat
9. Hārūn möchte Laylā sehen
10. Der Wunsch eines Weisen für sein Leben nach dem Tode
11. Ayāz’ altes Lammfell
Elftes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankensgeht zur Hölle
1. Das Gleichnis vom Mistkäfer
2. Der Narr als König der Welt
3. Die Ökonomie des Totengebets
4. Der Leichnam «Welt»
5. Der Narr und das Leichentuch
6. Salomo und das Vögelchen
7. Scheich Abū Saʿīd und der Alte im Dampfbad
8. Hārūn und Bohlūl: Der Meilenstein
9. Der Wissenschaftler und der Prophet
10. Das listige Tier Būqalamūn
11. Jesus und der Schläfer
Zwölftes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Himmel
1. Der zerbrochene Mühlstein
2. Der Narr und der Gottsucher
3. Ein Narr sehnt sich nach der Derwischkutte
4. Rede eines Vollkommenen über Askese
5. Der Specht, der unsterblich in Salomo verliebt war
6. Der zerrissene Hirsesack
7. Der Sufi und der Würdenträger
8. Isaak und sein Sklave
9. Der Hund, das Brot und der Mond
10. Der Schmerz des Tuns
11. Der Schmerz, gegen den Meditation und Wirbeltanz nichts ausrichten
12. Abū ʿAlī Tūsī und der vollkommene Tag
Dreizehntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankensgeht zur Sonne
1. Der König als Mundschenk seines Sklaven
2. Mahmūd und der Greis mit dem Gerstensack
3. Die Rede der Fledermaus über die Sonne
4. Die Mücke und die Platane
5. Der König und der Mann, der die Erde siebte
Vierzehntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Mond
1. Sandschars Schwester und der arabische Prinz
2. Der Feigling und die Riesenschlange
3. Der Feigling, der Rostam hieß
4. Abū Saʿīd und der Feueranbeter
Fünfzehntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Feuer
1. Jesus und die Gier der Menschen
2. Mahmūd und der Narr
3. Hasans Hinrichtung
4. Der Narr auf dem Basar
Sechzehntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Wind
1. Der Schatten des Vogels Homā
2. Der aufrichtige Dieb
3. Der Lastenträger, dem das Tragseil riss
4. Der lachende Verurteilte
5. Rat eines Sufis an den König
6. Das Gleichnis vom Seilerlehrling
7. Jesus und der Ziegelstein
8. ʿOmar baut eine Wasserrinne
9. Der Narr und die zerstörte Stadt
Siebzehntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Wasser
1. Der scharfsichtige Scheich und seine Nahrung
2. Abū Saʿīd und die Latrine
3. Der feine Herr und der Narr vor der Latrine
4. Der Misthaufen und der Friedhof
5. Der Pharao und Eblīs
6. Der Einbrecher und der Derwisch
Achtzehntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zur Erde
1. Der Fürst und die bittende Alte
2. König Nasr Ahmad und der fromme Scheich Elias
3. Ahnaf und der Unwissende
4. Dschunaid und das gestohlene Hemd
5. Ibrahīm-e Adham zeigt den Weg zur Stadt
Neunzehntes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Berg
1. Die drei Wege des Suchenden
2. Nezām ol-Molk und der Sufi
3. Das Testament eines Narren
4. Ein Hindu auf der Hidschra
5. Rābiʿa will nicht aus dem Haus
6. Laylā und Madschnūn: Wohin soll man beten?
7. Scheich Nasrābādī an der Kaaba
8. Der Gerechte in der Hölle
Zwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Meer
1. Ein Wort Alexanders über das Maß der Mitte
2. Meister Akkāfī und die Werkbank des Schusters
3. Der Sohn des Emirs und der Sohn des Schusters
4. Ayāz’ Schleier
5. Ein Derwisch wünscht sich eine Streitaxt
6. Der Liebende, der nicht zu sich selbst zurückkehren wollte
7. Der barhäuptige Narr
8. Schiblī und die taube Nuss
Einundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Mineral
1. Der Geizige und der Geduldige auf See
2. Der Narr und der Sterbende
3. Reue eines Wesirs auf dem Totenbett
4. Dāwūd Tāʿi hat es eilig
5. Der Narr und der Todkranke
6. Bohlūl und Hārūn auf der Brücke
7. Bohlūl und Hārūn auf dem Friedhof
8. Der Freigiebige
9. Drei Fragen an den Propheten
10. Ebn Sīrīns Rede über den Neid
11. Der verwirrte Bäcker
12. Der Narr, der vor Hunger weinte
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zur Pflanze
1. Mahmūd zieht gegen einen Bettler in den Krieg
2. Ein Narr spricht im Elend zu Gott
3. Ein Narr will sein Leben zurückgeben
4. Ein Narr erhält von Gott Brot und Kleidung
5. Der Einsiedler, der Gott die Zähne zeigt
6. Der barfüßige Narr in der Kälte
7. Der Narr, dessen Herz gestorben war
8. Schiblī und der unheilbare Schmerz
9. Die Bitte eines barfüßigen Narren
10. Ein Narr fürchtet um sein täglich Brot
11. Tischgebet eines Narren
12. «Gott lässt dich grüßen!»
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu den Gliederfüßern
1. Der Narr, der sein Geld zurückfordert
2. Der Narr vor dem Krämerladen
3. Was bleibt dem Menschen?
4. Der Bauer, der sich einen Kürbis ans Bein band
5. Der Ungeduldige und der Scheich
6. Die Wunder des Meeres
7. Ein alter Meister unter Feinden
8. Abū Saʿīd und der verspätete Wasserträger
9. ʿOmar vertraut Gott sein Kind an
10. Der Scheich und die gestohlenen Schuhe
11. Was gibt es in der Welt am meisten?
12. Die Alte auf dem Friedhof und der Flickenrock
13. Der Mystiker ʿAbbāsa und die Reichen
14. Der Mufti an der Tür des Sultans
Vierundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu den Vögeln
1. Mahmūd und die Alte
2. Die arme Witwe und der böse Blick
3. Alexander in China
4. ʿĀmr ebn Qais und die gesalzene Lauchstange
5. Der König und der Narr in der Tonne
6. Der Narr im Schloss des Gouverneurs
7. Das selbstsüchtige Kind
Fünfundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu den Tieren
1. Das gute und das schlechte Essen
2. Mose und das Schwein
3. Besser Ziegenbock als Esel
4. Der Schüler, der sich in die Magd seines Meisters verliebte
5. Der Kloakenreiniger und der Muezzin
6. Der Mann, der sich aus Furchtvor Satan nach dem Tod sehnte
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Eblīs
1. Eblīs erzählt die Geschichte vom untreuen Sufi
2. Eblīs besucht den Propheten
3. Der Distelsammler, dem Gott zwei Wünsche gewährte
Siebenundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu den Dschinnen
1. Laylās Rat an Madschnūn
2. Der Narr und der Asket
3. Ein Narr wünscht sich neue Kleider
4. Mose und die Gesetzestafeln
5. Ein Narr klagt Gott an
6. Gottes Herz ist unersättlich
7. Ein Narr isst Schnee
8. Gott gibt nicht einmal Brot
9. Wer kennt Gott wirklich?
10. Der nackte Araber an der Kaaba
11. Ein Narr betet wieder
12. Moses blendendes Antlitz
13. Der Narr und der Statthalter
14. Die zwei Gebete des Narren
15. Die Kuhseuche
Achtundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Menschen
1. Ayāz auf dem Krankenbett
2. Mahmūd und Ayāz beim Polospiel
3. Der selbstverliebte Knabe
4. Die Bestrafung des nachlässigen Liebhabers
5. Der Schlag in den Nacken
Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Adam
1. Ein Sklave wird auf die Probe gestellt
2. Der Gotteslöwe ʿAlī und die Schlechtigkeit der Welt
3. Der arme Statthalter von Balch
4. Der Prophet und die freigiebige Alte
5. Nutzloser Schmerz und wahrer Seelenkummer
6. Der Höchste Name Gottes
7. Das Geheimnis des täglichen Brotes
8. Wie der kleine Nezām ol-Molk Polo spielte
Dreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Noah
1. Der Weg des Schmerzes
2. Das klagende Vögelchen
3. Die Klage der Alten um ihren toten Sohn
4. Der leidende Narr von Nischapur
5. Der Schmerz des Diebes, dem man die Hand abschlug
6. Der Koranrezitator
7. Madschnūns Tod
8. Die Frau, die in Liebe zu Ayāz entbrannte
9. Madschnūn an der Kaaba
10. Die Einsamkeit des Meisters
11. Mahmūd und der indische Knabe
Einundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Abraham
1. Der Asket, der sich ein Atomvon Gottes Liebe wünschte
2. Madschnūn vor dem König
3. Der schöne Sklave, der in den Spiegel blickte
4. Mahmūds Ohnmacht
5. Wann soll man Gottes gedenken?
6. Ein Papagei lernt sprechen
7. Wie geht es einem Narren?
Zweiundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Mose
1. Das selbstmörderische Liebesgeständnis
2. Tödliche Umarmung
3. Madschnūn in der Wüste
4. Zulaikhas Liebesglut
5. Der König als Sklave seines Sklaven
Dreiundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu David
1. Davids Klagepsalmen
2. Mahmūd und Ayāz: Die Kunst der Ergebenheit
3. Ayāz und der Becher aus Rubin
4. Ein Hund in Gottes Straße
5. Ein bescheidener Wunsch
6. Ein Andenken an den Geliebten
7. Der Narr, der sich aus Liebe von Gott lossagt
8. Loqmān Sarachsī reitet in die Schlacht
Vierundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Jesus
1. Jesus und der tote Hund
2. Der abergläubische Dieb
3. Mose, die Taube und der Falke
4. Der König und die Kriegsgefangenen
5. Der Prophet und die Ehebrecherin, die gesteinigt werden wollte
6. Abraham und der Ungläubige
7. Dhū-l Nūn und Gottes Großmut
8. Sofyān ath-Thaurī verkauft vier Pilgerfahrten für einen Seufzer
Fünfundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zu Mustafā
1. Mustafā und der Jude
2. Der Scheich, der Gottes Nähe suchte
3. Bāyazīd und der Hund
4. Ein Sufi vor Gericht
5. Hüte dich vor den Sufis!
6. Der Reiche, der nicht schlafen konnte
7. Der Kummer des Derwischs
8. Als die Liebenden zu Königen wurden
Sechsundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Sinneswahrnehmung
1. Der Narr und der Pilger im Hedschas
2. Der Mann, der im Winter aussäte
3. Der Sohn Adhams bedeckt sein Gesicht
4. Der Narr und der nachlässige Beter
5. Der junge Ringer, der ein graues Haar bekam
6. Der Wesir, der zurücktreten will
7. Der unerwiderte Gruß
8. Der Narr und der Totenschädel
9. Der Narr und der Totenschädel, zweite Geschichte
10. Kein Haus für Jesus
11. Der Narr und der König
Siebenundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zur Vorstellungskraft
1. Der Scheich der Welt und sein liebender Schüler
2. Der beschwerliche und der gerade Weg
3. Mahmūd und der Derwisch: Die vollkommene Liebe
4. Kann ein Liebender in die Hölle kommen?
5. Salomo und die verliebten Finken
6. Der eifersüchtige Weise
7. Joseph und Gabriel im Gefängnis
8. Mahmūd und Ayāz: Die Sklaverei der Liebe
9. Der Jüngling, der das Gesichtseiner Geliebten erblickt hatte
10. Rābiʿas Schleier und der Dieb
11. Der Atem des Jünglings
12. Mahmūd, Hasan und der leere Audienzsaal
Achtundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Verstand
1. Ein Esel führt die Weisen dieser Welt
2. Der gelehrte Balʿ amī
3. Der alte Leierspieler
4. Der Narr, der sich vor Gott fürchtete
5. Der Narr im Unwetter
6. Der Narr in der Stadt
7. Yahyā ebn Moʿādh prangert die Imame an
8. Das Volk murrt über König Haddschādsch
9. Mahmūd und Ayāz: Wer ist der Schönere?
Neunundreisigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zum Herzen
1. Zweifel an der Schwelle der Geliebten
2. Der verliebte Tagelöhner, mit dem die Prinzessin ihren Spott trieb
3. Mahmūd verkauft Ayāz
4. Madschnūns Lieblingswort
5. Der Vollkommene und der Feuertempel
6. Mahmūd und Ayāz auf der Jagd
Vierzigstes Kapitel: Der Pilger des Herzensgedankens
geht zur Seele
1. Der Edelstein der Erkenntnis
2. Der Geschmack der wahren Religion
3. Der Weg von Gott zu Gott
4. Charaqānīs Traum
5. Der Hochmut der Erzengel
Anhang
Dank
Zur Übersetzung
Editionen, Übersetzungen und Literatur
Anmerkungen zur Einführung
Anmerkungen zur Übersetzung
Glossar
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Das Buch der Leiden
 9783406697623, 9783406697630, 3406697623

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FARĪD OD-DĪN ʿATTĀR

Das Buch der Leiden

Aus dem Persischen von Bernhard Meyer Unter Mitarbeit von Nasi Shahin, Mehrdad Razi, Tahereh Matejko und Jutta Wintermann Mit einer Einführung von Monika Gronke

Verlag C.H.Beck

1. Auflage. 2017 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2017 Umschlaggestaltung: Uwe Göbel, München Umschlagabbildung: Fariduddin ‘Attar auf einer indischen Miniatur im Mogul-Stil, Ende 18. Jahrhundert (?), nach einem persischen Original, © Roland und Sabrina Michaud /akg-images ISBN Buch 978 3 406 69762 3 ISBN eBook 978 3 406 69763 0 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.

Inhalt

ʿAttār und das «Buch der Leiden» 17  Von Monika Gronke

Farīd od-Dīn ʿAttār DAS BUCH DER LEIDEN Beginn des Buches 47 1. Hodayfā befragt Haydar über die Offenbarung 48 2. Alexander und der Bettler 56

Erstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Gabriel 57 1. Abū Saʿīd und der Gefangene der Räuber 58 2. Jesus und der Schlangenbeschwörer 59 – 3. Laylā und Madschnūn: Unerfüllte Liebessehnsucht 59 4. Laylā und Madschnūn: Die vollkommene Liebe 60 5. Abū Saʿīd und der junge Mann: Die Gabe der Askese 61 6. Die ferne Königstochter 63

Zweites Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Isrāfīl 64 1. Der Feueranbeter in Seenot 65 – 2. Frieden zwischen Katz und Maus 66 – 3. Der schöne Sklave 66 – 4. Sultan Mahmūd und sein Diener Ayāz 67 – 5. Schiblī und der Narr: Eine Bitte an Gott 68 6. Der hungrige Narr und der Ehrenmann 69 – 7. Der hungrige Narr und der Wolf 69 – 8. Der verwirrte Ehrenmann und der junge Eiferer 70

Drittes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Michael 71 1. Der Unwissende fragt Hatem nach seinem Lebensunterhalt  72 2. Mose und Borch der Schwarze 73 – 3. Gottes Zorn und Gottes Güte 76 – 4. Sultan Mahmūd und der freigekaufte Mörder 76

Viertes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu ʿAzrāʾīl – Friede sei mit ihm! 78 1. Hasan weint über sich selbst 79 – 2. Bohlūl und das Geheimnis des Toten 80 – 3. Der Narr auf dem Friedhof 81 – 4. Ein Narr klagt über sein Leben 81 – 5. Bohlūl am Grab eines Tyrannen 81 6. Gottes Grausamkeit 82 – 7. Der Mann, der die Milch mit Wasser streckte 82 – 8. Der Narr und die Mutter am Grab ihres Sohnes 83 – 9. Noah und der Töpfer 83 – 10. Maria hört vom Tod Jesu 84 – 11. Das Schwerste in Abrahams Leben 84 12. Alexanders leere Hände 85

Fünftes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Thronträgern und Engeln 86 1. Die Vergänglichkeit der Engel 87 2. Der Vogel beim Leichnam Dschunaids 88 3. Hārūt und Mārūt am Grund der Grube 88 4. Das Haus aus der Grube 89 – 5. Abū Mūsā und Bāyazīd: Der Traum vom Thron 90 – 6. Der Streit zwischen Topf und Schale 90 7. Abū Saʿīd und der Mühlstein 91 – 8. Laylā und Madschnūn: Die Schande der Liebe 92 – 9. Wem gehört die Liebe zu Ayāz? 92

Sechstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Gottesthron 94 1. König Mālekschāh und die Kuh der alten Frau 95 2. Meister Sofyān und die treue Nachtigall 97 – 3. Nezām ol-Molk und die bitteren Gurken 98 – 4. König Mahmūd und sein treuloser Verwalter 99 – 5. Der Pharao, das Weidenkörbchen und die vierhundert Sklavinnen 99

Siebtes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Fußschemel 101 1. Hārūn ar-Raschīd erfährt, was sein Reich wert ist 102 2. Anūshirvān der Gerechte 103 – 3. Der König und die Hütte der Alten 104 – 4. Bohlūl und der geizige König 106 – 5. Das Mahl des Fürsten als Hundefraß 106 – 6. Ein Ratschlag von Zāher an Sandschar 106 – 7. Der Dirham aus geschwärztem Silber 107 8. Meister Akkāfī gibt König Sandschar Almosen 107 9. Das Geheimnis von Erhabenheit und Erniedrigung 107 10. Bohlūl auf Hārūns Thron 108

Achtes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Schicksalstafel 109 1. Dhū-l Nūn und der Feueranbeter 110 – 2. Rede eines Narren in der Derwischkutte 111 – 3. Der Mann, der Schönschön hieß 111 4. Der Narr in der Glaserei 112 – 5. Eine kostbare Salbe für einen verwahrlosten Esel 112 – 6. Der Verrückte und sein Spiegel 113 7. Jesus und Eblīs, der Teufel: Gewohnheit und Wahrheit 114 8. Salomo kann seine Körbe nicht verkaufen 114

Neuntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Schreibrohr 116 1. Dhū-l Nūn und sein asketischer Schüler 117 – 2. Schiblī ehrt den vollkommenen Dieb 119 – 3. Der Falschmünzer in der Derwischkutte 119 – 4. Der Prediger von Ghazna und der Mann, der seinen Esel verlor 120 – 5. Abū Saʿīd und Loqmān: Stein und Zunderschwamm 121 – 6. Nezām ol-Molk und der Narr: Der Glaube und die Welt 122

Zehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Paradies 123 1. Scheich Bāyazīd verlangt Rechenschaft von Gott 124 2. Das Lächeln des sterbenden Liebhabers 125 – 3. Zulaikha sucht Josephs Aufmerksamkeit: Eine Liebeslist 125 – 4. Madschnūn in Laylās Viertel 126 – 5. Der Araber ohne Tischmanieren 127 – 6. Der Staub der Niedrigkeit auf Gottes Saum 127 – 7. Mahmūd und Ayāz: Ein Wettstreit im Selbstlob 128 – 8. Der Meister, der sich von Gott einen Gast erbat 128 – 9. Hārūn möchte Laylā sehen 129 – 10. Der Wunsch eines Weisen für sein Leben nach dem Tode 130 – 11. Ayāz’ altes Lammfell 130

Elftes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Hölle 132 1. Das Gleichnis vom Mistkäfer 133 – 2. Der Narr als König der Welt 134 – 3. Die Ökonomie des Totengebets 135 – 4. Der Leichnam «Welt» 135 – 5. Der Narr und das Leichentuch 136 – 6. Salomo und das Vögelchen 136 – 7. Scheich Abū Saʿīd und der Alte im Dampfbad 137 – 8. Hārūn und Bohlūl: Der Meilenstein 137 9. Der Wissenschaftler und der Prophet 138 – 10. Das listige Tier Būqalamūn 138 – 11. Jesus und der Schläfer 139

Zwölftes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Himmel 140 1. Der zerbrochene Mühlstein 141 – 2. Der Narr und der Gottsucher 142 – 3. Ein Narr sehnt sich nach der Derwischkutte 142 – 4. Rede eines Vollkommenen über Askese 143 5. Der Specht, der unsterblich in Salomo verliebt war 143 6. Der zerrissene Hirsesack 144 – 7. Der Sufi und der Würdenträger 145 – 8. Isaak und sein Sklave 145 – 9. Der Hund, das Brot und der Mond 146 – 10. Der Schmerz des Tuns 147 11. Der Schmerz, gegen den Meditation und Wirbeltanz nichts ausrichten 147 – 12. Abū ʿAlī Tūsī und der vollkommene Tag 147

Dreizehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Sonne 148 1. Der König als Mundschenk seines Sklaven 149 – 2. Mahmūd und der Greis mit dem Gerstensack 151 – 3. Die Rede der Fledermaus über die Sonne 153 – 4. Die Mücke und die Platane 154 5. Der König und der Mann, der die Erde siebte 154

Vierzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Mond 155 1. Sandschars Schwester und der arabische Prinz 156  2. Der Feigling und die Riesenschlange 160 – 3. Der Feigling, der Rostam hieß 161 – 4. Abū Saʿīd und der Feueranbeter 161

Fünfzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Feuer 162 1. Jesus und die Gier der Menschen 163 – 2. Mahmūd und der Narr 165 – 3. Hasans Hinrichtung 166 – 4. Der Narr auf dem Basar 168

Sechzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Wind 169 1. Der Schatten des Vogels Homā 170 – 2. Der aufrichtige Dieb 171 3. Der Lastenträger, dem das Tragseil riss 172 – 4. Der lachende Verurteilte 172 – 5. Rat eines Sufis an den König 172  6. Das Gleichnis vom Seilerlehrling 173 – 7. Jesus und der Ziegelstein 173 – 8. ʿOmar baut eine Wasserrinne 174 9. Der Narr und die zerstörte Stadt 175

Siebzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Wasser 176 1. Der scharfsichtige Scheich und seine Nahrung 178 2. Abū Saʿīd und die Latrine 178 – 3. Der feine Herr und der Narr vor der Latrine 179 – 4. Der Misthaufen und der Friedhof 179 5. Der Pharao und Eblīs 180 – 6. Der Einbrecher und der Derwisch 181

Achtzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Erde 183 1. Der Fürst und die bittende Alte 184 – 2. König Nasr Ahmad und der fromme Scheich Elias 185 – 3. Ahnaf und der Unwissende 187 4. Dschunaid und das gestohlene Hemd 187 – 5. Ibrahīm-e Adham zeigt den Weg zur Stadt 188

Neunzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Berg 190 1. Die drei Wege des Suchenden 191 – 2. Nezām ol-Molk und der Sufi 192 – 3. Das Testament eines Narren 193 – 4. Ein Hindu auf der Hidschra 194 – 5. Rābiʿa will nicht aus dem Haus 195 – 6. Laylā und Madschnūn: Wohin soll man beten? 195 – 7. Scheich Nasrābādī an der Kaaba 196 – 8. Der Gerechte in der Hölle 196

Zwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Meer 197 1. Ein Wort Alexanders über das Maß der Mitte 198 2. Meister Akkāfī und die Werkbank des Schusters 199 – 3. Der Sohn des Emirs und der Sohn des Schusters 199 – 4. Ayāz’ Schleier 201 5. Ein Derwisch wünscht sich eine Streitaxt 202 – 6. Der Liebende, der nicht zu sich selbst zurückkehren wollte 202 – 7. Der barhäuptige Narr 203 – 8. Schiblī und die taube Nuss 203

Einundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Mineral 204 1. Der Geizige und der Geduldige auf See 205 – 2. Der Narr und der Sterbende 206 – 3. Reue eines Wesirs auf dem Totenbett 206 4. Dāwūd Tāʿi hat es eilig 207 – 5. Der Narr und der Todkranke 207 – 6. Bohlūl und Hārūn auf der Brücke 207 7. Bohlūl und Hārūn auf dem Friedhof 208 – 8. Der Freigiebige 208 9. Drei Fragen an den Propheten 209 – 10. Ebn Sīrīns Rede über den Neid 209 – 11. Der verwirrte Bäcker 210 – 12. Der Narr, der vor Hunger weinte 210

Zweiundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Pflanze 211 1. Mahmūd zieht gegen einen Bettler in den Krieg 212 2. Ein Narr spricht im Elend zu Gott 213 – 3. Ein Narr will sein Leben zurückgeben 213 – 4. Ein Narr erhält von Gott Brot und Kleidung 214 – 5. Der Einsiedler, der Gott die Zähne zeigt 214 6. Der barfüßige Narr in der Kälte 215 – 7. Der Narr, dessen Herz gestorben war 216 – 8. Schiblī und der unheilbare Schmerz 216  9. Die Bitte eines barfüßigen Narren 217 – 10. Ein Narr fürchtet um sein täglich Brot 217 – 11. Tischgebet eines Narren 217 – 12. «Gott lässt dich grüßen!» 218

Dreiundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Gliederfüßern 219 1. Der Narr, der sein Geld zurückfordert 220 – 2. Der Narr vor dem Krämerladen 221 – 3. Was bleibt dem Menschen? 221 – 4. Der Bauer, der sich einen Kürbis ans Bein band 222 – 5. Der Ungeduldige und der Scheich 222 – 6. Die Wunder des Meeres 222 – 7. Ein alter Meister unter Feinden 223 – 8. Abū Saʿīd und der verspätete Wasserträger 223 – 9. ʿOmar vertraut Gott sein Kind an 224 10. Der Scheich und die gestohlenen Schuhe 224 – 11. Was gibt es in der Welt am meisten? 225 – 12. Die Alte auf dem Friedhof und der Flickenrock 225 – 13. Der Mystiker ʿAbbāsa und die Reichen 226 14. Der Mufti an der Tür des Sultans 226

Vierundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Vögeln 227 1. Mahmūd und die Alte 228 – 2. Die arme Witwe und der böse Blick 230 – 3. Alexander in China 230 4. ʿAmr ebn Qais und die gesalzene Lauchstange 231 5. Der König und der Narr in der Tonne 232 6. Der Narr im Schloss des Gouverneurs 232 7. Das selbstsüchtige Kind 233

Fünfundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Tieren 234 1. Das gute und das schlechte Essen 235 – 2. Mose und das Schwein 236 – 3. Besser Ziegenbock als Esel 236 4. Der Schüler, der sich in die Magd seines Meisters verliebte 237 5. Der Kloakenreiniger und der Muezzin 239 – 6. Der Mann, der sich aus Furcht vor Satan nach dem Tod sehnte 240

Sechsundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Eblīs 241 1. Eblīs erzählt die Geschichte vom untreuen Sufi 243 2. Eblīs besucht den Propheten 244 3. Der Distelsammler, dem Gott zwei Wünsche gewährte 246

Siebenundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Dschinnen 248 1. Laylās Rat an Madschnūn 249 – 2. Der Narr und der Asket 250 3. Ein Narr wünscht sich neue Kleider 250 – 4. Mose und die Gesetzestafeln 251 – 5. Ein Narr klagt Gott an 251 – 6. Gottes Herz ist unersättlich 252 – 7. Ein Narr isst Schnee 252 – 8. Gott gibt nicht einmal Brot 252 – 9. Wer kennt Gott wirklich? 252 – 10. Der nackte Araber an der Kaaba 253 – 11. Ein Narr betet wieder 253 12. Moses blendendes Antlitz 254 – 13. Der Narr und der Statthalter 254 – 14. Die zwei Gebete des Narren 256 15. Die Kuhseuche 256

Achtundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Menschen 257 1. Ayāz auf dem Krankenbett 259 – 2. Mahmūd und Ayāz beim Polospiel 260 – 3. Der selbstverliebte Knabe 261 – 4. Die Bestrafung des nachlässigen Liebhabers 262 – 5. Der Schlag in den Nacken 263

Neunundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Adam 264 1. Ein Sklave wird auf die Probe gestellt 265 2. Der Gotteslöwe ʿAlī und die Schlechtigkeit der Welt 266 – 3. Der arme Statthalter von Balch 267 – 4. Der Prophet und die freigiebige Alte 267 – 5. Nutzloser Schmerz und wahrer Seelenkummer 269 – 6. Der Höchste Name Gottes 270 – 7. Das Geheimnis des täglichen Brotes 270 – 8. Wie der kleine Nezām ol-Molk Polo spielte 271

Dreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Noah 272 1. Der Weg des Schmerzes 273 – 2. Das klagende Vögelchen 273 3. Die Klage der Alten um ihren toten Sohn 274 – 4. Der leidende Narr von Nischapur 274 – 5. Der Schmerz des Diebes, dem man die Hand abschlug 275 – 6. Der Koranrezitator 276 – 7. Madschnūns Tod 276 – 8. Die Frau, die in Liebe zu Ayāz entbrannte 277 9. Madschnūn an der Kaaba 278 – 10. Die Einsamkeit des Meisters 279 – 11. Mahmūd und der indische Knabe 279

Einunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Abraham 281 1. Der Asket, der sich ein Atom von Gottes Liebe wünschte 282 2. Madschnūn vor dem König 283 – 3. Der schöne Sklave, der in den Spiegel blickte 284 – 4. Mahmūds Ohnmacht 286 5. Wann soll man Gottes gedenken? 287 – 6. Ein Papagei lernt sprechen 287 – 7. Wie geht es einem Narren? 288

Zweiunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Mose 289 1. Das selbstmörderische Liebesgeständnis 290 2. Tödliche Umarmung 292 – 3. Madschnūn in der Wüste 295 4. Zulaikhas Liebesglut 296 – 5. Der König als Sklave seines Sklaven 296

Dreiunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu David 299 1. Davids Klagepsalmen 300 – 2. Mahmūd und Ayāz: Die Kunst der Ergebenheit 301 – 3. Ayāz und der Becher aus Rubin 302 – 4. Ein Hund in Gottes Straße 302 5. Ein bescheidener Wunsch 303 – 6. Ein Andenken an den Geliebten 303 – 7. Der Narr, der sich aus Liebe von Gott lossagt 304 – 8. Loqmān Sarachsī reitet in die Schlacht 305

Vierunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Jesus 306 1. Jesus und der tote Hund 307 – 2. Der abergläubische Dieb 307 3. Mose, die Taube und der Falke 309 – 4. Der König und die Kriegsgefangenen 310 – 5. Der Prophet und die Ehebrecherin, die gesteinigt werden wollte 310 – 6. Abraham und der Ungläubige 312 7. Dhū-l Nūn und Gottes Großmut 312 – 8. Sofyān ath-Thaurī verkauft vier Pilgerfahrten für einen Seufzer 313

Fünfunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Mustafā 314 1. Mustafā und der Jude 317 – 2. Der Scheich, der Gottes Nähe suchte 317 – 3. Bāyazīd und der Hund 319 – 4. Ein Sufi vor Gericht 320 – 5. Hüte dich vor den Sufis! 321 – 6. Der Reiche, der nicht schlafen konnte 322 – 7. Der Kummer des Derwischs 322 8. Als die Liebenden zu Königen wurden 323

Sechsunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Sinneswahrnehmung 325 1. Der Narr und der Pilger im Hedschas 326 – 2. Der Mann, der im Winter aussäte 327 – 3. Der Sohn Adhams bedeckt sein Gesicht 327 – 4. Der Narr und der nachlässige Beter 328 5. Der junge Ringer, der ein graues Haar bekam 328 – 6. Der Wesir, der zurücktreten will 329 – 7. Der unerwiderte Gruß 330  8. Der Narr und der Totenschädel 331 – 9. Der Narr und der Totenschädel, zweite Geschichte 331 – 10. Kein Haus für Jesus 332 11. Der Narr und der König 332

Siebenunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Vorstellungskraft 334 1. Der Scheich der Welt und sein liebender Schüler 335 2. Der beschwerliche und der gerade Weg 335 3. Mahmūd und der Derwisch: Die vollkommene Liebe 336 4. Kann ein Liebender in die Hölle kommen? 337 – 5. Salomo und die verliebten Finken 337 – 6. Der eifersüchtige Weise 338 7. Joseph und Gabriel im Gefängnis 338 – 8. Mahmūd und Ayāz: Die Sklaverei der Liebe 339 – 9. Der Jüngling, der das Gesicht seiner Geliebten erblickt hatte 339 – 10. Rābiʿas Schleier und der Dieb 340 – 11. Der Atem des Jünglings 341 – 12. Mahmūd, Hasan und der leere Audienzsaal 341

Achtunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Verstand 343 1. Ein Esel führt die Weisen dieser Welt 345 – 2. Der gelehrte Balʿamī 345 – 3. Der alte Leierspieler 346 – 4. Der Narr, der sich vor Gott fürchtete 347 – 5. Der Narr im Unwetter 348 – 6. Der Narr in der Stadt 348 – 7. Yahyā ebn Moʿādh prangert die Imame an 349 8. Das Volk murrt über König Haddschādsch 349 9. Mahmūd und Ayāz: Wer ist der Schönere? 350

Neununddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Herzen 352 1. Zweifel an der Schwelle der Geliebten 353 2. Der verliebte Tagelöhner, mit dem die Prinzessin ihren Spott trieb 354 – 3. Mahmūd verkauft Ayāz 357 – 4. Madschnūns Lieblingswort 359 – 5. Der Vollkommene und der Feuertempel 359 6. Mahmūd und Ayāz auf der Jagd 360

Vierzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Seele 361 1. Der Edelstein der Erkenntnis 364 – 2. Der Geschmack der wahren Religion 364 – 3. Der Weg von Gott zu Gott 366 – 4. Charaqānīs Traum 367 – 5. Der Hochmut der Erzengel 367

Anhang Dank 373 Zur Übersetzung 374 Editionen, Übersetzungen und Literatur 377 Anmerkungen zur Einführung 378 Anmerkungen zur Übersetzung 380 Glossar 397

ʿAttār und das «Buch der Leiden» Von Monika Gronke

Farīd od-Dīn ʿAttār gehört zu den bedeutendsten iranischen Dichtern und Mystikern des Mittelalters, dem in der kulturellen Tradition Irans ein sehr hoher Rang zugemessen wird. Alle seine Werke haben in zahllosen Bildern und Allegorien die ­Suche der menschlichen Seele nach dem Absoluten, dem Einswerden mit Gott, und ihre Sehnsucht nach ihrem göttlichen Ursprung und Ziel zum Thema. ʿAttār ist ein unerreichter Meister nicht nur in der Anwendung aller in der persischen literarischen Tradition vorhandenen Kunstmittel, sondern er versteht es auch, durch seine reiche Phantasie, die Fülle seiner Ideen und die poetische Schönheit seiner Sprache den Leser zu fesseln und mitzureißen. Dennoch ist über ʿAttār, auch von iranischen ­Wissenschaftlern, weitaus weniger geforscht worden als über andere iranische Autoren wie Ferdausī (gest. 1019 oder 1025), Hāfis (gest. 1389) und andere. Das umfangreiche Werk des deutschen Orientalisten Hellmut Ritter aus dem Jahre 1955 über die mystischen Epen ʿAttārs, dessen Titel «Das Meer der Seele» das entscheidende Element des «Buches der Leiden» aufnimmt, ist bis heute unübertroffen und hat keinen Nach­ folger im eigentlichen Sinne gefunden. Ebenso sind die Werke ʿAttārs noch nicht vollständig ins Deutsche übersetzt worden, obwohl sie es verdienen würden. Leben und Werk ʿAttārs Der volle Name ʿAttārs lautet Abū Hāmed Mohammad b. Abī Bakr Ebrāhīm, nach anderer Quelle b. Saʿd b. Yūsof. Farīd od-Dīn war sein literarisches Pseudonym ebenso wie ʿAttār,

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ʿAttār und das «Buch der Leiden»

«Drogist, Apotheker», seine Berufsbezeichnung. Nach neueren Forschungserkenntnissen wurde er um 1145/46 in Nischapur in Nordostiran geboren. Er verließ seine Heimatstadt selten und starb bei der Eroberung Nischapurs durch die Mongolen im Jahre 1220. Als Apotheker konnte ʿAttār von seinem Einkommen leben und war nicht auf die Gunst von Fürsten angewiesen; oft kritisierte er diejenigen Dichter, die sich den Fürsten­ höfen andienten.1 Zur Zeit von ʿAttārs Geburt gehörte Nischapur zum Reich der Seldschuken. Seit dem Jahr 1118 herrschte der Seldschuken­ sultan Sandschar (getötet 1157), dessen Macht allerdings bereits im Rückgang begriffen war. Türkische Nomaden aus dem Volk der Oghuzen, die zuvor auf Sandschars Seite gestanden hatten, wandten sich nun gegen ihn und überfielen in der Folge im Jahre 1153 Nischapur und richteten große Verwüstungen in der Stadt an. Einer der Heerführer Sultan Sandschars konnte die Nomaden jedoch wieder vertreiben und bescherte Nischapur bis zu seinem Tode im Jahre 1174 eine Periode relativen Friedens und Wohlstandes. Häufig litt die Stadt aber unter Erdbeben, von denen ein besonders schweres für das Jahr 1208/09 verzeichnet wird. Alle diese Unglücksfälle waren jedoch nur das Vorspiel zu einem noch größeren Unheil, das Nischapur im April 1220 mit der Eroberung durch Dschingis Khans Sohn Tolī traf. Die Stadt wurde fast vollständig zerstört, die Bewohner niedergemetzelt: Bei diesem Ereignis fand auch ʿAttār den Tod. Außer diesen wenigen Daten ist über ʿAttārs Leben kaum etwas bekannt. Möglicherweise gibt ʿAttār selbst in seinem wohl berühmtesten Werk «Vogelgespräche» (Manteq ot-teyr) das Datum seiner Fertigstellung an, nämlich das Jahr 1177. Da aber der entsprechende Vers nicht in allen Handschriften des Werkes vorkommt, ist auch dieses Datum nicht gesichert.2 Unter dem Strich lässt sich eigentlich nur feststellen, dass ʿAttār zu seinen Lebzeiten außerhalb seiner Heimatstadt nicht sehr bekannt war. Das sollte sich erst im 15. Jahrhundert ­ändern, als sich aus bisher nicht geklärten Gründen zahlreiche Autoren mit ihm und seinem Leben beschäftigten. Allerdings



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schmückten sie seine Lebensumstände mit vielen erfundenen geheimnisvollen Einzelheiten aus.3 So gibt etwa der persische Gelehrte und Literat Dowlatschāh (gest. nach 1487) seine ­Lebensdauer nach der Jahreszählung der Hidschra mit 513–627 an, was nach dem christlichen Kalender 1119–1230 entspricht. Nach dieser Rechnung wäre ʿAttār 114  Jahre alt geworden,4 hätte also ebenso viele Jahre gelebt, wie der Koran Suren hat. Ebenso wird die Anzahl seiner Schriften später verschiedentlich mit der magischen Zahl 114 angegeben.5 Von Mythenbildung geprägt sind auch Erzählungen über das Zusammentreffen ʿAttārs mit berühmten Sufis oder die Verbindung ʿAttārs zu ­einem Sufimeister. Die einzige mögliche Verbindung zu einem solchen Meister, die ʿAttār selbst andeutet, ist die zu einem verstorbenen und nur im Geist anwesenden Lehrer, welche ihn als der mystischen Richtung der Oweysī nahestehend ausweisen würde. Diese Bezeichnung verweist auf einen Zeitgenossen Mohammeds, Oweys al-Qaranī im Jemen, der dem Propheten niemals begegnet ist; Mohammed soll jedoch von seiner Frömmigkeit gewusst haben. Für spätere Generationen verkörperte Oweys deshalb den von Gott inspirierten Mystiker, der den Propheten ohne äußere Verbindung kannte. Ein Oweysī ist also jemand, der ohne die Leitung eines lebenden Meisters zur ­mystischen Erleuchtung gelangt ist.6 Der von ʿAttār mehrfach als Abū Saʿīd aus Meyhaneh erwähnte Lehrer wäre Abū Saʿīd Fazlollāh b. Abī ʾl-Kheyr Ahmad Meyhānī (967–1049), ein berühmter Mystiker aus Meyhaneh, einer kleinen Stadt in ­ Khorasan im Nordosten Irans.7 Einzig ein von dem persischen Gelehrten und Mystiker Dschāmī (gest. 1492) erwähntes Ereignis besitzt historische Wahrscheinlichkeit: der Besuch Dschalāl ad-dīn Rūmīs (1207– 1273) mit seinem Vater bei ʿAttār im Jahre 1219, als sich beide auf der Flucht aus Balkh vor den mongolischen Heeren in Nischapur aufhielten. ʿAttār soll dem jungen Rūmī ein Exem­ plar seines «Buches der Geheimnisse» (Asrārnāmeh) geschenkt und seinem Vater geweissagt haben, dass sein Sohn einst ein berühmter Mystiker sein werde8 – was sich dann auch erfüllte. Badiʿozzamān Forūzānfar hat in einer umfangreichen, tief-

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schürfenden Untersuchung eine Verbindung zwischen ʿAttār und Rūmī nachgewiesen und gezeigt, dass in 35 Erzählungen Rūmīs der Einfluss von ʿAttārs Werken zu erkennen ist.9 Ebenso problematisch wie die Biographie ʿAttārs ist die Zuordnung der angeblich von ihm verfassten Schriften. Im Laufe der Zeit wurden ʿAttār immer mehr Werke zugeschrieben, wie die bereits erwähnte Anzahl von 114 deutlich macht. Nach genauen philologischen Untersuchungen kommen die Gelehrten Hellmut Ritter (Frankfurt, 1892–1971) und Saʿīd Nafīsī (Teheran, 1895–1966) zu dem Ergebnis, dass das ʿAttār zugeschriebene Gesamtwerk in drei Gruppen zu unterteilen ist. Die Werke der ersten Gruppe, zu der unter anderen die mys­tischen Epen «Vogelgespräche», das «Buch der Geheimnisse», das «Buch Gottes» (Elāhīnāmeh) und das vorliegende «Buch der Leiden» (Mosībatnāmeh) gehören, sind unzweifelhaft von ʿAttār verfasst. Die zweite und dritte Gruppe ordnet Nafīsī e­ inem anderen Autor namens ʿAttār zu, der etwa 250  Jahre später in Maschhad lebte. Während die Zuordnung der dritten Gruppe durch Nafīsī unbestritten ist, weist Ritter darauf hin, dass das Manuskript des Hauptwerkes der zweiten Gruppe, «Der Edelstein des Selbst» (Dschowhar az-Zāt) mit dem Abfassungsjahr 1334/35, weder von dem ersten noch von dem zweiten ʿAttār stammen kann,10 so dass die Autorschaft der Werke der zweiten Gruppe ein bisher ungelöstes Rätsel bleibt. ʿAttār war ein frommer Muslim und Mystiker, der von ­vielen Gelehrten sogar als der größte Dichter der persischen Mystik angesehen wird. Zugleich war er ein meisterhafter Erzähler von Geschichten, in denen er mystische Themen durchdachte und veranschaulichte und sie in klarer poetischer Sprache auszudrücken verstand. Die spätere mystische Tradition reiht ʿAttār unter die Märtyrer der mystischen Liebe ein, die wegen ihrer überflutenden göttlichen Liebe von den orthodoxen ­Muslimen bzw. in seinem Fall von den ungläubigen Mongolen umgebracht wurden.11



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Die Mystik Was aber ist islamische Mystik? Das Ziel des Mystikers ist die individuelle, persönliche Gottesschau bzw. die Vereinigung mit Gott, das Verschmelzen mit Ihm oder das Aufgehen, «Entwerden», in Ihm. Es geht darum, wie es in der mystischen Literatur bildhaft ausgedrückt wird, den Schleier zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf zu entfernen. Die Verschmelzung mit Gott kann mit den Mitteln des Verstandes nicht gelingen, sondern nur durch die Seele, welche die Quelle der mystischen ­Erkenntnis ist. Der Mensch bedarf des verstandesmäßigen Wissens nur, um zu erkennen, dass an dessen Ende Unwissenheit steht.12 Deshalb versucht der Mystiker, seinen Verstand wie auch alles, was ihn an die diesseitige Welt bindet, zu über­ winden und auszuschalten. Der Weg des Mystikers zu Gott wird als ein mystischer Pfad (tarīqat) betrachtet, auf dem der Gottsucher wandern muss. Auf diesem Weg muss er durch ­Askese und Disziplin verschiedene Stufen oder Stationen erreichen und überwinden. Die mystischen Handbücher zählen ­unterschiedliche Stationen auf, deren wesentliche Schritte aber immer Reue, Gottvertrauen und Armut sind.13 Der deutsche Ausdruck für die islamische Mystik, Sufismus, ist aus dem arabischen Wort sūf, «Wolle», entlehnt, welches allgemein das Gewand aus grobem Wollstoff bezeichnet, das der Mystiker in der Regel trägt; Sufi bedeutet daher wörtlich «Träger des Wollgewandes». Der Mystiker unterschied sich durch diese Tracht von den meisten seiner Mitmenschen und brachte damit zugleich seine Absage an diesseitigen Komfort und weltliche Werte zum Ausdruck. Schon gegen Ende des 8. Jahrhunderts fanden sich fromme Muslime in kleineren Gemeinschaften zusammen, die das Wollgewand aus diesem Grund anlegten. In dieselbe Richtung geht auch das persische Wort für den Mystiker, darwīsch, «arm»; von ihm stammt der eingedeutschte Ausdruck «Derwisch». Armut gilt in der islamischen Mystik als eine grundsätzliche Lebenseinstellung. Eine asketische Lebensweise war bereits für den Propheten Mohammed, dem der Ausspruch «Die Armut

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ist mein Stolz» (arabisch: al-faqr fakhrī) zugeschrieben wird, und seine frühen Gefährten charakteristisch. Da die freiwillige materielle Armut eine unerlässliche Station des mystischen ­Pfades bildete, versuchten viele Mystiker, sie so lange wie möglich einzuhalten. Die spirituelle Armut hingegen bedeutete, keinesfalls nach Reichtum zu streben, was auch einschließt, dass der Mystiker niemanden um etwas bitten darf. Der Mystiker kann sogar über Reichtum verfügen, muss aber jederzeit bereit sein, ihn sofort vollständig aufzugeben.14 Die freiwillige Armut verschafft dem Mystiker äußere und innere Freiheit: äußerlich, weil er keine Dankesschuld gegenüber anderen Menschen abtragen muss, und innerlich, weil er sich von der Gier nach Reichtum und Macht losgesagt hat.15 Durch diese Anschauung gibt die Armut dem Menschen eine spezifische Würde, die in der Ansicht gipfelt, dass der Bettler der wahre König sei (Kapitel 11/Geschichte 1). Armut kann letztlich sogar mit der Entwerdung, dem Aufgehen der Seele in Gott, gleichgesetzt werden. Dieses letzte Ziel der Mystiker fand Ausdruck in ʿAttārs «Vogelgesprächen»: In diesem Werk sucht eine Schar von Vögeln u ­ nter der Führung des Wiedehopfs nach dem mythischen Vogel Sīmorgh und muss auf dem Weg zu ihm sieben Täler durch­queren: das Tal des Suchens, der Liebe, der Erkenntnis, der Unbedürftigkeit, der Gotteseinheit, der Verwirrung und schließlich das Tal der Armut und Entwerdung.16 Obgleich die islamische Mystik im Koran begründet ist und sich den Propheten Mohammed zum Vorbild nimmt, lehnten viele Mystiker schon der frühislamischen Zeit die strikten Gesetze der orthodoxen Pflichtenlehre und ihre Rituale ab, was allerdings nicht heißt, dass sie ihnen keinerlei Wert beigemessen oder sie gar vollständig aufgegeben hätten. Sie betrachteten die religiösen Pflichten jedoch als sekundär und gaben statt­ dessen der individuellen Gottsuche durch Gefühl und Bewusstsein den Vorzug vor jeder Art von Buchstabengehorsam. Die religiösen Gebote und Verbote müssen in jedem Fall von den Menschen aufrichtig und mit dem Herzen befolgt werden, denn wenn man sie nur aus Eitelkeit durchführt, damit sie von



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den Mitmenschen gesehen werden, verlieren sie ihren Wert17 (z. B. Geschichte 25/5, übersetzt von Ritter, S. 289). Die persönlichen Erfahrungen, die der Mystiker auf seinem Weg zu Gott gewinnt, sind nicht für die Öffentlichkeit gedacht und lassen sich prinzipiell nur in Bildern ausdrücken, sei es in dem des Weges, des Rausches oder der Alchemie, um die Seelenzustände des Mystikers zu beschreiben. Ganz entscheidend ist jedoch das Bild der Liebe. In der mystischen Dichtung erscheint Gott vor allem anderen als der Geliebte, nach dem sich der Mystiker als Liebender sehnt. Die einzige Möglichkeit, sich dem göttlichen Geliebten zu nähern, besteht in der andauernden Läuterung und Reinigung der Seele und in der völligen Hingabe an den Willen des Geliebten, gleich ob dieser den ­Liebenden aufnimmt oder davonjagt. Der Liebende darf nicht aufhören zu lieben und muss seinen eigenen Willen aufgeben, um den des Geliebten zu erfüllen.18 Bevor der Mystiker jedoch überhaupt die Wanderung auf dem mystischen Pfad antreten kann, benötigt er unter allen Umständen einen vertrauenswürdigen Meister (pīr), der ihn führt, anleitet und seine Träume und Visionen deutet. Ansonsten ­besteht die Gefahr, dass der Neuling auf dem mystischen Pfad den Regungen seiner eigenen niederen Triebe oder den Einflüsterungen des Satans erliegt und diese für mystische Erfahrungen­hält. Insbesondere während der vierzig Tage der Meditation in der Klausur, die schon früh zu einer Institution in der islamischen­Mystik wurde, muss der Meister seinen Schüler beobachten.19 Die Wanderung auf dem mystischen Pfad ist ein schmerz­ hafter Läuterungs- und Transformationsprozess für die Seele des Mystikers. Am Anfang seiner mystischen Reise pflegte der Neuling eine vierzigtägige Klausur (čelleh, von persisch čehel, «vierzig») zu absolvieren. Während dieser Zeit aß er wenig, ­betete und meditierte und berichtete seinem Meister von seinen Erfahrungen. Manche Mystiker nahmen dabei bewusst unbequeme Haltungen ein, knieten oder standen auf den Zehen­ spitzen und sollen sogar vierzig Tage an den Füßen in einem Brunnen hängend verbracht haben.20 Manche Mystiker zogen

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sich häufig in ihrem Leben in diese Klausur zurück. Adam, der im Islam als Prophet gilt, wird von den Mystikern oft als der erste Sufi angesehen, denn er war vierzig Tage – wie auch der Wanderer auf dem mystischen Pfad  – in Klausur, bevor Gott ihm Geist einhauchte, sein Herz mit Vernunft und seine Zunge mit Weisheit ausstattete und er wie ein erleuchteter Mystiker aus der Einsamkeit zurückkehrte.21 Die Erfahrung des Verschmelzens mit Gott gilt immer als Akt göttlicher Gnade, wobei das Entwerden, die Entrückung des Mystikers, häufig in einem ekstatischen Erlebnis geschieht. Zwei Praktiken kennzeichnen deshalb das Leben des Mystikers in besonderer Weise: das Gottgedenken und der ekstatische Tanz. Das Gottgedenken (dhikr)22 ist die ständige Wieder­holung einer oder mehrerer religiöser Formeln. Es soll dazu dienen, das gesamte Innere des Mystikers zu erfüllen und alle Bewusstseinsinhalte zugunsten der Gottesvorstellung syste­matisch auszulöschen, so dass alles Geschaffene verschwindet. Am Ende sollen Subjekt und Objekt  – also der liebende Mystiker und Gott als sein Geliebter – ineinander verschmelzen, so dass nur noch Gott allein bleibt. In ʿAttārs «Buch der Leiden» entspringt der Seelengedanke des mystischen Wanderers dem Gottgedenken. Der Seelengedanke steht im Gegensatz zum Verstand. Wie ʿAttār gleich zu Beginn seines Werkes betont, besitzen die Mystiker ein anderes und höheres Verständnis, als es der Verstand geben könne.23 Das Gottgedenken, zu dem der Koran (Sure 33, Vers 41) aufruft,24 ist jederzeit zulässig und nicht an eine bestimmte Tageszeit gebunden. Es kann still oder laut ausgeübt werden; beide Formen konnten mit dem Koran (Sure  17, Vers  110) begründet werden.25 In das Gottgedenken musste der angehende Mystiker in der Regel von einem lebenden Meister eingeführt werden, denn die Formel, über die er meditieren soll, muss über eine Kette spiritueller Meister bis zum Propheten oder bis zu den ersten Kalifen zurückgeführt werden. Unter den Formeln des Gottgedenkens, zu denen etwa das Glaubensbekenntnis oder die Koransure 112 als Bekenntnis der Einheit Gottes26 gehören, spielen die 99 Höchsten Namen­Gottes eine



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außerordentlich wichtige Rolle. Sie sind keine Eigennamen, sondern beschreiben und rühmen Gott. Im «Buch der Leiden» ist das erste Kapitel dem Thema der gött­lichen Namen gewidmet. Der ekstatisch kreisende Tanz zu Musik, wörtlich «Hören» (samāʿ) genannt,27 ist die wohl bekannteste, aber auch umstrittenste Form mystischer Praxis in der islamischen Welt. Der Tanz war nicht in allen mystischen Gemeinschaften ein Ritus, sondern diente eher zur Entspannung nach den oft harten täglichen Übungen. Die orthodoxen Theologen ebenso wie ge­ mäßigte Mystiker kritisierten den ekstatischen Tanz als Mittel der Befreiung vom Selbst, weil sich nicht unterscheiden lasse, ob der Tanz eine wirkliche mystische Erfahrung darstellt oder nur der Versuch ist, durch Anstrengung einen Zustand zu ­erzwingen, den nur Gott gnädig gewähren könne. Der eksta­ tische Tanz war jedoch für viele Mystiker zu anziehend, um ­abgeschafft zu werden, und zahlreiche Gedichtverse feiern ihn als Nahrung der Seele. Das «Buch der Leiden» Das «Buch der Leiden» behandelt in vierzig Kapiteln die ­mystische Reise der menschlichen Seele auf der Suche nach Gott. Die vierzig Kapitel entsprechen den vierzig Tagen der Klausur des Mystikers. Allgemeines Thema des Werkes sind ­religiöse und mystische Lehren, die durch eine Vielzahl von Geschichten veranschaulicht werden. Wie andere mystische Epen ʿAttārs hat auch das «Buch der Leiden» eine Rahmenerzählung­, welche eine in sich geschlossene Geschichte bildet, die bestimmte mystische Gedanken darstellen soll. Die literarische Form der Rahmenerzählung hatte schon im frühen persischen Schrifttum des 6. Jahrhunderts durch die Übersetzung des ­zwischen dem späten 3. und dem 6. Jahrhundert entstandenen indischen Fürstenspiegels Pantschatantra aus dem Sanskrit ins Mittelpersische ihren Platz gefunden und wurde vielfach nachgeahmt bis hin zu den bekannten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.28

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Der Gedanke der meditierenden Seele wird als Wanderer oder Pilger des Gedankens (sālek-e fekrat) auf dem mystischen Pfad vorgestellt. Der Pilger wird von innerem Schmerz und der Sehnsucht nach Gott gequält und sucht Erlösung von seiner Verzweiflung. Auf seiner Wanderung durchstreift er den gesam­ ten Kosmos und bittet alle Wesen, die er dort antrifft, um Hilfe: die Engel, den Gottesthron und dessen Fußschemel, die Schicksalstafel und das Schreibrohr, Paradies, Hölle und Himmel, Sonne und Mond, das Feuer, den Wind, das Wasser, die Erde, Berg und Meer, Mineralien und Pflanzen, die Gliederfüßer, die Vögel, die Landtiere und Fische, Satan, die Geister und die Menschen, die Propheten Adam, Noah, Abraham, Mose, David­, Jesus und schließlich Mohammed und am Ende die Sinnesempfindungen, die Vorstellungskraft, den Verstand, das Herz und die Seele. Jedes der vierzig Kapitel des «Buches der Leiden» behandelt ein anderes Thema. Dabei folgen jeweils Rede, Gegenrede und abschließende Belehrung aufeinander. Jedes Kapitel beginnt mit der Bitte des Pilgers, das heißt des Seelengedankens­, um Hilfe. Es folgt die Entgegnung des angesprochenen Wesens und schließlich deren Interpretation durch den Meister, der die dem Pilger zuteil gewordenen Erfahrungen deutet, gegebenenfalls auch theologisch zurechtrückt und ihn so belehrt. Die Rahmenerzählung entwickelt sich im «Buch der Leiden» durch das Auftreten immer neuer Gestalten zum eigentlichen Träger des Geschehens, das auf ein dramatisches Endziel zuläuft: den Seelenozean bzw. das «Meer der Seele», in das der Wanderer des Gedankens sich schließlich hineinstürzt und in dem seine Seele aufgeht. Jede Gestalt der Rahmenerzählung hat einen eigenen symbolischen Charakter, der mehr oder weniger auch den Inhalt der folgenden Geschichten bestimmt, die das Thema illustrieren sollen. Allerdings schweift ʿAttār auch ­häufig ab und bringt andere Gesichtspunkte vor oder gibt sich Assoziationen hin, so dass oft nur die ersten Geschichten direkt zum übergeordneten Thema gehören, während andere nur ­locker assoziativ angehängt sind.29 ʿAttār ist zu Aufbau und Konzeption des «Buches der Leiden­» wahrscheinlich von der berühmten Überlieferung über



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die Fürsprache (hadīth asch-schafāʿa) des Propheten Mohammed angeregt worden, die er am Jüngsten Tag für seine Gläubigen einlegen soll. Gemäß dieser Überlieferung bitten die Menschen nacheinander die Propheten Adam, Noah, Abraham, Mose und Jesus um Fürsprache bei Gott, aber sie alle haben wegen einer Sünde den Zorn Gottes auf sich gezogen, sind ­deshalb selbst der Fürsprache bedürftig und schicken die Bitt­ steller zum nächsten Propheten weiter. Allein Jesus nennt weder eine Schuld, die er auf sich geladen hätte, und auch nicht den Namen des nächsten Propheten, an den die Menschen sich wenden sollen. Diese begeben sich nun zu Mohammed, der ­ihnen verspricht, ihrer Bitte nachzukommen, und Gott ruft Mohammed zu, dass seine Fürsprache angenommen werden wird.30 ʿAttār hat dieses Schema um viele weitere Gestalten erweitert, aber am Ende verweisen die Propheten, die der Pilger des Gedankens besucht, nicht nur auf den nächsten Propheten, sondern auch direkt auf Mohammed, bei dem der Wanderer Hilfe suchen soll. Gemäß der persischen literarischen Tradition beginnt das «Buch der Leiden» mit einer längeren Vorrede, die für die vorliegende Ausgabe nicht ins Deutsche übersetzt wurde.31 Hier werden zunächst Gott, dann der Prophet Mohammed, die ersten vier Kalifen und die beiden Enkel des Propheten, Hasan und Hoseyn, angerufen. Die ganze Vorrede ist theologisch und philologisch schwierig. ʿAttār brilliert darin mit Wortspielen und ergeht sich in vielen Einzelheiten über weitere Themen, wodurch er seine eigene Gelehrsamkeit unter Beweis stellt. So spricht er etwa über die gleichen arabischen Wurzelbuchstaben in den Wörtern «Gedicht» (schiʿr), «Gottesthron» (ʿarsch) und «Religionsgesetz» (scharʿ) und verdeutlicht im Folgenden einer­ seits den hohen Stellenwert der Dichtung, während er andererseits seinen festen Glauben an Theologie, Koranexegese und prophetische Überlieferung klarstellt.32 Dennoch leugnet ʿAttār  – wie auch andere Mystiker  – nicht, dass er von den ­äußerlichen Ritualen der Religion nicht viel hält.33 Dann beginnt das eigentliche Buch, das sich zunächst dem Schmerz und der Verzweiflung des Gottsuchers widmet. Er

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­ efindet sich in einer Welt ohne Glauben, ohne Hoffnung und b ohne Menschlichkeit und schildert in ebenso präzisen wie ­drastischen Worten die Menschen, wie er sie in verschiedenen Situationen sieht – sie alle mit sich selbst beschäftigt und nur auf ihren eigenen Vorteil und Profit aus. Überall erblickt der Gottsucher nichts als Lug und Trug, Neid, Geiz, Hochmut, Dummheit und Engstirnigkeit. Dem in seiner Verzweiflung und Verwirrung gefangenen Gottsucher erscheint schließlich ein Meister, und der Suchende erfährt, dass es sein Leiden war, das ihn herbeigerufen hat; denn das Heilmittel geht nur dorthin, wo Schmerz ist. Der Meister schickt ihn nun auf die Reise, auf der es ihm anfangs aber auch nicht besser ergeht. Nachdem der Gottsucher eine Weile mit seinem Leiden und seiner Verwirrung gerungen hat, gibt er sich ganz seinem Schmerz hin. Da er nicht weiß, wohin er wandern soll, erhebt er sich in die Luft und kommt zum Erzengel Gabriel. Hier beginnt die Reise des mystischen Wanderers, deren erste 35 Stationen von der äußeren Welt des Kosmos erzählen. Die Sprache, in der sich alle diese Gestalten ausdrücken, ist die «Sprache des Zustandes» (zabān-e hāl). Diese Sprache ­gebrauchen bei ʿAttār alle Wesen, die entweder gar nicht sprechen können oder der menschlichen Sprache nicht mächtig sind. Sie alle sagen in der «Sprache des Zustandes» Dinge über sich selbst, die ihren Charakter, ihre Eigenart und ihr Sosein ­beschreiben und interpretieren. ʿAttār versteht es, diese Gestalten zu Trägern von Sehnsüchten, religiösen Gefühlen und mystischen Seelenzuständen umzudeuten, die auch die Frommen erfüllen, und sie so in die menschliche Gegenwart hineinzu­ holen. Der ganze Kosmos (Sterne, Sonne und Mond, Meer und Berg) sehnt sich zurück nach seinem göttlichen Urgrund,34 zu dem er einst heimzukehren hofft. Der Wanderer des Gedankens findet jedoch auf seiner Reise keine Hilfe, denn alle leiden selbst und schildern ihm ihre e­ igenen Leiden,35 in denen Schmerz, Angst, Verwirrung und die Sehnsucht nach Gott ebenfalls die Hauptrolle spielen. Im ersten Kapitel (1) erklärt Gabriel – der Engel, der die Thora, das Evangelium und den Koran gebracht hat – dem Pilger, dass er



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wegen seiner Ehrfurcht vor Gott wie gebannt sei, und der Meister erläutert dazu, dass Gabriel die Befehle Gottes immer gehorsam und schweigend ausgeführt und nach 70 000  Jahren erstmals gewagt habe, den Namen Gottes auszusprechen. Im nächsten Kapitel (2) trifft der Gottsucher auf den Engel Esrāfīl, der die Posaune am Jüngsten Tag bläst und bei dessen zweitem Posaunenstoß die Menschen auferweckt werden und auferstehen. Er jedoch zittert vor Angst vor seinem eigenen Schicksal. Dann begibt sich der Wanderer zum Erzengel Michael (3), der über den Lebensunterhalt der Menschen und über das Wetter wacht. Michael schildert mit phantastisch anmutenden Bildern verschiedener Wettererscheinungen, dass er sich ständig mühe und genug eigene Sorgen habe. Die nächste Station (4) ist der Todesengel ʿAzrāʾīl, der dem Gottsucher auf seine Bitte um Hilfe nur zu antworten weiß, dass er immer von neuem Seelen aus den Leibern reißen müsse, deshalb große Blutschuld auf sich geladen habe und vor Furcht vergehe. Die folgenden Geschichten enthalten Betrachtungen über den Tod. Im fünften Kapitel (5) schildert einer der Engel, die den Gottesthron tragen, dem Wanderer die schwierige Lage der Thronträger, die immer die Last des Throns auf dem Rücken und den Fuß im leeren Raum haben und deshalb befürchten, entweder im Licht des Gottesthrons zu verbrennen oder umzufallen. Der Gottes­thron selbst (6) weist den Wanderer mit dem Argument ab, dass er nicht die Kraft habe, Gott zu tragen, und sich sehr unsicher fühle. Der Meister deutet den Thron gemäß Koran (Sure 20, Vers 5)36 als Sitz der Barmherzigkeit, von der die folgenden ­Geschichten Beispiele geben. Der Fußschemel des Gottesthrons (7), der im sogenannten «Thronvers» des Korans (Sure 2, Vers 255)37 gepriesen wird, wird mit dem Fixsternhimmel gleichgesetzt; die Milchstraße gilt als der goldene Gürtel des Schemels. Der Fußschemel klagt darüber, dass er sich seit Jahrtausenden drehen müsse, was der Meister als die Sehnsucht nach Gott interpretiert, durch die der Sternenhimmel angetrieben werde. Die nächste Station (8) ist die Schicksalstafel, auf der nach islamischem Glauben die Schicksale der Menschen aufgeschrie-

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ben werden. Die Überzeugung, dass der Mensch seinem Schicksal nicht entrinnen kann, weil es so geschrieben steht, ist ein Grundpfeiler islamischer Frömmigkeit. Die Schicksalstafel erklärt dem Gottsucher, dass sie in Angst und Verwirrung auf die neuen Zeichen warte, die auf ihr erscheinen, da keine Zeile der Liebe darunter sei. Der Meister belehrt den Wanderer, dass Glück und Unglück ohne Grund auf die Schicksalstafel geschrieben würden. Das Schreibrohr (9) klagt darüber, dass sein Kopf abgeschnitten sei, es kopfüber laufen müsse und nichts von dem wisse, was es schreibe. Danach trifft der Gottsucher auf das Paradies (10), dessen Freuden er preist. Doch das Paradies weist ihn mit den Worten zurück, dass nur die Dummen im Paradies seien, während die wahren Gläubigen es mieden. Der Meister belehrt den Wan­ derer, dass die wahre Paradiesesfreude darin bestehe, Gottes Schönheit zu schauen, das heißt, dass die wahren Gottsucher sich nach dem göttlichen Geliebten sehnen und nicht nach den Genüssen des Paradieses streben. Die Hölle dagegen (11) erklärt dem Wanderer, sie brenne aus Angst davor, einst selbst zu vergehen.38 Der Meister erklärt, dass die Hölle einen Teil der Welt, wenn auch nur einen kleinen, ausmache und man sich von der Welt befreien müsse. Die folgenden Geschichten handeln deshalb vom Weltverzicht. Auch der Himmel (12), den der Wanderer als Nächstes aufsucht, weist ihn ab und erklärt in bilderreichen Worten, dass er sich, von der Hand des Schicksals gepackt, ohne Sinn und ohne Unterlass drehen müsse und niemals zur Ruhe komme. Die Geschichten dieses Kapitels h ­ aben als gemeinsames Thema das vergebliche Suchen. Die Sonne (13), zu der sich der Wanderer nun begibt, leidet ihrerseits, denn sie brennt vor Liebe und Sehnsucht nach Gott. Der Meister erklärt sie zum Sitz der Erkenntnis und des hohen ­Strebens. Der Mond (14) zählt dem Wanderer, ebenfalls in vielen Bildern, die Häuser auf, durch die er zieht, und klagt, dass die Sonne ihn fast verbrenne. Der Meister belehrt den Gott­sucher, dass der Mond die Sonne liebe, aber nicht die Kraft habe, ihr Licht zu ertragen; er gehe in ihr unter und verliere sich in ihr.



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Als Nächstes klagt das Feuer (15) dem Wanderer sein Leid. Es müsse beständig brennen und deshalb in Asche sitzen. Der Meister deutet das Feuer als Sinnbild für Gefräßigkeit und Gier nach Gold, was die folgenden Geschichten veranschaulichen. Nun geht der Wanderer zum Wind (16), der ihm erklärt, er streife stets auf der vergeblichen Suche nach Gott ruhelos von Tür zu Tür. Der Meister preist den Wind als Lebens­odem, dessen Duft der Seele Freude und Ruhe schenkt. Das Wasser (17), die nächste Station des Gottsuchers, klagt, dass es aus lauter Tränen bestehe und Tag und Nacht auf der vergeb­lichen Suche nach Gott dahinlaufe. Der Meister deutet es als Ursprung der Reinheit und ermahnt den Wanderer, nicht der niederen Triebseele zu verfallen und sich nicht durch die Hingabe an seine Begierden zu beschmutzen. Auch die Erde (18) weist den Wanderer ab und klagt ihm ihre Hoffnungslosigkeit, denn sie trage alle Toten in sich und spüre selbst kein Leben mehr. Der Meister erklärt die Erde zum Sinnbild der Langmut und des geduldigen Ertragens, was die folgenden Geschichten veranschaulichen. Nun geht der Gottsucher zum Berg (19), der darunter leidet, ständig an einen Platz gefesselt und dem Steinschlag ausgesetzt zu sein. Sein steinernes Herz sei vor Schmerz zu Blut geworden, eine Anspielung auf die im Berg verborgenen Rubine. Nun bittet der Gottsucher das Meer (20) um Hilfe, aber das Meer klagt darüber, selbst durstig zu sein und nach einem Tropfen aus dem Meer des göttlichen Geliebten zu verlangen. Der Meister deutet das Meer als Sinnbild der ungestillten Sehnsucht, die den Sucher immer durstig zurücklasse. Gleichzeitig mahnt er, dass der Durst von Herz und Seele maßvoll bleiben müsse. Die nächste Station des Wanderers ist das Mineral (21). Es klagt, dass es vor Trauer schwarz sei – eine Anspielung auf den Schwarzen Stein der Kaaba in Mekka  – und keinen Schritt ­vorankomme. Die Menschen meißelten Götzenbilder aus ihm und machten es damit selbst zu einem Ungläubigen. Der Schmerz lässt das Mineral so sehr innerlich brennen, dass es das Höllenfeuer entzünden könnte. Der Meister deutet das ­Mineral als Symbol des Todes, womit sich die folgenden Ge-

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schichten beschäftigen. Die Pflanzen (22), an die der Wanderer sich anschließend wendet, erzählen ihm von ihrem raschen ­Dahinwelken und den Arten des Todes, durch die sie umkommen: Sie würden zersägt, zerschnitten, verbrannt, herausge­ rissen, gegessen und in den Staub gestreut. Der Meister gibt den Eigenschaften der Pflanzen eine etwas gezwungene Aus­ legung als mystische Narrheit, welcher die folgenden Geschichten gewidmet sind. Nun kommt der Gottsucher zu den Gliederfüßern (23), die er preist, weil Gott sie durch seine Erwähnung im Koran ausgezeichnet hat; die Suren 16, 27 und 29 sind nach der Biene, der Ameise und der Spinne benannt. Nach der islamischen Überlieferung rettete eine Spinne dem Propheten und seinem Schwiegervater Abū Bakr, die sich nach dem Verlassen Mekkas vor ihren Verfolgern in einer Höhle versteckt hatten, das Leben, indem sie ein Netz über die Höhle spann. Die ­Gliederfüßer sehen sich jedoch selbst als schwache, kurzlebige Geschöpfe, welche die Welt nur wie durch ein Nadelöhr sehen können. Der Meister spricht anschließend über den mystischen Monismus, der die Vielgestaltigkeit der diesseitigen Welt auf den letzten und einzigen göttlichen Urgrund zurückführt, den der Mystiker aber erst nach seiner Entwerdung erfassen kann. Die folgenden Geschichten greifen dieses Thema auf. Als der Wanderer nun zu den Vögeln (24) kommt, preist er sie als freie Geschöpfe, unter denen er insbesondere den Wiedehopf nennt, welcher der Geheimnisse Salomos kundig ist, und ­ ögel den mythischen Vogel Sīmorgh, den König der Vögel. Die V aber leiden, weil sie die ganze Welt durchflogen haben, nur um am Ende Verwirrung, Entbehrung und Ratlosigkeit zu erfahren. So darf der Phönix, der Könige erwählt, indem er seinen Schatten auf sie fallen lässt, nur Knochen fressen, um seine Geistseele vor allem Niederen zu schützen. Der Nachtigall  – das traditionelle Symbol für den liebenden Mystiker – bleiben nichts als ihre Lieder. Der Meister deutet den Vogel als Symbol für die Begriffe der höheren geistigen Welt. Dann begibt sich der Gottsucher zu den Landtieren und Fischen (25), die er preist, unter anderen den Hund aus der Siebenschläferlegende, die im Koran erzählt wird (Sure 18, Verse 10–22): Sieben Män-



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ner, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden, ziehen sich in eine Höhle zurück und schlafen dort mehr als dreihundert Jahre lang, während ihr Hund sie bewacht. Aber die Tiere erklären dem Wanderer, dass sie doch nur rastlos in der Welt ­umherwandern und sich untereinander töteten und auffräßen. Der Meister deutet die Tierwelt als Sinnbild für die gierige Triebseele. Nun geht der Gottsucher zu Satan (26), dem gefallenen ­Engel, der von Gott verflucht wurde, weil er sich weigerte, sich vor dem neugeschaffenen Adam niederzuwerfen, und sich seither in der Hölle befindet. Satan warnt den Pilger jedoch davor, seinen Weg nachzuahmen. Der Meister deutet die Gestalt des Satans als Sinnbild für Selbstsucht und Neid. Daraufhin bittet der Gottsucher die Geister (dschinn), nach denen die Sure 72 des Korans benannt ist, um Hilfe (27). Sie hätten, so meint der Gottsucher, Macht über den Menschen, denn sie könnten ihn besessen machen. Der Vertreter der Geister jedoch belehrt den Pilger, dass sie dem Menschen unterlegen seien, der sie auf mancherlei Art zu bannen vermöge. Der Meister spricht nun über die Besessenheit und das Irresein aus Liebe, und es folgen Geschichten über Irre und Narren. Die nächste Station auf dem Weg des Gottsuchers ist der Mensch (28), den er als Pol der Schöpfung preist, um dessentwillen Gott sich offenbart habe. Aber auch der Mensch kann dem Pilger nur seine betrübliche Situation schildern: Er sei vom Gesetz gebunden und von ­Strafen und der endgültigen Abrechnung am Jüngsten Tag bedroht und hundertfach von Gott getrennt. Der Meister spricht anschließend über die Seele des Menschen, über die dieser zum göttlichen Geliebten gelangen könne. Vom Menschen auf den Propheten Adam verwiesen, begibt sich der Gottsucher zu ihm (29), danach zu den Propheten Noah (30), Abraham (31), Mose (32), David (33) und Jesus (34), die ihn alle auf Mohammed verweisen. Schon Jesus ermahnt den Gottsucher, sein Selbst aufzugeben, und als der Wanderer endlich zum Propheten Mohammed (35) kommt, wird diese Begegnung zum Höhepunkt und zugleich Wende-

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punkt des «Buches der Leiden». Nach diesem Zusammen­ treffen verlässt der Gottsucher den äußeren Kosmos und beginnt seine innere Reise (Stationen 36–40), denn der Prophet Mohammed erteilt ihm den Rat, nicht weiter im äußeren Raum zu suchen, sondern in seinem Inneren, und sich selbst auszu­ löschen. Er belehrt den Pilger, dass der Weg zu Gott durch sein eigenes Inneres führe und er noch vier weitere Stationen überwinden müsse, bevor er zur Seele gelange. Dann werde er im Sein Gottes aufgehen und Dinge erleben, von denen keine menschliche Zunge Kunde geben kann. Dem Rat Mohammeds folgend, begibt sich der Gottsucher zuerst zu den Sinneswahrnehmungen (36), doch diese betrachten sich selbst als minderwertig. Sie seien ständig in fünf Teile – die fünf Sinne – geteilt und nur den äußeren Formen hingegeben. Der Meister deutet die Sinneswahrnehmungen als Sinnbild für Egoismus und Zerstreuung. Die Vorstellungskraft (37), zu welcher der Gottsucher danach kommt, leidet darunter, ­alles nur hinter einem Vorhang, als reine Phantasie, wahrzunehmen. Der Meister erklärt dem Pilger, dass die Vorstellungskraft den Sinneswahrnehmungen überlegen sei, weil sie immer alles bei sich gegenwärtig habe, während die Sinneswahrnehmungen immer der Trennung unterworfen seien. Doch auch die Vorstellungskraft ist noch weit vom Ziel entfernt. Der Verstand (38), die nächste Station des Gottsuchers, weist ihn harsch zurück, als er ihn bittet, ihn zu Gott zu führen. Der Meister belehrt den Pilger, dass der Verstand zwar der Richter im gesamten Kosmos sei, jedoch die meisten derjenigen, die sich des Verstandes rühmten, sich nur in Lügen und Geschwätz ergingen; niemand könne durch leeres Gerede über den Verstand sein Ziel erreichen. Die vorletzte Station des Gottsuchers ist das Herz (39), das zwischen Leib und Seele steht und sich nach einer prophetischen Überlieferung zwischen den Fingern Gottes befindet. Es ist deshalb Gott sehr nahe und dennoch fern, denn das Herz bezeichnet sich selbst nur als Widerschein der Seele. Der Meister deutet das Herz als Sitz der Gottesliebe. Endlich gelangt der Gottsucher zu seiner letzten Station: der Seele (40). Er erkennt, dass seine Seele mit dem großen Seelen-



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ozean verbunden ist. Die Seele erklärt ihm, dass seine Reise in der äußeren Welt vergeblich war und das, was er suchte, in ihm selbst verborgen liegt. So wirft sich der Pilger nun in das Meer der Seele, geht in ihm auf und erkennt, dass er selbst der Urgrund allen Seins ist. Die Seele erklärt, sie habe ihn so lange wandern lassen, damit er ihren Wert erkennt, denn nur der unter Mühen erworbene Schatz sei kostbar. Der Gottsucher findet am Ende beide Welten, das Diesseits und das Jenseits, in sich selbst und erkennt beide als einen Widerschein seiner Seele. Nun, da er das Geheimnis seiner Seele gefunden hat, ist der mystische Wanderer lebendig und Gottes Diener geworden. Aber die Reise des Mystikers endet mit dem Eintauchen in das Meer der Seele noch nicht, wie ʿAttār am Ende des «Buches der Leiden» andeutet, denn nach der Reise zu Gott, die im Seelenozean ihr Ziel erreicht hat, beginnt die Reise in Gott. Diese zweite Reise kann und will ʿAttār aber, nach eigener Aussage, nur mit Gottes Erlaubnis schildern. Denn dann wird die Seele immer neue Dimensionen des unauslotbaren Wesens Gottes ­erfahren, von denen im Grunde niemand etwas aussagen kann. Diesen Zustand nennen die Mystiker das «Bleiben in Gott» (baqāʾ), das dem «Entwerden» (fanāʾ) folgt.39 Am Ende seines Werkes erzählt ʿAttār noch einige Geschichten über religiöse und poetische Fragen.40 Mystische Botschaft und schonungsloser Realismus Am ähnlichsten sind dem «Buch der Leiden» von allen anderen Werken ʿAttārs die «Vogelgespräche». Beide Epen behandeln dasselbe Thema: die unausweichlichen Schwierigkeiten auf der Reise zu Gott, im «Buch der Leiden» die des mystischen Wanderers, in den «Vogelgesprächen» die einer Schar von Vögeln, die vergleichbare Unbilden auf ihrem Weg überwinden müssen. In beiden Werken spielen Schmerz und Leiden der Gottessehnsucht, die schließlich zum Heilmittel wird, die entscheidende Rolle. Selbst formal sind sich beide Epen ähnlich: Sie haben eine Rahmenhandlung, in die Geschichten eingeflochten werden, welche die angesprochenen Themen veranschaulichen sol-

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len. Dennoch liegt das Ziel der wandernden Vögel nicht in den Tiefen des Meeres der Seele wie im «Buch der Leiden», sondern in einem Wesen, das Gott repräsentiert, dem mythischen Vogel Sīmorgh. Als die Vögel, von denen am Ende noch dreißig übrig sind, schließlich in das blendende Licht der Gegenwart des Sīmorgh eintauchen, erkennen sie in ihm  – ähnlich wie der Gottsucher des «Buches der Leiden» beide Welten in seiner Seele gespiegelt sieht – den Widerschein ihrer selbst, denn sie sind «dreißig Vögel» (persisch: sī morgh) und damit der Sīmorgh selbst, in dem sie nun entwerden. Wenn auch im «Buch der ­Leiden» eine unpersönliche Gottesvorstellung bestimmend ist, lässt es sich als ein Gegenstück bzw. eine Ergänzung zu den «Vogelgesprächen» betrachten, da beide Werke zwei mögliche Wege zu Gott versinnbildlichen.41 Die individualisierte Einzelseele, wie sie in den «Vogelgesprächen» erscheint, wird allerdings im «Buch der Leiden» noch überboten durch die Ver­ einigung aller Einzelseelen im Seelenozean und hebt die von den Mystikern erstrebte Vereinigung mit Gott ins Kosmische empor­. Der Endzustand der Seele des Pilgers ist ihre Auflösung im großen Ozean der Seele. Es ist eine höhere Daseinsform, über die allerdings nichts Konkretes ausgesagt wird und auch nicht ausgesagt werden kann. Für ʿAttār ist das Meer der Seele das Urmeer, der Urgrund allen Seins, aus dem alle Dinge entsprungen sind und in den sie dereinst zurückkehren werden. Der Mensch ist mit diesem Meer durch seine individuelle Seele verbunden. Nach dem Entwerden gibt es weder Gut noch Böse, weder Glauben noch Unglauben mehr, sondern nur noch das Eine. Alles andere gibt es nur in der diesseitigen Existenz, denn nur im Diesseits ist die Erkenntnis subjektiv und beschränkt. Nur im Diesseits erscheint das eine Sein, welches die Dinge durchflutet, in differenzierter Vielzahl. ʿAttār drückt dies im letzten Kapitel seines «Buches der Leiden» in Bildern aus, etwa durch das Gleichnis des Ozeans, dessen zahllose Tropfen zu Regentropfen werden, wenn sie ihn verlassen haben. Genauso ist alles, was ins Dasein tritt, nur ein Teil aus dem Meer der göttlichen Fülle. Da das eine göttliche Sein jedoch transzendent



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ist, kann es dem menschlichen Blick nicht zugänglich sein, ­sondern ist hinter den Dingen verborgen und zeigt sich nur in seinen Spiegelungen wie etwa in der Natur. Deshalb sind die geschaffenen Dinge zugleich Offenbarung und Schleier des Seins. Im «Buch der Leiden» beschwört ʿAttār ein kosmisches Entwerden, indem alle Dinge außerhalb Gottes in Gott, dem Ursein, verschwinden. Die Vielzahl der Dinge des Diesseits, die in ihn zurückkehren müssen, wird schließlich in der ursprünglichen Einheit wieder aufgehoben (anschauliche Beispiele in den Geschichten 23/1–2).42 Im «Buch der Leiden» erfährt der Gottsucher auf seiner Wanderung durch den Kosmos, dass der Mensch einen höheren Rang besitzt als Himmel und Erde und alles sonst Geschaffene, denn nur um seinetwillen wurden Diesseits und Jenseits erschaffen. Der Mensch hat vor allen anderen Geschöpfen das Privileg der Gottesliebe, und deshalb trägt der Mensch, obgleich­ aus niederem Material erschaffen, durch seine Seele einen göttlichen Funken in sich,43 wie es in den «Vogelgesprächen» durch die dreißig Vögel versinnbildlicht wird, die den Sīmorgh in sich selbst erkennen. Das «Buch der Leiden» hat aber nicht nur eine unvergleichliche religiös-mystische Botschaft, sondern beschreibt auch die diesseitige Welt in vielen, meist düsteren Farben. ʿAttār ergeht sich nicht in metaphysischen Spekulationen, sondern beobachtet unerbittlich den Alltag in seiner Umgebung, in der er seine Gleichnisse findet. Die Geschichten, mit denen ʿAttār die Erfahrungen des Pilgers veranschaulicht, haben ein didaktisches Ziel und wirken auf den ersten Blick unterhaltsam; sie sind teils grotesk, teils slapstickhaft, aber in der Art, wie sie die Reali­ täten der diesseitigen Welt schildern, fast immer drastisch. Während ʿAttār in den Geschichten einerseits bekannte Persönlichkeiten aus der islamischen Geschichte und Mystik auftreten lässt, sind die Hauptpersonen andererseits meist einfache Menschen wie Arme, Bettler und Narren. In solchen Geschichten spiegelt sich das Alltagsleben in ʿAttārs Heimatstadt Nischapur in vielen Facetten wider. Die Stadt wird zuweilen auch ausdrücklich genannt, etwa in Geschichte 29/6, in der eine Hun-

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ʿAttār und das «Buch der Leiden»

gersnot in der Stadt erwähnt wird. ʿAttār erspart seinem Pilger nichts. Er schildert die Welt, das Diesseits, in den schwärzesten Farben. Schmutz, Elend, Not, Armut und Hunger; allgegenwärtige Gier, Gewalt und Brutalität; die Willkür und Grausamkeit der Herrschenden und ihrer Beamten; die Heuchelei und der Hochmut von Gelehrten und Theologen  – alles das fügt sich zum Bild einer einzigen großen Verzweiflung zusammen, die ʿAttār leidenschaftlich herausschreit. Niemand vor ʿAttār hat die Zustände dieser Welt so finster und mitleidlos ohne jeglichen Hoffnungsschimmer und mit so scharfen Formulierungen dargestellt. Ein barmherziger Gott, den der Koran am Anfang nahezu jeder Sure als «den Barmherzigen, den Erbarmer» anredet, scheint diese Welt nicht erschaffen zu haben. Im Gegenteil narrt Gott seine Geschöpfe und treibt seinen Spott mit ihnen. Fast zynisch klingt die Geschichte (23/9) um den zweiten Kalifen ʿOmar (reg. 634–644), der vor einer Reise Gott sein ungeborenes Kind, mit dem seine Frau schwanger war, anvertraute. Als er zurückkam, war seine Frau tot, aber das Kind im Grabe noch lebendig. Dazu spricht eine Stimme, dass Gott sein Wort halte und das bewahre, was man ihm anvertraut habe – aber seine Frau habe ʿOmar Gott eben nicht anvertraut! An anderer Stelle wird Gottes Willkür angeprangert: Mahmūd von Ghazna (reg. 998–1030), der bei ʿAttār gelegentlich die Stelle Gottes einnimmt, klagt darüber, dass sein Palast so still sei. Als sein Wesir ihm sagt, dass seine Gerechtigkeit die Welt erfülle und es deshalb keine Bittsteller mehr gebe, schickt Mahmūd sein Heer aus und lässt überall Steuern erheben­, und schon füllt sein Palast sich wieder mit Menschen (Geschichte 37/12).44 In ʿAttārs «Buch der Leiden» scheint es nicht nur die Barmherzigkeit Gottes nicht zu geben, sondern auch nicht seine Schönheit. Dass Gott schön sei, ist ein traditioneller Gedanke der Mystik. Viele Mystiker glauben auch, dass Gott sich in ­seiner Schöpfung widerspiegele, so wie es der Koran (Sure 2, Vers 115)45 anzudeuten scheint, dass somit die Schönheit der Natur als Gottes Schöpfung seine eigene Schönheit zeige. Alle geschaffenen Dinge werden für den liebenden Mystiker zu



ʿAttār und das «Buch der Leiden»39

einem­Zeugnis der göttlichen Quelle ewiger Schönheit, deren Spuren sich ihm überall zeigen. Sie werden in Metaphern aus der vielfarbigen Natur ausgedrückt, deren belebte und unbelebte Geschöpfe alle als ein Zeichen für Gottes Eigenschaften dienen können. So gilt der Regen als Gottes Gnade, die das ­demütige Herz wiederaufleben lässt; der Mühlstein dreht sich im Kreis wie der Mystiker selbst, und in Blumen und Blättern sieht er ein Buch, in dem Gottes Weisheit geschrieben steht. Gott hat seine Zeichen in die Horizonte und in die Seele des Menschen gesetzt (Sure 41, Vers 53)46 – der Mensch muss sie nur erkennen. Die persische Poesie vermochte in der Vielfalt i­ hrer sub­tilen und stimmigen Bilder solche Gefühle perfekt auszudrücken.47 Obgleich auch ʿAttār die Welt als einen Schatten Gottes und die Dinge als Spuren seiner Schöpfermacht ansieht,48 wird die Natur bei ihm jedoch nur selten und dann nicht als schön dar­ gestellt: Die arabische Mystikerin Rābiʿa (gest. 801) zieht sich in ihr Haus zurück mit der Bemerkung, wenn sie nur den Schöpfer habe, brauche sie die Schöpfung nicht (Geschichte 19/5). Gott hat, wie es bei ʿAttār aussieht, eine leidende Schöpfung ins ­Leben gerufen, in die er aber nicht eingreift oder eingreifen will. Der gesamte Kosmos scheint ohne Frieden und Freude zu sein und von der Trauer über seine hoffnungslose Lage ebenso erfüllt wie der Mensch.49 Der Meister, der dem Gottsucher seine Erfahrungen deutet, beschränkt sich auf die Interpretation, zeigt aber keinen Ausweg aus der allgemeinen Misere. Die scharfe Kritik, die ʿAttār an dem sinnlos erscheinenden Zustand der Welt und damit an Gott übt, legt er vor allem den Narren in den Mund. Er hat in seinem Werk eine große Schar von Irren und Narren geschaffen, die mit Gott wie auch mit den Herrschern streiten und ­ihnen bittere Vorwürfe machen.50 Schon seit dem 8. Jahrhundert haben Menschen angesichts des leidenden, unvollkommenen Diesseits immer wieder an Gott gezweifelt und mit ihm ­gehadert. Auch bei ʿAttār stehen neben den Frommen, die sich geduldig in das fügen, was Gott über sie verhängt, diejenigen, die gegen ihn und seine Weltordnung, die ihnen ungerecht er-

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ʿAttār und das «Buch der Leiden»

scheint, aufbegehren.51 Die Narren bei ʿAttār  – die Bezeichnung hat für ihn nichts Verachtenswertes –, die sich vordringlich in Ruinen und auf Friedhöfen aufhalten, sind prinzipiell Verrückte oder partiell Geistesgestörte. Im Orient galten «Narren» als Menschen, die ein besonders nahes Verhältnis zu Gott haben, das dem Verstand des Normalmenschen unzugänglich bleibt. Sie wurden deshalb, zumindest von den Erwachsenen, respektiert und mit Scheu und Ehrfurcht behandelt. Kinder ­jedoch bewarfen Narren mit Steinen, wie es ʿAttār erzählt (Geschichte 24/6). Allerdings fasst er den Begriff des Narren sehr weit und wendet ihn auf jeden an, der eine abweichende Ansicht­ äußert.52 Aufgrund ihrer Nähe zu Gott durften die Narren Dinge sagen, die für einen normalen Muslim unerhört, ja blasphemisch gewesen wären. Die Kritik der Narren äußert sich bei ʿAttār in vielen Nuancen: von Missmut und Unwillen über ­demütige Ergebung in die Hoffnungslosigkeit ihres Daseins bis zur Anklage, ja Drohung gegen Gott. Wie immer aber auch die persönliche Beziehung der Narren zu ihrem Gott aussieht, sie haben es nach damaliger Vorstellung immer unmittelbar mit ihm zu tun, der auf ihr Leben einwirkt. Diese direkte Verbindung zu Gott ist ein Grund dafür, dass man Narren meistens mit Achtung behandelte und ihnen ihre dreisten Äußerungen nachsah.53 Wie ʿAttār selbst sagt, dürfen die normalen Menschen an den frechen Reden der Narren zu Gott keinen Anstoß nehmen, weil aus ihnen ihr besonderes Liebesverhältnis zu ihm spreche (Geschichten 27/3 und 27/11). Die Geschichte von den Narren sind auf den ersten Blick unterhaltsam, vermögen ihren düsteren realen Hintergrund ­ aber nicht zu verbergen. Die Narren werfen Gott beispielsweise immer wieder vor, dass er für seine Geschöpfe schlecht sorgt und sie Hunger leiden lässt (z. B. Geschichte 21/12). Ein Narr beklagt sich, dass er sich an Schnee sattessen muss (Geschichte  27/7). Gott darf nicht erfahren, dass jemand einem hungrigen Narren etwas zu essen holen will, weil er ihm dann auch noch das Leben nehmen wolle (Geschichte 2/6). Drastisch schildert ʿAttār einen Narren, der während einer Hungersnot in Nischapur alle Moscheen verschlossen fand und keinen



ʿAttār und das «Buch der Leiden»41

Gebets­ruf hörte, während alle Menschen nach Brot schrien; deshalb glaubte der Mann, «Brot» müsse der Höchste Name Gottes sein (Geschichte 29/6). Andere Narren lehnen ihr Dasein­ rundweg ab (Geschichten  22/3 und 27/5) und haben keine Scheu, Gott ihre Ansicht über sein – wie sie meinen – zweck­ loses ständiges Erschaffen und Vernichten zu sagen (Geschichten 4/4 und 27/6). Ein Narr geht sogar so weit, sich Gott selbst als leuchtendes Exempel anzupreisen (Geschichte 22/2). Ein Narr versucht vergeblich, Gott zu überlisten (Geschichte 27/15): Als in seinem Dorf eine Rinderseuche ausbricht, verkauft er die Rinder, die er besitzt, und schafft sich stattdessen Esel an. Als einige Tage darauf eine Eselsseuche ausbricht, klagt er Gott an: «Du, der Du die Geheimnisse kennst, kannst Du nicht einmal ein Rind von einem Esel unterscheiden?» Ein anderer Narr stiehlt eine Schale aus einer Moschee, damit Gott sich endlich einmal um ihn kümmert, und hat damit Erfolg (Geschichte 22/4). Ein armer Narr, der Besuch von zwei hungrigen Gästen erhält, aber nichts zu essen hat, droht Gott damit, alle Lampen in der Moschee zu zerschlagen. Als diese Drohung die gewünschte Wirkung zeigt, sagt der Narr über seine dreiste Rede zu Gott nur: «Man muss Ihm die Zähne zeigen, denn wenn man es nicht tut, bekommt man nichts von Ihm!» (Geschichte 22/5) Ob ʿAttār aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte zum Pessimisten geworden ist, lässt sich leider nicht mit Gewissheit sagen, aber es ist anzunehmen, denn er lebte in einer Zeit, die nicht frei von Umwälzungen und Turbulenzen war; es gab Erdbeben, Hungersnöte, den Einfall der Oghuztürken und ­ schließlich den Mongolensturm, dem ʿAttār zum Opfer fiel. Dies alles dürfte nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben sein. Zeitzeugen berichten vom Elend in Nischapur, das ʿAttār selbst erlebt haben muss, und davon, dass viele Menschen dem Wahnsinn verfielen und zu Vagabunden herabsanken.54 ʿAttār erzählt aber nicht nur Geschichten, sondern er deutet sie auch. So interpretiert er das traditionelle mystische Ideal der materiellen Armut im Sinne einer ethischen Lebensauffassung: Da der Herrscher überall um Geld betteln muss, der Mystiker aber niemanden anbettelt und von der Schuld des Herrschers,

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ʿAttār und das «Buch der Leiden»

die Menschen zu berauben und zu unterdrücken, frei ist, steht der Mystiker im Rang höher als der Herrscher und ist reicher als dieser. Die Argumente, mit denen die Mystiker wie auch die Bettler und Narren die tyrannische Herrschaft anprangern, gleichen sich: Weltliche Macht und irdischer Besitz sind vergänglich; das Handeln der Herrscher ist sündhaft, weil sie ihren Besitz unrechtmäßig erwerben und ihre Untertanen auspressen55 (Geschichten  7/2–3, 7/6–9, 13/2). Manche Geschichten über eine wünschenswerte gute Regierung erinnern an Geschichten in Fürstenspiegeln, einem an die Herrschenden gerichteten literarischen Genre mit didaktischer Ausrichtung, das schon im 8. Jahrhundert von iranischen Autoren entwickelt wurde und in Iran gegen Ende des 11. Jahrhunderts sehr populär war. Das blinde, sinnlose und grausame Walten Gottes, dem der Mensch nicht entkommen kann, wird im persischen Schrifttum häufig dem Schicksal zugeschrieben. Das Thema des unberechen­ baren Schicksals durchzieht einen großen Teil der persischen Literatur. Die pessimistische Weltsicht gibt ihr einen melancholischen Zug. Das Schicksal hat mehrere Namen. Es kann mit Gott identisch sein, steht aber zumeist neben Gott und wird mit dem «umgekehrten Glück», mit dem Lauf der Zeit oder mit dem kreisenden Himmelsrad gleichgesetzt. Der Mensch ist dem willkürlichen Walten dieser Mächte  – sei es Gott, sei es das Schicksal – hilflos ausgeliefert. Die Tragik im «Buch der Leiden» besteht darin, dass ʿAttār wie sein Pilger weiß, dass Gott existiert und dass dieser Gott als der übermächtige Feind des Menschen erscheint, dessen Grausamkeit dieser ganz real erfährt. Doch trotz aller Düsternis wird die Existenz Gottes niemals in Zweifel gezogen. Obgleich diese Welt von Gott verschmäht und in ihrem Leiden sich selbst überlassen zu sein scheint, gibt es Gott hinter allem Leid, das er aber offensichtlich nicht lindert oder nicht zu lindern gewillt ist, obwohl er immer da ist – wie die Sonne zu Mitternacht. Die Menschen bei ʿAttār können Gott nicht als gütigen Gott wahrnehmen oder seine Existenz in irgendeiner Weise als Wohltat oder Gnade spüren. Diese Sicht auf Gott und die Welt erscheint nicht nur realis-



ʿAttār und das «Buch der Leiden»43

tisch, sondern in mancher Hinsicht auch sehr modern. Die Sinnsuche in einer sinnlos scheinenden Welt war wohl immer und ist auch heute noch weit verbreitet. Unter diesem Gesichtspunkt mag die mystische Gottsuche dem Diesseits einen Sinn gegeben oder die Verhältnisse wenigstens erträglich gemacht haben.

Farīd od-Dīn ʿAttār DAS BUCH DER LEIDEN

Beginn des Buches

Sei ganz Ohr und aufgeschlossen, damit ich dir die Grundlagen dieses Buches darlegen kann. Wenn es dir gelingt, seinen Duft aufzunehmen, wirst du in beiden Welten gesegnet sein. Auf den ersten Blick wird manchem meine Rede krumm wie ein Bogen erscheinen. Von außen erscheint sie gewunden, doch im Inneren ist sie äußerst schön. Wer, o Pilger, mit den Engeln spricht und auf der Erde und im Himmel die Wahrheit sucht, wer den Fußschemel und den Gottesthron hinter sich lässt und nicht aufhört, nach allem zu fragen, wird Kenntnis von den Propheten erlangen und diese Geschichte Wort für Wort anhören. Sie ist in der Sprache des Zustandes1 geschrieben, nicht in der Sprache der leeren Worte. In der Sprache der leeren Worte gibt es nur Lüge, in der Sprache des Zustandes nur Wahrheit und Schönheit. Wenn du diese Sprache nicht vollständig beherrschst, gib dich mit der Sprache des Denkens zufrieden! Glaube dem Pilger, denn er spricht mit seinem Herzen; sieh seine Worte nicht als sinnlos an! Da es möglich ist, im Traum alles zu sehen, schüttele nicht den Kopf, wenn jemand seiner Eingebung folgt! Die Eingebungen auf seinem Pfad können von Satan stammen, aber eben auch vom Himmel und von den ­Engeln. Man braucht geistiges Gespür, Ehrfurcht und Sehnsucht nach Gott, um zwischen diesen beiden unterscheiden zu können. Wenn du eines Tages auf diese Stufe gebracht wirst, wirst du diese Eigenschaften an den Menschen erkennen. Dann werden dir hunderttausend Bedeutungen klar: Du wirst sie ­annehmen und für Gewissheit halten. Bei dieser Vorgehensweise ist es wie bei der Rechtsfindung: Man muss das Gute wie auch das Böse berücksichtigen. Zweifellos ist etwas verwerflich oder richtig. Folglich gebührt diesem eine von diesen beiden Bewertungen. Mein Ziel bei diesem

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Beginn des Buches

Text ist es, mit dir über den Pilger zu reden, der zu Gabriel und zum Gottesthron gewandert und von jenseits des Thrones wieder auf die Erde zurückgekehrt ist; der über die Sterne bis zu den Engeln aufgestiegen und unter die Erde neben den Fisch2 hinabgestiegen ist. Halte das nicht für die Unwahrheit, höre gut zu! Vernimm, aber nicht mit den Ohren, sondern mit dem Herzen! Zuerst werde ich dir das Prinzip zeigen, dann festigen wir zusammen das Fundament, bis du diese Redeweise so weit verstanden hast, dass du sie nicht mehr ablehnst. Dieses schöne Buch ist für Auserwählte und Gemeine so erarbeitet worden, wie ich gesagt habe. Friede sei mit dir! Möge Gottes Gedanke mit dem Pilger auf dem Pfad sein, ein Gedanke, der durch das Gedenken3 an Ihn erworben wurde. Möge das Gedenken rezitiert werden, bis der Gedanke entsteht, der hunderttausend ursprüngliche Bedeutungen trägt! Denken, das aus der Vorstellung und dem Verstand entspringt, ist nicht Anrufung des Unsichtbaren, es beruht nur auf Er­ zählung. Verstandesmäßiges Denken gehört zum Unglauben, das Denken des Herzens aber zum wirkenden Menschen. Die Vision  – dieser Pilger auf dem Weg  – entsteht nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Herzen. Die Menschen des Herzens haben ein anderes Gespür und ein anderes Verständnis, das der Wahrnehmung der beiden Welten überlegen ist. Wer über solch ein Verständnis verfügt, taucht in den Ozean der Mysterien ein. 1. Hodayfā befragt Haydar über die Offenbarung Hodayfā fragte Haydar:4 «O Löwe des Schöpfers, vollkommens­ ter­unter den Menschen, gibt es im ganzen Universum keine andere Enthüllung des Göttlichen Wesens als den Koran?» ­ Haydar antwortete: «Nichts anderes als den Koran! Aber Er hat Seinen Freunden ein sehr gutes Verständnis gegeben, damit sie, wenn eine Offenbarung eintritt, Seine Worte richtig aus­ legen können.» *



1. Hodayfā befragt Haydar über die Offenbarung49

Der Gedanke des Herzens, der zum Pilger geworden ist, ist das innerste Wesen aller Dinge. Ich erzähle sein Unternehmen von Anfang bis Ende: Verstehe Seine Geheimnisse! In dreierlei Finsternis legt Er einen Tropfen, ohne Herz oder Glauben; mit Seinem Wort erschafft er das verächtliche Wasser­.5 Dann wird er umhergeschlagen wie ein Ball, damit er Verwirrung lerne. Neun ganze Monate in Blut gebadet, ernährt er sich vom Blut des Mutterleibes. Am Ende haucht Er ihn an; frage nicht danach! Der Körper wird auf diese Weise gebildet; und die Seele? Frage nicht! Mit dem Kopf nach unten fällt er aus dem Mutterleib, als Lehm inmitten von Blut kommt er heraus. Schon von Anfang an bestand er aus Schmutzwasser, also hoffe nicht auf seine Reinheit! In drei Dunkelheiten trat er ein, das heißt: Licht ist nicht dein Lebensraum. Er ist verwirrt, und wie ein Spielball wird er hin- und hergestoßen. Neun Monate verbrachte er in seinem eigenen Blut, das heißt: Mit Bluttrinken fing alles an. Kopfüber, blutverschmiert betrat er die Welt, das heißt: Laufe mit dem Scheitel, kopfüber! Weinend suchte er mit den Lippen die Milch, das heißt: Weine, denn du bist ein Säugetier. An der Brust sah er dann oft nur Dunkelheit, das heißt: Jetzt lebe bitter und finster. Dann kam die unruhige Kindheit, das heißt: Von Kindern kommt keine Beständigkeit. In der Jugend ging er als Fremder durch die Welt, das heißt: Jugend ist eine Art von Verrücktheit. Dann, durch das Alter, wurde sein Verstand untauglich, das heißt: Erwarte von einem schwachsinnigen Greis kein Glück. Schließlich sank er am Ende ratlos in die Erde, das heißt: Er hatte keinen Hauch der reinen Seele aufgenommen. Jeder, der dergestalt gefangen ist, findet die Seele nicht und stirbt mit leeren Händen. Solange du keine hellsichtige Seele findest, wagst du es, dich als Menschen zu bezeichnen? Der Mensch ist nicht nur ein Tropfen aus Wasser und Lehm, er ist auch göttliches Mysterium und reine Seele. Es gibt hundert Universen voller Engel: warum sollten sie sich vor einem Samentropfen niederwerfen? Wünschst du nicht, o Handvoll Erde, dass aus der Handvoll Erde eine reine Seele werde?

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Beginn des Buches

Der Mensch, dieses Produkt des Samentropfens, muss auf der Suche nach der Seele unheilbare Leiden ertragen. Die Unterstützung bei diesem Unternehmen? Der Irrtum. Der Balsam für diesen Schmerz? Der Schmerz selbst. Sieh nur, wie lange der Weg vom ursprünglichen Samen bis hierher ist! Jedes Herz, das sich der Suche hingegeben hat, ist bis zur Auferstehung trunken vor Verrücktheit. Der Pilger des Herzensgedankens hat vor den Leiden dieser Suche keine Ruhe, weder am Tag noch in der Nacht. Er müht sich, den Körper durch die Seele zu ersetzen, um vor seiner Sterbensstunde beide zu vereinen. Was hier zählt, ist die Anstrengung deines Geistes, möge er keinen Atemzug lang vom Pfad abkommen! Eine Stunde deiner Achtsamkeit ist mehr wert als siebzig Jahre deines Gehorsams! Der Pilger des Herzensgedankens hängt erschöpft kopfüber da, wie der Klopfring an der Pforte. Er weiß nichts über das ­Alter, er kann sich seinen Weg nicht erklären. Er ist weder mit sich zufrieden noch mit den Geschöpfen, fühlt sich weder mit Christengürtel noch mit Derwischkutte wohl. Er hält sich für geringer als einen Hund, doch niemanden für geringer als sich selbst. Er ist nicht alles, nicht nichts, nicht Teil, nicht Ganzes, nicht schlecht, nicht gut, nicht Würde, nicht ­Erniedrigung. Nicht schief, nicht gerade und auch kein Abbild; nicht Körper, nicht Seele und auch keine Einheit. Keine Vermutung, keine Gewissheit, kein Zweifel; kein Viel, kein Mittleres, kein Wenig. Kein Nachbar, kein Jemand, kein Vertrauter, kein Gefährte, kein Irgendwer, kein Verwandter. Kein Herz, kein Auge, keine Brust; kein Körper, keine Liebe, keine Feindschaft. Kein glücklicher Muslim, kein Ungläubiger, und diese Verwirrung hat weder Hand noch Fuß. Kein bisschen von einem Tropfen, kein Zeichen auf der Stirn. Kein bisschen von einem Atom, keine Erklärung des Endes. Niemand, der nach Beständigkeit strebt; niemand, der über die Zukunft spricht. Das Herz hat kein Wissen über den Zustand der Dahingegangenen; die Seele hat keinen Eindruck von den Verhältnissen der Verblichenen. So viele Karawanen und kein Stäubchen zu sehen, kein Mensch erscheint bei dieser Beschäftigung. Kein vollkommener Unglaube, kein vollkommener Glaube, niemand­



1. Hodayfā befragt Haydar über die Offenbarung51

voller Schmerz, kein wirksames Heilmittel. Kein sichtbarer Kopf, kein Pfad erscheint, auf dem Weg bei jedem Schritt ein Abgrund. Kein Rat, an den man sich halten kann, kein Gesetz ohne Übertretung. Alle im Tumult der Unachtsamkeit, alle mit der Auswirkung von Fehlerhaftigkeit beschäftigt. Hunderttausend verwirrte Geschöpfe; alle mit der Plünderung der Welt beschäftigt. Einer schafft von da etwas fort, einer von dort; einer ist sich einer ­Sache sicher, ein anderer zweifelt daran. Einer verirrt sich wie ein Schwein, ein anderer wird durch List zu einem Fuchs. Einer ist stark wie ein Elefant, einen anderen hat die Gier zur Ameise gemacht. Einer nimmt Art und Wesen des Hundes an, ein anderer wird tückisch wie eine Maus. Einen hat ein Korn in die Falle gelockt, ein anderer schmort und bleibt doch roh. Einer wird zum Leichenfresser wie der Geier, ein anderer zum Schreihals wie die Krähe. Einen macht das Leid ganz wütend; einem anderen bringt die Vielgötterei den bösen Blick. Einer geht mit dem Richteramt schwanger; ein anderer ­erfreut sich als Aufseher seiner unreinen Tätigkeit. Einem erscheint Verständliches unverständlich; einem anderen erscheint es unvollkommen. Einer schlägt die Trommel des Gebrülls wie ein Löwe, ein anderer gibt ein reißendes Geräusch von sich wie ein Wolf. Einer schlingt alles in sich hinein wie ein Krokodil, ein anderer zerfetzt alles wie ein Leopard. Einer schwimmt frisch wie ein Fisch auf dem lieblichen Wasser; ein anderer spreizt die Flügel in der Luft wie ein Vogel. Ein scheinbar schöner Engel ist tatsächlich ein menschgewordener Dämon, und jenes feenhafte Wesen erscheint als Skorpion. Einer schafft sich wie Nimrod die Hölle; ein anderer wird wie Schaddād in den Himmel gehoben.6 Einer hat einen juwelenbesetzten Bart wie der niederträchtige Pharao, ein anderer ist ein ziegenbärtiger Schmeichler wie Hāmān.7 Einem schwellen Brust und Kopf vor Boshaftigkeit; ein anderer hat durch ein Stipendium ein Zimmer, das bis zur Türe Unzucht birgt. Einer ist vor Kälte zu Eis erstarrt, und einer flackert vor Hitze un­ ruhig wie Feuer. Einer hat kein Augenlicht, glänzt aber wie eine Narzisse; ein anderer hört in seiner Taubheit keine Rede. Einer

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Beginn des Buches

kommt mit einem essigsauren Gesicht daher, ein anderer hat ein schlammiges Wesen wie ein Teich. Einer betrügt alle mit Arglist, ein anderer vergiftet alle mit seinem Stolz. Einer ist der Freund des gehässigen Geizes, ein anderer mit Heuchelei und Hochmut vertraut. Einer trägt das Monogramm des Neides auf seinem Körper, ein anderer verbindet Heuchelei mit rasender Lust. Einer­erfindet Ausreden wie die Frauen, ein anderer schreit wie ein Säugling hundert sinnlose Silben. Einer ist anziehend wie eine Traube am Weinstock, ein anderer schneidet mit der Sichel seiner Worte. Der Schulmeister mit seinem verlogenen Gerede ist mit ­seinem Gehalt wie mit seinem Urin verbunden. Der Ausrufer trampelt wie ein Vogel im Holzkäfig, während die Versammlung­ ihm applaudiert. Die Gnostiker fühlen sich stark wie Stiere und haben Köpfe wie Büffel. Die Sufis winden sich zwischen «Wahrheit» und «Reinheit», und ihr Streben hat nichts Aufrichtiges. Die Asketen mit ihren stachligen Rücken halten sich steif wie Bohnenstangen. Die Frommen predigen Kargheit und treiben sich in den Ecken herum wie die Dame beim Schach. Die Großen haben sich alle verborgen; die Heiligen stehen am ­ Pranger. Die Helden ergeben sich; die Falken werden zu Lasten­ trägern. Die Herzensmenschen schweigen mit gelben Gesichtern­ und trockenen Lippen und warten, bis der Tag zur Nacht wird. Die Geheimnisträger drehen sich zur Wand und eröffnen der Wand ihr Geheimnis. Jeder ist in einer anderen Sekte, auf einem anderen Weg; ­jedes Herz liegt zweifelnd in einem anderen Abgrund. Die Philosophen schwanken zwischen «Qualität» und «Quantität»; die Sophisten halten an der Negation der Welt fest. Alle tragen in Nachahmung den Kopf hoch und sehen sich selbst als Führer. Sie nennen Fanatismus Macht und Zweifel Mysterium und Wissen. Die Theologie wird zum Wortgeplänkel, und aus Logik­wird eine Kette von Winkelzügen. Einer wird wegen einer Übertreibung Khalafi8 genannt, ein anderer wird zum Astro­no­men, damit er einen höheren Rang erhält. Jeder Gemeine b ­ eschäftigt sich mit Erwerb, aber nicht mit Wissenserwerb, sondern mit dem Erwerb eines höheren Ranges.



1. Hodayfā befragt Haydar über die Offenbarung53

Hunderttausend­Begierden ohne Ende umringen die Seele vom Dach bis zur Tür. Der verzweifelte, bestürzte und sprachlose Pilger sah hundert Welten wie ein tosendes Meer. Teilchen um Teilchen sah er, ­jedes auf der Suche nach Gott, alle im Strudel Gottes versunken. Er durchsiebte die Erde auf der ganzen Welt und sonderte Vernunft, Zweifel und Hindernisse aus. Hunderttausendmal durchsiebte er sie, doch er fand kein Juwel. Am Ende kam ihm Gott zu Hilfe: Durch sein Sieben fand er einen Meister,9 eine Sonne, die beide Welten erhellt, so dass die Welt der Sterne durch sie den Pfad entdeckte. Er wurde ausgelöscht; das Entwerden machte ihn frei, und er versank in die Welt der Liebe. Sein Ich verspielte er für Gottes Wesen, seinen Kopf für die Ewigkeit, bis er Schritt für Schritt den Pfad vor sich liegen sah, bis er immer höher aufstieg. Zeitlos blieb er in der Zeit, ortlos blieb er im Raum. Er sah jedes Teilchen in ­beiden Welten, kein Teilchen, in welcher Farbe auch immer, blieb ihm verborgen. Er war innerhalb und außerhalb der Welt, innerhalb und außerhalb der Mitte. Der Reisende war zu einem beständig Sesshaften geworden  – ein Verborgener, der stets ­anwesend war. Wie die Sonne tauchte er die Welt in Licht und fürchtete sich selbst ob seiner Verwirrtheit. Der Meister des Pfades wurde zum roten Schwefel,10 seine Brust war wie ein grünes Meer. Wer aus dem Staub unter den Füßen des Meisters keine Augen­salbe macht,11 der verschwinde, ob er nun rein oder unrein sei. O Sohn, der Pfad ist lang und voller Gefahren; der Reisende braucht einen Führer. Wenn du ohne Führer vom Weg abkommst, wird dir jeder Löwe zur Gefahr. Wie kann ein Blinder sich orientieren, wenn ihm der Blindenstab fehlt? Wenn du meinst, es sei kein Meister zu sehen, dann suche ihn tausend und tausend Mal. Denn gäbe es auf der Welt keinen Meister, blieben weder die Welt noch die Zeit bestehen. Der Meister seiner Zeit ist verborgen; von den Geschöpfen als Schande angesehen, schließt er sich den Sufis an. Wie könnte die Welt ohne Achse12 bestehen bleiben? Der Mühlstein dreht sich um die

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Beginn des Buches

Achse. Wenn die Welt keine Achse hat, wie kann sich dann der Himmel drehen? Wenn du leidest, erscheint der Meister, der Schlüssel zum Schloss deines Leidens. Den Wagemutigen, die zum Herrscher gemacht werden, wird ein Heilmittel für das Leiden bereitet. Wenn du keinen Schmerz hast, wozu dann ein Heilmittel? Wenn du kein Diener bist, woher kommt dann der Befehl? Wenn du nicht vor Schmerz brennst, wie kann dich dann das Feuer erleuchten? Wenn du Schmerzen bekommst, gibt es ein Heilmittel für dich; gib deine Seele hin, dann gibt es Hoffnung auf den Geliebten. Kurz: Als der Pilger dem Meister begegnete, warf er sich vor ihm nieder. Seine Seele kochte vor Freude; aus tiefster Seele legte er den Sklavenohrring an.13 Der Schatten seines Meisters legte sich auf seine Seele, als hätte die Sonne sie in einen Glutofen verwandelt. Licht erschien, und die Finsternis verschwand; die Liebe kam, und Verstand und Ehrfurcht verschwanden. Hunderttausend unbeschreibliche Blumen erblühten in des Pilgers Herzensgarten. Als er sie in seiner Seele sah und aus beiden Augen blutige Tränen liefen, schluchzte er laut wie der Donner und lachte ohne Unterlass wie der Blitz. Bald lachte er, bald weinte er; es war nicht sein Verdienst, es war ein Geschenk. Er war entzückt von dieser Gnade, der Unglaube verschwand und die Rechtleitung begann. Es dauert Jahre, bis aus einem Tropfen Wasser im Herzen des Meeres eine glänzende Perle wird. Obwohl der Regentropfen vollkommen ist, dauert es Genera­ tionen, bis er im Meer zur Perle wird. Wenn jeder Tropfen zur Perle würde, könnte jedem Waisenkind ein Mustafā14 innewohnen. Als der Pilger schließlich ganz unruhig wurde, brachte ihn der ruhmreiche Meister auf den Weg. Er sagte: «Auf dem Pfad lauern dir Wegelagerer auf, sei wachsam; tu, was dir gesagt wurde! Der Weg ist lang, mein Sohn, sei achtsam! Hebe den Schlaf für das Grab auf und bleibe wach! Jedem wird ein beson­ deres Werk zugewiesen, wie du haben viele diesen Kummer verspürt. Bemühe dich, und lasse dich auf diesem langen Weg durch nichts aufhalten! Wo immer du dich niederlässt, wirst du



1. Hodayfā befragt Haydar über die Offenbarung55

bis in alle Ewigkeit müde liegen bleiben. Schmerz und Qual in deiner Brust seien dir eine Lehre. Die Nachtigall deiner Seele wende den Blick nie ab!15 Gehe geradeaus, bemühe dich, sei auf der Hut! Trage die Last, iss Disteln, höre zu!» Vor Leidenschaft wie Feuer glühend, entledigte sich der ­eifrig bestrebte Pilger jeder Verwirrung und Melancholie und stürzte sich nackt in das Meer. Er hatte aufgehört, sich zu bedanken und zu beklagen, und somit den Weg zur Unendlichkeit aufgenommen. An diesem Morgen brach für ihn ein glück­ licher Tag an, er war ein Kind des Pfades geworden, der Verstand des Meisters war sein Lehrer. Er sah hunderttausend verschiedene Pfade, hunderttausend Meere voller Blut. Hundert Welten erstrahlten ihm aus jeder Richtung, hundert Firmamente drehten sich um ihn. Hundert Sphären wogten mit ihm auf und nieder, hundert Himmel und Höllen hatte er vor sich. Von seinem Werk erschöpft, fühlte sich der erstaunte Pilger wie eine Leiche; der Weg war weit und er mittellos. Wie oft klopfte er an eine Tür und niemand öffnete, wie oft schlug er mit den Flügeln und niemand half ihm auf. Er zuckte und kämpfte und lief, er zog und schob und sprang auf. Wenn er zum Ende ging, verlor er das vor ihm Liegende, wenn er vorwärts ging, verlor er das Ende. Wenn er nicht gehen konnte, wurde er hergerufen, wenn er hinkommen konnte, wurde er fortgetrieben. Zu Hunderten von ineinander verschlungenen Wegkreuzungen kam immer noch eine dazu; er suchte, aber fand nichts. Zweifellos hatte er den Verstand verloren und war verrückt geworden, die Vernunft war ihm plötzlich fremd. Das verrückte Denken hatte begonnen, er öffnete die Flügel des Vogels der Trunkenheit. Er sagte: «O Schmerz, du Heilmittel für mein Ich, Seele der Seele, Unglaube und Glaube meines Ich. Wenn du mir hundert Berge auf die Schultern setzt und auf meine Seele, ohne mich zu fragen: Wer bin ich denn, um einen solchen Schmerz ertragen zu können; meinen Rock so einem Schmutz auszusetzen? O Wunder, deinen Schmerz kenne ich nicht, ich weiß nur, dass ich dich brauche. Wenn ich weine, sagst du mir: ‹Was weinst du so viel?›, und wenn ich lache, sagst du: ‹Lache nicht, weine!› Wenn

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Beginn des Buches

ich nicht schlafe, träume ich besser; wenn ich schlafe, träume ich etwas anderes. Wenn ich etwas tue, sagst du: ‹Tue es nicht, höre meine Rede!›, und wenn ich etwas nicht tun will, sagst du: ‹Tue es!› Wenn ich esse, sagst du: ‹Iss nicht, o Unwissender!›, und wenn ich nicht essen will, sagst du: ‹Iss!› Was kann man mit dir essen? Nichts. Was kann man mit dir tun? Nichts.» Etwas von dir wollen ist weder hässlich noch schön, man kann dich weder Feind noch Freund nennen. 2. Alexander und der Bettler Ein armer Mann kam zu Alexander dem Großen und bat den König der Welt um einen Dirham.16 Als der König diese Bitte hörte, rief er: «Unwissender, wie kannst du von einem König wie mir so wenig verlangen?» Da antwortete der Mann: «Dann gib mir doch eine Stadt und einen Schatz, ohne dass ich mich anstrengen muss.» – «So etwas gibt man dem König von China», antwortete Alexander, «wer bist du, dass man dir so viel geben sollte?» * Nachdem der verwirrte Pilger so weit gekommen war mit seinem Reisegepäck, dem hohen Streben, konnte er nicht mehr umkehren, das hätte sein Herz nicht besänftigt. Weitergehen konnte er auch nicht, der Weg hatte keinen Anfang und kein Ende. Er sah Welt über Welt in Wogen von Blut, bald wallte der Gottesthron, bald das Himmelsgewölbe auf. Hunderttausend Welten in Aufruhr  – es war ein Ort des Klagens, nicht der Kraft. Da nahm er die Last der Klage auf sich, von Tür zu Tür stimmte er kraftlos seine Seufzer an. Er hat sich von seinen ­Ketten befreit gesehen, deshalb stiegen diese Seufzer17 hoch aus ihm auf. Er war voller Gedanken und Vorstellungen, die ihn schnell hinauftrugen. Zuerst wendete er sich an Gabriel und bat um Almosen, wie es Reisende tun. Bis zum Ende seines ­Unternehmens ging er von Tür zu Tür. Höre jetzt den Bericht vom Anfang seines Werkes.

Erstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Gabriel

Der Pilger trat zu Gabriel wie eine tote Ameise zu einem lebendigen Elefanten und sprach: «O Herrscher über die Mysterien, auf deine Seele ist das Geheimnis des Unsichtbaren eingeprägt. O Adoptivbruder aus dem Stamm der Propheten, Mahdi des Islam, Führer auf dem Pfad! Du bist der Heilige Geist,1 der getreue Geist2 und mit der Offenbarung des Herrn beider Welten vertraut. Du hast die Propheten3 zu den Menschen geschickt und den Gesandten Würde verliehen. Als Träger des Korans, der Thora und der Psalmen hast du hundert Bücher Gottes, des Reinen Lichts, überbracht. Dein Refugium ist die Nähe zur Göttlichen Erhabenheit, deine reine Wohnstatt die Seele des Auserwählten. Geschmückt bist du mit hunderttausend Pfauen­ federn, und auf der Stufe der Heiligkeit bist du die Heiligkeit selbst. Du bist der Übersetzer für die Propheten, hast die Bedeutung von hundert Welten erklärt. Schwach bin ich, habe Hab und Gut verloren, in die Welt geworfen ohne Kopf und Fuß. Mein Herz schmerzt; wenn es eine Heilung gibt, lass sie ihm angedeihen, solange es noch schlägt.» Gabriel antwortete: «Folge deinem Pfad, gehe in Frieden, und sei rechtschaffen! Unser ständiger Schmerz ist deinem vergleichbar, gehe, unser Schmerz genügt uns! Unter Tausenden nehme ich einen besonderen Rang ein, besser wäre ich nur ein Stäubchen. Wenn ich meinen Rang nur um einen Fingerbreit überschreite, verbrenne ich mir Finger, Flügel und Federn. Mein Atem reicht nur bis zum Lotosbaum an der äußersten Grenze,4 ich warte darauf, dass der Schöpfer mir ein Zeichen schickt. Die Furcht, die ich bei jedem Atemzug verspüre, kann niemand beschreiben. Denn niemand könnte ertragen, was ich höre, ohne sich von beiden Welten zu verabschieden. Seit ich der

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1. Der Pilger geht zu Gabriel

Überbringer Seiner Worte geworden bin, werde ich vor Ver­ ehrung immer kleiner. Weder kann ich diese Last tragen, noch kann ich ohne diese Erniedrigung an Größe gewinnen. In dieser Furcht, die auf meiner Seele liegt, ist mir das Sichtbare verborgen. Aus Furcht kann ich mich nicht an Ihm erfreuen, und ich wage es nicht, Seiner zu gedenken. Folge deinem Weg! Hier ist nicht der Pfad. Oder gib auf, weil du kein Wissender bist.» Darauf begab sich der Pilger zum Meister, dem Führer auf dem Pfad, und erzählte ihm die ganze Geschichte. Der Meister sprach: «Gabriel ist der wahre Geist, er überbringt die Gebote des Herrn beider Welten. Wenn du ihm nur ein klein bisschen gleichen willst, dann gib deine Seele dem Gebot hin. Denn Gabriel gehorchte lange. Es vergingen siebzig Jahre, jedes davon tausend Jahre lang, bis er schließlich Gott anzurufen wagte; bis dahin war ewiges Schweigen sein Los. Und ebenso, wie er sich geplagt hatte, bevor er wagte, etwas vom Schöpfer zu erbitten, blieb er Jahrhunderte gehorsam auf diesem Pfad, bis er Ihn anrief und erhört wurde. Wenn er das alles tun musste, was willst du schon tun, armseliger Mensch? Gabriel fand nach so vielen Jahren der Pein den Schatz der Anrufung des Schöpfers. Du hingegen bist dir deiner Unwürdigkeit keinen Atemzug lang ­bewusst und wagst doch unverfroren, Seinen Namen auszusprechen. Dabei besteht die Essenz aller Reichtümer darin, Ihn anzurufen; Seiner zu gedenken ist die Zierde der Seelen. Wenn die Engel nicht Seiner gedächten, wären sie nicht Seine freien Diener.» 1. Abū Saʿīd und der Gefangene der Räuber Übeltäter machten einen Mann zu ihrem Gefangenen. Sie übergossen ihn mit eiskaltem Wasser und schlugen ihn mit Knüppeln, bis er wehklagte: «Hilf mir, o mächtiger Gott.» Zufällig kam Abū Saʿīd,5 ein ehrwürdiger Scheich, an dem Ort vorbei. Als einer seiner Diener zu ihm sagte: «O Herrscher des Wegs, wenn du ihm gegen sie beistehst, weiß ich, dass du Ihm gehorchst», antwortete Abū Saʿīd: «Wenn ich das tue, dann gedenkt auch er Gottes.»



2. Jesus und der Schlangenbeschwörer59

Wer Seiner gedenkt, dem steigt ein herzzerreißender Seufzer auf. Dieses Gedenken ist besser als Ruhe,6 es lockt die Schlange wie eine Ameise in die Falle. 2. Jesus und der Schlangenbeschwörer Ein Schlangenbeschwörer setzte sich mit einem Speer vor ein Schlangenloch. Er versuchte immer wieder einen anderen Zauber, jeden Augenblick eine andere Beschwörung. Als zufällig Jesus des Wegs kam, kroch die Schlange zu ihm und sagte: «O Geist Gottes, Fackel der Menschheit, dreihundert Jahre bin ich alt, und jetzt will dieser Dreißigjährige mich verzaubern und mich aus meinem Loch locken.» Schließlich verließ Jesus diesen Ort. Als er später wieder vorbeikam, fragte er den Schlangenbändiger: «Wie ist es gelaufen?» Darauf antwortete dieser: «Ich habe die Schlange in einen Weidenkorb gesteckt.» Jesus, der den Korb in die Hand nahm und aus dem Inneren eine Stimme hörte, sagte: «O Schlange, warum hast du ihm gehorcht? Du hieltest dich doch für unbezwingbar. Anfangs meintest du, er könne dir nichts anhaben, warum bist du ihm so leicht in die Falle gegangen?» Die Schlange antwortete: «Sein Zauber hat mich nicht getäuscht, ich hätte sein Blut vergießen können. Aber der Name Gottes, den er so oft rief, lockte mich ganz sanft in die Falle. Da ich ihm durch den Namen ­Gottes in die Falle gegangen bin, sind hundert Seelen wie ich zum Opfer Seines Namens geworden.» Die Vereinigung verbrennt deine Seele wie Feuer. Gedenken ist notwendig, damit dir die Welt entzündet wird. 3. Laylā und Madschnūn: Unerfüllte Liebessehnsucht Unterwegs begegnete Madschnūn7 jemandem, der zu ihm sagte: «Wenn du Laylā so begehrst, heirate sie doch!» Madschnūn antwortete: «Sie wird niemals meine Ehefrau sein, mir müssen ihre Tränen und ihre Klage genügen.» Darauf sprach der Mann: «Wenn du sie nicht an deiner Seite haben willst, dann schlage dir deine Leidenschaft aus dem Kopf!» Madschnūn aber er­

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1. Der Pilger geht zu Gabriel

widerte: «An Laylā zu denken ist schöner, ihr gebührt der Stolz, mir das Unglück. Der Kern der Liebe ist das Gedenken, alles ­andere ist nur heiße Luft. Ich möchte nicht vor Begierde das Gedenken an die Geliebte verlieren.» Solange an etwas anderes zu denken eine Rolle spielt, wird dir das Gedenken an den Geliebten verschleiert bleiben. Wenn all dein Denken aber dem Geliebten gilt, wird für dich wie für Madschnūn alles Laylā sein. 4. Laylā und Madschnūn: Die vollkommene Liebe Madschnūn wurde wegen Laylā immer ruheloser und irrte Tag und Nacht elend durch die Stadt. Jemand sagte zu Laylā: «Dieser verwirrte Mann irrt aus lauter Liebeskummer durch die ganze Stadt.» Da sagte sie: «Wenn seine Liebe fest ist, warum irrt er dann durch die Stadt?» Da ging Madschnūn in die Wüste; vor lauter Unglück wurde er schwermütig, und seine Tränen ließen wie der Tau die Wüste erblühen. Laylā sagte: «In der Liebe ist er schwach; es ziemt sich nicht für den Liebenden, durch die Wüste zu irren.» Darauf fiel Madschnūn in Ohnmacht­, das Leben erschien ihm wie der Tod. Entkräftet, den Tod vor Augen, legte er sich weinend zwischen Disteln in den Staub. Laylā sagte: «Er weint nicht aus Liebe, würde ein Liebender auch nur einen Atemzug lang schlafen?» Jetzt hatte ihn die Liebe zu Laylā besiegt, seine sehnsüchtige Seele hatte sich verloren. Schreie und Klagen verließen ihn keinen Augenblick, von Kopf bis Fuß war er vollständig Laylā. Er hatte sich so vergessen und war so mit ihr beschäftigt, dass er seines eigenen Seins müde war. Sein Herz entglitt ihm, und er löste sich im Blut auf. Er war ganz Laylā; Madschnūn war verschwunden. Wenn er auch Lust auf hundert Mahlzeiten verspürte, benannte er sie alle mit dem Namen «Laylā». Über seine Lippen kam nur noch der Name «Laylā». In seinem Gebet, o Wunder, ersetzte das Gedenken an Laylā ohne sein Zutun jede andere Litanei. Beim Bekenntnis und bei den Niederwerfungen gab es für ihn nur den Namen «Laylā». Wenn er sich setzte und wenn er sich erhob, sehnte er sich nur nach «Laylā, Laylā». Als Laylā dies erfuhr, sagte sie: «Jetzt ist seine Liebe echt. Solange noch etwas



5. Abū Saʿīd und der junge Mann: Die Gabe der Askese61

anderes Platz fand, war die Liebe zu Laylā unwürdig. Jetzt, wo er alles andere aufgegeben hat, beherrscht ihn die Liebe zu mir vollkommen.» Solange noch ein Sesamkorn in der Liebe Platz findet, ist der Liebende weniger als eine Maulbeere wert. Solange noch ein Atom von Selbst in ihm ist, ist es Unglaube, wenn er sich auf den Weg der Liebe macht. Die Liebe verlangt vollständiges Entwerden; wenn dies nicht geschieht, kann man die Liebe nicht begreifen. Jeder, der einen Finger darauf legt, verbrennt auf dem Weg wie Kohle. Die Liebe kann man nur im Entwerden lernen, wie könnte ein Entwordener brennen? Wenn du in der Liebe vergehst, ertrinkst du im Wasser des Lebens. Aber wenn nur ein Atom von Sein in dir bleibt, wird dich dieses auf ewig blind machen. Solange ein Atom des Seins in dir bleibt, bleibst du an der Schwelle der ­Sufis stehen. Das Sufitum kann man nicht erwerben; diesen ­Flickenrock muss man in der Vorewigkeit nähen.8 5. Abū Saʿīd und der junge Mann: Die Gabe der Askese Ein Greis brachte Abū Saʿīd einen Jüngling, damit er dessen Jünger werde. Nachdem der junge Mann in seinen Dienst ­getreten war, erblasste und ermattete er jedoch bald. Er konnte Einsamkeit und Selbstlosigkeit nicht ertragen, Erniedrigung und Armut nicht aushalten. Deshalb sagte er dem Scheich:9 «Du hast mich nicht zum Sufi gemacht, sondern nur kraftlos. Ich wollte ein Sufi werden, mich von mir selbst befreien. Stattdessen hast du mich in das Netz des Todes geworfen und mein ganzes Unterfangen zunichtegemacht.» Da antwortete der Scheich: «Die Sufis, die Abū Saʿīd formt, sind so wie du, o ­Jünger. Aber der Sufi, den der Schöpfer formt, wird zweifellos wie Abū Saʿīd sein.» Was von mir kommt, gleicht mir. Der Freund, der sich abwendet, wird zum Feind. Das Sufitum wird nicht erworben, wird etwa ein Esel durch seine Anstrengung zum Pferd? Doch wenn das Glück aus seiner Quelle fließt, ist der Esel Jesu mehr als hundert Pferde wert. Fleiß und Mühe sind ein Weg; Sufi

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1. Der Pilger geht zu Gabriel

wird man auf andere Weise. Dein Fleiß und deine Mühe werden nicht unbelohnt bleiben, aber wie könnte aus einem Spatz ein Adler werden? Und wenn du die ganze Welt als Lohn erhieltest, solange dein «Ich» besteht, bist du dein eigenes Joch. Der Sufi ist wie ein roher Stein, erst behauen, erscheinen ­Rubin und Smaragd. Solange dein Wesen sich nicht ändert, bleibst du ein Teilchen und wirst nicht zum Ganzen. Wenn du zum Ganzen wirst, bist du tatsächlich ganz verächtlich. Wenn deine Verächtlichkeit im Ganzen verschwindet, wirst du im Ganzen aufgehen und mit dir deine Verächtlichkeit. Wenn aber nur ein Atom deiner Verächtlichkeit in dir bleibt, bleibt dieses Atom deiner Verächtlichkeit dein Joch. Der Sufi hat seine Verächtlichkeit mit dem Ganzen verwoben, hat das Verächtliche und das Ganze ins Ganze des Ganzen geworfen. Das Ganze des Ganzen ist zur Ganzheit geworden, ohne Eigenschaft, ohne Handeln, ohne Wesen. Zufällig auf einen Schatz zu stoßen ist kein Handwerk, das man mühsam lernt. Der Sufi ist ein Mensch, der ohne Mühe findet; sein Schritt führt ihn unerwartet zum Schatz. Als Sufi musst du meditieren, damit du das Handwerk des Schatz­ findens erlernst. Und doch bedarfst du der Mühe und Anstrengung, damit dir dieser Schatz zugänglich wird. Denn auf diesem Pfad finden die Herren des Schatzes den Schatz sowohl ohne als auch mit Anstrengung und geben dir hundert Zeichen, damit du dein ungläubiges Ego überwindest. Mache dich mutig auf den Weg und finde, das Herz voller Erwartung, den Schatz! Auf dem Weg zum Schatz gibt es zweifellos keine Mühe. Wenn du aber einen anderen Weg einschlägst, wird der Schatz nicht dort sein, wo du suchst. Mache dich auf den Weg, den man dir gewiesen hat; bemühe dich, damit man dir die Richtung weise! Eifere Tag und Nacht auf dem Weg der Mühe, dann wirst du vielleicht plötzlich vor dem Schatz stehen! Hüte dich, der Anblick des Schatzes des Glaubens macht trunken, und glaube nicht, dass das die Frucht deiner Mühe ist! Hier gibt es kein Maß für die Mühe, außer dem Wächter bekommt niemand den Schatz zu sehen. Dem, der ihn sieht, wird ein Geschenk gegeben; wer ihn nicht sieht, dem hat es die Vorsehung verboten.



6. Die ferne Königstochter63

6. Die ferne Königstochter Ein König hat eine Tochter schön wie der Mond, aber du wärst zu Hause, ganz unten im Brunnenloch. Um ihr Gesicht sehen zu können, müsstest du ihr nahe sein. Wenn du in dem Palast wärst, könntest du einen Blick auf diesen Mond werfen. In ­beiden Welten gibt es keinen solchen Anblick; wenn du etwas anderes willst, dann ist es auch etwas anderes. Diesen Anblick kannst du nicht durch eigene Anstrengung erlangen, du müsstest dich in jenem Palast befinden. Bete stets voll Inbrunst, damit dein Feuer entzündet wird. Du solltest dir in der Religion Mühe geben, du solltest dein Feuer entzünden lassen, nicht spielen; denn wann wäre jede Niederwerfung aufrichtig? O du Heuchler, wie lange willst du dieses falsche Spiel noch treiben? Sogar die Niederwerfung ­einer menstruierenden Frau ist besser als deine, ein winziges halbes Goldstäubchen ist besser als du. Während die Reisenden zum Schatz zurückkehren, sitzt du in der Kaschemme und versuchst dein Glück beim Würfelspiel. Sie gehen weiter, aber du bleibst matt zurück. Wirf die Schlinge um deinen Hals ab, ­damit du nicht mehr so kraftlos bist! Du bist damit beschäftigt, den Weg einzuschlagen, doch keinen Atemzug lang sehnst du dich nach Gott. Wenn du nicht von deinem Selbst ablassen kannst, wie willst du dann Gottes gedenken? Wache zuerst aus deinem Wunschtraum auf, Lusttrunkener, sei einen Augenblick wachsam! Dann verlasse dieses Tal mannhaft, damit du hunderttausend tatkräftige Menschen siehst! Völlig gebannt von Seinem Werk wirst du durch Seine Mysterien befreit werden. Wie oft sagte ich, dass jeder Mann des Glaubens in seinem Herzen ein winziges Teilchen der Sehnsucht danach trägt? Aber was weißt du über den Glauben, Unvermögender, da du kein Mann der Glaubenssehnsucht bist? Glaube hat mit Unver­ mögen nichts zu tun; darüber zu reden bringt keinen Nutzen.

Zweites Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Isrāfīl

Der eifrig suchende Pilger kam schließlich völlig erschöpft bei Isrāfīl an und sprach: «O Vertrauter hinter dem Vorhang, ­Verehrter und Gelobter! Auf deinem Kopf ruht der Thron, der den Staub unter deinen Füßen zur Unterlage hat. Mal bringst du den Tod, mal das Leben; mal erhöhst du, mal erniedrigst du. Du gibst den sieben Himmeln Licht, deine Posaune belebt ­Körper und Seele. Nur der Ton deiner Posaune bringt das Licht hervor, du bläst den Menschen Seinen Geist ein.1 Da der Hauch der Barmherzigkeit deine Posaune durchströmt, kannst du sie freudig ertönen lassen. Am ersten Morgen hast du die Posaune geblasen, jetzt wird aus der Welt keine andere Welt mehr entstehen. Du schleuderst Himmelsfeuer in das Herz der Welt,2 du verwirrst alle Geschöpfe. Du hebst den Berg empor und schmetterst ihn ins Meer, du wirfst Stier und Fisch nach oben. Du schwärzt das Angesicht von Sonne und Mond,3 du streust die Sterne auf den Staub des Weges.4 Beide Welten legst du in deinen Schoß, löst sie in Nichts auf und gibst dich hin. Mit einem zweiten Posaunenstoß kleidest du in beiden Existenzen alle Geschöpfe nacheinander in andere Farben.5 Was sich auf deinen Posaunenstoß in Bewegung setzt, wird der Tag der Aufer­ stehung bezeugen. O du, der du mit einem Atemzug die Welt belebst, hauche auch mir Leben ein, mache mich mit einem Atemzug lebendig, oder aber töte mich, wirf mich in den Staub!» Diese Worte erschreckten Isrāfīl, als habe ein Nashorn einen Elefanten angehaucht,6 und er antwortete: «Du bist deiner selbst müde und maßt dir wie eine Katze den Rang eines ­Löwen an. Wie könntest du diese Suche, die aus dem Verborgensten deiner Seele stammt, hinter dem Vorhang hervorholen, Wider-



1. Der Feueranbeter in Seenot65

spenstiger? Mir erscheint die Welt nur als ein Senfkorn, und doch bin ich jeden Atemzug verzagt vor Angst. Wie willst du, der auf der Welt nicht einmal ein Senfkorn ist, je zur Ewigkeit gelangen? Ich stehe auf der Schwelle zwischen beiden Existenzen, mit der Posaune an den Lippen warte ich darauf, die Geschöpfe der Welt zu töten, das besuchte Haus7 mit meinem Atem zu zerstören. Ich hauche auf das Diesseits und das Jenseits, wie zwei Gläser zerschlage ich sie aneinander. Wenn ich dieses Durcheinander hinter mich gebracht habe, erschaudere ich und fliehe. Wenn solche Dinge in dieser Welt geschehen – was wird dann erst mir, schwach wie ich bin, zustoßen? Gehe fort, damit ich die Zukunft betrauern und alleine die Totenklage der Seelen anstimmen kann.» Darauf wandte sich der Pilger an den weisen Meister und ­berichtete ihm von seinem Erlebnis. Der Meister aber sagte zu ihm: «Der reine Isrāfīl ist der Lichtstrahl der Schöpfung des ­Todes und des Untergangs. Sein Ruhm ist ohnegleichen unter den Engeln, seine Majestät ist unbeschreiblich. Wie seltsam, ­jeden Tag zittert er an seinem Ehrenplatz stärker als ein Vogel aus Angst vor Gott. Wenn du nur ein Atom Furcht vor Ihm in dir hast, wirst du dich Ihm in alle Ewigkeit hingeben.» 1. Der Feueranbeter in Seenot In einem Schiff saß ein Feueranbeter. Da erhob sich eine Welle und zerstörte das Schiff. Sonst fürchtete der Feueranbeter niemanden, doch jetzt sagte er: «O Feuer, rette mich!» Darauf sprach ein Seemann zu ihm: «Sei ruhig, Dummschwätzer! Was weiß das Feuer schon über das alles hier? Die Welle vernichtet das Feuer und ist recht widerspenstig; was soll Feuer in solch einer Welle anrichten? Wenn sich das Feuer hier niederlässt und nur ein Luftzug geht, bringt es uns im Nu den Untergang.» Der Feueranbeter sagte: «O Mann, was sollen wir denn tun?» Der Seemann sagte: «Uns ergeben, denn was ist uns vorherbestimmt?» Wenn das Meer der Vorherbestimmung vor einem aufwallt, bringt es den Löwen wie eine Ameise zum Schweigen.

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2. Der Pilger geht zu Isrāfīl

2. Frieden zwischen Katz und Maus Ein Schiff ging im Meer unter, nur eine Planke blieb an der Oberfläche. Daran hielten sich eine Katze und eine Maus fest; sie kamen gut miteinander aus. Weder fürchtete sich die Maus vor der Katze, noch hegte die Katze eine böse Absicht gegenüber der Maus. Beide hatten Angst vor den schrecklichen ­Wogen des Meeres, und vor Verwirrung wurden ihre Lippen ganz trocken. Sie hatten weder den Mut noch die Kraft, sich zu bewegen; beide waren außer sich, sie waren weder sie selbst noch jemand anderes. Bei der Auferstehung wird ein ähnlicher Tumult entstehen; dort wird es kein «du» und «wir» mehr geben. Die Ehrfurcht vor diesem Pfad macht das Unternehmen schwer, hundert ­Welten blutet das Herz vor solcher Angst. Je näher man Ihm kommt, desto bestürzter wird man; die Dinge der Zeitläufte sind um ein weniges einfacher. 3. Der schöne Sklave Ein König hatte einen weißhäutigen Sklaven, der war von Kopf bis Fuß anständig und begabt. Wenn er lachte, entschlüpften seinen rosigen Lippen üppige, süße Blütenblätter. Die Sonne seines Antlitzes war der Ursprung des Mondes, seine schwarzen Locken spendeten der Sonne Schatten. Wenn er sein moschusduftendes Netz wie eine Schlinge auswarf, ließ er aus der Hand die Seele auf das Herz gleiten. Wahrlich, sein schwarzes Haar war vor lauter Verführung so, dass es sechzig Beuten von siebzig Völkern machte. Seine gebogenen Wimpern bildeten ein Gewölbe, in Wahrheit waren sie die Gebetsnische der Liebenden. Seine Pupillen blitzten zauberhaft zwischen seinen Schönheitsflecken auf. Seine Nase ließ das Herz erzittern, und sein Mund raubte dem Geist den Atem. Seine roten Lippen zu beschreiben ist unmöglich, denn niemand kennt das Wasser des Lebens. Dieser entzückende und hinreißende Sklave hielt also bei ­seinem König Wache. Das Schicksal wollte es, dass er eines



4. Sultan Mahmūd und sein Diener Ayāz67

­ ages vor dem Herrscher stand und in Selbstbetrachtung verT tieft war. Da stieß ihm der König den Dolch ins Herz; er verlor sein Leben, und das Jenseits wurde seine Wohnstatt. Zornig löste der König seine Zunge und sprach: «Wie lange willst du dich so selbst betrachten? Bald schaust du das Banner und ­deinen Arm an, bald bewunderst du deine Haartracht. Bald heftest du deinen Blick auf Füße und Stiefel, bald nach vorn, bald nach hinten auf deinen Helm. Und bald bis du mit deinem Ring beschäftigt. Bist du nun selbstverliebt oder ein Diener? Wenn du dich selbst so sehr liebst, warum stellst du dich dann in meinen Dienst? Lasse den Dienst, bewundere dich selbst! Steh auf und bleib nur bei dir selbst! Du gibst vor, dem Herrscher zu dienen und bist doch vor Selbstliebe ganz unruhig. Auch wenn du dich mühsam zur Vernunft rufst, bist du doch in Wirklichkeit der Diener deiner selbst. Ich lasse dich keinen ­Augenblick aus den Augen, doch du siehst andauernd nur dich selbst.» Weil die Pupille sich nicht selbst betrachten kann, kann ihr Platz nur im Auge sein. Das Tun der dem Herrscher Nahe­ stehenden hat große Bedeutung; wie kann ein beliebiger Mensch diese Nähe suchen? 4. Sultan Mahmūd und sein Diener Ayāz Sultan Mahmūd8 hatte einen dreisten, rücksichtslosen und blutrünstigen Diener. Als dieser Elende ein Verbrechen beging, befahl der König, ihn zu köpfen. Doch zuvor gebot der gerechte Herrscher Ayāz, die Versammlung zu verlassen: «Ayāz hat immerfort unsere Gunst erfahren; wie kann dieser Diener dann an unserem Zorn teilhaben? Wer mit unserer Gunst er­ zogen wurde, den quält der Gedanke an unseren Zorn.» O Wunder! Als Ayāz diese Worte hörte, sagte er: «Glücklich ist, wem der gerechte König einmal den Kopf abschlägt und damit rettet; er ist bis zur Auferstehung von Kummer und Leid befreit. Sieh doch meine Lage, mehrmals am Tag sticht mich das Schwert der Ehrfurcht. Sich dem König gegenüber richtig zu benehmen ist schwieriger als hundertmal geköpft zu werden.

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2. Der Pilger geht zu Isrāfīl

Tag und Nacht verbrennt er mich in seinem Zorn, und erzogen bin ich in seiner Gunst.» Je mehr Er jemandem von Seiner Gunst zukommen lässt, desto tiefer wird dieser gewiss im Blut versinken. 5. Schiblī und der Narr: Eine Bitte an Gott Es wird erzählt, dass Schiblī9 eines Tages beim Anblick von ­Irren traurig wurde. Dort sah er einen jungen Irren, dem Gott nicht fremd, sondern vertraut war. Der sagte zu Schiblī: «O hellsichtiger Mann, wenn du dein Morgengebet verrichtest, dann berichte dem Schöpfer von den Leiden, die Er ohne Unterlass in meine Welt bringt. Er hat mich von Vater und Mutter getrennt und in Lumpen gekleidet. Er hat mir jeden Schutz genommen, mich traurig in der Fremde zurückgelassen. Er hat mein ganzes Hab und Gut genommen und meine Seele entzündet. ‹Wenn Dein Feuer meiner Seele auch angenehm ist, macht es mich doch kraftlos. Du hast mich von Kopf bis Fuß gefesselt, damit ich durch Dich Erlösung finde. Wehe mir! Wenn ich Dich frage, was Du mir angetan hast, dann suchst Du mich noch ­ärger heim. Du gibst mir weder Kleidung noch Brot. Warum denn kein Brot? Du hast mir doch das Leben gegeben. Wie oft habe ich an diesem Ort gehungert! Wenn Du kein Brot hast, musst Du etwas leihen.›» So sprach er und kam für kurze Zeit wieder zu sich, dann schluchzte er eine Weile heftig, wobei er sprach: «O Scheich, wenn du das aussprichst, was ich dir ­gesagt habe, kommt es gewiss an.» Schiblī wandte sich weinend ab, er war verwirrt und konfus. Als er gerade zur Tür hinausgehen wollte, rief ihm jener Irre rasch hinterher: «Vorsicht, o geistlicher Führer, sage Gott nicht, was ich dir aufgetragen habe. Denn wenn du Ihm von meinem Los erzählst, macht Er es noch hundertmal schlimmer. Ich will nichts von Gott erbitten, weil es auf Ihn keinen Eindruck macht. Er ist Sich selbst genug; was man zu Ihm sagt, bewirkt nichts. Und das war’s!» Er gibt Seinen Freunden jeden Augenblick eine Seele, aber Er entzündet die Seele, wenn Er Brot gibt.



6. Der hungrige Narr und der Ehrenmann69

Unter jeder Heimsuchung, die Gott diesem Volk schickt, ist der Schatz der Großmut versteckt. 6. Der hungrige Narr und der Ehrenmann Ein ehrenwerter Mann fragte einen Narren: «Hast du irgend­ einen Wunsch?» Der Narr antwortete: «Seit zehn Tagen hungere ich; ich brauche Lebensmittel für zehn.» Da sprach der Ehrenmann: «Freue dich, ich gehe selbst für dich Süßigkeiten, Fleisch und Brot holen.» Der Narr sagte: «Nicht so laut, du Schwätzer! Sprich leise, damit Gott dich nicht hört. Rede nur halb so laut, denn wenn Gott dieses Geheimnis hört, dann reicht es nicht, wenn du mir Brot bringst, dann verlangt Er auch noch, dass du mir das Leben nimmst.» Er lässt Seinen Freund weiter hungern, damit dieser seines eigenen Lebens müde wird. Und wenn er seines Lebens müde geworden ist, dann hungert es ihn unaufhörlich nach dem ­Geliebten. 7. Der hungrige Narr und der Wolf Ein Narr lief sehr hungrig und ganz nackt durch die Wüste. Brot hätte er gebraucht, doch er hatte kein Brot; sein Leiden wuchs, und es gab kein Mittel dagegen. Da sprach er: «O Herr, gibt es irgendwo auf der Welt einen Hungrigeren als mich?» Da sagte eine Stimme zu ihm: «Doch, ich werde dir etwas Hung­ rigeres als dich bringen.» Da erzitterte die Wüste, und es erschien ein alter, hungriger Wolf. Als dieser den Narren sah, heulte er auf und stürzte sich auf ihn. Der Narr zitterte am ganzen Körper und fiel blutend auf die Erde. Er sagte: «O Herr, sei gnädig, töte mich nicht; das Leben ist wertvoll, töte mich nicht so schändlich. Ich habe selbst gesehen, dass es noch Hungrigere als mich gibt, und jetzt bin ich auch völlig satt. Heute bin ich ohne Brot satt geworden; Brot ist mir nicht mehr wert als mein Leben. Ab jetzt werde ich Dich um nichts als das Leben bitten, damit ich Dich nicht um Brot bitten muss. Du hast den Wolf auf mich gehetzt, aber bitte versöhne den Wolf mit mir. Musste

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2. Der Pilger geht zu Isrāfīl

ich in dieser Wüste voller Heimsuchungen einem solchen Wolf begegnen? Du hast mich mit ihm in einen Sack gesteckt; nun erlöse mich von diesem Unheil!» Als er in seiner Verwirrung so redete, lief der Wolf fort in die Wüste. Wenn du willst, dass Gott dich kreisen und wie das Gestirn auf- und absteigen lässt, dann stürze dich kopfüber in Sein Meer und füge dich ein in Seine Art und Sein Regelwerk. 8. Der verwirrte Ehrenmann und der junge Eiferer In unserer Stadt war ein Ehrenmann verrückt geworden und hatte plötzlich den Verstand verloren. Er hatte weder Kleidung noch Nahrung; niemand gab ihm einen Happen, ohne ihn zu verhöhnen. Fünfzig Jahre war er jetzt schon verrückt und zum Gesprächsstoff der Kinder geworden. Sein Gesicht war fahl und gelb; von Tür zu Tür kroch er durch den Staub, die Augen blutunterlaufen, das Herz in Flammen, die Lippen verschlossen, ein Opfer des Schicksals. Eines Tages sah er, wie ein zarter Jüngling sich auf das Gebet vorbereitete. Als der stolze Jüngling in die Moschee trat, rief der alte Narr: «O mein Sohn! Rette dich, rette dich schnell von hier! Denn auch ich bin oft durch diese Tür gegangen und wie du meiner Pflicht nachgekommen. Ich war fromm und gottesfürchtig, bis mich der Kummer so zerstörte. Wenn du ein verwirrter Gläubiger wie ich werden willst, wenn du den gleichen Kummer erleiden willst, dann gehe schnell hinein, damit dir ­geholfen wird. Es geschieht nicht zu jeder Zeit, dass dir Ver­ einigung angeboten wird.»

Drittes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Michael

Bedrückt kam der Pilger wie ein Bittsteller zu Michael und sprach: «O Hüter des Speichers, ohne dich kann niemand auch nur ein Hirsekorn essen; du verwahrst die Schlüssel der Welt, du bist die Stütze des Thrones, und der Schemel steht zu deinen Füßen. Wolke und Regen sind nur Tropfen aus deinem Ozean; das tägliche Brot ist ein Krümel von deinem Tisch. Jede Nacht erhellst du das Herz, und jeden Tag sorgst du aufs Neue für ein Auskommen. Wärst du nicht, gäbe es kein tägliches Brot, könnte sich kein Tau auf das Blatt legen. Würdest du nur einen Augenblick den Wind zügeln, könnte keine leichte Brise mehr durch die Welt wehen. Bis in alle Ewigkeit hältst du die Schöpfung frisch, du bist auch Donner, Blitz, Schnee und Regen. Die Sprösslinge im Garten ernähren sich an der Brust der Wolke mit üppiger Milch, und über dem Grünen lässt du zur Freude dieser Sprösslinge den Regenbogen erscheinen. Wenn man sich diesem Regenbogen auch nähern kann, fassen kann man seine zwei Bogenlängen1 nicht. Ich bin ein Kind der Liebe; ziehe mich auch auf, damit ich mit dieser Totenklage aufhören kann.» Kurz gesagt: Als Michael dieses Geheimnis hörte, sagte er: «O Unglücklicher auf dem langen Weg! Wer bin ich, Michael, hier denn schon? Was bin ich in Bezug auf Gottverlangen und Liebe zum Glauben? Bald werde ich vom Regen zurückge­ halten, bald vom Blitz, Tag und Nacht beschäftigt mit dem Werk von Ost und West. Der Donner ist ein Schrei meines schmerzenden Herzens; der Wind ist ein Hauch meines kalten Seufzers. Schnee und Regen sind meine zahllosen Tränen; der Blitz ist ein Funken meiner Seele. Mal macht mein Seufzer die Wolke zum Nebel, mal gefriert sie aus meiner Hoffnungslosig-

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3. Der Pilger geht zu Michael

keit. Sieh meine Inbrunst, meine Aufregung, meine vielen Tränen­! Heb endlich den Kopf, sieh meine Lage! Von meinem eigenen Tun verwirrt, verbringe ich Tag und Nacht in Schmerz und Gram. Geh fort von hier! Ich öffne dir diese Tür nicht; ­außer dir selbst öffnet sie niemand.» Da begab sich der Pilger zum Meister und vertraute sich ihm an; Stück für Stück legte er ihm seinen Zustand dar. Der Meister sagte: «Er, der Michaels Herr ist, gibt Seine Gnade und das tägliche Brot mit Freuden weiter. Beiden Welten steht er bei; bis in alle Ewigkeit sichert er den Lebensunterhalt. Das tägliche Brot kommt vom gerechten König, und Michaels Seele teilt es aus. Wer nicht sieht, dass das tägliche Brot von Seinem Hof kommt, gehört zu den Ungläubigen, ist kein Mann des Pfades­.» 1. Der Unwissende fragt Hatem nach seinem Lebensunterhalt Ein unbedarfter Mann fragte Hātem,2 wo er jeden Tag seine Nahrung herbekomme. Hātem antwortete: «Solange ich ein Leben habe, bekomme ich mein Essen aus den Speichern ­Gottes.» Der Mann sagte zu ihm: «Mit Scheinheiligkeit und List eignest du dir den Besitz der Muslime an, schaffst ihn Tag und Nacht fort und verzehrst ihn dann.» Hātem erwiderte: «O Ehrenwerter, habe ich dir jemals etwas weggenommen?»  – «Nein.» Hātem: «Bist du denn kein Moslem? Wenn doch, dann kannst du dich töten, denn so redet man nicht.» Der Frager sagte: «Beweise es mir!» Hātem: «Den Beweis verlangt der Schöpfer von uns.» Der Frager: «Willst du mit deinen Phrasen deine Sünden schönreden? Gott, der die Welt am ­Leben hält, hat gesagt, dass das tägliche Brot vom Himmel kommt.»  – «Aus den sieben Himmeln ist die Rede gekommen; auch von Gott wurde die Rede herabgesandt. Als deine Mutter ihren Gatten auserwählte, wurde ihr Ehebund mit ­einer Rede geschlossen.» Der Frager: «O du Wohlhabender, vom Himmel ­erhältst du kein tägliches Brot.»  – «Alle Geschöpfe dieser Welt bekommen wie ich ihr täglich Brot vom Himmel. Denn Er, der das Leben und die Welt erhält, hat auch



2. Mose und Borch der Schwarze73

das tägliche Brot für alle im Himmel vorgesehen.» – «Wohlhabend wie du bist, kann das tägliche Brot nicht aus einer kleinen Öffnung gekommen sein.» – «Neun Monate war ich im Mutterleib und bin durch eine Öffnung ernährt worden.» Der Frager: «Dann leg dich jetzt auf den Rücken, damit dir das tägliche Brot in den Rachen läuft.» – «So habe ich es zwei Jahre gemacht, du Blinder, in der Wiege ist es mir so ergangen. Ich schlief in der Wiege, und von oben floss die Milch in meinen Mund hinein.» Der Frager: «Man muss rechtzeitig säen; wenn niemand sät, wie soll dann etwas hervorkommen?» Da sagte Hātem zu ihm: «O Verwirrter, mein Haar schneide ich auch, ohne gesät zu haben.» – «Dann zeige mir, dass du etwas Ungekochtes isst!» – «Ich esse auch Ungekochtes, so wie die Vögel.» – «Dann such doch einmal im Wasser nach Lebensunterhalt.» – «Wäre ich ein Fisch, dann wäre das kein Wunder.» Da gab der Mann erstaunt auf und biss sich in die Finger. Schließlich beugte er sich Hātem, bereute und wurde sein Freund und Vertrauter. Wenn du Gottes Gnade und den Lebensunterhalt auf dieser Welt anstrebst, dann suche die Lösung für dieses Problem im Herzen. Wenn du alles als von dort kommend ansiehst, wird sich dein Tun von dort aus veredeln. 2. Mose und Borch der Schwarze Es lebte zur Zeit Moses, des Gesprächspartners Gottes, ein ­gewisser Borch der Schwarze, ein Liebender mit gebrochenem Herzen. In diesem Borch war solch eine Reinheit, dass seine Schwärze das Gesicht des Glaubens erröten ließ. Es begab sich, dass das Volk Israels vor dem Untergang stand. Es herrschte nämlich seit einem Jahr Dürre, und eine schreckliche Hungersnot warf bereits ihren Schatten auf das dem Untergang geweihte Volk. Nacheinander forderten die Leute Mose auf, um Regen zu beten. Daraufhin ging Mose aufgewühlt in die Wüste, um Gott, dem Allmächtigen, diese Bitte vorzutragen. Er begann mit seinem Gebet und streckte seine weißen Hände gen Himmel. Doch so viel er auch betete, kein Zeichen erschien auf

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3. Der Pilger geht zu Michael

der Welt. Später machte Mose noch einen Versuch, doch auch diesmal geschah nichts. Da das Volk dem Untergang aber bedrohlich nahe war, ging Mose noch einmal hinaus und sprach: «O Weiser und Reiner! Was ist das Mittel zur Heilung? Was befiehlst Du, damit es regnet?» Da sprach Gott, der Erhabene, im Geheimen zu Mose: «Wenn dein Volk sich Regen wünscht, dann habe Ich einen Diener, der darum beten kann. Sein Gebet wird das Not­ wendige hervorbringen.» Mose machte sich auf die Suche nach diesem Diener und erkannte den Glücksbringer in Borch. Er sprach zu ihm: «O du edler Ruhmreicher, die Hungersnot ist über die Welt gekommen. Geh morgen früh in die Wüste und bitte Gott um eine Regenwolke! Denn wenn es weiterhin so trocken bleibt, werden alle Geschöpfe in der Welt sterben.» Am nächsten Tag ging Borch also in die Wüste, begleitet von einer zahlreichen Schar. Er sprach: «O Herr! Vergieße nicht das Blut der Geschöpfe, füge ihnen nicht dauernd ein neues Leid zu! Du hast den Menschen aus Erde und Blut erschaffen, ­warum lässt Du ihn dann verhungern? Entweder hättest Du die Menschen gar nicht erschaffen sollen, oder Du musst ihren ­Lebensunterhalt bedingungslos gewährleisten. Hat denn Deine Huld abgenommen, ist Deine Großzügigkeit verschwunden und nichts mehr von Deiner Freigebigkeit und Deinem Großmut übrig? Gibst Du aus Deinem Meer der Wohltaten nichts mehr her, verteilst Du nichts mehr? Wenn Du wegen dieses Hungerjahres, das Du den Geschöpfen als Züchtigung gebracht hast, jetzt befürchtest, dass Du nicht genug Mittel hast: Aber nein, Du kannst mit Leichtigkeit alle versorgen! Sei gnädig, rette die verstörten Geschöpfe! Du hast uns Leben gegeben, also gib auch das Brot und erhalte das Leben!» Als Borch der Schwarze diese Worte gesprochen hatte, regnete es so stark, dass die Pflanzen mannshoch aufwuchsen. Der Regen erfrischte die ganze Welt, und die Herzen der Menschen ergriff eine unbändige Freude. Am nächsten Tag traf Mose, der Sohn ʿImrāns, zufällig auf Borch, der zu ihm sagte: «O Mose, hast du gehört, was ich diesmal zu deinem Gott gesagt habe? Hast du meine Leidenschaft,



2. Mose und Borch der Schwarze75

meine Redekunst, meinen Mut und meine kluge Strategie bemerkt?» Diese Worte erzürnten Mose dermaßen, dass das Feuer des Zorns ihn ergriff und Wasser aus seinen Augen quoll. Sein Zorn wallte auf wie das tiefe Meer, und er wollte Borch eindringlich tadeln. «Wie kann sich ein Verwirrter erdreisten, ohne Grund so frech zu reden?» Da sprach Gabriel: «Zürne nicht, Mose, und füge Borch unter keinen Umständen ein Leid zu! Denn er hat richtig gesprochen; dieser schwarze Borch ist seit langem Unser Diener. Dreimal am Tag bringt er Unsere Güte zum Lachen wie die Frühlingsblüte im Garten. Unsere Güte lacht über seine Rede; das ist nicht deine Sache, sondern nur seine.» Jeder erhält von Gott eine Besonderheit, und das ist Borchs Besonderheit. Was weißt du Unwissender, der du nur isst und schläfst, über die Liebe? Du hörst nicht mit essen und schlafen auf und handelst nur zu deinem Vorteil! Abends isst du, morgens schläfst du, und den Rest der Zeit redest du schlecht. Abraham ist für einen Augenblick eingeschlafen, o Wunder, und deshalb wollte er seinen Sohn opfern.3 Tag und Nacht schläfst du und isst gut – das ist Eselei, kein menschliches Verhalten. Du hast das Wesen eines Esels, ich nenne dich nicht «Mensch»; friss Gerste, für dich ist Weizen zu schade! Wie kann der Mensch am Ende zum Esel werden? Die Geschichte wurde schließlich auf den Kopf gestellt. Seit du auf den Markt dieser Welt gerufen wurdest, hat man dich verkehrt herum auf einen Esel gesetzt. Wie lange willst du blind und taub bleiben, du Esel? Du sitzt doch verkehrt herum auf dem Esel! Ruhm und Schmach halten dich auf ewig gefangen, und dennoch klagst du, dein Leben sei so schnell vergangen. Jahre und Monate ­ernährst du dich gierig von Blut, und das nennst du «Langes Leben». Tag und Nacht verschwendest du deine ganze Kraft, und das nennst du «Leben» und nicht «Tod»? Deine Hautfarbe nennst du «Jugend» und den Tod deines Herzens «Leben». Deinen aufgeschwollenen Bauch nennst du «Wohlgenährtheit», und die Geradheit der schlanken Zeder hältst du für Freiheit.4 Das gelbe Gesicht hast du durch rote Schminke begehrt gemacht und es gesund und frisch genannt, als ob du

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3. Der Pilger geht zu Michael

durch Luft einem Schaffell Stärke verleihen und einen Schwachen das Ringen lehren könntest. 3. Gottes Zorn und Gottes Güte Ein Vollkommener sagte: «Auf dem Weg zu Gott gibt es endlose, herzzerreißende Leiden. Und wie seltsam, aus Furcht davor fliehst du hinter eine Wand. Doch wenn du den Wein Seiner Güte trinken willst, musst du das Tal Seines Zorns vollständig durchqueren. Denn ohne das Eine gibt es das Andere nicht, ohne Leid und Schmerz gibt es kein Heilmittel. Doch wenn dich dann der Blick der Güte trifft, erhältst du mit jedem Atemzug ein neues ­Leben.» 4. Sultan Mahmūd und der freigekaufte Mörder Mahmūd war frühmorgens unterwegs und sah einen dürren Menschen, den man gerade kopfüber am Galgen aufgehängt hatte. Als der Blick des Königs auf ihn fiel und er seinen Weg fortsetzen wollte, rief der Mann sogleich vom Galgen herunter: «Mich sehen zehntausend Leute, und jetzt siehst auch du mich, o Gerechter. Gibt es keinen Unterschied zwischen diesem und jenem Blick? Wenn der Blick des Königs auf einen fällt, dann kann da keine Sünde mehr sein.» Diese Rede machte Mahmūd im Herzen froh, er bezahlte das Blutgeld für ihn und kaufte ihn frei. Als der Mörder so von ­seinem Verbrechen freigesprochen war, ergriff er des K ­ önigs Sattelriemen mit fester Hand. Da sagte der König zu ihm: «Jetzt, wo du der Gefahr entkommen bist, mach dich auf deinen Weg, oder willst du noch etwas anderes?» Er antwortete: «Wohin kann ich denn noch gehen? Ich kann dir niemals mehr fernbleiben.» Und der König fragte: «O du Dummkopf, was hast du mit mir zu schaffen?» Er antwortete: «Ich habe viel mit dir zu tun, denn mein König hat mich befreit; mit ­deiner Großmut hast du mir ein neues Leben geschenkt. Wenn du mich mit Gewalt von dir fernhältst, bin ich doch lebendig; du hast mich vor dem Grab gerettet. Wenn nicht, und du ein richtiger Mann bist, dann sag:



4. Sultan Mahmūd und der freigekaufte Mörder77

«Gnade sei ihm», und sie ­sollen mich jetzt hinrichten. Wer von dir befreit wurde, ist dein ­Auserwählter und wird nichts Böses erfahren, wenn er sich dir unterwirft. Ich bin jetzt der Freigekaufte an deinem Tor, und solange ich lebe, werde ich nicht an ihm vorübergehen.»

Viertes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu ʿAzrāʾīl – Friede sei mit ihm!

Der widerspenstige und hochmütige Pilger begab sich zum aufopferungsvollen ʿAzrāʾīl und sprach: «O du, meine Seele dürstet nach deinem Anblick, mein Ego möchte sich auf deinem Weg opfern. Du erträgst die Trennung nicht und bist dennoch zufrieden; du opferst die Seele dem Geliebten und bist dennoch zufrieden. Du lässt unter den Geistern der Nacht den Morgen anbrechen; du bist der Freigebige, der Sammler der Geister. Der Anfangsbuchstabe deines Namens, derselbe wie der Name des Angebeteten, brachte dir Ruhm;1 was könnte es Größeres geben? Wenn die Sonne ein kleines bisschen von deiner Schönheit sieht, wird sie geblendet und verliert ihren Glanz. Wenn die Geschöpfe der Welt diese Schönheit sehen, geben sie in Ekstase ihr Leben hin. Wer dein Antlitz sieht, gibt sein Leben und geht ­dahin; er lässt beide Welten los und geht dahin. Wer für die Leute unsichtbar geworden ist, den nennen sie tot; aber er lebt, denn du hast es ihm selbstlos geschenkt. Es steht dir zu, einem Menschen das Leben zu nehmen, um ihn für den Geliebten wieder lebendig zu machen. Bloßes Leben ziemt sich nicht für die Seele; ohne den Geliebten leben ist kein Leben. Ich bin mit meinem toten Herzen hier, weil das Leben der Seele in deinen Händen liegt. Nimm mir das Leben und gib mir ein lebendiges Herz zurück, denn ohne den Geliebten brauche ich kein Leben.» Als ʿAzrāʾīl diese Bitte hörte, zeigte er sein wahres Gesicht und sprach: «Wenn du meinen Schmerz kenntest, verlangtest du so etwas nicht von mir. Seit hunderttausend Jahrhunderten nehme ich Tag und Nacht mühsam eine Seele nach der anderen. Für jede Seele, die ich dem Körper nehme, vergieße ich mein eigenes Herzblut. Je mehr Seelen ich nahm, desto mehr wandte ich mein Herz von der Welt ab. Wer kann ertragen,



1. Hasan weint über sich selbst79

was ich ertragen muss? Hundert Welten von Blut sind mir auferlegt. Wenn ich nur ein Hundertstel meiner Angst ausspräche, würdest du dich hier gewiss Stück für Stück auflösen. Wie könnte ich, der ich meine eigene Furcht nicht überwinden kann, noch nach etwas anderem suchen? Geh weg, denn du hast keine Ahnung von dieser Furcht; hülle dich in Trauer, denn du bist kein Mann des Pfades!» Daraufhin suchte der Pilger den erfahrenen Meister auf und erläuterte seinen Zustand mit klugen Worten. Der Meister sagte zu ihm: «Der reine ʿAzrāʾīl ist der Weg des Zorns, der Schacht des Todes und des Untergangs. Der Tod lässt weder den Dummkopf noch den Klugen aus, weder den Guten noch den Schlechten. Gleichgültig, zu welcher Menschengruppe du gehörst, du wirst wie sie alle vergehen.» Von jedem, der gestorben und unter die Erde gebracht wurde, sagt man: «Er ruht und ist befreit.» Sie bedecken den Toten mit einem goldenen Deckel; dein Tod ist die Erholung deines Körpers. Wie kraftlos ist diese Welt tatsächlich, dass der Tod die erste Erholung sein kann! Wenn der Tod wie ein goldener Deckel ist, gibt es kein Werkzeug, den Kessel zu heben. ­Erhebe dich, um den Fuß gen Himmel und auf diesen Kessel voller Blut zu setzen. 1. Hasan weint über sich selbst Als man jemanden beerdigte, näherte sich Hasan2 in Basra dem Grab, beugte sich über die Grabstätte und weinte über sich selbst. Dann sprach er: «Wie seltsam, auf dieser Welt ist das Grab unsere letzte Wohnstatt und im Jenseits die erste Wohnstatt. Erste und Letzte liegen unter der Erde.» Warum hängt dein Herz im Diesseits an der bunten Welt, wenn am Ende nur ein enges Grab bleibt? Warum fürchtest du nicht das schreckliche Jenseits, dessen Anfang unter der Erde liegt? Was kann man vom Diesseits erwarten, wenn es so endet, und was vom Jenseits, wenn es so beginnt? Hinter dem Vorhang­ gibt es niemanden, dessen Tod nicht von jemandem beweint wird. Wenn du hinter dem Vorhang mit jemandem sprechen

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4. Der Pilger geht zu ʿAzrāʾīl

möchtest, dann tu es mit jemandem, der keinen Toten beweint. Wie kann eine Kerze im Wind den Weg zur Freiheit weisen? Du läufst mit einer Kerze in der Hand und den Kopf voller Illusionen durch den Sturm. Fürchtest du nicht, dass diese schnell verlöschende Kerze bald ausgeht? Beeil dich, wenn du kannst, denn wenn deine Kerze plötzlich erlischt und du den Weg noch nicht zurückgelegt hast, fällst du in die Grube. Lege den Weg zurück, Verständnisloser, bevor ein solcher Wind doch deine Kerze löscht. Wenn deine Kerze erloschen ist, Ahnungsloser, bleiben von ihr weder Spur noch Zeichen. Wenn du auch noch so viel nach der erloschenen Kerze suchst, wird dir niemand in der ganzen Welt ein Zeichen geben. Eine Kerze, die der Wind dahingerafft hat, was nützt sie dir noch, was du auch tust? Keiner nimmt eine tote Kerze wahr; einmal tot, spielt es keine Rolle, ob sie da ist oder nicht. Da das Licht von einem ortlosen Ort stammt, wird es unsichtbar, wenn es dorthin zurückgekehrt ist. Schau auf den Weg! Der sichtbare Weg vom Diesseits zum Jenseits dauert für die Seele nur einen Atemzug lang. Wenn der letzte Atemzug getan ist, wird aus dem Diesseits für dich das Jenseits. Vom Diesseits zum Jenseits ist es nicht weit; zwischen beiden gibt es keine Mauer, nur einen Atemzug. Wenn deine reine Seele diesen letzten Atemzug getan hat, werden sie dich unter die Erde bringen. Der Tod ist für die Geschöpfe ein unausweichliches Los; alle müssen unter der Erde schlafen. 2. Bohlūl und das Geheimnis des Toten Bohlūl3 schlief auf einem Grab; jede Nacht verbrachte er dort. Einer sagte zu ihm: «Steh auf, mein Sohn, wie lange willst du hier noch ahnungslos schlafen?» Bohlūl antwortete: «Ich gehe hier hin, weil ich hier alle seine Schwüre hören kann.» Da fragte der andere: «Was für ein Schwur? Erkläre es mir!» Bohlūl antwortete: «Der Tote hat mir ein Geheimnis erzählt, er leistete ­einen Schwur und sprach im Geheimen: ‹Ich will mich nicht von der Erde trennen, bevor ich nicht alle Erdbewohner, einen um den anderen, wie mich selbst, in Blut getaucht, eingeschläfert habe.›»



3. Der Narr auf dem Friedhof81

3. Der Narr auf dem Friedhof Ein Narr schlief auf einem Grab, das er keinen Augenblick verließ. Ein Bettler sagte zu ihm: «Du Verwirrter, warum schläfst du dein ganzes Leben lang hier? Geh in die Stadt, Ruheloser, und schaue dir die von zahllosen Menschen bewohnte Welt an!» Da sagte der Narr: «Der Tote lässt mich nicht gehen; er sagt: ‹Geh nicht von diesem Ort weg! Denn wenn du gehst, verlängerst du nur deinen Weg; am Schluss musst du doch wieder hierhin zurückkehren.› Wenn der Weg der Städter doch in jedem­Fall zum Friedhof führt, was soll ich dann in dieser Stadt voller Sünden? Ich gehe und weine wie eine daherziehende Wolke. Wehe dem Gehen, schade um das Kommen!» 4. Ein Narr klagt über sein Leben Einer der Narren unter denjenigen, die das Geheimnis kennen, wand sich in einem langen Todeskampf. Sehr unruhig vergoss er in äußerster Not Tränen wie eine blutende Wolke. Er sagte: «Warum hast Du mir das Leben gegeben, o Gott? Warum hast Du es mir gegeben, wenn Du es mir doch wieder nimmst? Gäbe es mein Leben nicht, bräuchte ich nicht aus dem Leben gerissen zu werden. Ich müsste nicht mein Leben für den Tod geben, und Du bräuchtest es mir nicht zu geben und zu nehmen.» Ich wünschte mir, es gäbe dieses Kommen und Gehen nicht; wenn es das nicht gäbe, wäre es besser. Warum willst du weiter grausam bleiben, wenn du doch weißt, dass der Tod und das Feuer auf dich warten? Man könnte sagen, dass der Tod für deine Seele kein Ende ist, denn sein Feuer ist wegen der Grausamkeit immer mit dem Tod verbunden. 5. Bohlūl am Grab eines Tyrannen Eines Abends ging Bohlūl betrunken daher, die Füße im Lehm und die Schuhe in der Hand. Ein Bettler sagte zu ihm: «O Vertrauter des Pfades, wo willst du denn hingehen?» Er sagte: «Ich eile jetzt zum Friedhof, weil dort ein Tyrann gemartert wird.

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4. Der Pilger geht zu ʿAzrāʾīl

Das Grab ist voller Feuer; dort wird mir warm, ist doch Kälte unangenehm.» Einer erleidet einen solchen Tod; einem anderen verleiht der Tod Stärke. Grausamkeit entzündet dein Inneres und stürzt dich in Lehm und Blut. Der Weg der Grausamkeit steht einem zwar offen; doch wer diesen Weg geht, geht in die Irre. 6. Gottes Grausamkeit Ein alter Meister sprach zu einem, der voll Sehnsucht war: «Man darf Gott grausam nennen, das ist erlaubt.» Da sagte der andere: «Er ist nicht grausam, aber Sein Tyrann hat ständig hunderttausend Diener.» Alles, was du auf dieser Welt mit Grausamkeit ansammelst, wird sich in einer Stunde gegen dich erheben. 7. Der Mann, der die Milch mit Wasser streckte Ein Mann, dem Gott, der Erhabene, eine Kuh bestimmt hatte, pflegte die Milch mit viel Wasser zu verdünnen. Als er die Kuh zum Fluss führte, dauerte es keinen Atemzug, und sie wurde fortgeschwemmt. Was er hundertmal angehäuft hatte, war mit einem Mal vom Wasser verschluckt worden. Wie er der Milch immer wieder Wasser zugefügt hatte, hatte dieses schließlich die Kuh fortgetragen. Wie kann jemand, der nur einen Atemzug lang an den Tod denkt, Grausamkeit zu seinem Geschäft machen? Wenn ich hin und wieder an den Tod denke, verdunkelt sich die Welt vor meinen Augen. Aber manchmal kommt mir auch der Gedanke, aus Freude über den Tod wie ein Blatt im Wind zu tanzen. Denn ich weiß, dass am Ende die reine Seele aus dem irdischen Gefängnis befreit wird.



8. Der Narr und die Mutter am Grab ihres Sohnes83

8. Der Narr und die Mutter am Grab ihres Sohnes Auf der Erde saß eine weinende Frau. Ein Narr fragte sie: «Warum weinst du?» Sie sagte: «Meine Augen sind feucht, und mein Herz ist voller Gram, weil mein Junge hier unter der Erde liegt.» Da sprach er: «Du bist in der Erde. Er ist es nicht, weil er jetzt nur das Licht der reinen Seele ist. Solange sie in seinem Körper steckte, war die Erde ihr Ort. Als er starb, wurde sie von der Erde befreit und rein.» Während der Körper vor Gott nichts wert ist, befindet sich der Joseph der Seele in Seinem Gemach. Weil der Rang des Geistes so viel höher ist, hat Er sogar Noah getadelt: 9. Noah und der Töpfer Nachdem der Prophet Noah sich von den Ungläubigen getrennt­ hatte, saß er mit vierzig Menschen auf einem Berg. Einer von diesen vierzig war ein Töpfer, der eine Töpferwerkstatt eröffnet hatte. Da erschien Gabriel und überbrachte Gottes Gebot, alle seine Töpfe zu zerschlagen. Noah aber sprach zu ihm: «Ich kann sie nicht zerstören, denn sie sind mit seinem Herzblut hergestellt worden. Wenn du Töpfe zerschlägst, zerschlägst du Lehm; in Wirklichkeit hast du aber das Herz des Mannes zerschlagen.» Schließlich kam Gabriel wieder und brachte ihm folgende Kunde: «Der Schöpfer grüßt dich und lässt dir sagen: O Glücklicher, wenn dir auch das Topfzerschlagen schwerfällt, ist es jedoch viel schwieriger, mit einem Gebet die ganze Menschheit zu ertränken. Du hast deinen Ehrgeiz auf alles geworfen, hast ‹Lass niemanden übrig!› gesagt und niemanden am Leben gelassen.4 Wenn es schädlich ist, einen Töpferladen zu zerschlagen – ist es dann richtig, eine Erde voller Menschen zu vernichten? Wie konntest du es über das Herz bringen, o stolzer Scheich, allen Menschen den Untergang zu bringen? Für jene ruhelosen Diener vergießt Meine Huld so viele Tränen. Und jetzt sind deine Augen voller Tränen; du solltest dich nicht um ein paar Töpfe grämen.» O Herr, was für ein Gnadenerweis ist das und was für ein

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4. Der Pilger geht zu ʿAzrāʾīl

Dank, wenn man sich beklagt? Manchmal tadelt Er die Seelen; manchmal lässt Er die Seelen maßlos bluten. Hunderttausende rief Er grundlos auf und setzte sie in das Schiff des Erstaunens. Dann warf Er das Schiff in das Meer, und hundert Welten haben­die Seele in Aufruhr versetzt. Danach schickte er Tag und Nacht ungünstigen Wind, o Wunder, bis einer nach dem anderen in diesem endlosen Meer das Leben verlor. Alle sind im Meer gestorben; keiner kam mehr nach oben. Obwohl wahrscheinlich alle tot sind, habe ich nicht den Mut, mir das vorzustellen. 10. Maria hört vom Tod Jesu Jesus war der Sohn und die Freude Marias. Als man ihr die Nachricht von seinem Tod überbrachte, kam nach der Glückseligkeit, die Jesus ihr gebracht hatte, jetzt eine solche Angst in ihr Herz, dass sie in Schweiß ausbrach; und dieser Schweiß ­verwandelte sich vollständig in Blut. 11. Das Schwerste in Abrahams Leben Als die ewige Seele Abrahams aufgestiegen war, fragte ihn der erhabene Schöpfer: «O du Glücklichster und Bester unter den Geschöpfen, was ist dir auf der Welt am schwersten erschienen?» Er antwortete: «Den Sohn zu töten wäre schwer; den Vater in der Hölle zu sehen wäre schwer.5 Du hast mich mitten ins Feuer geworfen und mir ein Schicksal voller Leiden gegeben­. Wenn auch vieles schwer und verworren war  – im Vergleich dazu, Leben zu opfern, war es nichts.» Da sprach Gott, der ­Erhabene, zu ihm: «Wenn dir das Leben zu opfern als Qual erscheint, dann ist eigenes Leben aufzugeben und seines Egos zu sterben noch unendlich schwieriger. Doch für jemanden, der sich völlig hingegeben hat, bedeutet, sein Leben zu opfern, die Ruhe des Geistes.» Wenn du dich in so einem schwierigen Werk befindest, ­warum bist du dann Tag und Nacht nachlässig? Finde eine ­Lösung für diese schwierige Aufgabe; du stehst kurz vor dem



12. Alexanders leere Hände85

Tod, finde dich damit ab! Wende dich von der Welt ab und richte dich auf den Tod ein; der Pfad ist sehr lang, rüste dich für den Weg. Denn wenn du auch die ganze Welt zusammenraffst, am Ende stehst du mit leeren Händen da. 12. Alexanders leere Hände Nachdem Alexander die Welt erobert hatte, kam unerwartet die Stunde seines Todes, und er sagte: «Man möge mir einen Sarg bauen und vor meiner Stadt ein Grabmal errichten. Man begrabe mich mit nach oben geöffneten Händen und beweine mich jederzeit mehr, damit alle sehen, dass mir von meinen ­Gütern, Armeen, Staaten und Reichen nur leere Hände blieben. Die Welt lag damals in meiner Hand, doch mit leeren Händen verlasse ich sie. Macht und Reichtum dieser Welt sind nur ­Fesseln; hättest du so viel wie ich, hättest du doch nichts.»

Fünftes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den ­Thronträgern und den Engeln

Der Pilger verließ die Erde, begab sich entschlossen zu den Thronträgern und sagte: «O du, auf dessen Schultern der Thron ruht, der von deinem lodernden Herzen erhellt wird! Du stehst unter der Last des mächtigsten Thrones; deine Last ist schwerer als beide Welten. Und doch krümmst du dich nicht unter dem Thron, und, o Wunder, unter deinen Füßen ist nichts. Wenn die sieben Himmelssphären an dir vorbeiziehen, wendest du deinen Blick doch nicht vom Throne ab. Du bist unbeweglicher als der Berg Qāf,1 und doch wogt dein Herz ständig wie ein Meer. Fester Körper, bewegtes Herz – wer gleicht dir? Mit gebundenen Federn und dennoch fliegend  – wer gleicht dir? Äußerlich bist du die Erscheinung der Liebe; in deinem Inneren erscheint der Inhaber des Thrones. Du bist gleichzeitig Reisender und Ansässiger, gleichzeitig abwesend und anwesend. Wenn du den größten Thron tragen kannst, dann kannst du auch meine Last tragen. Sieh, die Tage meines Lebens gehen zur Neige; meine Gefährten sind gegangen, und ich habe mich verirrt. An wen kann ich mich wenden, wenn ich mich verirrt habe? Vorwärts kann ich nicht gehen und auch nicht zurück.» Als der Thronträger diese Rede vernahm, begann der Thron auf seinen Schultern zu zittern. Er sagte: «Ich trage eine große Last; wie du bin ich mit dem Schmerz verbunden. Auf meiner Schulter der Thron und unter meinen Füßen der leere Raum – wer in aller Welt könnte sich da aufrecht halten? Ich zittere aus Furcht vor dem Licht des Thrones, und wenn ich zittere, stürze ich auf die Erde. Wie kann man unter solch einer Last gerade stehen bleiben, ohne zu straucheln? Wenn ich unter dieser Last unachtsam wäre, könnte ich auf die Erde stürzen. Mit welchem Elixier kann man an solch einem Ort, an dem ich bin, gleich-



1. Die Vergänglichkeit der Engel87

zeitig schief stehen und gerade reden? Man kann nicht unter der Last des Thrones um sein Leben spielen und die Alchemie der Liebe betreiben. Da die Engel auf Erden und im Himmel mit den Menschen verbunden sind, bieten sie alle Ihm ihre Dienste an und machen sich alle zu Seinen Sklaven. Da die Liebe eine menschliche Eigenschaft ist, wird der Engel mit ihr vertraut, wenn er liebt. Vertrautheit gehört zum Menschen­ geschlecht; frag uns nicht danach! Alles, was es hier nicht gibt – frag uns nicht danach!» Der Pilger suchte daraufhin den ruhmreichen Meister auf und erzählte ihm, was er erlebt hatte. Der Meister sprach zu ihm: «Die Thronträger und das Heer der Engel sind alle wissend und gehorsam. Ohne Unterlass gehorchen sie Gott mit blutendem Herzen und wacher Seele. Weil sie sich ruhelos nach Ihm sehnen, streuen sie Ihm schließlich ihre Seele hin.» 1. Die Vergänglichkeit der Engel Im Qūt al-qulūb2 steht, dass jener im reinen Glauben und von Sünden Unbefleckte sagte: «Täglich verbrennen so viele Engel auf der Welt im Lichte Gottes, vom Urbeginn bis zum Ende der Zeiten, wie es Generationen von Menschen gegeben hat. So viele Engel reisen jeden Tag vom Arcturus3 bis zu den Fischen; alle diese Geistwesen verbrennen, und dann erscheinen alsbald andere.» Wie seltsam! Täglich verbrennen so viele, und ein anderes Heer erscheint. Wenn die Engel sich versammelt haben, sind sie wie Nachtfalter an der Kerze. Jeden Tag verbrennen sie alle und werden rein; und dann sehnen sich andere nach einem ­Untergang wie diesem. Seit sich die Engel vor dem Menschen niedergeworfen haben, trat ein Atom ihrer Liebe in Erscheinung. Wenn sie auf dem Weg zu Gott die Seele des Menschen gefunden haben, bleiben sie bis in alle Ewigkeit seine Diener.

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5. Der Pilger geht zu den ­Thronträgern und den Engeln

2. Der Vogel beim Leichnam Dschunaids Als der Reine im Glauben, Dschunaid,4 diese Welt verließ und man seine Leiche beerdigen wollte, kam ein weißer Vogel vom Himmel geflattert und setzte sich mitten auf den toten Körper. Sosehr die Leute auch die Ärmel schüttelten, um den Vogel zu verscheuchen, wich der Vogel kein Quentchen von dort, sondern öffnete geradewegs den Schnabel zu einem klaren Wort. Er sprach: «O ihr, die ihr fühlt und gläubig seid, wie lange wollt ihr euch noch so quälen? Der Nagel der Liebe ist doch deutlich zu sehen, durch den ich bis zum Jüngsten Gericht mit Dschunaid verbunden bin. Sein Körper gehört den Cherubim, doch stellen sich die Leute noch dazwischen. Wenn ihr euch nicht so drängtet und erregtet, wäre sein Körper mit uns in die Luft geschwebt. Sein Körper gehört uns, sein Herz dem Geliebten; sein Kern gehört Ihm, uns die Schale.» Wenn nur ein Atom der Herzensliebe erscheint, wird es zum Schlüssel für das Schloss zu beiden Welten. Hundert Welten voller Engel dürsten immer und überall nach diesem Duft. Durstig ertrinken sie alle im Meer; man könnte meinen, sie seien wassersüchtig. 3. Hārūt und Mārūt am Grund der Grube Man sagt, dass Hārūt und Mārūt5 wegen ihrer Sünde vom Himmel in die Grube geworfen wurden. Mit dem Kopf nach unten wurden sie aufgehängt, damit sie ihr Blut in die Grube vergössen. In ihren beiden Körpern befiel Durst die Seele, denn in ihren Herzen hatte sich ein Feuer entzündet. Der Durst hatte sie dermaßen überwältigt, dass sie aus Verlangen nach einem Tropfen Wasser halbtot waren. Beide Körper brannten vor Durst, der wie ein Feuer aufloderte. Der Boden der Grube war mit kaltem Wasser bedeckt, von ihrer beider Lippen nur ein, zwei Fingerbreit entfernt. Doch weder reichten ihre Lippen bis dorthin, noch stieg das Wasser bis zu ihnen hinauf. Kopfüber aufgehängt, in Hitze und Fieber, verdursteten sie mit den Lippen­ fast am Wasser. Auch wenn ihr Durst nur einfach war, über



4. Das Haus aus der Grube89

­ iesem Wasser wurde er hunderttausendfach. Am Rande des d Wassers hingen beide Körper mit trockenen Lippen; wie seltsam, der Durst verzehrte ihre Seelen. Jeden Augenblick wurden sie durstiger, und das, wo doch, o Wunder, das Wasser so nah war! Die Durstigen auf dieser Welt des Seins und der Verderbtheit haben – wie seltsam! – das erwünschte Wasser vor sich. Alle sind von Wasser umgeben, und keiner bemerkt es; entweder sie sehen es nicht, oder sie finden keinen Zugang. 4. Das Haus aus der Grube Ein Vollkommener sagte zu einem Fremden: «Dummkopf, wie oft willst du dein Haus noch fegen? Wie oft willst du die ­Fassade noch weißen? Mach dir ein Haus aus einer Grube; wirf die Erde hinaus, damit, wenn die dunkle Erde verschwunden ist, aus der Grube eine helle Quelle sprudelt. Das Wasser ist nah, sei nicht so hitzig; wenn du zwei Gaz6 Erde entfernt hast, triffst du auf Wasser!» Es muss etwas getan werden, aber tätige Menschen gibt es nicht; der Weg von dir zum Wasser ist nicht weit. O weh, aus deinem Löwen ist ein Fuchs geworden; du stirbst vor Durst, und unter dir liegt ein Meer. Du trennst dich durstig vom Meer; du bettelst, wo du doch auf einem Schatz sitzt. Wie seltsam, dass viele Herrscher voller Schmerzen und Mühen auf einem Schatz sitzen und doch einen Schatz suchen. Bevor die Seele des Menschen zum Vorschein kam, war der Weg zum Schöpfer ­unbekannt. Der Weg erschien, als der Mensch erschien; durch ihn wurde der Schlüssel zu beiden Welten offenbar. Was die Träger des Thrones dachten, durch Gottes Gnade zu tragen, war das leuchtende Herz des Menschen und sonst nichts. Denn der Mensch ist beide Welten und sonst nichts.

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5. Der Pilger geht zu den ­Thronträgern und den Engeln

5. Abū Mūsā und Bāyazīd: Der Traum vom Thron Abū Mūsā sah eines Abends im Traum über seinem Kopf einen Thron wie die Sonne. Am nächsten Tag ging er zu Bāyazīd,7 denn Abū Mūsā war der Jünger seiner Seele. Er wollte sich von ihm den Traum deuten und ein Pflaster auf seine verwundete Seele legen lassen. Als er dort ankam, traf er auf verstörte Leute, denn der Scheich hatte in der Nacht die Welt verlassen. Sie hatten ihn frühmorgens gewaschen und in das Leichentuch gewickelt und wollten seinen Leichnam zu Grabe tragen. Abū Mūsā sprach: «Sosehr ich mich unter die Trauernden mischte, um den Leichnam auf der Schulter mitzutragen, gewährte man es mir nicht, und ich wurde still. Dann trat ich unter ihn und blieb dort stehen, bis der Leichnam gänzlich auf meinem Kopf zu liegen kam. Als der Leichnam nun fest auf meinem Kopf lag, wurde mir Bāyazīds Seelenzustand offenbart. Er sagte: ‹O du, der du wahr träumst, vernimm hier die Deutung deines Traumes: Wir selbst sind der Thron; heb ihn auf und geh! Versteh die Bedeutung deines Traumes und geh!›» Wenn dir Hab und Gut wichtiger sind, achtet deine Seele ­weniger auf das Herz und das Herz weniger auf die Seele. Betrachte den Besitz mit dem Auge des Herzens, denn der Verstand greift hier zu kurz. Beide Welten sind für den Menschen da; zu was wäre Besitz ohne Menschen nutze? Denn hundert Königreiche gibt es auf der Welt, die alle mit dem Werk des Menschen zu tun haben. Das Kleinod steckt zwar heute noch in der Erde, doch sorge dich nicht, der Schatz bleibt rein. Lebe wohl, bis morgen das Eichmaß des Schöpfers den Feingehalt der Währung «Mensch» offenbart. 6. Der Streit zwischen Topf und Schale In der Küche Dschamschīds,8 o Wunder, stritten ein Topf und eine Schale Tag und Nacht. Der Topf, der aus Stein war, suchte Streit; die Schale war golden, sie lehnte sich gegen den Stein auf. Beide waren vor Zorn ganz aufgeregt; sie waren Stein und Gold, zur Gewalt bereit. Der Topf sagte: «Ob wässrig oder



7. Abū Saʿīd und der Mühlstein91

ölig, salzig oder süß, alles gehört mir. Denn was bliebe dir ohne mich zu tun? Wenn ich dir das nicht gäbe, wärst du immer leer. Ursprünglich warst du Stein; dann hat man deinen Stein mit Gold überzogen. Wenn der Stein nicht zu deinem Wesen gehörte­, wärest du immer ohne Gewicht. Du hast deine Schönheit und dein Gewicht von mir; dein hoher Rang, deine Pracht und deine Farbe kommen von mir. Niemand nennt mich sauertöpfisch, doch du bist überall als geizig bekannt. Nachdem du diesen herzerfreuenden Beweis gehört hast, halte dich als Schale nicht weiter für einen Topf wie mich!» Als die Schale dies hörte, fing ihr Blut wie ein Kessel an zu kochen. Sie sagte: «Nichts von dem, was du gesagt hast, trifft auf mich zu, denn ich gehöre Dschamschīd. Erhebe dich und lass uns zu den Geldwechslern gehen, um festzustellen, wer von uns beiden wertvoller ist! Wenn der Geldwechsler das Eichmaß angelegt hat, wird er dir eine Antwort auf deine Prahlerei geben. Dann wirst du sehen, was von beiden, Stein oder Gold, als Pfand wertvoller ist. Im Pfand wird alt und neu der Angelegenheit deutlich; im Pfand wird sie sichtbar.» Solange du die Reise zu dir selbst nicht angetreten hast, kannst du auch nicht zum Grund deines Selbst gelangen. Wenn du den Weg zu deinem Grund findest, wirst du das Heilige in dir für immer finden. Doch solange du nicht die Reise in dich selbst angetreten hast, wird dir dieser Anblick nie zuteil. 7. Abū Saʿīd und der Mühlstein Abū Saʿīd ging zu einer Mühle und sah zu, wie sie sich beständig drehte. Nach einer Stunde kehrte er zurück und vertraute seinen Jüngern folgendes Geheimnis an: «Diese Mühle ist ein hervorragender Lehrer, den das fremde Auge nicht sieht. Denn sie hat in dieser Stunde heimlich zu mir gesagt: ‹Jetzt bin ich ein Sufi auf dieser Welt; wenn du Schwierigkeiten auf dem mystischen Pfad hast, bin ich darin ein guter Meister für dich. Ich reise Tag und Nacht in mir selbst; ich bleibe an einer Stelle und drehe mich doch. Wenn ich mich bewege, bewege ich mich nicht fort; ich laufe von unten nach oben und von oben nach

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5. Der Pilger geht zu den ­Thronträgern und den Engeln

unten. Ich muss von jedermann viele Grobheiten einstecken; ich gebe viel Zartes und nehme viel auf mich. Wenn die ganze Welt auf den Kopf gestellt würde, bliebe mir nur noch Verwirrtheit. Deshalb bin ich andauernd tätig, jederzeit gleich­ mäßig am Werke. Werde wie ich, wenn du ein Mann der Tat bist; sonst bleibe sitzen, wenn du den Schmerz nicht ertragen kannst. Sein Werk ist beständig in meiner Seele und kann keinen Augenblick untätig sein. Weil Er weiß, dass das Werk Ihm gilt, ist es gut, wenn ich mich für Ihn im Blut drehe.» 8. Laylā und Madschnūn: Die Schande der Liebe Als Madschnūn wegen Laylā ganz betrübt war, irrte er Tag und Nacht ruhelos wie das Himmelsgewölbe umher. Tags aß er nichts, nachts schlief er nicht; seine Augen wurden zu einem Fluss aus dem Meer des Herzens. Er hatte Schande über sich gebracht; der Stempel seines Herzens hatte sich dem melancholischen Verstand aufgeprägt. Eines Tages sagte sein Vater zu ihm: «O Unvernünftiger, du hast Schande über dich gebracht. Du steckst in den Fesseln der Schande; niemand verkauft dir mehr ein Stück Brot für eine Silbermünze.» Als Madschnūn diese Worte seines Vaters hörte, sagte er: «So viel Kummer, Leid und Gefahr, die ich jetzt für meine Geliebte ertrage – weiß die Geliebte, dass ich das alles für sie tue? Sie weiß es, und das genügt mir; bis zum Auferstehungstag ­genügt es mir. Auch wenn mein Herz wegen dieses Leidens ­blutet: Wie sollte man diesen Schmerz je aus meinem Herzen entfernen?» 9. Wem gehört die Liebe zu Ayāz? Ein Bettler verliebte sich in Ayāz, und das wurde dem Sultan zugetragen. Sofort ließ der Herrscher den Mann zu sich kommen und sagte: «Ab sofort hast du nichts mehr mit Ayāz zu schaffen. Wenn du dich nicht daran hältst, musst du um dein Leben fürchten. Weißt du nicht, dass Ayāz mir gehört?» Da antwortete der Mann: «Gerechter König, wenn Ayāz in dieser



9. Wem gehört die Liebe zu Ayāz?93

Stunde auch dir gehört, die Liebe ist nicht dein; jetzt habe ich sie. Ich trage die Liebe; ihretwegen bin ich außer mir. Wenn du mich auch von ihm trennst – wie kannst du die Liebe zu ihm aus meinem Herzen nehmen?»

Sechstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Gottesthron

Nun erreichte der Pilger den Ehrfurcht gebietenden Gottes­ thron und sagte: «O du, Grenze des Körpers und reine Seele! Sieben Gärten liegen in der Mitte deines Kreises, acht Paradiese sind in die Strahlen deines Lichtes getaucht.1 Du bist das erste Fundament der Welt, und der letzte Körper, der bleibt, bist auch du. Du bist der Wirkstoff des Körpers und der Seele; du bist die Kuppel des Geheimnisses für den Teil und das Ganze. Du bist der Ausgangspunkt aller Geistwesen und der Schlusspunkt aller nächtlichen Phantome; du bist durch Gott, den Ewigen, unerschütterlich; du bist die ewige Kaaba alles Heiligen. Hunderttausend cherubinische Wesen lieben dich und werden geliebt; alle haben dein Wesen zu ihrer Kaaba gemacht, und ihre Herzen umkreisen diese bis in alle Ewigkeit. Hunderttausend geistige Elemente umkreisen dich wandernd. Barm­ herzigkeit ist deine Bestimmung in beiden Welten, denn du hast vom Barmherzigen alle Barmherzigkeit erhalten. Wer über eine solche Erhabenheit verfügt, kann einem Sucher den Weg zeigen­.» Der mächtige Thron geriet durch diese Worte außer sich, und seine Augen füllten sich abendrotgleich mit Blut. Er sprach: «Von all dem Gesagten trifft nur der Name auf mich zu; in Wirklichkeit bin ich keine Stunde lang ruhig. Habe ich von Gott, dem Barmherzigen, nicht nur meinen Namen? ‹Der Barmherzige hat sich auf dem Thron niedergelassen.›2 Wie ein hungriger Wolf verausgabe ich mich mit leerem Magen und besudeltem Mund. Wenn ich schon vor dem gnadenvollen Tod zittere, wie kann ich dann Gott entgegentreten? An der Quelle fließt das Wasser noch klar, doch es trübt sich, sobald es sich mir nähert. In jedem Augenblick ziehen hundert Karawanen des Glücks an mir vorbei, aber keine sehe ich halten. Am Tage



1. König Mālekschāh und die Kuh der alten Frau95

des Urvertrages hatte ich kein Bein; erst der Ausspruch ‹und sich Bein mit Bein verfängt›3 bezieht sich auf mich. Mein Fundament ist auf Wasser gebaut; ich tanze darauf wie eine Blase. Auch wenn ich die Gebetsnische für die Engel bin – das ist kein Rang, und ich besitze nichts. An den Fußschemel, den ich unter meinen Füßen habe, komme ich mit meinen Händen nicht heran. Er wurde mir unter meinen Füßen weggezogen, und alles, um was du mich bittest, hat meinen Geist verlassen. Dies ist meine Verfassung, o reiner Mensch; setze dich wie ich ins Blut auf der Erde des Schmerzes!» Der Pilger ging zu dem verständigen Meister und ließ ihn ­seinen Seelenzustand wissen. Der Meister sprach zu ihm: «Der majestätische Thron ist die Welt der Barmherzigkeit und des reinen Lichts. Wo immer in beiden Welten Barmherzigkeit erscheint, ist das ein Teil des Thrones des Barmherzigen. Die Wohnstatt der Barmherzigkeit ist Gottes Thron; von dort kam sie auf die Erde. Wer heute Barmherzigkeit zeigt, dem hat Gott ein Licht von Seinem Thron zugedacht. Wer gegenüber Untergebenen barmherzig ist, ist für immer vor der Furcht vor dem Höllenfeuer geschützt.» 1. König Mālekschāh und die Kuh der alten Frau Mālekschāh4 kehrte über Weideland von der Jagd nach Isfahan zurück. Auf seinem Weg lagen Wiesen und ein Dorf, in dem er zur Abendessenszeit eine Unterkunft nahm. Einige Knechte brachen eilends auf und fanden neben der Straße eine Kuh. Nachdem sie diese geschlachtet und mit Genuss gegessen hatten, kehrten sie zum Heerlager zurück. Die Kuh aber gehörte einer alten Frau mit gebrochenem Herzen, die sich Tag und Nacht um einige Waisen kümmerte, und die Milch der Kuh war zu jener Zeit ihre und der hilfsbedürftigen Waisen Nahrung­. Die Kuh wurde gehütet, und alle lebten von ihrem Beitrag. Als die alte Frau die Nachricht vernahm, verlor sie fast den Verstand. Sie jammerte und seufzte die ganze Nacht; dann ging sie zu einer Brücke, die auf dem Weg des Königs lag. Als Mālekschāh in der Frühe dort ankam, sah er die bucklige

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6. Der Pilger geht zum Gottesthron

Frau, die mit ihren Waisen dort hingekommen war. Ihre Haare waren wie Watte, ihr Gesicht das einer Gelbsüchtigen. Den ­Rücken wie ein Bogen gekrümmt, hielt sie einen Stock in der Hand und sagte: «O König, Sohn des Alp Arslān! Wenn du mir auf dieser Brücke Gerechtigkeit zukommen lässt, wirst du von meinem Herzschmerz und Wehklagen verschont bleiben. Wenn nicht, dann werde ich auf dieser Brücke und auf diesem Weg mein Recht fordern, also hüte dich! Wenn ich wegen deiner ­Tyrannei mittellos werde, fordere ich morgen von Gott dein Blut. Ich kann keinen Anfang und kein Ende deiner Tyrannei sehen, aber selbst als König kannst du es mit Gott nicht aufnehmen. Ich habe dich zur Vorsicht gerufen; gib mir auf dieser Brücke mein Recht, damit du auch jene Brücke passieren kannst. Die Kuh war alles, was ich besaß, aber für meine Waisen war das genug. Du lässt die Kinder hungrig zurück, und mich alte Frau machst du zur Bettlerin. Doch die Klage einer alten Frau im Morgengrauen macht die Kraft von hundert Rostams5 hinfällig. Das ist mir nicht von dir, Herrscher der Welt, widerfahren, sondern von der Drehung des Himmels.6 Das Schicksalsrad hat mich geschwächt; wie kann ich mich ­einem so Mächtigen wie dir widersetzen?» So sprach sie, und wie der Frühlingsregen weinte sie mit i­hren Waisen bittere Tränen. Da ergriff Angst die Seele des ­Königs, und seine Armee erfasste eine düstere Stimmung. Er antwortete: «O Mutter, wende dein Herz nicht vom König ab! Verlange auf dieser Brücke, was immer du willst, damit ich dich noch hier entschädigen kann; denn auf dem anderen Ende der Brücke habe ich keine Macht. Was willst du, alte Frau?» Als er ihre Geschichte gehört hatte, gab er ihr siebzig Kühe aus seinem Vermögen und sagte: «Nimm, diese siebzig Kühe als Entschädigung, alte Frau, das ist nur gerecht.» So sprach er, rief die Übeltäter zu sich, bestrafte sie und verließ die Brücke auf seinem grauen Pferd. Als der Abend anbrach, dankte die alte Frau Gott für dieses Geschenk. Sie verrichtete die Waschung und begann zu beten, legte die Stirn auf die Erde und öffnete ihr Herz. Sie sprach: «O gerechter Schöpfer, da Mālekschāh sich mir niedrigem Men-



2. Meister Sofyān und die treue Nachtigall97

schengeschöpf gegenüber großzügig gezeigt, hat, vergib ihm, o Du, der Du der ewig absolut Gütige bist! Sei gnädig mit ihm, und rechne ihm nicht alles Tadelnswerte an.» Nachdem Mālekschāh dieses Jammertal verlassen hatte, sah ihn ein frommer Mann im Traum. Er fragte den König: «Was ist geschehen, o König?» Da antwortete Mālekschāh: «Wenn diese Witwe, die ihr Recht forderte, nicht für mich gebetet hätte, gäbe es für mich nur ewige Verdammnis. Aus meinem Unglück ist Glück geworden; ihr Gebet hat meine Schwierigkeit gelöst. Eine schwere Last ist von meinen Schultern gefallen­; diese Frau hat mich auf ewig erlöst. Auch wenn ich mächtig und reich war, bedurfte ich doch des Schutzes einer alten Frau.» Wer weiß schon, was das Gebet einer alten Frau im Morgengrauen wirken kann? Was diese alte Frau am Morgen in einem Atemzug bewirkte, könnte Rostam in einem Monat nicht er­ reichen. Wäre der König nicht so großzügig gewesen, müsste er auf ewig in der Tiefe der Hölle bleiben. Und wäre da nicht das Gebet dieser Alten gewesen, wäre ihm das Glück des Glaubens vorenthalten geblieben. Zuerst war da die Großmut jenes Herrschers; das Gebet machte ihn schließlich zu Gottes Freund. So wurde der König auf ewig erlöst; es gibt keine höhere Stufe als die Barmherzigkeit. 2. Meister Sofyān und die treue Nachtigall Der Meister Sofyān sah einmal, wie ein Junge eine Nachtigall in einem Käfig gefangen hielt. Immer wieder versuchte die Nachtigall ohnmächtig, sich gegen die Gitter des Käfigs zu werfen. Rastlos hüpfte sie im Käfig hin und her; sie sehnte sich nach der Welt draußen. Ein Vogel, der nicht fliegen kann, ist keine Nachtigall, sondern nur ein Haushuhn. Sofyān rief den armen Knaben zu sich und gab ihm einen Dinar.7 Nachdem er die aufgeregte Nachtigall von dem Knaben gekauft hatte, ließ er sie von seiner Hand auffliegen. Tagsüber hielt sich die Nachtigall im Garten auf; abends kehrte sie zu Sofyān zurück. Auch nachts gönnte sich Sofyān keine Ruhe; er betete un­ unterbrochen, bis zum frühen Morgen. Auf diese Weise ver-

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6. Der Pilger geht zum Gottesthron

brachte der Vogel sein Leben, bis Sofyān starb. Als der Leichnam aus seiner Straße fortgetragen wurde, setzte sich der Vogel auf seinen Kopf. Aufgeregt umkreiste die Nachtigall den Toten und kreischte laut. Als sie ihn schließlich beerdigten, setzte sich dieser reine Vogel auf sein Grab und entfernte sich keinen Augen­blick mehr von dort, bis auch er sein reines Leben verlor. So wie der Mensch einen solchen Vogel aus der Hand auffliegen­ lässt, floss ihm das Blut aus dem Schnabel, und er starb. Treuloser Mensch, sieh diese Treue! Öffne dein Auge und sieh diese Güte! Dieser Vogel ist nicht wenig, o armer Teufel, lass dich von ihm in der Treue belehren! Merke dir seine herzzerreißende Geschichte, und wenn du Treue nicht kennst, lerne sie von ihm! Nachdem Sofyān Barmherzigkeit geübt hatte, wandte der Vogel sich nie mehr von seiner Tür ab. Die Liebe zu ihm hatte sich in seiner Seele festgesetzt, bis er sein Leben auf dem Weg der Liebe zu ihm hingab. Denn wenn du dein Leben aushauchst, bekommst du kein Erbarmen von den Leuten. Und wenn doch jemand einen mitleidigen Blick auf dich wirft, dann verhält er sich wie ein Gottesmann. Auf Gottes Waage wiegt nichts irgendwo schwerer als ein gutes Werk an Seinen Geschöpfen. 3. Nezām ol-Molk und die bitteren Gurken Ein Gärtner brachte Nezām ol-Molk8 drei kleine Gurken als Geschenk. Nacheinander, erst die erste unreife Frucht, dann die zweite und schließlich die dritte, aß er sie sogleich. Um ihn ­herum standen viele Würdenträger, doch keinem bot er eine Gurke an. Er gab dem Gärtner dreißig Golddinare; der Mann bedankte sich und ging hinaus. Dann ergriff Nezām auf der Versammlung das Wort und sagte: «Ich habe die drei unreifen Früchte aufgegessen und niemandem von den Würdenträgern etwas davon abgegeben, weil alle drei Gurken ganz bitter ­waren. Ich fürchtete, dass, sollte jemand etwas sagen, der Arme sich sehr grämen würde. Ich habe sie alleine und ganz für mich gegessen und mich so einmal als Derwisch erwiesen.» O Herr, welche Barmherzigkeit haben unsere stolzen Vorfahren einst geübt!



4. König Mahmūd und sein treuloser Verwalter99

4. König Mahmūd und sein treuloser Verwalter Mahmūd gab einem Mann einen Teil seines Besitzes und stellte ihn an die Spitze seiner Beamten. Der Mann aber verschwand mit allen Besitztümern und setzte sich irgendwo zur Ruhe. Als der König davon erfuhr, ließ er ihn zu sich rufen und sprach: «Du Rücksichtsloser, warum hast du mein Eigentum so un­ ehrenhaft vergeudet?» Der Mann antwortete: «Ich habe es verbraucht, weil der König unvergleichliche Reichtümer besitzt. Ich habe nichts, du besitzt dagegen viel; du bist nicht wie ich von jemandem abhängig. Weil ich so bedürftig war, habe ich alles ausgegeben und dabei auf deine Großmut gezählt. Wenn du etwas verschenkst, dann weil du es kannst; aber wer bin ich? Wenn du etwas nimmst, weißt du wie; aber wer bin ich?» Den König erfreuten diese Worte; er vergab ihm und vergaß die Angelegenheit. Wenn du ein Siegel für den Glauben brauchst, dann muss das immer die Barmherzigkeit deines Herzens sein. Du bist schließlich nicht geringer als der verfluchte Pharao; sieh seine Barmherzigkeit gegenüber seinen Untertanen! 5. Der Pharao, das Weidenkörbchen und die vierhundert Sklavinnen Man sagt, dass der Pharao Moses Weidenkorb sah, den die Fluten davontrugen. Vierhundert Sklavinnen, schön wie der Mond, standen bei ihm auf dem Weg, und der Pharao sprach zu diesen hinreißenden Schönheiten: «Wer mir den Korb bringt, den entlasse ich in die Freiheit, nehme ihr jeden Kummer und bringe ihr Freude.» Auf einen Schlag stürzten sich die vierhundert Schönheiten in das Wasser. Eine von ihnen erreichte den Korb vor den anderen. Sie ergriff ihn, nahm ihn aus dem Wasser und stellte ihn vor den tyrannischen Pharao. Da wollte der Pharao Recht walten lassen und gab alle vierhundert Sklavinnen frei. Jemand fragte ihn: «O du Wortgetreuer, du hast doch derjenigen, die den Korb als Erste bringt, das Glück versprochen, sie mit einem Ehrengewand zu bekleiden und frei-

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6. Der Pilger geht zum Gottesthron

zulassen. Wenn eine Sklavin allein dieses Werk vollbringen konnte, warum gibst du dann allen vierhundert die Freiheit?» Der Pharao antwortete: «Wenn es auch nicht allen gelungen ist, so haben es doch alle versucht. Da sie alle die Hoffnung hatten, es zu schaffen, müssen sie alle wie eine Kerze glühen. Wenn eine von ihnen unbelohnt bliebe, erschiene ihr der helle Tag als Nacht. Deshalb habe ich allen das Joch vom Nacken genommen und alle freigelassen.» Dieser Verfluchte trug Barmherzigkeit in seiner Brust, doch was nutzte es ihm, da Gott ihn doch hasste?9 Die Geschöpfe dieser Welt rufen alle Gott an, ob offen oder verborgen. Alle rufen Ihn an, Er aber ruft niemanden an. Solange Er nicht ruft, gelingt kein Werk. Der verfluchte Pharao suchte mit einem Herz voll Liebe aus ganzer Seele die Nähe zum Herrn der Menschen. Doch Gott wollte ihn nicht; was nützte es ihm dann? Das war Wunsch des Pharaos, nicht der Gottes. Wenn dein Werk Gottes Wunsch entspricht, öffnet Er dir jeden Augenblick hundert Tore.

Siebtes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Fußschemel

Der Pilger kam nun schweren Herzens zum Fußschemel; die Erde unter seinen Füßen war vom Blut schlammig geworden. Erstaunt stand er aufrecht wie der Fußschemel und sprach: «O du, dessen Platz mit Edelsteinen bedeckt ist – hunderttausend Kuppeln drehen sich um dich. Alle Perlen des Himmels liegen in deiner Schatulle; das Meer lacht auf deine zwölf Sternbilder. Durch dich dreht sich der Himmel der Tierkreiszeichen; du lässt die Sterne auf- und untergehen. Die leuchtenden Fixsterne des Universums sind an deiner Schwelle aufgereiht. Tag und Nacht hast du den Gürtel des Zodiaks angelegt, und doch hörst du keinen Augenblick mit der Suche auf. Die Milchstraße ist dein goldener Vorhang; im Universum bist du der Ursprung jeder Suche. Wenn die Welt auf einem Pol ruht, dann ist dein Universum mit zwei Polen versehen. Die Ausdehnung von Erde und Himmel hängt von dir ab; du bist unbegrenzt weit, und die Majestät gebührt dir. Du hast den Thronvers1 inspiriert; dieser Vers genügt als Beweis für dich. Da du über einen solchen Rang und so viel Macht verfügst, über eine solche Aufrichtigkeit, Reinheit und Autorität, kannst du mir trotz meiner Unzulänglichkeit den Weg zu meinem Ziel zeigen?» Diese Worte erschütterten den Fußschemel so stark, dass man meinen konnte, er werde vom ruhmreichen Gottesthron hinweggeworfen. Er sprach: «Ich habe den Weg überall gesucht, doch ich bin ein Fußschemel und deshalb hier festgemacht. Seit ich diesen Vers im Gedächtnis trage, schaue ich im Gebet zum Gottesthron hinauf. Hunderttausend Jahre Weg hat es gebraucht, bis ich nach langem Leben zu diesem Ort gelangt bin. Und als ich dann an meinem Platz angekommen war, nahm ich den Weg der Suche erneut auf. Ich gehe von einem

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7. Der Pilger geht zum Fußschemel

Ende zum andern und wieder zurück, wie ein Ball von Dach zu Dach, von Tür zu Tür. Jeden Augenblick werde ich geschlagen wie ein Poloball; ich weiß nicht, wann ich den Duft des Geliebten erheischen kann. Wie kann jemand, der keinen Hauch des Geheimnisses hat, einen anderen führen?» Der Pilger wandte sich darauf an den Meister der Gottesmänner und berichtete ihm von seinem Erlebnis. Der Meister sagte: «Das Wesen des Fußschemels ist so weit – durch ihn erhebt und erniedrigt der Himmel. Von oben bis unten ist er die verborgene Perle, der Lichtspender der sieben Sphären. Jeder Stern in ihm ist eine Perle auf der Suche und ruht Tag und Nacht keinen Augenblick. Er läuft aus Sehnsucht nach Seiner Majestät jeden Augenblick, und die Himmel folgen ihm. Wer immer eine solche Sehnsucht verspürt, dem wird jeden Augenblick Genuss geschenkt. Das wahre Königtum bedeutet, mit ­innerem Gespür zu genießen, nicht mit verkrampftem, trockenem Glauben zu leben. Wenn du erhaben wie der Fußschemel sein willst, dann musst du das Reich der Nachlässigkeit auf­ geben. Ein Reich, das auf Weltlichem gründet, ist auf Wind gebaut, sei es auch noch so hoch.» 1. Hārūn ar-Raschīd erfährt, was sein Reich wert ist Hārūn ar-Raschīd2 war unterwegs; es war Sommer, und kein Wasser war zu finden. Der Durst überwältigte ihn; und es war so heiß, dass, o Wunder, seine Augen keine Tränen mehr hatten. Da fragte ihn ein Gottesfürchtiger: «O König der Welt, da dich jetzt solch ein Durst übermannt hat – wenn dein Herz verwüstet würde und du zum Beispiel zehn Tage kein Wasser fändest und jemand die Hälfte deines Besitzes für einen Schluck Wasser auf dem Weg verlangte, könntest du diesem Angebot widerstehen? Sag es mir frei heraus!» Der König antwortete: «Ich gäbe die Hälfte meines Reiches her, um von erquickendem Wasser wiederbelebt zu werden.» Der Fromme sagte: «Und wenn du das Wasser geschluckt hättest, dieses aber keinen Weg nach außen fände, ein Arzt aber für die Entleerung die andere Hälfte deines Reiches verlangte, könntest du dann die andere



2. Anūschirvān der Gerechte103

Hälfte hergeben und dann frei und frisch aufstehen?» Da antwortete der König: «Wenn mich hundert Blähungen zwickten, wäre mein Reich im Vergleich dazu nichts. Ich gäbe meinen Besitz und meine Soldaten dafür her, mein Leiden loszuwerden.» Der Mann sagte: «An dein Königreich, das du, um dich von der Qual zu befreien, im Austausch für ein mann3 Wasser hergäbest­, sollst du dein Herz nicht nutzlos binden. Und lache nicht über das bisschen Wasser! Warum zittert dein Herz so stark um ein Reich, das dir nur ein mann Wasser wert ist?» Strebe nach dem zukünftigen Reich, denn das gedeiht. Ein Atom jenes Reiches wiegt hundert Welten auf. Sei gerecht, solange du auf dieser Welt bist, damit du ein Atom jenes Reiches erhältst. Es wäre ungerecht, wenn du fröhlich dasäßest, während du Feuer an jedes Haus legst. Wenn du deine Untertanen immer wie dich selbst behandelst, bist du für dein Reich vollkommen gerecht. 2. Anūschirvān der Gerechte Anūschirvān4 ging zu einer Ruine und erblickte dort einen Narren, der mit dem Gesicht im Staub der Straße lag. Dieser klagte heftig und war vollständig außer sich. Von allen Sitten und Regeln der Welt blieb ihm nur ein Topf voll Wasser neben seinem Lager. Mit einem halben Ziegelstein als Kopfkissen lag er auf dem Weg im Staub. Anūschirvān beugte sich zu ihm ­herunter; er wunderte sich über eine solche Hilflosigkeit. Da rief der Irre erregt und betrübt: «Bist du Anūschirvān, der Gerechte?» Der Herrscher antwortete: «So nennt man mich überall.» Darauf der Narr: «Stopfe ihnen allen Staub der Straße in den Mund, bis sie diese Lüge über dich nicht mehr verbreiten, denn ich sehe keinen Funken Gerechtigkeit in dir. Ist es gerecht, dass ich volle dreißig Jahre lang in diesen Ruinen leben muss? Meine Nahrung besteht aus grünen Blättern; mein Kissen ist ein Ziegelstein und mein Bett die Erde. Bald brenne ich von Kopf bis Fuß unter der Sonne; bald friere ich unter Schnee und Wasser. Mal macht mich der Regen nass und mal der Hunger kopflos. Mal staune ich über mein eigenes Elend; mal bin ich

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7. Der Pilger geht zum Fußschemel

meiner vollständig müde. Ich bin so, wie ich gesagt habe: Sieh selbst! Sieh nur mein Schicksal – gut und schlecht! Du dagegen schläfst nachts in einem goldenen Bett, umringt von hundert Schönheiten. An Kopf- und Fußende sind Kerzen aufgestellt, und in einem Becher steht für dich ein moschusduftendes Getränk bereit. Die ganze Welt steht unter deinem Befehl, und in deinem Herzen nagt nicht der Hunger nach einem Brot wie in meinem. Du bist so glücklich und ich so mittellos; und du behauptest, gerecht zu sein? Sieh mein Schicksal und sieh deines – was soll daran gerecht sein? Wo sind die Regeln für einen solchen Gerechten? Du bist nicht gerecht; was hast du mit Gerechtigkeit zu tun? Ein Sektierer ist besser als tausend Gerechte wie du. Wenn du gerecht und siegreich bist, dann verbringe ­einen Tag und eine Nacht wie ich im Kummer! Wenn du dieses Leid, diesen Hunger und diese Verzweiflung ertragen kannst, dann bist du ein gerechter König. Wenn nicht, dann sei nicht so hochmütig; wie oft müsste ich dann sagen: ‹Geh weit weg von mir!›?» Bei diesen Worten vergoss Anūschirvān Tränen wie ein starker Regen. Er ordnete an, sich um den Armen zu kümmern und ihn Tag und Nacht zu bedienen. Doch der Narr blieb an seinem Platz und nahm die Angebote des Königs nicht an. Er sagte: «Beunruhigt mich Verwirrten nicht; kommt nicht auf Vergangenes zurück! Diese Ruine ist der Ort meines Todes; es ziemt sich für mich nicht, an einen anderen Ort zu gehen.» Das sagte er und verbarg sein Gesicht, bis die Leute sich zurückgezogen hatten und eine Weile vergangen war. Gerecht ist, wer in dieser Welt seine Gerechtigkeit im Verborgenen ausübt, wer dabei keinen Unterschied zwischen Arm und Reich, Groß und Klein macht, sondern jeden wie sich selbst behandelt. Wenn er auch nur im Ausmaß eines Haares Mitleid empfindet, stellt er sich selbst auf den Kopf. 3. Der König und die Hütte der Alten Ein König wollte ein großes Schloss bauen, und der Baumeister begann mit der Arbeit. Am Bauplatz aber hatte eine alte Frau ein Haus, eine Ruine, das ihr einziges Gut auf der Welt war.



3. Der König und die Hütte der Alten105

Dem König wurde gesagt: «O vollkommener Herrscher, wenn die Hütte dieser alten Frau da stehen bleibt, wird das Schloss nicht rechteckig. Kaufe sie, damit wir dein Schloss rechteckig bauen können.» Daraufhin ließ der geschäftige König die alte Frau rufen und sprach: «Du musst mir die Hütte verkaufen, damit das große Schloss rechteckig wird. Dein Hausrat muss jetzt verschwinden.» Die alte Frau erwiderte: «Sage nicht ‹Kein Gott›,5 sprich, o König, nicht über den Verkauf der Hütte. Auch wenn dir die ganze Welt gehört – was rechtfertigt deine Habsucht? Wer die Gier nach der Welt in der Seele trägt – wie würden dessen Angelegenheiten durch eine Hütte in Ordnung gebracht? Gib es auf und erzürne mich nicht, damit du durch mein Seufzen nicht in Schwierigkeiten gerätst.» Der König geduldete sich bis zu dem Tag, an dem die alte Frau einmal fortging. Dann sprach der König: «Zerstört das Haus, und macht seine vier Wände dem Erdboden gleich. Werft ihren ganzen Hausrat auf die Straße, und baut dann dort mein Schloss.» Als die alte Frau zurückkehrte, sah sie statt ihrer Hütte das Schloss des Königs. Ihren Hausrat sah sie auf die Straße geworfen, und an der Stelle ihrer Hütte ragte eine Wand des Palastes empor. In der Seele der betrübten Alten entbrannte ein Feuer; ihre Augen wurden durch das Feuer von Tränen überschwemmt. Blutenden Herzens ob der Macht des Herrschers rieb sie schluchzend ihr Gesicht im Staub und sagte: «Als ich nicht hier war, o Gott, warst Du ebenfalls nicht an diesem Ort? Er hat alles unternommen, meine bescheidene Hütte ohne meine Erlaubnis zu zerstören.» Das sagte sie, und mit feuchten Wangen und trockenen Lippen gab sie aus der Kehle ihrer Seele einen Stoßseufzer von sich. Ihre Empörung stieg zum Himmel auf, und das Fundament des Schlosses stürzte sogleich ein. Gott, der Erhabene, brachte jenem König den Untergang; Er ließ ihn unter seinem eigenen Schloss zu Boden stürzen. Übe Gerechtigkeit mit Besitz wie die Weisen, damit du nicht zum Gespött der Narren wirst.

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7. Der Pilger geht zum Fußschemel

4. Bohlūl und der geizige König Bohlūl, der einmal schlimme Zeiten erlebte, ging zum König und verlangte einen Fettschwanz von ihm. Der Herrscher prüfte ihn so lange, bis er keine Speise mehr von einer anderen unterscheiden konnte, und sagte: «Hackt Rüben klein!» Ein Diener hackte sie klein und setzte sie Bohlūl vor. Als dieser Brot und ein wenig von den Rüben gegessen hatte, warf er es ganz betrübt auf den Boden und sprach zum König: «Seit du König bist, ist das Fett aus den Fettschwänzen verschwunden. Deine Tyrannei hat das Essen geschmacklos gemacht; man muss wohl aus deiner Stadt auswandern.» 5. Das Mahl des Fürsten als Hundefraß Eines Morgens ließ ein genießerischer Fürst seinem Untergebenen Bohlūl ein Mahl vorsetzen. Der aber warf es den Hunden zum Fraße vor, worauf jemand zu ihm sagte: «Wer hat jemals so etwas gemacht? Weißt du denn nicht, dass es sich nicht ­geziemt, das Mahl eines solchen Herrschers den Hunden zu geben? Eine solche Dreistigkeit zu begehen ist gefährlich; solch eine dreiste Tat ist nicht rechtens.» Bohlūl erwiderte: «Schweig, du Klappergestell! Wenn die Hunde wüssten, dass es von ihm ist, würden sie nicht einmal den Kopf heben, selbst wenn man sie mit Steinen bewürfe. Gott weiß, sie würden sich schämen, das zu fressen.» 6. Ein Ratschlag von Zāher an Sandschar Einmal wandte sich Sandschar an Zāher6 und sagte zu ihm: «Gib mir einen Rat als Proviant für den Weg.» Scheich Zāher antwortete: «Höre diese Worte: Da Gott dich zum Hirten gemacht hat, spiele nicht den Wolf! Du bringst das Leben der Leute durcheinander, damit du dir eine Goldkrone aufsetzen kannst. Hundertfach vergießt du das Blut der Geschöpfe, um einen unrechtmäßigen Bissen verzehren zu können. Du liest die Ähren im Dorf der Armen auf und bist doch ein noch größerer Bettler als sie.»



7. Der Dirham aus geschwärztem Silber107

7. Der Dirham aus geschwärztem Silber Ein Greis, der einen Dirham aus geschwärztem Silber gefunden hatte, dachte sich: «Heben wir das Geldstück trotzdem auf, und wenn wir einen Bedürftigeren als uns finden, werden wir ihm den Dirham sogleich geben.» Lange blickte er in alle Richtungen, sah aber keinen Bedürftigeren als den König. Zufällig war gerade Audienztag, und der König ging seinen Geschäften nach. Also begab sich der Greis zu ihm und legte ihm die ­Silbermünze hin. Erzürnt rief der König: «O du Halunke, wozu könnte jemand wie ich so etwas gebrauchen?» Der Greis sagte: «Rede nicht so viel, o König, denn ich habe auf der ganzen Welt niemanden gesehen, der bedürftiger ist als du. Es gibt keine Moschee und keinen Markt, o Makelloser, wo sie nicht für dich Geld verlangen. Jeden Augenblick wird ein Anteil für dich erhoben; jeden Atemzug verdienst du etwas anderes. Du bettelst an jeder Türschwelle, um eine Zeitlang herrschen zu können. Wehe dir, dein Herz ist doch nicht aus Stein; schämst du dich nicht für diesen Ruf?» 8. Meister Akkāfī gibt König Sandschar Almosen Meister Akkāfī,7 der Beweis des Glaubens, sagte zu Sandschar: «O Herrscher über den Glauben, ich muss dir die Armensteuer geben, bist du doch der Arme dieser Zeit. Alles, was du jetzt an Gold und Reichtum besitzt, ist das Eigentum dieser Menschen. Das alles hast du den Leuten abgenommen. Jetzt obliegt es dir, sie alle dafür zu entschädigen. Da von dir selbst gar nichts ­gekommen ist, hast du keinen Nutzen von deinem Rang. Auch wenn du mehr besitzt als alle anderen, kenne ich keinen Ärmeren als dich.» 9. Das Geheimnis von Erhabenheit und Erniedrigung Mahmūd, der König über den Glauben und Herrscher der Welt, hatte einen äußerst weisen Lehrer. Sein Name war Sadīd ʿAnbarī und, o Wunder, sein Haupthaar war wie Kampfer.

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7. Der Pilger geht zum Fußschemel

­ ines Tages trug ihm der König diesen Koranvers vor: «Du E stärkst, wen du willst, und du erniedrigst, wen du willst.»8 Er sagte weiter: «Erkläre mir den Sinn dieses schönen Verses; enthülle mir das Geheimnis von Erhabenheit und Erniedrigung!» Da sprach der Meister zu ihm: «Man könnte sagen, mein lieber Freund, dass dieser Vers für dich und mich gemacht ist. Mein Los ist die Erhöhung, deines die Erniedrigung; dir genügt der Teil, ich brauche das Ganze. Ich besitze einen Krug und eine Matte; Prunk und Heuchelei liegen mir fern. Solange ich auf dieser Welt noch atmen kann, genügen mir dieser Becher und diese Matte. Sieh dagegen doch nur deine Besitztümer: dein Reich, die Elefanten, deine riesige Armee! Das alles besitzt du und brauchst doch immer mehr. Ich besitze nichts und bin von allem frei; du besitzt viel und willst aus niedriger Gesinnung noch mehr. So erhalte ich meine Ehre vom Geliebten; an dieser Ehre hast du keinen Anteil. O weh, du hast dem Glück entsagt und nennst deine Schmach Ehre. Du trägst die Last der sieben Klimata; dein Ziel ist, das Blut der Welt zu trinken, damit du einen Augenblick stolz auf dem Thron sitzen kannst. Verschütte­ nicht den Wein, denn du bekommst kein zweites Mal eingeschenkt!» 10. Bohlūl auf Hārūns Thron Eines Tages ging Bohlūl betrunken zu Hārūn und setzte sich auf dessen Thron. Da schlugen ihn die Wachen mit Stöcken und Steinen, bis ihm das Blut aus seinem Körper strömte. Wie er so verprügelt wurde, rief er Hārūn zu: «O du König der Welt, nur einen Augenblick lang saß ich auf diesem Platz; sieh, wie mich die Schläge verletzt haben. Fürchtest du, der dort ein ganzes Leben lang sitzt, nicht, dass dir ein Knochen nach dem anderen gebrochen wird? Einen Atemzug lang habe ich erduldet, was mir zustand; wehe dir, was dich erwartet!»

Achtes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Schicksalstafel

Der Pilger kam zur Schicksalstafel und nahm sie als Führer. Die Schicksalstafel, die wie ein Schreibrohr umherirrte, begann eine neue Seite. Er sprach zur Schicksalstafel: «O du Duft und Ruhe, deine Hinweise sind auf keiner anderen Tafel verzeichnet. Du bist die Empfängerin geheimnisvoller Verse; du bist die Trägerin bedeutungsschwerer Worte. Du zeichnest das Urteil des Diwans1 der Urewigkeit auf; du bist die Bildnerin von allem Wissen und Werk. Bis in alle Ewigkeit hat Er dich damit geschmückt und alle Geheimnisse zu deinen Zeichen gemacht. Alles, was in beiden Existenzen geschah und geschieht, wird eins ums andere durch dich offenbar. Lies alle Urteile Gottes gut und korrekt. Warum liest du nicht? Du hast doch eine schöne Schrift. Da du alle Geheimnisse kennst, erkläre sie mir Armem. Denn wenn die Tafel mir die Tür nicht öffnet, verliere ich wie das Schreibrohr vor Kummer den Kopf.» Diese Worte betrübten die Tafel, und sie sprach: «Erhebe dich; lass weder deine noch meine Tränen fließen! Ich sitze unruhig wie ein unwissendes Kind da, das eine Tafel auf dem Schoß hält. Jedes Schriftzeichen, das vom Schreibrohr kommt, lese ich in Furcht vor dem Meister. Immer wieder wasche ich besorgten Herzens mit meinen Tränen die Zeichen auf der Schicksalstafel ab. Wenn man auch der Tafel Leben entnehmen will, so ist sie doch für den Toten nur eine niedrige Grabtafel. Das vorangegangene Urteil hat hundert Welten durcheinandergemischt, und jeden Augenblick zeichnet Er ein neues Zeichen. Deshalb rezitiere ich diese Tafel auswendig, und jeden Augenblick fange ich eine andere Tafel an. Jeden Augenblick werde ich in eine andere Richtung gezerrt; es erzürnt mich, dass ­immer Neues auf mich geschrieben wird. Ich bin meinen Buch-

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8. Der Pilger geht zur Schicksalstafel

staben vollständig ausgeliefert; dauernd legt man den Finger auf meine Buchstaben. Ich warte verwirrt, ohne Seele noch Körper, welches Zeichen auf mir erscheinen wird. Wirf die ­Tafel weg, der du hochmütig bist wie der Fußschemel! Du wirst doch nicht wieder in die Schule gehen wollen! Auch wenn ich viele Schriftzeichen trage, die Schrift der Liebe steht nicht in meinem Buch. Sieh meinen Schmerz; bedecke ihn mit deinem Saum und geh! Nimm die Schrift des Kummers von mir fort und geh!» Der Pilger wandte sich an den mitfühlenden Meister und erläuterte ihm aus reiner Seele seinen Zustand. Der Meister sagte zu ihm: «Gottes verwahrte Tafel2 ist das Reich des Wissens und das Bild Seines hohen Ranges. Wo immer Geheimnisse des ­Wissens verborgen sind, werden sie in Bildern auf der Schicksalstafel gespiegelt. Es gibt Bilder des Unglücks und Bilder des Glücks; alles, was dort verzeichnet ist, steht dort ohne Grund. Die Ereignisse ohne Grund haben dort ihren Ursprung; ­Unglück und Glück kommen von dort.» 1. Dhū-l Nūn und der Feueranbeter Man erzählt, dass Dhū-l Nūn3 eines Tages, als es heftig schneite, in die Wüste ging. Dort sah er einen Feueranbeter, der den wahren Glauben nicht kannte. Er hatte eine Schürze voll Hirse über den Kopf geworfen, kehrte den Schnee weg und lief in die Wüste hinaus. Er streute Hirsekörner aus und lief hin und her. Da fragte ihn Dhū-l Nūn: «O Bauer, warum streust du hier Hirse aus?» Dieser antwortete: «Im Schnee ist die Welt nicht sichtbar; in dieser Zeit ist auch für die Vögel das Futter nicht sichtbar. Ich gebe den Vögeln auf diese Weise Futter, damit sich Gott meiner erbarmt.» Darauf sagte Dhū-l Nūn: «Warum sollte Er so etwas von dir, einem Fremden, annehmen? Bist du verrückt?» Er antwortete: «Wenn Gott es nicht annimmt, so sieht Er es doch?» Dhū-l Nūn: «Ja, er sieht es.» Der Feueranbeter: «Das genügt mir.» In einem späteren Jahr ging Dhū-l Nūn auf die Pilgerfahrt und stieß wieder auf jenen Feueranbeter. Er erblickte ihn, wie



2. Rede eines Narren in der Derwischkutte111

er gleich einem Liebenden die Kaaba umkreiste. Er sprach: «O Dhū-l Nūn, warum hast du so töricht geredet? Du hast gesagt, Er würde es nicht annehmen, aber sehen. Er hat es jedoch ge­ sehen, gutgeheißen und ganz angenommen. Er hat mich zu ­einem Vertrauten des Pfades, mein Herz und meine Seele wissend gemacht. Er hat mich zu Seinem Haus gerufen und mich zum staunenden Pilger auf Seinem Pfad gemacht. Auch ich bewohne jetzt das Haus Gottes und bin kein Fremder mehr.» Dhū-l Nūn wunderte sich sehr über diese Rede und sagte: «O Gott, du verkaufst aber billig – vierzig Jahre Feueranbeterei gegen eine kleine Handvoll Hirse! Du machst für einen so niedrigen Preis aus einem Feind Deinen Freund.» Da sprach eine ­verborgene Stimme über Sein Geheimnis: «Gott ruft ihn oder weist ihn zurück. Wenn Er jemanden ruft oder zurückweist, dann geschieht beides ohne Grund.» Es ist Sache des Menschen, dass es verschiedene Glaubens­ gemeinschaften gibt, doch was von Seinem Palast kommt, kommt ohne Grund. 2. Rede eines Narren in der Derwischkutte Ein Narr in einer Derwischkutte sagte: «Was die Menschen gefangen hält, ist die Ursache. Ich Glücklicher komme aus einer Welt, die keine Ursache kennt. Man hat mich auf diesen Weg der Ursachenlosigkeit gebracht und mich mit meinem Irrsinn glücklich gemacht. Doch keiner kennt den Weg zu meinem Geheimnis; keine Seele weiß etwas über meinen Irrsinn. Wer in Gottes grundloses Wirken geraten ist, der ist in die ewige Seligkeit eingegangen. Alles, was er sieht und was ihm geschieht, ist ihm eine Freude, denn er hat eine erhabene Seele.» 3. Der Mann, der Schönschön hieß Es war einmal ein gewandter Mann, der «Schönschön» hieß.4 Gott, der Erhabene, hatte seinen Namen zu einer Falle gemacht. Selbst wenn jemand Feuer in seiner Seele entzündete, jammerte er nicht, sondern sagte: «Schön, schön!» Sogar als

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8. Der Pilger geht zur Schicksalstafel

sein Haus einstürzte und seine Frau und seine Kinder unter sich begrub, blieb Schönschön beiseite stehen und sagte nur: «Schön, schön! So ist es nun einmal.» Da er alles sah, was vor ihm lag, fiel es ihm leicht, «Schön, schön!» zu sagen. Wenn du nicht wie Schönschön alles, was es gibt, als schön ansiehst, wird ein Schönschön in das Unschöne wie in eine Falle stürzen. Selbst wenn der Himmel dem Erdboden gleich wird – suche dir darin etwas Schönes! 4. Der Narr in der Glaserei Ein Narr entdeckte in Bagdad eine Glaserei, nahm fröhlich Steine in die Hand und zerschmetterte das Glas; innerhalb einer Stunde hatte er alles zerstört. Hunderttausend Gläser ­ wurden so unter großem Getöse zerstört, und die ganze Pracht war dahin. Der arme Händler, dem dieses Unheil zugestoßen war, lachte zuerst wie verrückt, aber dann lief ihm die Galle über. Jemand sagte zu dem Narren: «Du verwirrter Mann, warum hast du das getan? Hat jemand so etwas je getan? Du hast den Gewinn des Händlers in Luft aufgelöst und ihn mit diesem Schaden arm gemacht.» Darauf antwortete der Narr: «Ich bin ein sehr verwirrter Irrer, und mir gefällt so ein Lärm und Aufruhr. Mit Schaden und Gewinn habe ich nichts zu tun.» In Wirklichkeit weiß niemand über diese Kuppeln und Gewölbe Bescheid, außer über ihren prunkhaften Schein. Niemand­ kennt das Geheimnis, weil dort niemand Zutritt hat. Niemand kennt die Wahrheit; alle sterben mit leeren Händen. 5. Eine kostbare Salbe für einen verwahrlosten Esel Zufällig kam Maʿschūq Tūsī5 am Markt der Apotheker vorbei. Ein Apotheker mischte gerade eine Salbe aus Moschus und Ambra, feiner als im Paradies. Maʿschūq besorgte sich sofort diese Salbe. Vor ihm ging ein schwacher, verwahrloster Esel, unter dessen schmutzigen Schwanz er die köstliche Mischung schmierte. Einem Passanten, der ihn nach dem Geheimnis seines Tuns fragte, antwortete Maʿschūq: «Die Geschöpfe dieser



6. Der Verrückte und sein Spiegel113

Welt wissen ebenso viel über Gott wie dieser todgeweihte Esel vom Parfüm.» Solange nicht ein frischer Zweig vom Baum deines Wesens mit der ursprünglichen Wurzel verbunden ist, bleibst du abgeschnitten von der Wurzel von allem; Trennung bleibt dein Schicksal bei jeder Verbindung. Verbinde jetzt den Ast mit ­seinem Ursprung, denn wenn du tot bist, bleibst du gefesselt. Gefesselt kann man ganz gewiss nichts bewirken; du musst jetzt Großes vollbringen. Wenn du beständig in Ihm stirbst, wirst du immer neues Leben gewinnen. Es gibt viele, die leben, ohne zu sterben; wenn du lebendig stirbst, dann ist das die Errungenschaft überhaupt. Wie willst du über Seine Schwelle schreiten, wenn du aus Trägheit nicht handelst? Wenn du dich nicht um deine Wunde kümmerst, dann wirst du ein Leichnam. 6. Der Verrückte und sein Spiegel Ein Verrückter stand jeden Freitag zur Zeit des Gebets mit ­einem Spiegel in der Hand vor der Moschee. Er nahm den Schleier vom Spiegel, so dass, wenn die Leute vom Gebet kamen­, er ihnen den Spiegel vorhielt. Waren es genügend Menschen, legte er ihn beiseite. Sah er aber viele Leute auf einmal kommen, warf er den Spiegel zu Boden und wurde zornig. Die Leute näherten sich ihm freundlich und gaben ihm den Spiegel zurück. Doch wenn die Menge wieder anwuchs, geriet er wieder in Zorn. Er warf den Spiegel auf den Weg, und erneut brachten die Leute ihn ihm zurück. Bald hielt er den Spiegel hoch, bald ließ er ihn sinken. Mal nahm er den Spiegel, mal warf er ihn weg. Als niemand ihn mehr beachtete, wurde er schließlich sehr traurig und sagte: «Es müsste doch möglich sein, dass diese Leute einmal ihr Gesicht sehen! Und doch hat sich kein einziger von seinem Gesicht und Bart abgewendet.» Wer sich nicht von sich selbst abwendet, wird der sich je um Gott sorgen? Du bist so beschäftigt und zerstreut, dass du aus Sorge um dein weltliches Treiben deine Seele verloren hast. Wie lange willst du so etwas noch anhäufen? Sammle nur so viel, wie du essen kannst! O du, der du jeden Tag so vieles suchst,

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8. Der Pilger geht zur Schicksalstafel

such eine süße Seele und das Licht des Glaubens! O du, der du jeden Augenblick eine neue List ersinnst, der du in jedem Haar einen anderen Teufel trägst – wende dich der Wahrheit zu, lasse von der Gewohnheit ab und sei nicht so hochmütig wie Eblīs!6 7. Jesus und Eblīs, der Teufel: Gewohnheit und Wahrheit Als Eblīs, der Verfluchte, sich zum Gebet niederwarf, sprach ­Jesus zu ihm: «Warum tust du das?» Er antwortete: «Mehr als jeder andere war ich es ein Leben lang gewohnt, mich niederzuwerfen. Jetzt habe ich diese Gewohnheit wieder aufgenommen­. Wenn Niederwerfung alles bedeutet, dann zahle ich hiermit die Strafe.» Jesus, Marias Sohn, aber sagte zu ihm: «O du Miss­ geburt, du weißt nichts und hast einen falschen Weg eingeschlagen. Du kannst sicher sein, dass auf dem Weg zu Ihm ­Gewohnheit nicht der angemessene Zugang ist. Alles, was im Leben durch Gewohnheit erreicht wird, hat mit der Wahrheit nichts zu tun.» Die Welt ist von einem bis zum anderen Ende in Eblīs’ Händen; du stiehlst ihm immer etwas. Wer Eblīs etwas von seinem Besitz stiehlt, der weiß, in welchem Zustand er morgen sein wird. Wenn Eblīs die Märkte verließe, welche Geschäfte könnten dort dann noch betrieben werden? Da die ganze Welt sein Markt ist, überlasse man Kauf und Verkauf besser ihm. Er ist der Meister eines jeden Marktes; die irdischen Angelegenheiten regeln sich keinen Augenblick ohne ihn. 8. Salomo kann seine Körbe nicht verkaufen Eines Tages sagte Salomo: «O Gott, schick mir Eblīs, damit er mir wie jeder Dämon gehorcht und sich vor mir niederbeugt.» Gott sprach zu ihm: «Sei nicht sein Fürsprecher; dann unterwerfe ich ihn deinem Befehl.» Schließlich wurde Eblīs Salomos Untertan und, o Wunder, zum Staub auf seiner Schwelle. Doch obwohl Salomo so viel Macht hatte, die von der Erde bis zum Gottesthron reichte, wusste er, dass Armut vorherbestimmt ist, und verdiente seinen Lebensunterhalt mit Korbflechten. Eines



8. Salomo kann seine Körbe nicht verkaufen115

Tages begab sich einer seiner Diener auf den Markt, um einen Korb zu verkaufen. Aber obwohl er ihn überall herumzeigte, kaufte ihn niemand, und er kehrte mit dem Korb zurück. Salomos Hunger dauerte an. Am nächsten Tag flocht er einen noch schöneren Korb in der Hoffnung, ihn besser verkaufen zu können. Der Diener trug beide Körbe zum Markt, doch bis zum Abend hatte er keinen Käufer gefunden. Da kein Käufer in Sicht war, überkam Salomo schließlich eine große Schwäche. Der Mangel an Nahrung machte Salomo schwer zu schaffen und beherrschte seine reine Seele. Da sprach Gott zu ihm: «Was ist geschehen, dass dir das Leben vor Schwäche mühsam gewor­ den ist?» Salomo antwortete: «Ich brauche Brot, o Schöpfer!» Gott: «Dann iss doch Brot. Warum bist du so unruhig?» Salomo­: «O Herr, ich habe kein Brot – sieh doch!» Gott: «Verkaufe deine Ware und kaufe Brot!» Salomo: «Ich habe meine Körbe oft hinbringen lassen, aber bis jetzt keinen Käufer gefunden.» Gott: «Wie kann ein Korb verkauft werden, wenn der Meister des Marktes in Gefangenschaft ist? Offensichtlich hast du die weltlichen Geschäfte zunichtegemacht, als Satan dein Gefangener wurde. Denn wie können Kauf und Verkauf ab­ gewickelt werden, wenn der unreine Eblīs in Fesseln liegt? Die weltlichen Geschäfte sind mit ihm verknüpft; er ist die Ver­ neinung von ‹Gebietet das Rechte und verbietet das Schlechte!›»7

Neuntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Schreibrohr

Der Pilger kam – kopfüber wie das Schreibrohr – zum Schreibrohr und sprach: «O du, der du die Geheimnisse aufzeichnest und die Worte und Taten prüfst! Du bist eine Sehne für den Bogen der Allmacht; deshalb wurde die Sure Nūn, Beim Schreibrohr!,1 herabgesandt. Gott, der Erhabene, hat dich unterrichtet und dir durch Seine Macht die vollendete Gestalt2 gegeben. Du bist der erste Lehrer der vorzeitlichen Geheimnisse; du bist aus dem verborgenen Nichts entstanden. Du machst den Kopf zum Fuß und die Zunge zum Kopf. Du läufst geschmeidig und verstreust bald Edelsteine, bald Zucker; bald ist deine Schrift eine Perle, bald goldenes Wasser. In deiner Dunkelheit befindet sich das Wasser des Lebens; du bist Zuckerrohr, in Wirklichkeit sogar Kandiszucker. Du bist der absolute Herrscher; alles, was du schreibst, wird Wirklichkeit. Tatsächlich inspirierst du ohne jeglichen Zweifel die Tafel des Herzens, o Maler des Verborgenen! Sieh meinen Schmerz und öffne mir eine Tür; vertraue mir das Geheimnis des Unsichtbaren an – setz dich in Bewegung!» Bei diesen Worten krümmte sich die Seele des Schreibrohrs, das Schwert der Feder spaltete es, und es sagte: «Was bin ich schon gegenüber solchen Geheimnissen? Mit abgeschnittenem Kopf verrichte ich diese Arbeit. Mag das Wasser auch klar und vollkommen fließen – wenn die Regenrinne es nicht weiß, wird sie es missachten. Ich bin wie eine Wasserrinne, durch die das klare Wasser läuft, aber dennoch fern von dem, was mich durchläuft. Ich habe mich für den Dienst gegürtet und stürze mich vor Sehnsucht kopfüber in die Arbeit. Dann setzt die ­Feder das Schreibrohr in Bewegung, und ich tauche sofort in das schwarze Wasser. Wenn ich auch nur das kleinste bisschen der Geheimnisse kennte, würde ich am Ende wegen meiner Un-



1. Dhū-l Nūn und sein asketischer Schüler117

fähigkeit den Kopf verlieren. Höre die herzergreifende Schilderung meines Zustandes; vertraue mir, höre, wie ich ächze! Folge du entweder deinem Weg so verwirrt wie ich, oder vergiss mich und verschwinde von hier!» Der Pilger ging zum Meister und berichtete ihm von seiner Begegnung, damit sein Führer alles erfahre. Der Meister sagte zu ihm: «Das Schreibrohr ist der Weg der göttlichen Macht, die viel und wenig schenkt. Wenn ein Atom mit einem anderen Atom etwas zu tun haben soll, weiß die Spitze des Schreibrohrs es aufzuzeichnen. Solange das Schreibrohr kein Zeichen erscheinen lässt, bewegt sich kein Atom im Universum. Sobald das Schreibrohr sich zu bewegen beginnt, wird sein Lauf die Dinge richtig ordnen. Ständig läuft es in Demut kopfüber und ruht keinen Augenblick vom Schmerz der Mühen aus. Wenn es durch Leiden zur Freude gelangt, ertrinkt es im Licht und wird endlich trocken.»3 Wer sein Werk beständig verfolgt, wird ein gutes Ende ­nehmen. Sei in deinem Handeln aufrecht wie das Schreibrohr, damit du dein Ziel erreichen kannst. 1. Dhū-l Nūn und sein asketischer Schüler Dhū-l Nūn hatte einen reinen Jünger, der ein Herz besaß4 und die Geheimnisse kannte. Er hatte mit Dhū-l Nūn vierzig vierzigtägige Klausuren absolviert, bis er einen vollkommenen Rang erreicht hatte. Vierzig Jahre war seine Seele in die Geheimnisse versunken; er war ein Wächter in der Kammer des Herzens geworden. In diesen vierzig Jahren hatte er kein Wort gesprochen, keine Nacht geschlafen. Eines Tages ging er unglücklich zu Dhū-l Nūn und beugte den Kopf wegen seines Unvermögens zur Erde. Vierzig Jahre hatte er ununterbrochen Gott gedient; er legte alles dar, was er getan hatte: «Obwohl ich alles getan habe, wie du gesagt hast, ist mir alles wie am ersten Tag verschleiert. Weder wird mir in der Brust eine Tür geöffnet, noch hat sich mir die Schönheit Gottes gezeigt. Weder ist von Gott ein Schriftzeichen auf meinen Namen gekommen, noch habe ich in meinem Herzen eine Botschaft von Ihm erhalten.

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9. Der Pilger geht zum Schreibrohr

Nichts, was ich tue, trägt Früchte  – was soll ich tun? Bald brenne ich, bald krümme ich mich – was soll ich tun? Sag nicht, dass ich mich nicht beklagen soll; ich berichte nur von meinem Unglück. Meine Frömmigkeit hat mir noch kein Herz eingebracht,5 und nie habe ich geistigen Genuss erfahren. Du als Arzt der Leidenden, hilf mir; gib mir ein Heilmittel, heile diesen blutdürstigen Liebenden!» Als der Scheich die Worte des Verwirrten hörte, sagte er: «Lass heute Nacht das Beten ganz; iss dich satt und schlafe richtig, damit, wenn Er dir aus Gnade keine Botschaft schickt, Er dir vielleicht aus Strenge Beachtung schenkt; denn ich denke, dass die Gnade nicht der richtige Weg ist. Jeder wird auf einen anderen Weg gebracht; bald wird er von unten, bald von oben getragen.» Der Derwisch hörte diese Rede und ging. Er stillte seinen Durst, aß sich satt und schlief müde ein. Noch in derselben Nacht sah er Mustafā im Traum, o Wunder: Wer sähe in der Nacht die Sonne? Er sprach: «Dein Herr lässt dich grüßen und dir diese Botschaft überbringen: O du, der du in deinem Streben so viel Leid ertragen hast – wer kann jemals Uns schaden? Mein Geschenk soll das Gedenken an dich sein; alles, was du willst, gebe Ich dir. Da du vierzig Jahre auf dem Weg gelitten hast, schenke Ich dir jetzt den Schatz des Glücks. Zur Entschädigung gebe Ich dir alle Schätze aus der Mine; Ich gebe dir das Ehrenkleid, das Geschenk und Meine Gunst. Doch grüße Dhū-l Nūn von Uns und sage ihm: ‹Vorsicht, du unvollkommener Heuchler, du bist ein Trugbild der Ehre; du hast rein angefangen und bist scheinheilig geworden. Du verscheuchst Uns die Liebenden und hältst sie vom Weg zu Uns fern. Du sprichst wie ein Dämon aus einem Wegelagerer; du machst müde Pilger aus ihnen. Ich wäre nicht Gott, würde ich deine Schandtaten nicht hundertfach bestrafen, solange du wie ein kleiner Wegelagerer handelst und die Liebenden in die Irre führst.›» Diese Rede machte Dhū-l Nūn so froh, dass er bis in alle Ewigkeit von beiden Welten befreit war. Wenn der Mensch Herr seiner Lage ist, findet er zweifellos, was er sucht. Was du auch willst, ob gekocht oder roh, wenn



2. Schiblī ehrt den vollkommenen Dieb119

du es gut haben willst, muss die Arbeit vollkommen sein. Wenn jemand in seinem Wirken vollkommen ist, wird er schließlich sein Ziel erreichen. 2. Schiblī ehrt den vollkommenen Dieb Es war einmal ein Dieb, der so viel gestohlen hatte, dass der Kalif ihn schließlich hängen ließ. Als Schiblī an dem Ort vorbeikam und sein Blick auf den Gehängten fiel, liefen ihm die Tränen über das Gesicht, und er schrie und lief zum Galgen. Er küsste dem Gehängten die Füße, legte seinen Turban ab und ging wieder weg. Jemand fragte ihn nach dem Geheimnis seines Verhaltens, worauf er sagte: «Er war ein vollkommener Dieb. Mit seiner Vollkommenheit hat er so viel gestohlen, dass er für diese Tätigkeit sein Leben gab. Wer bei seinem Handeln vollkommen ist, der opfert sein Leben dafür – und Schluss! Auch wenn der Dieb unvernünftig und leichtsinnig war, in seiner Arbeit war er vollkommen. Da er bei seiner Arbeit vollkommen war, habe ich meinen Turban vor ihn gelegt. Als ich gesehen habe, dass der blutige Galgen sein Ort war, habe ich ihm die Füße geküsst. Er war mannhaft in seiner Arbeit und nicht feige und wehleidig wie ich. Mannhaft stand er hinter seiner Armee; er war keine Memme wie ich. Sein Leben war für ihn wie ein köstlicher Bach; er zitterte nicht wie ich um sein Leben. Der Mensch muss sich, ob Auserwählter oder Gemeiner, in seinem Wissen und seiner Arbeit vervollkommnen.» Wenn du auch nur ein wenig guten Ruf erwerben willst, dann musst du bei jeder Handlung vollkommen sein. Wenn du eine schlechte Arbeit vollkommen erledigst, dann tust du das für deine eigene Erlösung. 3. Der Falschmünzer in der Derwischkutte Ein König ließ einen Falschmünzer fangen und befahl, ihm die Hand abzuhacken. Der Falschmünzer, der eine Derwischkutte trug, hatte ein Teilchen der Wahrheit erkannt. Er sprach: «Bringt mich jetzt nach Hause, damit ich euch meine Habselig-

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9. Der Pilger geht zum Schreibrohr

keiten zeige!» Nachdem sie ihn nach Hause gebracht hatten, zog er seine Derwischkutte aus und kehrte zurück. Nackt stand er vor dem Herrscher und sagte: «Jetzt kann das Werk getan werden. Von allem, was diesem Falschmünzer gehörte, bleibt ihm jetzt nur noch das Herz.» Der König aber fragte: «Warum dann der Betrug?» Da antwortete der Falschmünzer: «Damit ich im Glauben nicht ohne Glanz bin. Aus Angst vor dem Untergang habe ich meine Fehler unter dem Gewand der reinen Unfehlbaren verdeckt. Doch als ich diesen Fehler erkannte, habe ich mich von dem Gewand getrennt, damit die Kutte niemand an mir sieht und die Herzbesitzer dadurch in Verruf geraten. Wenn ich auch vor der ganzen Armee entehrt bin, so habe ich doch den Ruf jener Gruppe gewahrt. Denn sie in Verruf bringen zu wollen, wäre Unglaube, und Unglaube darf man nicht wünschen.» Der König freute sich über die Aufrichtigkeit des Jünglings und begnadigte ihn auf der Stelle. Wie lange willst du ein unvollkommener Mensch bleiben, weder gut noch schlecht, weder auserwählt noch gemein? Laufe wie das Schreibrohr mit Liebe gegürtet; dann wirst du das Geheimnis der Liebe offen aussprechen können. Wenn du aber nichts mit der Liebe zu tun hast, bist du wirklich ein Esel ohne Halfter. 4. Der Prediger von Ghazna und der Mann, der seinen Esel verlor In Ghazna lebte ein edelmütiger Prediger namens Mīreh ʿAbd as-Salām. Wenn dieser berühmte Prediger eine Rede hielt, versammelten sich dort zahllose Menschen. Jeder, der in der Stadt etwas verloren hatte, mischte sich an solch einem Tag der Versammlung unter die Menge, rief aus, was er unterwegs verloren hatte, und fragte dann die Leute nach einem Hinweis. Bei einer dieser Versammlungen fragte einmal ein betrübter Mann, ob jemand seinen verschwundenen Esel gesehen habe. Er hörte den Leuten zu und rief dann: «O Muslime, wer hat den Esel mit der Satteldecke gefunden? Ob Esel, ob Pferd  – wer hat d ­ iesen Doldol6 gefunden?» Da aber niemand dort den Esel ge-



5. Abū Saʿīd und Loqmān: Stein und Zunderschwamm121

sehen hatte, warf sich der Mann vor Kummer auf den Boden. Darauf begann der Prediger zu reden; er öffnete das Buch über die Liebenden und begann über die Eigenschaften der Liebe und der Liebenden zu sprechen und wie die vollkommene Liebe einen in Unruhe versetze. Dann sagte er: «Alle Atome der Welt, sichtbar oder verborgen, befinden sich in der Liebe. Gibt es irgendwo auf der Welt jemanden, der kein Liebender ist? Oder welcher der Vollkommenheit der Liebe nicht würdig ist? Ist jemand in der Menge, der wenig vom Geheimnis der Liebe auf den Weg mitbekommen hat?» Ein Einfältiger, der dachte, er sei erhabener, da er nicht verliebt war, erhob sich und sagte: «Auch wenn mein Leben bald zu Ende geht, so habe ich doch nie die Liebe kennengelernt, o Prediger.» Da sagte Mīreh zu dem Mann, der seinen Esel ver­ loren hatte: «Hole das Halfter und lege es diesem Mann um, denn was du so verzweifelt suchtest, das hast du hier durch die Gnade Gottes gefunden.» Wie kann ein Mensch ohne Liebe existieren? Wie kann ein Esel ohne Halfter geführt werden? Wer kein Liebender ist, den kannst du einen Esel nennen; es gibt viele Esel, doch so jemand ist noch weniger als ein Esel wert. Der Liebende ist gewandt und klug; wer kein Liebender ist, ist nur ein Erdwurm. Die Liebe ist bald Zärtlichkeit, bald Dahinschmelzen wie eine Kerze. Wenn du nicht zuvor geschmolzen bist, kannst du die Zärtlichkeit nicht erleben. 5. Abū Saʿīd und Loqmān: Stein und Zunderschwamm Am Anfang seines Wirkens stellte sich Abū Saʿīd unverzüglich bei Loqmān7 vor. Dieser hielt in der einen Hand einen Stein und in der anderen Hand einen Zunderschwamm.8 Abū Saʿīd fragte ihn, was Stein und Zunderschwamm bedeuteten, worauf Loqmān antwortete: «Um dir eine Lehre zu erteilen, schlage ich dir mit dem Stein auf deinen harten Schädel und lege dann den Zunderschwamm als Schmerzmittel auf. Denn für den Schmerz, den du jetzt verspürst, ist ein solches Heilmittel richtig.»

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9. Der Pilger geht zum Schreibrohr

Bald wirst du durch Seinen Schlag verwundet; bald wird mit einer Salbe dein Schmerz gelindert. Würdest du durch Seinen Schlag nicht verwundet, hättest du bis in alle Ewigkeit keine Hoffnung auf Heilung. Du hast dich mit deinem Wohlbefinden angefreundet; wie kannst du dir ohne Wunden überhaupt spirituelle Armut wünschen? 6. Nezām ol-Molk und der Narr: Der Glaube und die Welt Nezām ol-Molk ging frohen Mutes über eine Brücke und blickte zufällig nach unten. Im Schatten der Brücke sah er einen Liebenden, der sich dort, frei von beiden Welten, ausruhte. Er sagte: «Seist du ein Weiser oder ein Narr, da liegst du frei und schläfst gut!» Der närrische Liebende erwiderte: «O Nezām, wie könnten zwei Schwerter in eine Scheide passen? Das Reich der Welt hast du, aber du brauchst auch den Glauben? Das ­alles besitzt du, aber du brauchst das andere?» Wenn du den Glauben brauchst, dann kokettiere nicht mit der Welt; beide passen nicht zusammen  – versuche nicht, zu ­ etrügen! b

Zehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Paradies

Der aufrichtige, edelmütige Pilger erreichte durch seine ­wahrhaftige Suche das Paradies. Er sprach: «O abgeschiedene Wohnstatt der Freunde, mit Gärten über Gärten überall! Das irdische Paradies ist der zusammengefegte Staub deines Weges; Dschamschīds Kelch dürstet nach einem Tropfen von dir. Das Wasser des Lebens ist hingestreuter Staub an deiner Schwelle, Kouthar1 ist halb tot vor Sehnsucht nach dir. Du bist die kühle Brise und der Kräuterduft2 für alle Körper; du bist die Seele der Welt und die ganze Welt der Seele. Für dich ist das kreisende Himmelsrad nur ein Nest; Redwān3 ist dein Gärtner und Schatzmeister. Zu dir gehören zahllose Jungfrauen und schöne Jünglinge, die alle mit treuem Herzen zum Versprechen mit dir stehen. Was nie ein Mensch gehört, gesehen noch gewusst hat, zeigt sich in deinem Schatten; das Licht zeigt deinen Reichtum. Der Papagei der Seele sucht den Sinn bei dir; der Tūbā-Baum4 kommt bis in alle Ewigkeit aus deiner Glückseligkeit.5 Du bist die belebte Welt, das Haus des Lebens; jedes Atom lebt durch dich. Überall in beiden Welten gibt es Geheimnisse, aber in jedem Atom von dir noch viel mehr. Der gebratene Vogel findet, wenn du ihn gegessen hast, durch dich sein Leben wieder; neu belebt fliegt er davon. Ich sehe Wein, Milch und Honig wie Wasser in deinen Bächen fließen.6 Mit all deiner Zierde, die dir aus Gehorsam entsteht, und all der Ehre, die dir jederzeit ­gebührt, kannst du, wenn du mich heilen möchtest, mir mein Seelenleid erleichtern.» Das Paradies wurde von diesen Worten des Pilgers sehr unruhig; es stieß aus seiner Brust einen moschusduftenden ­ Seufzer aus und sprach: «O Sucher mit dem guten Wesen, ich habe aufgegeben, was ich vom Paradies gesehen habe. Wie

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10. Der Pilger geht zum Paradies

lange bewunderst du die Schönheit der Versammlung? Siehst du nicht das Brennen und die Einsamkeit der Kerze? Ich leide selbst; was könnte mir ein Heilmittel nutzen? Mein Geist brennt; was könnte ein wohlriechender Duft nützen? Ich suche das Unsichtbare und werde zurückgewiesen; ich suche die Liebe und bekomme Fleisch von Vögeln.7 Bald werde ich trunken aus dem Fluss des Weins; bald schlafe ich trunken von Milch ein. Kindern gibt man Milch zum Einschlafen; den Trunkenen schenkt man Wein ein. Die meisten, die zu mir kommen, sind Dummköpfe; die wahren Gläubigen meiden mich.8 Man fertigt mir gegenüber eine Kette, um die Menschen des Herzens zu mir zu ziehen. Kurzum, ich bin nichts als ein Ort der Be­ grüßung; käme ein Salmān9 zu mir, so wäre ich dadurch vollkommen. Wer sich vor mir verbeugt, dem wird das erste Stück Leber gereicht.10 Den ersten Weinkrug trinken sie bis zur Neige aus, damit diejenigen, die Leber essen, sich ausruhen können. Wer mir auch nur ein Weizenkorn raubt, wird dreihundert Jahre vom Skorpion gestochen. Pilger, was erwartest du von mir? Geh! Ich weiß nicht, was du sagst. Geh!» Der Pilger ging zu dem ruhmreichen Meister und erzählte ihm, was ihm widerfahren war. Der Meister sagte zu ihm: «Das leuchtende Paradies ist dennoch ein Hof von Streit und Kampf. Auf das Paradies scheint die ewige Sonne, nämlich die Offen­ barung der Schönheit der göttlichen Majestät. Wer hier von Ihm Erkenntnis gewinnt, wird von dieser Offenbarung erleuchtet.» 1. Scheich Bāyazīd verlangt Rechenschaft von Gott Scheich Bāyazīd wurde eines Tages unruhig und sagte: «Wenn Gott, der Glorreiche, Rechenschaft über meine siebzig Jahre verlangt, dann verlange ich von Ihm Rechenschaft über zehntausend, denn ein Jahr zählt zehntausend, seit Er fragte: ‹Bin Ich nicht euer Herr?›11 Mit diesem ‹Bin Ich nicht?› versetzte Er alle in Bestürzung, und mit ihrem ‹Ja› schickte Er ihnen nur Heimsuchungen. Alle Leiden vom Himmel bis zur Erde sind für Seine Freunde Zeichen dieser Zustimmung.» Da hörte er



2. Das Lächeln des sterbenden Liebhabers125

eine Stimme sagen: «Höre die Antwort auf die Worte, die du gesprochen hast: Am Tag des Gerichtes werde ich deine sieben Glieder12 Stück für Stück, Atom für Atom zu Staub machen. Dann werde ich dir jedes einzelne Atom vorführen und dir ­etwas Entsprechendes dafür geben. Zehntausend Jahre werde Ich abrechnen und dir sagen: Dies ist nun erledigt. Wenn für dich jedes Atom zählt, dann handle auch so, wenn du Rechenschaft ablegst!» Wem Seine Sonne im Diesseits scheint, findet schon hier, was im Jenseits versprochen wurde. 2. Das Lächeln des sterbenden Liebhabers Ein Liebender lag, das Herz lebendig, im Sterben und hatte wie die Rose ein Lächeln auf den Lippen. Jemand fragte ihn: «Woher kommt das Lachen in dieser Zeit der Tränen?» Er antwortete: «Wenn ich, der Liebende, mit meinem Geliebten zusammen bin, lache ich jeden Augenblick, denn ich bin die wahre Morgenröte. Es ist rechtmäßig, am Morgen zu lachen, denn er trägt die Sonne in sich. Auch wenn ich die Sonne in mir trage, so prahle ich mit ihr nicht so wie der Himmel. Wer die Sonne in seiner Seele trägt, dem fällt es leicht, wie der Morgen zu ­lachen. Da nun mein Tag gekommen und meine Nacht ver­ gangen ist, ist mein Freund gekommen, Herr, und mein ‹O Herr› wurde erhört. Es ziemt sich, sich zu freuen und zu lachen; es ziemt sich, die Lippen zu öffnen und zu schließen.» Wenn die Sonne Seiner Majestät aufgeht, werden die acht Paradiese ausgelöscht. So viel du auch ohne Grund nach vorn und zurück schaust, in jeder Richtung siehst du nur den Einen und sonst nichts. Überall siehst du Ihn, denn Er ist immer alles. Es gibt nichts in beiden Welten außer dem Geliebten. 3. Zulaikha sucht Josephs Aufmerksamkeit: Eine Liebeslist Als Zulaikhas Sehnsucht nach Joseph unerträglich wurde, brachte sie ihre geheime Leidenschaft ans Tageslicht. Für ­Zulaikha hatte sich die ganze Welt verdunkelt, weil Joseph

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10. Der Pilger geht zum Paradies

keine Notiz von ihr nahm. Joseph beachtete sie keinen Augenblick, weshalb sich Zulaikha über ihn beklagte. Jedes Mal, wenn sie sich von ihm entfernte, schmückte sie sich auf eine andere Art. Doch auch wenn sie zu ihm in neuem Glanz zurückkehrte, sah Joseph sie gar nicht an. Als Zulaikha schließlich ganz verzweifelt war, ersann sie eine List. Sie befahl, auf alle vier Wände eines Zimmers ein Bild von ihr zu malen. Die vier Wände und die Decke zeigten überall Zulaikhas Gesicht. ­Passend dazu ließ sie einen Teppich knüpfen, der ebenfalls nur ihr Gesicht zeigte, und sagte: «Wenn Joseph die qibla13 des geliebten Antlitzes nicht sieht, was wird dann sein? Aber seit mein Gesicht dem Geliebten geweiht ist, ist der Nil von ganz Ägypten nur ein Tau. Weil ich mich so liebe, lege ich auf meine Augen Indigo zum Schutz gegen den bösen Blick, so wie Ägypten den Nil schützt.14 Sechs Seiten habe ich mit meinem Bild geschmückt, und jetzt bringe ich Joseph, den Aufrichtigen, hierher, damit er beim Anblick meines Bildes in dem Zimmer durch mich so verrückt wird wie ich durch ihn.» Nachdem die hinreißende Frau ihr listiges Werk vollendet hatte, brachte sie Joseph in das Zimmer. Überall, wo Josephs Blick hinfiel, sah er das Bild der verliebten Frau. Auf sechs Seiten­war das Bild ihres Gesichtes; o Wunder, ein Bild auf sechs Seiten! Der wahre Joseph deiner reinen Seele liegt im Inneren deines mit Staub gefüllten Hauses. In welche Richtung er auch blickt, er sieht nur Sein Antlitz. Er sieht in jedem Atom das Göttliche Licht, in jedem Teilchen wogen die Geheimnisse Gottes. Egal ob er zum Mond oder dem Fisch blickt, in beiden Welten sieht er nur das Licht Gottes!15 4. Madschnūn in Laylās Viertel Madschnūn, der immer verwirrter wurde, fand sich einmal in Laylās Viertel wieder. Alles, was er dort sah, küsste und umarmte er. Bald drückte er eine Tür, bald eine Wand an sich, und bald liebkoste er die Straße vom Anfang bis zum Ende. Dabei stieß er Schreie aus und streute sich Staub aufs Haupt. Am



5. Der Araber ohne Tischmanieren127

nächsten Tag fragte ihn jemand: «Was sollte denn gestern dieser Lärm? Du hast keine Tür oder Wand ausgelassen und sie alle umarmt und an die Brust gedrückt. Doch keine der Türen klärt deine Angelegenheit, keine Wand eröffnet dir einen Ausweg.» Da begann Madschnūn mit einem heiligen Gebet und antwortete: «Wenn ich mich in ihrer Straße aufhalte, sehe ich auf den Türen und Wänden nur ihr geliebtes Gesicht. Wenn ich eine Tür küsse, so ist das Laylā; wenn ich Staub auf mein Haupt streue, ist das auch Laylā. Da alles in ihrer Straße Laylā ist, ­besteht Laylās Straße nur aus ihrem Gesicht.» Du musst jeden Augenblick hundert Augen haben, jedes Auge muss hundertfach sehen! Wisse, dass du mit jedem deiner Blicke hundert göttliche Schauspiele betrachtest! Ein Herz, das nur ein bisschen von diesem Blick hat, hört keinen Augenblick auf zu schauen. Wenn jeder deiner Blicke tausendfach wäre, würden diese tausend Blicke alles verschlingen. 5. Der Araber ohne Tischmanieren Ein Araber mit schlechten Manieren verschlang sein Essen mit allen fünf Fingern. Jemand sagte zu ihm: «O du armer Teufel, erkläre mir doch, warum du diese Speise mit fünf Fingern isst?» Darauf antwortete er: «Weil ich keine sechs Finger habe, Bursche! Hätte ich statt fünf sechs Finger, würde ich mich aller sechs bedienen.» Wenn du tausend Augen hättest, o Bursche! Sie alle müssen immer auf Ihn gerichtet sein. Wenn beide Welten im Staube ­lägen, bliebe doch die Sache der irdischen Geschöpfe bis in alle Ewigkeit bestehen. Wenn der Staub mit dem Reinen verbunden wird, fiele der Gottesthron vor dem Menschen zu Boden. 6. Der Staub der Niedrigkeit auf Gottes Saum Ein Imam stieg auf die Kanzel und hielt eine glühende Predigt: «Er ist ein Gott ohne Wenn und Warum. Auf dem Gewandsaum Seiner Erhabenheit hat sich und wird sich nie ein Atom der Niedrigkeit niederlassen, denn Er ist rein und einmalig.» Ein

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10. Der Pilger geht zum Paradies

Narr hörte diese Rede und rief dem Prediger zu: «Schweige, Unwissender! Der Staub der Niedrigkeit sitzt immer auf dem Saum Seiner Erhabenheit. Siehst du nicht all diese irdischen Wesen, die bis in alle Ewigkeit der Staub der Niedrigkeit sind? Sie greifen nach dem Saum Seiner Erhabenheit und sitzen wie Staub darauf.» Der Mensch ist wie Gott einzigartig, aber Gott hat zweifellos nicht Seinesgleichen. Die Menschen sind mit Ihm verbunden, sitzen aber in Erwartung Seines Blicks. 7. Mahmūd und Ayāz: Ein Wettstreit im Selbstlob Man erzählt, dass Mahmūd und der hellhäutige Ayāz sich  – wie sonderbar! – gegenseitig priesen. Mahmūd sagte: «Wer auf dieser Welt ist so ausgezeichnet wie ich? Sind und Hind, Türkenland und Byzanz gehören mir; siebenhundert Könige ge­ horchen mir. Ich habe zahllose Soldaten und Elefanten; kein anderer Herrscher hat einen solchen Ruf wie ich.» Da sprang der redliche Ayāz auf, trat siebzig Schritte zurück und fragte: «Darf ich etwas zu dem Herrscher sagen?»  – «Sprich!» Und Ayāz sagte: «Auch wenn du die ganze Welt erobert hast, so hast du nicht, wie ich, einen Mahmūd. Auch wenn dir beide Welten voller Diener gehören – was ich besitze, genügt mir.» Wenn du dich nach der Offenbarung der Schönheit sehnst, sei von Kopf bis Fuß das Auge, das den Geliebten betrachtet, damit du erkennst, dass man jedem Auge im Hause des Friedens­ bis in alle Ewigkeit das Sehen schenkt. Das sehende Auge ist für die Seele die Wegzehrung auf dem Pfad. Höre nicht auf, Gott um dieses Auge zu bitten! 8. Der Meister, der sich von Gott einen Gast erbat Ein Meister, ein wahrhafter Wegweiser, bat Gott eines Tages um einen Gast. Der Herr der Welt flüsterte ihm zu: «Morgen wird ein Gast zu dir kommen.» Am nächsten Tag begann der Mann alles, was ein Gastgeber benötigt, vorzubereiten. Dann schaute er in alle Richtungen, sah aber nur einen lahmen Hund



9. Hārūn möchte Laylā sehen129

des Weges kommen. Er verjagte den Hund, denn sein Herz wartete darauf, dass der Gast auftauche und das Geschenk Gottes endlich erschiene. Aber niemand kam, und der Gastgeber legte sich enttäuscht schlafen. Da sprach Gott zu ihm: «O du, der du über dich selbst verwirrt bist, Ich habe dir doch einen­meiner Hunde geschickt! Doch du hast ihn verjagt, anstatt ihm Gastfreundschaft zu gewähren. Hungrig und erschrocken ist er vor dir geflohen.» Als der Mann aufwachte, war er ganz verwirrt und weinte Blut und Tränen. Er lief in alle Richtungen, bis er schließlich den Hund in einer Ecke fand. Unter Tränen näherte er sich ihm, bat ihn um Verzeihung und wollte ihn trösten. Der Hund fing an zu sprechen und sagte: «O Mann des Pfades, du wünschtest dir von Gott einen Gast? Wünsche dir lieber Einsicht!» Wer sich von Gott einen Gast wünscht, braucht die entsprechende Einsicht. Wenn man dir nur ein Atom dieser Einsicht gibt, werden dir hunderttausend Jahre gegeben. Wenn du die Einsicht nicht hast, bitte Gott darum, denn ohne diese Einsicht kannst du den Pfad nicht gehen. 9. Hārūn möchte Laylā sehen Es wird erzählt, dass Hārūn von Madschnūns Liebe erfahren hatte. Da ergriff ihn die gleiche Leidenschaft wie Madschnūn. Er wollte Laylā sehen und einen Atemzug lang bei ihr sitzen. Doch als er Laylā kommen ließ und sie ansah, erschien ihr Angesicht in den Augen des Königs gewöhnlich. Er rief Madschnūn und sagte zu ihm: «O du Unwissender, Laylā ist gar nicht besonders schön. Du bist so trunken von ihrer Schönheit und in deiner Verrücktheit in ihre Falle gegangen. Lass ab von ihr und hör auf, sie zu lieben, denn es gibt hundert wie sie.» Madschnūn aber antwortete: «Wenn du ihr Antlitz siehst, musst du es mit Madschnūns Liebe sehen. Solange sich Madschnūns Liebe nicht zeigt, wie sollte sich Laylā als Gebieterin zeigen? Der Fehler liegt nicht in der Schönheit der Geliebten; der Fehler liegt in deinem Sehen, o König. Wenn du ihr Antlitz mit meinen Augen sähest, benutztest du den Staub auf ihrer Straße als Heilmittel

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10. Der Pilger geht zum Paradies

für die Augen. Es mag sein, dass Laylās Antlitz der Welt hässlich erscheint, damit ihre Schönheit verborgen bleibt. Wenn sie nicht hässlich erschiene, o König, wären alle Geschöpfe der Welt Madschnūn. Blinde gibt es in jedem Winkel, doch müsste es jemand wie Jakob sein, der beim Geruch eines Hemdes wieder sehen konnte.16 Wenn du kannst, o Fürst der Gläubigen, gib mir das unvergängliche, weitsichtige Auge, damit ich mit diesem Auge in jedem Atom nur das Antlitz Laylās erblicke.» 10. Der Wunsch eines Weisen für sein Leben nach dem Tode Jemand fragte einen reinen Weisen, was er sich nach seinem Tod unter der Erde ersehne. Er antwortete: «Dann brauche ich eine Seele, in der Gottes Schönheit sichtbar wird. Das Auge soll von allen Seiten darauf gerichtet sein und keinen Augenblick davon abirren. So schön soll es bis zum Tage der Auferstehung bleiben, und sie soll ohne Kunde von Wasser und Feuer sein.» Wenn du einen Atemzug dieses Lebens erfährst, bist du von Kopf bis Fuß Sein Diener. Dienerschaft wird durch Selbsterkenntnis vollkommen; ein Mensch ohne Anstand ist des Herrn nicht würdig. 11. Ayāz’ altes Lammfell Der weißhäutige Ayāz hatte ein Zimmer, dessen Tür er jeden Tag öffnete. Frühmorgens betrat er das Zimmer und begab sich danach zum König. Als man das dem König berichtete, wurde er unruhig und wollte genau wissen, was sein Sklave in diesem Zimmer hatte. Also ging er hin, öffnete das Zimmer, und der stolze König sah dort ein Lammfell liegen. Er fragte Ayāz, was das bedeuten solle, worauf dieser antwortete: «O König, damit lernst du mich kennen. Am ersten Tag, an dem man diese Tür geöffnet hat, habe ich dieses Lammfell getragen. Am ersten Tag, an dem ich dein Diener wurde, hatte ich dieses alte Fell um meine Schulter. Heute, wo ich ein solch günstiges Los gefunden habe  – nicht durch mein Tun, sondern durch deine königliche Gunst –, schaue ich mir morgens erst dieses



11. Ayāz’ altes Lammfell131

Lammfell an, bevor ich den Dienst beim König antrete. Dies geschieht, damit ich meine Lage nicht vergesse und nie meinen Rang überschreite. Denn wer seine Grenzen überschreitet, den verlässt das Leben, und er watet in Blut.»

Elftes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Hölle

Der wache, die Welt erleuchtende Pilger begab sich nun, brennend wie ein Feuer, zur Hölle und sagte: «O Gefängnis derer, die den Pfad nicht kennen; Ort, an den die glücklosen Könige zurückkehren!1 Du bist das Brandmal der Seele für die Schar der Ausgestoßenen; du entzündest das Feuer in den Herzen der Gott Fernen. Du bist das Gift für das zerstampfte Kleinod des Herzens; du bist die Küche der Gewalt für die hündische Triebseele. Das Feuer deiner Liebe hat wie eine Fackel die Reihe der Narren entzündet. Auch wenn diese Fesseln um ihren Hals ­haben,2 passen sie zu dem Nacken von Liebenden. Warum hast du Kriegskleidung angelegt? Ich weiß nicht, wem du zürnst. Aus Liebe bist du so voller Feuer und wirst immer durstiger. Du schmückst die Locke der Herzbetörenden mit so viel Drehung; wie viel Glut häufst du von den Sehnsüchtigen an? Und wenn du aus Sehnsucht so sehr brennst – so wie du brennst, warum entzündest du das Feuer so sehr? Wenn du Seine Glut gekauft hast, um zu brennen – warum hast du das, was du gekauft hast, weiterverkauft? Da du so viel Feuer und Glut besitzt, richte meine Angelegenheit mit deinem Feuer!» Bei diesen Worten stürzte ein Feuer in die Hölle, als würde das Meer sich in das Zwischenreich3 ergießen, und sie sprach: «Mein eigenes Leid lässt mich brennen; durch diesen Kummer trage ich einen Feuerberg in mir. Ich habe kein Wasser mehr in der Leber,4 und in der Hölle finde ich nur den Zakkumbaum und heißes Wasser.5 Ich bin mit zwei Qualen in hundertfaches Weh gefallen; das sind Feuer und Eiseskälte. Mensch und Stein sind mein Brennstoff,6 doch ich selbst brenne vor Angst. Ich fürchte mich weder vor den Herrschenden noch den Besitzenden; ich fürchte mich vor ‹Alles vergeht›.7 Wenn einem Lieben-



1. Das Gleichnis vom Mistkäfer133

den ein Seufzer aus dem Herzen quillt, brenne ich sofort bis tief in mein Inneres. Mein Herz ist aus eigener Furcht schutzlos; ich spreche immerzu: ‹O du, der du gläubig bist, geh hinüber!›8 Diese Einsicht ist wie eine Kerze, o Mann des Geheimnisses; wie kannst du im Feuer etwas finden? Geh fort, denn dies ist nicht dein Ort; das Feuer der Hölle bringt dich nicht weiter.» Der Pilger ging, wahrhaft voller Feuer, zu dem herzerleuchtenden Meister und erzählte ihm diese Angelegenheit. Der Meister sprach zu ihm: «Die Hölle gehört zweifellos zu dieser Welt, wenn auch nur ein wenig. Die Geschöpfe verbrennen ganz und gar in ihr, doch niemand hat durch sie Angst vor dem Verderben. Bald gibt es Krankheiten aller Art in ihr; bald erscheint der Tod als einziges Heilmittel. Mal ist es unerträglich kalt; mal herrscht fiebrige Hitze. Sie jammern so sehr aus Liebe zur Welt – doch was ist die Welt? Das Haus des Unbehausten. Kummer um die Welt ist nur Verlust des Glaubens; sie aufzugeben bedeutet, Ihn zu erwerben. Wer an der Welt hängt, und sei er auch Dschunaid, wird nur eine tote Maus fangen. Solange du ein hochmütiger Falke an dieser Schwelle bist, hast du aus Nachlässigkeit keine offene Hand. Alles, was dich zur Erde ­herabzieht, gehört zu dieser Welt und ist kein reiner Glaube.» 1. Das Gleichnis vom Mistkäfer Einer, im Glauben rein, erzählte dieses schöne Gleichnis: «Wer nach Weltlichem strebt, ist wie ein Mistkäfer: Er sammelt ständig Schmutz und rollt ihn zu einer festen Kugel zusammen. Dem gilt seine ganze Sorge; mit hundert Seelen hängt er an dem Dung. Bald rollt er viel, bald wenig zusammen und bringt es zu seinem Bau. Doch diese Habseligkeiten sind, wenn jemand sie sieht, viel größer als der Eingang zu seinem Bau. Und da sie nicht durch die Öffnung passen, lässt er sie schließlich an deren Rand liegen und schlüpft, nachdem er sich so heftig angestrengt hat, allein durch diese Öffnung. Was er so mühevoll zusammengerollt hat, lässt er alles im Staub des Weges liegen.» Das ist ein Gleichnis für den Menschen und seinen Besitz; es erhellt seinen Zustand auf dieser Welt. Wer sein ganzes Leben

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11. Der Pilger geht zur Hölle

um Gold und Silber kämpft, lässt alles in seinem engen Grab zurück. Du bist unentschlossener als ein Mistkäfer, strebst nach Ruhm und wirst zur Schande der Welt. Du lässt dich von der niederen Welt verführen, die doch kein bisschen Treue besitzt. Du gibst dich ihr mit Haut und Haar hin; mit welcher Gewähr verlässt du dich auf sie? Sie hat alle hervorgebracht und ernährt; dann zieht sie sie unter die Erde und trinkt ihr Blut. Und weil sie auch dein Blut trinken will, o Freund, trink nur wenig vom Blut der Welt! Binde dein Herz nicht an diese Dämonenhöhle; weine viel und lache nicht wie die Müßiggänger. Wie lange willst du dich selbst quälen? Wie lange willst du nach Ruhm streben? Du hast dein reines Herz und deine geliebte Seele in die Fesseln eines winzigen Stäubchens gelegt. Wenn du am Tag der Auferstehung deine Seele befreist, wirst du ange­ rufen werden: «O Soundso, deine Seele ist frei; steh auf!» Wenn du in beiden Welten kein Gerstenkorn besitzt, kann man dich mit Recht einen König nennen. Wenn du dich nicht einmal an ein Gerstenkorn bindest, kann man dich einen vollkommenen König nennen. Solange du an etwas hängst, bist du dessen Sklave dein Leben lang. Entsage der Welt, damit du ein Herrscher wirst! Wenn nicht, bist du im Handumdrehen ver­loren. 2. Der Narr als König der Welt Zur Zeit der Ghozz9 waren die Menschen mit ihren Kräften am Ende, alle hatten jede Hoffnung verloren. Jeder versteckte sein Hab und Gut; es fehlte an Führern. Eines Tages stieg ein Narr auf ein Dach; er hatte einen Stofffetzen an einen Holzstab gebunden. Er ließ den Stock über seinem Kopf kreisen und rief, ohne von jemandem Notiz zu nehmen: «O Verrücktheit, an so einem Tag habe ich dich für mich allein.» An dem Tag, an dem die Seele von Furcht ergriffen wird, ist der Narr der König der Welt. Weißt du nicht, dass der Straßenräuber vor einem nackten Mann flieht wie die Gazelle vor einem­Hund? Solange du an Hab und Gut hängst, ist deine



3. Die Ökonomie des Totengebets135

Seele gefesselt; doch wenn du besitzlos bist, gehört dir alles. Sage dich auf einen Schlag von deinen Besitztümern los, damit du diesem Elend entkommst. 3. Die Ökonomie des Totengebets Ein Narr ging auf den Friedhof; vor ihm her trug man zehn Leichen. Während man über einen Toten das Totengebet ­ sprach, brachte man schon einen weiteren Leichnam. Und immer wieder wurde ein neuer Toter herangetragen; der wurde begraben und der nächste schon gebracht. Der Narr sagte: «Warum muss man so viel für einen Toten beten. Das dauert lange. Warum für jeden Einzelnen beten? Man könnte doch für alle zusammen beten! Für alles, was in beiden Welten außerhalb Gottes ist, ziemt es sich zu beten.» Man kann nicht bei jedem Toten sitzen; so lass alles hinter dir, was existiert! Sonst lässt dich die Welt rasch vergehen und lässt dich mehr als hundertfach sterben. Wenn du auch noch so viel auf dieser Welt besitzt – wenn du es verlierst, bleibt nur ein Kadaver. 4. Der Leichnam «Welt» Ein Mann aus dem Volke beeilte sich, rechtzeitig zum Totengebet zu kommen. Als ein Narr sah, wie er sich hetzte, sagte er: «Etwas wird unterwegs kalt. Beeil dich, damit du dort ankommst!» Du bist begierig auf den Leichnam Welt; wenn du von weitem einen Toten siehst, läufst du los. Du verschlingst den Leichnam Welt Monat um Jahr; das geschieht aus Hunger und ist für die Toten gesetzlich erlaubt. Bis ein Weiser irgendwann auftaucht, essen die Dummköpfe eine ganze Welt auf. Bis ein weises Wort eines Loqmān auf­ genommen wird, werden hundert Leben durch die Heimtücke eines Verräters gemeuchelt. Die Menschen der Welt sind tollwütig wie Hunde; sie beißen sich, weil sie Fremde sind. Sie verzehren aus Dummheit einen Leichnam mit Genuss, und dann bedecken sie ihn mit einem Leichentuch.

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11. Der Pilger geht zur Hölle

5. Der Narr und das Leichentuch Ein Narr ging liebestrunken des Weges, als gerade ein Toter ­begraben wurde. Von weitem sah er das baumwollene Leichentuch und sagte: «Ich bin von Kopf bis Fuß nackt; ich nehme mir das baumwollene Leichentuch dieses Toten und mache mir daraus ein Hemd.» Dies hörte jemand und sagte: «Du Unglückseliger, seit wann ist so etwas für einen Muslim erlaubt?» Da erwiderte der Narr: «Wie seltsam! Ich sehe euch Tag und Nacht in Verirrung die Toten mit dem Leichentuch bedecken. Warum wäre das Tuch an mir fehl am Platze?» Sammle den Staub der Welt und streue ihn gleich einem Sieb über das Haupt der Welt derjenigen, die verachtet sind! Wenn du die Geheimnisse des Glaubens besitzt, dann sprich! Sprich davon, diese Welt der Leichen zu verlassen! Denn für jedes Stück Brot, das man dir schenkt, wird dich hundertfaches Leid heimsuchen. Jeden Augenblick, in dem du einen Nachteil erfährst, geschieht dies, damit du eines Tages Nutzen daraus ziehst. 6. Salomo und das Vögelchen Ein kleiner Vogel sang, hüpfte auf und nieder und setzte sich schließlich, den Kopf wiegend, auf einen Ast. Als Salomo den Ruf des kleinen Vogels hörte, fragte er: «Wisst ihr, was mit ihm los ist? Er beklagt sich auf seinem Ast über die Welt und jammert: ‹Wie viel Scherereien noch? Von dieser bösen Welt habe ich heute nur eine halbe Dattel bekommen. Staub auf die Welt, die meinesgleichen nur eine halbe Dattel gibt!›» Wenn dir von der Welt eine halbe Dattel genügt, wäre es schändlich, das Reich der Herrschaft anzustreben. Wer vom Haus der Welt frei geworden ist, wird vollständig Licht, auch wenn er Staub geworden ist. Wer sich um die niedrige Welt nicht kümmert, wird mit seiner Aufrichtigkeit wie der Morgen die Welt erhellen.



7. Scheich Abū Saʿīd und der Alte im Dampfbad137

7. Scheich Abū Saʿīd und der Alte im Dampfbad Abū Saʿīd, der hochverehrte Scheich, hielt sich zusammen mit einem alten Mann im Dampfbad auf. Es war ein sehr angenehmes und ausgeglichenes Bad, denn Wasser und Feuer waren gut aufeinander abgestimmt. Da sagte der Alte: «O Scheich, ist das nicht ein angenehmes Bad, welches das Herz entzückt?» Der Scheich antwortete ihm: «Weißt du, warum es so angenehm ist?» Der Alte erwiderte: «Doch, und ich werde es dir aufrichtig sagen: Weil ein Scheich wie du in diesem Bad ist, ist es so angenehm.» Der Scheich sagte zu ihm: «Ich hätte eine bessere Erklärung erwartet; warum hast du mich ins Spiel gebracht?» Der Alte entgegnete: «Dann gib du die Antwort, o Scheich, denn was du sagst, ist wahr.» Darauf sprach Abū Saʿīd: «Dieses Bad ist so über alle Maßen angenehm, weil von den Dingen auf dieser ganzen niederen Welt nur ein Besen und ein Eimer bei dir sind, und diese gehören nicht einmal dir.» 8. Hārūn und Bohlūl: Der Meilenstein Unterwegs in der Mittagshitze sah Hārūn am Rand des Weges einen Meilenstein. Als Hārūn in dessen Schatten Schutz suchen wollte, tauchte Bohlūl aus einer anderen Richtung auf und sagte: «Gib deinen ganzen Pomp auf, du Gieriger, genügt dir doch jetzt von der Welt der Schatten eines Meilensteins. Was trachtest du nach Gärten, Aussichtspunkten, Palästen und Pferdeherden, wenn der Schatten eines Meilensteins genügt?» Wenn sich alles durch einen Schatten vollendet, wird das Viel zum Wenig. Weil die diesseitige Welt wie ein Krokodil den Kopf hebt und das Gute wie Schlechte auf der Welt verschlingt, bindet sie allen die Hände bis zur Auferstehung; niemand entkommt der Schlinge ihrer List. Alle Helden liegen in ihren Ketten­und sind ihrem Befehl unterworfen. Wenn du aus Unvernunft ein Freund dieser Welt bist, bestehst du wie eine Zwiebel ganz und gar nur aus Schalen.

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11. Der Pilger geht zur Hölle

9. Der Wissenschaftler und der Prophet In alter Zeit lebte einmal ein Meister, der wissenschaftliche Bücher aus vierhundert Bücherkisten auswendig kannte. Studium und Gottesverehrung waren seine einzigen Beschäftigungen; keine Stunde lang ließ er davon ab. In seiner Zeit lebte auch ein Prophet, der in seiner Seele der Offenbarung Gottes eine Tür geöffnet hatte. Er sagte: «O Ungeduldiger, wenn du auch Tag und Nacht mit Studium und Arbeit beschäftigt bist, wird Gott von dir, weil du die Welt liebst, doch nichts annehmen. Wozu also dieser Hochmut? Wenn du dein Herz nicht von dieser Welt abwendest, wird dein Platz in der glühenden Hölle sein.» Hundert Welten voller Wissen und Bedeutung erzeugt die Hölle gemeinsam mit dem Diesseits. Solange du auch nur ein Atom dieser Welt liebst, steckst du mit dem Körper der Hölle unter einer Decke. Warum läufst du kopfüber in dein Unheil? Warum nimmst du unseren Feind zum Freund? Wie lange noch willst du dich mit dieser irdischen Herberge brüsten wie mit ­einer Leiche und hunderttausend Geiern? Die Welt ist ein stinkendes, buckliges altes Weib, das jeden Tag hunderttausend Gatten tötet. In jedem Augenblick legt sie neue Schminke auf, und mit jedem Atemzug ist sie auf hundert Gatten aus. Niemand kennt ihren Talisman; mitten im Staub hat sie so viel Blut versteckt. 10. Das listige Tier Būqalamūn Im Meer gibt es ein wildes Tier namens Būqalamūn, das sieben geschmeidige Glieder hat. Die Geschmeidigkeit seiner Glieder geht so weit, dass es jede gewünschte Gestalt annehmen kann. Jederzeit nimmt es eine andere schöne Gestalt an und passt es sich dem an, was immer es sieht. Wenn ein anderes Meerestier erscheint, nimmt es in einem Winkel dessen Form an. Weil die anderen es von weitem als seinesgleichen ansehen, erschrecken sie nicht vor dem vermeintlichen Artgenossen. Dann kommt Būqalamūn gewiss aus seiner Ecke hervor und nimmt die anderen als Wegzehrung. Wie bei einem Talisman ist sein



11. Jesus und der Schläfer139

wahres Wesen nicht offensichtlich, und mit dieser List macht es dauernd­ Beute. Wenn dein Herz die Bedeutung verstanden hat, dann besteht deine Glaubensaufgabe darin, die Welt aufzugeben. 11. Jesus und der Schläfer Jesus, Marias Sohn, ging einmal in eine Höhle und sah dort einen schlafenden Mann liegen. Er sagte: «Steh auf, Unwissender, und verdiene dir deinen Lebensunterhalt!» Der Mann antwortete: «Ich habe das Werk beider Welten getan und dieses Reich für immer aufgegeben.» Jesus sagte: «Was war das denn für ein Werk, o Mann des Pfades?» Er antwortete: «Die Welt wurde für mich wie ein Strohhalm. Ich gebe die ganze Welt für ein Brot auf, das ich dann einem Hund wie einen Knochen gebe. Es ist schon lange her, dass ich mich von der Welt gelöst habe. Ich bin kein spielendes Kind mehr. Ich bin erwachsen. Erwachsen nun – was habe ich mit Spiel und Zeitvertreib10 noch zu schaffen? Ich bin frei – was habe ich mit Nachlässigkeit zu tun?» Als Jesus, Marias Sohn, diese Rede hörte, sagte er: «Dann tue jetzt, was immer du willst. Da du von der Welt frei bist, schlafe unbeschwert; mögest du einen guten und ange­ nehmen Schlaf haben!» Wenn du dich nicht mehr um die Welt kümmerst, hast du ein für allemal alles erledigt.

Zwölftes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Himmel

Mit blutvergießenden Augen fiel der Wanderer gleich der Erde vor dem Himmel nieder und fragte ihn: «O Herrscher über die Welt, du bist ganz und gar Gewölbe und Kuppel. Alles verliert sich in dir; du stehst über allem. Alle sind nur Tropfen, aber du bist der Ozean für alle. Du bist von starkem Herzen und starker Bewegung; für die Geschöpfe der Welt bist du ein Wohl­täter. Niemand hat so weit geöffnete Augen wie du; wer könnte sich so wie du hin und her drehen? Du drehst dich mit tausenden Augen; so kannst du gewiss alles sehen  – doch wozu dient dieses ganze Drehen? Wofür ist dieses dauernde Kommen und Gehen bestimmt? Wie lange wirst du, o Firmament, wandern? Wie lange drehst du dich über dem Horizont? Auch wenn du dich ununterbrochen drehst, wirst du deiner Reise doch nicht müde. Auch wenn du noch so oft aufund absteigst, so erschöpft dich nichts. Jede Nacht wirst du wie Krähenflügel, und die Sterne werden dir zu vielen Fackeln. Erkläre mir, was du suchst; nimm mich an der Hand, begleite mich! Ich bin so wie du immer unterwegs; verstehe mich und lüfte das Geheimnis!» Als der Himmel das hörte, sagte er: «O Ungeduldiger! Mit all dem habe ich nichts zu schaffen. Du glaubst, ich hätte einen Duft davon erhascht, doch nein, mir bleibt alles verborgen. Die Sehnsucht danach hat mich kopf- und fußlos gemacht; keine Stunde finde ich irgendwo Ruhe. Am Tage schwimme ich schuldlos im blauen Rauch, die ganze Nacht im schwarzen Wasser. Durch die Gottsuche drehe ich mich ständig im Blute; wenn du es nicht siehst, dann schau auf das Morgenrot – und Schluss! Tag und Nacht dreht sich mein Kopf wie ein Ring; wann aber klopft das Innere des Herzens an meine Tür? Ich bin



1. Der zerbrochene Mühlstein141

wie ein Ball vor dem Poloschläger; wie lange werde ich noch so umherirren? Ich bin ein Ring ohne Fuß und Kopf, und deshalb bin ich wie ein Ring an meiner Tür. Jeden Augenblick treibt mich die Hand des Schicksals an; sie packt mich am Ohr und dreht mich immer weiter. Der nächtliche Himmel voller Sterne ist kein Himmel, sondern nichts als eine Aschenschale. Wenn Er mich in ein Gewand aus Teer kleidet, schüttet Er mir die Aschenschale über den Kopf. Bis wann werde ich wie die ruhelosen Sufis in dieser Arena kreisen? Bis wann werde ich im Glauben umherirren? Wann soll ich mich bereithalten? Jahrhunderte bin ich von oben bis unten umhergeirrt, doch bin ich nicht weitergekommen. Wenn du dich noch lange bei mir aufhältst, o Pilger  – ich bin auf diesem Weg noch verwirrter als du!» Der Pilger machte sich zu dem Meister auf und erzählte, was ihm geschehen war. Darauf sagte der Meister zu ihm: «Der Himmel dreht sich ohne Unterbrechung; vom Morgenrot ist er in sein Herzblut getränkt.» 1. Der zerbrochene Mühlstein Ein Scheich brachte mit seinen Jüngern von einem langen Weg einen Mühlstein mit. Zufällig zerbrach der schwere Stein, und der Scheich geriet darüber in mystische Ekstase. Alle seine ­Begleiter sagten: «Wie seltsam! Tag und Nacht haben wir uns gequält, doch unser Geld und unsere Mühe waren umsonst, und die Mühle ist auch dahin. Was ist mit dir? Sag es uns! Wir können es nicht verstehen  – sag es uns!» Der Scheich sagte: «Der Stein hier ist zerbrochen, um vom vielen Drehen befreit zu werden. Wäre er nicht zerbrochen, müsste er sich gewiss Tag und Nacht drehen. Als er zerbrach, wurde ihm klar, dass der Ruhelose für immer Ruhe gefunden hatte. Als mir der ­Zustand des Steines bewusst wurde, verwandelte sich mein steinernes Herz augenblicklich in Wachs. Als ich sein Geheimnis mit dem Ohr des Herzens hörte, überkam mich diese Ek­st­ase.» Derjenige, dessen Kopf sich ständig dreht, wird befreit, wenn

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12. Der Pilger geht zum Himmel

er zerbricht. Wer sich weiterdreht und verwirrt bleibt, dessen Schmerz wird auf ewig ohne Heilung bleiben. Er ist in all seinem weltlichen Tun ohne Hoffnung und trinkt auf ewig sein ­eigenes Blut. 2. Der Narr und der Gottsucher Ein reiner Mann sah einen Narren, der ihm verwirrt und verstört wie ein Betrunkener schien, im Blut auf der Erde liegen und fragte ihn: «O du ehrloser und zielloser Narr, was tust du hier Tag und Nacht?» Da antwortete der Narr: «Tag und Nacht suche ich Gott.» Darauf sprach der Mann zu ihm: «Auch ich bin auf dieser Suche.» Nun sagte der verrückte Mann: «Dann setze auch du dich wie ich fünfzig Jahre lang ganz in Blut. Trinke den Kelch voll Blut leer, mein Lieber, und dann gib mir auch einen! Solange jenes Meer nicht erreicht ist, ist unser Tun vergebens.» Da es unmöglich ist, diesen Knoten zu lösen, hat es weder Sinn zu sterben noch geboren zu werden. So viel weiß ich, dass ich trotz allen Drehens und Wendens nichts weiß, nichts weiß! 3. Ein Narr sehnt sich nach der Derwischkutte Ein Narr jammerte: «Von der ganzen Welt liegt mir dies am Herzen, dass ich mich nämlich auf einen Aschekasten setze, mir mit beiden Händen Asche aufs Haupt streue, die Derwischkutte überziehe und mich mit einem Seil gürte, ständig Klagetränen weine und immerzu ‹Was soll ich tun, was soll ich tun?› sage. Und wenn ein Neugieriger zu mir käme und mich fragte: ‹Was ist mit dir los, sprich?›, würde ich antworten: ‹O Ehr­würdiger, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht – und Schluss!» «Was soll ich tun, was soll ich tun?», ist immer unsere Frage. «Ich weiß nicht, ich weiß nicht», ist unsere Rede. Wenn sie dich einmal in diese Arena gezogen haben, erstrahlt dir eine er­ staunliche Welt. Und wenn sich dir der Vorhang nicht öffnet,



4. Rede eines Vollkommenen über Askese143

wird dir auch das alles wie ein Märchen vorkommen. Ob du nun wissend oder unwissend bist – am Ende dreht sich dir der Kopf. 4. Rede eines Vollkommenen über Askese Ein Vollkommener sagte über die Meister des Pfades: «Wer beabsichtigt, die Wallfahrt zu machen, muss sich von Haus und Besitz verabschieden und sich von Garten und Arbeit ent­ fernen. Er muss sich mit seinem Gegner versöhnen und Entschädigung leisten, wenn er Schaden angerichtet hast. Dann geht er immer, Tag und Nacht, seinen Weg, bis er den heiligen Bezirk des verehrten Hauses1 erreicht. Wenn du schließlich angekommen bist und die Kaaba gesehen hast – was ist dann? Es gibt für dich keinen Tag und keine Nacht mehr. Du beschäftigst dich nur noch mit der Umkreisung der Kaaba; dir bleibt immer nur die Kopfdrehung, damit du erkennst, dass es am Ende jedes Tuns niemanden gibt, der nicht kopfverwirrt ist. Wenn du am Ende in Blut getränkt bist, bist du umgestülpt wie das Himmelsgewölbe. Was du suchst, findest du nicht, und doch kannst du keinen Augenblick von der Suche ablassen.» 5. Der Specht, der unsterblich in Salomo verliebt war Es gibt einen Vogel, der unruhig ist wie Feuer; Tag und Nacht umkreist er das Geäst. Er klopft mit seinem Schnabel auf den Ast des Baumes, ob dieser nun weich oder hart ist. Solch ein Specht war seit langem leidenschaftlich und rettungslos in Salomo verliebt. Jeden Augenblick wurde er aufs Neue unruhig; mit jedem Atemzug wuchs seine Ungeduld. Frühmorgens begab er sich in Salomos Nähe und beobachtete ihn verstohlen. Seine Flügel und Federn brannten aus Liebe zu ihm, aber er heftete sie geschickt wieder zusammen. Eines Tages rief Salomo den Specht an seinen Hof, und dieser Ruf machte ihn noch verliebter. Der König sagte: «Ich weiß, dass du in mich verliebt bist, aber wie könnte jemand wie du meiner Liebe würdig sein? Wenn es eines Zeichens für meine Verbindung mit dir bedarf,

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12. Der Pilger geht zum Himmel

so dass durch die Verbindung mit mir deine Augen erstrahlen, dann erfülle mir einen Wunsch; dann bist du mein und ich dein bis in alle Ewigkeit. Wenn nicht, bist du nicht mein und ich nicht dein.» Er fuhr fort: «Ich will, dass du mir ein Stück Holz suchst, das weder trocken noch feucht, weder krumm noch gerade ist.» Tag und Nacht umkreiste der verliebte Specht rastlos und wie trunken das Geäst. Er klopfte mit seinem Schnabel auf die Äste und suchte – wie seltsam – nach einem solchen Holz, doch selbst wenn auf der Welt Jahrtausende vergingen  – wo hätte er ein solches Stück Holz finden sollen? Alle Geschöpfe dieser Welt suchen überall solch ein Stück Holz. Doch von einem solchen Holz gab es niemals eine Spur; kein Holz dieser Welt besitzt diese Eigenschaften. Wirf diese Suche in das Wasser des Meeres, denn du wirst ein solches Holz niemals finden. Es muss dir genügen, den Namen dieses Holzes zu kennen; ein Atom der Botschaft muss dir genügen. Denn Ihn zu erreichen, ist unmöglich; was könnte bis in die Ewigkeit irgendjemandem außer Seinem Namen nützen? 6. Der zerrissene Hirsesack Ein König hatte eine entzückende Tochter, deren Schönheit beide Welten nicht aufwiegen konnten. Jede ihrer Locken hatte ein Opfer gefordert; auch die Stolzesten konnten ihnen nicht widerstehen. Einer ihrer glühenden Verehrer verspürte den Aufruhr im Meer seiner Seele, die von Unruhe erfasst wurde, und zog sich von den Menschen zurück. Als seine Widerstandskraft schließlich zu Ende ging, begab er sich zu dieser mondgleichen Schönheit. Er suchte eine Gelegenheit, um seiner Geliebten ein wenig von der Liebe seiner Seele zu eröffnen, und sagte: «Wenn die Vereinigung mit dir nicht mein Lebenszweck wäre, wüsste ich nicht, wie ich weiterleben sollte.» Darauf antwortete die Prinzessin: «Wenn du willst, dass dir eine Tür zu unserer Vereinigung geöffnet wird, dann höre: Ich hatte einen Sack voller Hirsekörner, der aus Versehen unterwegs plötzlich zerriss. Nimm eine Nadel und lies jedes einzelne Korn mit ihrer Spitze von der Erde auf. Wenn du den Sack auf diese Weise



7. Der Sufi und der Würdenträger145

wieder mit Hirse gefüllt hast, kannst du mich in die Arme nehmen.» Kein Wunder, dass der verliebte Mann jahrelang mit der Nadel kein einziges Korn auflesen konnte! Es gelang ihm nicht, den Sack mit Korn zu füllen; die Prinzessin hatte ihn mit dieser unmöglichen Aufgabe in den Sack gesteckt! Wie seltsam, dass dieser Mann mit einer Nadel in der Hand sein Leben hingeben wollte, aber es ist nun einmal so. 7. Der Sufi und der Würdenträger Ein Würdenträger fragte einen Sufi: «Du, der du die Welt durchstreift hast, was hast du gefunden?» Der Sufi antwortete: «O Bruder, dreißig Jahre lang habe ich mich abgemüht und weder ein Körnchen Gold gesehen noch gefunden. Doch wie seltsam, jetzt habe ich mich niedergelassen und hoffe, dass mir hundert Goldschätze in den Schoß fallen.» Wer in seinem Leben nicht einmal ein Körnchen gefunden hat, kann auch keinen Schatz gefunden haben. Wenn es dir nicht gegeben ist, im Traum ein Goldkörnchen zu finden, wie willst du dann einen Perlenschatz finden? Wer keinen Zugang zum Dorf hat und trotzdem den Dorfvorsteher sucht, ist ein Dummkopf.2 Wenn dir jede Nacht zum Tag werden soll, dann brauchst du den Schmerz, der das Heilmittel verbrennt. In meiner Seele habe ich den Liebesschmerz, und, o Wunder, dieser Schmerz selbst ist meine Heilung! Nie finde ich, was ich suche, und doch kann ich nicht von dieser Suche lassen. Inmitten von all dem bin ich hilflos; solange ich lebe, ist meine Seele hilflos. Obwohl das Meer der Liebe uferlos ist, wächst der Durst ins Tausendfache. 8. Isaak und sein Sklave Isaak, der Günstling Gottes, hatte in seinem Haus beständig e­ inen Sklaven in Diensten. Jeden Tag holte dieser Diener immer noch vor Sonnenaufgang bis zum Abend Wasser aus dem Tigris. Da weder Durst noch Wasser abnahmen, hatte der Sklave keinen Augenblick Ruhe. Eines Tages sah sein Herr, wie un­

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12. Der Pilger geht zum Himmel

ruhig er war und sich, in seine Arbeit vertieft, von den Menschen fernhielt. Isaak fragte: «Wie geht es dir, mein Diener?» Dieser antwortete: «Ich stehe ständig einer schwierigen Aufgabe gegenüber, bin zwischen zwei Übeln gefangen und vollständig verwirrt. Auf der einen Seite das unerschöpfliche Wasser, auf der anderen Seite der unstillbare Durst. Den Tigris zu leeren ist unmöglich, und dem Durstigen wird auch keine dauerhafte Sättigung zuteil. So laufe ich hilflos zwischen dem ­Tigris und dem Durstigen hin und her.» Ich schwebe zwischen dem Glauben und der Welt, zwischen dem Geist und den Streitereien. Vom Glauben habe ich keine Ahnung, und die Welt hat für mich keine geordnete Form. Ich bin weder das Eine noch das Andere; ich bin vom Weg abgekommen. Der Esel trägt eine schwere kostbare Last auf einem langen Weg. 9. Der Hund, das Brot und der Mond Ein Hund entdeckte auf dem Weg ein Stück Brot, und oben sah er plötzlich den Mond. Der Hund ließ das Brot auf dem Boden liegen, um den Mond mit Gebell vom Himmel zu holen. Doch so viel er auch rannte, er konnte ihn nicht schnappen; schließlich drehte er sich um und lief zum Weg zurück. Er suchte lange nach dem Brot und fand es nicht. Dann lief er wieder zurück, um den Mond zu fangen. Doch er bekam weder das Brot noch den Mond, so viel er auch den Weg hin- und herlief. Verwirrt blieb er mitten auf dem Weg stehen; das eine wie das andere war verloren. Wenn du keinen solchen Schmerz im Herzen fühlst, wird dir das Leben niemals eine Ernte einbringen. Du brauchst diesen Schmerz in jedem Augenblick, ob es wenig sei oder eine ganze Welt. Vielleicht bringt dieser Schmerz dich ja voran  – von ­deinem Selbstsein zur Entwerdung.



10. Der Schmerz des Tuns147

10. Der Schmerz des Tuns Einem, der auf der Suche nach dem Geheimnis war, sagte der redliche Uwaīs al-Qaranī3 einmal: «Wisse, dass du dich, solange du lebst, immer auf der Straße der Furcht befinden wirst, so dass alle Menschen auf der Welt es deutlich sehen und sagen­: ‹Der Schmerz deines Tuns hat dich getötet.›» Wenn du keinen solchen Schmerz verspürtest, wäre es eine Schande, dich einen Mann zu nennen. 11. Der Schmerz, gegen den Meditation und Wirbeltanz nichts ausrichten Ein Sucher, der den Weg zur Vollkommenheit suchte, fragte Scheich Gorgānī4 einmal: «Warum gefällt dir der Samāʿ5 nicht?» Er antwortete: «Ich habe mit dem Samāʿ aufgehört, weil ich in meinem Herzen eine solche Klage trage, dass, drängte sie vom Herzen nach außen, alle Atome vom Gottesthron bis zur reinen Erde fortwährend klagen würden: ‹O Verderben!› Wenn ein solcher Schmerz dann offenkundig würde, müsste man bis in alle Ewigkeit Totenklagen halten. Wie könnten mir mit einem solchen Schmerz wie dem in meiner Seele Samāʿ oder Wirbeltanz ein Heilmittel sein? Und wenn ich euch heute nichts über den Schmerz sagen kann, euch nichts über diesen Kummer und diese Glut sagen kann, schweige ich, bis der Tod kommt, der mir den Weg zu dem Tage weist, der keine Nacht mehr kennt.» 12. Abū ʿAlī Tūsī und der vollkommene Tag Abū ʿAlī Tūsī war vor Liebe ganz verwirrt; seine Worte flossen wie Goldwasser. Als schließlich der Tag fast vorbei war, sagte er: «Schade, dass ich die Rede abbrechen muss! Wie könnte ein Tag, auf den die Nacht folgt, jemals solcher Worte würdig sein? Man muss warten, bis der vollkommene Tag kommt, auf den keine Nacht mehr folgt.»

Dreizehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Sonne

Der verwirrte Pilger ging wie ein Trunkener mit leuchtendem Herzen zur Sonne und sagte: «O Herrscherin, die du die Welt durchmisst, du hast viele Schicksale auf der Welt gesehen. Deine Fülle und dein Glanz sind unübertrefflich; du bist die goldene Scheibe am vierten Himmel.1 Du wärmst das Innere ­aller Atome; du lehrst die kleinsten Teilchen die Liebe. Wärest du nicht die Herrscherin, wie könntest du das Banner heben? Wie könntest du morgens die goldene Pauke schlagen? Deine Strahlen dringen in jede Pore ein, Atom für Atom siehst du ganz klar. Du bist tatsächlich das Auge und die Lampe der Welt; du bist mit dem Diesseits und dem Jenseits vertraut. Bald machst du aus Großzügigkeit einen Stein zum Juwel, bald ohne Alchemie aus Kupfer Gold. Du hältst den Rachsch2 des Himmelsgewölbes immer zwischen deinen Schenkeln; dein Reich sind immer beide Welten. Aus Rohem machst du Gares; Schmuck und Zierde berühmter Menschen kommen von dir. Ich habe mich von meinem Ziel entfernt; hundert Heimsuchungen haben mich zugrunde gerichtet. Wenn du mir einen Hinweis auf d ­ ieses Ziel geben könntest, würdest du einen Toten glauben machen, dass er lebte.» Als die Sonne diese Geschichte hörte, liefen ihr Plejaden ­heißer Tränen über das Gesicht. Sie sagte: «Ich bin genauso bekümmert wie du; andauernd bin ich so verwirrt wie du. Mein Gesicht ist gelb von diesem Kummer und mein Kleid blau; einsam steige ich auf und nieder. Tag und Nacht bin ich in Liebe entbrannt; Jahre und Monate verzehre ich mich vor Sehnsucht. Ich kann oben und unten nicht mehr unterscheiden; jede Stunde irre ich von einem Ort zum anderen. Dieser Kummer hat mich zu einer Quelle ohne Wasser gemacht; er versetzt mich dauernd



1. Der König als Mundschenk seines Sklaven149

in einen fiebrigen Zustand. Bald werfe ich den Schild der Wolken auf das Wasser; bald ergreife ich das Schwert, um mich zu töten. Bald falle ich vor Schmerz auf die Erde; bald kleide ich mich in Rot und bald in Gelb. Ich bringe hunderttausend Farben­hervor, um vielleicht Seinen Duft zu verspüren. Ohne oben und unten rolle ich wie ein Ball, doch Farben und Düfte helfen mir nicht. Ich, die ich doch ganz Auge bin und mich immer drehe – ich will ungläubig sein, wenn ich nur einen Hauch davon erfasst hätte. Jeden Abend lege ich die Scheibe in Seiner Straße ab, damit Er vielleicht etwas auf sie lege. Ich bin noch verwirrter als du. Gehe fort! Ich kann dir diese Tür nicht ­öffnen.» Darauf wandte sich der Pilger an den hellsichtigen Meister und enthüllte ihm sogleich seinen Zustand. Der Meister sprach: «Die Sonne ist ihrem Wesen nach der Sitz des hohen Strebens und der Erkenntnis. Wer dieses hohe Streben besitzt, der ist ein Mann. Er ist in seiner Höhe der Sonne gleich. Wenn dein hohes Streben so wertvoll ist wie eine Perle, brauchst du kein Gold mehr. Aber wenn du dich für jede Kleinigkeit bückst, wie kannst du aus dem Pokal des Königs trinken?» 1. Der König als Mundschenk seines Sklaven Ein König kaufte eines Tages einen Sklaven, vor dessen Reittier die Sonne einherlief; an Schönheit konnte sich niemand mit ihm messen. Die Zypresse beneidete ihn um seine hohe Gestalt. Da er durch seine hohe Gestalt der Lehrer der Zypresse war, wurde sie sein freier Sklave.3 Vor seinem Antlitz floh sogar der Mond, und der Zucker kehrte angesichts seiner Lippen in das Rohr zurück. Er war die Sonne von Kopf bis Fuß, doch hat niemand je die Sonne unter einer Tunika gesehen. Wenn er sprach, kamen Perlen aus seinem Mund, und wenn er lachte, verstreute er Zucker. Zehntausende waren in seinem Stadtviertel in ihn verliebt, weil sein Gesicht so schön war, dass dies selbstverständlich ist. Aus dem Ungläubigen seines Haares entstand Glaube, und seine Schlinge bestand aus hundert Locken. Seine Augen hatten Mandeln mit zwei Kernen, nämlich betörender

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13. Der Pilger geht zur Sonne

Unglaube und Magie. Wenn in der Muschel seines Mundes die Perlen des Paradieses sichtbar wurden, brachen dem Verstand die Zähne im Mund. Wenn er lachend die Schatulle der Rubine seines Mundes öffnete, wurde jemand, der hundert Jahre lang tot war, wieder lebendig. Wenn ich über seinen schmalen Mund sprechen soll, fehlen mir die Worte. Das Antlitz der Sonne wurde aus Scham vor ihm gelb, und der Morgen bekam aus Sehnsucht nach ihm einen kalten Atem. Es war die schöne Zeit der Frühlingstage, und die Schönen der Wiese hielten Audienz. Bunt war überall die Steppe, alles war grün, und die Welt erschien klein. Die verliebte Nachtigall war sehr fröhlich und sang für die Rose in der Tonart rāh-e chār-kasch.4 Die zarte Rose hatte ein Lachen auf den Lippen, und die Veilchen standen Kopf an Kopf. Der Jasmin streckte eine Zunge aus seinem schmalen Mund, und die Narzisse, eine goldene Schale auf dem Scheitel, schaute mit offenen Augen auf den Garten. Qārūns5 Schatz tauchte aus der Erde auf, und das Wasser des Lebens sprudelte aus dem Grün. Ich weiß nicht, wie man in so einer schönen Zeit die Gelegenheit nicht nutzen sollte. Eines Tages beschloss der König, für dieses schöne Antlitz ein fröhliches Freudenfest zu veranstalten. Als man im Garten das Fest vorbereitete, ließ man den hellhäutigen Sklaven rufen. Beim Festmahl wollte der ruhmreiche König, dass sich der Sklave etwas dreister zeige, und befahl dem Schenken, ihm ­einen Kelch Wein vorzusetzen, um zu sehen, wie er ihn verträgt. Sofort brachte der Schenke einen Pokal, doch der Sklave hob nicht einmal den Kopf. Der König gab dem Kammerherrn ein Zeichen, ihm den Pokal zum Trinken zu geben. Dieser leuchtende Mond indes nahm den Wein vom Kammerherrn nicht an. Da sagte der König: «Dann soll es der Wesir tun.» Nun bot der Wesir dem Sklaven den Pokal an, doch auch von diesem nahm der Sklave ihn nicht an. Schließlich erhob sich der König selbst und reichte dieser hellhäutigen Zypresse eigenhändig den Kelch. Aber auch jetzt nahm der Sklave den Kelch nicht, er rührte sich nicht einmal. Das brachte das Blut des ­Wesirs zum Kochen, und er rief: «Du nimmst den Pokal selbst



2. Mahmūd und der Greis mit dem Gerstensack151

vom König nicht an; etwas Unhöflicheres als dich findet sich im gesamten Heer nicht. Der König steht vor dir, und du demütigst ihn; eigentlich steht dir die Dienerschaft an.» Da ließ der Sklave sich vernehmen: «Der König steht deshalb vor mir, weil ich den Pokal vorher von niemandem angenommen habe. Möge diese Ehre mich bis zur Auferstehung begleiten! Wenn ich den Pokal von den anderen Personen angenommen hätte, wie hätte ich des Königs würdig sein können? Meine Verweigerung hat mir nicht geschadet; etwas Größeres hätte mir jetzt nicht zuteilwerden können. Da ich den Kelch zuerst abgelehnt habe, hat sich der König schließlich mir zugewandt. Wenn ich mit dem Pokal sofort zufrieden gewesen wäre, wäre er mir vom Wesir und vom König nicht mehr angeboten worden. Ob man mich nun tötet oder leben lässt – es genügt mir, dass der König einmal mein Schenke war.» Da sprach der König: «Das ist wahrhaftig ein außergewöhnlicher Sklave. Sein Charakter ist noch schöner als sein Aussehen. Er besitzt sowohl ein schönes Gesicht als auch ein hohes Streben; mit solch einer Person muss man dauernd zusammen sein.» Wer sich mit hohem Streben auf diesen Pfad macht, wird ein König, selbst wenn er ein Bettler ist. 2. Mahmūd und der Greis mit dem Gerstensack Als Mahmūd mit seinem Heer unterwegs war, bemerkte er ­einen alten Mann mit einem Sack voller Ähren auf dem Rücken­. Der vollkommene König trat zu ihm hin und fragte: «O Alter, was hast du in dem Sack?» Der Alte antwortete: «Bis zum Abend, o siegreicher König, habe ich Ähren gesammelt und ­damit diesen Sack gefüllt. Jetzt bringe ich ihn zu meinen kleinen Kindern, um für sie Gerstenbrot zu backen. Jetzt weißt du, o Großer, Bescheid.» Darauf fragte ihn der König: «Wo hast du denn die Ähren für dein täglich Brot gesammelt?» Der Alte sagte: «Natürlich nicht auf den Feldern des Herrschers, wie es sich für einen Muslim gehört; denn das ist verbotene Erde, von der ich nicht stehle. Die Ähren von diesen Feldern zu nehmen, ist nicht erlaubt; wenn ich davon esse, lade ich Schuld und

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13. Der Pilger geht zur Sonne

Sünde auf mich.» Da fragte der König: «O du Argwöhnischer, warum nennst du den Besitz des Herrschers verboten?» Der Alte erwiderte: «Zu Alter, Schwäche und Armut käme mir mit dem Eigentum des Herrschers noch Schande dazu. Mir steht kein Bissen davon zu; dafür habe ich immer Gott als Zeugen angerufen. Du hast so viele Elefanten und ein Heer; du bist der Herrscher über sieben Länder. Du schämst dich nicht für diesen weltlichen Besitz; du vergrößerst deinen Anteil an der Welt ­immer mehr. Du isst Tag und Nacht von der Habe der Armen; du trinkst täglich das Blut ihrer Herzen. Bald nimmst du aus dem Dorf, bald aus der Stadt; bald mit Stockschlägen, bald mit Zwang nimmst du den Leuten das Geld. Mit Schuld und Sünde verschaffst du dir eine ganze Welt und behauptest, diese sei dein Besitz und rechtmäßig. Dein ganzer Besitz und alle Dinge, die du angesammelt hast, o Herrscher, hat davon denn deine Mutter mit der Spindel so viel angehäuft oder dein Vater mit Feldarbeit? Du nimmst die Habe der Muslime mit Gewalt; man könnte meinen, du glaubtest nicht an das Grab. Hunderttausend Feinde machst du dir, nur um dir einen Happen zu sichern­. Jeder, der die Welt der Herrscher betritt, sollte ganz wie S­ alomo sein. Der hat sich nämlich mit Korbflechten ernährt, nicht wie du von Geschwätz und Getöse. Seine Arbeit mit einem Korb war rechtmäßig, und deine wird auch mit fünfhundert Ele­ fanten nicht rechtmäßig. Obwohl ich ein Armer bin und für dich ein schwacher Greis, wäre es für mich eine Schande, etwas von deiner Speise zu essen. Du hast so viel, was nicht dir gehört – für dich gibt es außer Bettelei keine Heilung. Wenn du dein niedriges Streben ansiehst, schau dann auf mein hohes Streben! Du solltest dein Königtum und deinen Besitz ver­ brennen und das Königtum von mir lernen!» So sprach er und wandte sich zum Gehen. Der König aber sah ihm verblüfft nach. Er war so neidisch auf diese vollkommene Rede, dass ihm die Tränen wie bei einem Frühlingsregen flossen. Der Vogel des hohen Strebens, vor allem auf dem rechten Weg, sollte die Sonne nur als ein Korn in einer Falle betrach­ ten.



3. Die Rede der Fledermaus über die Sonne153

3. Die Rede der Fledermaus über die Sonne Jemand fragte eine Fledermaus: «Du Schwächling, du weißt nichts über die edle Sonne. Dein ganzer Tag ist nichts als dunkle Nacht; dein Auge erschrickt vor dem Lichtglanz. Du bewegst dich nur in der dunklen Nacht; nie hast du die klaren Strahlen des Lichts gesehen. Wenn du etwas von der Sonne wüsstest, würdest du nicht vor ihrem Glanz fliehen. Wie lange willst du noch in Löchern hausen? Schau die stürmische Sonne an! Betrachte diese feurige Sonne, damit du ein wenig vertrauter mit ihr wirst.» Die Fledermaus, o Wunder, antwortete: «O Unwissender, was soll ich mit Sonne und Mond anfangen? Die Sonne, die schwarz wird und in einer verschlammten Quelle untergeht,6 die ein gelbes Antlitz hat und ein Totenhemd trägt, sie eilt und rennt von Tür zu Tür. Sie ist hundertmal durstiger als die anderen und trinkt das Blut, ins Morgenrot getaucht. Es macht nichts, wenn ich diese Sonne nicht sehe, gibt es doch eine andere. Schlaf einmal nicht, o Mann; bleib eine Nacht wach, damit du in der Nacht die Sonne siehst! O du unacht­samer Mensch, jede Nacht ist mein Tag, denn die Sonne der Offenbarung Gottes scheint in der Nacht. Wenn diese Sonne in der Nacht aufgeht, liegen die Geschöpfe der Welt im Schlaf. Die Sonne verbirgt vor so viel Glanz aus Scham ihr Antlitz ­hinter Schleiern. Sie flüchtet gar, o Wunder, aus Verlegenheit. Der Tag verabschiedet sich aus Angst vor der Nacht. Doch wer wie ich mit ihr vertraut ist, dem scheint die Sonne in der Nacht der Klage. Wenn man eine solche Sonne in der Nacht erlangen kann, ist dies schwer, wenn du vor Blindheit schläfst. Ich schlafe die ganze Nacht nicht bis zum Tag und umfliege jene Sonne, deren Glut ich trage. Und wenn dann die sogenannte Sonne aufgeht, ziehen wir uns in die Dunkelheit des Nests zurück. Weil die göttliche Sonne in der Nacht scheint, ist jene ­andere Sonne nicht zu sehen.» Wenn du wie die Falken hoch hinaus strebst, ist dein Platz auf der Faust des Herrschers. Wenn du dagegen kleinmütig wie eine Mücke bist, wirst du wie diese anmaßend handeln. Wenn du also die Untugenden einer Mücke hast, sind für dich Sein und Nichtsein das Gleiche.

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13. Der Pilger geht zur Sonne

4. Die Mücke und die Platane Eines Tages ruhte sich eine winzige Mücke auf einem starken Baum, einer Platane, aus. Als sie schließlich weiterreisen wollte, entschuldigte sie sich bei dem berghohen Baum. Sie sprach: «Ich habe dir viele Umstände gemacht, aber jetzt werde ich dich nicht weiter bedrängen.» Augenblicklich nahm die Platane­ das Siegel von ihrer Zunge und sagte: «Mach dir keine Sorgen, dein Kommen und Gehen bemerke ich gar nicht, und deine Worte sind recht töricht. Auch wenn sich Hunderttausende deiner Art auf mich setzten, ich würde es nicht einmal wahrnehmen. Ob du es nun bei mir aushältst oder nicht – wer bist du, dass du mit mir reden willst? Doch wenn du demütig an die Tür klopfst, findest du mehr, als du gesucht hast.» 5. Der König und der Mann, der die Erde siebte Eines Morgens kam ein König unterwegs an einem Erdsieber vorbei. Dieser sprach: «O Herr, ich habe mich ganz dem Sieben von Erde gewidmet. Da ich diese Arbeit verrichten muss, war ich bis jetzt unablässig beschäftigt. Schon im Morgengrauen bin ich aufgestanden, um mich auf den Weg zur Arbeit zu ­machen. Ich habe meinen Teil erledigt  – jetzt ist es an dir, o Herr, zu handeln.» Den König erfreuten diese Worte des Erdsiebers, und er sagte: «Nimm diesen Geldbeutel und siebe ihn durch! Weil du so früh zur Arbeit geeilt bist, hast du mehr gefunden, als du gesucht hast.»

Vierzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Mond

Nachdem der Pilger die Sonne besucht hatte, kam er zum Mond und sagte: «O erleuchtete Quelle, du bist mit den Stationen von Tag und Nacht vertraut! Jedes Mal trittst du in ein anderes Haus ein, bald gehst du auf, bald gehst du unter. Zu jedem Monatsanfang erneuerst du dich vollkommen; deshalb liest man aus deinem Gesicht die Zukunft. In der dunklen Nacht wanderst du allein und schön mit einer Fackel in der Hand. Den Äthiopier ‹Nacht› ziehst du an den Ohren; den Wolf der Finsternis steckst du in den Sack. Du hast ein Zelt mit Tauen aus Licht; in diesen Tauen verfängt sich eine ganze Welt. Wie Salomo beherrschst du den Wind, und auch dein Vorhang besteht aus Licht. Dahinter machst du auf Salomos Art aus dem neuen Mond einen Ring. Man könnte sagen, dass du in ­einem solchen Reich, das du erworben hast, die Lösung für die Schwierigkeit gefunden hast. Vom Warten ist dein Auge weiß geworden; sei kein verschämter Geizhals! Wenn du meinen Schmerz und meinen Kummer kennst, dann gib mir schnell ein Zeichen, denn mein Tag ist zur Nacht geworden.» Der Mond antwortete: «O Fragesteller, die Zeit zum Handeln ist vorbei; der Anführer der Karawane ist an uns vorbei­ gezogen. Weil ich den Staub der Karawane nicht mehr sehe, ­bedeckte sich mein Gesicht unter den Tränen mit Pusteln. Am Anfang des Monats lebe ich nur einen Atemzug lang; betrübt werde ich zum Gelächter der Welt. Am Ende jedes Monats ist mein Herz voll Hitze und Glut, doch die Sonne bereitet mir, der ich klage, den Untergang. Wenn die leuchtende Sonne mir erscheint, legt sie ein heftiges Feuer in meine Scheuer. Bald ist das Maul des Löwen mein Platz; bald legt der Skorpion den Kopf auf meinen Fuß. Bald zieht man mich wie eine Sichel durch die

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14. Der Pilger geht zum Mond

Ähren;1 bald liege ich wie ein goldener Mühlstein auf dem Stier; bald zieht man mich auf die Waage, bald wie eine Sehne auf den starken Bogen.2 In all’ dieser Not und diesem Fieber durcheile ich nur den Wind oder den Mondschein. Wie könnte so jemand den Knoten lösen? Vor allem, wenn für ihn der Knoten durch eine Zange beengt wird?» Der Pilger ging zu dem bejahrten Meister und legte ihm seinen Gemütszustand dar. Der Meister sagte: «Der Mond ist in schwacher Verfassung; er ist vom Abnehmen und Zunehmen verwirrt. Bald ist er dünn und wertlos; bald erhellt er als Vollmond die Welt. Weil er den Glanz der Sonne am Himmel nicht ertragen kann, trägt er die Brandmale dieses Mangels im Gesicht. Er läuft verwirrt hinter ihr her und sucht immer wieder Verbindung mit ihr. Auch wenn die Schönheit seiner Geliebten vollkommen ist  – er kann deren Glut niemals ertragen. Und wenn er ihrem Licht ganz nahe kommt, muss er vollkommen seiner selbst entwerden. Wenn ein Liebender das nicht ertragen kann, wird ihn ein Hauch von Vereinigung hundertfach klagen lassen. Wer sich unvollkommen der Liebe hingibt, der versucht beständig, sein eigenes Blut zu vergießen.» 1. Sandschars Schwester und der arabische Prinz Sandschar hatte eine Schwester so schön wie der Mond, die vom König den Namen Safīye Hātūn bekommen hatte. Gegen diese hinreißende Schönheit war die aufgehende Sonne nur ein Stäubchen. In ihrer Anmut und ihrem Liebreiz war diese Schönheit ganz und gar sowohl Salz als auch Zucker. Im Haar dieser Betörerin befanden sich hundert Locken; jede Locke reichte von China bis Darband.3 Beim Anblick einer einzigen Haarspitze wurde auch der weitsichtige Verstand blind. Über die Krümmung ihrer Locken zu reden, wäre ein Fehler, denn keine Beschreibung würde ihr gerecht. Ihre Stirn war reines Silber unter der goldenen Krone. Ihre Augenbrauen waren so scharfe Bögen, dass man sie mit der Bogensehne keinen Augenblick hätte halten können. Und die Pfeile ihrer Wimpern waren so spitz, dass jeder davon hundert zum Opfer fielen. Die Muscheln­



1. Sandschars Schwester und der arabische Prinz157

ihrer Augen waren durch Magie zu einem Herzen geworden; sie beide waren zwei Zauberinnen aus Babel.4 Ihre pechschwarzen Haare dürsteten nach Blut; Dhū-l Faqār5 wurde durch ihre Koketterie zu einem bloßen Dolch. Unter ihren L ­ ocken erhellte die Sonne ihres Gesichts die Schönheit jedes einzelnen ihrer Haare. Sie hatte ein Gesicht wie der leuchtende Mond, der sich von der Erde bis ins Himmelsgewölbe dreht. Die Rubinschatulle ihres Mundes enthielt königliche Perlen; jede Perle konnte hundert Herzen betören. Die Pistazien ihrer Lippen erwiesen dem Erschöpften keine Gerechtigkeit; sie boten allen nur eine verschlossene Tür an. Die Quelle des Lebens wurde durch den Rubin ihres Mundes verzagt und blieb verlegen im Meer der Dunkelheit. Wer ihre Kinngrübchen sah, traf den P ­ oloball vor allen Menschen dieser Welt. Doch obwohl er den Ball der Schönheit getroffen hatte, war er für immer dem Abgrund verfallen. Ihre Wangen hatten aus Indien Elfenbein und aus Byzanz Tribut gebracht. Ihr Muttermal versetzte Indien­nach Anatolien und fiel selbst nach China ein. Wenn ich sie ausführlich beschriebe, würde ich meiner Sache schaden. Diese Mondgesichtige war so entzückend, dass sie die Königin aller barbarischen Götzenbilder war. Mit Schönheit und Herrschaft ausgestattet, residierte jene Schöne in Marw.6 Jeden Freitag nach dem Gebet pilgerte diese Liebreizende zu einem Heiligtum. Ihre Wachen gingen voraus, um ihr den Weg durch die Menge zu bahnen. Danach besuchte sie den Basar, schläferte den Verstand ein und weckte Tumult. Es begab sich, dass ein sehr gebildeter, aber leicht verwirrter arabischer Prinz namens Scharr ad-Daulah nach Marw kam und dort ansässig wurde. Er hatte zwar wenig Verstand, aber eine beachtliche Bildung. Safīye Hātūn, dieser Mond hinter dem Vorhang, wollte wie jeden Freitag ihren Pilgergang unternehmen. Ihre Wachen gingen voraus, und die Menge zerstreute sich. Etwas abseits stand Scharr ad-Daulah und hatte seine ­Augen auf ihre goldene Sänfte gerichtet. Als jene Sonnengleiche aus ihrer Sänfte stieg, wurde Scharr ad-Daulah von Liebe überwältigt. Er hatte nur einen halben Verstand, der ihm nun auch verlorenging; er hatte ein halbes Leben und war halb tot vor

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14. Der Pilger geht zum Mond

Trunkenheit. Ein Schmerzensschrei entrang sich seiner Brust, und er stürzte kopfüber zu Boden. Obgleich die Dame das bemerkte, wandte sie sich und kehrte in die Frauengemächer zurück. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass die Liebe ihre Seele berührt hatte, und verweigerte sich dem, was sie gesehen hatte. Schließlich erhob sich Scharr ad-Daulah ganz liebestrunken und verlangte nach einem Pferd. Er stieg auf das Pferd und stürmte davon, während Sandschar von der Jagd zurückgekehrt­ war. Da trat er vor, stand ihm zu Diensten und redete ihn auf Arabisch an. Er bat Sandschar um die Hand seiner Schwester, doch der König konnte kein Arabisch und fragte den anwesenden Emir Taher: «O Taher, schau, was zu tun ist.» Dieser dachte bei sich: «Wenn ich das sage, schlägt er ihm den Kopf ab.» Laut sagte er: «O König, das ist nur ein verwirrter Mann. Er lobpreist dich aus Ergebenheit und segnet dich, weil er schwach ist.» So sprach er, und der König ließ ihn in Ketten ­legen und einsperren, bis seine Verrücktheit nachgelassen und er seinen Verstand zurückgewonnen habe. Als Safīye sich am folgenden Freitag wieder auf den Weg machte, suchte sie den Jüngling mit ihren Augen. Doch als sie ihn weder rechts noch links sah, fragte sie: «Wo ist denn dieser verwirrte junge Mann?» Ein Diener sagte ihr: «Er ist im Gefängnis; sein Fuß liegt in Ketten, und er ist verwirrt.» Da sagte sie: «Wir haben beschlossen, ins Gefängnis zu gehen und ihm ein Almosen zu geben.» Als die Frau mit den rubinroten Lippen­ ins Gefängnis eintrat, suchte sie sogleich nach Scharr ad-­ Daulah und sah ihn schließlich von Kopf bis Fuß in Ketten; die Erde an seinem Platz war von seinen blutigen Tränen zu Lehm geworden. Die Schöne lüftete den Schleier vor ihrem Gesicht, und Zunge und Verstand stellten vor Leidenschaft ihre Tätigkeit ein. Ihr Glanz und ihre Schönheit machten ihn gebrechlich und raubten ihm gänzlich den Verstand. Sein Schmerz gefiel Safīye sehr, und sein gelbes Gesicht tat ihrem Herzen weh. Sie wollte sich einen Augenblick hinsetzen, aber im Gefängnis gab es dafür keinen Platz. Schließlich ging sie unter Tränen nach Hause, rief einen Lakaien und sagte zu ihm: «Geh, und wenn die Nacht hereinbricht, bring mir den Gefangenen in diesem



1. Sandschars Schwester und der arabische Prinz159

Sack.» Der Lakai ging, steckte ihn in den Sack und brachte ihn der schönen Herrin. Aber als der Jüngling das Antlitz seiner Geliebten sah, verlor er von neuem Verstand und Bewusstsein. Dieses Mal waren Seele und Verstand unfähig, dieses Mal war seine Verfassung noch schlechter als vorher. Da begriff Safīye, dass er nicht die Vollkommenheit besaß, auch nur ein Atom vom Glanz ihrer Schönheit zu ertragen, und sie schickte ihn in eine Schule, damit seine Versuchung sich vermindere. Und tatsächlich gewann er unter den Männern des Wissens und des Disputs seinen Verstand langsam wieder zurück. Doch dann wurde er in der Schule krank, alle seine Gelenke schmerzten. Schließlich richteten die Wechselfälle des Schicksals ihre tödliche Lanze aus allen Richtungen auf sein Herz. Es kamen nämlich auch Neider vom Königshof mit dem Auftrag, ihn zu töten. Als Safīye das erfuhr, eilte sie mit einem Schleier vor dem Gesicht zu ihrem Geliebten. Ihr Kammerdiener fragte: «Soll ich mitgehen?», worauf sie antwortete: «Der Kammerdiener stört dort nur.» Da fragte ihr Sänftenträger: «Soll ich dich hin­ tragen?», aber sie antwortete: «Nein, ich muss das allein erledigen.» Jener andere fragte sie: «Soll ich das Pferd satteln?» Ihre Antwort lautete: «Nein, denn ich muss die Liebe bekräf­ tigen.» Kurzum, als sie zur Schule kam, fand sie den Kranken von Leidenschaft zerrissen vor. Aus jener Welt fiel ein Schatten auf ihn, und ein Blutstrom überwältigte ihn. Safīye stand vor seinem Bett und sagte: «Nimm diesen Brief und lies ihn vollständig!» Doch angesichts ihrer Schönheit sagte Scharr adDaulah: «Wende dich sofort ab, Geliebte, denn wenn du dich nur einen Augenblick hier aufhältst, greift der Tod mein Leben hundertfach an. Ich habe nicht die Kraft, dich anzusehen; meine Schwäche nimmt mir jede Hoffnung auf dich.» Darauf erwiderte sie: «Ich habe mich so vielen Widrigkeiten entgegengestellt – wie könnte ich mich mit so wenig zufriedengeben?» Der arme Verliebte sagte: «O meine Geliebte, du hast dich aus Mitleid zu mir gesetzt, und ich habe dir von allen Gütern dieser Welt nichts zu bieten als ein halbes Leben. Auch wenn es deiner nicht würdig ist, schenke ich dir aus Schmerz um dich mein ­Leben.» So sprach er und übergab seine süße Seele. Möge die

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14. Der Pilger geht zum Mond

Erde über ihm zu einer schönen Wiese werden! Als Safīye ihn so schmerzvoll sah, sagte sie: «O du, der du an deiner Schwäche zugrunde gegangen bist, bei drei Gelegenheiten habe ich mich dir gezeigt, und jede davon hat dich umgeworfen. Du wusstest nichts von deinem Kleinmut. Mit solch einem Herzen wolltest du mich lieben? Bei so wenig Mannhaftigkeit, wie du sie besitzt, müsste deine Liebe noch hundertmal stärker sein. Als ich dich im Gefängnis besuchte, wurden deine Fesseln noch enger, und dein Zustand hat sich verschlimmert. Als ich dich in meine Kammer bringen ließ, sah es so aus, als hätte ich dich mit hundert Leiden geschlagen. Als ich an deinem Krankenbett Platz nahm, bist du mir nicht nähergekommen. Wenn du ­diesen Schmerz nicht ertragen kannst, sag mir doch, was ich für dich tun muss. Da du nicht die Fähigkeit für unsere Liebe hattest – warum hast du dich dann so ereifert?» So sprach sie, kehrte zurück und ließ den armen Verliebten tot und elend zurück. Sie ordnete ein Begräbnis an und ließ ihn bestatten. Als Tautropfen kam er zum Meer. Ende. Wenn du auf dem Schlachtfeld keinerlei Mut beweist, prahle nicht mit deinem Heldentum! Denn wenn es auf Mut ankommt, du Einfältiger, flüchtest du vor Angst wie ein Feigling. 2. Der Feigling und die Riesenschlange Ein Feigling sah eine Riesenschlange und sprang vor Furcht schnell wie der Wind auf ein Dach. Er sprang, so schien es, wie vom Schwert getroffen und sagte: «O weh, wo ist ein Mann, wo ist ein Stein?» Wenn du nicht mannhaft bist, kannst du den Pfeil nicht ­kräftig abschießen. Auch wenn du dich wie ein Rostam ge­ bärdest, kann aus einem Feigling kein starker Mann werden. Dein Vater mag dir noch so schöne Namen gegeben haben, doch erntest du nur Schande, mein Sohn!



3. Der Feigling, der Rostam hieß161

3. Der Feigling, der Rostam hieß Ein großer Mann bekam einen Sohn und nannte ihn Rostam. Aber aus großer Kraftlosigkeit blieb er unbedeutend; sein Name lautete zwar Rostam, doch er wurde ein Feigling. Wenn dir jemand mit schlechten Absichten einen Namen gibt, kannst du sicher sein, dass er dir eine Falle stellt. Wenn die Dinge so wären wie der Name, könnte man durch einen Namen­ alles zustande bringen. 4. Abū Saʿīd und der Feueranbeter Abū Saʿīd fühlte sich einmal sehr beklommen und sagte zu ­seinem Diener: «Schnell, guter Mann, ich bin ganz außer mir; bring mich zu mir zurück! Wen immer du auch siehst, geh hi­ naus und bring ihn zu mir, damit er mir irgendetwas erzählt und mir vielleicht den Weg wieder auftut.» Der Diener ging und sah einen Feueranbeter, rief ihn, brachte ihn zum Scheich und ließ ihn Platz nehmen. Der Scheich bat ihn: «Erzähle mir, wie es dir geht; sage mir, wie du deine Zeit verbringst.» Der Feueranbeter erwiderte ihm: «O unser aller Führer, mir wurde gestern Abend ein Sohn geboren, und ich gab ihm den Namen ‹Dschāwīdān›.7 In der Nacht ist er gestorben. Möge der Scheich ewig leben!»

Fünfzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Feuer

Niedergeschlagen ging der Pilger zum Feuer, denn das Feuer seines Herzens hatte die Ernte verwüstet. Er sagte: «O du mit der stolzen, heißen, schnellen und zerstörerischen Natur des Mars! Meteore und Blitze sind Spuren von dir; Hitze und ­Erhitzung ist dein Werk. Die Steinigung des Satans und auch Satan selbst stammen von dir. Wie seltsam, dass Schmerz und Heilung auch von dir stammen! Du spendest dem tierischen Geist Leben; du beherbergst die menschliche Triebseele. Auf Gottes Gebot hin wirst du zum Paradies für die Seele und wirst eine Duftpflanze in Abrahams Garten.1 Du dringst in das Innere von Stein und Eisen; du setzt gegenüber Gott auf dieser Welt alles aufs Spiel. Du verwandelst Brennholz in Rubine von Badachschān2 und Eisen in leuchtende Edelsteine. Du bist das erhabene Element; du stellst dich dem Himmel an die Seite.3 Durch die Form deines Geistes bist du absolute Leichtigkeit; ob du verbrennst oder aufbaust, du bist im Recht. Aus dem grünen Baum strecktest du den Kopf hervor4 und bezaubertest den sehnsüchtigen Mose. Durch dich fand Mose den Weg aus der Ferne. Zeige auch mir nun den zu mir passenden Weg!» Bei diesen Worten loderte das Feuer unruhig auf; sein Herz hatte eine starke Glut befallen. Das Wasser lief ihm aus den Augen wie aus einer Wolke; mit dem Fuß auf dem Feuer hatte es keine Geduld mehr und sagte: «Dauernd brennt meine Seele; Tag und Nacht bin ich auf der Suche. Ständig in Glut und Hitze Feuer verstreuend, bitte ich um ein Zeichen der Wahrheit. Da ich alles verbrenne, was in meine Nähe kommt, siehst du mich auf Asche sitzen. Durch diesen Kummer sitze ich auf meiner Asche  – wie soll ich jemand anderen auf dem Weg führen? Mein Werk besteht nur aus Entzünden und Verbrennen, und



1. Jesus und die Gier der Menschen163

das nicht nur heute, sondern ein ganzes Leben! Meine Hitze verschont weder Trockenes noch Nasses, aber da ich nichts ­gesehen habe, habe ich aufgegeben. Von mir bekommst du nichts; steh auf und geh fort! Nimm einen anderen Weg; steh auf, Waghalsiger!» Daraufhin begab sich der Pilger zum Meister, seinem Wegweiser, und erzählte ihm seine ganze Geschichte. Der Meister sprach zu ihm: «Das Feuer ist die Habsucht und die Gier, die auf der ganzen weiten Welt verbreitet sind. Alle macht es so gierig auf Gold, dass jeder sich einen goldenen Götzen schafft. Sie verspielen Glauben und Seele, nur um ein Körnchen Gold zu erlangen.» 1. Jesus und die Gier der Menschen Jesus, der in Licht Getauchte, traf unterwegs auf einen Gefährten, der dem Pfad noch sehr fern war. Er hatte drei Laibe Brot bei sich; er aß eines davon und gab dem anderen das zweite. Von den drei Broten war also noch eines übrig, das ungegessen blieb. Als Jesus vom Weg abbog, um zu trinken, aß sein Gefährte dieses Brot. Als Jesus, Marias Sohn, zu ihm zurückkam, vermisste er das dritte Brot und fragte: «Wo ist der Laib geblieben, mein Sohn?» Dieser antwortete: «Davon weiß ich nichts.» Dann gingen die beiden weiter, bis sie an ein Meer kamen. Da fasste Jesus die Hand seines Gefährten, und er wandelte mit ihm über das Wasser. Nachdem sie das Meer schließlich überquert hatten, sagte Jesus: «O Gefährte, bei Gott, dem Gerechten, beim König, der ein solches Wunder wirkt, das von selbst nicht geschehen kann: Sage mir jetzt, Mann des Pfades, wer dort jenes Brot gegessen hat.» Der Mann sagte: «Ich weiß von nichts. Was willst du von mir? Ich weiß doch nichts!» Jesus, von ihm angewidert, ging weiter. Da erschien plötzlich eine ­Gazelle in der Ferne. Jesus rief die flinke Gazelle an und färbte die Erde mit ihrem Blut rot. Darauf briet er die Gazelle ein ­wenig und aß davon wie auch jener Mann, bis dieser satt bis zum Hals war. Danach sammelte Jesus, der Sohn Marias, die Knochen und hauchte sie an. Sofort war die Gazelle wieder

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15. Der Pilger geht zum Feuer

l­ebendig, verbeugte sich und nahm ihren Weg durch die Steppe wieder auf. Im gleichen Augenblick fragte der Wegweiser und Messias: «O mein Gefährte, bei der Wahrheit Gottes, der jetzt wieder ein solches Wunder vollbracht hat: Kläre mich über den Laib Brot auf.» Der Gefährte sagte: «Du bist ja wie besessen; wie kann ich dich aufklären, wenn ich doch nichts weiß!» Trotzdem ging Jesus mit dem Mann weiter, bis drei kleine Erdhaufen auftauchten. Jesus, der Reine, sprach sogleich ein Gebet, und die drei Erdhaufen wurden zu Gold. Dazu sprach er: «Ein Haufen gehört dir, o Gerechter; der zweite Haufen, den du siehst, gehört mir; und der dritte Haufen gehört dem, der vorhin den Laib Brot heimlich gegessen hat.» Nachdem der Gefährte den Wert des Goldes erfasst hatte, besann er sich, o Wunder, eines anderen und sagte: «Ich habe den Laib Brot gegessen; ich war hungrig und habe ihn heimlich gegessen.» Als Jesus diese ehrlichen Worte hörte, sagte er: «Ich bin müde; alle drei Haufen gehören dir. Du taugst mir nicht zum Gefährten. Ich will dich nicht, auch wenn du mich willst.» So sprach er und war deshalb gekränkt; er verließ den Mann und ging seines Weges. Später kamen zwei Männer, sahen das Gold und begannen zu streiten. Der Erstere sagte: «Alles Gold gehört mir.» Die beiden anderen aber erwiderten: «Das Gold gehört uns.» Sie zankten sich heftig mit Worten und Fäusten. Schließlich einigten sich die drei einfältigen Männer darauf, das gesamte Gold in drei Teile zu teilen. Alle drei waren nun hungrig geworden und konnten vor Hunger kaum noch atmen. Einer sagte: «Das Leben ist wertvoller als mein Gold; ich gehe in die Stadt und kaufe Brot.» Die anderen sprachen: «Wenn du uns Brot bringst, machst du unsere erschöpften Körper wieder lebendig. Gehe du Brot kaufen, und wenn du zurückkommst, teilen wir das Gold durch drei.» Da überließ der Mann sofort das Gold ­seinen Freunden, machte sich auf den Weg und überließ sich seinen Besorgungen. Er kam in die Stadt, kaufte Brot und aß es; dann vergiftete er hinterlistig das restliche Brot, damit die beiden anderen von dem Brot stürben und er übrig bliebe und ­alles Gold in Besitz nehmen könnte.



2. Mahmūd und der Narr165

Doch in der Zwischenzeit hatten die beiden anderen ver­ einbart, den Dritten bei seiner Rückkehr zu töten und alle Anteile Gold durch zwei zu teilen. Als sie den Entschluss gefasst hatten, kam der Mann zurück. Die beiden töteten ihn auf der Stelle. Danach starben sie selbst, als sie das Brot aßen. Als ­Jesus, der Sohn Marias, wieder dort vorbeikam und den Getöteten und die beiden Gestorbenen dort liegen sah, sagte er: «Wenn das Gold hier liegen bleibt, werden dadurch noch zahllose Menschen getötet werden.» Dann betete er aus reiner Seele, bis das Gold wieder zu Erde geworden war, und sprach: «O Gold, wenn du älter geworden wärest, hättest du noch Hunderttausende getötet. Obwohl Gold wertvoller als Erde ist, ist es besser, wenn es unter der Erde liegt.» Auch wenn das Gold ein hinreißendes rotes Gesicht hat, brennt es auf der Hand wie Feuer. Solange dein Auge den Pfad nicht erkennt, behältst du aus Blindheit Gold und Silber im Blick. Das Gold, nach dem sich so viele Menschen sehnen, ­gehört eigentlich in das Gesäß des Kamels oder in die Hufe des Esels.5 Weil dieses Gold vom Pfad abhält, sind diese beiden Plätze am besten dafür geeignet. Wenn du hundert verborgene Schätze von Gold hast, dann hast du alles erreicht. Bald oben, bald unten, bald am Galgen – das ist das, was du vom Schicksal hast. 2. Mahmūd und der Narr Mahmūd war mit seinem Heer unterwegs, und die Welt war schwarz von seinen Soldaten und Elefanten. Die Erde wurde wie der Himmel durch das Funkeln der Uniformen, und der Himmel wurde wie die Erde durch den aufgewirbelten Staub. Erschreckt vom Lärm der Pauken gaben sich der Stier am Himmel und auf der Erde mit einem mann Spreu zufrieden. Am Rand des Weges befand sich eine Ruine, auf deren Mauer ein Narr saß. Als er das Gesicht des Königs von ferne sah, rief er: «O du Verwirrter und Gebrechlicher, wozu all diese Elefanten, diese Soldaten, diese Betriebsamkeit? Wozu dieser Tumult, wozu dieser Pomp?» Der König antwortete: «Damit

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15. Der Pilger geht zum Feuer

ich jeden Tag ein Stück Brot essen kann.» Da sagte der Verrückte: «Dann bin ich aber besser versorgt, denn ich esse sechs Stück ohne den ganzen Aufwand.» Wenn dein Anteil von all’ dem nur dieses ist, wozu dann ist dieses ganze Getöse nötig? 3. Hasans Hinrichtung Es wird erzählt, dass der jähzornige König Masʿūd6 wütend auf Hasan7 war und ihn erbarmungslos tötete. Man hängte ihn kopfüber vor einer Festung auf; sein Blut vermischte sich mit Erde. Hasan war Mahmūd ein guter Wesir gewesen, doch zu seinem Unglück missfiel er Masʿūd. Fülle und Mangel dieser Welt gehen vorüber; in jedem Augenblick gehen die Zeiten des Glücks vorüber. Worauf beruhte das Glück Hasans zu Mahmūds Zeit? Auf Hasans Eifer etwa? Genauso kam das Unglück, das ihm jetzt widerfuhr, nicht durch ihn, sondern durch das Schicksal. Da man so viel Blut in seinem Beisein vergossen hatte, musste schließlich sein Blut fließen. Die Staatsangelegenheiten erscheinen mir als Verrücktheiten; vom Amt des Wesirs steigt Blutgeruch auf. Du wirst auf dieser Welt immer ein Stück Brot finden, armer Bettler, ohne den König zu umschmeicheln. Denn der König dieser Welt ist wie eine Flamme: Es gefällt ihm, wenn man ihn wie Falter umschwirrt. Nachdem Hasan schließlich hingerichtet worden war, sagte ihm jeder einen anderen Fehler nach. Er war getötet worden, entkam aber nicht der Schande der Welt und auch nicht den Worten der Menschen. Jeder Dummkopf lässt seine Kuh in der Scheune, und über den Kadaver machen sich die Hunde her. Als man Hasan für seine Fehler heftig schmähte, erhob sich ein Kuttenträger in der Menge und sagte: «Er hatte noch einen viel schlimmeren Fehler als alle diejenigen, die ich gehört habe. Er besaß tausend Bewässerungskanäle, und an jedem stand eine Festung. Alle hatten eine Eisentür in Richtung Mekka, und jede war ein belebter Ort. Er besaß auch tausend Werkstätten, in denen Seide wie Gemälde gewebt wurde; dazu noch tausend an Mut und Schönheit vollkommene Sklaven. Von all diesen



3. Hasans Hinrichtung167

Bewässerungskanälen und dem ganzen Drumherum stehen ihm jetzt nicht mehr als fünf mann Wasser zu, um ihn zu waschen. Von all den feinen Stoffen, die in seinem Namen gefertigt wurden, wurden ihm zehn gaz für sein Leichentuch zugeteilt. Von all den schönen, ruhmreichen Sklaven reichen vier Träger für ihn vollkommen aus. Von all den Festungen und ­Eisentüren begleiten ihn zehn Backsteine unter die Erde. Von all seinen Ländereien in Berg und Tal reichen vier gaz Erde für seine Grabnische. Sein Fehler war, dass er mit Gelehrsamkeit und Redegewalt alles auf der Welt scharfsinnig beobachtete. Weil er sein Leben mit solchem Scharfsinn verbrachte, hat er kein bisschen von den Fehlern dieser Welt erkannt. Ein Scharfsinniger, der die Fehler dieser Welt nicht sieht, wird hochmütig und vergisst das Jenseits. Deshalb hat man heute sein Blut vergossen und ihn kopfüber vor der Festung aufgehängt. Er sah es nicht, doch der Weg war gewunden; das war sein wirklicher Fehler. Die anderen zählen nicht. Wenn du auf dem Weg Furcht verspürst, wirst du erwachsen. Du wirst alles abwerfen und frei sein. Wenn du dir die Hand selbst um den Hals legst, wirst du ohnmächtig von deiner eigenen Hand sterben.» Sei dankbar, wenn die Gier dich nicht verwirrt und du nicht von morgens bis abends im Laden stehst. Wenn du immer nur Körner stiehlst, hast du dir eines von ihnen zur Falle gemacht. Doch nicht alle Fallen stehen im Laden; deine Falle ist unter dem Flickenrock verborgen. Du hast hinterlistig die Ärmel hochgekrempelt, damit du die Hand richtig lang machen kannst. Du übertrittst das Gesetz, weil es in deiner Natur liegt. Du ziehst Trauerkleidung an, weil du blind bist. Wer unter ­einer Derwischkutte steckt, wird zum Betrüger und macht damit ein Geschäft auf. Die Leute sind von diesen Worten sehr weit entfernt, seien sie erleuchtet oder nicht. Danke Gott, dass du nicht dazugehörst, dass du Sammlung hast und nicht zerstreut bist.

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15. Der Pilger geht zum Feuer

4. Der Narr auf dem Basar Ein Narr besuchte, wenn es ihm gefiel, gelegentlich den Basar. Bei seinem Anblick wurde er verwirrt und trunken und hielt sich schnell die Nase zu. Jemand fragte ihn: «O du Verwirrter im Glauben, warum hältst du dir die Nase zu?» Der Narr antwortete: «Der Gestank der Händler schadet meiner Nase allzu sehr!» Der Andere sagte: «Dann halte dich doch nicht so oft auf dem Basar auf!» Da erwiderte der Narr: «Das geht nicht, denn ich habe Wichtiges zu tun. Alles, was ich jeden Tag sehen möchte, ist, wie sich die Leute im Basar zanken.»

Sechzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Wind

Der Pilger, König im Herzen und arm an Gütern, ging mit staubbedecktem Haupt zum Wind und sagte: «O du, der du die Geschöpfe belebst, du ständiger Vertrauter der Kehle! Das glückliche Leben kommt von dir; das Leben aller, die eine Seele haben, kommt von dir. Du führst voll Ehrerbietung zur Seele; du bringst das Licht und vertreibst die Finsternis. Du kehrst den Hof der Seelen aus und legst die Worte auf die Zunge. Du entzündest das Feuer der Jugend und schenkst das Ferment des Lebens. Du hast Salomo nach oben und seinen Thron von Ost nach West getragen. Du hast das Volk von ʿĀd1 entwurzelt, es niedergeworfen und zu Staub gemacht. Du besitzt Gnade und Stärke gleichermaßen; gib mir diese Stärke und mache mit ­deiner Gnade jemanden aus mir! Du hast die Welt so oft umkreist; schicke meiner Seele einen Hauch des Geliebten!» Als der Wind diese Bitte des Pilgers vernahm, stieß er vor Kummer einen kalten Seufzer aus und antwortete: «Ich bin ständig unterwegs, und dieses Leiden lässt mich nie ruhen. Ich habe Staub auf dem Kopf und Wind in der Hand; vor Kummer kann ich mich nirgendwo niederlassen. Auf der Suche nach Ihm gehe ich von Tür zu Tür, und Tag und Nacht rufe ich Ihn an. Auf diesem Weg bin ich völlig verwirrt und schwach wie eine Brise geworden. Nun habe ich Schönes und Hässliches vergeudet; jetzt will ich weder Hölle noch Paradies. Wenn ich nur einen Hauch meines Zieles erhaschen könnte, würde ich in beiden Welten das Polospiel gewinnen. Aber wenn ich nicht einmal einen Augenblick Seinen Duft einatmen kann, bin ich nur ein kalter Wind, der seine Arbeit verrichtet. Der Kummer hat in meinem Herzen ein Feuer entzündet und meine Ernte vernichtet. Wenn ich die Welt auch hundertmal durchquere,

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16. Der Pilger geht zum Wind

werde ich doch von dem Geheimnis nichts erfahren. Halte mich nicht weiter auf, denn von mir wird dir nichts Gutes ­zuteil.» Der Pilger begab sich zum vorbildhaften Meister und legte ihm seine Gemütslage dar. Der Meister sagte zu ihm: «Der Wind ist der Diener der Seele. ‹Wind› kommt von ‹Geist›,2 und sein Geist kommt von der Seele. Seine Ruhe umfasst Körper und Seele; in beiden Welten vervollkommnet er Körper und Seele. Er verbreitet seinen süßen Duft und hat teil am Atem des Barmherzigen. Wer den Joseph in sich verloren hat, hat keinen Glauben, auch wenn er ihn bekannt hat. Du beherbergst einen Joseph im Ägypten deiner Seele, und jeden Augenblick spürst du eine Brise von ihm. Wärst du auch nur einen Atemzug lang ohne diese Brise, wüsstest du, dass du niemand bist. Wenn sich beide Welten gegen dich verbündeten, genügte es, dass Josephs Brise dich erreicht. Und wenn die ganze Welt im Chaos versänke: Du tritt nicht aus Josephs Schatten heraus!» 1. Der Schatten des Vogels H0mā Es wird erzählt, dass eines Tages der Vogel Homā3 über Mahmūds Heer flog. Jeder, der ihn erblickte, rannte in seinen Schatten, und alle warfen sich nieder. Dann aber kam der Sklave Ayāz und trat in den Schutz von Mahmūds Schatten. In diesem Schatten im Staub des Weges neigte er vor dem König sein Haupt. Einer sagte zu ihm: «O du Verirrter, das ist doch nicht der Schatten des Flügels des Homā!» Da antwortete Ayāz: «Mein Herr genügt mir als H0mā; sein Schatten genügt mir als Führer. Weil ich verstanden habe, dass dies genügt, ­genügt das in beiden Welten als mein Schicksal. Ich werde mich nie von seiner Schwelle abwenden und wandle ohne Kopf und Fuß auf seinem Weg.»



2. Der aufrichtige Dieb171

2. Der aufrichtige Dieb Ein Dieb näherte sich zur Schlafenszeit Ahmad Chedruyehs4 Wohnung. Obwohl er das Haus viele Male umrundete, fand er nichts und geriet deshalb außer sich. Dann wollte der Unwissende hinausgehen und begab sich mit hoffnungslosem Herzen zur Tür. Der Scheich rief ihn an und sagte: «O du Freigebiger, bevor du die Hoffnung aufgibst, komm zurück! Nimm den Eimer dort, hol Wasser, wasch dich und bete bis zum Morgengrauen.» Der Dieb tat, wie er es ihm befohlen hatte: Er betete, meditierte und bat um Vergebung. Als der neue Tag anbrach, brachte ein Herr hundert Golddinare, gab sie dem Scheich und sagte: «Das gehört dir.» Der Scheich antwortete: «Dies ist mein besonderer Gast», warf dem Dieb das Gold zu und sagte: «Das ist für dich. Diese Vergeltung ist ein Abbild deiner Aufrichtigkeit.» Dem Dieb kam das sehr merkwürdig vor; er weinte heftig­, die Seele voller Verlangen. Ohne Stolz und Ichsucht fiel er zu Boden und bereute Diebstahl und Wegelagerei. Er sagte zu dem Scheich: «Ich war ein niederträchtiger Dieb und bin aus Dummheit dem falschen Pfad gefolgt. In einer Nacht, in der ich um Gottes willen geeilt bin, um zu finden, was ich das ganze Leben nicht gefunden habe, habe ich es gefunden. In einer Nacht, in der ich zu Ihm gebetet habe, bin ich von der Dieberei errettet worden und nun wunschlos. Wenn ich Tag und Nacht Gottes Werk verrichte, werde ich in beiden Welten das Glück finden. Ich habe bereut, damit ich bis zu meinem Todestag nichts als Gehorsam übe.» So sprach er und wurde ein glück­ licher Mann; er wurde ein Jünger des Scheichs und ein Mann der Tat. Du musst wissen, dass in beiden Welten niemand durch Gott zu Schaden kommt. Weil du von oben nach unten herab gekommen bist, schmückst und schminkst du dich wie eine Frau. Auf der Erde gibt es immer ein Abwärts, stelle eine Mühle auf, weil bei dir Wasser fließt. Wenn du dir vornimmst, dich wie das Himmelsgewölbe zu drehen, kannst du jeden Augenblick hundert Mühlen in Bewegung setzen. Wende dich von der Welt ab, damit du gläubig wirst; gib das Eine fort, um das Andere zu

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16. Der Pilger geht zum Wind

e­ rhalten. Was du aus der Hand gibst, o Ehrenwerter, ist keine Last mehr auf deiner Schulter. 3. Der Lastenträger, dem das Tragseil riss Ein Lastenträger saß fröhlich da; sein Tragseil war gerissen. ­Jemand sagte zu ihm: «O du ungebildeter Mensch! Warum sitzt du so lange nutzlos herum? Du verlierst nur viel Geld. Wie kann jemand, der kein Geld hat, so untätig sein?» Da öffnete der ermattete Träger den Mund und sprach: «Für jeden Dirham, der mir entgeht, fällt mir eine Last von hundert mann vom Rücken, mein Freund.» Wie lange willst du die Last noch tragen? Sei unbelastet! Wenn noch ein Atemzug übrig ist, dann sei zufrieden! 4. Der lachende Verurteilte Ein elender, verachteter Mörder wurde zum Galgen gebracht, wo er kopfüber aufgehängt werden sollte. Der Mann war vergnügt und lachte aus ganzem Herzen. Er lachte – doch ist das ein Ort zum Lachen? Jemand sagte zu ihm: «Wie kannst du so sorglos sein? Woher diese Freude in der Todesstunde?» Er antwortete: «Wenn mir das Schicksal nur noch eine so kurze Lebens­spanne lässt, warum sollte ich die dann bekümmert verbringen?» Nachdem er das gesagt hatte, erlöste ihn Gott. Aus seinem Tod entstand Leben. Alles, was du zusammenraffst  – hör damit auf! Hör auf, ­irgendeinem Menschen mehr oder weniger zu schenken! Gib alles auf, was du hast! Selbst wenn du weniger als eine halbe Dattel hast, gib sie auf! Denn das, was du hier aufgibst, gehört dir, aber das, was du hier behältst, wird dir dort zur Strafe. 5. Rat eines Sufis an den König Ein König begab sich, weil er der Gottesknechtschaft bedürftig war, zu einem der Männer des Pfades und sagte: «Gib mir einen­ Rat, der mich führt, denn das ist für mich besser als hundert



6. Das Gleichnis vom Seilerlehrling173

Königreiche.» Der Weise sprach: «Bedenke, o König: Was brauchst du für die Dinge der Welt? Wenn du von den Dingen der Welt das, was unvermeidlich ist, getan hast, dann ruhe dich aus. Dann aber bedenke jetzt auch das Jenseits und was du für das Jenseits brauchst. Was dir im Jenseits gebührt – das zu tun, ist deiner würdiger. Strebe Tag und Nacht nach den Dingen des Glaubens und nach denen der Welt in dem Maße, wie du ihrer bedarfst. Was im Diesseits notwendig ist, das tue, und finde eine Lösung für das, was du im Jenseits tun musst. Wenn du auch nur an ein Haar gebunden bist, wird dich dieses Haar ­ermüden. Wenn du an einen Berg gebunden bist, wird dich dieser­Berg noch mehr ermüden. Alles, was du mit dir herumträgst, ist eine Kette für dich; je nachdem, wie viel du davon hast. Befreie dich von Kopf bis Fuß von dieser Fessel, damit du sterben kannst. Wenn nicht – wehe dir!» 6. Das Gleichnis vom Seilerlehrling Ein Vollkommener hat gesagt: «Weißt du, wer ein Mann ist? Wer fröhlich leben kann, ist kein Mann. Der ist ein Mann, der eine frohe Seele hat und frei von der Welt sterben kann. O du, der du in dies sich fortwährend drehende Rad geraten bist, du gleichst einem Seilerlehrling. Wenn es sich auch ewig auf dem Rad gedreht hat – wie oft willst du das Seil um die Welt herumlegen? Wie lange willst du noch mehr anhäufen, am Ende fällt doch alles auseinander. Wenn du nicht immer wie Qārūn sein willst, begnüge dich mit Nahrung und Kleidung bis an den Rand deines Grabes. Da die Propheten es so gemacht haben, stelle du deinen Laden nicht über die Herren.» 7. Jesus und der Ziegelstein Jesus, Marias Sohn, legte sich mit einem halben Ziegelstein unter dem Kopf zum Schlafen. Als er aus dem Schlaf aufschreckte, sah er den verfluchten Eblīs über sich stehen. Er sagte: «O Verfluchter, warum stehst du hier?» Der Teufel antwortete: «Du hast dir meinen Ziegel unter den Kopf gelegt. Da die ganze

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16. Der Pilger geht zum Wind

Welt mein Lehen ist, gehört mir auch der Ziegelstein; das ist klar. Indem du etwas von meinem Eigentum in Besitz genommen­ hast, stellst du dich mit mir auf eine Stufe.» Da warf Jesus den Stein fort und legte seinen Kopf auf die Erde zum Schlafen. Als er den halben Ziegelstein fortgeworfen hatte, sprach Eblīs: «Jetzt kann ich gehen; du schlafe nun in Frieden!» Da du im Grab unter Ziegelsteinen liegen wirst, warum willst du jetzt noch Ziegel auf Ziegel stapeln? Wenn du aus den blutigen Tränen des Herzens Lehm machst, warum machst du dann noch Lehm für die Welt? 8. ʿOmar baut eine Wasserrinne Eines Tages kam der Prophet zufällig dazu, wie ʿOmar eine Wasserrinne mauerte. Da er ihn im Vorbeigehen nicht grüßte, lief ʿOmar sogleich hinter ihm her und fragte: «O Gesandter Gottes, was ist geschehen, dass du so schnell an mir vorbeigehst?» Der Prophet antwortete: «Dein Bauwerk hat dich hochmütig gemacht, und du glaubst offenbar kein bisschen an den Tod. Du verleugnest deine Seele, wenn du eine Wasserrinne mauerst.» Wer im Grab liegt, muss zu Erde werden; der Lehm hat keine Angst vor dem Tod. Alle müssen die Welt verlassen; alle müssen unter Erde und Blut liegen. Solange du nicht durch Erde und Blut zertreten worden bist, wie könnte die Verwirrtheit aus deinem Kopf verschwinden? Wenn sich ein Baum in Staub auflöst, bringt jedes seiner Atome hundert reine Seelen hervor. Wer weiß schon, wie viele erhabene Seelen im tiefen Meer versunken sind? Wer weiß schon, wie viele teure Herzen verblutet sind? Auch deines wird noch verbluten. Wer weiß schon, wie viele reine Körper blutgetränkt begraben wurden? In beiden Welten bringt nur Klagen Nutzen; niemand trägt etwas im Herzen außer Klagen. Wie kann man in einem Haus still sitzen bleiben, das wir doch bald verlassen müssen? Das Werk der Welt ist nichts als Magie und Unordnung; in dieser Ruine gibt es nur Zerstörung.



9. Der Narr und die zerstörte Stadt175

9. Der Narr und die zerstörte Stadt Eine mächtige Stadt lag in Trümmern; von einem Ende zum ­anderen war sie von der Sonne ausgedörrt. Hunderttausend Pavillons, Mauern und Türen lagen eingestürzt durcheinander. Ein Narr betrachtete diese Stadt, die mit solcher Gewalt zerstört worden war. Verblüfft stand er da und sah die Stadt in ­allen Richtungen an. Einen halben Tag lang verweilte er dort, als wären seine Füße mit der Erde verwachsen. Schließlich fragte ihn einer: «O du Narr auf dem Pfad, warum bestürzt dich dieser Ort so? Du stehst verwirrt und betrübt da; worüber denkst du nach?» Der Narr antwortete: «Ich bin starr vor Erstaunen, wie stark diese Stadt einst war. Damals war sie voller Menschen und eine wahre Metropole. Wo war ich damals, als die Stadt noch belebt war? Ich weiß es nicht mehr. Und jetzt, da ich mich hier befinde, wo sind alle die Leute hingegangen? Wo war ich damals? Wo sind diese Leute heute? Ich war damals nicht dort, und sie waren hier; als ich ankam, waren sie verschwunden. Ich weiß nichts über dieses Geschehen, und das ­bestürzt mich an diesem Ort. Wer weiß jemals, was dieser Kreislauf zu bedeuten hat oder was es außerhalb von ihm gibt? Ich bin weit gekommen und habe doch nichts gesehen. Jetzt bin ich mutlos und ohne Hoffnung.» Es gibt für das Herz keinen anderen Weg als Staunen; keine Seele kennt den Sinn dieses Kommens und Gehens.

Siebzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Wasser

Der Pilger erreichte das reine Wasser und sagte: «O du reines und flinkes Wasser! Alles, was auf der Welt lebt, kommt von dir1 und gelangt wahrhaftig durch dich zur Entfaltung. Überall ist das wachsende Grün das Zeichen deiner Gegenwart; zu ­erfrischen ist deine Berufung. Die Paradiesflüsse Salsabīl2 und Kouthar sowie auch Redwān gehören zu dir; dir gehört der ­Lebensquell für die Geschöpfe. Auf dem Weg des Geliebten fließt du froh und frisch und wirst dadurch jeden Augenblick noch wohltuender. Wie das Schreibrohr setzt du in vollständiger Liebe zu dem Geliebten erst deinen Kopf und dann den Fuß auf den Pfad. Du bist immer reinigend und rein, Körper und Geist, Inneres und Äußeres. Wie der Geist durchdringst du alle Dinge; durch dich wurde Noah in beiden Welten ausgezeichnet. Alles, was Glanz besitzt,3 ist dir untertan; denn von dir kommt die Ehre alles Existierenden. Niemand ist durstiger als das Eisen; durch dich wird der Dolch mit Glanz versehen. Wer das Eisen auf diese Weise benetzt hat, kann auch meine Seele löschen. Erkläre mir für einen Atemzug den Weg zu Ihm; dieser eine Atemzug bedeutet mir hundert Welten.» Bei diesen Worten erhitzte sich das Wasser wie Feuer; ein Feuer stieg von ihm auf und es verlor seinen Glanz. Das Wasser sagte: «Wer bin ich schon? Durch meinen feuchten Saum entehrt und durch meine flüssige Gestalt weder Mann noch Frau. Alle Welt wäscht sich mit mir die Hände, und von mir haben die Menschen ihre wässrige Natur. Tag und Nacht fließe ich nackt dahin und suche immer nach dem Sinn, bald sanft vor Hoffnungslosigkeit, bald heiß vom Grübeln. Bald walle ich deshalb hundertfach auf; bald tose und brülle ich deshalb. Ich, der ich von Kopf bis Fuß in Tränen bin, koche vom Feuer der



17. Der Pilger geht zum Wasser177

Eifersucht. In der Hoffnung auf Besserung floss ich lange dahin­, doch es hat mich nirgendwohin geführt. Man möchte meinen, dass mein Ziel für mich erkennbar ist, doch dann drehe ich mich wieder um das Mühlrad. Wenn ich mich wie das Feuer auf der Suche erhitze, sagt man zu mir: ‹Sei nicht so unverschämt, du Unhöflicher!› Trotz solchen Schmerzes habe ich nie einen Hauch von Ihm erhalten; wie soll ich jemand anderen auf den Weg zu Ihm führen?» Der Pilger ging zu dem hilfreichen Meister und enthüllte ihm die Edelsteine der Schatulle seines Gemüts. Da sagte der Meister zu ihm: «Das Wasser fließt rein dahin, und seine Aufgabe ist es, immer zu reinigen. Weil das Wasser vom Ursprung her aus der Reinheit stammt, wurde der Gottesthron auf dem Wasser errichtet.4 Wer in Reinheit auf diesem Pfade schreitet, dessen Seele wird Gottes Reinheit erkennen. Deine hündische Triebseele hat dich befleckt; du bist unter Schmutz begraben. Wie der Pharao wirst du in keinem Moment besiegt; obwohl du Ägypten nicht besitzt, gibt es für dich das Pharaonentum. Du bist wie Ägypten mit dem Pharao verbunden; du bist des ­Pharaos Freund, denn Hāmān ist dein Wahrsager. Du Sklave deines Bauches und deiner Begierden, du bist ein Aasfresser; nachts ein Tiefschläfer und tags ein Müßiggänger. Der Höllenhund, den du gehört hast, schlummert in deinem Inneren, und du bleibst seelenruhig! Dieser Höllenhund, der Feuer frisst, verschlingt alles, was du ihm vorsetzt. Warte nur, bis der Hund der Triebseele und des Egos aus der Hölle aufsteigt und dich angreift! Dieser Hund ist dein Feind und der schlimmste aller Hunde. Wie viele Hunde nährst du, Unwissender? Gib deiner Seele immer die Nahrung deines Herzens, damit deine Nahrung­ nicht ungesetzlich wird. Wann könnte dein täglich Brot, das du isst, ungesetzlich sein? Wenn du es isst, verzehre es wie ein wahrhafter Mann.»

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17. Der Pilger geht zum Wasser

1. Der scharfsichtige Scheich und seine Nahrung Der scharfsichtige Ahmad Chedrūyeh sagte einmal: «Ich habe alle Geschöpfe dieser Welt beobachtet. Sie halten sich an derselben Futterkrippe auf, Edle wie Gemeine; ich sehe für alle stets nur eine Nahrung.» Einer fragte ihn: «O großer Scheich! Warst du nie bei dieser Krippe?» Da antwortete der Scheich: «Gewiss doch!» – «Dann sage uns, o Scharfsinniger, was unterscheidet dich von den anderen?» Der Scheich sagte: «Der Unterschied besteht darin, dass die anderen sich am Essen ergötzen. Sie sind eigensinnig und unwissend; sie prahlen mit ihrem Rang und Besitz. Alle lachen sie und brüsten sich; alle ähneln einander und spielen vergnügt. Ich esse nur wenig, was ich eben zum Leben brauche. Ich bin nicht unachtsam, denn ich kenne den mystischen Zustand. Immer vergieße ich blutige Tränen wie der Regen; ich lache nicht und brüste mich nicht mit weltlichen Dingen. Das ist der Unterschied zwischen mir und ihnen; so ist die Wegzehrung der Muslime.» Gutes Brot ist eine Gnade für die Welt und das Ergebnis hundertfacher Weisheit. Reinheit und das Einheitsbekenntnis sind die dieser Gnade eigenen Merkmale. Wenn du sie mit dem ­Gotteslob verbindest, ist das sehr gut. Wenn aber das Füttern deines inneren Hundes als ständige Gnade gilt, dann wird diese Gnade für dich in der Tat ungesetzlich werden. In Reinheit und Gehorsam besteht die Gnade, wenn sie dich nur eine Stunde lang begleitet. Durch Beschmutzung wird sie zur Schande der Welt, und augenblicklich verschwindet Sein Name aus der Welt! 2. Abū Saʿīd und die Latrine Eines Tages sah der scharfsinnige Abū Saʿīd eine geleerte La­ trine am Wegesrand. Er stützte sich auf seinen Stock, blieb dort lange so stehen und schaute. Jeden, der das sah, widerte es an. Viele fanden es besonders frevelhaft. Schließlich fragte ihn ein Jünger nach der Bedeutung dieses mystischen Zustandes. Der Scheich antwortete ihm: «Als der Schmutz zutage trat, wurde



3. Der feine Herr und der Narr vor der Latrine179

mir auf wunderbare Weise sein Geheimnis enthüllt. Er sagte: Ich war hundert Gnadengaben, gleichermaßen Stärke wie hohes­ Streben. Ich bin aus dem Palast Gottes hervorgegangen und auf Seinem Wege zu gutem Brot geworden. Ich besaß viel Farbe, Geschmack und Duft, und jeder wollte mir Gesellschaft leisten. Ich war nicht lange mit dir zusammen, und schon habe ich diese ganze Hoheit abgelegt. Deinetwegen habe ich hundert Anbetungen versäumt und mich durch dich in einer Stunde in so etwas verwandelt. Deine Gesellschaft hat mich so schön und jetzt so besudelt, elend und verächtlich gemacht. Da du ein ­solcher Mann bist, der Gnadengaben verzehrt, ist das, was mir gehört, dahingegangen, du Unglücklicher.» 3. Der feine Herr und der Narr vor der Latrine Ein feiner Herr ging hochmütig seines Weges und kam an einer geleerten Latrine vorbei. Er hielt sich fest die Nase zu und raffte sein Gewand. Ein Narr auf dem Wege sagte: «Halte dir hier nicht die Nase zu, denn sehr schnell wird man dir diesen Schmutz vorsetzen und zu dir sagen: Iss! Halte dir heute deswegen nicht die Nase zu, denn morgen wird es deine köstliche Speise sein.» Warum erscheint dir die Nahrung, an der du dich morgen ergötzt, heute abscheulich? Ihr, die ihr euch in Blut und Schleim wälzt, habt euren Magen zu einem Grab für die Toten gemacht. Bald stinkt ihr wie Hunde; bald tötet und fresst ihr wie Wölfe. Ihr entweiht die reinen Gnadengaben und beansprucht doch die Führung. 4. Der Misthaufen und der Friedhof Ein Weiser ging gedankenverloren einher, als er auf einmal ­einen Misthaufen und einen Friedhof in der Steppe erblickte. Er rief aus: «O ihr Zuschauer, das hier ist eine Gottesgabe! Und das hier sind die, welche die Gottesgabe verzehrt haben.» Wie seltsam – mit einer starken Triebseele im Inneren rebelliert der Mensch sogar gegen Gott. Die Niedertracht der Welt kommt von seiner Bosheit, und dennoch liebt er die Göttlich-

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17. Der Pilger geht zum Wasser

keit. In jeder Triebseele steckt dieser Anspruch, aber selbst beim Pharao hat er sich als gut erwiesen. 5. Der Pharao und Eblīs Eblīs, der Verfluchte, war beim Pharao und nahm eine Handvoll Kies vom Boden auf. Dann verwandelte er den Kies in Perlen und diese wieder zurück in Kies. Er sagte zum Pharao: «Nimm auch du Kies und verwandle ihn in Perlen!» Der Pharao antwortete: «Davon verstehe ich nichts.» Da öffnete der verfluchte Eblīs den Mund und sagte: «O du mit solchem Kopf und Bart! Es kommt mir hässlich vor, wenn du bettelst. Wie kannst du dich als Gott aufspielen? Du stellst deinen perlenbesetzten Bart zur Schau und erhebst Anspruch auf den Thron und die kostbare Krone. Wie kannst du dich mit einem solchen Bart anfreunden? Es ist dein Bart!5 Schämst du dich nicht? So verworfen, wie du bist, würde ich dich nicht einmal als Sklave nehmen. Du bist niederträchtig und kahlköpfig bis zu den ­Ohren. Wie könnte man dich als Gott anerkennen? Sei still!» Ich erprobe den Gehorsam der ungläubigen Triebseele zu ­jeder Stunde. Ich sehe sie in einem gefährlichen Meer ertrinken; mit jedem Atemzug sehe ich, wie es schlimmer mit ihr wird. Was dieser unheilvolle Hund mir antut – ich will ein Ungläubiger sein, wenn ein Ungläubiger aus Byzanz so etwas tut! Niemand ist mir so ein Feind wie ich selbst. Wer ist unwissender als ich? Niemand. Was mir geschah, geschah keinem anderen. Mein Stolz ist noch nicht ungebrochen. Das Glück war mir nichts als eine regenlose Wolke, das Ergebnis meines Lebens nichts als ein Seufzer. Der Körper, der nicht einmal einen Schmerz heilen konnte, wurde spindeldürr wie ein Haar und hat die Klage nicht gemindert. Wie schade, dass wir unsere Seele für den Körper hingeben und ihren Wert kein bisschen kennen: Durstig sterben wir in der Flut, obwohl das Wasser aus der Quelle des Lebens jedem zusteht. Weder bleibt jetzt ein Gastmahl für den Lebensgenuss noch ein Licht für die Lebenskerze. Wo sollen wir den Schmerz lindern? Das Leben ist dahin­; wohin sollen wir unsere Klage richten? Sogar der Stahl schmilzt



6. Der Einbrecher und der Derwisch181

vor Schmerzen zu Blut; warum ist das Herz, das aus Blut ­besteht, zu Stahl geworden? Solange du keinen Schmerz verspürst, mein Sohn, wie kann man dich einen Mann nennen, mein Sohn? Jeder, der nicht den Dorn der Niedrigkeit im Auge hat, hat nichts mit der Rose der göttlichen Mysterien zu tun. Du verhältst dich wie Sein Derwisch-Ungläubiger;6 wie kannst du so zu Ihm gehen? Wenn dein Haus ohne Glauben und Herz ist, wie willst du ohne Glauben und mit leerem Herzen vor Gott treten? Wenn du im Haus die Trauerklage anstimmst  – kann denn dein Herz an einem solchen Ort fröhlich sein? 6. Der Einbrecher und der Derwisch Ein Dieb drang einmal in ein leeres Haus ein, in dem ein Derwisch lebte. Der Derwisch bemerkte den Eindringling, der lange suchte, ob etwas da sei, doch außer Luft nichts fand. Da der Dieb bei seiner Arbeit hundertmal Gott anrief, musste der Derwisch lachen. Darauf sagte der Dieb zu ihm: «Wie kannst du bei so einem leeren Haus lachen, du Dummkopf? Solch ein Haus gibt es nicht oft auf der Welt; das ist kein Ort zum Lachen, sondern zum Weinen.» Du nennst dich aus Unwissenheit mutig, nur weil du auf den Wänden des Bades einen Löwen siehst. Wenn aber aus dem Wald das Gebrüll eines Löwen ertönt, zeigt sich, wie tapfer ein Mann wirklich ist. Wie könnten vergängliche Wesen Zugang zur anfangslosen Ewigkeit haben? Seit wann ist Rostams Mut eine Eigenschaft von Feiglingen? Wenn die Sonne Seiner Schönheit erscheint, was bist du dann wert, so wie du an Einbildung gewöhnt bist? Wenn Seine unbeschreibliche Schönheit den ­Ersten und den Letzten auf ewig erscheint, taucht sie ins Meer der Unendlichkeit ein und kommt erneut daraus hervor. Du bist inmitten dieses Schaums und Rauchs, weil du nicht sein willst, was du werden wirst. Am Ende wirst du gehen müssen, ohne Wissen über Vergangenheit und Zukunft. Weder erhältst du ein Zeichen des Anfangs noch ein Atom des Endes. Ich bin zwischen diesem und jenem und weder dieses noch jenes; ohne Wissen von Körper und Seele bin ich weder Körper noch Seele.

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17. Der Pilger geht zum Wasser

Der Unglaube ist fest verankert und der Glaube schwach; die Triebseele herrscht, der Körper ist stark und die Seele matt. Was kann ich nur tun? Es gibt so viele Fragen! Ich bin in Verwirrung, und dazu gesellt sich noch die Liebe. Jetzt bin ich ­voller Bestürzung und Trauer; ich ereifere mich gar über den Flügel einer Ameise. Ich weiß nicht, woher dieses «Ich weiß nicht» kommt; woher kommt die Frömmigkeit meines Verstandes und die Liebe in meiner Seele? Ich weiß nichts von dem, was ich wusste, und wenn ich es weiß, woher wüsste ich es dann? Die Quelle meines Wissens ist Unwissen; mein ganzes Unwissen ist Verwirrung. Meine ganze Verwirrung ist Trauer, und meine ganze Trauer kommt von meiner Sterblichkeit. Gäbe man einem Toten das Leben des Glaubens, vergäbe man dann Dschamschīds Tochter ohne Brautgeld? Trinken ist Gift für ­einen Wassersüchtigen, besonders dann, wenn die Wassersucht seinen Bauch anschwellen lässt.

Achtzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Erde

Der Pilger begab sich zur schwerbeladenen Erde und sagte: «O niedergeworfene und bedrückte Erde: Überall, wo es in beiden Welten ein Geheimnis gibt – auch wenn du es enthüllst –, hältst du es dennoch verborgen. Du warst der Teig in der Hand der Allmacht und wurdest mit den Geheimnissen ihrer Schöpfung betraut. Da du von den vier Elementen mit Recht die größte Festigkeit besitzt, ist dein Geld, wenn ich es von dir erbitte, ­immer gängig. Von außen gesehen trägst du Last und Kummer, doch im Inneren verbirgst du viele Schätze. Bei dir sehe ich hunderttausend Schätze; mach sichtbar, was du auf die Seite gelegt hast! Wie kann jemand, der einen so außergewöhnlichen Schatz besitzt, andere davon ausschließen? Du weißt, dass ich ein Geheimnissucher bin; enthülle mir also das Geheimnis ­deines Schatzes! Öffne meinem trunkenen Herzen eine Tür, und zeige mir einen Weg zu meinem Ziel!» Als die Erde diese Worte hörte, wurde sie, Wind in der Hand, gleich dem Staub des Weges. Sie antwortete: «Wer bin ich schon auf dieser Welt, um ein verborgenes oder offenbares ­Geheimnis zu haben? Ich besitze nichts als Niedergeschlagenheit, und der Tod ist mein einziges Vermächtnis. Das Schicksal öffnete die Hand über mir, aber dann legte es mir ein Joch um und band mich an den Ochsen. Anfangs hob man mich aus dem Staub des Weges empor, aber dann hat man mich wie die Erde mit Staub bedeckt. Aus Hoffnungslosigkeit bin ich so ­betrübt, dass ich im Staub schlafe und Staub esse. Sie haben mir die Ochsen zum Feind gemacht und sie alle in meine Scheune getrieben. Auf meinem Körper trage ich eine Bürde wie ein Berg, und jeden Augenblick nehme ich eine neue Schar auf. Auch wenn ich mich unter den Füßen ganz winzig mache, be-

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18. Der Pilger geht zur Erde

merke ich nirgendwo die kleinste Veränderung. Tag und Nacht bedrückt mich dieser Schmerz; ich weiß nicht, ob ich lebendig oder tot bin. Was mir an Bedrückung und Grausamkeit an­ getan wurde, wird man mir meiner Schande im Jenseits zurechnen. Dadurch ist in meiner Bedrängnis die Gefahr nicht gering; dadurch habe ich Staub auf dem Kopf und stehe im Staub. Alle Toten legt man in mich hinein; den Tod begräbt man unter ­einem goldenen Deckel. Wie sollte ich Unwissende inmitten meiner Toten auch nur eine Spur von Leben haben? Wo könntest du Leben aus einem toten Herzen finden? Gehe weg von mir, denn ich bin unfruchtbar.» Der Pilger ging zu dem edlen Meister und erzählte ihm von seinem Zustand. Der Meister sagte zu ihm: «Die schwerbeladene Erde ist die Welt der Sanftmut und der guten Sitte. Wenn du so viel erträgst wie dieser Staub, wirst du in beiden Welten rein wie Wasser sein. Wenn du auch nur so viel erträgst wie ein Atom, wirst du prächtig wie die Sonne scheinen. Wer nur ein Haarbreit ertragen kann, dessen Wesen wird die ganze Welt mit Moschusduft erfüllen.» 1. Der Fürst und die bittende Alte Der ruhmreiche ʿAbdullāh Tāher1 kehrte von der Jagd in die Stadt zurück. Auf seinem Weg kam er über eine Brücke, hinter der plötzlich eine alte Frau hervorsprang. ʿAbdullāhs Pferd scheute und warf ihm den Helm von seinem Scheitel. ʿAbdullāh wurde sehr zornig und verlangte, dass sie sich ihm vorstelle. Er sagte: «O Unwissende, was ist geschehen, dass du dir herausnimmst, dich mir entgegenzustellen?» Da erzählte ihm die Alte Folgendes: «Einer meiner Söhne muss schuldlos elendiglich in deinem Gefängnis schmachten. Sei gnädig und lass ihn frei, o Fürst! Meine Seele brennt aus Schmerz um ihn; mein Gesicht ist schwarz geworden wegen seines gelben Gesichts. Ich bin alt und am Ende meiner Tage angekommen. Hab Erbarmen mit meinem kummervollen Herzen!» In seinem Zorn tat der Fürst einen Schwur: «Dieser Sohn wird im Kerker gefangen sterben. Ich werde ihn niemals aus dem Gefängnis entlassen, sondern



2. König Nasr Ahmad und der fromme Scheich Elias185

ihn dort schwach werden lassen.» – «O erfahrener Fürst», antwortete die alte Frau, «hat Gott denn nicht die Herrschaft über die Welt? Doch auch wenn du nichts mit Gottes Werk zu tun hast: Er ist mächtig und weiß alles. Ich werde Ihm jetzt meine Sache überlassen. Du geh; ich habe meine Last selbst getragen. Solange es die Gerechtigkeit verheißende Tür der Weltherrschaft gibt, wäre es eine Schande, an deine Tür zu klopfen. Ich wende mich jetzt ab und gehe mit brennender Seele fort, damit ich sehe, wer mächtiger ist: du oder Gott.» Diese Worte berührten ʿAbdullāh Tāher, und er vergoss blutige Tränen in den Staub des Weges. Jetzt tat er liebenswürdig einen anderen Schwur: «Ich werde die Brücke nicht über­ schreiten, bevor mir nicht dieser Sohn gebracht wurde, bevor ich nicht sein Gesicht sehe und er meines.» Ein Mann ritt zum Gefängnis und brachte ihm den Sohn zu Pferde. Als der berühmte Fürst dessen Schönheit sah, schenkte er ihm ein Ehrengewand und sagte zu jenem stolzen Mann: «Bringt ihn in seine Stadt! Dann soll man nach links und rechts ausrufen: Das ist der Freigelassene Gottes!» Solch ein Werk, das einen Berg zu Stroh macht, hat Gott ʿAbdullāh zum Trotz getan. Wer viel ertragen kann, ist gewiss stärker als die Könige. 2. König Nasr Ahmad und der fromme Scheich Elias Nasr Ahmad2 hatte im Frühling Lust, durch den Garten und die grünen Wiesen zu spazieren. Er hatte Sänger mit Musik­ instrumenten und Wein vorausgeschickt. Es gab damals einen Markt- und Sittenvogt namens Elias, der strenggläubig und dessen Geist vollkommen war. Dieser kam mit einer Peitsche in der Hand auf die Gruppe zu und verschüttete und zerschlug ­alles, was er sah. Man berichtete Nasr sogleich davon. Nasr rief Elias zu sich und sagte: «Mein kleiner Elias, den der Glaube übermannt hat!» Elias antwortete: «Mein kleiner Nasr, was ist los?»  – «Sag, wer hat dir solche Maßnahmen befohlen?»  – «Sag, wer hat dir dein Königtum verliehen?» – «Der Beherrscher­ der Gläubigen.»  – «Und ich habe mein Amt vom Herrn der Weltbewohner.» Nasr fragte: «Fürchtest du dich denn über-

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18. Der Pilger geht zur Erde

haupt nicht?» – «Ich bin mit dieser Peitsche auf der Welt allein. Ich begehre niemals von jemandem etwas, und nichts auf der Welt kann mich beeindrucken. Ich fürchte mich keinen Augenblick lang vor dem Tod und auch nicht vor Heimsuchungen, so wie du. Wenn jemand Blut vergießt und nach meinem Blut jagt, dann ist es gut, denn dieses Blut führt mich zu Gott. Dass das Blut dir ein Führer zu Gott ist  – gibt es etwas Besseres auf ­dieser Welt? Dir aber gefällt der Geruch von Moschus nur deshalb so sehr, weil du Blut darin witterst.» Diese Worte gefielen Nasr wirklich sehr und besänftigten seinen Zorn. Er sagte: «Du hast mich erfreut; freu auch du dich jetzt. Ich gewähre dir eine Bitte, und dann kannst du gehen.» Elias antwortete: «Ich brauche nichts.» Da sagte Nasr: «Irgendeine Bitte wirst du bestimmt­ haben.» Neben dem edlen König stand ein schmächtiger Sklave. Scheich Elias musterte ihn und sagte: «Ich habe nur eine Bitte an ihn und nicht an den König.» Nasr sagte: «Was könntest du in Anwesenheit eines Königs wie mir von ihm erbitten? Schäme dich!» – «Dann schäme ich mich jetzt dafür, vor dem Herrn der Welt etwas von dir zu erbitten.» Doch Nasr bestand darauf, dass er sich etwas wünschen solle. Da sagte Elias: «Dann soll der König mir genau achtzehn dscharib3 Weizen geben, denn so hoch ist meine Schuld in Samarkand.» Sofort befahl Nasr, ­guten Weizen zu besorgen und mit Kamelen nach Samarkand zu bringen. Darauf sagte Elias: «O König, ich möchte, dass du selbst den Weizen ohne Hochmut auf deinen Nacken legst und frohen Herzens nach Samarkand trägst.» Nasr antwortete: «Du kennst mich nicht, weil du mit mir noch nie unterwegs ­gewesen bist. Wenn ich nur zwei Schritte zu viel im Garten gehe, bekomme ich überall Blasen an den Füßen. Wie soll ich dann mit einer solchen Last auf dem Kopf von Nischapur4 bis zu einem fernen Ort kommen?» Da sprach Elias: «Es ist klar, dass du zu schwach bist, um mit einer solchen Last auf dem Nacken bis Samarkand zu kommen. Versuchtest du es doch, so wüsste ich, wie weit du kämest. Doch, o Wunder, das ganze ­Gewicht von Khorasan5 lastet auf deinem Nacken bis in die Ewigkeit. Wenn der Tag der Auferstehung seinen Teppich aus-



3. Ahnaf und der Unwissende187

breitet, wie willst du mit einer solchen Last den Weg zurück­ legen? Ich sehe, wie die Welt auf deinem Nacken lastet, nur ­damit du einen Laib Brot zu essen hast. Mit einer derartigen Last, die einen nicht atmen lässt, kann man sich nicht auf den Weg Gottes machen.» Da bereute Nasr und kehrte zurück. Er gab sein Königtum auf und wurde zu einem Mann des Geheimnisses. Wer im ­Ertragen rein ist, bleibt doch Erde, auch wenn er zum Himmel erhoben wird. Seine Geduld trägt die Last einer ganzen Welt; er gewinnt, aber erleidet auch Verlust. 3. Ahnaf und der Unwissende Ein Unwissender sagte zu Ahnaf: «Sei nicht wütend! Wenn du mit mir schimpfst, werde ich es dir zehnfach zurückgeben.» Ahnaf erwiderte: «Selbst wenn du zehnmal mit mir schimpfst, ich werde nicht einmal mit dir schimpfen.» Es ist kein Zeichen von Charakter, dass du, sobald du etwas von einem Niedrigen erfährst, durcheinanderkommst. Wenn du dich von der Erniedrigung durch einen Niedrigen abwendest, wie willst du dich dann vor der Majestät Gottes er­ niedrigen? Was bedeutet Charakter? Es bedeutet, das Blut der Geschöpfe zu trinken,6 es nicht zu verheimlichen und nicht zu verbergen. 4. Dschunaid und das gestohlene Hemd Dschunaid hatte, wie seltsam, ein leeres Haus. In dieses drang ein Dieb ein, fand jedoch keine Beute. Schließlich entdeckte er ein Hemd, nahm es mit und brachte es am nächsten Tag einem Händler. Als dieser einen Käufer für das Hemd gefunden hatte, wollte er, als er es kaufte, den Besitzer erfahren. Zufällig kam der wegweisende Dschunaid vorbei und sagte: «Ich kenne den Besitzer; du kannst es kaufen.» Ich habe oft von der Duldsamkeit der Erde geredet. Werde zu Erde, damit deine reine Seele daraus entwachsen kann. Dein Leben vergeht schnell wie der Wind; werde zu Erde, denn bald

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18. Der Pilger geht zur Erde

wirst du Erde sein. Wenn du mangels Wasser dich mit Sand wäschst, ist es der Sand eines Menschen, den du zu einem Krug gemacht hast. Der Sand, den du für deine Waschung benutzt, stammt bestimmt vom Scheitel eines ehrenwerten Mannes. Es gibt keinen Sand, der nicht Lehm war. Es gibt keinen Lehm, der nicht ein reines Wesen war. Es gibt kein reines Wesen, das nicht eine Seele gehabt hätte. Es gibt keine Seele, die nicht den Gelieb­ ten gehabt hätte. Pass also auf, denn solange du umhergehst, bemerkst du nicht, dass du in Blut trittst. In jedem Atom Erde ruht ein dahingeschiedener Mensch; jeder Tropfen ist das Blut der Verstorbenen. Die Erde wird hundertfach gesiebt, bevor sie mit dem Blut des Herzens vermischt wird. Alles, was dem Boden­entsprießt, kommt aus Erde und Blut. Was du auch ­findest, wie das Feuer verzehrst du es; du ernährst dich also gut von Erde und Blut. Was tun all die in Erde und Blut Begrabenen? Man könnte sagen, sie mischen aus Erde und Blut eine Arznei. Könnte doch einer von ihnen den Kopf heben, etwas sagen, eine Tür öffnen! Dieses Geheimnis verbirgt sich immer mehr; deshalb kocht das Blut immer heftiger. Keine Elle Erde ist frei von Blut, denn die Erde ist ein einziger Friedhof. 5. Ibrahīm-e Adham zeigt den Weg zur Stadt Ibrahīm-e Adham7 ging seines Wegs, als plötzlich vor ihm ein Reiter auftauchte und ihn fragte: «O Wanderer, wo geht es zur Stadt?» Da zeigte Ibrahīm geradewegs zum Friedhof. Das machte den Reiter so zornig, dass er ihn mehrmals mit der Peitsche schlug, so dass ihm das Blut über Kopf und Gesicht lief und durch das Blut der Staub der Straße zu Lehm wurde. Als der Reiter die Stadt erreichte, sah er eine Menschenmenge aufgeregt umherlaufen. Er fragte: «Was bedeutet diese Rastlosigkeit, ihr Leute?» Sie antworteten: «Ibrahīm-e Adham wird bald hier sein. Wir haben es soeben erfahren. Du hast ein Pferd; ­geleite ihn her! Wer ihn sieht, ob in Wirklichkeit oder in der Vorstellung, ist vor den Qualen des Jenseits geschützt.» Darauf fragte der Reiter sie nach seinem Aussehen, und als sie ihn beschrieben, weinte er heftig. Er berichtete, wie er ihn



5. Ibrahīm-e Adham zeigt den Weg zur Stadt189

geschlagen und wie er sein Gewand und seine Hand mit seinem Blut befleckt hatte. Er schämte sich, ritt zurück und sah, wie Ibrahīm seine Kleidung und das Blut von sich abwusch. Der Ritter ging zu ihm, warf sich zu Boden und weinte bitterlich. Er bat ihn um Verzeihung, die Ibrahīm ihm sofort gewährte. Darauf­fragte der Reiter: «Aber warum hast du so mit mir gesprochen?» Er antwortete: «O du vollkommener Mensch, eine dauernde Ansiedlung gibt es nur auf dem Friedhof. Jeden Tag blühen die Gräber mehr auf, während die Städte immer mehr verkommen. Auch wenn man die ganze Welt besiedelte, wisse am Ende, dass man nur einen Friedhof angelegt hat. Das ist meine Antwort, edler Reiter. Ich habe die Wahrheit gesagt; denke nichts Schlechtes!»

Neunzehntes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Berg

Der Pilger kam zum Berg voller Edelsteine und sprach: «O du, der du Edelsteine heranziehst und den Gürtel mit Edelsteinen geschmückt hast, du hast eine Spitze aus Eisen und Gold. Dein Fuß steht nicht fest, denn du sitzt auf Edelsteinen; du passt nicht in den Raum und nicht in die Zeit. Stolz reckst du deinen Kopf in den Himmel. Ich sehe, dass durch dich die Erde fest ist, denn durch deine Würde bist du ein Pflock für die Erde.1 Doch durch die Liebe ist deine Würde geschwunden und auch die Geduld deiner rastlosen Seele. Bestimmt bist du nicht ruhig; du ziehst Tag und Nacht vorüber wie die Wolken.2 Du bewahrst die Reinheit in der ganzen Welt, und diese wird dir zum Reich der Edelsteine. Dir gehört der Berg der Barmherzigkeit auf der ganzen Welt; der bedeutungsschwere Vers ‹Qāf. Beim Koran!›3 gilt dir. Wenn sich auch kein Stück Brot in deinem Libanon findet, so hast du doch den Pol der Welt zu Gast. Beschriebe ich nur ein Atom deines Berges Sinai, würde ich von deinem Glanz wie die Sonne scheinen. Weil du so viele Edelsteine in der Hand hältst, besitzt du auch Nahrung und die Stärke des Berges Ararat­. Als die Sintflut die Erde überschwemmte, bot nur der Ararat Zuflucht. Du hast deinen Ararat; so gewähre auch mir Großmut!4 Ich schenke dir mein Leben; bring mich zu meinem Ziel!» Als der Berg das hörte, sagte er: «O Ungetreuer, hörst du im Echo meine Klage nicht? Wessen Palast wird durch diesen Schmerz von Erdbeben erschüttert? Für wen gilt: ‹Ihr Berge! Lasst das Lob widerhallen!›5? Meine Füße sind gebunden bis zur Auferstehung, Steinigung und Steinschläge plagen mich. Ich bin mit hunderttausend Gipfeln gekrönt, aber wie kann ich gebundenen Fußes auf einem langen Weg gehen? Ich bin er-



1. Die drei Wege des Suchenden191

starrt und beschämt, weil ich für immer ein Herz aus Stein habe. Immer wenn Er mir nicht das Herz bricht, übergebe ich Ihm Schwert und Gürtel. Wenn ich auch ein Herz aus Eisen und Stein hatte, es wurde zu Blut, und ich dachte, es seien ­Rubin und Achat. Bald bereiten mir die Schritte von Nichts­ nutzen Unbehagen; bald werde ich von Niederträchtigen aufgeschlitzt; bald werfe ich wie eine alte Frau Kieselsteine, um aus ihnen die Zukunft zu lesen. Mit der Tulpe färbe ich den Stein mit Blut; dann kommt sie als Freund aus dem Stein wieder hervor. Sowie mein Herz Blut durch die Klage vergießt, lässt die Tulpe den Stein bluten. Überall, wohin ich bedrückten Herzens auf der Suche komme, antwortet mir das lärmende Grollen des Steins. Was erwartest du von einem Stein wie mir? Ein Stein kann dir nichts eröffnen.» Der Pilger ging zu dem herzerquickenden Meister und berich­tete ihm betrübt, was er erlebt hatte. Darauf sprach der Meister zu ihm: «Berg und Gebirge sind vom Fuß bis zum Scheitel ruhig und würdig. Obgleich er nach außen Festigkeit besitzt, hat er doch Beweglichkeit. Auch wenn man ihm das Schwert an seinen Scheitel gelegt hat, zieht er doch ständig ­gegürtet dahin wie eine Wolke.6 Weil er auf der Suche einen so langen Weg zurückgelegt hat, sind seine Eisenschuhe gewiss verschlissen.» 1. Die drei Wege des Suchenden Ein Sucher hatte das, was er suchte, verloren und wanderte Tag und Nacht durch die Welt. Von Seelen- und Weltschmerz getäuscht, irrte er verwirrt umher. Schließlich konnte er auf der Suche Kopf und Fuß nicht mehr unterscheiden. Da machte er sich Eisenschuhe, und nachdem er die Welt hundertmal durchlaufen hatte, o Wunder, hatte er die Eisenschuhe verschlissen. Auf dem langen Weg waren seine Eisenschuhe zu Stäubchen zerrieben worden. Er konnte in seinem Schmerz noch so eifrig suchen, doch er fand nirgendwo eine Spur von Ihm. Endlich öffneten sich vor ihm drei Wege, und am Beginn jedes Weges stand etwas mit schwarzer Tinte geschrieben. Am Beginn des

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19. Der Pilger geht zum Berg

ersten stand: «O Diener, wenn du diesen Weg vollständig entlanggehst, auch wenn er mühsam und lang ist, wirst du doch schließlich das Ende sehen.» Auf dem zweiten Weg stand: «O Aufrichtiger, wenn du diesen gewaltigen Weg gehst, wirst du ihn entweder plötzlich verlassen oder für ewig auf ihm gefangen sein.» Auf dem dritten stand: «O reiner Mann, wenn du diesen verhängnisvollen Weg nimmst, wirst du auf ewig niemals ­zurückkehren, und es wird weder Zeichen noch Kunde von dir bleiben. Du wirst ausgelöscht, du entschwindest, du wirst ausgelöscht. Was gäbe es Vergänglicheres als dieses? Noch nicht einmal das.» Da sagte der Mann: «Da es keine Hoffnung auf die Perle der Vereinigung gibt, kann es nur ewige Hoffnungs­ losigkeit geben. Ich wähle für immer den dritten Weg.» So sprach er und verschwand auf jenem Weg. Ende. Der erste Weg bedeutet, dem religiösen Gesetz zu folgen und die Gottesverehrung ohne die natürlichen Triebe zu üben. Dein zweiter Weg ist der mystische Pfad, und wenn du den dritten willst, ist es die Wahrheit. Wenn du auf dem Weg der Wahrheit einen Schritt tust, wirst du ausgelöscht, bevor du einen Atemzug tun kannst. Wer auf dem Weg der Wahrheit zwei Schritte tut, wird für ewig entwerden  – und Ende. Mit dem ersten Schritt löst er sich von sich selbst, mit dem zweiten entwird er in Gott. Wer nur einen Duft davon aufnimmt, passt nicht mehr in sich hinein, sei er auch dünn wie ein Haar. 2. Nezām ol-Molk und der Sufi Nezām ol-Molk sah eines Tages einen treuen, pflichtbewussten und vollständig reinen Sufi und sagte zu ihm: «Wünsche dir von mir, was du willst, denn du bist bedürftig, und ich bin der König­.» Darauf erwiderte der Sufi: «Da ich sogar Gott um nichts bitte, werde ich dich erst recht nicht um etwas bitten.» Da sagte er: «Wenn es dir an nichts fehlt, dann erfülle du mir einmal einen Wunsch! Wenn du dich in dem reinen Augenblick­, in dem du bei Gott bist – wenn jener königliche Augenblick für dich Wirklichkeit wird –, wenn du dich in jenem Augenblick an Nezām erinnerst, dann wird jener Augenblick ewig für ihn



3. Das Testament eines Narren193

vollkommen sein.» Da sagte der Sufi zu ihm: «Du Unwissender, wenn ich bei Gott, dem Gerechten, bin, macht Er mein Sein ­zunichte. Wie kann etwas Nichtseiendes an dich denken? Da ich dort offensichtlich nicht existiere, wie könnte ich mit jeman­ dem dorthin gehen? Dann gibt es für niemanden auch nur ein Haarbreit Platz; kein Haarbreit passt dort hinein. Wie könnte ich in so einer Stunde aufstehen und jemanden vom Weg dorthin bringen?» 3. Das Testament eines Narren Ein wunderlicher, gebrechlicher Narr hatte niemals Kleidung oder Nahrung. Er war ein fröhlicher Liebender und ein erstaun­ licher Narr, der seit langem in diesem tiefen Meer versunken war. Tag und Nacht brannte er aus Liebe zu dem Freund; glücklich ist, wer vor Liebe zu Ihm brennt. Hundert Plagen ­waren sein Schicksal; der Strudel der Heimsuchung hatte ihn mitgerissen, aber er blieb sein ganzes Leben lang fröhlich und gelassen. Er war trunken vom Wein des Unglücks; der Elefant des Leidens trat ihn mit seinen Füßen nieder. Ohne Unter­ brechung wiederholte er mit Tränen in den Augen: «O Gott, am Ende werde ich Dir Antwort geben.» In seiner Todesstunde rief der Unglückliche jemanden und eröffnete ihm seinen letzten Willen: «Wenn meine Seele den Körper verlässt, dann ersetze mein Hemd durch ein Leichentuch. Dann reiße mir das Herz aus der Brust, stelle dieses mein blutendes Herz draußen hin und schreibe mit meinem Herzblut deutlich auf das Leichen­ tuch, den Grabstein und auf die Erde: ‹Jetzt gibt Dir dieser ­Unglückliche die Antwort: Er stirbt und gibt Dir die Handvoll Erde und Wasser zurück. Du hast nicht mit ihm zusammen in der Welt Platz gefunden; deshalb überlässt er Dir die Welt und geht. Seine Seele erfreut sich an diesem Abend; sein Körper trauert; er ist von dieser todbringenden Welt befreit.›» Wenn Welt und Seele bankrott sind, bist Du doch immer ­genug für Seele und Welt. Was kann ich, offen oder verborgen, tun ohne Dich, o Du Seele und Welt? Solange mir noch ein Atemzug Leben bleibt, gilt für mich: «Zuerst der Nachbar, dann das Haus!»7

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19. Der Pilger geht zum Berg

4. Ein Hindu auf der Hidschra Ein gleichsam verwirrter, in der Gottesliebe erprobter Hindu sah einmal, als eine Karawane sich auf den Weg zur Wallfahrt nach Mekka machte, eine Unmenge von Menschen vorbei­ ziehen. Er fragte: «O ihr herzraubenden Geschäftigen, was tut ihr und wohin geht ihr?» Einer antwortete ihm: «Diese Reisenden wollen von hier aus die Wallfahrt unternehmen.» – «Sag mir, o Führer, was ist die Wallfahrt?» – «Gott hat ein Haus an einem Ort, und jeder, der sich dort einen Atemzug lang aufhält, ist vor den ewigen Qualen sicher.» Da geriet die Seele des Hindus in Aufruhr; der Wunsch nach der Kaaba war in ihm auf­ gekeimt, und er sagte: «Ich werde Tag und Nacht nicht mehr ruhen, bis ich einem Liebenden gleich die Kaaba erreicht habe.» So wanderte er trunken und rastlos, bis er dort ankam. Als er das Haus sah, fragte er: «Wo ist Gott? Ich sehe Ihn nirgendwo.» Die Pilger antworteten: «O du Verwirrter, wo im Hause sollte Er sein? Schäm dich! Es ist Sein Haus, aber Er ist nicht darin; dieses Geheimnis kennt jeder, der nicht verrückt ist.» Als der Hindu das hörte, wurde er so schwach, dass sein Verstand vor Verwirrung aussetzte. Er hörte nicht mehr auf zu klagen und warf sich immer wieder gegen den Stein. Weinend sprach er: «O ihr Muslime, warum habt ihr mich hierher geführt und mir den Kopf verwirrt? Was soll ich ohne Ihn mit dem Haus ­anfangen? Das Haus kommt mir Verrücktem wie ein Grab vor. Hätte ich Verwirrter das gewusst, warum hätte ich diesen ­langen Weg auf mich nehmen sollen? Dass ihr mich hierher gebracht habt, hatte keinen Sinn. Entweder brauche ich hier ein Haus, oder Gott braucht ein Haus – und Schluss!» Etwas anderes als den Schöpfer zu betrachten, ist fruchtlos, auch wenn es ein Kunstwerk ist. Solange dich der Schöpfer ­leben lässt, suche in deiner Seele das Auge des Schöpfers.



5. Rābiʿa will nicht aus dem Haus195

5. Rābi ʿa will nicht aus dem Haus Rābiʿa8 betrat an einem Frühlingstag ein dunkles Haus. Sie wandte sich von der ganzen Welt ab und blieb dort lange und mit frohem Sinn. Schließlich kam ein Frommer zu ihr und sagte: «Steh auf, geh hinaus und betrachte die Welt! Wenn du Seine bunte Schöpfung siehst – wie lange willst du dich um ­Seinetwillen noch verzehren?» Rābiʿa aber erwiderte ihm: «Komm du lieber ins Haus, um den Schöpfer zu sehen, du Narr! Was soll ich mit der Schöpfung von Meer und Erde anfangen? Mein Schöpfer ist da. Bring mich nicht zu Seiner Schöpfung!» Wenn es in deinem Herzen einen Weg zum Schöpfer gibt, ist die Schöpfung dagegen nur ein Strohhalm. Warum sollte jemand, dem sich dieser Weg eröffnet, einen Umweg nehmen? Die Kaaba der Seele ist das Antlitz des Geliebten; Sein Antlitz ist in der Kaaba der Seele zu sehen. Wenn du so siehst, nenne ich dich einen Seher der Welt; wenn nicht, nenne ich dich einen Blinden ohne Glauben. 6. Laylā und Madschnūn: Wohin soll man beten? Jemand fragte Madschnūn: «Welches ist die Gebetsrichtung, mein Sohn?» Er antwortete: «Wenn du ein unwissender Erdklumpen bist, so ist es für dich die Kaaba. Schau einen Stein an! Die Kaaba der Liebenden ist das Antlitz des Geliebten, und ­diejenige Madschnūns ist Laylās Antlitz.» Da du weder das Eine noch das Andere bist, bist du ein ­Erdklumpen; deine Gebetsnische ist aus Stein, o du dreister Schamloser! Auch wenn die Kaaba die Gebetsrichtung aller Geschöpfe der Welt ist, so ist doch immer die Gebetsrichtung der Kaaba die Seele. Um das Heiligtum – nämlich die Nähe zur Seele – kreisen hunderttausend Kaabas.

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19. Der Pilger geht zum Berg

7. Scheich Nasrābādī an der Kaaba Im Heiligtum erhob sich ein Wind, und Scheich Nasrābādī9 saß fröhlich davor. Der Vorhang um die Kaaba flatterte schön in der Morgenbrise. Dem Scheich gefiel das; er sprang von seinem Platz auf, ergriff den Saum des Vorhangs und sprach: «O du anmutige, stolze Braut, bildhübsch sitzt du mitten in Mekka; du zeigst dich in deinem strahlenden Brautglanz und verzauberst­ alle Derwische. Hundert Welten voller Menschen hast du verzückt und alle mit deinem Dorn getötet. Du fesselst den Lieben­ den in jedem Augenblick und tötest ihn mit solchem Glanz. Wie lange willst du noch so prahlen und dich aufspielen, du, deren Inneres leer ist – wie lange? Wenn Gott dich auch einmal ‹Mein Haus› genannt hat  – mich hat er siebzigmal ‹Mein Sklave› genannt.» Wer im Geheimnis der Liebe Sein Diener wird, ist auf ewig mit Ihm vertraut und lebendig. Von seiner Stirn erstrahlt auf ewig Sein Geheimnis; Er reißt die Gottesfreunde aus Licht und Feuer, so dass sie von der Hölle befreit und ohne den Garten Eden selig werden. 8. Der Gerechte in der Hölle Jemand fragte ʿAmr ebn Qais:10 «Wenn Gott, der Erhabene, dich morgen plötzlich in die Hölle schickte, was würdest du dann tun?» Er antwortete: «Ich nähme Stock und Lederschale, ginge in der Hölle umher und klagte: ‹Das ist Sein Gefängnis; das ist der Lohn für den, welcher Ihn liebt.›» In der darauffolgen­ den Nacht erschien ihm Gott im Traum und sprach ʿAmr ebn Qais sogleich mit den Worten an: «O du argwöhnisches ­Geschöpf, wie könnte der Schöpfer Seinen Freunden so etwas antun? Ich bedauere die Freunde im Paradies; wie sollte Ich ­ihnen in der Hölle das Schwert an den Hals legen?»

Zwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Meer

Der Pilger begab sich nun zum Meer mit Wasser ohne Ende und sagte: «O du, trunken und elend aus Leidenschaft für Ihn, die Wogen deiner Liebe schlagen hoch; deine Sehnsucht und dein Gottverlangen schwanken zwischen feucht und süß. Du bist übervoll mit Wasser und doch durstig; dein Wesen ist Feuchtigkeit, und doch hast du trockene Lippen.1 Alles hast du aufgezehrt und willst noch mehr; du hättest Gefallen daran, wenn es nötig wäre. Du bist stolz auf dein Hin- und Herfließen; sei stolz auf deine Unerschrockenheit! In deinem blauen Gewand bist du ein Sufi und trägst die Perlen der Gottesliebe. ­Trügest du nicht diese Leidenschaft in dir, o Unglücklicher, ­wärest du in deiner Bläue ein schwertgleicher Diamant. Türkisgewandeter und edelsteingeschmückter Sufi – walle auf, denn dadurch wirst du noch schöner! Deine Leidenschaft hat dich trunken gemacht, und was du suchst, hast du gefunden. Sieh nur meine Augen, die Blut vergießen wie eine Wolke! Gib mir nur ein winziges Zeichen des Unsichtbaren! Du hast immer ­einen Ozean in dir; gib mir dieses Zeichen, denn von jenem hast du immer etwas. Wie ein Schwert besitzt du Edelsteine und Glanz; warum tut es dir um dieses Wasser für einen Durstigen leid?» Bei diesen Worten erhob sich im Meer ein Brausen, und sein Wasser loderte auf wie ein Feuer. Es sprach: «Wer bin ich schon – verwirrt, mit trockenen Lippen und feuchtem Saum? Wie seltsam, ich bin im Durst ertrunken und habe mich vor Scham im Schweiß verloren. Mir ist kein herzerquickendes Wasser mehr in der Leber geblieben; ich liege wie ein Fisch auf dem Trockenen. Weißt du nicht, dass sogar die Fische wegen dieser Sache Tränen um mich vergießen? Jeden Augenblick

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20. Der Pilger geht zum Meer

walle ich aufs Neue auf und werfe vor Kummer Schaum auf mein Haupt. Ich verzehre mich vor Sehnsucht nach Ihm; ich flehe um einen Tropfen aus Seinem Meer. Ich bin dem Tode nahe, bis Er meine Lippen benetzt. Mein Durst wird nicht gestillt  – wie könnte ich einem anderen Durstigen beistehen? Durstig wie ich bin, kann ich dir kein Wasser geben!» Der Pilger suchte nun den Meister auf, der auf dem Pfad wandelt, und unterrichtete ihn über seinen Seelenzustand. Der Meister sprach zu ihm: «Das Meer ist unermüdlich tätig; seine Geduld ist vorbildlich. Es hat so viel Wasser getrunken, doch es sehnt sich mit trockenen Lippen nach einem weiteren Tropfen­.» Wessen Durst nicht vollständig gestillt werden kann, dem bleibt nur noch ewiger Durst. Du musst den Durst der Seele und des Herzens haben, aber beides muss maßvoll sein. Denn wenn er zu schwach oder zu stark ist, geht er über die Vollkommenheit hinaus. 1. Ein Wort Alexanders über das Maß der Mitte Von Alexander ist folgender Ausspruch überliefert: «Alles, was du in Angriff nimmst, musst du ausgewogen tun. Geh in der Mitte; strebe weder nach Ruhm noch nach Erniedrigung, denn Ausgewogenheit ist ein Bestandteil der göttlichen Weisheit. Geh nicht zu nah heran, halte dich aber auch nicht zu fern; geh in der Mitte, denn das ist das Beste.» Wenn der Strick maßvoll gedreht wird, wird er, auch wenn es hundert Fäden sind, zum Tau. Doch wenn du ihn zu fest drehst, fällt er auseinander. Du besitzt jetzt nichts vom Trockenen und Feuchten dieser Welt außer kalter Rede und einem warmen Herzen. Wenn du ein Mensch mit kalter Rede und warmem Herzen bist, dann bemühe dich, maßvoll zu werden. Wenn du willst, dass alle deine Werke an Glanz gewinnen, dann sei maßvoll beim Besten der Dinge. Wenn ein Werk über das Maß des Verstandes hinausgeht, wird es trotz seines Verdienstes aufdringlich. Den Köder, den man den Wohltätern vorlegt, würde man Hilfesuchenden niemals vorlegen.



2. Meister Akkāfī und die Werkbank des Schusters199

2. Meister Akkāfī und die Werkbank des Schusters Wenn Meister Akkāfī zu predigen begann, schluchzten die ­Zuhörer wie ein Zypressenbaum. Es war, als ob seine Kanzel hinter dem Gottesthron stünde, und der Himmel läge neben ihm wie ein Teppich. Die Erhabenheit seiner Rede riss so sehr mit, dass sie – wie man sagen könnte – den Menschen ihre Seele fortriss. Wenn die Erhabenheit der Rede den Höhepunkt erreichte, fielen die Zuhörer ohnmächtig zu Boden. Zufällig kam einmal ein Mann an der Versammlung vorbei und sprach: «Bringt die Werkbank eines Schusters herbei!» Als der Meister das hörte, wurde er vom Schmerz zerrissen und sagte: «Habt ihr gehört, was dieser Mann gesagt hat? Bei seinen Worten hatte mein Herz eine Eingebung; eine Welt voll Schmerz hat mein Herz erfüllt, und Folgendes wurde mir eingeflüstert: ‹Diese erhabene Rede ist nicht geeignet für eine Schar Not­ leidender. Diese Rede passt zu lebendigen Vögeln,2 nicht zu Lasteseln und ihren Treibern. Entzünde die Pilger nicht wie ­Vögel, sondern nähe einen Flicken auf ihre Schuhe! Die Versam­ melten sind alle Pilger; nähe wie ein Schuster ihre Schuhe zusammen!› Du gibst einer Mücke die Ration für einen Elefanten und setzt eine Ameise mit einem Gabriel gleich. Wenn du einem Wanderer die Schuhe flicken willst, dann nimm Hammer und Ahle!» Wenn eine Handlung ihre eigenen Grenzen überschreitet, führt sie den Handelnden ins Verderben, so ist es auch mit der Liebe: Wenn sie die Kräfte des Liebenden übersteigt, geht er ­zugrunde. 3. Der Sohn des Emirs und der Sohn des Schusters Schiblī, der über die innersten Geheimnisse sprach, erzählte einmal eine Geschichte, die er von seinem Bruder gehört hatte: «In der Schule einer Stadt gab es einen Emirssohn, der schön wie Joseph von Kanaan war. Beide Welten voller Güte sind sein Vermögen; was immer über Güte gesagt wird, ist sein Vermögen­. Seine Anmut ist wie der Diwan der Schönheit; seine Eigen-

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schaften stehen oben auf der Bogenhalle der Vollkommenheit. Wenn er in der Schule vor dem Lehrer stand, stießen alle Schüler Schreie aus. Es gab dort auch einen armen Jungen, dessen Vater ein ­besitzloser Schuster war. Dieser Junge war liebes­trunken nach dem Prinzen, er hatte sein Herz an ihn verloren. Keinen Augenblick ließ er ihn aus den Augen; mit jedem Atemzug entbrannte er noch mehr für ihn. In der Nähe dieser Leuchte der Welt schmolz er voller Tränen wie eine Kerze dahin. Der Junge hatte die Leiden der Liebe noch nicht erfahren: Wie sollte er, zum Strohhalm geworden, den Berg der Liebe tragen? Eines Tages begab sich der Emir in die Schule und erblickte den Jungen neben seinem Sohn. Er fragte den Lehrer: ‹Sag, zu wem gehört dieser Junge?› Dieser antwortete: ‹Er ist der Sohn des Schusters. Warum?› Der Emir sagte: ‹Schäm dich, Meister! Wie kommt es, dass er in der Gesellschaft eines Emirssohnes ist? Wenn mein Sohn mit ihm Umgang pflegt, nimmt er sein Wesen an und verliert seine Würde.› Da verwies der Erzieher den verliebten Jungen von der Schule, so dass die Verzweiflung von dem Jungen Besitz ergriff. Vor Liebe fühlte sich der Junge wie auf glühenden Kohlen und wurde schließlich wie die glühende­Kohle zu Asche. Seine Augen verwandelten sich in Frühlingswolken und seine Seufzer zu peinigenden Blitzen. Schließlich wandte er sich vom Leben ab und dem Tode zu. Der Emirssohn erfuhr von seinem Zustand und schickte ihm die Botschaft: ‹O Verstörter, warum weinst du denn so? Sag es mir!› Da antwortete der Junge: ‹Ich habe mein Herz an dich verloren. Die Zeit ist gekommen, zu sterben, mich in die Erde zu legen. Meine Tränen haben wie roter Schwefel das Kupfer meines Gesichtes in Gold verwandelt, mein Geliebter. Du hast mich lange warten und mich wie das Feuer ruhelos werden ­lassen.› Mit dieser Antwort des Jungen kehrte der Bote zu dem Emirssohn zurück: ‹Ich sterbe vor Sehnsucht; aus Liebe habe ich dir mein Herz geopfert. Der Tod soll die Ernte meiner Liebe sein.› Daraufhin schickte der Emirssohn dem Jungen eine neue Botschaft: ‹Wenn du dein Herz in Verwirrung gebracht hast, dann schicke es mir! Schicke ein Korn deines Herzens an dieses Getreide!› Als der Mann diese Worte sprach und sich zum Gehen­



4. Ayāz’ Schleier201

wandte, sagte der Junge zu ihm: ‹Warte einen Augenblick! Da mein Geliebter mein Herz von mir verlangt, kann ich es ihm nicht verweigern.› Darauf zog er sich ins Haus zurück, spaltete seine Brust und nahm das Herz heraus. Er legte es in eine Schale, bedeckte es und sagte: ‹Bring es ihm so bedeckt, wie es ist!› Als er sein Herz in die Schale gelegt hatte, entrang sich ­seiner Seele ein letzter Seufzer. Als der Emirssohn die Schale sah, lernte er eine neue Lektion­. Er nahm das blutende Herz heraus und färbte mit seinen Augen­ die Schule mit Blut. In seinem Herzen sah er die Auferstehung; er hatte Aufruhr geerntet. Schließlich tötete er sein Selbst und begann die Totenklage. Das tat er, obwohl er es nicht tun konnte. Er machte das Grab des Jungen zu seiner Gebetsnische und hörte nicht mehr auf, ihn zu betrauern.» Wenn du glaubst, du seist der Meister der Welt, so bist du auf dem Weg der Liebe doch geringer als dieses Kind. Wenn du ein Pilger auf dem Weg der Liebe sein willst, dann spalte dein Herz! Wenn nicht, schweige und prahle nicht so sehr! Solange du lebst, wird deine Seele leiden; unter Schmerzen zu sterben ist deine Heilung. Wie lange willst du nach dem Gegengift suchen, wenn die Seele mit dem Gift zufrieden ist? Du bist dir selbst verhüllt geblieben; auf ewig schädigst du dich selbst. Erst wenn du dich deines Ichs entäußert hast, wirst du ohne den ewigen Schleier sein. 4. Ayāz’ Schleier Man erzählt, dass Ayāz eines Morgens zum Sultan kam, sein granatapfelrotes Gesicht war strohblass geworden. Die Frische seiner Wangen war gewichen, und seine Worte hatten ihre Süße verloren. «Was hast du, Ayāz», fragte der König, «dass du mein Herz so sehr entzündest?» Beim König waren zahllose Bitt­ steller, alle mit einer Angelegenheit beschäftigt. «Hier sind so viele Leute», antwortete Ayāz, «wie könnte ich sprechen? Diese alle sind wie ein Schleier.» Da ließ der König den Saal sogleich räumen, bis Ayāz dort mit dem König allein war. Dieser sprach: «Jetzt lüfte dein Geheimnis! Jetzt ist der Schleier dieser Men-

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schenansammlung aufgelöst.»  – «Mein König», sagte Ayāz, «was kann ich mit meinem eigenen Schleier tun? Muss ich mich auch auflösen? Ich bin mir selbst wie ein Schleier auf der Welt; vorher war die Menge der Schleier, jetzt bin ich es selbst. Solange auch nur ein Haar von mir existiert, gibt es keinen Grund, das Geheimnis auszusprechen. Wenn ich nicht mehr existiere, bleibst nur noch du, und mein Geheimnis entspringt der Erde.» Die Spieler, die zu Derwischen werden, löschen sich mit ­jedem Atemzug mehr aus. In Wirklichkeit suchen alle Ihn; deshalb werden sie sich selbst zum Feind. 5. Ein Derwisch wünscht sich eine Streitaxt Ein Derwisch fragte einen anderen: «Was wünschst du dir, o Derwisch, im Augenblick?» Er antwortete: «Von den Gütern beider Welten, ob trocken oder feucht, brauche ich nur eine Streitaxt, aber mit zwei Klingen, um mit der einen mich zu köpfen und mit der anderen dich, Herr Derwisch! Ohne unser beider schändliche Existenz wird Gott leuchtend erscheinen.» Solange in dieser Gegenwart für dich noch ein Ego bleibt, bleiben auch hundert Welten voller Übel, denn solange es noch ein Haar deines Egos gibt, sind sieben Höllen mit deiner Schlechtigkeit gefüllt. 6. Der Liebende, der nicht zu sich selbst zurückkehren wollte Ein Liebender vergoss eines Tages blutige Tränen. Jemand fragte ihn: «Warum diese Tränen?» Er antwortete: «Man sagt, dass der Schöpfer morgen, wenn Er Sein Antlitz offenbart, Er die Auserwählten in Seiner Nähe damit vierzigtausend Jahre lang beschenkt. Doch einmal kehren sie zu sich selbst zurück und werden bedürftig. Ich weine, weil man mich mir selbst zurückgibt und mich einen Augenblick vor meine Augen stellt. Was soll ich in diesem Augenblick mit mir tun? Ich möchte mir vor Kummer das Leben nehmen. Ich bin mit Gott, wenn du mich ohne mein Selbst siehst; solange du mich mit meinem



7. Der barhäuptige Narr203

Selbst siehst, bin ich schlecht. Wenn ich meiner selbst ledig bin, ist diese Selbstlosigkeit für mich die Quelle der Göttlichkeit.» Jeder, der auch nur ein Haar von Selbst enthält, bleibt eine Haarspitze hinter der Erkenntnis zurück. Der Mensch muss in beiden Existenzen entwerden; der Fuß darf nicht vom Kopf und der Kopf nicht vom Fuß zu unterscheiden sein. Wenn es nur ein Haarbreit Unterschied gibt, ist er von Kopf bis Fuß ein Götze. 7. Der barhäuptige Narr Ein Narr lief immer ohne Mütze mit bloßem Kopf auf der Straße umher. Einer fragte ihn: «Du Verwirrter, warum läufst du immer barhäuptig herum?» Er antwortete: «Die Frau bedeckt den Kopf, der Mann nicht. Wie kannst du eine so dumme Frage stellen?» – «Und warum bist du dann barfuß?» – «Du Dummkopf, der Kopf hat seinen Wert, und wenn er unbedeckt ist, so ist mir der Fuß doch nicht mehr wert als er.» Wenn du auf diesem Pfad Kopf und Fuß verspielt hast, dann weißt du, wie wertlos du bist. Wenn du dich dann wieder ins Spiel bringst, machst du den Nutzen zum Schaden. 8. Schiblī und die taube Nuss Als Schiblī einmal bedrückt unterwegs war, sah er zwei Kinder auf dem Boden sitzen. Zwischen ihnen lag eine Nuss, die jedes der Kinder für sich beanspruchte. Sie stritten heftig darum. Da sagte der Scheich zu ihnen: «Hört auf damit: Ich breche diese Nuss jetzt auf und teile dann den Kern unter euch!» Aber als er sie aufbrach, war sie leer. Da stieg aus seiner Seele ein Seufzer auf, ihm wurde sein Mangel an Gehirn3 bewusst. Er vergoss ­ruhelos viele Tränen. Da sagte eine verborgene Stimme zu ihm: «Du verwirrte Seele, wenn du dich für den Verteiler hältst, dann verteile! Wenn du aber keinen Einblick besitzt, tue nichts Unvollendetes und beanspruche künftig nicht, verteilen zu können.»

Einundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Mineral

Der Pilger, verwirrt und mit reinem Glauben, kam vom Meer zum Mineral und sagte: «O du, der du durch die Kälte der ­Gewissheit erstarrt bist, bald bist du Stein, bald Eisen, bald ­Juwel. Durch deine Gewissheit bist du beständig und unbeweglich; du fühlst dich sicher, weil du den Bestand der Welt enthältst. Du kommst rein von Samen aus der Mine, und alles, was du besitzt, ist mineralisch. Einer deiner Steine befindet sich auf der rechten Seite des Barmherzigen, ein anderer schmückt Salomos Siegelring. Dieser eine befehligt Dämonen und Feen, der andere ist der Ring beider Welten. Der eine ist aus Armut schwarz gekleidet,1 der andere aus Liebe zum König geworden. Der eine besitzt irdische Reichtümer, der andere wird von allen Seiten angebetet. Aus deinem Eisen ist Alexanders Wunder­ spiegel gemacht, aus deinen Edelsteinen das Schwert ʿAlīs. ­Einer deiner Steine spiegelt beide Welten wider; in Dschamschīds Becher enthüllt er das Universum. Du enthältst Silber, Gold und schöne Perlen, Rubine, Saphire und Smaragde ohne Zahl. Man kann deine Edelsteine nicht beschreiben; der Diamant der Zunge kann sie nicht durchbohren. Bald erblühst du mit dem Lapislazuli, bald triumphierst du mit dem Türkis. Deine Lampe leuchtet durch die Perlen der Nacht, und durch deinen Rubin ist der Rosengarten rotgesichtig. Du besitzt Würde und hohen Rang; hilf mir, den Weg zum Sinn zu finden! Verwandle du, der du den Prüfstein besitzt, den Bestand meines Herzens in Gold!» Als das Mineral hörte, was ihm der Pilger anvertraute, antwortete es versteinert: «Ich bin erstarrt und unwissend. Vom Sinn habe ich weder eine Spur noch ein Zeichen. Auch wenn ich zur Rechten Gottes stehe – Gott wohnt nur in der inneren Kaaba. Da im Inneren der Kaaba nur Luft ist, ist mir als Stein



1. Der Geizige und der Geduldige auf See205

der Weg dort hinein versperrt. Da dem Stein der Kaaba der Weg versperrt ist, wie könnte dieser schwarze Stein dich dann zu Ihm führen? Wegen dieses Kummers wohne ich ständig in der Schwärze und trage nur schwarze Trauerkleider. Stets ­meißeln sie neue Götzen aus mir und machen so sich und mich zu Ungläubigen. Ich bin erstarrt, und doch brennt meine Seele, das Höllenfeuer könnte durch mich angefacht werden. Der Schmerz, der mein Los ist, fesselt mich an den Lehm. Sieh nur, welchen Schmerz ich unschuldig erleide. Suche keine Heilung bei einem Erstarrten wie mir!» Der Pilger ging zu dem erhabenen Meister und berichtete ihm von seinem Erlebnis. Der Meister sprach zu ihm: «Da das Mineral fest ist, musst du an die Welt der Erstarrung glauben. Wenn die geringste Erstarrung in dir verbleibt, so trägst du hundert Zeichen des Todes in dir. Löst sich jedoch diese Er­ starrung in dir, wird auch dein Stein voller Leben sein. Sei ­lebendig; gib dieses Gefühl des Todes auf! Werde warm, wirf die Kälte ab! Fürchtest du nicht, wie die anderen im Meer der Welt zu ertrinken?» 1. Der Geizige und der Geduldige auf See Ein Schiff, in dem ein geiziger Unglücksrabe saß, geriet in einen gewaltigen Strudel. Während er eine Last aus Eisen trug, besaß ein anderer Mann, der neben ihm saß, nur Duldsamkeit und sonst nichts. Als die Wellen von überall her immer stärker he­ ranrollten, band der Geizige das Eisen an seinem Rücken fest, der andere indes blieb ruhig sitzen. Schließlich zerbrach das Schiff, und das Eisen riss den Mann ins Wasser. Der andere ­jedoch erreichte den Weg am Ufer und rupfte vor Freude einem Reiher eine Feder aus. O du, der du in deinem Leben so viele Sünden angehäuft hast, fürchtest du dich nicht vor dem schwarzen Wasser um dich herum? Wie willst du mit einem eisernen Herzen und schwer beladen auf dem Schiff des Glaubens das Ufer erreichen? Wenn du vom Meer wieder an Land kommen willst, muss Geduld deine Last sein. Wenn nicht, wirst du in einem

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21. Der Pilger geht zum Mineral

tödlichen Strudel versinken und unter deiner schweren Last kopfüber untergehen. Sei wachsam, solange du lebst; am Tag deines Todes kannst du nichts mehr tun. Suche in der Gegenwart nach dem, was leicht für dich ist, sonst wirst du mit großen Problemen zu kämpfen haben. 2. Der Narr und der Sterbende Ein Herr rief in seiner Todesstunde seine Nächsten zusammen und sagte: «Bringt, o ihr alle, meine Angelegenheiten in Ordnung!» Jedem übertrug er eine bestimmte Aufgabe, jedem gab er einen anderen Auftrag. Da ihm nicht mehr viel Zeit blieb, brachte er seine Anliegen eilig vor. An seinem Bett stand auch ein Narr; der sagte: «Bist du blind, hast du keine Augen? Wie willst du das Brot, das du siebzig Jahre lang gebrochen hast, in einem Augenblick wieder zusammenfügen? Gib es auf und stirb schnell! Wo warst du, Unwürdiger, dein ganzes Leben lang, dass du erst jetzt aufwachst und alles, was du in deinem Leben getan hast, zählen und ordnen willst? Stirb und lache; erlösche wie eine Kerze! Wie lange noch diese Unruhe? Sammle dich und stirb!» 3. Reue eines Wesirs auf dem Totenbett Ein Wesir wandte sich in seiner Todesstunde verwirrt an die Seinen und sagte: «O weh! Aus Habgier habe ich das Jenseits gegen den Gewinn getauscht. Ich brannte vor Gier nach dem Weltlichen; dafür habe ich das Jenseits verkauft. Heute gehe ich fort, mit brennender Seele. Diese Welt ist dahin, das Jenseits verkauft.» O nachlässiges Herz, sei einen Atemzug lang wachsam! Wie lange willst du dich noch wie ein Betrunkener aufführen? Werde nüchtern! Die Verstorbenen sind an der ersten Station; sie warten ungeduldig. Halte sie nicht weiter zurück; wie lange willst du sie noch warten lassen?



4. Dāwūd Tāʿi hat es eilig207

4. Dāwūd Tāʿi hat es eilig Der ruhelose Dāwūd Tāʿi2 war in großer Eile unterwegs, als ihn einer fragte: «Warum hast du es so eilig? Man könnte ­meinen, dein Laden stehe unter Wasser.» Er antwortete: «Sie warten am Stadttor auf mich. Ich beeile mich, weil sie mich zur Eile antreiben.» 5. Der Narr und der Todkranke Ein junger Mann sagte einmal zu einem Narren: «Ich habe hier einen sterbenskranken alten Mann. Rezitiere die erste Sure für den schwachen Mann, damit ihm der liebe Gott Heilung schenkt.» Der Narr nahm rasch einen Stock und sagte: «Komm schnell aus diesem Haus heraus! Die Propheten und die Leute auf dem Friedhof warten alle darauf, dass jemand von hier dorthin kommt. Warum willst du jemanden vom Weg dorthin a­ bbringen?» O Herz, am Schluss muss der Mensch weinen; geh ans Werk, denn heute hast du Gelegenheit dazu. Warum baust du dir ein Haus auf der Brücke der Welt? Steh auf, wenn du Proviant für den Weg ernten willst. 6. Bohlūl und Hārūn auf der Brücke Bohlūl, trunken vom Wein der Liebe, war unterwegs und hielt auf einer Brücke an. Zufällig kam Hārūn gut gelaunt vorbei und sagte zu ihm: «O du trunkener Bohlūl, steh auf! Warum sitzt du auf der Brücke?» Bohlūl antwortete: «Dich, o Emir, musst du fragen, warum du auf der Brücke stehen bleibst. Die ganze Welt ist eine einzige Brücke; sieh nur die vielen Türme auf der Brücke! Auch wenn du noch so viele Bögen und Tore auf die Brücke baust, das Wasser fließt überall auf ihrer anderen Seite. Was ist das Haus auf der Brücke? Ein Joch um deinen Hals. Wie willst du in deiner Todesstunde damit die Brücke überqueren? Wenn du kannst, halte dich nicht unter der Brücke­ auf, denn wenn sie einstürzt, bist du nicht sicher. Selbst der

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Himmel wird durch die Milchstraße geteilt. Geh schnell über die Brücke, bevor du unter ihr begraben wirst! Du sitzt unter einer gebrochenen Kuppel, als ob du des Lebens müde wärest. Wie willst du dich aus den Trümmern befreien? Nicht einmal ein Löwe könnte das. Der Tod steht vor dir, und du ziehst dich zurück. Für ein Stück Aas kreist du wie ein Geier umher. Reinige­dich vollständig von der Leiche der Welt, sonst steckst du wie ein Kadaver in der Falle. Denn alles, was du begehrst, wird dir, wenn du tot bist, aufgerechnet.» 7. Bohlūl und Hārūn auf dem Friedhof Hārūn ar-Raschīd ging mit Bohlūl auf den Friedhof. Dort ­sahen sie einen ausgedörrten Totenschädel, in dem Vögel ein Nest gebaut hatten. Hārūn fragte Bohlūl nach der Bedeutung dieses Schädels, und Bohlūl antwortete ihm: «Das ist doch ­offensichtlich. Das war ein von der Leidenschaft geblendeter Mann, der der Taubenzucht frönte. Der Mann starb in Liebe zu diesem Spiel, und diese Liebe verließ ihn auch nach seinem Tode nicht. Da ihm diese Leidenschaft nicht aus dem Kopf ging, nisten jetzt die Vögel darin. So wie ihm zu Lebzeiten die Tauben im Gehirn saßen, tun sie es auch jetzt, da er wieder zu Staub geworden ist. Auch wenn der Kopf zu Asche wird – ich weiß nicht, ob diese Leidenschaft ihn schon verlassen hat.» Alles, was auf der Welt deine Vorstellung beschäftigt, wird auf ewig mit dir verbunden sein. Durch deine Hoffnungen dauert dein Werk noch länger; schüttele die Fesseln ab, bevor deine Sterbestunde kommt. Wenn nicht, wird dir das Sterben nicht leichtfallen; mit jedem Atemzug wirst du einen anderen Tod ­erleiden. Gib alles her und streck dann deine Füße aus; es ist in Ordnung, wenn du nichts für dein Leichentuch übrig hast. 8. Der Freigiebige Ein äußerst freigebiger Mann hatte sein ganzes Hab und Gut verschleudert, ihm blieb nicht einmal ein Goldstäubchen. Eines Tages sagte ein wohlmeinender Mann zu ihm: «Fürchtest du



9. Drei Fragen an den Propheten209

dich nicht vor dem Ruin? Wenn du eines Tages stirbst und nicht einmal ein Hemd aufbewahrt hast, musst du doch die Mittel für ein Leichentuch aufbringen.» Da antwortete er: «Wenn ich sterbe, dann erbettelt für mich irgendwo ein Leichentuch, und sobald ich aus dem Stadttor herauskomme, könnt ihr es mir wieder ausziehen.» Habgier macht dich nicht rein, mein Sohn; sie lässt dich ­besudelt in die Erde fahren, mein Sohn. Sie verleiht dir einen dauerhaft schlechten Charakter, und durch die schlechten Eigen­ schaften bleibst du im Feuer. Solange du diese schlechten Eigenschaften hast, wirst du immer weiter brennen wie eine Kerze. 9. Drei Fragen an den Propheten Ein Derwisch kam zum Propheten und stellte diesem Meer des Wissens drei Fragen: «Ich habe siebzig Farsang3 zurückgelegt, damit du mir jetzt die Antwort gibst, denn mir ist schwer ums Herz: Was ist Armut, was ist Krankheit, was ist der Tod?» Der Prophet antwortete: «Deine Armut ist Unwissenheit; wenn du Wissen besäßest, wäre sie dir leicht. Deine Krankheit ist nur der Neid, und dein schlechter Charakter ist der Tod.» 10. Ebn Sīrīns Rede über den Neid Ebn Sīrīn sagte: «Die Seele in meinem Körper hat noch nie Neid auf jemanden gehegt. Es gibt nicht mehr als zwei Zustände, Bruder: Entweder man gehört zum Paradies oder zur Hölle. Wenn einer zum Paradies gehört, hat er seine Vollkommenheit dadurch erreicht, dass er sich selbst aufgegeben hat. Er besitzt alles, aber wenig von der Welt; warum sollte er neidisch auf Kleinigkeiten sein? Und wenn dieser Unglückliche zu den Bewohnern der Hölle gehört und alles durch Heimsuchung ­gekennzeichnet ist, wie kann man auf so jemanden neidisch sein? Da bleibt nur Klagen oder Gebet. Wenn dein Leben nur von einem Stück Brot abhängt, wozu dann so viel Neid? Wenn jeder Tag durch ein Stück Brot vollständig wird, dann genügt es, dieses Stück Brot bekommen zu haben.»

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21. Der Pilger geht zum Mineral

11. Der verwirrte Bäcker Ein Bäcker, der verrückt geworden war, verlor Arbeit und Habe und wurde ein Landstreicher. Er irrte durch die Stadt und ­bettelte überall um Brot, das nicht gebacken worden war. Einer fragte ihn: «Du Spitzbube, wie soll das gehen, ein ungebackenes Brot?» Da antwortete er: «Wenn ich ein Brot geknetet hatte, lag schon das nächste auf dem Brett. Noch während ein Brot gebacken wurde, Ahnungsloser, haben sie mir schon das nächste danebengelegt. Da dieser Kreislauf nie aufhörte, drehte sich mir Sterblichem der Kopf. Eine Stimme, die von Gott kam, flüsterte in mein Herz: ‹Warum hundert Brote kneten, wenn dir eines genügt? Ein Brot reicht dir vom Morgen bis zum Abend, und das wird dir von hundert Händen geliefert. Mach dich frohen Mutes auf den Weg, und such das Brot, das nicht gebacken wurde!› Früher musste ich hundert Brote backen, um eines ­essen zu können. Jetzt esse ich jeden Tag Zucker, und noch ­besser, ich ernähre mich von hundert anderen Dingen.» Wenn dir Gott das Brot vorenthält, dann deshalb, damit dein Herz verwirrt wird. Denn wenn ein Verwirrter Brot von Ihm erbittet, gibt Er ihm kein Brot, weil Er ihn weinen sehen will. 12. Der Narr, der vor Hunger weinte Ein betrübter Narr vergoss viele Tränen. Jemand fragte ihn: «Warum weinst du so viel?» Er antwortete: «Angenommen, ich erdulde meine Nacktheit, aber wie könnte ich nicht weinen, wenn ich so hungrig bin?»  – «Auch wenn du Lust auf Brot hast, brauchst du doch nicht aus Hunger so zu weinen.»  – «Warum soll ich nicht so viel weinen, wenn Er mich so hungern und wie eine Frühlingswolke Tränen vergießen lässt? ­Darum weine ich so sehr.»

Zweiundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Pflanze

Der Pilger kam wie Zucker zur Pflanze und sprach: «O du, ergrünend vom Wasser des Lebens, deine Reinheit ist ebenso wie das Lebenswasser der pflanzlichen Seele würdig. Gott spaltet das Korn und die Kerne1 für dich; das Korn der Liebe bringt hundert weitere Kerne hervor. Du bist die Vertraute der Grüngewandeten;2 deshalb bist du das Gedeihen der Welt. Die Stärke des Geistes und die Sehkraft kommen von dir; du öffnest und weitest das Herz. Jeden Augenblick bringst du in der Welt neue Früchte hervor; hundert Gärten Eden gibt es in deiner Welt. Alle Arzneien und Heilmittel lässt du wachsen; du lässt die Rose erblühen und die Kräuter duften. Es gibt keine Nadel von dir ohne die aufrechte Zypresse, keinen Granatapfel von dir ohne Heilwirkung. Als das Feuer in deinen grünen Zweig gelegt wurde,3 besserte sich Moses Schmerz. Die Worte «Ich bin Gott»4 kommen von dir; der Lotosbaum und der Baum Tūbā5 erblühen durch dich. Der Meister beider Existenzen hat deine Gunst erlangt; du ließest ihn in seinem Gebet die Trauben des Paradieses kosten. Als die Liebe des Palmstumpfes durch dich wie Feuer entflammte,6 stieg diese so schöne Klage aus dir auf. Wie könnte ich mir deinen Stab erklären? Es bräuchte ­einen Mose, der über den Stab spräche. Da du das Ergrünen deines Glücks erfahren hast, hast du im Wachsen und Ge­deihen sogar Haare gespalten. Du bringst die Bäche bis zum Meer, und weil du Aloe besitzt, duftest du. Erwecke mich mit einem Dufthauch zum Leben oder heile mich mit einer Arznei!» Diese Worte erbitterten die Pflanze sehr, als gäbe es kein ­Zuckerrohr mehr in der Welt. Sie sprach: «Seit ich den Kopf aus der Erde gestreckt habe, klage ich Tag und Nacht vor Gottverlangen. Da ich nur wenige Tage meinen Durst löschen kann,

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wird danach mein Antlitz gelb wie eine Quitte. Kaum bin ich voll ergrünt, werde ich gelb und verwelke. Am Anfang erhebe ich frisch mein Haupt; dann lasse ich den Kopf gelb und traurig hängen. Mal setzt man mir die Säge mit Gewalt an den Hals; mal werde ich in kleine Stücke gehackt. Mal werde ich verbrannt und zu Asche gemacht; mal trennt man mir mit der ­Sichel den Kopf vom Leib. Bald werde ich gegessen, bald auf die Erde geworfen. Was du suchst, findest du bei mir nicht, denn meine Farbe und mein Duft sind nicht von Dauer. Wie könnte jemand wie ich, deren Farbe und Duft so vergänglich sind, dir eine Tür öffnen?» Der Pilger wandte sich an den redegewandten Meister und legte ihm seinen Zustand dar. Der Meister sprach zu ihm: «Mit den Bäumen und Pflanzen, ob groß oder klein, ist es wie mit den Menschen. Es gibt weise und vollkommene, das sind die Großen; und es gibt verwirrte und närrische, das sind die ­Kleinen. Wessen Seele die Nähe zum Geliebten gefunden hat, ging diesen Weg ergrünend wie ein Baum. Entweder findet er die Vollkommenheit an Seiner Schwelle oder geht Seinen Weg nicht mit närrischem Herzen. Wer durch den Geliebten närrisch­ geworden ist, kann alles, was sein Herz begehrt, offen äußern.» 1. Mahmūd zieht gegen einen Bettler in den Krieg Mahmūd stieg frühmorgens in den Sattel, um mit seiner Armee in den Kampf zu ziehen. In Wellen trafen aus allen Landesteilen Truppen ein und versammelten sich. Fünfhundert gepanzerte Elefanten waren im Einsatz, und die Welt war in großem Aufruhr. Da sah Mahmūd einen liebestrunkenen Narren am Weg stehen, stieg ab und ging zu ihm. Der Narr schaute in alle Richtungen und sah eine Welt voller Elefanten und Soldaten. Plötzlich schaute er zum Himmel und rief: «Lerne jetzt von diesem hier das Königtum!» Mahmūd sprach: «Vorsicht, hüte deine Worte!» Der Narr antwortete: «Was soll ich denn anderes tun, o König, wenn du mit Elefanten und Soldaten gegen einen Bettler in den Krieg ziehen willst? Wenn ein König gegen dich in den Krieg zieht, würdest auch du ohne Zaudern gegen ihn



2. Ein Narr spricht im Elend zu Gott213

Krieg führen. Ein König misst sich mit einem König, nicht mit einem Bettler. Gott hat allein dich so werden lassen und zum König gemacht, aber gegen mich, der ich Ihm doch so sehr ­entkommen will, zieht Er in den Krieg. Deinem Königtum hält Er sich – o Wunder – fern, gegen einen armen Bettler aber tritt Er Tag und Nacht an. Gegen mich Armen kämpft Er ununterbrochen, und ich werde immer schwächer. Und damit Schluss!» Wenn sich das Herz vor Schmerz nicht mehr beruhigen kann, wird es der Schöpfer wieder beleben. 2. Ein Narr spricht im Elend zu Gott Ein Herr wurde irrsinnig und geriet in Armut; er wurde elend und kraftlos und aß nichts mehr, bettelte und kam ins Gefängnis. Er geriet in Elend und Not und wurde altersschwach. Ein Berg könnte niemals auch nur ein Hundertstel der Last tragen, die so ein Hilfloser trägt. Eines Nachts sprach er im Geheimen zu Gott: «O mein Führer und Wegweiser, wenn ich an Deiner Stelle wäre und Du an meiner, ließe ich Dich immer in Ruhe. Ich setzte Dich keinen Augenblick lang einem solchen Kummer aus; ich behandelte Dich besser als Du mich.» Wenn Liebende eifrig zu Werke gehen, ist ihnen ihr eigenes Sein unerträglich. 3. Ein Narr will sein Leben zurückgeben Ein notleidender Narr klagte eines Nachts in einem stillen ­Gebet: «O Gott, ich will nichts mehr von Dir. Ob Du mir etwas gibst oder etwas nimmst, höre diese Worte: Ich bin erschöpft, und meine Seele ist in Gefahr – wie lange soll das mit mir noch so weitergehen? Was Du mir gegeben hast, nimm es wieder ­zurück! Das kummervolle Leben, das Du mir gegeben hast, will ich nicht mehr. Ich sage Dir: Nimm es wieder zurück!» Was ein Narr hervorbringt, verzeiht man ihm im Diwan der Großmut. Auch wenn sie nicht gut ist, wird seine Tat akzeptiert; sie wird wie eine gute Tat behandelt. Alles Schlechte von ihm rechnet man dem Guten zu und vergilt es mit Gutem.

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22. Der Pilger geht zur Pflanze

4. Ein Narr erhält von Gott Brot und Kleidung Ein hungriger Narr war barhäuptig und barfüßig unterwegs. Er bettelte überall um Brot, aber alle sagten zu ihm: «Gott wird dir Brot geben.» Eines Tages sah er, vom Hunger erschöpft, in der Moschee eine Schale stehen. Er drehte sie schnell um, setzte sie sich auf den Kopf und wollte damit die Moschee verlassen. Doch es stellte sich ihm jemand in den Weg, hielt ihn fest, entriss ihm die Schale und tadelte ihn heftig: «Sag, warum du das getan hast, du Unseliger!» Der Narr antwortete: «Überall wo ich hingehe, sagt man zu mir: ‹Gott wird dir Brot geben.› Weil mir aber von Ihm nichts zugeteilt wurde, habe ich Ihm schließlich die Schale weggenommen, damit Er sich endlich einmal um mich kümmert. Bis Er meine Angelegenheit einmal in die Hand nimmt, muss ich noch lange Unglück leiden.» Darüber musste der Mann lachen und gab dem Narren Brot und Kleidung. Frühmorgens sah jemand den Narren in seiner neuen Kleidung auf der Straße und fragte: «Wo hast du dein Gewand her? Hast du es gekauft oder geschenkt bekommen?» Der Narr antwortete: «Gott hat es mir gegeben.»  – «Du bist ein wirklicher Glückspilz. Denn wenn du kein Glück hättest, hätte dir Gott, der Gerechte, kein Gewand geschenkt.» Darauf erwiderte der Narr: «Was für ein Glück? Er hat mir dieses Gewand erst nach hundert Prüfungen gegeben. Hätte ich Ihm nicht plötzlich ein Pfand abgenommen, hätte mein Magen kein Brot und mein Körper keine neue Kleidung erhalten.» Ohne Pfand bekommt niemand von Ihm die geringste Wohltat. Ohne Pfand sind deine Bemühungen nutzlos. Ohne Pfand gibt Er dir weder Brot noch Kleidung. Wenn du Ihm kein Pfand nimmst, wendet Er sich ab und setzt deine Seele und deine Ernte in Brand. 5. Der Einsiedler, der Gott die Zähne zeigt Ein Einsiedler lebte an einem einsamen Ort der Welt und besaß keinerlei Lebensmittel. Im Vertrauen auf Gott saß er Tag und Nacht da; jede Faser seines Herzens war mit Genügsamkeit



6. Der barfüßige Narr in der Kälte215

verknüpft. Da er kein bisschen von Gottes Weg abwich, konnte er sich an Gottes Schwelle Dreistigkeit erlauben. Nun kamen auf dem Wege zwei hungrige Reisende zu ihm, doch er besaß nichts außer seinem Atem. Bis spät saßen die beiden Reisenden bei ihm, aber nichts wurde ihnen angeboten. Da sich ihre Wartezeit in die Länge zog, wurde der Scheich verlegen. Schließlich sprang er auf, blickte wie ein Narr zum Himmel und sprach: «Was habe ich denn schon, dass Du mir immer wieder Gäste schickst? Wenn Du mir zwei Esser schickst, dann musst Du mir Armem auch den Proviant geben. Wenn Du mir jetzt das täg­ liche Brot schickst, will ich keinen Streit anfangen; wenn nicht, nehme ich diesen Knüppel und schlage alle Lampen in der ­Moschee entzwei.» Kaum hatte der erregte Mann ausgesprochen, erschien auf dem Weg ein gedeckter Tisch. Ein Sklave, schön wie der Mond, verneigte sich und stellte den Tisch ab. Als die beiden Reisenden seine Worte hörten, waren sie sehr erstaunt. Beide sagten zu ihm: «Was für eine große Dreistigkeit! Hast du keine Angst wegen deiner Dreistigkeit?» Da erwiderte der Einsiedler: «Man muss Ihm die Zähne zeigen, denn wenn man es nicht tut, bekommt man nichts von Ihm!» Seine Verehrer sind frei von Fehlern; sie alle tanzen wie die Zweige. Sie sind rein wie blühende Zweige; deshalb erreichen sie in Seiner Nähe Vollkommenheit. 6. Der barfüßige Narr in der Kälte Ein verwirrter junger Mann ging einmal in der Kälte über eine schlammige Straße. Da sagte jemand zu ihm: «Die Straße ist schmutzig; erbitte dir doch wenigstens ein Paar abgetragene Schuhe!» Er antwortete: «Wie kann ich Schuhe für meine Füße suchen? Nachts haben die Leute sie doch weggestellt.» Solange dein Herz mit dir selbst beschäftigt ist, wirst du ­dieses Glück nicht erreichen. Wenn du voller Liebe das Herz erreichst, wird dir vollkommenes Glück zuteil.

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22. Der Pilger geht zur Pflanze

7. Der Narr, dessen Herz gestorben war Ein Narr mit verwirrtem Herzen lebte in einer Ruine. Er weinte wie der Regen, da fragte ihn jemand: «Warum diese Tränen? Wer ist dir gestorben?» Er antwortete: «Weit gefehlt, mein Herz! Mein Herz ist gestorben; meine Lage ist noch schwerer geworden.»  – «Wie ist dein Herz gestorben, wie ist es entschwunden?»  – «Es sehnte sich nach Gott: Es ist friedlich ­gestorben und hat sich fern von mir verborgen. Es ist zu Ihm gegangen und hat diese Welt verlassen. Es hat mich allein und bestürzt zurückgelassen, so niedergeschlagen und verwirrt. Wie seltsam! Zu dem Ort, zu dem mein Herz gegangen ist, zu kommen, ist für mich nicht einfach. Mein Wunsch ist es, dorthin zu kommen, auch wenn ich dafür über den Grund des Meeres gehen müsste. Wenn ich eines Tages dort ankäme, wäre ich von meinen Tränen und meiner Sehnsucht befreit.» Wer diesen weltverbrennenden Schmerz nicht kennt, für den ist immer Nacht, und er wird den Tag niemals sehen. Es braucht einen Schmerz, für den es keine Heilung gibt, denn wenn er heilbar wäre, wäre es leicht. 8. Schiblī und der unheilbare Schmerz Als Schiblī wieder einmal den Verstand verlor, schickte ihn der König ins Irrenhaus. Dabei übertrieb er dessen Zustand etwas und ordnete an, ihm eine bestimmte Medizin einzuflößen. Da sprach Schiblī ungeduldig: «Mach dir keine vergebliche Mühe, denn für diese Art von Verrücktheit, guter Mann, gibt es kein Heilmittel. Lauf nicht um mich herum! Schmerz, den man ­heilen kann, ist kein Schmerz, höchstens Bauchweh. Und wenn ich schon das Leben verliere, so genügt mir der Geliebte. Als mein Heilmittel genügt mir der unheilbare Schmerz!» Was weißt du, der du nichts mit Gott zu tun hast, schon über den Wert des Lebens? Er lässt dich auf hundertfache Weise ­bluten und quält dich dann einen weiteren Atemzug lang. Er tötet dich auf hundert Arten und belebt dich aufs Neue, nur um dir einen Brotkrumen oder einen Fetzen zu geben.



9. Die Bitte eines barfüßigen Narren217

9. Die Bitte eines barfüßigen Narren Ein Narr ging des Weges, wie seltsam, barhäuptig, barfüßig und mit trockenen Lippen. Er litt unter der Kälte und dem Schlamm der Straße, hob den Kopf und rief: «O Schöpfer, gib mir entweder nach so vielen Qualen mein Herz zurück oder wenigstens ein Paar abgetragene Schuhe!» 10. Ein Narr fürchtet um sein täglich Brot Ein aufgeregter Narr fürchtete aus Mangel an Brot um sein ­Leben. Verzweifelt vor lauter Sorge um ein Stück Brot weinte er so sehr, dass er sich nicht um seine Seele sorgte. Da sagte jemand zu ihm: «Weine nicht, armer Kerl! Gott, der dieses hohe Dach ohne Säulen in der Luft errichtet hat, kann dir auch dein tägliches Brot geben.» Der Verrückte antwortete: «Ach, mag Gott, der Erhabene, doch jetzt für die Festigkeit des Himmels hundert Säulen aufstellen, aber mir soll Er, ohne mich weiter zu quälen, ein Stück Brot geben. Was ich jetzt brauche, ist Brot. Was habe ich mit einem Himmel ohne Säulen zu tun?» 11. Tischgebet eines Narren Ein Narr aß mit großem Behagen und dankte dabei unaufhörlich Gott: «O Gott, der Du uns Seele und Leib gegeben hast; ich danke für die Speise, die von Dir kommt. Du hast mir die Speise vom Himmel geschickt; deshalb schicke ich Dir immer meinen Dank. Schicke Du mir immerfort Speisen herunter, ­damit ich Dir immerfort Dank sagen kann.» Ein Vermittler ist für dieses Volk erschienen, und seine Rede ist gewiss die Wahrheit. Da er nichts anderes sieht als Ein­ bildung, kommt alles, was sie hören und sagen, von daher.

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22. Der Pilger geht zur Pflanze

12. «Gott lässt dich grüßen!» Ein verwirrter junger Mann begegnete auf der Straße einem ­Asketen, der zu ihm sagte: «Gott lässt dich grüßen.» Der Narr antwortete: «Mach, dass du weiterkommst! Lass dieses unnütze Geschwätz! Du weißt nichts über Gott. Bist du etwa die Grundlage für Gottes Werk? Er braucht keinen Vertreter wie dich. Mach dich davon, denn der Eine kann reden und handeln ohne dich als Boten.»

Dreiundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Gliederfüßern

Der Pilger, verwirrt und ohne Verstand, den Tieren gleich, wandte sich bedrückt an die Gliederfüßer und sprach: «O ihr Wanderer über Meer und Land, die ihr die ganze Welt durchquert – jeder Nichtsnutz tritt auf euch, und ihr werdet inmitten des Staubes zu Blut. Ihr seid auf der Stufe des Nichtseins und richtet euren Blick doch auf das Sein Gottes. Gott hat euch in Seiner Gnade zu einem Beispiel gemacht.1 Er hat aus der Ameise ein Gleichnis gemacht; in Seiner Huld hat er mit einer Sure aus dem Text des alten Korans2 die Ameise mit einem Halsband geschmückt. Die Biene hat er mutig wie einen Löwen gemacht und eine Sure nach ihr benannt.3 Auch der Spinne hat Er Ehre erwiesen und auch einer Sure ihren Namen gegeben.4 Der Ameise legte Er Worte in den Mund, die Salomo verzückten.5 Dass ihr über solche Geheimnisse verfügt, macht mich sprachlos. Nehmt mich bei der Hand, damit ich mein Ziel erreiche und aus der Niedrigkeit in die Höhe gelange! Da schon Salomo auf euren Rat hörte, wird mein Herz eure Worte aufnehmen.» Als die Gliederfüßer das hörten, sagten sie: «Befiehl, doch sprich nicht so über uns! Wer sind wir schon auf dieser Erde, dass unser Name im Heiligen Buch erscheint? Wir sind kurz­ lebig, kraftlos und von geringer Körpergröße; wir sehen die Welt wie durch ein Nadelöhr. Die Spinne, die vor die Höhle ihr Netz spann und so die beiden Augen des Glaubens verhüllte,6 ist nur eine Spinne auf dem Astrolabium; sie weiß gar nichts über das Himmelsgewölbe. Sie lässt das Volk der Sonne gewahr werden, doch sie selbst weiß nichts über die Sonne. Wer würde schon eine Spinne fragen, was ‹Der Lebendige, der nicht stirbt›7 bedeutet? Die Geschichte von der schwachen, dunklen

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23. Der Pilger geht zu den Gliederfüßern

Ameise gehört auch zu dieser Art von Metaphern. Sei ver­ sichert, dass es besser für dich ist, vor Durst zu sterben, als ­unsere Namen anzurufen. Die Welt ist voller verwirrter Liebender, die alle leiden und tief blicken. Was willst du von Ameisen und Mücken erfahren? Man könnte meinen, du habest außer uns niemanden gesehen. Wir haben gesprochen. Sieh uns jetzt als tot an; unser Leben ist dahin. Geh du deinen Weg weiter!» Der Pilger ging zu dem scharfsinnigen Meister und erzählte ihm von den Tieren. Da sprach der Meister zu ihm: «Die niedrigen Gliederfüßer entsprechen einer verborgenen Qualität. In jedem Wesen stecken Hunderte von Eigenschaften, doch das Wesentliche ist immer die Erkenntnis. Erkenntnis ist die Grundlage des Einheitsbekenntnisses, und der Weg zum Einheits­ bekenntnis führt über die Abgeschiedenheit. Wenn du wie ein Gliederfüßer auf dem Pfad zertreten wirst, erhält deine Seele Vollkommenheit bis in alle Ewigkeit. Wie willst du diese Vollkommenheit der Seele erreichen, solange du dich nicht von ­allem Seienden gereinigt hast? Solange du bei dir selbst bist, siehst du in allem die Vielzahl; erst wenn du entworden bist, siehst du alles als den Einen.» 1. Der Narr, der sein Geld zurückfordert Ein Narr hatte jemandem Geld geliehen und drängte darauf, es zurückzubekommen. Doch sosehr er seinem Schuldner auch zusetzte, dieser konnte ihm das Geld nicht zurückzahlen. Der Streit zwischen den beiden Gegnern wurde immer heftiger und die Angelegenheit immer schwieriger. Schließlich sagte ein ­Derwisch zu dem Narren: «Gib es auf, damit diese Schuld bis zur Auferstehung auf ihm liegenbleibt. Das Geld wird dir am Auferstehungstag mehr nutzen. Geh vorerst darüber hinweg und halte dich von ihm fern!» Der Narr aber erwiderte: «Am Auferstehungstag kann ich das Geld natürlich nicht von ihm zurückfordern, und morgen im Jenseits wird er mir nichts geben – sei doch still! Deshalb dränge ich heute darauf.» – «Das verstehe ich nicht», antwortete der Derwisch, «erkläre es mir, damit mein Zweifel der Gewissheit weicht.» Der Narr sprach:



2. Der Narr vor dem Krämerladen221

«Wenn wir zwei diesem irdischen Käfig entspringen, sind wir – er und ich – nur noch eins. Wo das Göttliche Einssein erscheint, ist es Vielgötterei, Zweiheit zu sehen. Wenn ich also er bin und er ich ist, kann er dort nicht mein Feind sein. Doch hier manifestiert sich das Einssein nicht; deshalb fordere ich mein Geld, das ich brauche, zurück. Nehmen wir ihm jetzt das Geld ab, denn dort werden wir beide eins sein.» Dass aus der Vielzahl das Eine wird, das allein ist von Belang. Wenn nicht, wird der Schmerz gewiss noch größer. 2. Der Narr vor dem Krämerladen Ein liebestrunkener Narr in mystischer Ekstase blieb vor dem Laden eines Krämers stehen. Er fragte den Krämer: «Warum sitzt du vor dem Laden?»  – «Damit ich einen Gewinn bekomme.»  – «Was ist Gewinn?»  – «Wenn du eines hast und schnell zwei daraus werden, das ist Gewinn.» Da rief der Narr: «Ist dein Herz denn blind? Wenn aus zweien eins wird, das ist Gewinn. Wenn du das Gegenteil behauptest, leugnest du das Einssein und bist ein Polytheist.» Erst wenn sich beide, Herz und Leib, in Gott verlieren, wird der Mensch wirklich zum Menschen. 3. Was bleibt dem Menschen? Ein liebenswerter Mensch ging verwirrt seines Weges, als ob er einen bösen Traum gehabt hätte. Er kam bei einer Versammlung vorbei und hörte den Prediger sagen: «Gott hat den Lehm Adams am Anfang mit Seiner allmächtigen Hand vierzig Tage lang geknetet.» Und er fuhr fort: «Das Herz des Gläubigen hat in den Fingern Gottes immer seinen Platz.» Als der Narr diese Worte hörte, stieg Rauch aus dem Feuer seiner Seele auf, und er sagte: «Was soll der arme Mensch noch tun? Ob er Herz ist oder Lehm der Erde – wenn Herz und Lehm Ihm gehören, was außer Bedürftigkeit bleibt dann uns? Ich habe ein Herz oder ein Stück Lehm auf dieser Welt, doch beides ist Sein – das ist das Problem. Bin ich Herz oder Lehm auf dieser Welt? Er ist alles

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23. Der Pilger geht zu den Gliederfüßern

auf der Welt  – was bin ich? Ich weiß nicht, ob ich bin oder nicht bin; wenn alles Er ist, wer bin ich dann?» 4. Der Bauer, der sich einen Kürbis ans Bein band Ein Bauer kam in die Stadt Merw und legte sich in der Moschee schlafen. Er hatte sich geschickt einen Kürbis an das Bein gebunden, um in der Stadt nicht gleich verloren zu gehen. Aber jemand band ihn von seinem Bein los, befestigte ihn an seinem eigenen Bein und legte sich auch schlafen. Als der Bauer aufwachte, sah er verblüfft, dass der Kürbis am Bein des anderen hing. Er geriet in Bestürzung und Verwirrung und rief: «O Herr, um den Bauern ist es geschehen! O Gott, wenn ich er bin, wer bin ich dann? Und wenn er ich ist, wie kann er mir dann sagen, wer ich bin?» Ich schwanke zwischen Verneinung und Bejahung; diese ­Angelegenheit ist weder mit mir noch ohne mich vollkommen. Ich bin zwischen diesem und jenem, zwischen Zweifel und Gewissheit gefangen. 5. Der Ungeduldige und der Scheich Ein berühmter Mann ging zu einem Scheich. Ganz außer sich vergoss er viele Tränen und sagte: «Ich bin von der Gottesverehrung ganz erschöpft, und doch hat mich kein Hauch von Gott erreicht. Ich bin ständig zwischen diesem und jenem gefangen. Was soll ich machen?» Der Scheich sagte: «Bleibe in Erwartung!» Wenn diese Rede auftritt, entsteht sie aus Verstand und Handeln. Man muss den Blick auf die Ewige Schicksalstafel richten; wie lange willst du noch auf Verstand und Handeln setzen? 6. Die Wunder des Meeres Jemand fragte einen an Jahren und Erfahrungen reichen Seemann: «Du, der du viel weißt; erzähle von den Wundern des Meeres!» Der Seemann sagte: «O du Geheimnissucher, ich



7. Ein alter Meister unter Feinden223

halte es noch für viel wundersamer, wenn das Schiff vom Meer aus unversehrt das Ufer erreicht. Das Schiff fährt stets über Strudel und wird in jedem Augenblick von den Wellen geschüttelt, und wir erwarten zwischen Wellen und schwarzen Strudeln, dass ein Wind des Weges kommt.» Mit List ist hier nichts auszurichten, und die Ewige Schicksalstafel schweigt auch. Der einzige Weg für dich besteht darin, dem Gebot zu gehorchen und selbstlos im Tal der Seele zu wandern. Der beste Diener ist, wer dem Gebot gehorcht, denn was der Herr will, geschieht. 7. Ein alter Meister unter Feinden Mitten unter Feinden sagte ein alter Meister zu seinem Freund diese schönen Worte: «Diese Menschen sind immer alle betrübt, haben die Freude verloren und trauern. Den Hauptgrund für ihren Kummer sehe ich im Folgenden: Gott, der Gütige, tut immer das, was Er will, und nicht das, was die Geschöpfe brauchen.» Selbst wenn Hunderte für ein und dieselbe Sache beten, kommt dies doch nur dann zustande, wenn Gott es will. 8. Abū Saʿīd und der verspätete Wasserträger Jemand kam spät von der Wasserstelle zurück und wurde deshalb von den Sufis gescholten. Abū Saʿīd sprach: «Ihr Männer, wie hätte er das Wasser früher bringen können? Wir bekommen gutes Wasser, das unser tägliches Brot ist, doch erst dann, wenn es soweit ist. Erst dann konnte dieser Mann das Wasser schöpfen, denn man sollte zur Unzeit niemals Wasser trinken.» Die Entscheidung liegt bei Ihm. Er ist der Bewahrer, und um uns zu bewahren, genügt Sein gutes Handeln.

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23. Der Pilger geht zu den Gliederfüßern

9. ʿOmar vertraut Gott sein Kind an ʿOmar8 wollte aus Mekka abreisen, obwohl seine Frau schwanger war. Er sprach zu Gott: «O Du, der Du die Welt erhellst, ich vertraue Dir mein Kind an.» Als er von seiner Reise zurückkam, war seine Frau schon lange gestorben. Aus ihrem Grab hörte er eine Stimme: «Komm; was du Gott anvertraut hast – es ist hier.» Da hob der Fürst der Gläubigen den Staub auf und sah die eine Hälfte der Frau schon zerfallen, während die andere Hälfte noch frisch war, lebte und dem Säugling reichlich Milch gab. Er nahm sein Kind von ihrer Brust, und, o Wunder, es hatte die Brust der Mutter in seinem Mund. ʿOmar nahm es fort, und eine verborgene Stimme sagte zu ihm aus der Höhe: «Was du Gott anvertraut hast, hat Er dir zurückgegeben. Da du Ihm die Mutter nicht anvertraut hast, ist sie gestorben.» Wenn Gottes Schutz nicht verfügbar ist, sind die Geschöpfe keinen Atemzug lang sicher. 10. Der Scheich und die gestohlenen Schuhe Es wird erzählt, dass Rokn ad-Din Akkāfī eines Tages eine ­seiner hochgeschätzten Reden hielt. Als es im Publikum un­ ruhig wurde, fragte er jemanden: «Was ist vorgefallen? Warum dieser Tumult? Wir wissen es nicht. Sagt uns die Wahrheit!» ­Jemand antwortete: «Irgendein Nichtsnutz hat insgeheim ein Paar Schuhe gestohlen. Wir haben ihm die Schuhe wieder ab­ genommen, deshalb ist es zu einem Tumult gekommen.» Da sagte der Scheich: «Halte keine so lange Rede; denn zöge Gott, der nichts bedarf, eines Tages den Schleier der Tugend von uns, wäre dieser Bettler9 der erste Schuhdieb.» Was weiß jemand schon, welches Urteil über dich ergeht und welches Schicksal jedem Einzelnen blüht? Das Blut der Aufrich­ tigen wird wegen dieser Sehnsucht vergossen, und der Himmel streut Erde auf ihre Häupter. Obwohl sie überall nach dem Weg gesucht haben, haben sie – o Wunder – nicht einmal ein Haarbreit begriffen. Hundert Welten der Sehnsucht in der ­reinen Seele kann man unter der Erde finden.



11. Was gibt es in der Welt am meisten?225

11. Was gibt es in der Welt am meisten? Ein angesehener Mann fragte Murtadā:10 «Weißt du, was es am meisten in der Welt gibt?» Er antwortete: «Im Himmel ist Gehorsam am häufigsten, weil dort die Geistwesen wohnen. Doch auf der Erde ist Nachlässigkeit am weitesten verbreitet – nichts sonst. Und wenn du mich fragst, was es unter der Erde gibt, so findest du nichts mehr als Sehnsucht. Sieh nur, wie groß der Sehnsuchtsschmerz derer ist, die an Erde und Blut gefesselt sind! Geburt und Sterben, das ist der Lauf der Welt: bald etwas bringen, bald etwas fortnehmen. Und diese Geschichte hat ­gewiss kein Ende; dieser Schmerz findet in alle Ewigkeit keine Heilung. Das, was unsere Kräfte übersteigt, lässt sich auch durch unser Klagen nicht ändern.» 12. Die Alte auf dem Friedhof und der Flickenrock Eine von den Jahren gezeichnete, mittellose Frau saß auf dem Friedhof. Monate und Jahre hatte sie in einen Flickenrock hunderttausend Falten genäht. Jedes Mal, wenn jemand begraben wurde, nähte sie für jeden eine weitere Falte. Ob nur einer oder zehn begraben wurden – sie nähte für jeden eine Falte. Da der Tod jeden Augenblick eintrat, war der Flickenrock hundertfach mit Falten übersät. Schließlich trat eines Tages der Tod so oft ein, dass die alte Frau mit ihrer Arbeit nicht mehr nachkam. Es wurden so viele Leichname aufgebahrt, dass die Frau bei ihrer Arbeit Fehler machte. Schließlich erlahmte sie, stieß einen Schrei aus, zerriss den Faden und zerbrach die Nadel. «Das ist nicht die Arbeit für meinesgleichen», rief sie, «wie lange soll ich mich noch mit Nadel und Faden beschäftigen? Auch ich werde nicht mehr mit dieser Nadel nähen und den Flickenrock verbrennen. Wie können mir Nadel und Faden eine Antwort auf die Frage geben, die mich jede Stunde beschäftigt? Ich muss mich drehen wie das Firmament; das ist keine Sache für Nadel und Faden.» Da du ständig unvernünftig und unachtsam bist, werden dir solche Worte nie zu Gehör gebracht; denn wenn du nur eines davon wahrnähmst, würde dein Hemd zum Leichentuch.

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23. Der Pilger geht zu den Gliederfüßern

13. Der Mystiker ʿAbbāsa und die Reichen Jemand fragte ʿAbbāsa:11 «O du, dessen Rede der Schlüssel zum Schatz des Geheimnisses ist, warum pflegst du mit den Reichen keinen Umgang? Warum kommt kein angesehener Mann in deine Versammlung?» Er antwortete: «Warum sollte ein Reicher­ zu mir kommen, wenn er bei mir keinen Gewinn machen kann? Käme ein Reicher zu meiner Versammlung, wäre er trotz seines vielen Silbers für mich nur Kupfer. Die Börse an seinem Hals würde ich in einen Strick verwandeln und sein Hemd in ein ­Leichentuch. Bei meinen Worten würde dem Reichen ein goldener Palast wie ein Grab erscheinen. Ich könnte seine Fehler nicht verdecken und seinen Glauben in Unglauben verwandeln. Wie könnte sich so jemand nach mir sehnen; wie könnte er sich mit mir vergleichen?» Wenn jeder Tyrann sich nach dir sehnt, wie kannst du dich dann mit mir vergleichen? Wo ist am Hofe des Tyrannen Platz für den Gläubigen? Wer sich ins Feuer begibt, ist in Gefahr. 14. Der Mufti an der Tür des Sultans Ein tugendhafter Mann sah am Audienztag einen Mufti an der Tür des Sultans sitzen. Der rechtschaffene Mann bat ihn um ein Rechtsgutachten, doch dieser antwortete: «O du Einfältiger, ist das der Ort für ein Rechtsgutachten?» Der Mann sprach: «Und ist die Tür des Königs oder Fürsten etwa der richtige Platz für einen Mufti, du Rechtsverdreher?»

Vierundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Vögeln

Der Pilger flog nun zu den Vögeln und sprach: «Ihr Vögel aus Feuer und Licht, ihr seid dem unheilvollen Netz entkommen und in den Lüften des Himmels aufgereiht.1 Die Sprache der Vögel ist euch eigen; Licht und Melodie sind euch bestimmt. Ihr seid dem eigenschaftslosen Nest entflogen und in die Welt der Erkenntnis gezogen. Mit euren Flügeln und Federn habt ihr den Käfig aufgebrochen und seid Netzen und Fallen entkommen. Der Wiedehopf war euer Bote, er war mit dem Besitzer des Siegelrings2 vertraut. Es genügt, dass der Wiedehopf zu euch gehört, wo ihr doch einen solchen König gesucht und g­ efunden habt.3 Nachts fliegt ihr zur Schale der Plejaden, bis ihr morgens ein goldenes Ei legt. Ihr, die ihr ohne Mittel dahineilt, findet das Korn der Worte ‹Speiset am Morgen›.4 Ihr werft Schatten vom Osten bis zum Westen, und auf eurem Scheitel liegt der Schatten des Sīmorgh.5 Da ihr Umgang mit dem Sīmorgh pflegt, habt ihr alles, was ich suche, sei es auch Vogelmilch.6 Ich bin ein Säugling auf dem Pfad; gebt auch mir Milch! Ich sterbe vor Durst; helft mir!» Als die Vögel diese Worte hörten, erschien ihnen die Welt finster wie die Flügel einer Krähe. Ein Vogel sagte: «O du, der du über meinen Zustand nichts weißt! Vom Leiden sind meine Federn und Flügel verbrannt. Mein Kummer lässt mich wie ein halb niedergemetzeltes Huhn in Blut und Lehm zappeln. Ich bin, von meinen Flügeln getragen, um die ganze Welt gezogen; jetzt sind Schnabel und Gefieder blutgetränkt. Tag und Nacht bin ich auf der Suche; dem Schlaf habe ich am Abend ‹Gute Nacht› gesagt. Ich bin schließlich genauso verwirrt wie du, habe Flügel und Federn auf der Suche verloren. Der liebende Vogel unter uns ist die Nachtigall, aber sie hat nichts als ihre

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24. Der Pilger geht zu den Vögeln

Klagemelodie. Der Homā frisst nur Knochen, damit durch ihn ein König die Welt ausnutzen kann.7 Lass dich nicht von der Pracht des Pfauen beeindrucken – sieh nur, wie er sich für jedes Körnchen bückt! Auch der Wiedehopf bildet sich etwas ein, ist seine Krone auch nur ein Federbüschlein. Wenn der Sīmorgh unseren Vogel Strauß sähe, versteckte er sich vor Scham.8 Wolltest du mit unseren Schwingen fliegen, verlörest du die Federn und wärst bloßgestellt.» Darauf wandte sich der Pilger an den unvergleichlichen Meister und erzählte ihm unter Tränen sein Erlebnis. Der Meister sprach zu ihm: «Der Vogel ist aufgrund seiner Vollkommenheit zum Symbol allen hohen Geistes geworden. Der Geist, der aus dem Guten aufsteigt, nimmt schließlich die Gestalt eines Vogels an. Dem Wesen der Seele sind vielfältige Bedeutungen eigen, und es ist nicht einfach, sie zu entschlüsseln. Jede Bedeutung, die in deiner Seele liegt, bleibt so lange verborgen, wie die Seele sich nicht mit dem Körper verbunden hat. Wenn sie sich aber mit dem Körper verbunden hat, ist dein Wesen wirklich deins; solange es nur in der Seele liegt, ist es nicht deins. Wenn dir das Glück des Glaubens zuteilwird, sind Seele und Körper in Eintracht.» 1. Mahmūd und die Alte Es wird berichtet, dass Mahmūd, der König der Welt, sich eines Tages bei einem Jagdausflug von seinem Heer entfernte. In einem­völlig zerstörten Dorf sah er vor sich auf der Straße eine alte Frau, die eine Kuh molk; ihr Gesicht war gelb wie eine Quitte. Da sagte er: «O Frau, gib mir einen Schluck Milch!» – «O erhabener Fürst», erwiderte ihm die alte Frau, «wo hätte denn schließlich die Milch ihren Platz? Wenn mein Gemahl noch lebte, würde er dir diese Kuh auf der Straße opfern. Sei mein Gast, wenn du es nicht eilig hast. Diese Kuh ist meine ganze Habe, und ich biete sie dir als Opfer an.» Diese Worte erfreuten Mahmūd sehr; er hielt an und stieg rasch vom Pferd. Sofort begann er, die Kuh zu melken, und die Milch sprudelte aus ihren Zitzen. In einem Augenblick ließ die Hand des ­Königs



1. Mahmūd und die Alte229

so viel Milch fließen wie die Hände der Alten in einem Monat. Als die alte Frau die viele Milch sah, sagte sie: «Warum bittest du um Milch, o Fürst, wenn jeder deiner Finger offensichtlich eine Milchquelle ist? Wenn man solche Finger hat wie du, ­warum solltest du um Milch bitten? Dein Glück ist weit wie der uferlose Ozean. Ich weiß nicht, wer du bist, o Reiter. Trink Milch, aber nicht die von meinen, sondern die von deinen Händen, denn die hast du immer zur Verfügung. Du hast so viel Milch für dich herausgeholt, wie ich erst in einem Monat gesehen habe, o Fürst. All’ meine Milch, die aus deiner Hand kam, gaben nicht die Zitzen, sondern deine Hand.» Währenddessen kamen aus allen Richtungen Soldaten herbei und umringten den König. Sie warfen sich vor ihm nieder und bildeten dann einen Kreis um ihn. Da wusste die Greisin, wer ihr Gast war, und sie fühlte, wie sie zu Stein und zu Wachs wurde. Angesichts des Königs versagten ihr Hände und Füße, und sie schämte sich sehr. Sie sprach: «Bis jetzt, da ich dich erkannt habe, war ich bereit, dir die Kuh zu opfern. Jetzt, da ich weiß, wer du bist, bin ich bereit, mich selbst für dich zu opfern.» Diese Worte rührten den König, und er sagte: «Wünsche dir alles, was du brauchst.» Sie antwortete: «Ich wünsche mir, dass sich der König von Zeit zu Zeit von seinem Heer entfernt und ganz allein mich, die sich nach ihm sehnt, besucht. Ich bin schwach von Kopf bis Fuß und kann Pauken und Banner nicht ertragen.» Der König ließ das Dorf für die alte Frau wieder aufbauen. Er schenkte ihr das Dorf und zog sich zurück. Das war die ­Geschichte dieser alten Frau. Mahmūds Glück war echt, deshalb lachte es ihm überall, wo er hinging. Das Glück wurde das Fundament für die Wachsamen. Hüte das Maß an Glück, das du besitzt! Wenn du das nicht tust, wird der kleinste Schicksalsschlag genügen, dass der böse Blick Wirkung zeigt.

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24. Der Pilger geht zu den Vögeln

2. Die arme Witwe und der böse Blick In der Nachbarschaft eines erhabenen Herrschers wohnte eine Witwe. Zum Erstaunen des großen Königs verbrannte sie jeden Tag wilde Raute.9 Eines Tages rief der König einen Diener zu sich, gab ihm hundert Dinar aus gutem Gold und befahl ihm: «Geh und gib der alten Frau dies vom König! Und frage sie dann: Warum verbrennst du jeden Morgen in der Frühe Raute, wo du doch einen gleichartigen Tag nicht haben wirst?» Der Diener ging, überbrachte das Gold und teilte die Botschaft mit. Sofort gab die Witwe zur Antwort: «O du stolzer Mann, auf alles, was auf der Welt existiert, fällt am Ende, wenn du ihm ­einen Namen gibst, der böse Blick, damit du achtgeben sollst. Ich verzehre mir vor Armut die Seele, und dafür habe ich die Raute verbrannt. Als die Armut meiner würdig wurde, dachte ich mir: Der böse Blick fällt auf mich, damit ich achtgebe. Jetzt, wo du mir Gold geschickt hast, ist mein Elend vorbei, und ich bin wohlhabend geworden. Hast du gesehen, wie der böse Blick mich angeschaut hat und wie er auf meine Armut gefallen ist?» Abgeschieden von der Welt in Armut zu leben ist besser als hundert Königreiche zu regieren. Da jeden Tag ein Stück Brot genügt, leg deine Seele nicht in Fesseln. 3. Alexander in China Als Alexander nach China kam, stellte ihn der Kaiser des Reiches unter seinen Schutz und veranstaltete ein so königliches Fest, dass es auch hundert Märchen nicht beschreiben könnten. Der Kaiser ließ viele Schüsseln voller Perlen, Rubine und Edelsteine vor Alexander stellen und sagte: «Im Namen Gottes, strecke die Hand aus, damit danach deine Armee zugreifen kann.» Alexander aber sprach: «Bei uns isst man so etwas nicht. Gibt es denn keine Schüssel ohne Rubine und Edelsteine? Sprich, warum hast du die Schüssel mit Edelsteinen gefüllt? Seit wann ist das eine Speise für Menschen, sprich?» Da erwiderte ihm der Kaiser von China: «O du Meer des Wissens, isst du in



4. ʿĀmr ebn Qais und die gesalzene Lauchstange231

Griechenland etwa keine Juwelen?»  – «Wie könnte jemand ­Juwelen essen? Mir genügen ein, zwei Brote am Tag als Speise. Für meine Arbeit gewiss ebenso wie für die Arbeit von Edlen und Gemeinen genügen zwei Brote am Tag vollständig.» Der Kaiser sprach zu ihm: «Wenn du keine Juwelen isst und nicht mehr als zwei Brote brauchst, gibt es denn in Griechenland nicht einmal zwei Brote, so dass du von dort aufbrechen, die ganze Welt durchqueren, von einer Stadt zur nächsten ziehen, mit einem so gewaltigen Heer einen solchen Weg zurücklegen und so viele Menschen zugrunde richten musstest? Wenn dir diese zwei Brote genügt hätten, hättest du sie auch in Griechenland essen können.» Als Alexander diesen Verweis hörte, brach er noch in derselben Stunde auf und sagte: «Auf den Feldzügen habe ich Eroberungen gemacht und werde mich bis zur Auf­ erstehung mit geistiger Nahrung begnügen. Ein für alle Mal unterlasse ich die Feldzüge und suche Ruhe vom Umherziehen.» Es gibt für niemanden auf der Welt einen größeren Reichtum als Genügsamkeit. 4. ʿĀmr ebn Qais und die gesalzene Lauchstange ʿĀmr ebn Qais, der Pol der neun Himmel,10 bestreute eines ­Tages eine Lauchstange mit Salz und aß sie darauf mit Behagen ohne Brot und ohne sich von seinem Platz zu bewegen. Jemand fragte ihn: «Großer Mann, begnügst du dich wirklich mit einer Lauchstange?» Da antwortete ʿĀmr: «Es gibt viele auf der Welt, die sich mit noch weniger begnügen.» – «Sag mir, welcher Mensch gibt sich mit noch weniger zufrieden?» – «Jeder, der die diesseitige Welt dem Jenseits vorzieht, gibt sich mit ­weniger zufrieden. Denn diese Welt ist im Vergleich zur Religion nur ein Atom, und in jeder Lauchstange stecken hunderttausend Atome. Jemand, der also diese Welt erwählt, begnügt sich mit weniger als diesen hunderttausend.» Wenn es sich nicht ziemt, auf weniger als das stolz zu sein, dann ist der Lauch mehr wert als die ganze Welt. Ich habe etwas­, das mehr als die ganze Welt wert ist, und wenn ich mehr als die ganze Welt esse, ist das zulässig. Wer den Weg der Genüg­

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24. Der Pilger geht zu den Vögeln

samkeit einschlägt, dessen Herz lässt das Reich der Welt kalt. Ein Stück trockenes oder frisches Brot, dünn ausgerollt – und er befreit sich von Fürst und Wesir. 5. Der König und der Narr in der Tonne Ein König ging zu einem Narren und sagte: «Erbitte etwas von mir, Bettler!», worauf dieser sagte: «Zwei Dinge brauche ich auf dieser Welt – möge der König sie mir jetzt geben! Erstens: Bewahre mich vor der Hölle. Zweitens: Führe mich ins Paradies.» Da antwortete der König: «Du Verwirrter auf dem Weg! Das ist doch Gottes Sache; von mir kannst du das nicht verlangen.» Der Narr hauste in einer Tonne vor der Tür, und der ­König warf von oben seinen Schatten darauf. Der Narr sagte: «Dann entferne dich wenigstens von meiner Tonne, damit die Tonne durch die Glut der warmen Sonne angenehm wird. Denn vom Abend bis zum Morgen bin ich in der Tonne und schlafe darin warm und bequem. Diese Tonne ist mein Bett, o Ruhmreicher. Entferne dich von ihr, damit sie nicht kälter wird. Du hast weder einen meiner Wünsche erfüllt noch meinen Schmerz geheilt. Wenn du schon meinen Schmerz nicht geheilt hast, dann kühle wenigstens mein Bett nicht ab!» Wem hundert Diener nicht genügen, wie kann der für einen anderen sorgen? 6. Der Narr im Schloss des Gouverneurs Ein Narr wurde von Kindern verfolgt, die ihn mit Steinen bewarfen. Er flüchtete sich rasch in das Schloss des ʿAmīd,11 der sich im Audienzsaal jenes himmelhohen Palastes aufhielt. Der Narr sah vor ihm mehrere Personen knien, welche die Mücken aus seinem Gesicht vertrieben. Der ʿAmīd rief dem Narren zu: «Unglücklicher, wer hat dich hier hereingelassen?» Da antwortete der Narr: «Meine Augen triefen von Blut, weil die Kinder Steine auf mich warfen. Ich bin hergekommen, damit du mich von diesen Kindern erlöst, aber du selbst bist hundertmal schwächer als ich. Du brauchst so viele Leute, um die Mücken



7. Das selbstsüchtige Kind233

aus deinem Gesicht zu verscheuchen; wie könntest du diese Kinder von mir fernhalten? Du senkst tatsächlich den Kopf und hebst ihn nicht. Du bist kein Fürst, sondern ewig Gefangener; du bist tatsächlich der Befehlsempfänger und nicht der ­Befehlshaber.» Ein Fürst ist, wer Vollkommenheit besitzt; kein anderer kann den Rang des Fürsten erreichen. Der Rang des Fürsten bleibt niemandem auf die Dauer, damit du weißt, dass es nur einen Herrscher gibt. 7. Das selbstsüchtige Kind Ein Kind war ganz allein und spielte mit einer Nuss. Jemand fragte es: «Na Kleiner, warum spielst du immer ganz allein mit der Nuss?» Es antwortete: «Es gefällt mir, ein Herrscher zu sein. Allein bin ich Herrscher und sonst niemand.»

Fünfundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Tieren

Der Pilger kam voller Schmerz zu den Tieren, ohne Hoffnung auf Sicherheit, aber auch ohne Todesfurcht. Dem Sucher des «Er offenbarte»1 erstrahlte das Herz; nun suchte er das achte Siebtel2 bei den Tieren. Er sprach: «O ihr, die ihr einen Führer sucht, ihr werft euch alle vor dem Schöpfer nieder. Mit ‹Warum­› und ‹Wie viel› habt ihr nichts zu schaffen, seid immer mit ­Weiden beschäftigt. Auf der Erde gehört der Stier zu eurer schwarzen Masse, und unter der Last des Stiers lebt euer Fisch. Auch an eurem Himmel gibt es Stier und Fische, Bär und Löwe und vieles mehr. Ihr lebt überall, unten wie oben, auf dem Berg, in der Wüste, auf dem Land und im Wasser. Manchmal erscheint euch ein Stellvertreter, so die Kamelin Gottes vor der Menschenmenge.3 Und fragt nicht nach dem Hund der Siebenschläfer,4 dessen Seele der Liebe gewidmet ist. Von euch wurde für den Propheten, dessen Namen du kennst, ein Schaf zum Stellvertreter.5 Von euch wurde ein schöner Fisch zum Refugium­ für Jonas, und ein mit Gift gebratenes Zicklein warnte den Propheten vor dem Anschlag.6 Euer ist auch das Füllhorn, das der Gazelle Moschus und der Seekuh Ambra gibt. Wenn jemandem auf dem Weg das Glück freundlich gesinnt war, kann er auch einem anderen zum Freunde werden. Da sich euch das Glück gezeigt hat, bitte ich nun euch um das Glück.» Als die Tiere von dieser schwierigen Lage hörten, wurden sie dadurch sogleich verwirrt. Sie sprachen: «O Unwissender und Ungezogener, sucht denn jemand bei einer Kuh oder einem Esel Perlen? Wir lauern uns doch gegenseitig auf, töten und fressen einander. Rastlos ziehen wir durch die Welt und tun nichts als schlafen und fressen. Was du suchst, das suche nicht bei uns; suche die Perle des Meeres nicht in der Wüste! Hunderttausende­



1. Das gute und das schlechte Essen235

von uns sterben leidvoll, bis einmal ein Burāq7 erscheint. Wenn einer von uns einen hohen Rang erreicht hat, darf man nicht alle nach diesem seltenen Fall beurteilen. Bei Kuh und Esel wird man das Geheimnis nicht finden. Deshalb verschwinde schnell, Hochnäsiger!» Der Pilger begab sich darauf zu dem weisen Meister und ­erzählte ihm, was die Tiere gesagt hatten. Der Meister sprach zu ihm: «Die zahmen und die wilden Tiere sind eine Flamme vom Feuer der heidnischen Triebseele. Die ungläubige Triebseele hebt immer wieder hochmütig den Kopf; schlag ihr den Kopf ab, dann unterwirft sie sich vollständig. Bald bietest du ihr den Islam, bald Gold an, um diese Ungläubige zu ernähren. Ob die Speise der Triebseele gut oder schlecht ist – sie wird zu Feuer, wenn die Triebseele sie aufnimmt. Gib der heidnischen Triebseele keine gute Nahrung, damit du nicht ihrer Bösartigkeit ausgesetzt wirst!» 1. Das gute und das schlechte Essen Der Löwe des Glaubens, die Fackel des Gesetzes, Sofyān athThaurī,8 sagte einmal zu seinen Jüngern: «Ihr, die ihr unter dem Gesetz versammelt seid! Genuss und Vergnügen beim Verzehr von Speisen dauern nicht länger an als von den Lippen bis zum Gaumen. Es ist leicht, diese kurze Strecke zu überstehen, bis dann das gute und das schlechte Essen in dir eins sind.» Du hechelst vergeblich wie ein Hund. Wer bist du? Ein Hund in Menschengestalt. Nur damit du einen Knochen erbeutest, würdest du Leben und Seele hingeben, du Hundeverehrer! Gib den Knochen lieber dem Phönix deines Geistes, denn das würde den Hund in dir sehr betrüben. Die Speise der Menschen ist es, den Geist zu beleben. Und was ist deine Speise? Den Hund mit Brot zu füttern. O du, der du Monat und Jahr mit deinem Hund beschäftigt bist, wie lange willst du noch mit ihm unter einer Decke stecken? Wenn du auf Befehl dieses Hundes tätig bist, wirst du am Tag der Auferstehung als Hund erwachen.

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25. Der Pilger geht zu den Tieren

2. Mose und das Schwein Mose, der Sohn ʿImrāns, hatte einen Jünger, der sich hoch­mütig für einen Meister hielt. Dieser zog in eine von Mose entfernte Stadt, und lange Zeit hörte man nichts mehr von ihm. Mose erkundigte sich oft nach ihm, doch es schien, als sei jedes Lebenszeichen von ihm aus der Welt verschwunden. Eines ­Tages ging Mose seines Weges und sah einen Mann, der ein Schwein hinter sich herzog. Mose fragte: «Woher kommst du, Bursche?» Er antwortete: «Aus der Stadt Soundso, Meister.»  – «Da wohnt mein Jünger.» – «Dein Jünger ist dieses Schwein auf der Straße.» Mose wunderte sich sehr über diese Worte. Wie konnte dieser boshafte Jünger zu einem Schwein geworden sein? Schließlich betete er zu Gott und sagte: «Eröffne mir das Geheimnis, o Wegweiser!» Gott sprach: «Das Wissen des Glaubens, das dieser Mann von dir erlernt hat, hat seine Seele, da er nach Niederem strebte, nicht erleuchtet. Die Seele hat ihn verlassen und den niedrigen weltlichen Dingen nachgestellt. Er ordnete sich der Welt unter und verspielte seinen Glauben für sie. Deshalb habe Ich ihn in etwas Niederes verwandelt und ihm das Kleid eines Schweins angelegt. Die Gemeinde des ­Propheten der letzten Zeit aber wird von solch einer Verwandlung verschont bleiben. Ich habe ihnen auf der Erde Gnade ­gewährt und bis zum Tag des Gerichts Zeit gegeben. Wer aus Seiner Gemeinde sich so verhält, wird am Tag des Gerichts verwandelt werden. Wenn der Pilger nicht bereut, wird er in ein Schwein verwandelt werden.» Wie lange willst du deine Triebseele noch hegen, wie lange noch mit dem Schwein Umgang pflegen? Ein Esel flieht immer aus Angst vor dem Schwein: Wenn aber du nicht fliehst, bist du durch und durch ein Esel. 3. Besser Ziegenbock als Esel Jemand sprach im Zorn zu einem anderen: «Du Elender hast mich zum Ziegenbock erklärt!» Ein Narr sagte zu ihm: «Da du doch ein Esel bist, sei froh, dass man dich nur für einen Ziegenbock hält!»



4. Der Schüler, der sich in die Magd verliebte237

Wie könnte jemand, der die Form verehrt, sich Gedanken um das Wesen machen? Der Ursprung der Form ist deine be­ gierige Triebseele; der Ursprung des Sinnes deine geistige Seele. Wende dich um der Liebe zum Wesen willen von der Form ab, damit die Sonne der Erkenntnis scheinen kann. Die Form ist nichts als Schleim und Blut; wer die Form verehrt, ist kein vorausdenkender Mensch. Alles, was seine Schönheit von Schleim und Blut hat, ist von schwarzer Galle durchdrungen. 4. Der Schüler, der sich in die Magd seines Meisters verliebte Es war einmal ein außerordentlich begabter, scharfsinniger, aufgeweckter und gebildeter junger Mann. Aus Wissbegier studierte er beständig und gönnte sich jahrelang keine Ruhepause. Er kümmerte sich nicht um die Welt und die Menschen und lernte und wiederholte immerfort. Sein Meister war sehr stolz auf ihn, denn er hatte nur Freude an ihm. Er schätzte ihn höher als die anderen Schüler und führte Gespräche anderer Art mit ihm. Nun hatte dieser Meister hinter dem Vorhang eine junge Magd, die schön wie eine zweite Sonne war. Diese mandel­ äugige Herzensbrecherin erquickte die Seelen; sie war der Schmuck der Welt und von wunderbarer Gestalt. Ihre ganze Erscheinung strahlte Geist, Anmut und Huld aus. Durch ihre Süße fesselte sie den Zucker, und durch ihre Bitterkeit wurde alles Saure zu Kandiszucker. Ihre beiden Zöpfe fielen unwillkür­ lich bis zum Boden. Von ihren rubinroten Lippen floss Zucker, und den Papageien fielen Federn und Flügel ab. Aus ihren Augen­traten Pfeile hervor, die den blutbefleckten Toten im ­eigenen Blut baden ließen. Irgendwann fiel der Blick des Schülers auf sie, und er sagte: «Ich bin der Jünger, sie ist die Meisterin. Auf der Welt gibt es jetzt für mich keinen Meister mehr. Nun genügt es mir, der Schüler dieses Götzenbildes zu sein. Wenn sie mich als Meisterin die Lektion der Liebe lehrt, werde ich ihr Schüler sein. Und wenn sie mich die Lektion der Liebe nicht lehren will, werde ich auch nichts anderes mehr lernen.» Tag und Nacht verzehrte er sich in Liebe zu jenem Götzenbild; Unterricht und Meister hatte er vollständig aufgegeben. Vor

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25. Der Pilger geht zu den Tieren

Liebeskummer wurde er dünn wie ein Safranfaden und nahm die Hautfarbe eines Gelbsüchtigen an. Die Liebe kam zu ihm und überwältigte den Verstand; wenn er noch ein Herz besaß, so war es des Lebens müde. Auch wenn er Wissen erworben hatte, löste es sich durch ein Atom Liebe in Luft auf. Der ­Erwerb von Wissen bringt Stolz und Unruhe mit sich, der Umgang mit der Liebe Verwirrung und Schwermut. Wer sich ohne Liebe auf den Weg der Wissenschaft macht, dem bringt die Wissenschaft nur die Liebe zu Geld und Rang. Schließlich wurde der Schüler krank; alle seine Gelenke schmerzten. Dann erfuhr der Meister, was dem Schüler mit der jungen Magd geschehen war. Er entschloss sich, aufgrund seines ­Wissens eine List anzuwenden, und ließ die Magd an beiden Händen zur Ader. Dann verabreichte er ihr ein Abführmittel, das seine Wirkung entfaltete, und danach bekam sie ihre Menstruation. Daraufhin wurde die Magd schwach wie ein Bambuszweig und ihr rosiges Antlitz gelb wie ein Safranblatt. Ihr Gesicht verlor seine Schönheit und ihre Wangen ihre Frische. Nichts mehr war von ihrer Anmut übrig. Der Pokal war zerbrochen, der Schenke gegangen. Was sie in dreißig Sitzungen an Arzneien zu sich genommen hatte, floss alles in einer Schüssel zusammen. Das Blut des Aderlasses und der Menstruation vermischte sich in der Schüssel, bis sie voll war. Nun ließ der Meister seinen aufgeweckten Schüler rufen und setzte die junge Magd hinter den Vorhang. Zuerst hieß er den Schüler, Platz zu nehmen, dann die Magd, sich dem Schüler zu zeigen. Als der Schüler das Mädchen sah, wandte er den Blick von ihr ab. Er war verwundert, dass jene Schönheit vom Schicksal so entstellt worden war. Kälte stieg in ihm auf, und das Fieber des Studiums ergriff ihn aufs Neue. Seine Krankheit löste sich voll­ ständig in Luft auf, und von der jungen Magd war er für immer befreit. Als der Meister diese Befreiung sah, siegte seine Freude über seinen Kummer. Die Gefühle des aufgeweckten Schülers für die junge Magd waren erkaltet, und die Liebe zu ihr hatte seine Seele verlassen. Er befahl, rasch die Schüssel herzubringen und sie unbedeckt vor den jungen Mann zu setzen. Dann sagte er:



5. Der Kloakenreiniger und der Muezzin239

«Nun, junger Mann, was ist geschehen? Du warst so ruhelos; jetzt bist du wieder ruhig. Wo ist deine Liebesglut geblieben? Wo deine Kühnheit, deine Dreistigkeit? Tag und Nacht hast du dich nach dieser Magd gesehnt; jetzt heb den Kopf und schau dir an, was du ersehnt hast! Warum ist dein Gesicht aus Liebe zu ihr gelb geworden? Warum ist eine solche Liebe so erkaltet? Du bist derselbe, und die Magd ist dieselbe; was sie verloren hat, ist nur dieses. Was sie deiner Ansicht nach verloren hat – schau hin, jetzt ist diese Schüssel voll davon! Als die Magd dies alles verloren hat, ist deine Liebe erkaltet. Du hast vergebens an der Magd gehangen; in Wirklichkeit hast du nur das hier ­geliebt. Du hast den Weg der Liebe leichtsinnig eingeschlagen und hast Blut und Schmutz geliebt.» Daraufhin wurde der Schüler wieder ein fleißiger Mann; er bereute und widmete sich dem Studium. Da du doch nur Schmutz mit dir trägst, mit welchem Recht beanspruchst du Rang und Macht? Ob deine Sache nun die Herrschaft über ein Reich oder der Erwerb von Glaubenswissen­ ist – wenn du es für die Triebseele tust, bist du nicht mehr wert als ein Hund. 5. Der Kloakenreiniger und der Muezzin Sanāʿī9 ging einmal ruhelos umher und erblickte einen Kloaken­ reiniger bei der Arbeit. Als er in eine andere Richtung schaute, sah er einen Muezzin beim Gebetsruf. Da sagte er: «Diese Arbeiten sind nicht frei von Mängeln. Beide scheinen mir dasselbe zu tun. Der Eine ist genauso unwissend wie der Andere; jeder von ihnen arbeitet für ein, zwei mann Brot. Da die beiden einfachen Männer für Brot arbeiten, erscheint mir ihr Tun gleich. Doch dieser Kloakenreiniger verrichtet seine Arbeit aufrichtig, während der Muezzin heuchlerisch und eingebildet ist. In diesem Sinne, mein Freund, ist der Kloakenreiniger mit Sicherheit dem Muezzin überlegen.» Solange du der Gefährte der Triebseele und des Teufels bist, ist dein Handwerk das des Kloakenreinigers. Doch wenn du den Baum des Dämonen aus deinem Herzen reißt, befreist du

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25. Der Pilger geht zu den Tieren

deine Seele von ihren schweren Fesseln. Wenn du aber den Baum des Dämonen pflegst, wirst du bei Hunden und Dämonen wohnen. 6. Der Mann, der sich aus Furcht vor Satan nach dem Tod sehnte Ein Mann sehnte sich nach dem Tod. Er suchte Abū ʿAlī Daqqāq10 auf und sagte: «Wegen der Macht des gesteinigten Satans fürchte ich mich kein bisschen vor dem Tod. Es scheint, als würde der Satan mir jeden Augenblick die Seele rauben; es wäre besser, wenn der Tod die Seele holte.» Abū ʿAlī antwortete: «O du Glücklicher, der du eine Lösung suchst, fälle den Baum in deinem Hof, damit sich künftig kein Sperling mehr darauf niederlassen kann. Wie könnte der Dämon ohne den Baum einen anderen sehen? Wenn du ein Dämonennest in dir trägst, macht dir der Dämon den Kopf schwindlig. Aber wenn du das Dämonennest vollständig verbrennst, kann dir, o Schmerzvoller, der Dämon nichts mehr anhaben.»

Sechsundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Eblīs

Der Pilger ging zum gesteinigten Satan und sagte: «O du, der du vom Barmherzigen und Erbarmer verstoßen wurdest; o du, am Anfang das Vorbild der Engel und am Ende der Führer der Ausgestoßenen; o du, den eine einzige Missachtung in die Irre führte und eine einzige Anmaßung zum Verfluchten machte! Siebenhunderttausend Jahre lang hast du das Geheimnis von Sein und Schein gesammelt. Doch dann wurde deine Rede ins Joch gelegt und deine Stellung zur Lüge erklärt. Du wurdest verwandelt, so dass dir jetzt weder Flügel noch Federn mehr geblieben sind. Wenn du die Glocke des Glücks geläutet hast, bist du jetzt wie die Glocke nutzlos. Niemand musste mehr ­leiden als du; du sitzt für immer mit trockenen Lippen und feuchten Augen da. Im Garten Eden warst du der Meister; dann bist du in den Höllenpfuhl gefallen. Groß, wie du warst, wie hast du dich so verwandelt? Gestern ein Engel, heute ein Verfluchter. Das Feuer deines Unglaubens hat den Glauben angegriffen; wem wäre auf der ganzen Welt so etwas widerfahren? Du weißt, dass du kühn wie ein Engel bist, doch kam der Dämon in dir bald zum Vorschein. O du Engel, du hast dich in einen Dämon für die Menschen verwandelt; halb Engel und halb Mensch, bist du zum Skorpion geworden. Um dich besser von den anderen unterscheiden zu können, hat man dir die ­Dämonenkappe auf den Scheitel gesetzt. Du bemächtigst dich des Herzens des Gläubigen und seiner Rede und läufst mit ­seinem Herzblut in seinen Adern. Dein Reich erstreckt sich von den Fischen bis zum Mond, dein Weg vom Osten bis zum Westen. Da du die ganze Welt umfasst, mach mich mit deinem Werk vertraut! Wenn du verstohlen einen Weg zum Schatz erspäht hast, verrate ihn mir, damit ich von meinem Leid erlöst werde!»

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26. Der Pilger geht zu Eblīs

Diese Worte tränkten Eblīs in Blut, und aus seiner Brust schossen Flammen. Er sprach: «Hunderttausend Jahre lang habe ich aus diesem übervollen Becher getrunken. Als ich ihn am Ende umdrehte, trat nur der Bodensatz Seines Fluches he­ raus. In beiden Welten gibt es keinen Ort, an dem ich mich nicht zum Gebet niedergeworfen hätte. Wie oft habe ich Eblīs verwünscht und Ihm für Seine Wohltaten gedankt! Wie sollte ich wissen, dass ich der Übeltäter war und mich Tag und Nacht selbst verfluchte? Plötzlich erfasste mich die Flut des Unheils; der Fluch kam als Überfall. Hunderttausend Jahre meiner ­guten Werke und die Flügel und Federn, die ich als ʿAzazīl1 hatte, alles riss die Flut des Fluches fort und ließ mich verwandelt und ohnmächtig zurück. Ich war verflucht und machtlos geworden; ich war ein Engel und bin jetzt Satan. Der, der damals das Bett mit den Huris teilte, wurde jetzt zu einem Dämon im Bad gemacht. Von Kopf bis Fuß bin ich das Bedauern selbst und eine Warnung für alle Horizonte. Es ist gut, wenn du von meinem Beispiel lernst, aber wenn du mich nachahmen willst, dann wehe dir! Warum willst du hundert Welten der Barm­herzigkeit aufgeben und aus Unwissenheit den Weg der Verdammnis einschlagen? Ich bin tatsächlich verflucht, geh fort! Du könntest die Glut dieses Fluches nicht ertragen – geh fort!» Der Pilger ging darauf zu dem Meister unter den Führern und berichtete ihm diese Geschichte mit ihren hundertfachen Warnungen. Der Meister aber sprach zu ihm: «Der finstere Eblīs ist ganz und gar eine Welt voller Neid und Selbstsucht. Einmal fragte man ihn: ‹O Ausgestoßener, wie erträgst du diese äußerste Gottesferne?› Er antwortete: ‹Ich stehe fern mit dem Schwert in der Hand und verjage jeden von Seiner Tür, damit niemand sich ihr nähere – das genügt mir auf der ganzen Welt. Ich stehe fern und weine wie eine Regenwolke, dass ich Sein Angesicht nicht mehr sehen kann. Ich stehe fern und kann es nicht ertragen, dass jemand außer mir auch nur einen Augenblick Sein Antlitz sehen könnte. Ich stehe fern, weil ich auf dem Pfad zu Ihm Seiner Schwelle nicht würdig bin. Ich stehe fern ohne das geringste Zeichen von Ihm; wenn ich schon verbren-



1. Eblīs erzählt die Geschichte vom untreuen Sufi243

nen muss, dann besser fern von Ihm. Ich stehe fern und bin von der Trennung düster geworden, da ich die Kraft zur Nähe nicht habe. Auch wenn ich von Seinem Hof verjagt worden bin, wende ich mich doch kein Haarbreit vom Weg zu Ihm ab. Seit ich den Fuß auf den Pfad des Geliebten gesetzt habe, schaue ich auf nichts anderes als auf Ihn. Da ich einst mit dem Geheimnis des Sinnes vertraut war, kann ich niemals auch nur eines anderen Haarspitze anschauen.›» 1. Eblīs erzählt die Geschichte vom untreuen Sufi Hast du schon gehört, dass ein angesehener Mann den umherirrenden Eblīs fragte: «Warum bist du nicht vor Adam niedergekniet, als der geliebte Herr es dir befahl?» – «Ein Sufi», antwortete Eblīs, «hielt sich in einer Herberge auf. Die Tochter des damaligen Sultans, eine mondgleiche Schönheit, saß dort in ­einer goldenen Sänfte. Als der Wind den Vorhang der Sänfte hob, fiel der Blick des Sufis auf ihre Schönheit. Da verbrannte ein Feuer in ihm Federn und Flügel. Er sah ein Antlitz, vor dem die Sonne zum Sklaven wurde, und Lippen, welche die Morgenröte lächeln ließen. Im Herzen des verwirrten Sufis hatte die Schönheit ein verzehrendes Feuer entfacht. Die Liebe zu dieser Bezaubernden beherrschte vollkommen das Herz des Sufis. ­Jeden Augenblick ergriff ihn ein neuer Schmerz, eine maßlose Verwirrung. Vor Liebe entglitt ihm sein Herz, doch erhob es sich wieder und wurde sein Leben. Schließlich erfuhr die Prinzessin von ihm und ließ ihn zu ­ihrer Sänfte rufen. ‹O Sufi›, sagte sie, ‹warum bist du so außer dir? Woher kommt deine Verwirrung?› Er antwortete: ‹Ein Sufi hat nur ein Herz, und du hast es mir genommen – das ist das Problem! Die Liebe zu dir hat mir mein Herz geraubt und trachtet mir nach dem Leben. Die Seele verlangt von mir, ihr den Weg deiner Liebe zu zeigen. Mein Wehklagen reicht vom Mond bis zum Fisch; höre es, wenn meine Klage dich erreicht! Wenn du mir Heilung verschaffst, bin ich gerettet; wenn nicht, bleibt mir keine andere Heilung.› Da erwiderte die Prinzessin: ‹Sprich nicht so viel! Strebe nicht insgeheim nach Vereinigung

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26. Der Pilger geht zu Eblīs

mit mir! Ich besitze zwar Schönheit und Sanftheit, und meine Worte verstreuen Perlen, doch sähest du nur einen Augenblick meine Schwester, würde sich dein Rücken vor den Pfeilen ihrer Lider wie ein Bogen krümmen. Was die Sufis «Jenes»2 nennen, suchen sie in der Schönheit meiner Schwester. Wenn du ein Sufi bist, verlange nach ihr, denn sonst bist du nur ein Schwätzer, ein Brotsucher. Und wenn du mir nicht glaubst  – schau jetzt hin, da kommt meine Schwester! Wenn du das Antlitz dieser Schönheit gesehen hast, wirst du mein Allerweltsgesicht nicht mehr anschauen.› Als der flatterhafte Sufi sich zu der Schwester umdrehte, zog die Prinzessin den Vorhang herunter und sagte: ‹Wenn er auch nur ein wenig liebte, hätte er sich nicht von ­etwas anderem als mir verführen lassen. Er ist kein reifer Sufi; er ist noch unreif, ein leichtfertiger Mann, ein Vogel in der Falle. Es wäre gut gewesen, sich in der Liebe zu mir zu verlieren; warum hat er ein anderes Gesicht angesehen? Es ist ratsam, so jemandem Benehmen beizubringen; deshalb ist es ratsam, ihm den Kopf abzuschlagen. Ich habe ihn für treu gehalten und ihn geprüft: Er hat nicht bestanden.› Sie rief einen Diener und befahl ihm: ‹Entferne den Sufi, bring ihn fort und schlag ihm den Kopf ab! Wer sich meiner Liebe erfreuen will, darf nicht nach etwas anderem Ausschau halten.›» Die Geschichte von Eblīs und diese Geschichte sind eins; ich weiß nicht, wem daran Zweifel kämen. Obwohl er verstoßen wurde, ist Eblīs nicht ohne Hoffnung; es scheint, als ob seine Verfluchung nicht ewig wäre. Auch wenn jetzt die Hoffnungslosigkeit sein Schicksal zu sein scheint, hat das Schicksal die Tür der Hoffnung offen gelassen. 2. Eblīs besucht den Propheten Am Morgen wollte der verfluchte Eblīs dem Propheten der Weltbewohner einen Besuch abstatten. Er bat Salmān und Haydar um Zutritt, aber die Angelegenheit dieses Krummen wurde nicht gerade. Der Prophet sagte: «Er hat keinen Zutritt. Sag ihm, dass er gehen soll, denn er hat bei mir nichts zu ­suchen. Ist der verfluchte Eblīs etwa mein Mann? Er darf nicht



2. Eblīs besucht den Propheten245

einmal meinen Staub sehen.» Da eilte Gabriel herbei und sprach: «Lass den Verfluchten eine Zeitlang eintreten, damit er dir von seinem Trennungsschmerz berichten kann und vom Kummer seiner Gottesferne.» Da gewährte ihm der Herr und Führer der Menschheit Zutritt, und als Eblīs eintrat, grüßte er den Propheten und sprach: «Ich weiß – möge dein Genuss vollkommen sein!  –, dass du gestern Nacht die Himmelfahrt ­gemacht hast.» Der Prophet sagte zu ihm: «Ja, Verfluchter, ich habe sie gemacht.» – «Hast du den Thron des Herrn der Weltbewohner gesehen?»  – «Ich habe den Gottesthron, den Fußschemel, die Himmelssphäre und alle Geheimnisse und Zeichen­ der Engel gesehen.» – «Hast du auf die rechte Seite des Gottesthrones gesehen?» – «Ich habe eine Welt voll Licht und Überfluss gesehen.»  – «Hast du auf der linken Seite des Gottes­ thrones das Tal der Leugner, eine schwarze Wüste, gesehen?» – «Das habe ich gesehen, aber ich war weit davon entfernt.» – «Das war mein Versammlungsort. Und hast du das umgestürzte Banner gesehen? Das war mein Banner, o Führer auf dem Pfad! Und hast du die zerbrochene Kanzel gesehen? Dort hatte Gott mein müdes Herz einst hingelegt. Von jener Kanzel habe ich gepredigt, ich habe mich für Gold gehalten und das Volk für Messing. Siebenhunderttausend Engel standen damals unter dieser Kanzel, und ich sprach zu ihnen von Gott; einen nach dem anderen unterwies ich sie. Woher sollte ich wissen, dass ich der Fremde war, dass sie vernünftig waren und ich verwirrt? Ich bildete mir ein, der Glückliche zu sein, und wusste nichts vom Joch der Verfluchung. Fünf Buchstaben zählt ‹Mein Fluch›: lām und ʿeyn und nūn und tā und ye. Gestern Nacht hat der Herr, der dich auf die Himmelsreise schickte, dir die Krone von ‹Bei deinem Leben› aufgesetzt, und, mein Freund, auch ‹Bei deinem Leben› besteht aus fünf Buchstaben: lā und ʿeyn und mim und re und kāf.3 Fünf Buchstaben für dich und fünf für mich – für dich bedeuten sie Ruhe, für mich Qual. Mein Joch fünf und deine Krone fünf, mir der Staub und dir der Schatz! Du bist der Gottesgesandte und der Getreue zugleich; sieh ­dagegen mein Joch und sei dir nicht so sicher! Denn obwohl ich ein elendes Nichts bin, sehe ich deine Krone und habe noch

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26. Der Pilger geht zu Eblīs

Hoffnung. Ich habe noch Hoffnung; sei du nicht so sicher! Sieh meine Bedürfnislosigkeit und hüte dich!» Am Anfang konnte Eblīs den Wert seines Ranges nicht würdigen und wurde hochmütig. Als er dann elend in den Staub gefallen war, erkannte er diesen Wert, aber es war zu spät. Das Auge, das in die Sonne blickt, wird geblendet, und das Wasser, das zur Perle wird, verdunkelt sich. 3. Der Distelsammler, dem Gott zwei Wünsche gewährte Ein kinderreicher Familienvater sammelte, von Sorgen gequält, bis zum Abend Disteln und verkaufte sie. Er war recht arm, alt und schwächlich und hatte Kinder und eine junge Gemahlin. Solange sein Rücken nicht hundertmal zusammenbrach, wurde ihm kein Stück Brot zuteil. Sein Haus lag mitten in der Steppe, und eines Tages kam Mose zufällig vorbei. Als der Mann sah, wie Mose in Richtung Sinai ging, sagte er: «Um Gottes, des Allverzeihenden, willen  – bitte Gott darum, dass Er mir täglich meinen Lebensunterhalt ohne solche Qual schickt. Denn für ­jeden Laib, den Er mir gibt, zerbricht mich das kreisende Himmelsgewölbe hundertmal. Jeden Tag muss ich Disteln aus­ reißen, um vielleicht mein tägliches Brot zu verdienen. Bitte Gott um meinetwillen, dass Er mir in Seiner Güte eine Tür öffnet!» Als Mose weiterging und mit Gott über das Geheimnis sprach, berichtete er Ihm von dem schwachen Greis. Da sprach Gott, der Erhabene: «Dieser Wunsch des Alten wird ihm auf dieser Welt niemals erfüllt. Doch Ich stelle ihm zwei andere Wünsche frei; wenn er möchte, werde Ich sie ihm gewähren.» Mose kehrte zurück und sagte: «Gott stellt dir nur zwei Wünsche frei. Wenn dir von Gott zwei Wünsche gewährt wurden, kannst du dir von Ihm alles außer der Welt wünschen.» Da­ raufhin ging der Mann zum Distelsammeln in die Wüste und dachte über die beiden Wünsche nach. Zufällig kam ein König, der durch die Steppe ritt, bei der Frau des Distelsammlers vorbei. Er sah ein Gesicht von großer Schönheit und wunderte sich, dass solche Anmut in so elenden Verhältnissen lebte. Er fragte: «Wer ist denn für sie verantwort-



3. Der Distelsammler, dem Gott zwei Wünsche gewährte247

lich?» Jemand sagte: «Ein alter Distelsammler.» Da sagte er: «Er ist ihrer nicht wert. Ich kenne niemanden außer mir, der ihr Mann sein sollte.» Dann befahl der König, die Frau in einer Kiste in die Stadt zu bringen. Zur Zeit des Nachmittagsgebets kam der Distelsammler schwer beladen zu seiner Hütte zurück und fand seine Kinder tief betrübt und weinend vor Kummer um die Mutter vor. Er fragte: «Wo ist eure Mutter?» Sie erzählten dem Alten, was geschehen war. Da weinte der verzweifelte Alte blutige Tränen, denn ohne seine Frau erschien ihm das ­Leben unerträglich. Er sagte: «O Herr, Du warst gut zu mir und hast mir zwei Wünsche gewährt. O Herr, Du kennst meine Frau; verwandle sie sofort in einen Bären!» So sprach er und ging des Lebens überdrüssig in die Stadt, um Brot für seine ­Kinder zu kaufen. Als der König von der Jagd in die Stadt zurückkehrte, befahl er: «Bring die Kiste, mein Diener!» Als er die Kiste öffnete, erblickte der hochmütige König einen Bären darin und rief: «Sollte diese Frau ein Geist sein? Sie hat immer eine andere ­Gestalt. Bringt sie sofort zurück, damit uns nicht noch ein Geist heimsucht.» Als der Distelsammler seine Disteln in der Stadt verkauft hatte, kaufte er Brot und kehrte schluchzend zu seinen Kindern zurück. In der Mitte der Kleinen erblickte er ­einen Bären; die Kinder zitterten vor Furcht und wollten fliehen. Als der Distelsammler dort den Bären sah, war ihm, als ob hundert Durstige das Meer gesehen hätten. Er sagte: «O Herr, ich habe noch einen Wunsch übrig: Mach sie wieder so, wie sie vorher war!» Auf der Stelle wurde der Bär in seine frühere ­Gestalt zurückverwandelt, und die Frau erschien noch schöner als vorher. Als die Kinder ihre Mutter wieder sahen, lief ihnen das Herz vor Freude über. Nachdem ihm nun auch der zweite Wunsch erfüllt worden war, vertiefte sich der unwissende Alte ins Gebet. Der Undankbare gab seine Undankbarkeit auf und bedankte sich überschwänglich bei Gott mit den Worten: «O Herr, solange Du es gut mit mir meinst, begnüge ich mich, wenn Du mich genauso bewahrst.» Vorher verzehrte er sich aus Undankbarkeit; jetzt kannte er den Wert dessen, was er gehabt hatte.

Siebenundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu den Dschinnen

Der verliebte Pilger begab sich betrübt, mutig und des Lebens müde zu den Dschinnen1 und sprach: «O du, dessen Schönheit vor anderen verborgen ist, dein dir eigenes Zelt ist der Schleier der Vorstellungskraft. Wie die Seele bist du für die Menschen unsichtbar, genauer gesagt: Du bist die Seele selbst. Ihr habt den Propheten in der Nacht der Geister2 gesehen und ihn nach der Geschichte der Menschen und Dschinnen3 gefragt. Du bist mit der Seele von Menschen und Dschinnen vertraut, und im Verborgenen kennst du das Geheimnis der Welt. Mit deiner Feinstofflichkeit fügst du dich in keinen Körper ein, und doch geht der Geist in den Körper, und auch dich nennt man einen Geist. Du warst vor Adam auf der Welt und auch zur Zeit des Propheten noch dort. Eine Sure des Korans ist dir gewidmet,4 und du beherrschst alle Sprachen. Jede Sprache, die es auf ­dieser Welt gibt, kennst du, und dein Urteil ist durch sie wirksam. Ob man dir Kunstfertigkeit oder Makel zuschreibt – du sprichst aus, was man dir vom Verborgenen enthüllt. Du hast die Kuppel des Reiches Salomos und das Lösen und Binden von Schmerz und Heilmittel gesehen. Der Teil der Geschichte von Menschen und Dschinnen ist als Verpflichtung gekommen; bald ist die Hölle, bald die Ehre gekommen. In beiden Welten gehört ihr zu diesen beiden Gruppen; was den Menschen geschieht, geschieht auch den Dschinnen. Weil du den Menschen niederwerfen kannst, kannst du ihm auch die Fesseln lösen. Ich liege selbst in solchen Fesseln; löse du meine Fessel! Öffne mir eine Tür zu Gottes Geheimnis! Auf der Suche nach diesem Hauch bin ich zu dir gekommen; nur deshalb wende ich mich an die Dschinne.» Als der Dschinn das hörte, geriet er außer sich, als sei ihm



1. Laylās Rat an Madschnūn249

kein muslimischer Engel geblieben. Er sprach: «Ich bin halb Engel und halb Mensch; ich habe den Weg zu den Menschen gesucht und mit ihnen gesprochen. Wenn ich etwas sage, dann mit ihrer Zunge, und alles, was ich sage, ist nur das Echo ihres Geistes. Obwohl ich das Leben und die Welt gesehen habe, erhalte ich Nahrung und Kraft aus einem Knochen. Man bannt mich ständig durch Schriftzeichen und Träume und steckt mich durch Beschwörungen in eine Wasserflasche. Da mein Feuer euer Wasser ist, kann ich euch keinen Augenblick lang aus­ halten. Deshalb lege ich Unglücklicher, ungeduldig und ruhelos, den Kopf auf die Schriftzeichen. Bald spreche ich vom Licht des Gesetzes und vom Licht der Verborgenheit, bald von Tapferkeit­und bald von Schmach. Doch das Geheimnis, das du suchst, wurde mir aus der Verborgenheit noch niemals enthüllt. Verschwende nicht noch mehr von deiner und meiner Zeit! Geh fort, denn das ist keine Angelegenheit für Dschinne.» Daraufhin wandte sich der Pilger an den hilfreichen Meister und erzählte ihm, was er bei den Dschinnen erfahren hatte. Der Meister sprach zu ihm: «Seit ich der Führer auf dem Pfad wurde, sehe ich das Tun der närrischen Dschinne als Verrücktheit. Jeder, bei dem ein Hauch von Verrücktheit auftritt, wird wie ein Ball hin- und hergeworfen. Wer aufgewühlt wie das Meer ist, dessen Worte kommen aus der Leidenschaft. Wenn er auch dreist redet, weise ihn nicht zurück, denn er ist verrückt vor Liebe.» 1. Laylās Rat an Madschnūn Eines Abends bat Laylā inständig Madschnūn: «Aus Liebe zu mir hast du den Verstand verloren. Halte dich vom Verstand fern, so gut du kannst; lösch ihn aus, und sei verrückt! Denn wenn du als Vernünftiger zu mir kommst, wirst du in meiner Straße kräftig verprügelt. Erscheinst du hier indes verrückt, wird dich niemand belästigen.»

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27. Der Pilger geht zu den Dschinnen

2. Der Narr und der Asket Ein verwirrter Narr pflegte in seinem Irrsinn dreiste Worte zu reden. Da mahnte ihn ein Asket: «Du dreister Mensch, sprich nicht so, und hör mit deiner Dreistigkeit auf! Du hast einen völlig falschen Weg eingeschlagen  – lass ihn! Es gehört sich nicht, was du sagst  – hör auf damit!» Der Narr antwortete: «Gott hat gewollt, dass ich verrückt bin, und deshalb ist alles erlaubt, was ich Verrückter sage. Wenn meine Rede auch ­verkehrt erscheint, mir ist sie, da ich nicht bei Verstand bin, ­erlaubt. Kein Vernünftiger kann es wagen, sich ganz seinem ­Herzen zu überlassen. Ich jedoch in meiner Verrücktheit überlasse Ihm ganz und gar mein Herz. Das Gesetz ist verpflichtend für die Vernünftigen, aber die Liebe erweist den Verliebten Ehre. Verschwinde, du Asket, und hör auf zu reden! Du bist ein Mann der Triebseele, gierig auf Gold und Frauen. Was haben die Verliebten mit Gold und Frauen zu tun? Was soll ich mit dem Religionsgesetz und der Vernunft anfangen?» 3. Ein Narr wünscht sich neue Kleider Es wird erzählt, dass ein Narr, dem das Leben wie Gift erschien, an einem Festtag aus der Stadt ging. Er sah, wie eine zahllose Menschenmenge, alle geschmückt und von unterschiedlicher Herkunft, herbeiströmte. Unbekümmert ging er, mit einem Flickenrock bekleidet, barhäuptig und barfüßig, zwischen ihnen allen umher. Da überkam ihn der Wunsch, an diesem Festtag ebenso wie die Leute auf der Straße neue Kleider zu tragen. Also ging er zu einer Ruine und begann frohen Mutes ein Gebet: «O Du, der Du das Geheimnis kennst, gib mir Kleidung und Brot, willst Du doch die Welt der Menschen am Festtag schmücken. Denn sieh, ich habe eine Seele wie die anderen Leute, aber keine Kleidung und kein Brot – sieh doch! Versorge einen wie mich zum Fest mit Schuhen, einem Turban und einem­ Hemd! Wenn Du mir das, um was ich Dich gebeten habe, gibst, werde ich bis zum nächsten Fest nichts mehr von Dir ver­ langen.» Doch so viel dieser Ungeduldige auch betete – keiner



4. Mose und die Gesetzestafeln251

seiner Wünsche wurde erfüllt. Da sagte er: «Dann gib mir ­ enigstens einen Turban; auf Gewand und Schuhe kann ich verw zichten.» Auf dem Dach dieser Ruine stand zufällig ein Schelm, der die Worte des Narren hörte. Er besaß auf dieser Welt nur ­einen schäbigen Turban, den warf er ihm zu und versteckte sich. Als der Narr diesen Lumpen verwundert ansah, wurde er traurig und wütend. Schnell wickelte er den Turban hoffnungslos und bedrängt zusammen, warf ihn auf das Dach zurück und rief: «Hier, nimm ihn! Wie sollte ein Verrückter wie ich so etwas aufsetzen? Den kannst Du Deinem Gabriel schenken.» Einen vernünftigen Menschen, der so redete, den bestrafe nach dem Gesetz mit Prügel und foltere ihn! Wenn ein vernünftiger Mensch solche Worte spräche, wäre es ein Vergehen, doch einem Narren oder Liebenden sind sie erlaubt. Solche Reden gefallen den Narren, und für die Liebenden sind sie Wärme und Feuer. 4. Mose und die Gesetzestafeln Als der liebende Mose, der Imam des Ostens und des Westens, vollständig in der Gottesliebe versunken war, warf er die Ge­ setzestafeln auf die Erde und zerbrach sie; dann packte er ­Aaron am Bart.5 Als er aus seinem Liebesrausch erwachte, zog Gott ihn dafür nicht zur Rechenschaft. Denn wisse: Was dem Liebenden erlaubt ist, wäre einem ­anderen verboten. Manchmal ist eine dreiste Rede wirkungsvoller als reichlich Gehorsam. 5. Ein Narr klagt Gott an Ein Narr mit unruhiger Seele hob den Kopf und sagte schluchzend: «O Gott! Niemand weiß, was Du mir jeden Augenblick antust, doch ich weiß, dass Du alles weißt. Dann tue etwas, denn Du vermagst alles. Bringst Du es wirklich übers Herz, mir das alles ununterbrochen anzutun? Du trachtest mir nach dem Leben und hast mein Herz geraubt. Was Du getan hast, werde ich Dir nie verzeihen.»

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27. Der Pilger geht zu den Dschinnen

6. Gottes Herz ist unersättlich Ein Narr hob den Kopf zum Himmel auf und sagte liebenswürdig: «O Schöpfer, wenn Dir das Herz von diesem Werk nicht schwer wird – mir ist es das schon lange. O Herr, wird denn Dein Herz davon nie satt?» 7. Ein Narr isst Schnee Ein Narr saß im Schnee und aß den Schnee wie das Feuer mit beiden Händen. Jemand sagte zu ihm: «Warum isst du das? Da isst du wirklich etwas Fettes und Süßes!» Er antwortete: «Was soll ich machen? Mein Bauch ist hungrig.»  – «Vom Schnee wird er aber auch nicht besser.» – «Sag das Gott, denn Er hat mir gesagt: ‹Iss, damit dein Hunger gestillt wird!› Nicht einmal ein Narr würde so etwas sagen. Ich kann noch so viel essen – es hilft nichts. Er hat gesagt: ‹Ich mache dich ohne Brot satt.› Merkwürdig – satt hat Er mich gemacht, das stimmt, aber mit Schnee.» 8. Gott gibt nicht einmal Brot Ein Narr, der um ein Stück Brot bettelte, sagte: «Ich bin mittellos; jetzt hilft nur noch Gott!» Ein liebeskranker Mann antwor­ tete: «Du Verwirrter, ich selbst habe Gott im Jahr der Hungersnot auf die Probe gestellt. Es war zur Zeit der Ghozz, und ­überall lagen Tote. Er jedoch hat, weil Er nichts braucht, nicht einmal ein Stück Brot gegeben!» 9. Wer kennt Gott wirklich? Ein Narr fragte nach dem Geheimnis: «He du, kennst du Gott wirklich?» Er antwortete: «Wie könnte ich Ihn nicht hundertfach kennen? Er hat mich doch heimatlos gemacht. Er hat mich aus meiner Stadt und von den Meinen vertrieben, mir mein Herz geraubt und mich verlassen. Tag und Nacht hält Er meinen­ Saum fest, ich kenne Ihn mit meinem ganzen Sein.»



10. Der nackte Araber an der Kaaba253

10. Der nackte Araber an der Kaaba Ein verwirrter Araber klopfte einmal mit dem Türring an die Kaaba und sagte: «O Herr, Dein Diener ist nackt, und, wie seltsam, er ist nicht der einzige Nackte. Auch meine Kinder sind entblößt und weinen deshalb dauernd. Ich schäme mich sehr vor den Menschen  – Du denn nicht? Was soll ich den Menschen sagen? Wie lange willst Du mich so nackt bleiben lassen? Gib mir jetzt etwas Feines zum Anziehen!» Als die Leute das hörten, riefen sie ihm zu: «Schweig, du Dummkopf!» Doch als die Leute von der Umkreisung zurückkehrten, sahen sie den Araber wohlgekleidet. Er hatte einen Turban aus Musselin und ein Gewand aus Seide; es schien, als besäße er eine Urkunde über die Weltherrschaft. Sie fragten ihn: «Du armer Teufel, wer hat dir das gegeben?» Er antwortete: «Wer es mir gegeben hat? Gott. Als ich jene Worte sagte, hat Er mir dies gegeben; Er hat mir die verschlossene Tür geöffnet. Was ich gefordert habe, war gerechtfertigt. Ich kenne Ihn besser als ihr.» 11. Ein Narr betet wieder Ein Narr, der nie zu beten pflegte, fing eines Tages wieder damit an. Jemand fragte ihn: «Du Verwirrter! Heute scheinst du ja mit Gott zufrieden zu sein, wenn du so eifrig deinen religiösen Pflichten nachkommst und dich nicht Seinem Gebot widersetzt.» Da antwortete er: «Ja, ich war hungrig wie ein Löwe, und weil Gott mich heute satt gemacht hat, verrichte ich vor Ihm das Gebet so gut, denn Er hat mir Gutes getan. Er soll ­jederzeit Seine Pflicht wie die Menschen erfüllen, damit ich auch meine wie die Menschen erfülle.» Aus solchen Worten regnet Liebe, ob du es leugnest oder nicht. Weil das Gesetz den Narren freigesprochen hat, sollst du ihn, indem du das leugnest, nicht daran erinnern.

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27. Der Pilger geht zu den Dschinnen

12. Moses blendendes Antlitz Als die Offenbarung Moses Gesicht erleuchtete, erfüllte seine Ekstase die ganze Welt. Jeder, dessen Blick auf sein Antlitz fiel, verlor auf der Stelle sein Augenlicht. Als die Offenbarung von seinem Antlitz strahlte, wurde jeder, der hinsah, sogleich blind. Sosehr Mose auch sein Gesicht verhüllte, diese Sonne durchdrang alles. Ob sein Gesicht verhüllt war oder nicht, es raubte auf der Stelle die Sehkraft. Da ging er zur Majestät und sprach: «O Gott, was soll ich mit diesem Gesicht, das alle erblinden lässt, tun? Wie vielen ist das schon geschehen? Niemand wagt es, mir ins Gesicht zu sehen.» Da erreichte ihn das Gebot Gottes, des Erhabenen: «Wer plötzlich vor Leidenschaft von der Ekstase ergriffen wird, soll seine Kutte vor Liebesleidenschaft zerreißen und sich von Kopf bis Fuß in der Gewalt der Liebe verzehren. Und wer sich aus dieser Kutte dann einen Schleier macht, den wird durch diesen Schleier diese Sonne nicht mehr blenden.» Wenn du nicht an die Leidenschaft der Liebe glaubst, so möge dir diese Geschichte als Beweis genügen. Auch wenn du aus dieser Versammlung nicht einmal einen Schluck trüben Weins bekommst, sind auf dem Weg zu Ihm Leidenschaft und Liebe nicht gering. Die leidenschaftlich Liebenden, die das ­Geheimnis kennen, erhalten von Ihm bald Tadel, bald Zärt­ lichkeit. Ein Atom ihrer Zärtlichkeit wiegt bei Gott mehr als eine ganze Welt von Frömmigkeit. 13. Der Narr und der Statthalter Es wird erzählt, dass ein Narr so arm war, dass ihm das Leben schlimmer als der Tod erschien. Sein Bauch war leer, seine ­Leber vertrocknet; er hatte weder Nahrung noch Schlafstätte. Eines Tages, elend und verachtet, ging er zufällig verzagt nach Nischapur. Unterwegs sah er eine Weide, die so schwarz vor Kühen war wie die Wüste des Herzens vor Unrecht und Sünde. Da fragte er: «Wem gehören diese Kühe?» – «Sie gehören dem Statthalter unserer Stadt.» Verwundert ging er weiter und er-



13. Der Narr und der Statthalter255

blickte eine andere Weide, die von Pferden so dunkel, so verborgen war, dass man meinen konnte, die ganze Welt sei voller Pferde. Wieder fragte er: «Wem gehören diese Pferde?» – «Sie gehören dem Statthalter des Königs.» Verblüfft ging er ein wenig weiter und sah dann eine andere Weide voller Schafe. Wieder fragte er: Wem gehört eine so große Herde?» Ein Mann antwortete: «Sie gehört dem Statthalter.» Er ging ein wenig weiter, und als er das Stadttor erreichte, sah er dort zahllose mondgleiche Türkensklaven. Jeder von ihnen hatte ein Gesicht schön wie der Mond und die schlanke Gestalt einer Zypresse. Das Herz geriet durch ihre Perlen an den Ohren in Aufregung; die Vornehmen der Stadt waren für sie nur wie Sklaven. In der Welt der Schönheit war jeder dieser Krieger das Siegel von ­Anmut und Charme. Der Narr fragte: «Wem gehören diese Sklaven? Wem gehören alle diese wandelnden Zypressen?»  – «Sie alle sind der Schmuck der Stadt am Festtag. Sie alle sind die auserwählten Sklaven des Statthalters.» Als der hilflose Mann schließlich die Stadt betrat, erblickte er einen Palast, der sich bis in den Himmel erhob. In alle Richtungen erstreckten sich lange Estraden mit einer großen Zahl stolzer Offiziere. Immer wieder kam eine zahllose Menschenmenge herbei, und der Lärm dieses Palastes stieg bis zum ­Saturn hinauf. Der Narr fragte einen Mann: «Wem gehört dieser herrliche Palast?» – «Dieser Palast gehört dem Statthalter, mein Sohn. Wer bist du denn, dass du das nicht weißt?» Der närrische Mann fühlte sich halb tot, mit leerer Hand, ohne ein Stück Brot. Da entzündete sich ein Feuer in der Seele des Narren, der Zorn übermannte ihn, und sein Herz blutete. Er nahm rasch einen Lumpen von seinem Kopf und warf ihn schnell mit dem Ruf in den Himmel: «Nimm diesen Lumpen von Turban; der hat Dir noch gefehlt. Gib auch ihn Deinem Statthalter! Wenn Deinem Statthalter schon alles gebührt, ist es auch statthaft, wenn sich dieser Lumpen nicht auf meinem Kopf befindet.

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27. Der Pilger geht zu den Dschinnen

14. Die zwei Gebete des Narren Ein Narr hatte sich selbst aufgegeben und war wegen seiner ­Armut ganz verzagt. Da seine Mittellosigkeit schon lange andauerte, ging er mit flehendem Herzen in die Moschee. Er ­demütigte sich, schluchzend warf er sich zu Boden, weinte jämmerlich wie von Klauen gepackt und klagte: «O Du, der Du alles hörst und siehst, gib mir auf der Stelle hundert Dinare, denn Du weißt, wie schlecht es mir geht und wie ich in Lehm und Blut stecke.» So betete er noch viel, aber nichts geschah. Da es ihm nicht besser ging, wurde er zornig und sagte: «O Herr, wenn Du mir das Geld nicht schenkst, kannst Du auch gleich die Moschee über mir einstürzen lassen.» Durch diese Worte geriet der Narr in eine Falle, denn in der Decke knirschte es, und das Dach der Moschee begann zu bröckeln. Als der närrische Mann das bemerkte, sagte er: «O Herr, so schnell lässt du jetzt dieses schwere Dach über mir zusammenstürzen! Wenn jemand Geld von Dir will, verweigerst Du es ihm; das Dach der Moschee lässt Du ihm aber auf den Kopf fallen. Wenn Du den zweiten Wunsch so schnell erfüllst, den ersten aber überhaupt nicht, wirst du, wenn Du mich tötest, bestimmt auch kein Blutgeld zahlen.» Da es jedoch weiter bröckelte, machte sich der Narr schnell aus dem Staub. Es gibt kein Fest wie das der Spaßmacher; das Fest dieser Narren hat noch mehr davon. Denn wie die Narren werden am Tag der Abrechnung die Ernsthaften auftreten. 15. Die Kuhseuche In einem Dorf lebte ein Dummkopf, der einige Kühe und ein paar Esel besaß. Das Schicksal wollte es, dass in dem Dorf eine Rinderseuche ausbrach, doch er wollte vom Todesengel noch ein bisschen Zeit. Da verkaufte er sogleich die Kühe und kaufte Esel. Er hatte eine Kuh und kaufte sich einen Esel dazu. Zehn Tage nach dem Verkauf indes brach in dem Dorf eine Esels­ seuche aus. Der einfältige Mann sagte: «O Du, der Du das Geheimnis kennst, kannst Du nicht einmal eine Kuh von einem Esel unterscheiden?»

Achtundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Menschen

Mit blutgefärbtem Gesicht wandte sich der bedrängte Pilger nun an den Menschen und sprach: «Du Sonne der Einsicht, du Achse aller Schöpfung! Du hast die Last des anvertrauten ­Gutes angenommen1 und bist dessen treuer Wächter. Du bist der Statthalter des Diesseits und des Jenseits, und stehst, wie seltsam, gar über beiden. Alle Engel stehen dir zu Diensten; beide Welten sind voller Gaben für dich. Die Auferstehung wird die Parade deines Heerlagers sein; Hölle und Paradies sind das Ende deiner beiden Wege. Das Wort und die Schau der Majestät sind für dich offenbart worden. ‹«Sei!» Und dann ist sie›2 hat Seine Allmacht für dich gesprochen. Auch wenn ­Himmel und Erde vergehen, wird dir kein einziges Haar abverlangt. Sie alle werden deinem Werk zu Diensten stehen und auf ewig an deinem Werk schaffen. Seit Urzeiten gehört dir das Reich der Ewigkeit, und du darfst das Beste aller Güter suchen. Durch dich, Zeuge des Schatzes und Mann des Werkes, wurde der verborgene Schatz der Wahrheit offenbar. Da es eine höhere­ Vollkommenheit als die Welt gibt, muss es ein unvollkommenes Wesen mit dürstender Seele geben, um ihr Ausmaß be­ greifen zu können. So entsteht aus der Mondsichel der Vollmond über der Wüste. Am Ende des Pfades erkennt er den Wert der Gottnähe und bewahrt ihn für immer in seiner Seele. Der Mensch kam aus beiden Welten, und niemand außer dem Menschen ist dessen würdig. Wenn du diesen Weg zum Schatz eingeschlagen hast, erleidest du auf dem Weg dorthin viel ­Unbill. Wenn du mich zum Schatz führst, würdest du mir auf ewig aus der Tiefe zu hohem Rang verhelfen.» Bei diesen Worten geriet der Mensch außer sich, und sein Herz brauste auf wie das Meer. Er sprach: «Wer ist auf dieser

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28. Der Pilger geht zum Menschen

Welt im Sichtbaren wie im Verborgenen verwirrter als wir? Wir sind Gefangene der Pflicht und des Denkens; wir sind weder verloren noch offenbar. Eine Welt voller Qualen lauert auf uns, und ständig nimmt unsere Angst vor Schwierigkeiten zu  – in dieser Welt unter hundertfachen Schleiern, in jener Welt von hundertfachen Abrechnungen gefangen. Unsere Sonne verdunkelt sich, wenn nur ein Atom unseres Glaubens zugrunde geht. Von einem solchen Werk, das uns auferlegt wurde, würde das Feuer selbst in harte Steine schlagen. Der Stein könnte diese Last nicht aushalten, aber der Mensch trägt solche Last gerne. O weh, wir alle mühen uns ab; das ist kein Leben, sondern ­unser aller Tod. Im Ozean der Verwirrung sind wir ertrunken; wir sind ganz und gar eine Quelle der Trauer. Gefangene der Habsucht und Begierde, sterben wir vor Kummer um Wohl­ leben und Überfluss. Bleib uns fern! Was suchst du von uns ­einen Weg? Du würdest wie wir in die Grube fallen. Such diesen schwierigen Weg nicht beim Menschen! Wenn du einen Weg brauchst, dann suche ihn bei Adam!» Der Pilger ging zum Meister, bat um Zutritt und eröffnete ihm die Geheimnisse. Der Meister sprach zu ihm: «Die Seele des Menschen ist das Ganze des Ganzen, Freude über Freude. Wer in die Seele des Menschen eindringt, in dessen Herz ver­ lieren sich beide Welten. Wer den Weg in die Welt der Seele ­findet, findet vom Weg der Seele den Weg zum Geliebten. Zur Seele gehen heißt zum Geliebten gehen, doch man muss zuerst den Weg zur Seele gehen. Es gibt einen geheimen Pfad vom Geliebten zur Seele, doch dieser Weg bleibt der Welt verborgen. Die Seele findet den schweren Weg zu Ihm und sieht auf ewig insgeheim Sein Antlitz. Da es auf der Welt überall nur Eifersucht gibt, kann man Ihn nur insgeheim betrachten. Der König hat Zugang zu jedem Herzen, aber ein verirrtes Herz findet ­keinen Weg. Wenn der König außerhalb seines Viertels3 auch ein Fremder ist, gräme dich nicht, denn Er hat ein Haus in deinem Innern.»



1. Ayāz auf dem Krankenbett259

1. Ayāz auf dem Krankenbett Als Ayāz vom bösen Blick krank wurde, ging er dem König aus den Augen. Kraftlos und jammernd lag er auf seiner Bettstatt und erlitt Unheil, Schmerz und Krankheit. Als Mahmūd davon erfuhr, rief der gerechte König einen Diener zu sich und sprach: «Gehe zu Ayāz und richte ihm Folgendes von mir aus: ‹O du, der du vom König getrennt bist, fern von deinem Antlitz bin ich fern von dir, denn aus Sorge um dein Leid bin ich um deinetwillen krank. Wenn ich an deine Krankheit denke, weiß ich nicht, ob du krank bist oder ich. Auch wenn mein Körper fern von seinem Gefährten ist, meiner sehnsüchtigen Seele genügt seine Nähe. Ich sehne mich sehr nach dir; keinen Augenblick bin ich ohne dich. Der böse Blick hat eine sehr üble Tat begangen, als er ein so schönes Geschöpf wie dich krank gemacht hat.›» So sprach der Sultan und fügte noch hinzu: «Beeil dich! Komm schnell wie das Feuer, und lauf wie der Rauch! Halte dich unterwegs nicht auf  – Vorsicht! Lauf schnell wie das Wasser­vom Damm, blitzesgleich! Wenn du unterwegs auch nur eine Stunde einhältst, werden wir dich in beiden Welten bedrängen.» Der verwirrte Diener machte sich auf den Weg und kam in Windeseile bei Ayāz an. Da sah er den Sultan bei ihm sitzen. Da geriet sein weitblickender Verstand in Unruhe. Der Diener ­zitterte am ganzen Körper, als ob er schwer erkrankt wäre. Er dachte: «Wie kann ich das dem König erklären? Er wird auf der Stelle mein Blut vergießen.» Er schwor: «Unterwegs habe ich mich nirgends aufgehalten oder ausgeruht. Ich weiß überhaupt nicht, wie der König vor mir hier ankommen konnte. Der König mag es mir glauben oder nicht  – ich will ein Un­ gläubiger sein, wenn ich einen Fehltritt begangen habe.» Der König antwortete ihm: «Du bist daran nicht schuld. Wie könntest du Zugang dazu finden, o Diener? Für mich gibt es einen geheimen Weg zu ihm, weil ich keinen Augenblick ohne seinen Anblick sein kann. Auf diesem Weg gehe ich immer unbemerkt zu ihm, damit niemand auf dieser Welt davon erfährt. Es gibt viele geheime Wege zwischen uns und auch viele Geheimnisse

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28. Der Pilger geht zum Menschen

in unseren Seelen. Obgleich ich mich äußerlich nach ihm ­erkundige, weiß ich innerhalb des Vorhangs doch über ihn Bescheid. Wenn ich aufgrund von Äußerlichkeiten nach seinem Geheimnis frage, so ist im Inneren meine Seele bei ihm.» Wenn sich die Seele vollständig im Geliebten aufgelöst hat, ergreift die Seele den Geliebten für immer. Wenn äußerlich auch der Anschein von Dualität herrscht, gibt es geistig doch nur die Einheit. Es ist wie bei zwei Seilen: Miteinander verflochten sind sie eins. 2. Mahmūd und Ayāz beim Polospiel Man erzählt, dass Mahmūd und der herzberückende Ayāz auf dem Hauptplatz von Ghazna Polo spielten. Beide spielten gemeinsam den Ball so schön wie die Liebe. Bald griff der eine mit seinem Pferd an, bald der andere; bald schlug der eine den Ball, bald der andere. Vor Sehnsucht des Sklaven und des Königs wurde der Poloschläger zum Himmel und der Poloball zum Mond. Rund um den Platz fieberte eine große Zuschauermenge mit, sie waren vom Spiel der beiden hingerissen. Als die beiden Turteltauben schließlich nebeneinanderstanden, sagte der König zu Ayāz: «O du, durch den die Welt erhellt wird – spielst du besser als ich oder spiele ich besser als du?» Ayāz antwortete: «Möge der König nach eigenem Gutdünken entscheiden.» Da rief der König einen Zuschauer herbei und sagte: «Sag uns, wer von uns beiden besser spielt. Sag uns, wer sein Pferd auf dem Platz besser lenkt. Sag es!» Der scharfsinnige Zuschauer sagte: «Möge mein Auge erblinden, o Gerechter, wenn ich euch als zwei Personen gesehen habe. Ich habe nur eine Person gesehen. Wenn ich auf den König geschaut habe, war er von Kopf bis Fuß ganz und gar Ayāz, und wenn ich insgeheim auf deinen Ayāz ­geschaut habe, waren seine sieben Glieder die des Königs der Welt. Könnte ich zwei Personen unterscheiden, könnte ich jetzt auch ein Urteil über sie abgeben. Doch da ich beide offensichtlich als einen gesehen habe, kann ich niemals ein Urteil über sie abgeben.» Weil jener Mann des Weges so sachverständig geredet hatte, warf ihm der König einen Edelstein für seinen Arm zu.



3. Der selbstverliebte Knabe261

Solange er den Geliebten in sich selbst sieht, wie kann der Liebende ihm begegnen? Doch solange der Blick des Geliebten auf dem Liebenden ruht, ist die Seele des Liebenden seiner Liebe würdig. Beide müssen sich durch den anderen sehen, damit der eine dem anderen begegnen kann. Beide müssen zu ­einem einzigen Wesen werden und sich außerhalb der Dualität zusammenfinden. 3. Der selbstverliebte Knabe Es war einmal ein mit Schönheit begabter Knabe, neben dessen Antlitz Sonne und Mond nur wie die Venus erschienen. Er war anmutig, elegant, hübsch und gewandt wie ein stolzes Schwert. Was er hatte, hatte – o Wunder! – niemand sonst; wenn jemand seinetwegen nicht sein Herz verloren hätte, wäre er nicht lebendig gewesen. Da verliebte sich ein Mann, der hart wie ein Stein war, in ihn, der in der Vollkommenheit der Liebe geschwind wie sein Geliebter war. Er setzte alles, was er hatte, auf dem Weg des Geliebten ein und begnügte sich aus beiden Welten mit dem Liebeskummer. Wenn die Geschöpfe weder wenig noch viel besitzen, gibt es für sie kein besseres Werk als Liebes­ kummer. Kurzum, der hübsche Knabe ging eines Tages ins Bad. Als er an die Tür kam, erblickte er sein Gesicht in einem Spiegel und sah, dass es wirklich so schön wie der Mond war. Von den ­beiden Gesichtern setzte eines die Sonne schachmatt, und der Mond legte vor seinem Antlitz beide Wangen auf die Erde. Sein Gesicht erschien ihm äußerst schön, und mit hundert Herzen verliebte er sich in seinen eigenen Anblick. Er wollte, dass der, der ihn liebte, sein Gesicht sähe, und ging graziös und stolz zu ihm. Sein Gesicht verhüllte er wie der Mond mit einem Schleier, denn es warf Feuer in die Sonne. Als sein Liebhaber davon erfuhr, lief er dem Knaben kopfüber wie das Schreibrohr ent­ gegen und sagte: «O Herr, was bezweckt diese Eroberung der mit Verstand Begabten? Man möchte meinen, dass ich das ­Unglück nur geträumt habe. Warum machst du dir die Mühe? Wie bist du hergekommen? Aus welcher Tätigkeit hast du dich

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28. Der Pilger geht zum Menschen

entfernt?» Da antwortete der Knabe: «Wie ein strahlender Mond bin ich ins Bad gegangen und habe dort mein Gesicht im Spiegel gesehen. Mein Anblick hat mir so gut gefallen, dass ich mich wie du darin verliebt habe. Da verlangte mein Herz von mir, dass kein Geschöpf der Welt außer dir mein Gesicht sehen solle. Deshalb habe ich mein Antlitz verschleiert, damit nur du mein sonnengleiches Gesicht siehst.» So sprach er, lüftete den Schleier und warf Antwort auf Antwort wie Zucker um sich. Der Liebende aber sagte: «Möge deine Nacht gut sein – gehe fort! Ich bin frei geworden, und auch du geh frei! Meine Liebe zu dir beruhte darauf, mein Sohn, dass du dir deiner Schönheit nicht bewusst warst. Du hast nie einen Blick auf dich selbst geworfen, und deine Lippen haben sich nie zu eitlem Geschwätz geöffnet. Da du dir jetzt selbst gefällst, bist du als Geliebter verdorben. Ich bin deiner jetzt ledig; begnüge dich mit dir selbst! Liebe dich selbst, und verspiele deine eigene Liebe!» Kein Geliebter darf sich selbst sehen; jeder Liebende muss sich im Blut wälzen. Wenn der Geliebte nur zuhören darf, was darf dann der Liebende? Ständig ungeduldig sein. Der Liebende­ soll besser ungeduldig sein, sein Herz wie ein Blitz und seine Augen wie eine Wolke. Wer in der Liebe nur eine Stunde geduldig bleibt, ist kein Liebender und weit vom Geliebten entfernt. 4. Die Bestrafung des nachlässigen Liebhabers Der König seiner Zeit stand eines Tages am Rand des Daches seines Palastes. Da sah er einen schönen und zarten Jungen, der heftig auf einen schwachen Greis einschlug. Er stieg vom Palast herab und fragte den Jungen: «Warum züchtigst du ihn so heftig?» Der Junge antwortete: «Er muss kräftig verprügelt werden, damit niemand mehr eine solche Behauptung vorbringt. Er hat behauptet, mich zu lieben. Dabei ist er drei Tage und Nächte ferngeblieben und hat nicht nach mir gesucht oder gefragt. Er hat sich als sehr träge in seiner Liebe erwiesen. Von aller Welt hat er mich auserwählt, und jetzt ist er drei Tage nicht bei mir gewesen. Er hat schon lange behauptet, mich zu lieben; gibt es eine schlimmere Sünde in der Liebe?» Da sagte



5. Der Schlag in den Nacken263

der König: «Dann musst du ihn noch heftiger schlagen; du musst ihn jeden Augenblick auf andere Weise schlagen.» Wie könnte ein Liebender gegenüber dem Geliebten geduldig bleiben? Wer ohne den Geliebten ruhig bleibt – wer könnte einhalten, ihn zu verprügeln? Wer vom Brot dieses Diwans ­kostet, wird viele Schläge ins Genick bekommen. 5. Der Schlag in den Nacken Ein Sufi ging betrübten Herzens seines Weges, als ihm jemand plötzlich einen heftigen Schlag in den Nacken versetzte. Als er den schmerzvollen Schlag verspürte, drehte sich der Sufi um. Der Mann sagte: «Warum schaust du zurück? Solange du lebst, wirst du solche Schläge bekommen.»

Neunundzwanzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Adam

Der Pilger ging blutend zu Adam, um durch seinen Atem ein Zeichen des Menschen zu finden, und sprach: «O du Grundlage der Art deines Wesens, beide Welten leben durch deine Nachkommen. Du bist bis in alle Ewigkeit das Wunder der Welt; der Ursprung von ‹Wir erwiesen den Kindern Adams Ehre›1 bist du. Das Heer auf der Erde und im Himmel gehört dir; du umfasst Körper und Seele, den Teil und das Ganze. Du bist der absolute Mittelpunkt von Welt und Glauben; du bist der Höhepunkt der Welt und Gottes Auserwählter.2 Du entsprichst dem Bild des Ursprungs, dem von Seinem Bild abge­ leiteten Bild. Du bist immer der Teig aus der Hand Gottes und die Seele, die sich ohne Vermittler an Gott wendet. Dein Herz liegt zwischen den Fingern des Allmächtigen; deine reine Seele ist der auserwählte Vogel der Majestät. Weil du aus einem ­Samentropfen die Menschen schaffst, hast du dafür die acht Paradiese für ein Korn weggegeben. Du warst ein Kind auf dem Pfad, als sich die Engel überall vor dir niederwarfen. Und als du auf dem Weg des Glaubens erwachsen wurdest, wurdest du auf ewig von beiden Welten erlöst. Auch wenn die Engel viel von der Welt gesehen haben, keiner von ihnen allen ist zu ­einem Namen gelangt. Du bist derjenige, der jeden seinen Namen lehrt, und an den Benannten hast du ein wenig teil. Weil du der Meister der Engel bist, sind sie alle deine Sklaven und du ihr Eigentümer. Lehre mich meiner Fähigkeit entsprechend einen Buchstaben des Benannten, o mein Vater und Ahnherr. Wie lange soll ich noch brennen? Sieh doch meine brennende Seele! Mein Tag ist zur Nacht geworden; sieh nur meine Nacht und meinen Tag!» Der unschuldige Adam antwortete: «O Mann des Pfades, du



1. Ein Sklave wird auf die Probe gestellt265

musst bis zum Ehrenplatz gehen. Dieser Ehrenplatz des Glaubensglückes ist der Auserwählte; gehe zu ihm, damit dein Werk vollendet wird! Ich kenne zwar das Heilmittel für diese Suche, doch es wäre unstatthaft, es in seiner Nähe anzuwenden. Bitte uns in seiner Gegenwart nicht um Glück! Suche dort das Glück und dort suche den Weg! Denn morgen werden sich alle Propheten und Heiligen unter seinem Banner versammeln. Wer auf Mohammeds Weg den Pfad nicht findet, wird auf ewig den Staub an Seiner Schwelle nicht finden. Das Glück der Welt und des Glaubens ist seine Schwelle; sein Refugium ist die Gebetsrichtung für die Propheten. Suche dort das Glück; suche dort den Glauben! Suche die Instanz für die Bekenner der Gewissheit. Nimm deinen Weg nun wieder auf, und sieh auf die Welt! Noah ist auch auf dem Pfad; wende dich an ihn!» Der Pilger wandte sich an den erhabenen Meister und eröffnete ihm dieses Geheimnis. Der Meister sprach zu ihm: «Adam ist der Ursprung von allem. Er hat die Größe verkauft und die Niedrigkeit gekauft. Er hat sich von Gottes Thron entfernt und in der Niedrigkeit die Sklaverei erwählt. Vom Garten Eden hat er sich befreit und erfreut sich am Kummer der Sklaverei. Das Licht der Heiligkeit war sein Hemd; er wollte es von seinem Nacken streifen. Da er sich der Sklaverei verschrieb, wurde er in der Sklaverei Sein Geliebter. Für die Knechtschaft gab er das Paradies auf; einem Liebenden gleich kam er vom Paradies auf die Erde.» 1. Ein Sklave wird auf die Probe gestellt Ein König stellte einmal einen Sklaven auf die Probe, rief ihn eines Morgens zu sich und sagte: «Zieh mein Gewand über ­deinen Kopf und streck ihn mit mir aus dem Kragen heraus. Wenn du den gleichen Kragen hast wie ich, gehört alles von mir auch dir. Wenn sich Einheit zwischen uns einstellt, ist jede Dualität, an die du noch denken könntest, hinfällig. Mein Körper und meine Seele sind dann dein Körper und deine Seele, und alles was mir gehört, gehört dir.» Der törichte Diener eilte herbei, schlüpfte unter das Gewand und streckte seinen Kopf aus

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dem Kragen des Königs heraus. Er steckte jetzt mit dem König der Welt im selben Hemd und hatte seine Grenzen um ein ­weniges vergessen. Als er den Kopf aus dem Kragen des Königs steckte, sah er seinen eigenen Kopf nicht mehr. Denn als der König diese Missachtung bemerkte, schlug er ihm, solange er sich noch brüstete, den Kopf ab. Jeder, der den Fuß über seine Grenze hinaussetzt, gibt seinen Kopf dem Wind anheim und stellt den Glauben auf den Kopf. Jeder, der einen Schritt zur Missachtung hin tut, hat sich zu ­seinem Unglück selbst eine Falle gestellt. Ein Sklave, der sich nicht von Anfang an benehmen kann  – wo wäre da seine ­Sklaverei gerechtfertigt? Als Adam die Heimsuchung der Nähe von ferne wahrnahm, kam er aus dem Licht in das Nest der Dunkelheit. Er sah die Welt als seinen Acker an und traf seine eigene Wahl. Die Welt ist nicht schlecht, wenn du darin tätig bist; sie wird schlecht, wenn du nur nach Geld strebst. 2. Der Gotteslöwe ʿAlī und die Schlechtigkeit der Welt Jemand tadelte in Anwesenheit des Gotteslöwen ʿAlī3 heftig die Welt. Da sagte der Löwe zu ihm: «Die Welt ist nicht schlecht; du bist schlecht, weil du keinen Verstand besitzt. Die Welt ist wie ein Acker, den man Tag und Nacht einsäen und bearbeiten muss. Denn Ehre und das Glück des Glaubens kannst du ganz und gar auch von der Erde erhalten, mein Sohn. Was du heute säest, wird morgen Frucht tragen; doch tust du das nicht, wird sie nur ein ‹O weh› hervorbringen. Wenn du von dieser Welt keinen Glauben erntest, dann wirst du, ohne gelebt zu haben, sterben. Du wirst dann immer im Kummer bleiben. Das Werk ist schwer, der Mensch schwach und der Weg lang. Die Welt ist ein besserer Ort für dich, weil die Welt dir die Wegzehrung für das Jenseits liefert. Beschäftige dich nicht nur mit der Welt, sondern wirke in ihr für das Jenseits. Wenn du das tust, ist die Welt auch für dich gut; liebe die Welt also um deines Glaubens willen! Wer nicht wirkt, wird Sein Antlitz nicht sehen. Wirke also, damit man dir den Weg zu Ihm zeigt.»



3. Der arme Statthalter von Balch267

3. Der arme Statthalter von Balch Der Sohn Adhams, der ein selbstloses Herz besaß, hatte hundert­ Pferde in seinem Stall. Er wurde Statthalter von Balch, aber «Balch» ist falsch geschrieben; es muss heißen: Er wurde ­bitter.4 Seine freundliche Seele, die aus Ehrerbietung herrührte, fand die Umkehrung von «bitter», welche Abraham5 war. Als er dann den Kummer der Armut kennenlernte, freute er sich; arm geworden, war er von allem frei. Obwohl man das Antlitz des Glaubens mit ihm schmückte, verlangte man, als er zum Bad kam, Eintrittsgeld von ihm. Am Eingang zum Bad brach er ­zusammen wie ein Vogel ohne Federn und Flügel und sprach: «Wenn ich schon zum Hause des Satans mit leeren Händen ­keinen Zutritt habe, wie könnte man dann kostenlos in das Haus des Barmherzigen kommen? Das kann nicht sein, das kann nicht sein.» Als Adam das Geheimnis erkannte, bot er der ganzen Welt die Stirn und vergoss ein Leben lang Tränen von Blut. Wenn du sein Sohn bist, weine Blut! Sei nicht geringer als eine Wolke; weine mehr Tränen als sie! Weine Blut, wenn du keine Tränen mehr hast, denn das Wasser des Auges ist wie das Blut des Märtyrers. Wenn dein Narzissenauge Tautropfen vergießt, wird der Glanz deines Antlitzes unendlich sein. Ein Tropfen deiner Tränen aus Leidenschaft und Liebe löscht das Feuer der Hölle mit Macht. Alles, was du hier mitnimmst, ist deine Habe; Gutes und Schlechtes sind dein Schmerz und dein Heilmittel. Nimm deinen Proviant von hier mit, wenn du von der Natur Adams bist, denn du kannst nur das dorthin tragen, was du auch hier trägst. 4. Der Prophet und die freigiebige Alte Man erzählt, dass der Imam Abū Saʿd Arnabī in einer Versammlung eine Geschichte vom Propheten vortrug: «Eine Karawane wurde von Wegelagerern überfallen. Die Pilger verzichteten schweren Herzens auf die Pilgerfahrt. Auf der Suche nach Verpflegung kamen sie zum Tor einer Moschee und sagten: ‹Wir

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brauchen Verpflegung, denn wir wurden auf der Pilgerfahrt überfallen und sind mit der Karawane auf dem Weg zur Pilgerfahrt umgekehrt.› Der Prophet antwortete: ‹Wie konntet ihr in die Stadt zurückkommen, wo ihr doch die Pilgerfahrt unternehmen wolltet? Da habt ihr nun den Zorn Gottes! Auf dem Weg zur Pilgerfahrt umzukehren, ist unzulässig. Wer auf diesem Weg umkehrt, ist unwissend.› Er fuhr fort: ‹Wie viel Geld hat euch denn diese Handvoll Undankbarer schätzungsweise geraubt?› Man sagte: ‹Was sie uns geraubt haben, beläuft sich auf ungefähr zweimal zehntausend Dinar.› Da fragte der Prophet: ‹Wer in dieser Versammlung kann wie eine Kerze das Herz dieser Leute erleuchten? Was man ihnen genommen hat, wird Er ohne ­Gegenleistung ersetzen. Es wird keinen Schaden für den geben, der den Schaden begleicht.› Da erhob aus einer Ecke eine Frau die Stimme und sagte: ­‹Einen solchen Schaden kann ich ausgleichen.› Darüber wunderten sich alle sehr und begannen aus Zuneigung für die Frau zu beten. Sofort stellte sie eine Schatulle vor den Propheten hin, in der all’ ihr Gold und ihre goldenen Gegenstände aufbewahrt waren. Der Prophet hütete die Schatulle drei Tage und Nächte. Er dachte bei sich: ‹Wenn sie das bereute, wäre das verwunderlich? Zwar ist dieses Gold nicht einmal zwanzig Dinare wert, aber jeder dieser zwanzig Dinare gilt für sie tausend. Sollte diese Frau das bereuen, wann könnte man sagen, dass sie aus Unwissenheit handelte?› Doch nach drei Tagen kam die Frau wieder zu ihm und brachte ihm noch zwei Armreife. Sie sagte zum Propheten: ‹O du wahrhafte Stütze und Zuflucht! Warum hast du das Gold aufbewahrt?› Da antwortete der Prophet: ‹Ich habe noch nie einen solchen Menschen gesehen und befürchtet, du könntest es bereuen.› Die Frau aber sagte: ‹Mach dir keine Sorgen, und um Gottes willen sprich nicht so! Gib es ihnen, und sprich nicht weiter! Und leg auch die beiden Armreife dazu, damit mein Nacken vollständig befreit wird. Meine Armreife, o Ruhmreicher, sind Andenken an meine Mutter. Sie ­bedeuten mir mehr als all’ jene goldenen Gegenstände; ich habe sie Tag und Nacht getragen. Im Traum habe ich mich letzte Nacht wie die Sonne im Garten Eden gesehen. Ich war vollständig mit all’



5. Nutzloser Schmerz und wahrer Seelenkummer269

diesem Gold bedeckt; nur die beiden Armreife sah ich nicht. Da sagte ich: ‹Ich sehe die Andenken an meine Mutter nicht; ich brauche nichts anderes.› Da antwortete mir eine Paradiesjungfrau: ‹Sprich nicht von dem anderen! Dies hier hast du geschenkt, suche nicht etwas anderes! Alles, was du hier an Wohlstand geschenkt hast, haben wir dir wiedergebracht.›» Auch wenn du hundert Welten besäßest, gehörte dir doch nur das, was du geschenkt hast. Ob du auf diesem Pfad ein Sklave oder ein Freier bist – du wirst das nicht mehr sehen, was du nicht geschenkt hast. 5. Nutzloser Schmerz und wahrer Seelenkummer Ein noch recht unerfahrener Jüngling ging einmal zu Scheich Halwāʿī und sagte: «Mein ganzes Leben bin ich blutend umhergeirrt und vollständig verwirrt worden. Ich war zahllosen Entbehrungen ausgesetzt und fand weder am Tag noch in der Nacht Ruhe. Trotzdem habe ich in einem langen Leben nichts gesehen und nirgendwo etwas erreicht.» Da erwiderte der Scheich: «Du täuschst dich. Denn was du gesucht hast, das hast du gefunden, mein Sohn! Alles, nach dem du dich gesehnt hast, hast du gefunden, wie du es dir vorgestellt hast. Alles, was du auf diesem Pfad gesucht hast, wurde dir gegeben. Wie willst du mit Unglauben den Glauben erlangen? Der Münzbesitzer6 ist blind, aber der Münzprüfer sieht klar. Was du auch mitnehmen willst, er wird sagen: Nimm es!» Wenn du dein Auge nicht von dieser Welt abwenden willst, wirst du blind sterben und in Ewigkeit blind auferstehen. Beständig verletzt du deine Seele; hältst du denn den Schmerz für dein Heilmittel? Es scheint, als hättest du niemals Seelenkummer; es gibt für dich nur die Klage um Brot. Was Adam wegen eines Weizenkorns geschah, geschieht dem Verstand aufgrund der menschlichen Triebseele. Du denkst immer nur an deine Triebseele; man könnte sagen, dass «Brot» für dich als Höchster Name genügt.

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29. Der Pilger geht zu Adam

6. Der Höchste Name Gottes Jemand fragte einen Verwirrten: «Wenn du den Höchsten Namen des Allerhabenen kennst, dann sage ihn mir, guter ­ Mann!» Er antwortete: «Der Name ist ‹Brot›, aber man darf ihn nicht aussprechen.» Der Mann sagte zu ihm: «Du unsteter Dummkopf, wie könnte ‹Brot› der Höchste Name sein? Schäm dich!» Da sagte er: «Zur Zeit der Hungersnot in Nischapur ging ich vierzig Tage und Nächte hungrig umher. Ich hörte ­nirgendwo den Gebetsruf, und keine Moschee hatte die Tür geöffnet, aber überall rief man nach Brot. Da verstand ich, dass ‹Brot› der Höchste Name ist, das Thema jeder Versammlung, die Grundlage des Glaubens!» Verhalte dich auf der Suche nach Brot nicht wie ein ungeduldiger Hund! Sei dankbar, denn Gott gibt dir jeden Tag deinen Anteil. Da Gott dir dein täglich Brot gibt und über deine Werke wacht, iss und frag niemanden danach, woher es kommt. 7. Das Geheimnis des täglichen Brotes Ibn Adham fragte einen Gottesdiener: «Woher bekommst du die Nahrung, die du gerade brauchst?» Er antwortete: «Frage den Nahrungsspender! Er gibt mir mein täglich Brot; frage Ihn nach dem Geheimnis.» Wenn dir von außen dein täglich Brot gesetzlich erlaubt erscheint, dann frage nicht, was es enthält. Du gibst deine reine Seele für dein täglich Brot auf, damit du es dir auf jeden Fall verschaffen kannst. O du, der du deine eigene Unglaubwürdigkeit nicht beachtest, wie oft verspielst du leichtfertig deinen Geist? Du, der du vom tiefen Schlaf leichtsinnig geworden bist und dich wie die Esel mit Essen und Schlaf zufriedengibst – solange du nicht aus deiner Gleichfarbigkeit herauskommst, wie soll aus dir ein Edelstein erwachsen? Wenn du durch Gleich­ farbigkeit leicht wie ein Strohhalm wirst, kann man dich schnell zum Palast bewegen. Obwohl ein Strohhalm die gleiche Farbe wie Bernstein hat, hat der Bernstein doch einen anderen Klang. Der Magnet hat die gleiche Farbe wie Eisen, und durch



8. Wie der kleine Nezām ol-Molk Polo spielte271

die Gleichfarbigkeit bringt er es in Bedrängnis. Wenn jemand in seinem Wesen gleichfarbig ist, wird das Schicksal ihn von Anfang an bedrängen. 8. Wie der kleine Nezām ol-Molk Polo spielte Scheich Gorgānī,7 die Fackel des Gesetzes, war einmal mit Gläubigen unterwegs. Damals spielte der kleine Nezām ol-Molk­, dessen Seidengewand man schon unter seinem Baumwollmantel webte, mit einer Gruppe unwissender Kinder mitten auf der Straße Polo. Als er den Scheich mit den Leuten von weitem sah, lief er auf ihn zu und sagte: «Lasst den Staub auf der Straße sich setzen, denn wenn er jenen Mann träfe, würde das uns allen Unheil bringen, dem keiner entkommen könnte.» Als der Scheich das hörte und die Ehrerbietung und das hohe Streben dieses Kindes wahrnahm, sagte der Meister voller Würde: «Kleines Kind, wirf den Poloschläger fort, denn dein glück­ liches Schicksal hat das Polospiel gewonnen. Die Leute werden sich bemühen, bis sie dazu imstande sind, aber dann werden sie dich zum Ordner des Reiches der Welt machen. Mit deinem Anstand, Respekt und guten Benehmen, o Nezām ­ol-Molk, hast du das Polospiel schon gewonnen. Wenn du den Ball an sein Ziel gebracht hast, spiel nicht mehr weiter! O Herr, wirf voller Stolz den Poloschläger fort!»

Dreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Noah

Der Pilger kam klagend zu Noah und sagte: «O Scheich der Scheiche, Ruhe des Geistes! Du bist die Welt des Schmerzes und der Ozean der Heilmittel, der zweite Adam und der Scheich der Propheten. Für dich ist die Trockenheit der Welt von ­Kanaan eingetreten und, welch ein Wunder, auch die von der Sintflut erfüllte Welt. Die Tränen deiner Klagen flossen so ­üppig, dass der Ofen wallte1 und die Sintflut überkochte. Das Schiff der Geretteten ist dir eigen; auf ewig ist das Meer des Glaubens deine Gottergebenheit. Wenn auch nicht alle in das Schiff kamen, so hat dir doch das Geheimnis «Im Namen ­Gottes sei die Ausfahrt»2 genügt. Ich sah niemanden, der durstiger ist als du; deshalb hat dich die Sintflut von allen Seiten eingeschlossen. Obgleich die Welt von deiner Sintflut erfüllt wurde, wurde deine Seele noch durstiger. Seit du mit dem ­Geheimnis der Liebe in Berührung kamst, dürstet es dich nach dem Ozean der Mysterien. Als dieser Ozean, wie es schien, in dir toste, versetzte die Sintflut die Welt in Aufruhr. Da du den Durst der Welt gestillt und das Schiff der Geretteten gesteuert hast, belebe nun mich, der vor Liebe gestorben ist; schick mir, der ich verdursten werde, eine Sintflut!» Noah sprach: «O du klagender Ungeduldiger! Öffne deine Augen und sieh mich an! Tausend Jahre bin ich auf Seinem Pfad gewandelt, bevor Er mich vor der Meute der Ungläubigen beschützt hat. Mein ganzes langes Leben hindurch wurde ich Tag und Nacht verwundet, bevor Er mir unter hundert Seufzern eine Tür geöffnet hat. Wie willst du so schnell an diese Tür gelangen? Wie willst du von der ersten Stufe zur Spitze kommen? Du brauchst notgedrungen Geduld, um das Heilmittel dafür zu finden. Wenn du willst, dass sich dir eine Tür öffnet



1. Der Weg des Schmerzes273

und dir das Gesuchte offenbar wird, dann wende dich von der Tür des Propheten der letzten Zeit wie ein Türring keinen ­Augenblick ab! Wenn du die Sonne zum Führer hast, wie könntest du dann mit den Sternen reisen? Nimm ein Stück weit den Weg zur Tür der Sonne; nimm den Weg zum ewigen Herrscher! Wenn du den Weg zur Nähe des Auserwählten suchst, gehe von hier aus zu Abraham!» Der Pilger suchte daraufhin den edlen Meister auf und erzählte ihm seine schmerzliche Geschichte. Der Meister sprach zu ihm: «Noah ist die Ruhe des Geistes; Gott nannte ihn aufgrund seiner Klagen Noah.3 In allen Leiden blieb er immer ein Mann des Wirkens, und doch klagte er Tag und Nacht über den Schmerz des Wirkens. Wenn du solchen Schmerz nicht selbst erfahren hast, kannst du die Geschichte dieses Schmerzes nicht verstehen. Wenn du ein Mann werden willst, mein Sohn, kann es keine Medizin geben außer dem Schmerz, mein Sohn.» 1. Der Weg des Schmerzes Ein Vollkommener von den Bekennern der Gewissheit hat ­gesagt: «Wenn alle Juden den rechten Glauben wählten, würde das mein Herz nicht so erfreuen, als wenn jemand vor Schmerz ohne Widerspruch den Weg dieses Schmerzes voller Schmerzen einschlüge und in diesem Schmerz weiterginge bis in die Erde. Er hätte im Schmerz gelebt und wäre im Schmerz dahin­ gegangen; er wäre aus dem Diesseits ins Jenseits im Schmerz ­gegangen.» 2. Das klagende Vögelchen Es gibt einen kleinen Vogel, der flink und emsig ist und nicht wie jeder Vogel ruhig auf seinem Zweig sitzt. Er schreit die ganze Nacht bis zum Morgen und hängt sich selbst mit einem Fuß auf. Die ganze Nacht ist er unruhig, und lieblich jammert und klagt er, und wenn ihm die ganze Nacht nichts gelingt, rinnt ein Tropfen Blut aus seinem Schnabel. Sobald aus seinem Herzen ein Tropfen Blut rinnt, wird sein Herz durch diesen

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30. Der Pilger geht zu Noah

Tropfen Blut zum Ozean. Der eine Tropfen Blut bringt den Ozean in Aufruhr, und das Feuer seiner Leidenschaft setzt die Steppe in Brand. In der nächsten Nacht fängt er wieder damit an und klagt ebenso traurig. Sein Tun hat weder Hand noch Fuß – wie sollten seine Klagen zum Ziel kommen? Wenn du nicht mannhaft handelst, wie kannst du über den Schmerz deines Handelns klagen? 3. Die Klage der Alten um ihren toten Sohn Einer alten, buckligen Frau hatte man ihren mondgleichen Sohn getötet. Man brachte der Mutter ihren blutbedeckten Sohn auf einem Schild. Die alte Frau wurde vor Schwäche ­dünner als ein Haar, barhäuptig, mit ausgerissenen Haaren und blutverschmiertem Gesicht und Kleid – das ließ eine hundert­ fache Menge sich um sie sammeln. Da ihr Rücken krumm wie ein Bogen war, flogen die Pfeile ihrer Wehklage bis in den Himmel. Jemand sagte zu ihr: «Hüte dich, alte Frau! Bedecke dein Gesicht, und zieh den Schleier über den Kopf! So ein Benehmen ist niemals zulässig.» Die Frau antwortete sogleich: «Du armer Teufel! Wenn in deinem Inneren so ein Feuer wütete, hieltest du noch mehr für zulässig. Solange mein Feuer nicht in dein Herz eindringt, hast du nicht über Zulässigkeit zu entscheiden. Du bist nicht die Mutter eines Getöteten; wie könntest du dann wie ich trauern? Da ich sehe, dass du zu denjenigen gehörst, die von solcher Qual frei sind – woher wüsstest du etwas über den Schmerz der Heimgesuchten?» 4. Der leidende Narr von Nischapur In Nischapur gab es einen Narren; ich habe auf der Welt keinen betrübteren Menschen gesehen. Zehn Jahre lang war er schon in Elend und Krankheit gefangen; er war dünn wie ein Schilfrohr, und seine Zunge war klaglos geworden. Seine Brust war voll Kummer und sein Herz voll Schmerz; seine Lippen waren zusammengepresst, und er quälte sich sehr. Was er schon an Hitze und Kälte ertragen musste  – wie könnte das ein Berg



5. Der Schmerz des Diebes, dem man die Hand abschlug275

a­llein ertragen? Das Licht seines Gesichtes reichte bis zum Himmelsgewölbe, und mit jedem Atemzug veränderte sich sein Zustand. Ich fragte ihn verwundert: «Wie ist es zu deinem ­Irresein gekommen?» Da antwortete er: «Eines Morgens drang die Sonne in meine Kehle ein und ich wurde zerstört. Seit diesem Tag habe ich mich selbst verloren; mit diesem Brennen habe ich beide Welten verloren.» In seiner Todesstunde besuchte ihn ein wohlmeinender Mann und fragte ihn: «Oh, reines Wesen­! Wie geht es dir jetzt, da du dein Leben verlierst?» Er antwortete: «Was weißt du schon darüber?», und starb. Ich kann noch so viel über diese Erfahrung reden, aber wer das nicht erlebt hat, weiß nichts davon. 5. Der Schmerz des Diebes, dem man die Hand abschlug Man erzählt, dass ein stolzer Mann einen Dieb fing und ihm in der Öffentlichkeit die Hand abschlug. Der Dieb gab dabei nicht einmal ein Wort oder einen Seufzer von sich, ergriff die Hand und entfernte sich. Stumm ging er seines Weges, bis er zu einer Herberge gelangte. Dort angekommen begann er zu schreien, zu jammern und zu zittern. Er wehklagte und stieß hundert jämmerliche Seufzer aus, seine eigenen Schreie machten ihn ­unruhig. Einer fragte ihn: «Warum machst du jetzt so ein Geschrei, wo du doch am Ort deiner Strafe so ruhig warst?» Er antwortete: «Ich hatte dort überhaupt keinen Leidensgefährten; niemand dort hatte eine abgehackte Hand. Wenn ich mich dort auch noch so erregt oder hundert Schreie ausgestoßen hätte und wenn mein Gejammer auch noch so groß gewesen wäre, für die Leute wäre das nur Wind gewesen. Doch hier ist einer, dem die Hand abgeschlagen wurde; wer könnte besser als er den Schmerz um die Hand verstehen? Deshalb ist es zulässig, wenn ich vor Ihm weine, denn Er weiß, woher meine Klagen kommen.» Wenn es keinen Leidensgefährten gibt, kann man seine Klage nicht hören. Wenn du aber nur ein kleines bisschen an Schmerz verspürt hast, wird dein Herz von hundert anderen Schmerzen bewegt. Wenn der Schmerz deinen Saum ergriffen hat, wird er

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30. Der Pilger geht zu Noah

dir für immer als Meister genügen. Doch wenn der Schmerz deinen Saum nicht ergreift, nutzen dir diese Worte gar nichts. 6. Der Koranrezitator Jemand erzählte einem großen Scheich: «Ein weiser Meister hat jeden Tag den Koran vollständig rezitiert, und in einem ­langen Leben ist dies seine einzige Beschäftigung.» Der Scheich antwortete: «Vom ganzen Koran hat ihn kein einziger Vers ­ergriffen. Wenn ihn auch nur ein Vers ergriffen hätte, hätte er keine Furcht, ihn so wie ich zu rezitieren.» Wenn der Schmerz um Ihn deinen Saum auch nur einen ­Augenblick ergreift, wirst du von der Welt erlöst sein. Wenn du aus trunkenem Herzen einen Hauch dieses Schmerzes verspürst, hast du gewonnen. Die Liebenden erkennen – o Wunder! – diesen Schmerz von weitem an seinem Duft. 7. Madschnūns Tod Laylā verstarb vor Madschnūn; in ihrer Todesstunde war der reine Madschnūn nicht anwesend. Als Madschnūn schließlich zurückkehrte, hörte er, was er nicht hatte sehen können. Jemand sagte zu ihm: «O du, dessen Herz sich nach ihr verzehrt, steh auf, damit ich dir ihr Grab zeige!» Da antwortete er: «Das ist nicht nötig; sprich mir nicht davon, denn ich erkenne diese Erde an ihrem Duft.» So sprach er und ging schreiend wie ein Trunkener zum Friedhof. Er atmete den Duft der Erde ein und lief, bis er schließlich an Laylās Grab ankam. Dort beklagte er den Tod dieses Mondes; eine Stunde lang war er außer sich und gab dann seinen Geist auf. Nachdem ihn seine reine Seele verlassen hatte, begrub man ihn neben ihr in der Erde. Sein Leben galt nur der Liebe zu seiner Geliebten; ohne sie blieb sein Atem stehen.



8. Die Frau, die in Liebe zu Ayāz entbrannte277

8. Die Frau, die in Liebe zu Ayāz entbrannte Der Sultan hatte eine Nachbarin, die sehr schön war. Das Heer ihrer Liebe war unermesslich; mit hundert Herzen hatte sie sich in Ayāz’ Antlitz verliebt. Doch sie konnte sich nicht mit ihm vereinen und hatte nicht den Mut, darüber zu sprechen. Sie brannte Tag und Nacht vor Liebe, bald tief bedrückt, bald ­voller Hoffnung. Ständig hielt sie sich an einem Fenster auf und streckte mit trockenen Lippen ihren Kopf heraus. Manchmal sah sie sein Gesicht, und dann standen ihr die Haare wie Schwerter einzeln zu Berge. Das Herz schwand; der Verstand entglitt ihr; die Erde unter ihren Füßen wurde durch das Blut ihrer Tränen zu Lehm. Sie dachte: «Was soll ich tun? Wie kann ich meine Narretei im Zaum halten? Keiner weiß etwas über meine Liebe; wie kann ich diese Liebe weiter für mich behalten­? O mondgleicher Ayāz, schau mich an; sieh meinen Schmerz; höre meine Klage! Wie lange willst du mich noch in Blut baden lassen? Ich habe jetzt keine Kraft mehr. Schieße die Pfeile deiner­ Wimpern nicht mehr auf mein Herz, und entzünde das Feuer der Trennung nicht mehr in meiner Seele!» Als eine Zeitlang vergangen war, schwand schließlich ihre Kraft, und sie wurde schwach. Ihr Leben wurde ihr immer mühsamer, und sie geriet Schritt für Schritt in die Klauen des Todes. Schließlich kam Mahmūd mit seinem Heer vorbei, als die Frau am Fenster einen klagenden Seufzer ausstieß. Ihr Seufzer drang an Mahmūds Ohr; es klang, als sei sie vor Schmerz ohnmächtig geworden. Da sagte er: «O Frau, was ist geschehen, dass deine Seele so betrübt ist?» Sie antwortete: «Meine Lebenszeit nähert sich ihrem Ende. Ich habe eine Bitte an den gerechten König. Gewähre mir durch deine Güte einen Wunsch, denn ein Nachbar hat ein Recht darauf.» Der König antwortete: «O schwache Frau, dann bitte den König um was immer dein Herz begehrt.»  – «Ich brauche ein belebendes Getränk, denn durch deinen Ayāz wurde meine Seele verletzt. Er lässt mich immer auf der Erde zurück, weil er strahlt wie der Mond am Himmel. Möge der König meine Angelegenheit sogleich richten, denn ich habe niemanden auf der Welt. O weiser

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30. Der Pilger geht zu Noah

­ önig, lass mir dieses belebende Getränk schnell bringen, aber K durch Ayāz!» Der König sprach: «Wenn dein Herz mich um ein belebendes Getränk bittet, so ist das gerechtfertigt. Aber du wirst weder tot noch lebendig mit meinem Ayāz sprechen. Wer bist du denn?» Sie sagte: «Ich stehe ebenso zu Ayāz wie der König. Wir sind beide seit langer Zeit in Ayāz verliebt.» – «Ich habe ihn mit Gold gekauft.» – «Und ich habe ihn um den Preis meines Lebens auserwählt.» – «Wenn du ihn für dein Leben gekauft hast, wie kannst du dann als Tote in der Welt noch leben?» – «Nur durch die Liebe stehe ich noch aufrecht; nur die Liebe hält mich am Leben.» Da sagte der König zu ihr: «O du von der Liebe Verstörte, wie kann man von Liebe leben?» Als die Frau das hörte, seufzte sie und sagte: «O König, ich habe dich für einen Liebenden gehalten. Ich glaubte, du seiest ein liebender Mann, doch in deiner Liebe gibt es keinen Hauch von Aufrichtigkeit. Du bist nicht mit der Liebe vertraut; du bist, o Mann, weniger als eine Frau. Dem Königtum der Welt gebührt Edelsinn und nicht das Scheitern einer wie mir, der das Herz bricht.» So sprach sie, zog ihren Kopf aus dem Fenster zurück, verhüllte ihr Gesicht und verschied. Ihr Tod erschütterte den ­König, und seine Augen tränkten die Erde vor seinem Sattel. Nachdem er eine Weile Tränen wie Sterne vergossen hatte, befahl er, die Frau zu beerdigen, und ritt davon. Der gerechte ­König hatte befohlen, dass Ayāz die Frau eigenhändig begraben solle. Wer nicht bereit ist, den Schmerz zu ertragen, wird die Frucht vom Baum der Liebe nicht ernten. Wenn du in der Liebe treu und ein Mann des Pfades bist, begrüße den Schmerz! ­Begrüße ihn wieder und wieder! 9. Madschnūn an der Kaaba Der Vater brachte Madschnūn zur Kaaba, damit er dort bete und Heilung finde. Als Madschnūn dort ankam, sagte der ­Vater: «Jetzt bete hier, an diesem Ort! Sprich: ‹O Herr, nimm



10. Die Einsamkeit des Meisters279

mir meine Schmerzen; lass die Liebe zu Laylā in meinem Herzen erkalten.› Bete, damit dein Vater Amen sagen kann – möge Gott dir diese Gnade erweisen!» Da erhob der trunkene Madschnūn die Hände und betete: «O Herr, du solltest meine Liebe zu Laylā hundertmal verstärken und mir den Kopf i­ mmer noch mehr verwirren.» Wenn der Schmerz der Liebe zu Ihm sich dir noch vermehrt, wird alles, was du hast, bis zum Herzen zu Blut. Und sobald die ganze Welt die Farbe des Blutes angenommen hat, erhebt sich dein Herz aus all’ dem Blut. Dieses Herz ist dann immer in ­Seiner Gegenwart und bis in alle Ewigkeit selig. 10. Die Einsamkeit des Meisters Ein Jüngling begab sich zu einem berühmten Meister und sah diesen ruhig in einer Ecke sitzen. Der Meister lebte allein; nie hatte er jemanden bei sich und nie einen Gefährten. Der Jüngling sagte: «Bedrückt dich die Einsamkeit nicht?» Der Meister antwortete ihm: «O Jüngling mit dem steinernen Herzen, wie könnte man in Gottes ständiger Gegenwart betrübt sein? Geh fort!» Wer in der Gesellschaft des Freundes ist, dem ist ein einziger Augenblick wichtiger als alle Güter beider Welten. 11. Mahmūd und der indische Knabe Das mächtige Heer Mahmūds erbeutete bei einem seiner Siege auch einen indischen Knaben. Der dunkelhäutige Junge hatte eine besondere Gestalt, und seine Anmut versetzte die Soldaten in Unruhe. Schließlich brachte man ihn zum Herrscher, und der ruhmreiche König verliebte sich in ihn. Seine Gegenwart entfachte ein Feuer in ihm, so dass er ihn keinen Augenblick mehr aus den Augen ließ. Er setzte ihn beständig auf einen neuen Zweig des Glücks und schließlich neben sich auf den Thron. Er verstreute viele Perlen und Edelsteine vor ihm und machte ihm die schönsten Versprechungen. Doch der indische Knabe begann trotz all dieser Ehrungen und Zärtlichkeiten wie eine

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30. Der Pilger geht zu Noah

Frühlingswolke zu weinen. Da fragte der König: «Warum weinst du denn?» Der Junge antwortete: «Ich weine, weil mir meine Mutter immer wieder auf hundertfache Weise mit Mahmūd Angst gemacht hat. Sie sagte, dass er mich ständig bestrafen würde. Ich weine, weil ich Mahmūd so lange nicht kannte und meine Mutter jetzt nicht sehen kann, dass ich ­neben dem König auf dem goldenen Thron sitze. O weh, wie ahnungslos war ich doch; wie kann jemand ohne Mahmūd ­leben?»

Einunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Abraham

Der Pilger, der seine Seele auf dem Weg der Freundschaft ­stiftete, machte sich zerbrechlich wie ein Zahnstocher zu Chalīl1 auf und sprach: «O du, der du das Reich der Seele besitzt, der Staub unter deinen Füßen ist die Gebetsrichtung der Geschöpfe der Welt. Mit drei Lossagungen hast du die Wahrheit beider Welten erlangt, hat man jemals einen geraderen Umweg ge­ sehen?2 Du bist durch Glück sowohl der Vater deines Volkes3 als auch der Ahnherr der Gottesfreunde.4 Du hast das Prinzip aller Prinzipien gesucht und Sonne und Mond zum Untergehen gebracht. Als du die himmlische Welt mit eigenen Augen sahst, hast du deine Seele dem Geliebten zu Füßen gelegt. Weil du dich und deinen Sohn aufgegeben hast, konntest du zu Gabriel sagen: ‹Geh fort!›5 Du hast den Schleier vor dem Antlitz der Welt gelüftet und das verborgene Geheimnis ohne die Welt ­gefunden. Als du die Welt zusammengefügt hast, hast du dies mit ‹der die Himmel und die Erde erschaffen hat› begründet.6 Da du nicht zum Diwan deines Vaters gehörtest, gewährte dir Gott Seine Nähe durch das Opfer deines Sohnes. Von deiner ­eigenen Existenz gereinigt, setztest du dich rasch und geschickt dem Feuer aus.7 In der Welt der Erkenntnis aufgewachsen, hast du dich von dir selbst, von deinem Sohn und deinem Vater losgelöst. Da du der uneingeschränkte Freund auf dem Pfad bist, kennst du sowohl Seele als auch den Körper; ich dagegen bin der Seele und des Körpers nicht kundig. Zeige meiner Seele ein Staubkorn von deinem Weg! Als Gast komme ich mit dem ­Leichentuch und dem Schwert zu dir; du darfst einem Gast nichts abschlagen.» Der Herr der Freundschaft antwortete: «Mein Sohn, solange du nicht lange Zeit geklagt hast, wird dir der Pfad nie gewiesen

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31. Der Pilger geht zu Abraham

werden. Deine Welt muss ganz Gehorsam sein. Obgleich das Glück zu schenken ohne Grund geschieht, ist der Gehorsam ­gegenüber Gott das Anliegen der Glücklichen. Wenn du glücklich sein willst, dann sei gehorsam! Wenn nicht, dann sei wenigstens eine Stunde lang gehorsam. Da die Überlieferung so lautet, mach dich ans Werk! Handle, aber nicht nur ein wenig, sondern viel! Wenn du Tag und Nacht damit beschäftigt bist, wird dir bald eine Tür geöffnet. Wenn du den Weg zur Tür der Treue suchst, dann klopfe an die Tür meines Nachfahren Mustafā! Lass seinen Sattelgurt keinen Atemzug los! Wenn er dich annimmt, ist dein Kummer für immer vorüber. Wenn seine Zustimmung dich zum Muslim macht, sind beide Welten das Geringste deiner Güter. Wenn du zu Mustafā reist, gehe auch an die Tür von Mose, ʿImrāns Sohn.» Darauf ging der Pilger zu dem hellsichtigen Meister und ­erzählte ihm vom Schmerz des Glaubens. Der Meister sagte: «Abraham, der Reine, ist der Ozean der Gottesfreunde und die Welt reiner Hingabe. Wer nur mit einem Atom an dieser Freundschaft teilhat, erlangt mit jedem Atemzug hundertfaches Glück. Die erste Stufe der Gottesfreundschaft ist Liebe; das Ehrenkleid der Gottesfreundschaft wird am Ende verliehen. Der Weg führt von Zuneigung zu Liebe und für dich von Liebe zur Gottesfreundschaft. Wenn ein Atom Liebe sichtbar wird, wird durch dessen Kraft der Berg zum Ozean.» 1. Der Asket, der sich ein Atom von Gottes Liebe wünschte Jesus, der Sohn Marias, ging an einem Mann vorbei, der ein Gotteshaus in der Wüste errichtet hatte. Es war ein schönes Gotteshaus mit einer Gebetsnische, umgeben von einer Wiese mit einer Wasserquelle. Jesus sagte: «Du gottesfürchtiger ­Asket, was machst du an diesem Ort?» Er antwortete: «Mein Leben ist dahingegangen, o Ruhmreicher, das ich in Gehorsam verbracht habe. In diesem langen Leben habe ich einen Wunsch, den Gott bis jetzt nicht erfüllt hat.» Jesus fragte: «Was wünschst du dir denn vom Freunde?» – «Ein Atom Seiner Liebe.» Da er-



2. Madschnūn vor dem König283

bat Jesus für ihn diesen Wunsch und ging dann fort. Der Wunsch wurde erfüllt. Später kehrte Jesus an diesen Ort zurück und sah das Gotteshaus unter dem Staub der Straße verborgen. Die Quelle war vollständig ausgetrocknet, die Gebetsnische ganz und gar in Stücke zerfallen. Da rief er: «Gott, erleuchte mich und kläre mich auf! Wo ist er, und woher kommt diese Zerstörung?» Gott antwortete: «Er ist hier auf dem Berggipfel, und er ist selbst von Kopf bis Fuß ein Berg des Kummers.» Da stieg Jesus auf den Berggipfel und sah den Mann mit gelbem Gesicht und trockenen Lippen, verwirrt und niedergeschlagen, so dass ihn der Messias kaum von einem Toten unterscheiden konnte. Jedes Haar seines Körpers zeugte von einem anderen Schmerz, und auf sein Gesicht legte sich immer neuer Staub. Er war kopfüber in Blut und Erde gefallen, und seine beiden Augen waren tief in ihren Höhlen versunken. Jesus grüßte ihn und sprach ihn an, aber der Mann grüßte nicht zurück und gab keine Antwort. Gott, der Erhabene, sprach heimlich zu Jesus: «Er ist aus Bedürftigkeit so geworden. Er wünschte sich ein Atom Meiner Freundschaft, und als Ich es ihm gewährte, gab er alles auf. Er kümmerte sich nicht mehr um seine Existenz; er wurde aus­ gelöscht und hat weder Kopf noch Fuß mehr. Hätte Ich ihm nur ein Atom mehr gegeben, hätte er sich in Atome aufgelöst.» Ein Atom kann die Liebe nicht aufnehmen, und nicht jeder Hochmütige ist ein Mann der Gottesfreundschaft. Solange in der Liebe noch etwas anderes verblieben ist, ist ein Kloster im Inneren der Kaaba verblieben. Erst wenn im Herzen sogar der Name anderer nicht mehr bleibt, wird sich der Schleier vollständig vor dem Antlitz des Geliebten heben. 2. Madschnūn vor dem König Ein König ließ Madschnūn zu sich rufen und vor seinem Thron auf einem Stuhl niedersitzen. Dann sprach er: «Es gibt so viele Schönheiten auf der Welt. Warum hat dir ausgerechnet Laylā die Sprache geraubt?» Dann rief er von überall bezaubernde Frauen8 herbei, stellte sie ihm vor und sagte: «Nun sieh,

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31. Der Pilger geht zu Abraham

Madschnūn, jede dieser Frauen ist tausendmal schöner als Laylā.» Doch Madschnūn ließ den Kopf gesenkt und würdigte keine dieser Göttinnen eines Blickes. Der König aber sagte: «Schau dir doch diese weißhäutigen Schönheiten an! Dann wirst du aus deiner misslichen Lage befreit und deine Liebe zu Laylā wird erkalten!» Da löste der Schmerz Madschnūns Zunge und aus seinen Augen flossen zwei Bäche von Blut. Er sagte: «O König, meine erhabene Liebe zu Laylā ist fest in meiner Seele verankert. Sie hält sich mit gezogenem Schwert bereit und schwört: ‹O du von Hochmut Trunkener, wenn du auch nur einen Atemzug lang auf eine Andere blickst, vergießen wir mit unserem Schwert dein Blut!›» Josephs Antlitz erblicken und überleben heißt, kein anderes Gesicht mehr anzusehen. Wenn Josephs Antlitz sichtbar ist, kann kein anderes Bündnis mehr eingegangen werden. Wenn du zu denen gehören willst, die die Geheimnisse kennen, dann schaue bis in alle Ewigkeit auf nichts anderes! Denn solltest du deinen Blick etwas anderem zuwenden, würde es sein, als ob du deinen Kopf neben dich legtest. 3. Der schöne Sklave, der in den Spiegel blickte Ein König hatte einen schönen Sklaven, den man einen jungen Jakob nennen könnte. Die Farbe seines Gesichts färbte den Granatapfel, und seine Locken waren Gift für die Schlangen. Die Pupillen von ihm, dessen Körper nach Moschus duftete, waren freigiebig und geizig zugleich dank Moschus und Mandeln. Über seinen Mund wirbelte allerorts das schwärmerische Wort, und wenn es seine Taille erreichte, verschwand es im Nichts. Da sein Mund ein phantastischer Punkt war, konnte auch der Verstand, wenn er durch ihn sprach, nur unverständlich sein. Das Wasser des Kouthar wurde ohne seine Lippen durstig, und Haydars Schwert war im Vergleich zu seinen Wimpern nur ein Kurzdolch. Seine warme Liebe, die Leben hervorbrachte, stürzte den Verstand in trockene Askese. Der König hatte aus Liebe zu ihm sein Herz verloren und war von Heimsuchungen ergriffen worden. Wenn der König



3. Der schöne Sklave, der in den Spiegel blickte285

abends sein Gewand ablegte, legte ihm der Sklave morgens das Gewand wieder an. Er brachte ihm Wasser, wusch ihm Hände und Füße und richtete ihm das Gewand auf seinem Sitzplatz. Er stellte eine Laute und ein Zuckergetränk vor ihn hin, und stets war er ihm noch mehr zu Diensten. Wenn der König sich auf den Thron im Palast setzte, stützte er sich auf diesen mondgleichen Sklaven. Jeden Augenblick betrachtete er ihn; bei ihm starb er und lebte wieder auf. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte; er wusste nur so viel, dass der Sklave sein Herz bluten ließ, damit, wenn jenes Götzenbild einmal getötet würde, es nur noch in seinem Herzen ruhen möge. Eines Morgens kam der Wesir zum König und sah den Kopf dieses Unvergleichlichen neben dem König liegen. Dieser hatte dem mondgleichen Sklaven den Kopf abgeschlagen, und jetzt weinte der König jämmerlich wie eine Wolke. Er fragte den ­erhabenen König, was geschehen sei, und dieser sprach: «Ja, dieser Sklave ist in der Frühe gegangen, um dem König einen Spiegel zu bringen. Unterwegs warf er einen Blick hinein, wo­ rauf der Spiegel von seinem Atem beschlug. Aus Zorn habe ich ihn getötet und beklage ihn jetzt, damit der Sklave sich keine weitere Missachtung erlaubt und nicht vollständig die Achtung vor dem König verliert. Ich war auf dieser Welt sein Gefährte, doch er hat den Spiegel zu seinem Gefährten gemacht. Wer den Spiegel als König hat, wird ungläubig, sobald er sich selbst ­betrachtet. Warum hat dieser Sklave sein eigenes Gesicht betrachtet? War ich ein unvollkommener Spiegel für ihn?» Wenn du zur Gottesfreundschaft gelangen willst, dann geh voran, losgelöst von deinem eigenen Wesen. Wenn dir Gabriel die Botschaft bringt: ‹Entferne dich!›, dann sage du am Feuer: ‹Entferne dich!› Betrachte nicht einmal ein Atom in deiner eigenen Existenz, damit du durch dieses eine Atom nicht hoch­ mütig wirst. Deine Existenz hängt nicht von dir ab; weshalb gibst du dich dann als existent aus? Wenn dich der Freund ruft, dann geh! Doch solange du dich mit dir selbst beschäftigst, geh nicht diesen Weg.

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31. Der Pilger geht zu Abraham

4. Mahmūds Ohnmacht Mahmūd wurde plötzlich krank, drei Tage und Nächte war er bewusstlos. Drei Tage und Nächte bewegte er sich nicht; mit erloschenem Verstand lag er darnieder. Doch welch ein Wunder – zur gleichen Zeit, zu der der gerechte König bewusstlos war, war auch Ayāz ohne Bewusstsein. Als der König am vierten­Tag wieder zu sich kam, erlangte auch der Diener sein Bewusstsein wieder. Als der König die Augen aufschlug, sah er seinen Ayāz an seiner Seite und fragte: «Wann bist du gekommen?» – «Gerade eben, Ehrwürdiger.» O Bettler, der du den Umgang mit dem Herrscher suchst, lerne du, der du nutzlos bist, gutes Benehmen. Wenn dir die Stellung eines Prinzen mit Recht zukommt  – wie könnte Er dich als Bettler zurücklassen? Aber auch der Wesir war am Lager des Königs und sagte: «O Besitzer der Krone und des Thrones, drei Tage und Nächte lag Ayāz genauso bewusstlos wie der König auf seinem Lager neben­ ihm. Ich habe nicht die kleinste Bewegung bei ihm gesehen und kein einziges Wort von ihm gehört. Und jetzt behauptet er, eben erst gekommen zu sein. Diese Lüge ist empörend!» Da­ rauf sagte der König zu Ayāz: «O du ungehobelter Diener, ­warum hast du mich belogen?» Ayāz antwortete: «Ich habe nicht gelogen, denn meine Existenz ist in der des Königs auf­ gegangen. Wenn der König das Bewusstsein verliert, verliere auch ich es, und wenn er wieder zu sich kommt, komme auch ich wieder zu mir. Ich habe keine eigene Existenz; meine Worte sind vollkommen aufrichtig. Da meine Existenz vom König ­abhängt, wie könnte ich ohne ihn existieren? Dein Diener existiert nur durch dich; wer ist er selbst schon? Der Diener Mahmūds und sonst nichts.» Bemühe dich darum, du Selbstgefälliger, noch vor deinem Tod ein Atom der Gottesfreundschaft zu erhalten! Wenn du nur ein einziges Atom erntest, scheint in deinem Herzen die Sonne aufs Neue.



5. Wann soll man Gottes gedenken?287

5. Wann soll man Gottes gedenken? Eines der Geheimnisse besteht darin, dass man am Tag des ­Gerichts die Religionsgemeinschaften zu ihren Propheten rufen wird. Doch morgen ruft man sanft Seine Freunde auf ewig zu Gott zurück. Es ist keine Freundschaft, wenn du dich nur in Zeiten der Heimsuchung an deinen Freund9 erinnerst. Wenn du in der Gottesfreundschaft beständig bist, gedenkt deine Seele immer Gottes. 6. Ein Papagei lernt sprechen Ein Herr hatte einen gescheiten Papagei, dessen grünes Federkleid Gift in ein Heilmittel verwandelte. Ein ganzes Jahr lang gab er ihm Zucker, um ihn zum Sprechen zu bringen. Tag und Nacht widmete er sich dieser Beschäftigung; die Sehnsucht, dass er spreche, ließ sein Herz erbeben. Doch obgleich er ihn ein ganzes Jahr lang mit Zucker fütterte, sprach er kein einziges Wort. Schließlich ereignete sich etwas sehr Unheilvolles: Ein Feuer brach im Hause des Herrn aus. Als die Flammen den ­Käfig erreichten und die Hitze dem herzraubenden Papagei zusetzte, rief er: «Vorsicht, Herr! Hilf mir, sonst verbrenne ich gleich im Feuer!» Da erwiderte ihm der Herr: «Jetzt plötzlich, bei einem solchen Ereignis, erinnerst du dich an mich? Tag und Nacht hast du geschwiegen; woher kommen jetzt deine Worte? Jetzt, wo die Todesangst dich gepackt hat und du hilflos bist, rufst du mich? Um deiner selbst willen rufst du mich; du rufst mich, um das Feuer abzuwehren. Hätte das Feuer deine Seele nicht beunruhigt, würdest du dich niemals mit mir abgeben. An mich zu denken war immer nur wie Wind für dich, und in einem solchen Augenblick falle ich dir wieder ein? Da du nur wie ein Fremder an mich denkst, so verbrenne jetzt wie ein ­Falter!» Wer im Feuer nicht wie Abraham ist,10 wenn er auch wie ­dieser Papagei verbrennt, für den besteht keine Furcht. Solange nicht alles ins Chaos gerät, mein Sohn, wie willst du etwas vom Scheitern wissen? Gottesfreundschaft ist im Kern Selbstaus­

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31. Der Pilger geht zu Abraham

löschung; wenn du ein Freund Gottes bist, bitte nicht um ­Freiheit! Dein Weg ist ein dauerndes Auf und Ab, denn dein Wohlergehen besteht darin, dass es dir immer schlechter geht. 7. Wie geht es einem Narren? Ein Mann fragte einen Narren: «Wie geht es dir, Verwirrter?» Er antwortete: «Ich habe mich in alle Richtungen auf den Weg gemacht, und hin und wieder ist es mir schlechter gegangen.»

Zweiunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Mose

Der Pilger begab sich nun voller Ungeduld zu Mose. Er sah Mose vom Berg Sinai zurückkommen und sagte zu ihm: «O du, dessen Wesen das Licht beider Welten ist! Die neun Sphären1 sind nicht einmal ein Zehntel deiner neun Wunderzeichen.2 O du, der du in der Nacht den göttlichen Schatz gefunden hast, du bist vom Hirten zum König aufgestiegen. Als Hirte hast du die Herde gehütet, doch in einer Nacht ein ganzes Volk. Woher hättest du wissen können, dass du über eine solche Herde hi­ naus all diese Menschen gewinnen solltest? Aus dem Weidenkorb3 bist du zum Gesprächspartner Gottes aufgestiegen; vom Hirten bist du für immer ein König geworden. Auf der ganzen Welt, zu keiner Zeit, hat ein Hirte ein solches Schicksal erlebt. Weil dein Schicksal als Hirte bedeutend war, hast du dein ­Hirtenamt als Nachtgänger4 beendet. Als dein Ohr die Worte ‹Ich bin dein Gott›5 hörte, wallten vor Erregung sieben Meere in dir auf. Das Feuer der Gottesgegenwart ließ dich vom Weg abkommen; der Bernstein Gottes zog dich wie einen Strohhalm an.6 Obwohl dich hundert Jahre Weg von dem Feuer trennten, wurdest du jetzt leidenschaftlich zu ihm hingezogen. Das Feuer machte die Welt vor dir weit, o du, der du durch einen grünen Zweig alles ergrünen ließest. Als dich der Becher der Erwählung7 ohnmächtig niederwarf, hörte deine Seele die Worte ­Gottes. Als diese Worte gesprochen wurden, wurde jedes Atom zu einem anderen Lobgesang.8 Du brauchtest hundert Welten voll Vernunft und Weisheit, um dann auf ewig Ohr zu sein. Das Glück, das dir bis in alle Ewigkeit gehört, ist das eines Herrschers, und die Herrschaft ist dein. Wenn du mir nur ein Atom dieses Glücks zugestehst, wird mein Name in beiden Welten ­geachtet.»

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32. Der Pilger geht zu Mose

Mose, der Sohn ʿImrāns, antwortete: «O du, der du entbrannt bist! Solange du nicht selbst ein loderndes Feuer bist, deine Seele nicht vollständig verbrannt und dein Körper nicht ganz erschöpft ist, wirst du den Weg zum Geliebten nicht ­finden  – und Schluss! Zuerst musst du deines eigenen Seins müde werden; dann nähere dich der Liebe zum Nichtsein! Wenn du dann die Erfahrung des Nichtseins machst, wirst du ein Sehender in der Welt der Armut sein. Vollständige Armut wird nur dem Auserwählten gewährt, ohne sein Einverständnis wird das Werk nicht gelingen. Als ich seine Bedürfnislosigkeit und sein hohes Streben gesehen habe, bat ich Gott, den Erhabenen, seiner Gemeinde anzugehören. Da du zu seiner Gemeinde gehörst, freue dich darüber; diene ihm und sei frei! Schlage seinen Pfad ein und suche seine Leidenschaft! Suche um Gottes Zufriedenheit willen seine Zufriedenheit! Du bist ein Mann des gebrochenen Herzens, und der Weg ist lang; belebe deine Seele mit dem Atem dessen, der den Psalter besitzt!»9 Daraufhin ging der Pilger zu dem Meister mit dem reinen Wesen und legte ihm seine Schwierigkeiten dar. Der Meister sprach zu ihm: «Die Seele von Mose, dem Gesprächspartner Gottes, ist die Welt der Liebe und ein gewaltiges Meer. In der Welt der Liebe hat er den Vorrang, denn seine Liebe ist tatsächlich Gottes würdig. Die Liebe ist das Glück beider Welten; wer kein Liebender ist, hat dort keinen Platz. Man muss das ­Gesicht mit dem eigenen Blut waschen, damit der Vogel deiner Seele in Liebe auffliegen kann. Wenn es auch schön ist, leidenschaftlich zu lieben – doch sein Selbst zu töten ist der Weg zu Ihm! Wer mit der Liebe vertraut ist, für den ist es das Geringste, sein ­Leben zu verspielen!» 1. Das selbstmörderische Liebesgeständnis Ein Prinz hatte ein Gesicht wie die Sonne; vom Scheitel bis zur Sohle war er Liebe wie die Sonne. Der hinreißende Jüngling hatte Moschushaare und Mandelaugen, und seine Lippen ­waren Honig, Milch und Zucker. Wenn durch seine türkische Rede Weisheit hervorquoll, verstreuten die Perlen seiner Zähne



1. Das selbstmörderische Liebesgeständnis291

Zucker. Immer neigte er vorsätzlich den Kopf und ließ zwei schwarze Locken in die Stirn fallen. Wer das Spiel seiner Locken­beobachtete, fand sich als Sklave seiner Locken wieder. Wenn er morgens hinausging, entströmte seinen Lippen der Geruch von Blut. Mit Bogen und Pfeil machte sich dieser Welten­erleuchter auf den Weg in die Steppe. Wenn er, gebeugt stehend, einen Pfeil abschoss, erfüllte dessen Surren die Welt. Wenn er den widerspenstigen Pfeil in seinen Bogen spannte, staunten die Umstehenden. Jeden krummen Pfeil seiner Wimpern richteten seine bogengleichen Brauen gerade. Alle starben unausweichlich dahin, und niemand wagte zu seufzen. Ein leidenschaftlicher Mann verliebte sich in den Prinzen; er war aufgewühlt, ruhelos und betrübt, und sein Inneres blutete. Seine Seele brannte, und sein Herz war dahingeschwunden, denn noch mehr als seine Seele war sein Herz unruhig. Er dachte: «So beschäftigt mit ihm meine Seele ist – wie kann ich ihm jemals mein Geheimnis anvertrauen? Für ihn wiegt die Welt nicht einmal ein Korn; wie sollte ihm dann mein Kummer ein Korn der Welt wert sein?» Schließlich konnte er die Trennung von dieser reinen Perle nicht mehr ertragen, und aus Sehnsucht nach seinem Gesicht beschloss er zu sterben. An dem Ort, an dem der Prinz jeden Morgen seine Pfeile abschoss, war als Ziel ein Wall aufgeschüttet worden, in dessen Erde sich der unglückliche Liebende versteckte. Er grub sich rasch in die Erde ein, wusch sich von seinem Sein rein und ­erwartete den Tod. Als der mondschöne Prinz am nächsten Tag zurückkam, durchbohrte er mit dem Pfeil die Erde und das blutdürstige Herz. Er schoss den Pfeil so heftig in die Brust, dass der Pfeil in Stücke zerrissen wurde. Der Liebende streckte den Kopf aus der Erde, die ganz von seinem Blut getränkt war. Als der Prinz das aus der Ferne sah, konnte er vor Kummer Kopf und Fuß nicht mehr unterscheiden. Er lief zu dem Liebenden hin und sagte: «Du törichter Mann, warum hast du getan, was noch nie jemand getan hat?» Kaum hatte der liebende Mann seine Stimme gehört und seine Schönheit und Anmut ­gesehen, vergoss er Tränen wie Regen, oder besser ausgedrückt: als ob Feuer in Schilf gefallen sei. Er sagte: «Ich habe das nur

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32. Der Pilger geht zu Mose

getan, damit du mich nach dem Grund fragst. Als deine Hand den Pfeil abschoss, musste aus meiner Brust ein Blutstrom fließen. Alles, was aus deiner Hand kommt, ist gut, und sei es auch ein ganzes Meer voller Feuer. Zwischen deinen Locken und mir gab es ein verborgenes Geheimnis, das ich mit niemandem auf der Welt teilen konnte. Deine kettengleichen Locken erschienen­ mir so unerreichbar, dass ich das Geheimnis meines Herzens deinem Pfeil anvertraute. Was für ein Hund bin ich, der deiner nicht würdig ist, so dass mir dein Pfeil zum Geheimnisträger wird? Hätte ich doch hundert Leben, um jedes davon vor ­deinen Pfeil zu werfen! Auf dieser Welt hatte ich nur ein halbes Leben, aber dieser Augenblick ist für mich besser als tausend Leben. Wie kann ich mich an mein halbes Leben erinnern, wenn ich von tausend Leben befreit wurde? Wenn ich in der Liebe meine Seele hergebe, kann ich angenehm in der Gegenwart des Geliebten sterben.» Nachdem er dieses Geheimnis ausgesprochen hatte, hauchte er sein Leben aus; er hatte das Leben nicht teuer gekauft und gab es billig wieder her. Wenn du beständig um deine Seele und deinen Körper ­zitterst, bist du nicht einmal ein halbes Hirsekorn wert. Bald zitterst du um deine Seele, bald um deinen Körper – wie lange willst du weiter so zittern, da du doch kein Hirsekorn wert bist? Wie lange willst du dich wie die Frauen hinter einem Vorhang verstecken? Sei ein liebender, niemals erschöpfter Mann! So lebe dein Leben, wenn du lebst! So stirb deinen Tod, wenn du stirbst! 2. Tödliche Umarmung Nūh ebn Mansūr,10 der König der Könige der Welt, hatte einen Sohn, o Wunder, einen Mond der Welt, einen Joseph, der einen Jakob in Gestalt von Noah11 hatte. Seine Anmut war unvergleichlich. Wenn der Rachsch12 seiner Schönheit den Staub aufwirbelte, ließ er einen kalten Wind aus den Seelen aufsteigen. Wenn er durch seine Süße seine Schönheit noch vermehrte, brannte er doch aus Schamhaftigkeit wie das Zuckerrohr. Seine Locken waren vollkommen im Abschlagen von Köpfen, und an



2. Tödliche Umarmung293

jedem seiner Haare hing ein Herz. Das Fangnetz seiner Locken: Strähne mit Strähne, Schlinge mit Schlinge, Windung mit Windung verwoben. Es waren mehr als hunderttausend Windungen; ja, dieses Götzenbild war die Sonne selbst. Wenn er den Schleier seines Gesichts wie eine Tür öffnete, ließ sein Antlitz Sonne und Mond erglühen. Seine feste Stirn war aus Silber und flößte allen Furcht ein. Mit seinen Locken, die ständig dem ­Unglauben anhingen, vereinte sich seine silberne Stirn. Seine gekrümmten Bögen, schwarz wie ein Rabenflügel, erbeuteten jeden Augenblick hundert Falken auf der Wiese. Der Pfeil seines­ Auges hielt den Verstand in der Ölpresse gefangen. Das Mutter­ mal in seinem Gesicht versetzte in Ekstase, und Verstand und Seele legten den Kopf auf das Schriftzeichen seines Muttermals. Über seinen Mund zu sprechen, wäre eine Anmaßung; er war wie eine enge Schlucht. Er hörte nie auf zu kokettieren, und seine Lippen machten den Rubin zum Sklaven. Die Reihe ­seiner Zähne war geschlossen, und auf allen Märkten der Schönheit war er aufgewachsen. Wenn dieser Weißhäutige auch nur ein wenig lachte, spross auf der Stelle Zuckerrohr aus dem Stein. Sein Kinn verwirrte die Rede, denn es war ein Ort der Verirrung; sein Gesicht hatte das Polospiel der Schönheit gegen den Mond gewonnen. Der Poloball stieg bis zum Mond und fiel dann in sein Kinngrübchen. In seinem Kinn war ein Grübchen, das – o Wunder! – voll des Mondes war.13 Sein Bartflaum war makellos; dem Mond stand ihm gegenüber keine pflichtgemäße Entschädigung zu. Um seine Silbertafel herum setzte jener schöne Jüngling Schriftzeichen, die bedeuten: Die Leerstelle ist korrekt.14 Auch wenn mein Verstand ihn gut beschreibt, wäre es besser, er würde sich selbst beschreiben. Die Beschreibung seines Gesichtes sollte auch von seiner Zunge kommen. Ein Mann aus dem Heer des Herrschers verliebte sich heftig in den Prinzen. Ohne sein Gesicht weinte er so viel Blut, dass er blutgetränkt wie eine Tulpe lebte. Ohne seine Lippen klagte er so stark, als ob er hundert Tote betrauerte. Ohne seinen Bartflaum blutete sein Herz so sehr, als sei es dem Sonnenuntergang entsprungen. Der Kummer um ihn wirbelte ihn umher wie hundert Poloschläger einen Ball. Jeden Augenblick nahm sein

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32. Der Pilger geht zu Mose

Schmerz um ein Hundertfaches zu, und er geriet so sehr außer sich, dass er ohnmächtig wurde. Schließlich erfuhr der König von seiner Liebe und dachte darüber nach. Dann befahl er: «Morgen früh soll die Armee an dem und dem Ort antreten.» Dann sagte der ruhmreiche König zu seinem Sohn: «Leg ein schönes Gewand an, mein Sohn, kämm deine Locken mit Rosen­ wasser, und wisch dir den Staub aus deinem sonnengleichen Gesicht! Schmücke dich nicht nur ein bisschen, sondern prächtig, und tu alles, was du kannst. Dann besteige ein schnelles und schönes Pferd. Morgen ist Appell; sei auch du anwesend!» Am nächsten Tag begab sich der König in die Steppe und ließ seine Armee vorbeimarschieren. Zusammen mit seinem Sohn und dem Spion beobachtete der König die Szene von der ­Anhöhe aus. Der König sagte zu dem Spion: «Wenn sich der liebende Jüngling zeigt, berühre mein Knie, damit ich weiß, wer dieser Niemand ist.» Kurze Zeit später legte ihm der Spion sanft die Hand auf sein Knie. Da schaute der König hin: Es war ein Jüngling wie eine Zypresse unter dem Mond. Um den Mond war ein schwarzer Strich gezogen, und der Anfang dieses Striches konnte einem das Leben rauben. Er trug einen prächtigen Mantel über der Brust und einen Helm mit Gold­ fäden auf dem Kopf. Geschmeidig marschierte er unter seiner Rüstung, als ob er von seiner Liebe erlöst sei. Doch als er am König vorbeimarschierte, warf er dessen Sohn einen verstohlenen Blick zu. Da forderte der König seinen Sohn auf: «Steig vom Pferd herab, geh zu ihm und löse das Band seines Mantels – geh mutig hin! Dann nimm ihn, du Glücklicher, vor dieser Armee in die Arme und drück ihn fest! Leg deine Wange an seine, und bleib so stehen, bis ich ‹Genug!› sage.» Der Prinz verstand das Geheimnis sofort, ging hin und löste das Band des Mantels. Aber wie seltsam, mit jedem Band, das er löste, band er hundert Knoten in die Seele des Liebenden. Er verwüstete das Herz des Jünglings noch mehr, als er ihn umarmte. Dann hielt er ihn unter dem Mantel fest, weil er fürchtete, dieser könnte ohnmächtig werden. So hielt er ihn lange fest an sich gedrückt und ließ ihn nicht mehr los. Bald legte er seine Wange an die seine, bald vermischte er seine Haare mit den seinen.



3. Madschnūn in der Wüste295

Wie seltsam  – ein solches Heer schaute von überallher den ­beiden erstaunt zu, bis die Stimme des Königs ertönte: «Teurer Sohn, lass ihn jetzt los!» Als der Sohn sich von dem Jüngling löste, glitt dieser zu Boden und hauchte sein Leben aus. In dem Augenblick, in dem der Geliebte sich von ihm trennte, ging mit dem Geliebten auch seine Seele. Der Seele war es unter dem Mantel zu eng geworden, denn der Mantel bedeckte sie gemeinsam mit dem Geliebten. Die Seele mit dem Geliebten unter einem Mantel – wie könnte sie einen Augenblick lang von ihm getrennt werden? Als der Geliebte sich von ihr zurückzog, entschloss sich die Seele heimzukehren. Am Weg befand sich eine Familiengruft des Königs, in der sein Vater und seine Mutter ruhten. Der König ließ den Jüngling reinwaschen und ihn in der Familiengruft beisetzen. Als ihn jemand fragte, warum er so viel Aufhebens darum mache, antwortete er: «Er behauptete, meinen Sohn zu lieben. Ich wollte das Geheimnis lüften und wissen, ob es wahr oder nur vorgetäuscht ist. Es war die Wahrheit; er war ein wahrer Mann und der Liebe würdig.» Er fragte: «Da der liebende Jüngling nun tot ist, warum willst du ihn in deiner Familiengruft be­ graben?» Der König antwortete ihm: «Wer an unserer Schwelle in Liebe zu uns getötet wird, gehört zu uns und ist einer von uns. Wenn du solch ein Liebender wirst, ist es schön.» Wer sich in der Liebe nicht wie Feuer verzehrt, weiß gar nichts über das Geheimnis der Liebe. Das Feuer erlischt vor der Glut des Liebenden und gefriert vor Scham wie Eis. 3. Madschnūn in der Wüste In einem strengen Winter hielt sich Madschnūn ständig in der Wüste auf. Dieser Unwissende machte ein Feuer, das ihn erwärmte und mehr noch sein Herz. Als jemand aus Laylās ­Umgebung vorbeikam, fragte dieser: «O du, der du von deiner Geliebten getrennt bist, hast du etwas von Laylā gehört? Sprich offen! Ich bin kein Fremder; verrate mir das Geheimnis!» Da antwortete Madschnūn: «Ich weiß nur, dass diese Hellhäutige nichts über meine zerrissene Seele weiß.» Das

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sagte er und legte seine Hand in die Glut, bis die Glut ganz zu Asche geworden war. 4. Zulaikhas Liebesglut Man sagt: Als Jakob mit der Absicht, seinen Sohn zu besuchen, Kanaan verließ, erhoben sich die Ägypter und schmückten Ägypten von einem bis zum anderen Ende. Als Zulaikha davon erfuhr, lief sie hektisch umher, warf sich ruhelos einen Schleier über den Kopf und setzte sich demutsvoll in den Straßenstaub. Auf seinem Weg kam Joseph, der Aufrichtige, dort vorbei und sein Blick fiel auf die Betrübte. Er saß auf seinem Pferd, eine Peitsche in der Hand, und schlug sogleich auf die trunkene ­Liebeskranke ein. Da entrang sich dem Herzen der aus Liebe entbrannten Frau ein Seufzer, der die Peitsche in Brand setzte. Als die Peitsche immer heftiger brannte, ließ Joseph sie aus ­seiner Hand fallen. Zulaikha sagte zu ihm: «O du Reiner im Glauben, das ist deiner Ritterlichkeit nicht angemessen. Du kannst das Feuer, das meiner Seele entsprang, nicht mit der Hand halten. Jahrelang war meine Seele erfüllt von diesem Feuer, und in deiner Hand lag es nur einen Augenblick lang. Den Hauch der Liebe zu dir aus meiner Seele kannst du nicht einmal einen Augenblick lang festhalten. Du bist das Oberhaupt der Gläubigen, ich nur eine Frau – soll das etwa Treue gegenüber jemandem wie mir sein?» Den Zustand des ewig Liebenden zu erklären, liegt jenseits von Sätzen und Worten. Auch wenn die Sprache beide Welten jahrelang durchquerte, gelänge es ihr nicht. 5. Der König als Sklave seines Sklaven Eines Nachts vergoss Mahmūd, der gerechte König, Tränen auf das Gesicht von Ayāz. Als dessen Gewand mit dem Blut seiner Tränen getränkt war, zog er ihm schließlich die Stiefel aus. Er holte ein Becken und Rosenwasser, und dann wusch der berühmte König die Füße des Sklaven in dem goldenen Becken. Obgleich er sehr viel Rosenwasser verwandte, flossen seine



5. Der König als Sklave seines Sklaven297

Tränen noch hundertmal üppiger. Als er Ayāz’ Füße mit dem Saum seines Gewandes abtrocknete, wurden diese wieder von seinen blutigen Tränen nass. Schließlich legte er seinen Kopf auf Ayāz’ Füße und verliebte sich in sie. Bis zum Morgen hob er seinen Kopf nicht und ließ seine feuchten Augen auf seinen Füßen ruhen. Das Feuer seiner Sehnsucht brachte ihn zum Weinen, und immer wieder küsste er seine Füße. Auch die Kerze weinte heftig mit dem König; sie weinte wie der König mit brennender Seele. Der Geliebte und die Nacht waren da, und der König und die Kerze waren da – alles, was es brauchte, war in dieser Nacht versammelt. Doch wie seltsam, bei diesem vollkommenen Vergnügen rieb der König sein Gesicht am Fuß ­eines Sklaven. Wenn die Liebe eine solche Kraft erreicht, reißt sie einem ­Löwen die Zähne aus und verwandelt ihn in eine Ameise. Wer niemals eine solche Nacht erlebt hat, den nenne ich einen armen Bettler. Nur die Liebenden kennen den Wert einer solchen Nacht – was weiß eine Mücke über die Freude eines Sīmorgh? Als der Sklave schließlich aufwachte, hatte der berühmte König das Bewusstsein verloren. Als der Sklave ihn betrachtete, sah er, dass sein Fuß dessen Gesicht berührte. Er zog seinen Fuß vom Gesicht des großen Königs nicht zurück, denn er hatte keine Angst, sondern blieb so liegen, bis der große König wieder zu sich kam. Als der erhabene König wieder zu Bewusstsein kam, rief er: «Was für eine Unverschämtheit ist das, du Sklave?» Ayāz antwortete: «Diese Unverschämtheit bedeutet in jedem Fall die Vollkommenheit des Königs über die sieben Länder. Denn dein Königtum bedarf auch der Sklaverei, dein Hochmut der Demut. Du hast vom Königtum gelebt; jetzt bist du in die Kleider der Sklaverei geschlüpft. Die Herrschaft hatte dein Herz im Griff; dieses strebte jedoch unruhig nach der Sklaverei. Weil du alles warst, wolltest du alles. Du warst König; du wolltest Sklave sein. Du hast mich mit Wein völlig bewusstlos ­gemacht, damit du eine Nacht als Sklave erleben kannst. Erhebe dich, denn die Sklaverei schmückt dich nicht! Ich genüge als Sklave, denn der Herrscher ist kein Sklave. Da die Sklaverei dir nicht entspricht, erhebe dich, und komm wieder zu Sinnen;

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32. Der Pilger geht zu Mose

hier ist nicht dein Platz! Dem König geziemt es, immer zu ­herrschen. Hör auf, den Fuß des Sklaven zu küssen!» So sprach er und fügte hinzu: «O König, du hast in Wirklichkeit dein ­eigenes Herz geküsst. Dein Herz wollte es so, du weißt es und dein Herz auch. Wer bin ich schon, dass ich mich schämen müsste? Ich stehe vollständig unter deinem Befehl; was immer du küsst, es gehört dir.»

Dreiunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu David

Der Pilger, dem Tode nahe und mit bedürftigem Herzen, sagte zu David, der Heilung der Liebe:1 «O David, du Welt der Erkenntnis, in deiner Zuneigung erkenne ich das Wesen der Liebe. Wenn hundert Welten das Geheimnis der Liebe sammeln­, liegt der Name ‹David› auf der Zunge. Als am gestrigen Tag die Nachkommen erschienen, war dein Atom das leuchtendste ­aller Atome. Das Licht deiner Liebe aus der Welt der Heiligkeit und des Geheimnisses ist seit jener Zeit der Weggefährte deiner Seele. In deiner Seele liegt eine Welt der Geheimnisse des Lichts; Gott hat dir alles in den Psalmen beschrieben. Deshalb klingen diese tröstlichen Geheimnisse auch in deinen Gesängen an. O  du, dessen schöne Stimme der Seele schmeichelt  – die Geschöpfe haben durch deine Kehle ihre Seele verspielt. O du, dessen reines Herz ein Meer des Wissens ist, durch das Feuer deiner Liebe wurde das Eisen zu Wachs.2 Ein Feuer, das Eisen erweichen kann, kann beide Welten erwärmen. Was für ein Feuer ist das, welches sich erhebt, dass durch seinen Gesang vierzigtausend ihr Herz verlieren? Ich habe mich verirrt; mache du mich kundig, und gib mir ein Atom dieses Feuers mit auf den Weg, damit ich im Gewirr dieser Welt den Weg zum verborgenen Schatz finde.» David antwortete ihm: «Das Werk der Könige gelingt auf dem Weg zur Wahrheit nicht ohne das Schreiten auf dem mystischen Pfad. Alle Könige, die im Glauben kamen, haben diesen Weg eingeschlagen. Wenn du etwas von dieser Schwelle willst, musst du dich beherzt auf den Weg machen. Wenn du den Weg aufrichtig gehst, wird dich Mustafā bis zum Ehrenplatz führen. Wenn du auf dem Weg zu ihm noch existierst, dann ergreife ­seinen Saum, wenn du die Kraft dazu hast! Wenn du sein Bett-

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33. Der Pilger geht zu David

ler wirst, macht er dich zum König; wenn du unwissend bist, macht er dich kundig. Wenn du an der Wahrheit des ‹Einen› vorübergegangen bist, wird Mohammed auf ewig deine Instanz sein.3 Du musst zu ihm wandern und dich in sein Viertel ­zurückziehen. Wenn du dich an seine Tür zurückgezogen hast, wirst du sehen, wie sich die Vielheit in der Einheit vereint. Aber geh nicht mit totem Herzen und krankem Körper dorthin; lass dich vorher von Jesus mit Leben erfüllen!» Der Pilger ging zu dem Meister, der das Herz erleuchtet, und schilderte ihm seinen Zustand voll Schmerz und Inbrunst. Der Meister sprach zu ihm: «Die Seele des Propheten David ist ein Meer der Lehre von der Liebe. In der Liebe ist ihm der ständige Schmerz eigen; zu Wachs wurde das Eisen durch seine Auf­ richtigkeit.» 1. Davids Klagepsalmen Sechzig Jahre lang sang der Prophet David den Geschöpfen den Psalter des Allerhabenen vor. O Wunder  – wenn er seine Stimme erhob, blieb der Verstand stehen, der Wind blieb still, und die Blätter der Zweige wurden zu Ohren. Das Wasser hörte zu fließen auf und der Vogel zu fliegen. David sang viele fröhliche Lieder, aber auch Totenklagen. Doch alle hatten Freude an seinem Gesang und lebten vergnügt. Als er schließlich von einem Schicksalsschlag heimgesucht wurde, gerieten sein Herz und seine Seele durcheinander. Da erklangen seine Klagelieder bis in die Steppe hinaus und erzeugten einen Strom von Blut. Als sein fröhlicher Gesang schmerzvoll wurde, starben – o Wunder – vierzigtausend Menschen, denn wer aus der Ferne seinen Gesang hörte, hauchte sofort das Leben aus. Da sprach Gott zu ihm: «O reiner David, durch dich wurden vierzigtausend Menschen getötet. Bisher bekam niemand feuchte Augen; aber sieh jetzt, was geschieht. Du hast deine Epoche entzündet. Da du deine Klagelieder gesungen hast, habe Ich für dich vierzigtausend Menschen das Leben genommen. Deine fröhlichen Lieder von früher sind etwas anderes als Toten­ klagen. Alles, was an Schmerz sichtbar wurde, hat in der Steppe



2. Mahmūd und Ayāz: Die Kunst der Ergebenheit301

viele Menschen getötet. Wir wünschten uns von Adam den Schmerz des Glaubens, damit Wir die Welt mit ihm schmücken könnten. Weil er als Mensch des Schmerzes erschaffen wurde, wurde er von der Farbe und dem Duft des Paradieses gereinigt. Die Frau schmückt sich mit Farbe und Duft, doch was hat der Mann mit Farbe und Duft zu tun? Da über ihn ‹Steigt von ihm herab!›4 verkündet wurde, wurde er von Kopf bis Fuß Schmerz und Leiden.» Wer mit seinem Herzen in Freundschaft lebt, ist ein Sklave Gottes wegen seiner Vertrautheit. Solange er lebt, verstößt er nicht gegen den Anstand, aber er hält den Kopf immer gebeugt. 2. Mahmūd und Ayāz: Die Kunst der Ergebenheit Es wird erzählt, dass Mahmūd, der mächtige König, einmal tausend Sklaven für sich kaufte. Ayāz mit dem reinen Herzen war eine kostenlose Zugabe. Die Sklaven traten von ferne heran und legten ihre jeweiligen Vorzüge dar. Einer sagte: «Ich bin Bogenschütze.» Ein anderer: «Im Pfeileschießen bin ich ein Ārasch.»5 Ein anderer: «Ich werfe den Speer.» Ein anderer: «Das scharfe Schwert ist meines.» Ein anderer: «Ich durch­ breche hundert Schlachtreihen.» Ein anderer: «Ich zerschlage den Berg Qāf.» Einer fragte Ayāz spöttisch: «He, Ayāz, was ist denn deine Kunst?» Er antwortete: «O Frager, ich habe nur eine Kunst, die aber gewiss wertvoller als beide Welten ist.» Zufällig hörte ein Spion das Geheimnis, ging zu Mahmūd und erzählte es ihm. Da ließ der König Ayāz rufen und sagte zu ihm: «O Sklave, was ist deine Kunst? Sag es mir frei heraus!» Ayāz antwortete: «Wenn du mir deine Krone auf den Kopf setztest, mich auf dem Königsthron sitzen ließest, die sieben Länder meinem Befehl unterstelltest und mich die ganze Welt beherrschen ließest, ließe ich mich doch mein ganzes Leben lang nicht davon beirren­; denn ich weiß, dass ich für immer ein Sklave bin.» Auf Erden und im Himmel gibt es für Edle wie Gemeine ­keinen höheren Rang als Ergebenheit.

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33. Der Pilger geht zu David

3. Ayāz und der Becher aus Rubin Ayāz hielt einen Becher aus Rubin in der Hand, dessen Wert unermesslich war. Der König sagte zu ihm: «Wirf ihn vor dich auf den Boden!» Da warf er ihn auf den Boden, so dass der Becher in mehr als hundert Stücke zerbrach. Da entstand unter der Menge der Armee Aufregung darüber, weil durch ihn allen dieses Vergehen zufiel. Alle sagten zu ihm: «Verwirrter, niemand außer Gott kennt den Wert dieses Bechers. So etwas hast du zerschmettert. Schäm dich! Du hast ihn entwürdigt und elend zu Boden geschlagen.» Der König aber lächelte nur über diese Aufregung und zeigte sich unbekümmert dem Volk. Einer aber sagte: «Warum hast du diesen die Welt erleuchtenden ­Becher so gemein zerstört, Sklave?» Da antwortete Ayāz: «Dem König zu gehorchen ist für mich mehr wert als alles vom Fisch bis zum Mond. Du achtest nur auf den Becher, aber ich achte aus meiner Seele auf die Worte des Königs.» Wer auf den Befehl hört, ist der bessere Sklave; was ist schon ein Becher, wenn die Worte in die Seele dringen? Sei Sein Sklave, damit du jemand wirst, und wenn du Sein Hund bist, dann ist das genug. 4. Ein Hund in Gottes Straße Ein liebestrunkener Narr saß auf einem Aschehaufen. Er lachte ständig vergnügt und nagte an einem Knochen. Als ihn jemand fragte, was das bedeuten solle, antwortete er: «Siebzig Jahre lang lag ich im Blut, bis Er mich endlich wie einen Hund mit einem Knochen im Maul auf einen Aschehaufen vor Seine Tür gesetzt hat. Wenn ich auch als Hund keinen Zugang zu Ihm habe, so bin ich doch glücklich, ein Hund in Seiner Straße zu sein.» Wenn du noch etwas von Ihm erlangst, dann ist deine Seele auf ewig vollkommen.



5. Ein bescheidener Wunsch303

5. Ein bescheidener Wunsch Jemand hatte lange Jahre treu im Dienst des Herrschers gestanden. Eines Tages ließ ihn der gerechte König rufen und sagte: «Du hast mir unschätzbare Dienste erwiesen; weil du bedürftig bist und ich der König bin, darfst du dir von mir wünschen, was du willst.» Da antwortete er: «Wenn der ganze Hof, der Wesir, der Emir und der Imam anwesend sind, du die Armee um dich versammelt hast und von überall her die Leute hereinkommen, dann ruf mich vor all diesen zahllosen Leuten und flüstere etwas in mein Ohr. Sag mir etwas, ob falsch oder wahr; es kann sogar ein Schimpfwort sein. Dann werden mich alle kennen und alle mich den Geheimnisträger des Königs nennen­.» Von dem, was von Seiner Majestät kommt, ob schlecht oder gut, kann man nicht sagen, ob es schlecht ist. Wenn Sein Fuß dich niedertritt, wirst du aus Seiner Hand ein Andenken er­ halten. 6. Ein Andenken an den Geliebten Ein Liebender wollte die Pilgerfahrt unternehmen und teilte seinem Geliebten diesen Entschluss mit. Er sagte: «Ich mache mich bald auf den Weg; was du befiehlst, werde ich gerne für dich tun.» Da warf der Geliebte dieses betrübten Mannes ­heftig einen halben Ziegelstein nach dem Liebenden. Der Liebende aber hob den Stein wie eine Perle auf, küsste ihn und bohrte ein Loch hinein. Dann hängte er ihn sich zärtlich um den Hals und legte ihn keinen Augenblick mehr ab. Jedem, der ihn fragte: «Was ist das, mein Lieber?», sagte er: «Was könnte mir denn wertvoller sein? In beiden Welten halte ich mich daran fest, denn dies ist mir ein Andenken an den Geliebten.» Für jeden, zu dem Sein Duft gelangt ist, bedeuten beide ­Welten nur den Staub auf der Straße. Wenn Er dir einen Weg weist, kannst du dich glücklich schätzen. Wenn dir dieser Weg offenbart wird, ist alles, was du sagst, das Richtige.

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33. Der Pilger geht zu David

7. Der Narr, der sich aus Liebe von Gott lossagt Mose, der Sohn ʿImrāns, ging zum Berg Sinai und sah unterwegs einen Asketen, der in Licht getaucht war. Dieser sprach: «O Mose, sage dem Schöpfer, dass alle Seine Gebote befolgt wurden und Er Barmherzigkeit üben soll.» Nachdem er weitergegangen war, sah Mose einen noch trunkeneren Liebenden, der sprach: «Sage Gott, dass ich, der ich nur noch aus Haut und Knochen bestehe, Ihn liebe. Liebst du Ihn auch?» Schließlich sah Mose einen liebeskranken, barhäuptigen und barfüßigen Narren am Weg, der dreist zu ihm sagte: «Nun bestelle dem Schöpfer Folgendes: ‹Wie lange willst Du mich noch so verwirrt lassen? Ich habe nicht mehr die Kraft, diese Schmach zu ertragen. Ich bin vor Trauer dem Tode nahe; der helle Tag ist mir zur Nacht geworden. Ich will mich von Dir lossagen, mein Lieber; Du kannst Dich aber auch von mir lossagen.›» Auf diese unschöne Rede gab Mose ihm keine Antwort. Als der Gesprächspartner des Schöpfers auf dem Berg Sinai ankam, hielt er Zwiesprache mit Gott. Er richtete Ihm die Worte des Eremiten und des Liebenden aus, und Gott gab für beide die angemessene Antwort: «Dem Eremiten gebührt Barmherzigkeit und dem Liebenden Liebe. Beider Bitten werden hiermit erfüllt; was sie wünschten, wird ihnen von Mir zuteil.» Als Mose sich niederwarf und zum Gehen wandte, sprach Gott, der Erhabene: «Gibt es da nicht noch ein Geheimnis? Du hast mir die Geschichte des Narren verheimlicht; bei dieser Botschaft hast du sträflich versagt.» Mose antwortete: «O Herr, es ist besser, diese Worte zu verbergen; Du kennst sie zwar, aber sie bleiben besser unausgesprochen. Wie könnte ich meine Lippen für eine solche Botschaft öffnen? Das wäre hier ein ungebühr­ liches Verhalten.» Da sprach Gott zu ihm: «Gib ihm diese Antwort von Uns: ‹Gott lässt dir sagen: O Ungeduldiger, wenn du dich vom Schöpfer lossagen willst, werde Ich Mich jedoch nie von dir lossagen, ob du dich von Mir abwendest oder nicht.›» Die Geschichte der Verrückten ist Freiheit und gänzlich Dreistigkeit und Entsagung. Was ein Verliebter frei heraussagt – wann könnte ein Vernünftiger jemals das aussprechen?



8. Loqmān Sarachsī reitet in die Schlacht305

8. Loqmān Sarachsī reitet in die Schlacht Loqmān Sarachsīs Liebe war so stark geworden, dass sie ihn in die Steppe trieb und in Verwirrung brachte. Er wurde wie ein kleines Kind, ritt auf einem Stock, hielt auch einen Stock fest in der Hand und rief: «Heute reite ich in die Schlacht; vielleicht bin ich diesmal Sieger.» So lief er los, das Herz in Aufruhr, bis ihn schließlich ein Türke packte. Der Türke riss ihm rasch den Stock aus der Hand und schlug ihn damit so heftig nieder, dass seine Kleidung und sein Gesicht ganz blutig wurden. Dann ging der Türke wieder seines Weges zur Steppe. Schließlich erhob sich Loqmān beschämt; seine Kleidung und sein Gesicht waren mit Blut gefärbt wie ein Tulpenfeld. Blutüberströmt kehrte er in die Stadt zurück, wo ihn die Leute umringten. Jemand fragte ihn: «Wie ist deine Schlacht verlaufen?» Er antwortete: «Schlecht oder gut, jedenfalls ist Blut geflossen.»  – «Wer hat denn gewonnen?» – «Schau dir mein Gesicht und meinen zerrissenen Flickenrock an! Da ich mich in der Schlacht mannhaft geschlagen habe, ist mein Gesicht jetzt rot wie eine Rose. Sieh doch, wie blutüberströmt ich bin, und frage nicht weiter! Sieh mein Gesicht und meine Kleidung, und frage nicht weiter! Er hat es nicht gewagt, es selbst mit mir aufzunehmen; deshalb ist Er mit dem Türken als Verbündeten angetreten.»

Vierunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Jesus

Der Pilger ging mit gebrochenem Herzen und auf der Suche nach Heilung halbtot zum Geist Gottes.1 Er sprach: «O du, dessen Wesen reiner Geist und dessen Wunderzeichen das ­Leben im Leben ist, du bist in alle Ewigkeit Sieg und unbeschränkte Gnade, vom Scheitel bis zur Sohle absoluter Geist. Die Strahlen der Sonne sind nur ein Widerschein deiner Seele; das Wasser des Lebens kommt aus deiner Handwaschung. O du, dessen Platz jenseits von Akzidens und Substanz ist, in der Reinheit steht niemand über dir. Als der Atem des Barmher­ zigen dich erfüllte, wurden die Sonne und der Morgen deine Gefährten. Du brachtest die «Färbung Gottes» aus dem Inneren, aus dem Fass der Einheit2 herbei. Der Färbung Gottes machtest du den Weg frei, so dass du Aussätzige heiltest und Blinden das Augenlicht gabst.3 Auch wenn ich deine Färbung nicht erkennen kann, werde ich nicht zurückkehren, denn ich brauche Seinen Duft. Du bist die Welt der Seele; gib mir eine Seele! Wenn ich nur ein Hund bin, gib mir einen Knochen! Ich brenne von dem Wunsch nach Leben. Da du Leben und Gottesknechtschaft bist, bin ich gekommen, damit du mich zum auserwählten Diener machst und mich mit einem Atom deiner ­Ergebenheit belebst.» Jesus, der Sohn Marias, dachte einen Atemzug lang nach und ernüchterte den Trunkenen des Pfades mit seinem Atem. Er sagte: «Du musst dich von deinem Sein lossagen und aus der Zerstörung deines Selbst hundert Bauwerke errichten. Reinige dich von der Existenz des Wesens und von den Eigenschaften, damit du Reinheit und Erlösung findest. Bleibt auch nur ein Atom des Seins auf deinem Weg, ist dein Weg in Wirklichkeit Götzenverehrung. Wenn du deines eigenen Wesens entwerden



1. Jesus und der tote Hund307

willst, brauchst du das Seelenlicht Mustafās, um durch dieses Licht ein Herrscher zu werden und auf ewig der Gotteserkenntnis würdig zu sein. Ich, der ich als Künder für ihn gekommen bin, habe seine Botschaft nicht vollendet. Geh zu seiner Tür – das genügt dir als Botschaft; sein Staub zu werden, genügt dir als Reinigung!» Der Pilger kam zu dem Meister alles Seins und erzählte ihm die ganze Geschichte. Der Meister sprach zu ihm: «Jesus hat wirklich den Vorrang in Güte, Gnade und Reinheit. Weil er so aufrichtig war, sah er Gift als Heilmittel an; weil er so rein war, sah er alles als rein an.» 1. Jesus und der tote Hund Ein toter Hund lag am Wegesrand; der Tod hatte ihm den ­Kiefer geöffnet. Er verströmte einen wirklich üblen Gestank. Als Jesus, der Sohn Marias, an ihm vorbeikam, sagte er zu einem Gefährten: «Der Hund gehört Ihm. Sieh nur, wie weiß seine Zähne sind!» Er nahm weder das üble Aussehen noch den Gestank des Hundes wahr; in all dem Schlechten sah er nur das Gute. ­Mache es zu deiner Gewohnheit, das Reine zu sehen, wenn du Sein Diener bist; sieh das Reine, wenn du der Diener Dessen bist, Der alles sieht. Sieh alles als gleichfarbig und gleichwertig an; sieh den Edelstein im Kopf der Schlange,4 nicht ihr Gift. Wähle Güte und Wohltätigkeit, Freundlichkeit und Treue! Wenn du Gott kennst, dann diene Ihm und danke Ihm für Seine Wohltaten. Jahr und Monat genießt Du Seine Wohltaten, aber die Dankbarkeit für Seine Wohltaten vergisst du. 2. Der abergläubische Dieb Ein vorsichtiger Dieb schlich sich mit einem Gefährten des Nachts in ein Haus, um zu stehlen. Plötzlich sagte er zu seinem Freund: «Lass uns schnell wie Rauch aus diesem Haus verschwin­ den!» Der Freund fragte ihn: «Was ist denn jetzt los? Hier ist doch niemand wach; warum willst du verzichten?» Er antwor-

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34. Der Pilger geht zu Jesus

tete: «Ich suchte, ob etwas da sei, und da ist mir ein Stück Brot in die Hand gefallen. Ich habe es, ohne weiter nachzudenken, in den Mund gesteckt. Als ich es gegessen hatte, ist mir schließlich aufgegangen, dass ich in dem Haus jetzt Brot und Salz ­gegessen habe. Wenn du hier noch feindselig bist, wirst du vom Himmel verstoßen werden.» Die Vollkommenen haben auf ihrem Pfad vieles durch­ gemacht; sie haben Dienst geleistet und Dankbarkeit gezeigt. Sie sind in der Dienstbarkeit zum Herrscher und zu den besten Geschöpfen der Welt geworden. Es braucht Knechtschaft und Brunnen und auch Gefangenschaft, damit du in Ägypten wie Joseph verehrt wirst. Wenn du wie Dschaʿfar5 sein willst, dann sei aufrichtig! Wenn du wie Maʿschūq werden willst, dann liebe! Werde wie Hasan6 im Wissen und in der Tat, ­damit du zu den Schönen zählst. Spiel weniger  – wie lange willst du die Würfel noch werfen? –, damit du wie Kaʿb7 alle keiten überwinden kannst. Nichts Neues kommt Schwierig­ von dir wie von Rabīʿ.8 Wenn der Herbst der Seele dahingegangen ist, dann ist Frühling. Werde ein Barbar wie Habīb,9 aber kein Fremder, damit du durch deinen Eifer Geliebter genannt wirst. Wenn du Gott kennen willst wie Maʿrūf,10 dann werde schnell ein Wohltäter und Wissender. Willst du wie Ibrāhīm schwarz werden, brauchst du die leuchtende Frömmigkeit. Wenn dir wie ath-Thaurī im Herzen eine Flamme aufgehen soll, entferne den Aszendenten des Stiers aus deinem Gehirn.11 Wenn du wie der Pfau zu Yamānī werden willst, musst du die Federn eines Tāwūs der spirituellen Bedeutungen haben.12 Wenn du den Rang eines Fath erlangen willst, bemühe dich um einen Sieg – und Schluss!13 Wenn du es leicht haben willst, dann sei dessen würdig! Wenn der Glaube dir leicht wird, dann sei wie Sahl.14 Wenn du im Glauben die Führung hast wie Sarī, dann gib deine Führung ab wie jener Sarī.15 Wenn du brennst wie Schah Kermānī, dann bist du der König von Kermān und von Nīmrūz.16 Wenn du etwas vom Schenken verstehst, nicht von Erwerb und Vergeltung, dann bist du ein Abū-l Fadl und Ibn ʿAtā.17 Wenn du die Vollkommenheit und die Reinheit eines Nūrī ersehnst, musst du dich vom



3. Mose, die Taube und der Falke309

dunklen Gold fernhalten.18 Nicht jeder Eigen­tümer von Dinaren hat den Rang eines Mālek Dīnār.19 Wenn du nicht bleibst, würdest du so lange bleiben, wenn du nichts weißt, würdest du so viel wissen. Wenn du etwas weißt, spiele nicht den Unwissenden, aber tue auch nicht alles, was du tun könntest! Schlage den Weg der Güte, der Barmherzigkeit und der Zärtlichkeit ein; nimm diesen Weg um deiner eigenen Rechtschaffenheit willen! Du bist nur ein Staubkorn, aber wenn deiner Seele Barmherzigkeit zuteilwird, wird dir der Rang der Familie ʿImrāns20 verliehen. 3. Mose, die Taube und der Falke Eine liebliche Taube hatte sich im Ärmel Moses versteckt. Ein stolzer Falke verfolgte sie und sagte: «Mose, gib mir diese Beute heraus! Sie ist mein Lebensunterhalt; verbirg sie nicht vor mir! Sei gnädig; gönne mir mein täglich Brot!» Das erstaunte Mose, den Sohn ʿImrāns, und wie seltsam  – es war auch wirklich erstaunlich. Mose dachte: «Die eine steht unter meinem Schutz, und der andere ist hungrig; das ist schwierig. Was soll ich tun, um sie vor dem Feind zu schützen? Ihr Feind ist hungrig – was soll ich tun?» Dann sprach er zum Falken: «Brauchst du vielleicht etwas anderes? Brauchst du Fleisch oder diese Taube?» Der Falke antwortete: «Wenn ich ein Stück Fleisch hätte, wäre ich zufrieden. Das wäre mir lieber als die Taube.» Da verlangte Mose von seinem Gastgeber ein Messer, um ein Stück aus seinem eigenen Schenkel herauszuschneiden. Doch als der Falke dessen gewahr wurde, nahm er, o Wunder, die ­Gestalt eines Engels an und verschwand. Die Taube sagte: «Wir sind beide Engel und müssen uns bis in alle Ewigkeit nicht um Essen und Schlaf kümmern. Gott hat uns nun geschickt, um die Menschen zu erkennen, die zum Himmel gehören. Du hast dich als mitfühlend in deiner Gnade und barmherzig im ­Glauben erwiesen.» Wer sein Auge der Barmherzigkeit geöffnet hat, ist in Seiner Nähe mit Seinem Geheimnis vertraut geworden. Solange er

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34. Der Pilger geht zu Jesus

lebt, ist seine Lehre die Vergebung; ohne Großmut wäre er ­keinen Augenblick ruhig. 4. Der König und die Kriegsgefangenen In einer siegreichen Schlacht machte ein gerechter König zahllose Gefangene. Er fragte seinen Wesir: «O Wesir, was rätst du mir, mit diesen vielen Gefangenen zu tun?» Da antwortete der Wesir: «Weil Gott, der Gerechte, dir das gegeben hat, was dir am liebsten ist, nämlich den Sieg, so tue nun auch das, was Gott stets am liebsten ist: Vergib ihnen allen!» 5. Der Prophet und die Ehebrecherin, die gesteinigt werden wollte Eine Frau, die Ehebruch begangen hatte, geißelte ihren Körper aus Reue bis aufs Blut. Die Unglückliche bereute ihre Tat so sehr, dass sie sich viele Qualen zufügte. Schließlich ging sie zum Propheten und erzählte ihm voller Scham ihre Geschichte. Doch der Prophet wandte sich vom Weg ab und ging in die ­entgegengesetzte Richtung. Dann wandte er sich wieder um, und aus der anderen Richtung kam ihm die Frau entgegen. Sie erzählte ihm unter vielen Tränen ihre Geschichte und verlangte vom Propheten ihre Steinigung. Mustafā aber sagte zu ihr: «O du verwirrte Seele, jetzt ist nicht die Zeit für deine Steinigung. Du musst dich erst von der Menstruation reinigen und ge­ bären, denn du könntest ein Kind bekommen.» Immer noch vor Kummer brennend, ging die Frau fort und wurde auf Befehl des Schöpfers schwanger. Sie musste ihr Leid und ihren Gram ertragen, bis sie endlich ein Kind gebar. Sie brachte ihr Kind zum Propheten und sagte: «Erlöse mich arme Frau!» Doch Mustafā sagte zu ihr: «Geh und gedulde dich, bis du dieses Kind von der Milch entwöhnt hast. Denn obwohl auch andere Milch süß ist, ist keine so geeignet wie deine.» Die Frau ging fort und fügte sich in ihr Unglück, bis das Kind ihrer Milch entwöhnt war. Erneut brachte sie das Kind zum Propheten und sagte: «Nehmt diese Frau hinweg! Wie



5. Der Prophet und die Ehebrecherin311

lange soll ich noch leiden? Ich habe keine Kraft mehr. Das Feuer meines Herzens hat mir die Leber ausgetrocknet.» Mustafā erwiderte ihr jedoch: «Die Zeit ist noch immer nicht gekommen. Es gibt in der Gemeinde noch keinen Vormund für das Kind. Es gibt hier niemanden, der es, bis es sieben Jahre alt ist, vor Wasser und Feuer schützen könnte. Da es niemanden hat, bist du am geeignetsten. Wenn du ihn noch sieben Jahre behältst, ist das genug.» Nun erklärte sich indes jemand bereit, als Vormund den Jungen in seine Obhut zu nehmen. Das gefiel Mustafā gar ­ nicht, weil die Angelegenheit heikel wurde. Weil jemand die Vormundschaft für den Knaben übernommen hatte, musste die Frau nach dem Gesetz sogleich gesteinigt werden. Mustafā ­befahl den Leuten, dass sie alle vom Weg Steine aufheben sollten. Schließlich steinigten sie die Frau, bis sich die aufrichtige Büßerin nicht mehr bewegte. Der Prophet ging auf Fußspitzen hinter dem Sarg der Frau her und sagte: «Dieser Weg ist mit dem Aufruhr der Engel gepflastert; man darf ihn nicht beschreiten. Eine derartige Reue hat noch nie jemand gezeigt; diese Frau war in Wirklichkeit mannhaft.» Als der Prophet das Totengebet verrichtet hatte, begrub er schließlich die Tote und kehrte zurück. In jener Nacht sah der Prophet die Frau im Traum und fragte sie: «Was hat Gott mit dir gesprochen?» Da sagte sie: «Gott hat gesagt: Wusstest du denn nicht, dass Ich die Propheten ­gesandt habe, damit sie das Fundament für das Gesetz legen? Was Ich befahl, führten sie aus. Und weil Mohammed der Treuhänder der Zeit war, konnte er die Steinigung nicht abwenden. O du, die du wegen eines Rechtsverstoßes gesteinigt worden bist, du lagst mit Gott selbst im Streit. Du bist zehnmal zum Propheten gegangen, aber du kanntest den Weg zu Mir nicht. Wenn du dich nur einmal insgeheim an Mich gewandt hättest, wärst du von deiner Sünde freigesprochen worden. Ich hätte dann Gabriel geschickt und dir auf ewig den Erlass der Vergebung überreicht.»

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34. Der Pilger geht zu Jesus

6. Abraham und der Ungläubige Ein Ungläubiger wandte sich an den Gottesfreund und sagte: «Gib mir Bedürftigem ein Stück Brot!» Abraham antwortete: «Wenn du gläubig wirst, bist du auf dem richtigen Weg. Du kannst dir dann alles von mir wünschen, was dein Herz begehrt.» Als der Ungläubige diese Worte Abrahams hörte, ging er fort. Im gleichen Augenblick erschien Gabriel und sagte: «Gott lässt dir sagen: Woher hat dieser Ungläubige bisher stets sein Brot bekommen? Er, der an so vielen Orten Brot bekommen hat, hat es vom Herrn der Welt bekommen. Jetzt hat er an deiner Tür um Brot gebettelt, doch du hast dich geweigert und ihn hungrig weggeschickt. Da du der ständige Freund des Schöpfers bist, sei gegenüber Seinem Freund ebenso freigebig wie Er. Wenn du frei von Geiz sein willst, dann sei großmütig, weil du Mein Freund bist.» O Herr, sieh diese Gnade und Barmherzigkeit! Sieh diese Zierde über der Unreinheit! Wenn Gott dir so viel Güte erweist, wie kann man vor der Sünde Angst haben? Denn wenn dieses Meer vor dir aufwallt, wird alles Gute und Böse ver­ gessen. 7. Dhū-l Nūn und Gottes Großmut Dhū-l Nūn sagte: «Wenn Er, der das Geheimnis kennt, den Teppich Seines Großmutes ausbreitet – und wären die Sünden der Ersten und der Letzten mehr als die Himmel und die Erde –, würden die Sünden an den Rändern dieses Teppichs alle auf ­einen Schlag verschwinden.» Wenn die Sonne nur einen Augenblick ihr Licht verstreut, verschwinden hundert Welten der Finsternis. Wie könnte ein Tropfen, auch wenn er stark durch Sünde verunreinigt ist, in einem solchen Meer sichtbar werden? Nicht nur die Frommen werden dort angenommen, auch die Schwachen und Unzulänglichen.



8. Sofyān ath-Thaurī verkauft vier Pilgerfahrten313 8. Sofyān ath-Thaurī verkauft vier Pilgerfahrten für einen Seufzer

Einem Jüngling entging die Pilgerfahrt, und aus seinem Herzen stieg ein lauter Seufzer auf. Sofyān ath-Thaurī war dort, und da ihn das auch bekümmerte, sagte er zu dem Jüngling: «O du Trauern­der, ich habe schon vier Pilgerfahrten zu dem Heiligtum gemacht, doch für diesen Seufzer würde ich sie verkaufen.» Der Jüngling sagte: «Ich kaufe sie.» Sofyān verkaufte sie ihm, und beide waren zufrieden. In der nächsten Nacht, o Wunder, träumte Sofyān, dass Gott, der Erhabene, ihm folgende Botschaft schickte: «Dieser Handel hat dir großen Nutzen gebracht, und deine Tat hat Frucht getragen. Alle deine Pilgerfahrten wurden zu deinen Gunsten angenommen; du bist mit Gott zufrieden und Er mit dir. Die Kaaba ist jetzt der Staub deiner reinen Seele; die Pilgerfahrt hängt heute an deinem Sattelgurt.»21

Fünfunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zu Mustafā

Der Pilger begab sich nun mit einer von Ergebenheit wie von Wellen geschüttelten Seele zum Oberhaupt und Mond der Welt, Mustafā. Dort verlor er seine Fassung, streute sich Staub auf den Kopf und wälzte sich im Blut. Er sagte: «O Herrscher im Palast des Glaubens, der du der auserwählte Gesandte des Herrn der Weltbewohner bist! O du, der du das Herz all derer, die den Glauben verbreiten, erleuchtest und der du der Feldherr aller Propheten bist! O du, der du der Lehrer der Engel in gutem Benehmen bist und den Himmel die Suche nach der Rechtleitung lehrst! O du, dessen Antlitz Mond und Sonne ­widerspiegeln und in dessen Straße der Gottesthron und der Fußschemel der Bogen sind! Du bist das Ziel der Schöpfung; da du der Ursprung bist, bist du auch das Sein. Du bist der Beste von allen; durch deine Würde wurde deine Gemeinde die beste der Gemeinden. Deine Stadt ist die beste der Städte, und das beste Jahrhundert kam um deinetwillen. Das beste aller von Gott gesandten Bücher ist das deine. Die beste der Sprachen ist uneingeschränkt die deine, und das beste Haus ist das Haus Gottes. Es ist für dich Gebetsrichtung und Refugium zugleich. Zu dir, o Bester der Besten, kam ein Samentropfen aus dem ­verächtlichen Wasser. Auch wenn ich unwürdig bin, gehöre ich doch dir; seit langem bin ich dein verwirrter Liebender. Auch wenn ich zahllose Male gefehlt habe – verstoße mich nicht aus deiner Gemeinde! Wer an deiner Tür stand, für den gibt es ohne Zweifel niemals mehr eine andere Tür. Wem deine Tür nicht geöffnet wird, dem wird auf ewig keine andere Tür mehr geöffnet. Auch wenn der Weg zu dir von Anfang bis Ende voller Licht ist, ist er beschwerlich und sehr weit. Auf dem Weg zu dir habe ich an alle Türen geklopft, bis ich an deiner Schwelle ange­



35. Der Pilger geht zu Mustafā315

kommen bin. Ich bin von Tür zu Tür, von Ort zu Ort geirrt, um für den Weg zu dir Wegzehrung zu erhalten. Von all den Türen auf dem Weg zu dir ist für mich deine bis in alle Ewigkeit das Ziel. Da ich nun mit deiner Hilfe diese Tür erreicht und mir das Gesicht mit dem Staub deiner Schwelle bedeckt habe, würde ich dir, wenn du meiner Seele ein Atom von Augenschein gäbest, meine Seele aus tiefstem Herzen geben. Da beide Welten in ­deinem Schatten erblühen, drehen sich Erde und Himmel um dich; wohin außer an deine Tür sollte ich mich wenden? Mich ohne deinen Befehl zurückzuziehen wäre Unglaube. Da das Paradies nirgendwo anders als hier zu finden ist, ist Hoffnungs­ losigkeit nicht angemessen. Heile meinen Mangel mit deiner Rechtleitung; gewähre mir Gnade, und mach mich froh!» Als der auserwählte Prophet, der Herrscher im Glauben, das Geheimnis dieses Verwirrten im Glauben hörte, sah er, dass der Pilger bedrückt war. Er bekam Mitleid, lächelte und sagte: ­«Solange du dich mit dir selbst beschäftigst, findest du den Weg nicht. Du hast keinen liebenden Verstand und keine wissende Seele. Solange du auch nur ein Haar deines Selbst noch besitzt, gibt es für dich nur Trunkenheit und Sehnsucht. Aber wenn du nach Armut1 und Entwerden strebst, musst du im Sein Gottes zu nichts werden. Werde ein verlorener Schatten in der Sonne; werde zu nichts! Gott weiß am besten, was richtig ist. Der Weg zu dieser Station führt dich nur in dein eigenes Herz. Wenn du zu den wahrhaften Menschen gehören willst, dann suche die Verbindung zu den ekstatischen Mystikern. Als Erstes musst du die Sinneswahrnehmung überschreiten, dann die Vorstellungs­ kraft, dann den Verstand und dann auch das Herz. Den Zustand erlangt man auf der Stufe der Seele; auf der Stufe der Seele wird dir alles leicht werden. Fünf Stationen liegen in deinem­Wesen; in Wahrheit sind sie von links nach rechts alle in dir. Die erste Station ist die der Sinneswahrnehmung; die zweite die der Vorstellungskraft; die dritte die des Verstandes, ein Ort des Streits. Die vierte Station ist der Ort des Herzens; die fünfte die der Seele, zu welcher der Weg schwierig ist. Wenn du dein inneres Wesen so kennengelernt hast, hast du deine Seele für die Erkenntnis Gottes gegeben. Wenn du alle fünf Stationen

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35. Der Pilger geht zu Mustafā

durchlaufen hast, wirst du der Kuttenträger der sieben Sphären sein. Dann wirst du dich immer ohne Selbst betrachten und Verstand und Seele ganz ohne Verstand und Seele sehen. Alles wirst du mit anderen Augen sehen; du wirst alles hören und bist doch taub. Auch was du sagst, kommt nicht von deiner Zunge, du bleibst am Leben, aber dein Leben ist nicht das. Wenn du wissen willst, was die Quelle dafür ist – es ist: ‹Durch Mich sieht er und hört er.›2 Wenn du dich dann in der Gottesschau auflöst, bist du kein Mensch mehr, o Menschgewordener. Als Mose in jener Stunde ohnmächtig wurde, stürzte er schweigend in Nichtsein und Sein. Wende dich nicht der Seelenwanderung zu, wenn du den Weg gehst; du geh zur Offenbarung, damit du wissend gehst! Wenn du diese Station erreicht hast, gib alles auf! Wenn ich dir alles sagen wollte, würde es lange dauern, denn da der Weg zur Seele ohne Ende ist, hat seine ­Beschreibung weder Grenze noch Ziel. Welche Arten von Geheimnissen du dort siehst, könnte in hunderttausend Jahren nicht beschrieben werden. Wenn du selbst dort ankommst, wirst du alles sehen; alles über Welt und Glauben wird dir enthüllt. Geh also jetzt und setze deinen Weg fort; reise durch die fünf Täler in deinem Inneren! Wenn du die äußeren Zeichen ­geschaut hast, gürte dich mit den inneren Zeichen.3 Lass jedem einzelnen deiner Glieder Gerechtigkeit widerfahren; unter­ drücke und verurteile deine Triebseele. Denn morgen wird Gott jedes deiner Glieder, auch die kleinsten, befragen.»4 Als das Herz des Pilgers mit dem Geheimnis vereint war, ­verneigte er sich und zog sich zurück. Der Pilger suchte den verehrten Meister auf und erzählte ihm alles über dieses Erlebnis. Der Meister sprach zu ihm: «Mustafā hat stets recht; er hat den Vorrang in der bewohnten Welt. Der Gipfel der Armut ist die ihm eigene Sonne; seine Ehre in beiden Existenzen hat er von seiner Aufrichtigkeit. Wenn Armut völlige Besitzlosigkeit bedeutet, so ist sie doch zugleich Nähe zu Gott. Welch eine ­Armut, dass einem beide Welten auf ewig gehören! Weil der wahre Arme vor nichts sein Haupt beugt, flieht er auch nicht vor der Armut. Von einem Ende der Welt zum anderen sind alle Geschöpfe die Gäste der Gottesmänner. Alles, was vom krei-



1. Mustafā und der Jude317

senden Himmelsgewölbe kommt, ist für die Seele dieser Männer bestimmt. Ost und West deckten den Geschöpfen der Welt den Tisch für die Kenner des Geheimnisses. Doch wie seltsam, sie selbst sind wegen eines Stücks Brot Tag und Nacht in Aufruhr.» 1. Mustafā und der Jude Als Mustafā von der Himmelsreise zurückkehrte, wollte er sich von einem Juden Gerste leihen. Er wollte die Gerste als Nahrung, doch der Hund von Jude verlangte von ihm ein ­ Pfand dafür. Dem Propheten waren beide Welten, die er in jener Nacht geschaut hatte, nur als ein Hirsekorn erschienen, und am nächsten Tag hatte er nicht einmal ein mann Gerste. Da das Haben und Nichthaben für ihn gleich sind, unterliegen beide Welten seinem Befehl. Du hast einen Mangel im Glauben, o Kraftloser; was weißt du schon vom Geheimnis der Armut der Nachtgänger? Das Geheimnis der Armut hat auch Adams Seele entzündet; deshalb hat er acht Paradiese für ein Weizenkorn verkauft. 2. Der Scheich, der Gottes Nähe suchte Es war einmal ein großer und berühmter Scheich. Dieser bedeu­ tende Mann träumte, dass er auf einem Weg ging, der wie der Mond leuchtete, und ihm unterwegs ein Engel entgegenkam, der ihn fragte: «Wohin willst du gehen?» Er antwortete: «Mein Ziel ist Gottes Palast.» Darauf sagte der Engel: «Du solltest dich schämen! Du beschäftigst dich mit so vielen Dingen, hast so viele Mittel und Güter; und dann steht dir der Sinn nach Gottes reiner Gegenwart? Du hängst an deiner Habe, mein ­Lieber; nun strebst du auch noch die Nähe Gottes an? Wie könntest du mit all den Ankern, die an dir hängen, in Gottes Licht versinken?» Am nächsten Tag war der Mann ganz verzweifelt vor ­Kummer und verschenkte alles, was er besaß, Stück für Stück. Nur ein Stück Filz behielt er, um sich ein Gewand zu nähen; ­alles andere gab er fort. Als in der darauffolgenden Nacht der

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35. Der Pilger geht zu Mustafā

mutige Mann eingeschlafen war, erschien ihm erneut der Engel im Traum und sagte: «Wo willst du denn jetzt hin?» – «In die Nähe des Herrn der Weltbewohner.»  – «Dorthin gehst du, Unverständiger? Mit solch einem abgetragenen Filzgewand ­ gehst du dorthin? Gehe nicht mit dem Filz, o du Gotteskenner! So etwas kannst du dir bei dem Gott des Universums nicht ­erlauben. Eine Nadel hat schon Jesus den Weg versperrt,5 und du machst dir einen Panzer aus Filz?» Am nächsten Tag entzündete der Mann ein Feuer, warf das Filzgewand hinein und verbrannte es. In der folgenden Nacht sah er schließlich im Traum, wie der Engel auf ihn zueilte und sagte: «Wohin willst du jetzt, Ruhmreicher?»  – «In Gottes, des Allmächtigen, Nähe.» – «O mutiger Mann, da du all dein Hab und Gut verschenkt hast, setz dich jetzt hierhin und harre aus! Wenn du hier sitzen bleibst, wird der König kommen. Da du dich immer nur Gott zugewendet hast, wird Er jetzt zweifellos selbst zu dir kommen. Reinige dich von allem, was du besitzt, und entsage allem, damit Gott dich in Reinheit empfängt.» Solange dir nicht der Gipfel der Armut erstrahlt, wird dir Gottes Nähe nicht zuteil. Der Gipfel der Armut ist das Höchste von allem; die herzzerreißende Armut ist das Heilmittel für ­alles. Wenn du nicht wie der Prophet stolz auf deine Armut bist, ist dein Glaube Vielgötterei und deine Tugend Anmaßung. Die Armut steht wie die Kaaba auf vier Pfeilern; der fünfte ist nichts anderes als Gottes Wesen. Zur Zeit des Propheten standen seinen Gefährten diese vier Pfeiler immer klar vor ­ ­Augen: Hunger, Kühnheit, Demut und Exil. Wenn diese vier überwunden werden, erscheint der fünfte, die Nähe. Ihnen ­allen wurde auch ohne Hunger keine Ruhe zuteil, aber keiner strebte nach Brot oder Ruhm. Alle Gefährten setzten ihr Leben aufs Spiel; sie waren Liebende, mannhaft und unerschrocken. Für sie alle bestand Größe in Demut; deshalb war jeder Teil von ihnen ein Ganzes. Alle fanden ihre Heimat in der Fremde; sie hatten ihre Habe und ihre Existenz aufgegeben. In ihrer ­Armut waren sie Könige; sie wurden die besten Geschöpfe beider Welten. Aus der Wüste, wo Räuber ihren Fuß im Steigbügel haben, retten sich dann alle Herren aus Liebe zu ihrem Turban



3. Bāyazīd und der Hund319

in ihre Häuser. Wenn du ein Vogel der Liebe und ein Mann des Pfades bist, dann bitte Gott um hunderttausend Augen, damit du mit jedem dieser Augen dein Leben betrachtest und dich selbst als Zwitterwesen siehst. Immer wieder eine neue Verleumdung von dir; an jeder deiner Haarwurzeln ein anderer Christengürtel: Wenn du das mit all diesen Augen gesehen hast, bitte um hunderttausend Ohren, damit du mit jedem dieser Ohren Tag und Nacht von Gottes Schwelle klar und deutlich hörst: «O Zwitterwesen, hier hast du keinen Zutritt. Gottes Liebe hat mit Zwittern nichts zu schaffen.» Ein Mann braucht weder Kopf noch Fuß; er muss alles in sich und sich selbst in Gott verloren haben. Solange noch ein Atom des Egos in deiner Armut bleibt, wirst du ewige Sicherheit nicht finden. 3. Bāyazīd und der Hund Als Bāyazīd frühmorgens aus dem Haus ging, schloss sich ihm unterwegs ein Hund an. Der Scheich raffte sein Gewand, weil er den Hund als ein unreines Wesen ansah. Da sagte der Hund in der Sprache des Zustandes: «Wenn ich trocken bin, brauchst du dich nicht von mir abzuwenden, und wenn ich nass bin, so werden, o Makelloser, sieben Wasser und etwas Erde zwischen uns auf Dauer Frieden stiften. Du hast leichten Umgang mit mir; was befürchtest du? Dein Umgang mit dir selbst ist ge­ fährlicher. Wenn du dich selbst auch nur etwas beschmutzt, brauchst du hundert Ozeane für die Reinigung vor dem Gebet. Aber auch dann wird deine Unreinheit nicht rein; rein wirst du durch mich mit Wasser und Sand. Anstatt dein Gewand vor mir in Sicherheit zu bringen, solltest du dich vor dir selbst ­hüten.» Der Scheich antwortete: «Deine Unreinheit ist offensichtlich, aber die in meinem Inneren ist verborgen. Lass uns beide zusammenleben; vielleicht erreichen wir auf diese Weise Reinheit. Wenn sich an zwei Orten unreines Wasser vermischt und es die Menge von zwei großen Eimern erreicht, wird es rein. Sei mein Gefährte, o du, dessen Äußeres meinem Inneren gleicht, damit mein Herz durch Reinheit sicher ist.»

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35. Der Pilger geht zu Mustafā

Da antwortete der Hund: «O ehrwürdiger Führer, ich tauge dir nicht als Gefährte, denn ich bin in dieser Welt ein Ausge­ stoßener; du dagegen bist in der Welt anerkannt. Wen ich auch sehe, er verprügelt mich oder tritt mich mit Füßen, bewirft mich mit Steinen oder schlägt mich mit dem Knüppel. Wen aber du siehst, wird zu Staub vor dir und dankt Gott für deinen reinen Glauben. Für morgen habe ich, seit ich auf der Welt bin, noch keinen Knochen für mich beiseitegelegt. Doch wenn du auf dem Pfad ein Zweifler bist und zwei Fässer Weizen als Vorrat aufgespart hast, hat dann deine Sorge darum, ob du morgen noch Weizen hast, ein Ende?» Als der Scheich das hörte, tat er viele Seufzer. Er verließ ­seinen bisherigen Weg, wendete sich dem Pfad zu und sagte: «Ich bin in meiner Dummheit nicht einmal würdig, der Gefährte Seines Hundes zu sein. Wie kann ich, mit einem solchen Makel behaftet, der Gefährte des Ewigen und Unsterblichen sein?» Solange es für dich noch ein «Ich» oder «Wir» gibt, wird es für dich kein Heil geben. Doch wenn du dich vollständig vom «Wir» und «Ich» befreit hast, bist du auf ewig in beiden Welten vollkommen – und Schluss! 4. Ein Sufi vor Gericht Ein armer Sufi brachte wegen eines Streits seinen Gegner vor Gericht. Nachdem der Sufi dort seine Klage vorgebracht hatte, forderte der Richter einen Zeugen, um sie zu beweisen. Darauf ging der Sufi fort, um die Angelegenheit zu vollenden, und brachte mehrere Sufis als Zeugen herbei. Der Richter aber sagte zu ihm: «Du brauchst noch weitere Zeugen.» Da holte er noch zehn weitere Sufis. Doch wieder sagte der Richter: «O du unaufrichtiger Mann, bring keine weiteren Sufis hierher, denn jeder Sufi, den du bringst, zählt immer nur als einer, auch wenn du hundert bringst. Weil es in dieser Gruppe keine Anzahl gibt, bring zwei Zeugen, die nicht zu dieser Gruppe gehören. Denn diese Gruppe ist wie ein einziger Körper; ‹Ich› und ‹Wir› zählt bei ihnen nichts.»



5. Hüte dich vor den Sufis!321

Wer sich nur einen Augenblick bei ihnen aufhält, wird bis in alle Ewigkeit auf dem Pfad sein. Sein Name wird in beiden Welten verschwinden wie ein Tautropfen im Meer. 5. Hüte dich vor den Sufis! Eine Frau hatte ihr Kind verloren, und vor Schmerz blutete ihr Herz. Unruhig lief sie durch die Straßen und klagte heftig aus Kummer über ihr Kind. Ein Sufi sagte zu ihr: «Weine nicht, gute Frau! Nimm es hin und betrachte es als gutes Omen! Sei nicht betrübt, wenn du das Kind hier nicht mehr findest; du wirst es in der anderen Welt finden.» Als die Frau das hörte, wurde sie zornig und sagte: «Was sagst du da, Sufi? Schweig! Ich weiß nicht, ob alle, die hier verloren gegangen sind, sich morgen an den beiden Wegen treffen. Was ich aber weiß, ist, dass sich die Geschöpfe dieser Zeit nur in einer der beiden Welten aufhalten. Auch der Mensch und alle anderen befinden sich zweifellos entweder im Diesseits oder im Jenseits.» Der Sufi antwortete ihr: «Wisse, dass es von jedem, der sich nur kurz unter den Sufis ­aufgehalten hat, in beiden Welten auf ewig keine Nachricht, keinen Namen und kein Zeichen mehr gibt. Wer sich mit den Sufis einlässt, steht außerhalb beider Welten. Sorge dich also darum, ob das zarte Kind in die Gesellschaft der Sufis geraten ist. Dann wäre sein Name auf ewig ausgelöscht, und es fände in beiden Welten keinen Frieden.» Wer einen Augenblick lang Gottes Nähe erreicht hat, ist wie ein Tautropfen im Meer – ein Tropfen, der im Meer ertrinkt. Neben Gott erscheinen ihm beide Existenzen nur als Schwärze; er ist von sechs Seiten vom Wasser des Meeres umschlossen und stirbt mit durstigem Herzen in Seiner Straße. Suche Gottes Nähe, Freund, und gehöre nicht zu den Fernstehenden! Strebe nach Vereinigung, und zähle nicht zu den Verlassenen! Wenn du hier nicht in Seine Nähe gelangst, wird es in der anderen Welt schwierig werden. Wenn du die Stufe der Nähe Gottes und Vorrang vor den Gütigen erreichen willst, verzichte auf Nahrung am Tag und Schlaf in der Nacht. Vielleicht wirst du so Gottes Nähe finden.

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35. Der Pilger geht zu Mustafā

6. Der Reiche, der nicht schlafen konnte Ein reicher Mann wachte nachts über sein Geld und war auch tagsüber voller Unruhe bei der Arbeit. Da er die langen Nächte in den Tag hineintrug, verkürzte er wie die Nächte auch den Tag. Tag und Nacht schwanden ihm Geduld und Ruhe dahin; wie hätte ein solcher Mensch schlafen können? Er hatte eine Tochter, die sich sehr um ihren Vater sorgte. Sie sagte zu ihm: «Schlaf doch in der Nacht, und mach dir keine Sorgen! Während alle Geschöpfe schlafen, wachst du wie ein Stern. Warum schläfst du denn nachts nicht?» Er antwortete: «Schlafen ist kein Heilmittel für deinen Vater, denn ich fürchte einen nächtlichen Überfall, liebe Tochter. Wenn man in einem Flussbett schläft, kann, wenn man aufwacht, ein Unglück geschehen sein.» Ich weiß nicht, wer diese Männer sind, die keinen Augenblick untätig sein können. Wenn du ihre Sorgen nur einen ­Augenblick lang verspürtest, wäre dein Schmerz auf ewig unheilbar. Ihr Schmerz ist nicht erworben; er ist ein Geschenk. Wie könnte ein solcher Schmerz durch Erwerb geheilt werden? 7. Der Kummer des Derwischs Jemand sagte zu einem äußerst bedrückten Derwisch: «O du Wehklagender, wirf deinen Kummer vor die Tür, wie ich es getan habe.» Der Derwisch antwortete: «Ein solcher Kummer stammt nicht von mir. Jetzt klage ich Tag und Nacht, dass der, der mir den Kummer gebracht hat, ihn wieder wegnehmen kann. Der Kummer, den ich blutenden Herzens erleide, kommt nicht von mir; wie könnte ich ihn verjagen? Ich kenne keinen größeren Kummer auf der Welt als die Trennung. Hundert Welten des Kummers verschwinden in einem Atom des Kummers der Trennung.» Solange noch ein Atom von Sein in dir bleibt, stehen dir ­hundert schmerzhafte Trennungen bevor.



8. Als die Liebenden zu Königen wurden323

8. Als die Liebenden zu Königen wurden In einer Versammlung fragte ein gebildeter Mann Muhyīddīn Yahyā:6 «Warum hat Mustafā, der doch in beiden Welten einen so hohen Rang besitzt, gesagt: ‹Hätte mich doch Gott in Seiner Großmut nicht ins Dasein gebracht.› Denn alles war doch für ihn da; beide Welten sind nur Staub unter seinen Füßen. Warum hat er das gesagt; welche Weisheit erkennst du darin? Erkläre es mir, so gut du kannst!» Er antwortete: «Ein Junge und ein Mädchen vom Volk der Zigeuner wohnten in Zelten in der Steppe. Ihre Zelte standen so nahe nebeneinander, dass sie ­jederzeit zusammenkommen konnten. Sie waren beide von vollkommener Güte; sie waren schön und anmutig, alle beide trunken vom Antlitz des anderen und auf der Jagd nach seinen Haarlocken. Tag und Nacht brannten sie vor Liebe; schon Jahre und Monate waren sie ganz füreinander entbrannt. Sie lebten von der Schönheit des anderen und betrachteten einander beständig. Sie konnten sich keinen Atemzug lang trennen, weil die Liebe der beiden nicht gewöhnlich war. Schließlich brachte ihnen das Leben zahllose Schafe und Rinder ein. Beider Geschäfte wurden zahlreich, und ihre Schwelle wurde zum Platz von Macht und Pracht. Da jede Stunde ihr Ansehen wuchs, vermehrte sich auch die Zahl ihrer Herden und Diener. Schließlich zogen sie aus der Steppe in die Stadt. Dort konnten sie sich zwei stolze Paläste bauen und hatten Wächter und Kammerdiener. Sie verhielten sich wie die Könige der Welt, und ihr Einfluss überstieg den Himmel und vergrößerte sich be­ ständig. Aber deshalb entfernten sich die beiden herzerfreuenden Vögel immer weiter voneinander. Beide hatten alle Besitztümer und Geschäfte verloren. Ihre Verbindung verschwand; ihre Trennung wurde offenbar, und der Weg vom einen zum anderen wurde lang. Er blieb von ihr und sie von ihm getrennt; sie brannten in ihrer Trennung, und jeder Augenblick schmerzte sie auf andere Weise; niemand kannte ihren Schmerz. Es gab keinen Weg mehr zueinander, und beide sehnten sich nach Armut. Nun kamen die Feinde ihres Königtums. In der Armut wurden sie wie Milch und Zucker füreinander wieder frisch und

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35. Der Pilger geht zu Mustafā

schön. Sie hatten den Erlass des Königtums gelesen und waren vom Hellen ins Dunkle gefallen. In der Armut ging es ihnen viel besser, das Königtum war ihnen nicht zuträglich gewesen. In der Armut schenkten sie einander wieder Liebe: Im Königtum hatten sie nicht füreinander gesorgt. Das Königtum war dahin, ihr Wohlstand verschwunden. Armut war jetzt ihr einziger ­Ertrag. Sie verließen die Stadt und schlugen den Weg zurück in die Steppe ein. Da sie beide mittellos und bedürftig geworden waren, kehrten sie an ihren ursprünglichen Ort zurück. Wie vorher stellten sie beide zwei Zelte am gleichen Ort auf, und beide lebten, o Wunder, noch einmal unbeschwert miteinander. Beide hatten sich wieder ineinander aufgelöst und waren mit einem Atemzug von der ganzen Welt verschwunden. Sie waren vereint und hatten den Schatz der Seele wiedergefunden, die Mühe der Trennung war beseitigt. Stets fanden sie neues Vergnügen, mit jedem Atemzug wurden ihnen mehr als hundert Wonnen zuteil. Die zwei Vögel öffneten den Mund und bedankten sich immerfort bei Gott: ‹Vom Königtum sind wir in diese Armut zurückgekommen und sind ihr wieder vertraut ­geworden. Das Königtum wurde zur Falle für uns, denn es hat zwei Vögel voneinander getrennt. Die reine Seele hat uns zum Staub der Armut gemacht – Asche auf das Haupt des Königtums! Wenn doch dieses Königtum und dieser Reichtum nicht gewesen wären, dann wären wir nicht getrennt worden. Wenn doch nur diese Pauken und Banner nicht gewesen wären, ­hätten wir immer zusammen sein können. Wenn die ganze Welt «Sichersein» bedeutet, dann bedeutet das oberste Ziel «Zusammensein». Da wir beide jetzt wieder zusammengekommen sind, sind wir von allem befreit; so ist es, und das genügt.›»

Sechsunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Sinneswahrnehmung

Der Pilger, dessen Amme das Geheimnis der Heiligkeit ist, kam zur Sinneswahrnehmung, dem ersten Fundament, und sagte: «O du, deren Name Spion des Äußeren ist – im Inneren bist du stets ruhig. Die fünf Wachtposten der Welt gehören dir, und auch die sechs Richtungen unterliegen deinem Befehl. Dein Wesen ist vom Fuß bis zum Scheitel Ichbezogenheit; außerhalb des Ich ist dein Wesen nicht gesichert. Wo immer es Sein gibt, da ist dein Wesen; das Nichtsein liegt außerhalb deiner Emp­ findungen. Weil Ichbezogenheit unvereinbar mit der Nähe zu Gott ist, entsteht dir Ichbezogenheit durch die Gottesferne; da deine Gottesferne groß ist, dürstet es dich mehr als alles andere. Du bist die Amme des Verstandes; der wie ein Greis handelnde Verstand ist ein Säugling an deiner Brust. Ich sehe dich in beständiger Veränderung; ich sehe dich beständig den Verstand verstreuen. Solange du nicht im Äußeren wirkst, kann der Verstand im Inneren das Geheimnis nicht verstehen. Wenn durch Weisheit der Verstand das Geheimnis erkennt, muss er wieder an deine Schwelle zurückkehren. Enthülle mir dein Geheimnis, und verleih mir in der Armut ein königliches Ehren­ gewand!» Als die Sinneswahrnehmung diese Worte hörte, wurde sie betrübt, und die Kerze ihrer fünf Wahrnehmungen erlosch vor Gram. Sie sprach: «Da die Quelle der Ichbezogenheit mein ­Wesen ist, sind Vielgötterei und Ketzerei meine Merkmale. Wie könnte mich der reine Wein des Einheitsbekenntnisses erreichen? Und wenn doch, dann erreichte mich nur ein Hauch von Nachahmung. Ich habe hunderttausend Verzweigungen in alle Richtungen; wie könnte ich zu einer Gebetsrichtung und einem Antlitz werden? Wie könnte ich mich von der Vielheit lösen,

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36. Der Pilger geht zur Sinneswahrnehmung

wo ich beständig bis zum Hals in der Quantität stecke? Ich bin kein bisschen mit der Bedeutung vertraut; für mich gibt es nur das äußere Leben und das Diesseits. Wessen Leben nur im ­Äußeren stattfindet, der wird selten einen Hauch des Inneren erhaschen. Da ich keinen Hauch vom Geheimnis der Bedeutung­ habe, gehört die Sinneswahrnehmung zur Vielgötterei und ist dieser Straße nicht würdig. Wie könnte die mangelhafte Sinneswahrnehmung jemanden zur Vollkommenheit bringen? Wenn du ihr nicht entfliehst, gelangst du zur Sinnestäuschung.» Der Pilger ging zum Meister des Meeres und der Erde und erläuterte ihm in wahrhafter Weise seinen Zustand. Der Meister sagte: «Die Sinneswahrnehmung ist reine Ichbezogenheit; ihr Weg führt in das Tal der Unsicherheit. Ihre Welt ist durch und durch zerstückelt und gibt niemandem die geringste ­Gesammeltheit.» Wende dich von der Zerstreuung ab, mein Sohn, denn sonst ist deine Derwischkutte ein Schwindel. Das ewige Glück ist die Erkenntnis der Gesammeltheit; alles, was du erkennst, erkenne dadurch! Solange dich dein Ego in Fesseln hält, lässt dich dein Hochmut in die Irre gehen. Wenn dich deine Phantasien trunken machen, ist Staub die Antwort auf deinen Stolz. 1. Der Narr und der Pilger im Hedschas Als die Leute sich im Hedschas1 am Ende der Pilgerfahrt das Haupthaar schneiden ließen, fragte ein Narr auf dem Wege ­jemanden: «Warum schneidet ihr euch das Haar?» Einer antwortete: «Das Haar zu schneiden ist hier religiöser Brauch. Das Schneiden des Haars zu unterlassen, zieht Strafe nach sich.» Als der Narr das hörte, sagte er: «O du eitler, unbedarfter ­Pilger, wenn das ein religiöser Brauch ist, dann ist es sicher auch religiöse Pflicht, den Bart zu schneiden; denn in deinem Bart steckt so viel Aufgeblasenheit, dass es eine Plage für hundert­ offene Türen ist. Was ich erzählt habe, kommt euch hundertfach zugute, ist doch diese religiöse Pflicht besser als hundert religiöse Bräuche.» Wie lange willst du noch im Schlaf der Begierde liegen? Sei



2. Der Mann, der im Winter aussäte327

wachsam! Mach dich ans Werk wie die Hüter des Glaubens! Mach dich an die Arbeit; dieser Augenblick ist die rechte Zeit dafür. Dieser Augenblick hält hundert Welten für dich bereit, denn wenn du heute nicht den Samen auslegst, was willst du dann morgen in der Hitze tun? 2. Der Mann, der im Winter aussäte An einem verschneiten Tag ging ein Unwissender in die Steppe hinaus und sah einen merkwürdigen Mann, der den Schnee wegfegte und überall Körner in der Steppe verstreute. Der Schnee fiel ungestüm wie Feuer, aber er verstreute eifrig Körner für die kleinen Vögel. Da sagte der Unwissende zu ihm: «O du Dummkopf! Jetzt ist nicht die Zeit zum Säen; nichts wird wachsen. Wer sät in einer solchen Jahreszeit Körner aus? Wenn jemand sät, kann das nur ein Narr sein.» Der Mann aber antwortete ihm: «Was ich jetzt sage, ist nicht leichtfertig: Dies ist die Aussaat, und außer dieser gibt es keine Aussaat. Jetzt ist die Zeit meiner Aussaat, mein Sohn; wenn du das nicht weißt, bist du verrückt, mein Sohn. Ich werde diese Erde, in die ich die ­Samen lege, mit meinen Tränen bewässern, und ernten, wenn die Zeit gekommen ist, und jene Erde mit meinen Ochsen in die Scheune bringen.» Wie lange noch roh bleiben? Wo bleibt die Glut? Wie lange noch das Dunkel der Nacht? Wo ist der Tag? O du, dessen ­Gebet kein Gebet ist, dein Eifer ist nur Spiel. Wenn dein Gebet so voller Zerstreuung ist, lass es sein, denn das ist nur Heuchelei. 3. Der Sohn Adhams bedeckt sein Gesicht Nach dem rituellen Gebet pflegte der Sohn Adhams die Hände vor das Gesicht zu legen. Er dachte: «Ich bedecke mein Gesicht aus Furcht, damit Er mich nicht ins Gesicht schlagen kann; denn ich weiß, dass die Hand des Bedürfnislosen mir das Gebet um die Ohren schlägt.»

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36. Der Pilger geht zur Sinneswahrnehmung

4. Der Narr und der nachlässige Beter Ein Unwissender ging in die Moschee. Sobald jemand den Mund öffnete, hörte er auf zu beten. Er verrichtete keine an­ gemessenen Verneigungen und Niederwerfungen und wollte dann die Moschee wieder verlassen. In der Moschee hielt sich auch ein liebestrunkener Narr auf, dessen Herz voller Leidenschaft war. Er hielt einen Stein in der Hand und sagte zu dem Mann: «Du Heuchler! An wen hast du dieses Gebet gerichtet?» Der nachlässige Beter antwortete: «Das Gebet habe ich um Gottes, des Bedürfnislosen, willen verrichtet.» Da sagte der Narr: «Das wollte ich nur wissen; denn hättest du dieses Gebet um deiner Verdienste willen verrichtet, würde ich dir diesen Stein an den Kopf werfen.» Der Mann erklärte: «Es war spät geworden; deshalb war mein Gebet so kurz. Du weißt gar nichts über dich selbst; du bist dir selbst Feind – was erwartest du von dir? Das Töten von Menschen kann man nicht dem ­Todesengel zuschreiben, sondern das geschieht auf Wunsch. Die Hoffnungen sind zahlreich und das Leben kurz  – was macht es schon, wenn sich einige davon zerschlagen?» Dir bleibt noch eine Woche; der Rest deiner Lebenszeit ist dahingegangen. Was willst du mit dieser Woche Lebenszeit ­anfangen? In diesem Leben, das nicht mehr als ein Blitz ist, macht es keinen Unterschied, ob du weinst oder lachst. Wenn das Leben einmal vorbei ist, und wärst du auch ein Löwe, wird dich ein Haar niederringen. 5. Der junge Ringer, der ein graues Haar bekam Ein junger Ringer, schön wie der Mond, rang alle Gegner zu Boden. Doch im Lauf der Tage und Nächte erschien ein graues Haar auf seinem Kopf. Er riss das Haar aus und nahm es in die Hand, dabei flossen aus seinen Augen blutige Tränen. Er sagte: «Ich war ein stolzer Ringer und habe alle meine Gegner zu ­Boden gerungen. Doch wie seltsam, jetzt hat mich dieses eine stolze Haar zu Boden geworfen! Ich habe es mit allen Männern tapfer aufgenommen, aber gegen dieses Haar kann ich nicht



6. Der Wesir, der zurücktreten will329

bestehen. Morgens und abends habe ich das Schlimmste er­ tragen, und im Schlechten habe ich immer das Beste gesucht.» Wie lange noch willst du mit dem Schlimmen leben? Wie lange willst du für das Schlechte das Gute verspielen? Verspiele nicht das Beste, ein langes Leben, für das Schlechte, die dies­ seitige Welt! O du, der du für ein Gerstenkorn vom Gift der Welt deine Seele verkaufst  – Joseph wurde zu einem billigen Preis verkauft. Da du Joseph nicht mit deiner Seele gekauft hast, hast du ihn auch nicht mit deiner Seele erwählt. Wer den Joseph der Seele zum König macht, der kauft ihn auch mit ­seiner Seele. Der Joseph deiner Seele ist wertvoll, mein Sohn; was gibt es Wertvolleres als ihn? Ein Blinder wird den Wert Josephs nicht erkennen, das kann nur das leidenschaftliche ­ Herz. 6. Der Wesir, der zurücktreten will Der König machte einen Fremden zum Wesir, der es in seinem Amt sein Leben lang zu Ruhm und Ehre brachte. Doch als er alt geworden war, bat dieser Ratgeber den König um Erlaubnis zurückzutreten, und sagte: «Ich möchte mich jetzt zurück­ ziehen, denn ich fürchte mich vor dem Tod, o Herrscher. Der erhabene König möge es mir nicht verweigern, dass ich von hier in meine Heimat zurückkehre. Dort werde ich Tag und Nacht mit Gottesverehrung verbringen und jede Stunde für ihn beten.» Der König sprach zu ihm: «Als du damals kamst, kamst du mit leeren Händen und untätig. Gib all deinen Besitz dem König zurück, und verlasse das Land, wie du gekommen bist. Da du mit leeren Händen gekommen bist, wirst du mit diesem ganzen Schatz ebenso wieder gehen.» Da antwortete der Wesir: «Als ich das Wesirsamt führte, habe ich das Geld meines Lebens in deinem Dienst verspielt. Gib mir mein Geld zurück, und nimm deinen Anteil; sonst verschwinde, und lass mich Armen in Ruhe! Wer weiß schon, wie viel wertvolles Geld ich im Dienst an deinem Reich verspielt habe?» Da das Leben dein einziges Kapital ist, warum willst du das Leben so früh in den Wind werfen? Wenn dir dieses Kapital

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36. Der Pilger geht zur Sinneswahrnehmung

entglitten ist, ist alles verschwunden, was dir gehörte oder gehört. Was weißt du schon vom Wert des Lebens, du Niemand? Nur die Toten kennen seinen Wert. Frage die, die auf dem Friedhof ruhen, was sie über das teure Leben sagen! 7. Der unerwiderte Gruß Jemand sah im Traum einen rechtgläubigen Scheich. Als er ihn grüßte, aber keine Antwort bekam, fragte er: «O du großer, ruhmreicher Mann, warum erwiderst du meinen Gruß nicht? Da du doch weißt, dass das gesetzliche Pflicht ist, antworte mir, und wende dich nicht ab!» Der Scheich antwortete: «Ich weiß schon, dass das gesetzliche Pflicht ist, o Imam, aber uns ist diese Tür vollständig verschlossen. Wie könnte ich deinen Gruß erwidern? Da die Tür zur Gottesverehrung verschlossen ist, gibt es auf ewig keine Gottesverehrung, keine Verneigung und keine Niederwerfung mehr. Zählte ich so wie du noch zum Haus der Welt, wie könnte ich auch nur einen Atemzug von der Gottesverehrung ablassen? Früher waren wir eine Schar von Unwissenden; jetzt kennen wir den Wert dieses Schicksals.» O weh, der Weg zur Gottesverehrung versperrt! Der Atem ist erloschen und Kummer unser ständiger Begleiter. Weder blieb mir Zugang zur Gottesverehrung, noch hat mein Herz die Kraft für einen Seufzer. O weh, das lange Leben ist dahin, und eine unbeschreibliche Trauer ist geblieben. Jeder Atemzug war hundert Edelsteine wert, doch wir haben diese in den Schlamm geworfen. O weh, wir wussten nichts; wir konnten nicht anders handeln. Deshalb sind wir heute bestürzt und Gefangene der Reue. Der Vogel erkennt den Wert seiner Flügel und Federn erst dann ein wenig, wenn Flügel und Federn brennen. In ­deiner Blindheit erkennst du den Weg aus der Grube nicht. Erhebe dich, und bitte Gott um klarsehende Augen! O Herr, wie schön wäre es, wenn du uns Blinden das Augenlicht gäbest! Du bist nur eine Wasserblase voller Luft im Meer und hast dich auf dem Wind niedergelassen. Du bist jetzt voller Luft und unwissend; möge dir die Luft aus deinem Kopf nicht entweichen!



8. Der Narr und der Totenschädel331

8. Der Narr und der Totenschädel Ein Narr eilte verwirrt zum Friedhof und fand unterwegs einen Schädel. Er füllte ihn mit Staub und begrub ihn in der Erde. ­Jemand fragte ihn: «Warum tust du das?» Der Narr antwortete ihm: «O Unwissender, dieser Schädel war voll mit dem Wind des Hochmuts; ich habe diesen Schädel mit Erde gefüllt, damit, wenn die Erde darin ist, sie den Wind daraus vertreibt.» Auch wenn du jetzt deinen Kopf in den Himmel streckst, du wirst gleich dem Himmel in die Erde geworfen werden. Deine Angelegenheiten gehörten zu dieser Welt, und wenn du ge­ gangen bist, bleibt von allem nur die Totenklage. Dort gibt es nur Entwerden, denn dort passt kein Haar hinein. 9. Der Narr und der Totenschädel, zweite Geschichte Ein Narr setzte sich auf dem Friedhof nieder. In seiner Hand hielt er einen Totenschädel. Er riss ihm rasch alle Haare aus und warf sie auf die Erde. Jemand fragte ihn: «Was willst du damit?» Er antwortete: «Unwissender, was soll diese Frage? Dieser Schädel passte nicht in die Welt, aber jetzt passt nicht einmal mehr ein Haar in ihn hinein.» Du hast wie ein Poloball Kopf und Fuß verloren; was soll dieses Umherirren, Unwissender? Wende dich von allen welt­ lichen Angelegenheiten ab, bevor man dich wie einen Poloball aus dem Spiel nimmt. Da nichts beständig ist, haben auch Feindschaft und Freundschaft keinen Grund. Ob das unberechen­ bare Himmelsrad Glück bringt oder nicht: Wie es auch sei, mein Lieber, so sei es. Wenn kein Gesicht auf dieser Welt ­bleiben kann, macht es keinen Unterschied, ob es hässlich oder schön ist. Wenn das Haar keine Hoffnung hat zu bleiben, spielt es keine Rolle, ob es weiß oder schwarz ist. Wenn jemand, der sich erhebt, wieder zurückfällt, dann erkenne ihn als einen Wassertropfen, der ins Meer zurückkehrt. Sorge dich nicht, wenn der Blitz laut lacht und dann stirbt; es war nur ein Tautropfen, der ertrank und starb. Die Angelegenheiten der Sinnes­ welt bedeuten nichts; suche nach Gold, so gut du kannst, denn

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36. Der Pilger geht zur Sinneswahrnehmung

Messing ist nichts wert. Das Leben der Sinneswelt dauert im Vergleich zur Wirklichkeit nur einen Atemzug lang. Von all’ dem, was so kurzlebig ist, sei es schön oder hässlich, will ich nichts, und sei es das Paradies. 10. Kein Haus für Jesus Was fragte jemand Jesus, den Sohn Marias? Er fragte: «O du Einmaliger, dessen Bogen2 der Sonne ebenbürtig ist, warum baust du dir kein Haus?» Jesus antwortete: «Ich bin doch kein Narr! Wie könnte jemals alles, das nicht auf ewig bleibt, ­meiner würdig sein?» Alles, was dir auf dem Pfad begegnet  – es macht keinen ­Unterschied, ob du dort ein Bettler oder ein König bist. 11. Der Narr und der König Ein König zog mit seinem Heer, das so zahlreich war wie Ameisen oder Heuschrecken, in Steppe und Bergland hinaus. Die ganze Steppe bestand nur aus Dunst und Staub, dem Lärm der Elefanten und Pauken und Kriegsgeschrei. Auf dem Weg des Königs befand sich eine Ruine, in der ein Narr auf einer Mauer schlief. Als der König sich ihm näherte, stand er nicht auf, ­sondern blieb einfach liegen. Da sagte der König zu ihm: «Du Bettler im Staub des Weges, warum zollst du mir keine Achtung? Du siehst den König mit seinem Heer; warum erhebst du dich nicht wie jedermann vor einem wie mir?» Da begann der Narr, der noch immer frei vor dem König zu schlafen schien, zu sprechen: «Warum sollte ich dir Ehre er­ weisen? Wo ist denn in meinen Augen deine Wohltat? Wenn du wie Qārūn erscheinen willst, dann wirst du auch wie Qārūn ­gestürzt werden. Wenn du durch deine Herrschaft und deine Armee ein Nimrod bist, wirst du wie er von einer Mücke vernichtet werden. Und wenn du unbeschreiblich schön bist, dann giltst du bei den Türken von Chatā3 als Unreiner. Und wenn du über Wissen verfügst, aber es nicht anwendest, dann ist es nur ein kurzer Weg von dir zu Eblīs. Wenn du stark wie ein Verbre-



11. Der Narr und der König333

cher bist, dann wird dich wie Oudsch4 ein Stein ins Grab bringen. Und wenn das Paradies dir Ziegel um Ziegel einen Palast errichtet, dann wird man dich wie Schaddād im Paradies töten. Aber wenn du keines dieser Übel und Laster aufweist, dann sind wir beide gleich. Beide sind wir durch einen Samentropfen zu Blut geworden; beide sind wir auf demselben Weg heraus­ gekommen. Beide sind wir durch eine Geburt auf die Welt ­gekommen; beide werden wir durch dieselbe Luft am Leben ­gehalten. Beide sind wir auf das gleiche Stück Erde gefallen; beide sind wir in denselben Hinterhalt geraten. Beide fürchten wir uns vor demselben Tod; beide werden wir von derselben Erde begraben. Da ich dir in jeder Hinsicht gleich bin, warum sollte ich mich vor dir erheben? Bin ich denn weniger als du?»

Siebenunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Vorstellungskraft

Brennenden Herzens und in Verwirrung verließ der Pilger die Schar der Sinneswahrnehmungen, begab sich zur Vorstellungskraft und sagte: «O du, die du vom Ursprung her nur ein W ­ esen hat – die fünf Sinne sind nur deine Stationen. Du bist eins und ergreifst wie die fünf Sinne alles, was rein und unrein ist. ­Geruch, Geschmack, Tastsinn, Hören und Sehen hast du Bildnerin auf deiner Tafel zusammengeführt. Alles, wozu im Äußeren fünf Organe notwendig sind, erfasst du im Inneren mit ­einem Organ. Da du dich von der Quantität schon ein Stück entfernt hast, erfasst du fünf Wahrnehmungen in Einer. Als Zeit und Raum erschaffen wurden, sind die fünf Wege für dein feineres Erkennen entstanden. Da du es nicht wagtest, fünf auf nur einem Weg zu sehen, entstand deinem Wesen durch die Zeit viel Plage. Wie seltsam: Diese fünf starken Wahrnehmungen waren ein Bild für die materielle Zeit. Weil du der Einheit näher stehst, ist dein Weg schmaler als derjenige der Sinne. Rette mich durch die Einheit vor der Quantität; zeige mir den Weg, und erfreue mein Herz, damit ich der Spaltung entkomme und die Kutte der Verleugnung ins Feuer werfe, mich zum Tal der Liebe wende und aus der Fremde den Weg zur Nähe finde.» Bei diesen Worten wurde die Vorstellungskraft zu einem ­bloßen Widerschein. Sie geriet sogleich wegen dieser Unmöglichkeit außer sich und sagte: «Von dieser Barschaft bin ich weit entfernt und getrennt von dem, was du suchst. Da mich die Botschaft im Traum erreicht – wie könnte ich sie im Traum wach erblicken? Jede Form, jede Bedeutung, jedes Wirken enthüllt sich mir nur hinter einem Schleier. Wer hinter einem Schleier um Hilfe ruft – wie könnte er einem anderen den Weg hinter einem Schleier aufzeigen? Nichts eröffnet sich mir jemals;



1. Der Scheich der Welt und sein liebender Schüler335

ich bin nur die Vorstellungskraft, wie lange möchtest du mit der Vorstellungskraft gehen? Wenn du ein Suchender bist, dann verweile nicht hier; stütze dich auf die Sinneswahrnehmungen, und begib dich zum Verstand!» Der Pilger ging zu dem liebenswürdigen Meister und legte ihm seinen Zustand dar. Der Meister sagte zu ihm: «Der Diwan der Vorstellungskraft ist voller Formen von den Sinneswahrnehmungen und vom Verstand. Überall, wo sich das Bild der Schönheit zeigt, zeigt sich ihre Form in der Vorstellungskraft. Der Anteil der Sinneswahrnehmungen ist die Trennung, die Vorstellungskraft aber kann die ganze Welt vereinigen. Was immer sie sich wünscht, liegt vor ihr; auch die Vereinigung ­geschieht durch sie. Die Sinne sind so weit vom Einssein entfernt, dass sie in der Vereinigung des Vorhandenen hundert Trennungen sehen. Kaum haben sie einen Schritt auf die Ver­ einigung zu gemacht, kommen ihnen aus allen Richtungen hundert Trennungen entgegen.» 1. Der Scheich der Welt und sein liebender Schüler Abū ʿAlī Daqqāq,1 der Scheich der Welt, war bei einem seiner Jünger zu Gast. Dieser Jünger war in Liebe zu dem Scheich entbrannt und hatte schon lange auf ihn gewartet. Kaum hatte sich der Scheich gesetzt, fragte der Jünger: «O Scheich, wann willst du wieder gehen?» Der Scheich antwortete: «Wir sind uns noch nicht nähergekommen, und schon stimmst du das Lied der Trennung an.» 2. Der beschwerliche und der gerade Weg Ein Vollkommener sagte: «Wenn du aus Furcht vor der Sünde nicht den beschwerlichen Weg eingeschlagen hast, wirst du entweder durch deine letzten Atemzüge heimgesucht, oder du hast die Bestrafung im Grabe überall um dich. Wenn du den ge­ raden Weg gehst und deine Waage ausgeglichen ist, dann ist dir alles leicht. Dies alles ist leicht ohne Trennung. Wenn du aber getrennt bist, ist das Herz voller Sehnsucht.»

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37. Der Pilger geht zur Vorstellungskraft

Jede Pein, die man sich ausdenken kann, ist im Vergleich zur Trennung gering. Was weißt du schon, mein Sohn, von der Glut der Trennung? Nur ein Liebender kennt ein Herz voller Sehnsucht. Wenn du kein Liebender bist, ist dein Herz tot; wie kannst du dann behaupten, ein Liebender zu sein? 3. Mahmūd und der Derwisch: Die vollkommene Liebe Mahmūd ließ aus großer Unruhe einen Liebenden zu sich rufen, der in Armut lebte. Er war ein armer und ein leidenschaftlich Liebender, und seine Brust glühte wie ein Leuchter. Mahmūd sprach zu ihm: «O Derwisch, erzähle mir das Geheimnis, und erkläre mir die Gedanken der Liebe und des Liebenden! Man sagt, du seist ein wahrhaft Liebender; was du über die Liebe sagst, wird angemessen sein.» Auch der mondgesichtige Ayāz war anwesend; aufrecht stand er neben dem König. Der arme Liebende sagte: «O König, du bist kein Liebender; was hast du damit zu tun? Die Gedanken der Liebenden taugen nur für ­einen Liebenden. Wenn du nicht fragst, weil du kein Liebender bist, ist das angemessen.» Da erwiderte der König: «Und warum soll ich kein Liebender sein? Warum soll ich eines Liebenden nicht noch würdiger sein als du?» Er sagte: «Wärest du ein ­Liebender, säßest du nicht so unbekümmert da. Wäre es denn gut, dass der Liebende ruhig dasitzt, wenn sein Geliebter neben ihm steht? Wenn du in der Liebe Gewissheit hättest, ließest du deinen Geliebten nicht so stehen. Du liebst es, Herrscher zu sein, und als Zugabe wünschst du dir auch noch die Liebe. Die Liebe jedoch ist eine Gabe der Armut und der Erniedrigung, sie ist keine Zugabe zu Hab und Gut. Herrscher zu sein ist genug für dich, o König; überlasse Liebe und Armut mir!» Liebe heißt, im Geliebten zu entwerden; für ihn zu sterben, heißt Leben gewinnen. Wenn dein Leben nicht aus diesem Tod entstanden ist, ist es nutzlos, ein Liebender zu werden. Wenn du reif für die Station der Liebe bist, wirst du von der ewigen Strafe erlöst.



4. Kann ein Liebender in die Hölle kommen?337

4. Kann ein Liebender in die Hölle kommen? Eines Abends sagte Yahyā ebn Moʿādh:2 «Wenn ich am Jüngsten Gericht über die Hölle verfügen könnte, würde ich auf ewig keinen Liebenden verbrennen, ist er doch schon von dem Einen auf hundertfache Weise verbrannt worden. Wie könnte man für jemanden, der nicht nur einmal, sondern hundertmal verbrannt ist, das Feuer entzünden?» Darauf fragte ihn jemand­: «Und wenn es nun so wäre, dass dieser Liebende viel Schuld auf sich geladen hätte, würdest du ihn dann als Sünder verbrennen oder nicht?» Der Scheich antwortete: «Nein, denn er hat die Schuld ohne Absicht auf sich geladen. Der Liebende handelt unter Zwang und aus einem Übermaß an Liebe.» Kein Liebender wird schuldig gesprochen; kein Liebender wird am Auferstehungstag verbrannt werden. Für die Klugen ist nichts schwerer, als das Unmögliche zu ertragen. Doch der Liebende, der über das Unmögliche spricht, erschüttert mit ­seiner Leidenschaft eine ganze Welt. Wenn er das Unmögliche ausspricht, ist es notwendig; und wenn ein Schleier über ihn fällt, dann ist er der Kammerdiener. 5. Salomo und die verliebten Finken Als Salomo mit seinem Heer unterwegs war, bemerkte er ein Finkenpaar. Beide waren sich in Liebe zugetan; ihre Herzen waren füreinander entbrannt. Bald machte der eine schöne ­Augen, bald der andere; bald begann der eine, bald der andere. Einer der verliebten Finken begann zu sprechen: «O du, die du mir in Güte meine Einzige und meine Gefährtin bist! Alles, was du mir befohlen hast, habe ich getan, alles mit ganzem Herzen. Wenn du mir noch mehr befehlen willst, befiehl es mir! Ich werde alles, was du mir aufträgst, frohen Herzens tun. Bätest du mich darum, würde ich sogar Salomos Kuppel mit einem Tritt herunterwerfen.» Nachdem Salomo zu seinem Palast zurückgekommen war, ließ er den Finken zu sich rufen. Als der Fink kam und all’ die Pracht sah, zitterte er ruhelos wie ein Blitz. Salomo sprach:

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37. Der Pilger geht zur Vorstellungskraft

«Hör auf zu prahlen! Übersteigt das Geschwätz eines Finken denn den Berg Qāf? Du, der du nicht einmal ein Körnchen ­tragen kannst, wie willst du mit einem Tritt diese Kuppel zerstören?» Als der Fink diese Worte Salomos vernahm, sagte er: «O du Erhabener im Glauben und in der Welt! Für den Ehrenkodex des Liebenden genügt immer das Siegel: Es wird aufgerollt und nicht gelöst.» Den Liebenden genügt es, danach zu streben, ihre Seele in Erstaunen zu ertränken. Wenn sie ihre reine Seele aufgegeben haben, erhalten sie alles, was sie brauchen. 6. Der eifersüchtige Weise Ein großer Weiser sagte einmal in seinem Nachtgebet: «O Du, der die Geheimnisse kennt, blende am Auferstehungstag die Geschöpfe, und gib mir bis in alle Ewigkeit scharfe Augen, damit niemand außer mir Dich sehen und ich Dich ohne ­ Neben­buhler betrachten kann.» Nach einer Weile kam er auf das zurück, was er von Gott erbeten hatte, und fügte hinzu: «O Du, der mir in jedem Augenblick Hilfe schenkt, blende auch mich am Auferstehungstag, damit ich Deine strahlende Schönheit nicht mehr sehen kann; denn sonst würde ich, ehrlich ­gesagt, mich selbst bedauern.» Mag die Eifersucht des Liebenden auch gut sein, die Eifersucht des Geliebten ist immer größer. 7. Joseph und Gabriel im Gefängnis Joseph, der Aufrichtige, erblickte im Gefängnis des Königs den Heiligen Geist3 und fragte: «O du ganz und gar kostbare Seele, was machst du an diesem verachtenswerten Ort? Wie bist du unter die Sünder geraten? Warum hast du dich vom Lotusbaum­ entfernt?» Gabriel antwortete: «Ich bin zu dir gekommen, o Wegweiser, um dir von Gott Folgendes auszurichten: ‹Was ­haben Wir dir Böses getan, dass du hier, bei jemand anderem als Uns, vor Uns Schutz gesucht hast? Du hast einen Mann gerufen und ihn mit einer Botschaft zum Herrscher geschickt. Wenn du den



8. Mahmūd und Ayāz: Die Sklaverei der Liebe339

Herrn der Macht zum Freund hast  – wozu brauchst du den Herrscher Ägyptens? Was weiß der Herrscher Ägyptens schon über deine Angelegenheit? Ein Mächtiger wie Ich genügt dir als Freund. Dein Freund, der wie Ich mächtig und hilfreich ist – und du vertraust einem solchen Herrscher das Geheimnis an? Wenn Ich dich nicht zur Strafe einige Jahre hier im Gefängnis sitzen ließe, wäre Ich nicht der erhabene Gott.›» Wenn die Umgarnungen der Geliebten zu Feuer werden, dann nimm es in deine Seele auf, denn diese Umgarnungen sind eine Wohltat. 8. Mahmūd und Ayāz: Die Sklaverei der Liebe Mahmūd ließ eines Abends aus Selbstgefälligkeit zahlreiche Sklaven frei und fragte Ayāz: «Willst du, Ayāz, dass der König dich heute Abend auch freilässt?» Da legte der mondgesichtige Ayāz die Hand an seine Locken, bildete aus den Haarsträhnen einen Ring und sprach: «Warum lässt du dich davon versklaven­, wenn du ein Mann bist? Befreie deine Seele von diesem Ring! O du, der du der Ohrring meiner Locken bist, befreie dich selbst, und ereifere dich nicht so!» Die Eigenheit des Geliebten ist das Leiden, das aus einem Übermaß an Liebe entsteht. Unter seiner Haut gibt es nur Liebe; er liebt das, was du liebst. 9. Der Jüngling, der das Gesicht seiner Geliebten erblickt hatte Auf der Straße ging eine sehr schöne Frau. Ein Mann erblickte die Augen der Frau, die wie Straßenräuber waren. Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu, und sie schoss den Pfeil ihrer ­Wimpern plötzlich auf seine Leber ab. Die Frau ging weiter, und der Mann folgte ihr. Plötzlich drehte sie sich um und fragte: «O Jüngling, was ist mit dir?» Er antwortete: «Deine Augen sind wie Straßenräuber; sie haben mich überfallen, bis ich sie grüßte.» Da hob die Frau den Schleier von ihrem Gesicht und ließ ihn ihr sonnengleiches Antlitz sehen. Nun geriet

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37. Der Pilger geht zur Vorstellungskraft

der Mann vollständig außer Fassung, und er wurde trunken bis in die letzte Faser seines Körpers. Als die Frau wieder zu Hause war, blieb ihr Verehrer verträumt vor ihrer Tür stehen. Schließlich warf er aus Hochmut einen Stein. Die Frau kam heraus und sagte: «Oh, du ferner Verstörter! Geh deines Weges, du Verrückter, damit dir die Bewohner dieses Hauses nicht den Kopf abschlagen.» Der Mann erwiderte ihr: «Wenn du mir nicht gehören willst, warum hast du mir dann dein Antlitz ­gezeigt?» Da sagte sie: «Ich liebe den wirklich sehr, der mich immer liebt.» Wenn du das Gebäude der Liebe befestigst, dann musst du dich im Heiligtum zum vertrauten Freund machen. Wenn die Zeit deiner Entwerdung kommt, bleibt, ohne dich, an deiner Stelle nur der Freund. 10. Rābiʿas Schleier und der Dieb Ein Dieb schlich sich in das Haus von Rābiʿa, während jener Vogel, der die mystischen Prüfungen kennt, schlief. Er nahm ihren Schleier, fand aber den Weg zurück zur Tür nicht mehr. Da legte er ihn wieder ab und eilte zur Tür. Dann nahm er den Schleier wieder an sich, aber konnte den Weg wiederum nicht finden. Als er ihn wieder ablegte, wurde die Türschwelle sichtbar. Er war schon ganz erschöpft, als eine verborgene Stimme zu ihm sagte: «Du musst den Schleier unverzüglich zurückgeben, denn wenn ein Freund trunken im Schlaf liegt, wacht ein anderer Freund über ihn. Leg den Schleier nieder, wenn du die Tür finden willst; wenn nicht, musst du, wenn du den Schleier brauchst, sitzenbleiben.» Da alles, was du hast, Ihm gehört, ist deine Freundschaft ­Seiner Liebe würdig. Wenn du dich selbst mehr liebst als Ihn, dann bist du, wenn du von Ihm weißt, sein Feind.



11. Der Atem des Jünglings341

11. Der Atem des Jünglings Als Maʿschūq Tūsī einmal krank war, stattete ihm ein Jüngling einen Besuch ab und begann, die erste Sure des Koran zu rezitieren, damit sein Atem auf jenen Narren des Pfades wirke. Maʿschūq sagte: «Wenn du mir helfen willst, dann richte, wenn du rezitierst, deinen Atem auf den Gottesnamen. Nichts ist dieses Armen würdig. Ich muss alles Ihm geben, nicht mir selbst. Alles, was ist, war und sein wird, gehört Ihm, und alles ist schön und erhaben.» Alles war dort vorhanden, doch es bedurfte sehr der Gottesfreundschaft und der Demut. Darum hauchte Er Adams Körper an und brachte die Gottesfreundschaft mit der Göttlichkeit zusammen. Er versetzte den Markt der Welt in Aufruhr und brachte alle Horizonte durcheinander. Es gab hundert Welten voller Göttlichkeit durch Gewalt, und aus der Welt der Gottesknechtschaft erhob sich leidenschaftliche Liebe. 12. Mahmūd, Hasan und der leere Audienzsaal Mahmūd und Hasan saßen im Audienzsaal, Wesir und König ganz allein. Niemand kam; niemand bat um Zutritt; kein Bittsteller suchte die Nähe des Königs; niemand wollte einen Rechtsentscheid. Kein Untertan, kein Soldat wollte gehört ­werden, und eine tiefe Stille lag über dem Palast. Niemand war da, um seine Hoffnung oder Furcht vorzubringen. Schließlich sagte der König zu seinem Wesir: «Wo bleiben die Zeichen von Geschäftigkeit an unserer Schwelle? Niemand bittet uns um Schutz, und kein Bittsteller verlangt Gerechtigkeit von uns. Wenn jemand eine so erhabene Tür besitzt  – wann wäre es ­zulässig, dass sie leer steht? Ein so erhabener Palast, o Wesir, ist nicht angenehm, wenn er frei von Geschäftigkeit ist, o Wesir.» Der Wesir erwiderte ihm: «Eine solche Gerechtigkeit, wie sie durch dich auf der Erde herrscht, wenn der König die Welt mit Gerechtigkeit erfüllt  – wie könnte es jemals einen Bittsteller ­geben?» Da sagte der König: «Da hast du recht! Dann will ich jetzt die Welt durcheinanderbringen.» So sprach er und stellte

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37. Der Pilger geht zur Vorstellungskraft

sein Heer auf und ließ in allen Städten und Dörfern Steuern erheben. Bald war die ganze Welt in Aufruhr und Verwirrung und Mahmūds Palast nicht mehr so leer. An seiner Schwelle wogte die Geschäftigkeit, und was er sich gewünscht hatte, war eingetreten.

Achtunddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Verstand

Der Pilger, der an der Menge und der Vorstellungskraft vorüber­ gegangen war, begab sich aller Fesseln ledig zum Verstand. Er sagte: «O du Ratgeber in der Verwaltung des Reiches, ohne dich könnte das Geld der Reichsordnung niemals zirkulieren. Du trägst den Mantel der religiösen Pflichten; dein Territorium erstreckt sich bis an die Grenzen des Nichtseins. Würde auch nur ein Atom das Nichtsein berühren, würde keine Pflicht mehr erfüllt werden. ‹Geh vorwärts!› und ‹Bleib zurück!› ist deine dir eigene Rede, um bald zu fesseln, bald zu befreien.1 Wenn sich deine Augen im Nichtsein öffnen, reinigt uns dein ‹Geh vorwärts› vom Selbst, und wenn du im Sein einem Auge gleich wirst, wird dein ‹Bleib zurück› immer wieder zu einer neuen Fessel. Alles, was du besitzt, ob fehlerhaft oder vollkommen, haben dir die Sinneswahrnehmungen über den Weg der Vorstellungskraft geschenkt. Die Sinneswahrnehmungen sind, bildlich gesprochen, die Vielzahl; die Vorstellungskraft verschmilzt die Vielzahl zu einer Einheit. Du bist deinem Wesen nach die Einheit anstelle der Vielzahl, denn du bist weit entfernt von Zeit und Raum. Die fünf Wahrnehmungen hat das Vorstellungsvermögen zu fünf Zeiten erfasst, aber du erfasst in jedem Augenblick Hunderttausende. Du erkennst alles in einem Atemzug, obgleich du dich einen Lehrling nennst. Zwar waren die Sinneswahrnehmungen am Anfang dein Meister, doch durch deine Meisterschaft ist dein Werk ihnen überlegen. In Wirklichkeit erhoben sich dem Wesen nach die Sinneswahrnehmungen aus dir, aber sie haben deine Form berichtigt. Wenn du die Sinneswahrnehmungen mit Eigenschaften belebst, verschaffen sie dir hundert Erkenntnisse über deine Form. Da du die Macht hast zu beleben und da in meinem Herzen beständig

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38. Der Pilger geht zum Verstand

der Tod herrscht, schenke mir Leben und führe mich zu meinem­ Ziel; führe mich in Unterwürfigkeit zum Gegenstand meiner Verehrung!» Der Verstand antwortete ihm: «Du hast überhaupt keinen Verstand, siehst du nicht all’ diese Verwicklungen des Ver­ standes? Der Verstand ist von Kult und Glauben verschieden; wie könnte man sich an seine Tür zurückziehen? Er bringt dir hunderttausend wahrhaftige Beweise vor und schickt dir eine Welt voller Zweifel. Du wirst immer im Chaos umherirren und z­ audernd nach einer Einsicht suchen. Aus der Existenz des ­Verstandes rühren die Verleugnungen her, und durch die Erscheinung des Verstandes gibt es die Bekenntnisse. Wenn der Verstand über keinerlei Harmonie verfügte, wäre er gänzlich mit Sehnsucht erfüllt wie das Herz. Zwar ist der Verstand vollkommen in der Gotteserkenntnis, aber Seele und Herz sind vollkommener als er. Wenn du die Vollkommenheit in der Liebe suchst, kann dir nur das Herz den Schleier lüften.» Darauf wandte sich der Pilger an den ruhmreichen Meister und trug ihm das Schreiben der Eingebung vor. Der Meister sagte zu ihm: «Der Verstand ist der Übersetzer der Gotteswahrheit und der gerechte Richter auf Erden und im Himmel. Sein Urteil wird im ganzen Universum rechtskräftig; sein ­Urteil ist der Schlüssel für alle Schwierigkeiten. Die Sonne wagt es nicht, irgendeinen Zweig am Baum des Verstandes anzutasten. Jeder, der mit seinem Verstand prahlt, tut das nur mit Lüge und G ­ eschwätz. Wer aber einen klaren Verstand hat, trägt weder Lüge noch Geschwätz in seinem Kopf. Wie könnte auch jemand mit leerem Gerede auf der Stufe seines Verstandes zu Voll­kommenheit gelangen? Es dauert Jahre, bis ein würdiger Mann seinen Verstand zur Vollkommenheit ohne Hindernisse bringt.»



1. Ein Esel führt die Weisen dieser Welt345

1. Ein Esel führt die Weisen dieser Welt Als Alexander mit den Weisen und Wächtern in der dunklen Höhle gefangen war, kannte niemand den Weg nach draußen, und sie alle mussten lange darin verharren. Schließlich einigten sie sich alle darauf, einen Esel zum Führer zu nehmen. Sie nahmen sich einen Esel, der den Weg finden und sie alle von dort zum Heerlager führen sollte. Wie seltsam, diese Weisen der Welt, die über die Geheimnisse des Sichtbaren und Unsicht­ baren Bescheid wussten, hatten in dieser Lage einen Esel als Führer, damit keiner mit Weisheit prahlen sollte. Als Er ihnen Seine Geheimnisse enthüllte, sagte Er: «O ihr, die ihr in eurem Tun nutzlos seid! Obwohl jeder ein vorausdenkender Mann ist, geht euch doch ein Esel voraus.» Wenn ein Esel sogar den Vernünftigen überlegen ist, wie steht es dann um das Wissen der anderen? Wenn der Verstand unwissend ist, trägt er dein Leben hinweg; wenn er Hochmut erzeugt, trägt er deinen Glauben hinweg. Derjenige Verstand ist besser, der unterwürfig ist; sonst wird er, wenn er vollkommen wird, zum Ungläubigen. 2. Der gelehrte Balʿ amī Balʿamī, ein bedeutender Mann seiner Epoche, hatte sich vierhundert Jahre lang der Gottesverehrung gewidmet und vierhundert Bücher verfasst, die alle von der Einzigkeit Gottes und vom Heben des Vorhanges handelten. Vierhundert Tage und Nächte verharrte er in einer Niederwerfung, versunken in das Meer des Seins. Doch dann, in einer furchtbaren Nacht, erhob er den Kopf aus dem Staub der Erde, zählte hundert Beweise zur Leugnung des Schöpfers auf und erwählte die Fackel des Himmelsgewölbes2 zu seinem Gott. Er wandte sein Gesicht der Sonne zu, warf sich vor ihr nieder und wurde einer der Sonnenanbeter.3 Wenn der Verstand die Grenze des Möglichen überschreitet, verliert Balʿamī seinen Glauben. Du brauchst einen Verstand in den Grenzen der Gesundheit, frei von Lob und Tadel. Wenn du

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38. Der Pilger geht zum Verstand

einen schlichten Verstand in dir findest, ist er mehr als ein ­hundertfacher Verstand, der wegen Hochmut zurechtgewiesen wurde. Auch wenn dein Verstand schlicht und ohne Ordnung ist, wird er dein Ziel vollkommen machen. Ein derartiger Verstand steht der Gefahr ferner und, o Wunder, wird sein Ziel schneller finden. 3. Der alte Leierspieler Ein schwacher und verstörter alter Mann mühte sich mit dem umherirrenden Himmelsrad ab. Die Armut hatte ihn zertreten und der Wolf des Alters ihn gepackt. Aus lauter Sorge seufzte er wie eine Harfe. Als Gewerbe blieb ihm von allen Süßspeisen des Gelages nur die Laute, doch niemand kaufte den Schall ­einer Laute oder ein Stück Brot als Lohn für ihn. Er hungerte nach Nahrung und Schlaf; er war nackt, ohne Brot und Wasser. Als ihm kein Ausweg mehr blieb, nahm er schließlich seine Laute und ging auf die Straße. Es gab dort eine völlig zerstörte Moschee; dort setzte er sich nieder und spielte eine Weile auf seiner Laute. Das Gesicht zur Gebetsnische gerichtet, benutzte er den Schläger und sang dem Freunde ein Lied. Nachdem er eine Zeitlang ununterbrochen gespielt hatte, sagte er: «O Herr, ich kenne kein anderes Gewerbe. Alles, was ich konnte, habe ich Dir mit diesem schönen Gesang dargebracht. Ich bin schwach, alt, bedürftig und einsam, und da ich kein Brot habe, bin ich des Lebens müde. Niemand fragt nach meinem Lautenspiel; niemand gibt mir Brot zum Lohn. Da ich Dir mein ein­ ziges Gut geopfert habe, gib Du mir in deiner Großmut auch etwas von Deinem! Auf der ganzen Welt habe ich nichts; so höre meinen Gesang nicht ohne Gegenleistung an! Richte meine Angelegenheit ein für allemal, damit ich von diesem Kummer erlöst werde!» Weil durch das viele Sprechen sein Herz in Glut geriet, fiel er schließlich in der Moschee in einen tiefen Schlaf. Währenddessen litten die Sufi-Jünger des Abū Saʿīd, des Meisters des Pfades, schon seit einer Weile Hunger. Sie warteten­ auf eine milde Gabe, die ihren Körper und ihren Geist ernähre.



4. Der Narr, der sich vor Gott fürchtete347

Schließlich kam ein erfahrener Mann und übergab dem Scheich hundert Golddinare. Er küsste ihm die Hand und sagte: «Das ist für deine Anhänger, damit sie heute ihr Essen bezahlen können.» Das erfreute die Herzen der Anhänger sehr, und ihre Gesichter wurden hell wie das Feuer. Der Scheich aber gab das Gold einem Diener und sagte: «In jener Moschee schläft ein alter Mann, die Laute unter dem Kopf; er ist ein guter Greis. Gib ihm dieses Gold, denn es ist für ihn bestimmt.» Da machte sich der Diener auf und brachte dem armen Mann das Gold, während seine Gefährten hungrig blieben. Als der Alte all das Gold sah, warf er sich nieder und sagte: «O Schöpfer, aus Großmut behandelst Du den Gläubiger gut. Wie freigebig bist Du zu einem Demütigen wie mir! Von nun an werde ich, solange mir der Schlaf nicht den Tod bringt, nur noch für Dich die Laute schlagen. Du kennst den Wert der Meister ganz genau; niemand kennt ihn so wie Du. Da Du dich aber selbst gepriesen hast, warum sollte ich Dich preisen? Wenn mir jedoch das Gold ausgeht, komme ich wieder zu Dir.» Jeden, dem ein Mangel an Verstand eigen ist, werden seine Sachen insgesamt leicht werden. Deshalb ist alles, was ein Narr sagt, und sei es auch noch so dreist, zulässig. Da alles, Gutes und Schlechtes, von hier kommt, ist der Gesang eines Narren schön. 4. Der Narr, der sich vor Gott fürchtete Ein kluger Mann ging an einem Narren vorüber und sah, dass der Narr sehr betrübt war. Er fragte ihn: «Warum bist du so betrübt?» Da antwortete der Narr: «Wegen Gott. Aus Kummer über Ihn weiß ich nicht mehr, was oben und was unten ist. Ich fürchte mich vor Ihm, und alle Menschen, wären sie nur sehend­, fürchteten sich vor Ihm. Wie sollten sich die Menschen nicht vor einem fürchten, der sich wie die Wölfe unter die Herde mischt, um sich dann als Hirte hinzusetzen und die ­Totenklage anzustimmen? Es ist doch kein Wunder, dass man sich über so etwas grämt. Er hat meinen Glauben heute so verwirrt; was wird Er anschließend mit mir tun?»

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38. Der Pilger geht zum Verstand

Wie seltsam, dass sich auch der Narr aus Angst vor Ihm wie die Vernünftigen unterwirft. Da die Furcht vor Ihm das Herz zerreißt, lässt sie den Verstand verlorengehen, bis er durch den Schrecken vor Ihm gänzlich närrisch wird und daran zugrunde geht. 5. Der Narr im Unwetter Ein Narr war an einem Abend, an dem die Wolken die Welt verdunkelten, in der Wüste inmitten von Blitz und Donner ­unterwegs. Der Blitz wollte ihn erschlagen, der Regen ihn ertränken; mit blutunterlaufenen Augen ging er seines Weges, das Herz voller Angst. Da rief ihn aus der Tiefe seiner Seele eine verborgene Stimme an: «Gott ist mit dir; fürchte dich nicht, Jüngling!» Er antwortete: «Um ehrlich zu sein, ich fürchte mich, warum Er bei mir ist. Ich zittere sehr aus Angst vor Ihm; Er macht mit mir, was Er will, solange ich lebe. Wenn ich einmal sterbe, werde ich mich fest an Seinen Saum klammern; vielleicht hat Er dann Mitleid mit mir.» Wer auch nur einen Funken dieses Feuers besitzt, dem gefällt der Gesang der Narren; denn ihr ganzes Werk besteht darin, ihr Herz hinzugeben und demütig und verwirrt zu sein. Alles, was sie sehen, ist nur ein Traum, und die Geschöpfe dieser Welt sind nicht mehr als eine Fata Morgana. Die Welt ist voller Lärm und Aufruhr; alle Geschöpfe sind Beutel voller Luft. 6. Der Narr in der Stadt Ein Narr, der immer in der Steppe lebte, ging zuweilen aus der Steppe in die Stadt. Als er dort ankam, blieb er unwissend ­stehen und schaute sich um. Hunderttausend Menschen liefen umher und hatten nur Gier im Kopf. Still schaute er zu und staunte über den Tumult und den Lärm. Als er einen ganzen Tag lang so dagestanden hatte, hatte er alle Edlen und Gemeinen satt. Er stieß einen Schrei aus, machte einen Satz und sagte verwirrt: «Wehe! Wehe dem Beutel und dem Beutelmacher! Es gibt so viele Beutel, und Er bringt immer noch mehr.»



7. Yahyā ebn Moʿādh prangert die Imame an349

Wenn jemand einen Lederbeutel hat, würde man ihm einen Würfel abkaufen.4 Prahle nicht mit deinen Beuteln und Körben; geh hin wie Salomo, und flechte Körbe! Arbeite, und hüte dich vor Verderbtheit und Laster, denn ein Riss ist nicht gut für einen Beutel. Du bist ein Vogel Strauß auf dem Weg und kein Diener; du hast den Beutel dem Kamel vor die Füße geworfen.5 Die ganze Welt ist von deiner Unrast erfüllt; der Trommelschlag kommt von deinen Beuteln und Körben. Von dir bekommt niemand so leicht ein Stück Brot; eher würdest du deine Seele hergeben als jemandem Brot zu geben. Wenn du nicht ­einen Augenblick von dir selbst Ruhe findest, dann findest du auch keine Ruhe von deinem Werk. Du hast den Glauben der Zoroastrier angenommen, und das ist nicht der Glaube Mohammeds, mein Sohn! 7. Yahyā ebn Moʿādh prangert die Imame an Yahyā ebn Moʿādh sagte einmal: «O ihr Herren des Wissens und des Glaubens, ihr habt alle Schlösser wie die Kaiser und lebt fürstlich wie ein König statt arm wie ʿAlī. Eure Gewänder sind prächtiger als die der Damen, und eure Pferde könnten von Qārūn sein. Eure Gesichter haben sich alle verfinstert, und eure Sitten sind alle satanisch. Ihr feiert Hochzeiten wie der Pharao, und die Trauerbräuche der Zoroastrier begeht ihr in hundertfacher Schattierung. In euren Gewohnheiten gleicht ihr Schaddād, und in Stolz und Hochmut gleicht ihr ʿAd. Das alles sind eure Merkmale, und es gibt noch schlimmere; von Mohammed aber findet sich nichts. Tag und Nacht seid ihr mit ­Sitten und Geschäften befasst; nur mit dem Glauben Mohammeds habt ihr nichts zu schaffen.» 8. Das Volk murrt über König Haddschādsch Das Volk beschwerte sich oft bei Haddschādsch,6 weil niemand unter seiner Herrschaft zu leben wagte. Da ließ Haddschādsch alle zusammenrufen und sagte: «Ich kann das Geheimnis nicht weiter vor euch verbergen: Schaut euch selbst an, Leute! Denn

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38. Der Pilger geht zum Verstand

was müsst ihr in Gottes Augen für ein schlechtes Volk sein, dass Er so einem wie mir ein Volk gegeben hat und mich über euch alle herrschen lässt.» Unrecht und Gerechtigkeit, Hässliches und Schönes, Unglaube und Glaube entstammen gewiss der Welt des Verstandes­. Wenn du die Welt des Verstandes sammelst, wird ein Atom Liebe ihr die Macht rauben. Wenn du der Liebe dein Leben geopfert hast, dann entwerde; wenn du es dem Verstand geopfert hast, dann lerne Grammatik! Macht dich die echte Liebe auch traurig, so wirst du doch durch sie von den Eigenschaften gereinigt. Wenn es auf deinem Weg der Liebe keine Eigenschaften mehr gibt, schenkt dir das Wesen des Geliebten das Leben ohne dich. Solange du noch atmen kannst, genügt dir das Sein des Geliebten. 9. Mahmūd und Ayāz: Wer ist der Schönere? Eines frühen Morgens ging Ayāz zum Sultan. Er war über alle Maßen schön und von unvergleichlichem Liebreiz. Hundert Locken fielen in sein Mondgesicht, jede davon hätte hundert Könige stürzen können. Der König saß Ayāz von Angesicht zu Angesicht gegenüber, der nächste Vorhangwächter war seine Augenbraue. Der König war von seinen schwarzen Augen verwirrt, und der Mond verdunkelte sich neben ihrer Schönheit. Seine beiden Rubinlippen waren die Schlüssel für die Schwierigkeiten: die eine wie das Wasser von Kouthar, die andere wie das Wasser des Lebens. Die Sonne seines Antlitzes blendete den König wegen ihrer Schönheit. Der Herrscher sagte: «O mein Augenlicht, wer von uns beiden ist schöner?» Ayāz antwortete: «Ich bin schöner, o König.» Der König sagte: «Geh und hole einen Spiegel!» – «Ein Spiegel verzerrt oft das Bild, und ein verzerrtes Urteil ist nicht gültig­.» – «Wie sollen wir dann die Schönheit beurteilen?» – «Frage den Spiegel deines Herzens danach! Das Urteil des Herzens belebt die Sehenden; dem, was das Herz sagt, gibt es nichts hinzu­ zufügen.» Der König sagte zu ihm: «Dann frage du dein Herz, wer von uns beiden schöner ist.» Nach einer Weile sagte Ayāz:



9. Mahmūd und Ayāz: Wer ist der Schönere?351

«Ich bin schöner, gerechter König.» Der König sagte: «Bringe mir einen Beweis für deine Behauptung, Geliebter!» – «Wenn ich mich in Gegenwart des Königs Stück für Stück betrachte, dann sehe ich immer nur den Herrscher, von mir selbst sehe ich nicht einmal ein Atom. Da ich also gänzlich der glorreiche ­König bin, bin ich zweifellos der Schönere. Bei dir verhält es sich in der Schönheit anders: Am Ende ist Mahmūd der Schönere. Auch wenn die ganze Welt voller Sklaven ist, am Ende braucht es einen Mahmūd. Ende.»

Neununddreissigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zum Herzen

Der niedergeschlagene Pilger kam klagend und opferbereit zum Herzen und sagte: «O du, der du zwischen dem Körper und der Seele stehst, die Atome der Welt sind die Abbilder deiner Geheimnisse. Alle Geheimnisse des Seins und des Nichtseins sind auf ewig der Ertrag deines Wesens. All diese Atome des spiri­ tuellen Ganzen sind für immer rein von Einheit und Zweiheit. Und doch, o Wunder, gibt es Einheit und Zweiheit; es gibt keine Unterscheidung, und doch ist alles unterschieden. Wären Sein und Nichtsein nicht deine Zeichen, wäre dein Wesen ein Teil und nicht ein Ganzes. Du hast alles und hast gleichzeitig nichts, und so ist alles, was als dein Sein erscheint, auch Nichtsein. Du bist von der Einheit und der Vielzahl entfernt wie der Samstag, und wie der Freitag bist du weder Einzahl noch Vielzahl.1 Weil dein Links ganz und gar dein Rechts ist, geschieht alles, was du sagst. Du liegst zwischen zwei Fingern des Barmherzigen,2 dies und jenes ist für dich vorhanden, und das reicht dir. Als Beweis genügt dir «Beide Hände sind rechts»,3 und deshalb bist du gleichzeitig jemand anderer und du selbst. Die Rechte des Herrschers genügt den zwei Fingern. Diese beiden Belege genügen dir immer als Beweis. Da dir eine solche Nähe zuteilwird, ist die Nähe der beiden Welten für dich am geringsten. Gib mir Entferntem diese Nähe, mir, dessen Betrübnis alle Grenzen überschreitet.» Als das Herz die Geheimnisse dieses Betrübten gehört hatte, war es ebenso verwirrt wie dieser und antwortete: «Ich bin nur ein Widerschein der Sonne der Seele und ewig trunken vom ewigen Wein der Seele. Das Herz wurde von Seinem Finger, die Seele von Seinem Hauch erschaffen; wie könnte das Äußere wie das Innere wirken? Die Wandlung gehört zu mir, da ich mich



1. Zweifel an der Schwelle der Geliebten353

ständig drehe, um eine Brise vom Wehen des Geistes zu erhalten. Die Wandlung gehört zu mir, da ich mich immer drehe, um von der Nähe der Seele einen Gruß zu erhalten. Die Wandlung gehört zu mir, da ich mich drehe wie ein Poloball, um eine Spur vom Duft der Seele zu erhalten. Ohne Wein bin ich beständig trunken, denn durch dieses Innere habe ich gelernt. Vom Inneren, das keine Grenze hat, besitzen die mit dem Äußeren Vertrauten kein Haarbreit. Die Seele stammt aus dem Inneren  – was kann ich tun? Deshalb werde ich selbst durch diesen Kummer zu Blut. Wenn du auch nur einen Augenblick in meiner Nähe sein willst, musst du dir im Blut eine Heimat suchen. Wenn nicht, entsage Blut und Erde, reinige dich, und schlage den Weg zur reinen Seele ein!» Daraufhin ging der Pilger zu dem klugen Meister und legte seinen Zustand mit gepeinigtem Herzen dar. Der Meister sagte zu ihm: «Das Herz ist der Ozean der Liebe; seine Wellen sind voller Perlen der Liebessehnsucht. Liebesschmerz ist die Heilung für jedes Herz; ohne Liebe wird keine Schwierigkeit überwunden.» Sieh die Liebe im Herzen, und lege dein Herz in die Seele! Hundert Welten in hundert anderen Welten in hundert anderen Welten! Was bist du schon in deiner Fußfessel? Betrachte diese Welten nur einen Augenblick lang! Was überlegst du noch? Komm auf das Spielfeld, drehe dich wie ein Poloball, und komm verwirrt herein! Der Mann der Liebe denkt nicht an ­Gewinn; der Liebesschmerz verlangt Ruhelosigkeit von dir. 1. Zweifel an der Schwelle der Geliebten Ein Liebender hatte eine Geliebte, die schön wie der Mond war; vor ihr zog sogar die Sonne den Hut. Der Liebende hatte schon lange auf sie gewartet; er war dem Tode nahe, blutenden Herzens und kraftlos. Schließlich versprach ihm die Geliebte die Vereinigung und sagte: «Heute Abend werde ich dich er­ hören.» Der Mann kam zur Tür seiner Geliebten, als eine Schwierigkeit vor ihm auftauchte. Er dachte nämlich: «Wenn ich an die Tür klopfe, wird sie mich fragen: ‹Wer ist da?› Dann

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39. Der Pilger geht zum Herzen

werde ich sagen: ‹Ich bin es.› Dann wird sie zu mir sagen: ‹Wenn du es bist, dann begnüge dich mit dir selbst! Wenn du das Liebesspiel spielen willst, dann spiele es mit dir selbst!› Und wenn ich zu ihr sage: ‹Nicht ich bin es, du bist es›, wird sie zu mir sagen: ‹Dann geh!› Wie soll ich mich zwischen diesen beiden Schwierigkeiten entscheiden? Wie kann ich ich selbst sein und gleichzeitig nicht?» So stand er die ganze Nacht an der Tür seiner Geliebten, bis zum Morgen in Gedanken versunken. Diese Geschichte erzählte man einem aufrichtigen Mann, der sagte: «Das war ein Verstandesmensch, kein Liebender, denn ihm sind wie den Verstandesmenschen hundert Sachverhalte für Antwort und Frage in den Sinn gekommen. Wäre seine Liebe wirklich wirksam gewesen, hätte er die Tür eingeschlagen und wäre eingetreten.» Wenn du kleinmütig über dein Anliegen nachdenkst, wird deine Mühe gänzlich fruchtlos sein. Liebende haben nichts mit Nachdenken zu tun; wer an seinen Gewinn denkt, der ist ein Händler. Der gepeinigte Liebende braucht die Glut der Liebe; der Tag des Gerichts wird zur Nacht am Tag der Liebe. Wahre Liebe heißt, den Geliebten zu sehen und dann vor Leidenschaft zu sterben. 2. Der verliebte Tagelöhner, mit dem die Prinzessin ihren Spott trieb Ein König, der das Staunen der Horizonte erregte, herrschte unumschränkt. Er hatte im Frauengemach eine Tochter schön wie der Mond. Vor Kummer hatte die Sonne ihretwegen ihre Bahn verlassen. Sie war von Kopf bis Fuß Grazie, Schönheit und Anmut; sie war herzerquickend, herzbetörend und herz­ erfreuend. Die Sonne ihres Antlitzes leuchtete hell, und sie lehrte Mond und Sonne Bescheidenheit. Wenn die Gazellen in Tatarien an ihre Locken dachten, hatte der Nabel aller Gazellen bis zum Auferstehungstag einen Moschusbeutel. Wurde der Halbmond ihres Ohres in der Nacht ihres Haares sichtbar, ­legten hundert verliebte Männer den Sklavenring an. Spannte sich der Bogen ihrer Augenbrauen, spendete jede Zunge ihnen



2. Der verliebte Tagelöhner355

Beifall. Wenn von ihrem Bogen ein Pfeil abgeschossen wurde, fiel jeder, den er traf, sogleich blutend nieder. Die Pfeile ihrer Wimpern waren so spitz, dass sie hundertfaches Blutvergießen anrichteten. Wenn sie ihre Narzissenaugen öffnete, legte sie ­allen Seelen einen Hinterhalt. Sie säte Aufruhr unter den Zauberern und löste Schreie unter den Gazellen aus. Ihr schmaler Mund war wie ein mīm4 und gesiegelt von ihren rubinroten Lippen. Kein Haar hätte in ihrem Mund Platz gefunden, selbst wenn es so schmal wie ihre Taille gewesen wäre. Es wäre ein Fehler, ihre Art zu reden zu beschreiben, denn es ist bitter, nicht angemessen darüber sprechen zu können. Bitteres und Süßes mischten sich bei ihr, denn aus ihrem Salzfass rieselte Zucker. Das Wasser des Lebens dürstete nach ihren Worten; das Auge Redwāns war in ihren Anblick verliebt. Um ihre Lippen zu ­beschreiben, wären hundert Welten von Wissen nötig. Wie soll ich es in Worte fassen, wie es sagen, o Herr? Alles, was ich sagen kann, ist, dass es nichts Süßes gibt außer ihren Lippen. Was kann ich ihrer gedenkend noch hinzufügen als Seufzer? Dieses Götzenbild hatte einen Garten wie ein Paradies voller Bäume und ambraduftender Blumen. Im Frühling hatte ihr Diener für den Garten hundert Tagelöhner angestellt; sie alle arbeiteten wie Feuer und erfreuten sich an der Schönheit dieser Wiese. Da kam die Prinzessin in den Garten hinaus, als ginge in der Nacht das vierte Licht5 auf. Sie schritt graziös einher wie ein Rebhuhn, den Kopf stolz erhoben wie ein Falke. Der Saum ihres Brokatkleides schleifte auf der Erde, und ihr Haar verstreute Ambra in das Getreide. Als dieses Götzenbild so an­ mutig vorüberging, verneigten sich alle Blumen aus Scham vor ihr. Unter den Tagelöhnern befand sich ein Jüngling, ruhelos wie Feuer. Die Liebe zu dieser Prinzessin setzte sich in seiner Seele fest  – wie hätte es auch anders kommen können? Die Liebe zu ihr entflammte seine Seele, raubte ihm sein Leben und gefährdete seinen Glauben. Verloren fiel er zu Boden; seine Hände und Füße versagten ihm den Dienst. Der Sturzbach seiner Tränen durchnässte seine Kleidung, und seine feuer­ ­ sprühenden Seufzer durchzuckten ihn wie Blitze. Herz und Seele gerieten in Aufruhr. Er verließ seine Arbeit, denn eine an-

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39. Der Pilger geht zum Herzen

dere Arbeit wartete. Die Seufzer, die aus seinem Inneren brachen, kamen als eine zweite Hölle in die Wüste. Die Tränen, die aus seinen Augen flossen, waren eine Wolke, aber eine Wolke, die Blut regnete. Bald schlug er unaufhörlich mit dem Kopf gegen einen Felsen; bald schlug er viele Male mit Steinen auf sein Herz. Bald gab er seine liebestrunkene Seele hin; bald bereute er seine Liebe. Schließlich lag er bewusstlos in Staub und Blut und schwieg still, bis es Mitternacht war. Als die Prinzessin von der Liebe des Jünglings erfuhr, sagte sie zu ihrem Diener: «Hole ihn schnell, damit wir eine Weile über ihn lachen können; vielleicht tun wir uns auch mit ihm ­zusammen.» Der Diener ging, holte den Jüngling und brachte ihn, der auf eigenen Füßen lief, zu seinem Grab. Als der ruhelose Jüngling ankam, sah er tatsächlich eine Versammlung wie ein Gemälde. Überall saßen Mondgesichter, sie alle ihre Vertrauten, Gefährtinnen und Gesellschafterinnen. Sie ließen einen Weinkelch wie die Sonne um die Himmelssphäre kreisen. Es brannten ambraduftende Kerzen, und Aloeholz verströmte sein Aroma. Den Schönen wurden gebratene Hähnchen serviert, so dass seine Lippen zu tanzen begannen. Den Musikinstrumenten wurde das Geheimnis durch den David der Melodie offenbar. Die Klänge der Harfe und die Seufzer der Rohrflöte glichen einander aus wie Milch und Wein. Freude, Trunkenheit, fröh­ licher Gesang und die Schönheit der mondgleichen Frauen erzeugten Tumult und Aufregung, und Lärm erfüllte die Welt. Und in der Mitte saß das mondgleiche Götzenbild; ihr Antlitz überstrahlte alles. Das Herz kaufte ihre Schönheit zum Preis von hundert Leben; es kaufte ein Atom ihres Schmerzes als Heilung. Als der Jüngling diese Versammlung und so viel Vertrautheit in dieser Versammlung sah, begann er am ganzen Körper heftig wie Espenlaub zu zittern und weinte wie der Frühlingsregen. Er wollte wie ein Betrunkener schreien, als man ihm einen Becher voll Wein reichte. Als er den Becher leerte, war er verloren; er war trunken vor Liebe, ganz und gar trunken. So warf er im zerrissenen Gewand, berauscht und vernichtet, das Herz voller Feuer und die Augen voller Tränen, ihr verstohlene Blicke zu.



3. Mahmūd verkauft Ayāz357

Doch wie hätte er sie sehen können, wenn er doch weinte? Die Prinzessin näherte sich ihm mit einem Pokal in der Hand, und als sie sich neben ihn setzte, schmolz er dahin. Sie legte ihre ­Locken in die eine Hand des Unglücklichen und gab ihm den Wein in die andere Hand. Dazu sagte sie: «Halt meine Locken fest, und trinke den Wein! Mach dir keine Sorgen, o du, dem es heute Nacht besser gehen wird als gestern!» Als der Jüngling dort seine Schmach bemerkte und ihre ­Locken in der Hand und sie neben sich sah, wusste jener ruhelose Bettler nicht mehr, wohin er bei diesem Götzenbild schauen sollte. Sollte er die Augen oder die Krümmung der Augenbrauen anschauen? Das Gesicht oder die Windungen der Locken­? Das Lächeln oder die beiden feuchten Rubine? Den Augenaufschlag oder die beiden gewundenen Zöpfe? Für einen solchen Ort hatte er nicht die Festigkeit; er hatte nicht die Kraft für diesen Ansturm der Schönheit. Schließlich fiel er vor Ver­ zückung nieder, gab seinen Geist auf und ließ den Pokal aus der Hand fallen. Er wurde von dieser sterblichen Welt befreit; man beerdigte ihn, und seine Liebe wurde vom Winde verweht. Wenn du nicht die Kraft für die Liebe der Herzraubenden hast, bist du nur ein Unwissender, der vorgibt, sie zu kennen. Wenn du dafür nicht mutig genug bist, verkaufst du deinen Freund jeden Augenblick. Wer den geliebten Freund verkauft, hat seine Seele neben dem Wasser von Chedhr6 verkauft. 3. Mahmūd verkauft Ayāz Eines Tages geriet der Herrscher während einer Versammlung über den anmutigen Ayāz in Zorn. Der König rief Hasan zu sich und sagte: «Künftig habe ich mit Ayāz nichts mehr zu schaffen. Er hat meine Seele aufgewühlt; was soll ich tun? Soll ich ihn in den Block legen lassen oder sein Blut vergießen? Soll ich ihn freilassen und dadurch meinen Kopf verlieren, oder soll ich ihn verjagen und mich von ihm lösen? Das Schlimmste, was ihn von mir treffen könnte, soll ihn gewiss jetzt von mir treffen.» Da der Wesir sehr pflichteifrig war, antwortete er: «Am schlimmsten wäre es, ihn zu verkaufen.» Diese Worte

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39. Der Pilger geht zum Herzen

g­ efielen dem König, und er befahl: «Verkauft diesen Verderbten!» Als man Ayāz eilends auf den Markt brachte, strömten Käufer von überall herbei. Schließlich kaufte ein Edelmann ­diesen Jasminbrüstigen für tausend Dinare. Nach einigen Tagen befiel den welterleuchtenden König Reue. Er ließ dem Edelmann ausrichten: «Bring mir Ayāz!» Da kam der Edelmann mit Ayāz zum König. Als der Herrscher aus der Ferne sein Gesicht sah, erkannte er seine Seele Haar für Haar als wertlos gegenüber seinem Haar. Der König schämte sich für seine Tat, und hunderttausend Tränen liefen ihm über das Gesicht. Zu dem Mann sagte er: «Wie verderbt bist du, dass du meinen Ayāz kaufen konntest? Wusstest du nicht, dass jedem – sei er unwürdig oder würdig –, der den Geliebten des Königs aus Unwissenheit kauft, zur Vergeltung sein Blut mit dem scharfen Schwert erbarmungslos vergossen wird?» Da erhob der ruhmreiche Ayāz die Stimme und sagte unter Tränen: «O König, wer den Geliebten kauft, dem muss der Kopf abgeschlagen werden. Aber erkläre mir auch das, was meine Seele verzehrt: Was geschieht mit dem, der den Geliebten verkauft? Wenn das Kaufen mit Blut vergolten wird, wie steht es mit dem, der verkauft?» Ein wahrhaft Liebender, auch der König, muss, wenn er es vermag, seinen Geliebten schützen. Die Kaaba, die dem Aus­ erwählten der Liebenden eigen ist, ist aus beiden Welten der Mann dieses Bauwerks. Die Kaaba aber, um welche die Seele kreist  – wann wäre sie ein Ort für jedermann? Fürchtest du nicht, wenn sie nicht zugänglich ist, die acht Paradiese zu ­verlieren? Ohne das Licht des Herzens sind die acht Paradiese nichts wert. Das Leben des Herzens hängt von der Liebe der Seele ab und die Liebe der Seele vom Liebäugeln des Geliebten. Alles, was der Liebende vom Geliebten erhält, und sei es Unglaube, ist seiner würdig.



4. Madschnūns Lieblingswort359

4. Madschnūns Lieblingswort Jemand fragte einmal Madschnūn: «Welches Wort liebst du am meisten?» Er antwortete: «Ich liebe immer schon das Wort ‹Nein› am meisten. Solange ich lebe, wird ‹Nein› mir genügen.» Er sagte: «Solange es doch Ja gibt, du Unwissender, warum liebst du das ‹Nein› am meisten?» Er antwortete: «Einmal habe ich Laylā gefragt: ‹O du, deren Antlitz die Sonne untergehen lässt, liebst du mich?› Sie antwortete: ‹Nein.› Seitdem ertrage ich das Unglück zur Stütze für dieses ‹Nein›. Seit ich das Wort ‹Nein› aus ihrem Munde gehört habe, bin ich mit Herz und Seele in das ‹Nein› verliebt. Seither gibt es – nein, bei Gott! – für mich überhaupt kein Wort mehr, das mir mehr gefällt als ‹Nein›.» Für die Liebe braucht es eine Seele voller Feuer; sie braucht eine Hölle als Gefährtin ihres Feuers, damit das Herz der Lieben­ den entzündet und von der Hitze des Feuers verzehrt wird. Das Feuer brennt durch die Liebe; es ist heiß durch die herzerquickende Liebe. Alle Atome, ob sichtbar oder verborgen, sind das Merkmal der Liebe in beiden Welten. 5. Der Vollkommene und der Feuertempel Ein vollkommener Mann kam an einem Feuertempel vorbei und wurde beim Anblick des Feuers ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, fragte ihn ein Gefährte: «Warum ist der Vogel ­deines Verstandes fortgeflogen?» Er antwortete: «Als ich das Feuer gesehen habe, begann das Feuer über sich zu sprechen und sagte: ‹Hüte dich davor, mich aus niederer Gesinnung mit geringschätzigen Blicken anzuschauen! Denn bei all’ der Glut und Hitze, die Tag und Nacht in mir brennen, bei der Hitze und dem Brand, worin ich mich befinde, kümmere ich mich nicht um diese Handvoll Esel.›»7 Wer in der Liebe nicht wie das Feuer wird, der hat in der Liebe niemals wahren Genuss erlebt. Der Liebende muss im Tode heiß sein; er muss sich vollständig im Geliebten auflösen. Geh auf dem Weg zu deinem Geliebten ohne Zeichen, damit du auf ewig ganz und gar ein Geliebter bist.

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39. Der Pilger geht zum Herzen

6. Mahmūd und Ayāz auf der Jagd Der Herrscher trieb sein Pferd auf die Jagd, und das aufgescheuchte Wild floh vor ihm. Da stiegen Ayāz die Tränen in die Augen, und der König fragte ihn: «O mein guter Diener, ­warum weinst du wie eine Regenwolke?» Er antwortete: «Weil ich meine Eifersucht nicht verbergen kann. Warum jagst du wie der Wind hinter etwas her, das vor dem König flieht? Da du es bist, der hinter dieser hilflosen Beute her ist, und sie vor dir flieht  – das ziemt sich nicht.» Der König: «Aber ich jage ihr doch hinterher, um sie zu fangen oder niederzustrecken.»  – «Das steigert meine Eifersucht um das Tausendfache, weil du nicht mich fängst, sondern die Jagdbeute.» – «Aber ich fange sie doch voller Kummer, denn ich will sie töten und ihr Blut in den Staub fließen lassen.» – «Das steigert meine Eifersucht jetzt um das Hunderttausendfache. Warum tötest du nicht mich? Welch ein Jammer!» – «Ich töte sie doch, o Diener, um sie zu verzehren. Wer möchte in so einer Lage sein?» – «Jetzt kennt meine Eifersucht kein Maß mehr. Warum machst du nicht Ayāz zu deiner Speise?» – «Wenn ich deinen Körper zu meiner Speise machte, verschwändest du und hättest mich nicht mehr.»  – «Nein, bei Gott, wenn doch der König der Welt diesen Verwirrten zu seiner Speise machte! Wenn ich jetzt nur ein wert­ loser Sklave bin, würde ich dann ganz zu Mahmūd, und das genügt mir.»

Vierzigstes Kapitel Der Pilger des Herzensgedankens geht zur Seele

Der ruhesuchende Pilger, die duftende Pflanze des Pfades, kam nun mit hundert nach Stille strebenden Herzen zur Seele und sagte: «O du Widerschein der Sonne der Erhabenheit, deine Strahlen stammen von der ewigen Sonne. Alles, was absolute Einheit ist, findet sich in dir verwirklicht. Du stehst jenseits von Verstand und Erkenntnis; dich kann man nicht erklären oder beschreiben. Du bist ohne Wesen und Eigenschaft und gleichzeitig ewige Eigenschaft und ewiges Wesen. Dir eignen reine Zeichenlosigkeit und Namenlosigkeit; deine Gestalt ist das Verborgene des Verborgenen. Über dir gibt es kein anderes ­Geschöpf, außerhalb von dir keinen anderen Geliebten. Wie könnte man im Glanz der Sonne der Erkenntnis einem anderen Licht Eigenschaft zuschreiben? Du bist das Ausgelöschte im Ausgelöschten, das Unsichtbare im Unsichtbaren, und durch deine Unsichtbarkeit wird der Mensch sichtbar. Du besitzt alles und bist gleichzeitig nichts; weil du vollständig nichts bist, hast du nichts Verwickeltes an dir. Nicht nur, dass du beständig rein vom Nichts und vom Alles bist – wie seltsam, du bist auf ­immer rein von Reinheit. Du bist für die Pilger die letzte Station und gewinnst hundert Welten in hundert Welten. Hundert Welten in hundert Welten sind vorübergezogen, und nun wollen sie in deine Welten gelangen. Jeden Augenblick stürzen sie sich in hundert Welten und setzen für deinen Anblick ihr Leben aufs Spiel. Da du Seele und absolutes Universum bist, bist du auch der Odem des Barmherzigen und der Hauch Gottes. Ich bin in dieser Weite auf dem Weg zum Weiten; erhebe mich, damit ich den Weg zum Erhebenden finde! Meine Seele ist nur ein Zweig aus deinem Meer; ich sterbe, und die Weisheit ist jetzt die deine. Wenn du mir im

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Leben Weite gibst, dann gibst du mir auf ewig Erhöhung, wie du sie hast.» Die Seele sprach: «O Pilger mit der verwirrten Seele! Du bist so weit durch die Welt geirrt und hast aus Liebe zu mir hundert Welten durchquert, bis du endlich an das Ufer meines Meeres gelangt bist. Auch wenn du in jedes Atom eindringen willst – es gibt keinen Weg vom Mond bis zum Fisch. Was du verloren hast, liegt in dir selbst; du bist dir selbst ein Schleier. Der Mensch eilte anfangs zu jedem Stäubchen, aber solange er den Weg zu sich selbst nicht fand, fand er keinen Weg. Auch wenn du in alle Richtungen gelaufen bist, hast du diesen Weg doch nie gefunden. Jetzt, wo du hier angekommen bist, sei ein Mann! Tauche in mein Meer ein; sei mutig! Ich bin das grenzenlose Meer, auf ewig ohne Anfang und Ende. Überwinde an meinem Ufer die Trennung, löse dein Herz vom Leben, und ertrinke in mir! Wenn du einmal völlig in dieses Meer eingetaucht bist, so versinke immer weiter! Denn solange du in diesem endlosen Meer bist, o Wunder, wirst du, je mehr du versinkst, desto durstiger. Der Tropfen lebt beständig in Wassersucht, weil er wie das Meer sein will. Doch wenn der Tropfen das Meer verlässt, verfällt er ins ‹Warum?› und ‹Was?› und ‹Wie?›. Wird der Tropfen aber vom Oxus1 fortgetragen, bleibt nichts mehr vom ‹Warum?› und ‹Was?› und ‹Wie?›. Solange du im Diesseits bist, gibt es das ‹Warum›, das in der Willkür der Ereignisse enthalten ist. Wenn du einmal, alles aufs Spiel setzend, dieses Meer erreicht hast, wann könnte man dich von der Erde lösen? Würdest du die ganze Welt durch das Sieb passieren, würde niemand im Sieb bleiben. Jeder, der fort­ gegangen ist, wird zu einem Tropfen im Meer; was einer war, ist er auch in der Liebe. Jeder bewegt sich in seiner Vorstellungswelt, ob Greis oder Kind. Freude und Leid bringt man von hier; Hölle und Paradies bringt man von hier. Wenn du jetzt hinausgehst, dann achte darauf, wie du hinausgehst. Wenn du in Gehorsam gegangen bist, wirst du dort ebenso sein wie in dem Augenblick, als du gegangen bist. Und wenn du als Sünder gegangen bist, wirst du dort ebenso sein wie in dem Augenblick, als du gegangen bist. Kehre nun in das Meer zurück, mein Sohn! Das, was



40. Der Pilger geht zur Seele363

hier ist, wirkt dort, mein Sohn. Ob der Tropfen mündig oder unmündig ist – das Meer ist von Gut und Böse frei. Ob der Tropfen gläubig ist oder Götzen verehrt – das Meer bleibt immer so, wie es ist. Alles Gute und Schlechte wird in dir sichtbar; auch alles Reine und Unreine kommt von dir. Seiner Sehkraft entsprechend wirkt der Tropfen auf der Oberfläche des Meeres. Überall, wohin sein Blick nicht reicht, glaubt der Tropfen, es sei eine Küste. Da dieses Meer aber gar kein Ufer hat – wie kann der Tropfen dann ein Ufer sehen? Wenn er ein Ufer sieht, dann ist das seine Phantasie; und wenn er ein Trugbild sieht, dann ist das sein Schicksal. Der Ameise, die auf einen Berg hinaufläuft, erscheint der Berg kleiner als ein Strohhalm. Und könnte die Mücke die Größe des Elefanten erfassen­ – wann würde sie sich an sein Blut heran­ wagen? Zeigte sich die Sonne in ihrer ganzen Größe, würde sich die Sonnenanbeterin aus Liebe zu ihr vernichten. Weil sie es nicht besser weiß, glaubt die Sonnenanbeterin, dass die Sonne nur für sie ihren Lauf vollführt. Wenn die Sonne an der Quelle des Westens untergeht, versinkt die Seerose vor Neid im Wasser und sagt: ‹Wenn die Sonne sich vor mir verbirgt, was soll ich ohne ihr ­Gesicht aus der Welt machen?› O du, der du noch im Sack deines eigenen Selbst steckst, du betest deine eigene Vorstellungskraft an. Was geschieht, liegt außerhalb deiner Phantasie; wie lange, sag, soll ich noch an deinen Ketten rütteln? Du bist eine Mücke und setzt dich auf den Elefanten, damit du ihn mit deiner Hand ­umwirfst. Du bist ein Sperling und fliegst auf den Berg Qāf, ­damit du ihn mit deinem Schnabel spaltest wie ein Kāf.2 Du bist ein Stäubchen und gehst von Ort zu Ort, damit du deinen Fuß auf die Sonne setzt. Du bist ein Tropfen und wallst auf wie eine Quelle, damit du den größten Ozean austrinkst.» Als die Seele diese Worte gesprochen hatte, hatte sie für die Wegzehrung und den Wanderer gesorgt. Dann stürzte er sich in die Tiefe des endlosen Meeres; er hatte den Menschen seiner Seele gesehen und den Weg zu seiner Seele eingeschlagen. Kurzum, der Pilger tauchte ins Meer der Seele ein, und seine Seele verlor ihre Angst. So viel seine Seele auch voraus- und zurückschaute, erkannte sie beide Welten als Schatten ihres ­ ­eigenen Wesens. Die ganze Suche, alle Mühen und Anstrengun-

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40. Der Pilger geht zur Seele

gen, alle Treue und Sehnsucht, alle Verpflichtungen, all die Verwirrtheit eines jeden Augenblicks, alle Schreie, Seufzer und Klagen – all das sah er nicht mit dem Körper, sondern mit der Seele – nein, er sah es nicht mit der Seele; er sah den Geliebten! Voller Erstaunen wusch er sich von seinem Selbst; er wurde rein von seinem Selbst und setzte sich in eine Ecke. Obwohl er sich auf einer leidvollen Suche vorfand, erkannte er doch die Suche nach seinem Selbst als vollkommen nichtig und sagte: «O Seele, da du doch alles warst, was ist, und da du auf die Frage ‹Bin Ich nicht euer Herr?›3 mit ‹Ja› geantwortet hast und da du doch in beiden Existenzen vertrauenswürdig bist, warum hast du mich so lange umherirren lassen?» Die Seele antwortete: «Damit du meinen Wert ein wenig schätzen lernst, wie ­jemand, der einen Schatz erhält. Denn wer einen Schatz leicht in die Hand bekommt, wird dessen Wert niemals zu würdigen wissen. Den Wert eines Schatzes erkennt nur der, der ihn mit vielen Mühen hebt.» 1. Der Edelstein der Erkenntnis Schiblī ging zu Dschunaid und sagte: «Ich stecke von Kopf bis Fuß in der Klemme. Man erzählt in jedem Land, dass du den Edelstein der Erkenntnis besitzt. Schenke mir den Edelstein und lass ihn mich begleiten, oder verkaufe ihn mir und mache mich wissend!» Da antwortete Dschunaid: «Wenn ich dir diesen Edelstein verkaufte, kämst du, da er unbezahlbar ist, in große Schwierigkeiten. Und schenkte ich ihn dir, könntest du, weil du ihn so leicht bekommen hast, seinen Wert nicht erkennen und würdest eingebildet. Überwinde wie ich die Trennung, und versinke im Meer der Askese, damit du in diesem Meer mit Geduld und Ausdauer dieses Kleinod ans Ufer ziehst.» 2. Der Geschmack der wahren Religion Eines Tages sagte ʿOmar zu seinem Sohn: «Woher willst du den Geschmack der wahren Religion kennen, mein Sohn? Ich kenne ihn und habe ihn gespürt, denn ich habe auch den Geschmack des Unglaubens gekostet.»



2. Der Geschmack der wahren Religion365

* Als die Seele nun so viel Unruhe in sich sah, brauste sie auf wie eine Frühlingswolke und sagte: «Ob ich gut oder böse war – in Wahrheit war ich doch nur auf der Suche nach mir selbst. ­Keinen Augenblick lang habe ich auf der Suche geruht, sondern Tag und Nacht mich selbst gesucht. Wohin ich auch gegangen bin, ob hoch oder tief, für alles kam doch nur aus mir Licht und Schmuck. Da ich in Wirklichkeit alles war, habe ich auch die sieben Rosengärten erhellt. Warum bin ich dann nach ­außen gereist und habe hierhin und dorthin geblickt? O weh, ich habe die Welt durchwandert und dabei den eigenen Wert nicht erkannt. Hätte ich mich nur in meiner Seele bewegt, wäre ich hundertfach größer.» Der verwirrte Pilger begab sich zu seinem Meister. Er las ihm die Geschichte seiner Seele von der Tafel seines Gemüts vor und sagte: «Alles, was offenbar und verborgen ist, ist ein Zeichen der herzerleuchtenden Seele. Ich sehe die Zeichen der Seele überall in der Welt; ich sehe den Strahl der Seele und der Welt überall. Ihr Strahl brach mit Macht aus dem Heiligen hervor und versetzte Welt und Seele in Aufruhr. Es war ein endloser Strahl, der bis zur grenzenlosen Ewigkeit reichte. Alles, was war, ist und sein wird, hat den Namen «Ding» von diesem Strahl. Dieser Strahl wird mit Recht ‹Seele› genannt; er ist eine Hilfe für beide Welten. Das Heilige wurde kraftvoll offenbar, und, o Wunder, das war der Seelengrund. Doch weil die Seele zeitlos ist, offenbart sie sich in tausend Formen. Sie besitzt ­Eigenschaften und Wesen, die beide wie die Seele kostbar und wertvoll sind. Am Anfang war die Seele reines Licht, sonst nichts; und dies war das Licht Mohammeds und sonst nichts. Als das Wesen der Seele erstrahlte, erschien der ruhmreiche Gottesthron, und als der Gottesthron erstrahlte, erschien der Fußschemel. Als dann der Fußschemel erstrahlte, erschienen durch dieses Geheimnis der Himmel und die Sterne. Als Sterne und Himmel erstrahlten, traten auf einen Schlag die vier Elemente in Erscheinung. Als danach, weil keine Kraft zum Leuchten mehr übrig war, sich die vier Elemente vermischten,

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entstanden wilde Tiere, Vögel, Pflanzen und andere Zusammensetzungen. Das Wesen der Seele besaß auch Eigenschaften und wurde edel durch Wissen und Macht. Durch ihr Wissen wurde die Wohlverwahrte Tafel offenbar, und durch ihre Macht setzte sich das Schreibrohr in Bewegung. Da sie aufgrund ihrer Ergebung an erster Stelle stand, erschienen zahllose Engel und die Thronträger. Aus der Zufriedenheit der Seele erhob sich der Garten Eden, und aus ihrem Zorn entstand die Hölle. Weil die Seele ursprünglich nichts als Befehl war, erschien aus dem ­Befehl rasch Gabriel; aus Huld und Güte erhob die Seele dann Michaels Haupt. Ihre Gewalt war der Ursprung ʿAzrāʾīls, und aus den zwei verbleibenden Eigenschaften entstand Isrāfīl: Eine davon war die Schöpfung, die andere die Vernichtung. Doch die Seele steht über Sein und Nichtsein. Wenn die Eigenschaften­ der Seele ohne Zahl sind, kann jeder ein Engel entsprechen.» Als der Meister diese Erklärung zur Kenntnis genommen hatte, sagte er: «Jetzt ist deine Seele ein Mann des Pfades. Kein Stäubchen Eigensinn ist mehr in dir geblieben; du musst nur noch im Entwerden entwerden. Solange du dich noch im Mittelpunkt gesehen hast, warst du weit von dem Geheimnis der Gottesschau entfernt. Jetzt hast du gesehen, dass die Suche nach dem Freund die des Freundes ist; wenn du das siehst, ist es gut.» 3. Der Weg von Gott zu Gott Abū ʿAlī Tūsī, der Imam des Äußerlichen und des Inneren, fragte einmal Mīr Kārīz: «Führt der Weg von Gott zum Diener oder vom Diener zu Gott? Verrate mir das Geheimnis!» Er ­antwortete: «Der Weg führt nicht von diesem zu jenem oder umgekehrt, sondern der Weg führt von Gott zu Gott; das ­erkenne mit Gewissheit! Es gibt nichts außer Ihm; wer kann ­etwas anderes als Ihn lieben? Wenn Er die Weisheit ist, dann ist Er der Weg zu ihr.»4



4. Charaqānīs Traum367

4. Charaqānīs Traum Von der Seele Charaqānīs fiel der Schleier, und er sah eines Nachts Gott, den Erhabenen, im Traum und sagte: «O Gott, ich habe Dich sechzig Jahre lang Tag und Nacht in jeder Hinsicht, ob im Sichtbaren oder im Verborgenen, gesucht. In der Hoffnung auf Dich habe ich viele Wege zurückgelegt; ich habe Dich gesucht, seit ich existiere. Befreie mich von meiner Existenz, und schenke mir das Morgenlicht der Erkenntnis!» Gott, der Erhabene, erwiderte: «O mein Charaqānī, da du Mich seit sechzig Jahren kennst oder Mich sechzig Jahre lang Tag und Nacht voller Eifer gesucht hast – Ich habe dich in der anfangslosen Urewigkeit ohne jeden Grund erschaffen und dich zum Herren deines Glücks bestimmt. Ich habe dich seit der anfangslosen Urewigkeit gesucht, als du noch nicht existiertest. Ich wollte dich noch mehr als du dich selbst. Ich war auf der Suche nach dir, bevor du Mich gesucht hast. Die Suche, die heute aus deiner Seele aufsteigt, ist gar nicht die deine, sondern ganz die Meine. Wäre am Anfang nicht Meine Suche gewesen, wie hätte dann deine Suche jemals entstehen können? Weil du Tötendes und Erschaffendes als gleich gesehen hast, hast du dich ohne Selbst lebendig gesehen. Du bist auf ewig zur Fackel des Glaubens geworden; durch das dir anvertraute Gut bist du ein Mann geworden, der die Welt erkennt.» 5. Der Hochmut der Erzengel Als Gott, der Erhabene, den Gottesthron errichtete, rief er ­ undert Welten voller Engel. Gott sagte zu ihnen: «Tragt den h Gottesthron, denn die irdischen Wesen könnten das nicht, obwohl sie das Hunderttausendfache von euch zählen. Geht mit Macht und Stärke ans Werk!» Alle beeilten sich flink und stolz, erwiesen sich allerdings alle als zu schwach. Als Er ihre Zahl verdoppelte, befiel sie alle dieselbe Schwäche. Die Engel konnten das Universum nicht tragen, es war, als ob eine Ameise den Himmel drehen wolle. Da befahl Gott acht Erzengel herbei und, o Wunder, sie konnten den ruhmreichen Thron hochheben­.

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40. Der Pilger geht zur Seele

Sie hoben den Thron auf ihre Schultern und waren stolz auf ihre Ehrerweisung: «O Wunder, wir haben den Thron, durch den so vielen Engeln die Flügel kraftlos geworden sind, ganz ­allein gehoben und nicht einen Augenblick niedergesetzt.» Und sie wurden ein wenig hochmütig, bis Gott, der Gerechte, ihnen befahl: «Schaut von eurem Platz aus, was ihr unter euren F ­ üßen seht!» Als die Engel nach unten blickten, wurden sie aus Angst ­ihres Lebens überdrüssig. Unter ihren Füßen erblickten sie nur Luft, sonst nichts – wie könnte irgendjemand auf Luft stehen? Da sprach Gott die Ermahnung aus: «O ihr, die ihr aus Hochmut das Rechte zu einem Fehler gemacht habt! Als ihr den größten Thron hochhobt, hieltet ihr euch für dessen Träger; doch wer trägt eure Last? Seht doch, ihr, deren Wirken voller Mängel ist!» Als die Engel hinschauten, konnten sie keinen ­Gedanken mehr fassen. Wer meint, dass die ruhelose Seele die Kraft hat, das Geheimnis des Schöpfers zu tragen oder solche Lichter weiterzugeben oder solcher Geheimnisse würdig zu sein, dann ist das Hochmut und Einbildung, und davon gibt es vieles auf dem Pfad. Das anvertraute Gut trägt Sein Geheimnis in sich, und die Schale der Welt trägt den Kern der Welt in sich. Gäbe es dieses reine Geheimnis im Inneren nicht, wie könnten Wasser und Erde dieses anvertraute Gut enthalten? Nur Rostams Rachsch kann Rostam tragen; glaube nicht, dass Menschen ihn tragen können. Wäre «Wir trugen sie»5 nicht verkündet worden, könnte niemand aus eigener Kraft Träger dieses Geheimnisses sein. Wenn du angekommen bist und gesehen hast, was zu sehen war, wurde hier dem Menschen die Zunge abgeschnitten. Reise jetzt auf ewig in dir selbst; blühe jeden Augenblick mehr auf! Doch wenn du von deinem Ich erlöst werden willst, damit du hinter dem Vorhang der Einheit zum Auserwählten wirst, musst du aus dem Sein der Seele heraustreten und jetzt zum Vertrauten des Geliebten werden. Wenn du das willst, brauchst du Geduld; wie kann der Geliebte dein werden, wenn du am Leben hängst? Leg deinen Verstand und deine Seele auf die Waagschale und wiege sie gegeneinander auf. Wenn dein Ver-



5. Der Hochmut der Erzengel369

stand siegt, bist du mit einem Makel behaftet; wenn die Seele obsiegt, ist der Geliebte dein. Bleibe in der Armut aufrecht wie das Zünglein an der Waage; neige weder willentlich zum Verstand noch zur Seele. Und wenn du wahrlich bist wie dieses Zünglein, siehst du die anfangslose und die endlose Ewigkeit als eines. Unglaube und Glaube, Verstand und Seele, Erde und Wasser haben für dich dann die gleiche Farbe wie die Sonne. Wenn dir im Einssein alles in derselben Farbe erscheint, bist du auf ewig von allem frei. Wenn aber in der Armut der Seele nur ein Stäubchen von etwas bleibt, dann bedeutet das Mal von «Es fehlte wenig, dass die Armut»6 auch Unglaube. Warum ist die Armut ein ewiger Schatten mitten auf der Sonnenscheibe geworden? Sie begnügt sich auf ewig mit einer Scheibe, denn die Scheibe und die Genügsamkeit werden ausgelöscht; der Eine bleibt der Eine. Wenn es außer der Einheit noch etwas anderes gibt, dann ist es doch die Einheit, auch wenn man es unterscheidet. Denn hier ist dies alles Er und sonst nichts, dann sieh nichts als schlecht an; denn dies alles ist sehr schön, so wie es ist. Jenes und dieses und dieses und jenes gehören hierher, doch dort ist all das nur Schwärze. Wenn du ein verständliches Beispiel brauchst, denke an das Meer, das zu Regen wird. Was aus der Nähe des Einen sichtbar wird, erscheint, wenn es herabkommt, als Zahl. Der Koran ist in Wirklichkeit nur ein Wort; er kam ungeteilt, denn er wurde als ­ganzer herabgesandt. Hunderttausend Tropfen bilden das eine Meer von Oman, doch fern davon wird Regen daraus. Alles, was einen Namen bekam und zu etwas Seiendem wurde, ist ­alles nur ein Tautropfen aus dem Meer Seiner Güte. Die Wahrheit der Gotteserkenntnis wird dir erst zuteil, wenn das, was du Verstand nennst, nichtig wird. Man braucht Verstand, um den Gottesdienst zu verrichten, aber du brauchst die Seele, die zu Gottes Herrlichkeit führt. Wie könnten Verstand und Seele übereinstimmen? Mit ­einem lahmen Burāq kann man nicht reiten. Dein Schmerz ­beginnt mit Nachdenken und endet mit Erstaunen. Es braucht Erkenntnis, sofern ein Mensch dazu fähig ist, damit er begreift, dass am Ende nur Unwissenheit steht. Wer auch nur ein Atom

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40. Der Pilger geht zur Seele

von Seiner Größe begreifen möchte, wird zu einem Nichts; wann könnte er gewinnen? Sein ganzes Tun ist dann nur ge­ liehen, und ihm gehört nichts von dem, was er sagt. Die Erklärung mag für das Gesetz und den Weg gut sein, aber für Gott ist die Erklärung nur schwarzer Schnee. Widme dich der ­Erklärung des Gesetzes, aber werde blind und stumm, wenn es um Gott geht. Jetzt, wo du das Geheimnis des Wirkens vollständig gehört hast, brauchst du nichts anderes mehr. Und nun Schluss! * Der Pilger, o Wunder, ging nun Tag und Nacht von den Zeichen in den Welten zu den Zeichen in der Seele.7 Was es auch vieles hinter und vor ihm gab, er sah beide Welten nur noch in sich selbst. Beide Welten waren ihm der Widerschein seiner Seele, und größer als beide Welten erkannte er seine Seele. Als er durch das Geheimnis seiner Seele sehend geworden war, wurde er lebendig und Gottes Diener. Von nun an war er das Fundament der Gottesknechtschaft, und mit jedem Atemzug nahm er hundert Leben auf. Der verwirrte Pilger war nach ­einer so langen Reise endlich bei Gott angelangt; jetzt begann die Reise in Gott. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Diese ist die wahre Reise und sonst nichts; alles was man tun sollte, ist diese Reise. Wenn ich dir hier über diese Reise erzählen sollte, würde ich ohne Zweifel beide Welten umstürzen. Hätte ich ein weiteres Leben, könnte ich dir diese Reise schildern. Schriebe ich ein neues Buch über diese Reise, würde ich auf ewig beide Existenzen erleuchten. Erhielte ich dafür die Erlaubnis von Gottes Hof, wäre meine Seele dafür bereit. Doch sie von sich aus zu schildern, wäre ein Fehler, denn nur wenn die Majestät es mir erlaubte, wäre es zulässig. Diese Reise habe ich vollständig dargelegt, bis ein anderer Befehl an mich gelangt. Ende.

Anhang

Dank

Mein besonderer Dank gilt Nasi Shahin und Mehrdad Razi, die mir als persische Muttersprachler und Kenner der klassischen persischen Literatur wertvolle Hilfe bei der unter dem Verszwang oft schwer durchschaubaren Grammatik und der Vieldeutigkeit der persischen Begriffe geleistet und mich vor ­einigen Irrtümern bewahrt haben. Ohne Ulrich Holbein wäre die Übersetzung gar nicht zustande gekommen; er hat mich ­gedrängt, diese Aufgabe zu übernehmen, und sich beim Verlag C.H.Beck für die Veröffentlichung eingesetzt. Meine Frau Ulrike­hat sich dafür geopfert, Korrektur zu lesen. Herr Dr.  Ulrich Nolte vom Verlag C.H.Beck hat mit Geduld und vielen konstruktiven Vorschlägen ganz wesentlich zum Zustandekommen dieser Übersetzung beigetragen, und Frau Sabine Höllmann hat mein Manuskript sehr sorgfältig lektoriert und damit zu einer deutlichen Verbesserung der Verständlichkeit und Lesbarkeit beigetragen. Schließlich bedanke ich mich bei Frau Professor Monika Gronke und ihren Mitarbeiterinnen Tahereh Matejko und Jutta Wintermann, die mit philologischem­ Sachverstand in akribischer Kleinarbeit noch vorhandene Übersetzungsfehler und fehlende Textteile gefunden sowie für weitere Hintergrundinformationen gesorgt haben.

Zur Übersetzung

Für unsere Übersetzung lagen uns zwei persische Editionen vor: die Ausgabe von Līmūdahī und von Šāfīʿī-ye Kadkanī. Beide Editionen beruhen auf der Fassung von Nūrānī Wesāl, die auch von Annemarie Schimmel und Navid Kermani für ihre Arbeiten über ʿAttār sowie von Isabelle de Gastines für ihre Teilübersetzung des Moṣībatnāmeh ins Französische heran­ gezogen wurde. Die gedruckten Übersetzungsvorlagen, insbesondere die von Šāfīʿī-ye Kadkanī, sind mit umfangreichen ­Anmerkungen versehen, die uns sowohl für das Verständnis des Textes als auch für die Bezüge zum Koran und den prophetischen Überlieferungen wertvolle Hinweise geliefert haben. Im Deutschen ist für das Verständnis der Arbeit ʿAttārs zweifellos das Werk «Das Meer der Seele» von Hellmut Ritter grundlegend. Es enthält profunde Hintergrundinformationen über den Islam und die persische Literatur. Daneben finden sich viele Übersetzungen – häufig in Form einer Zusammenfassung  – und Interpretationen von Auszügen aus dem Moṣībatnāmeh und den anderen beiden großen Mathnawīs1 ʿAttārs, dem Ilāhīnāmeh (Buch Gottes) und dem Mantiq ottayr (Vogelgespräche). Annemarie Schimmel hat in ihrem Buch «ʿAttar. Vogelgespräche und andere klassische Texte» zu diesen drei Mathnawīs noch ʿAttārs Dīwān hinzugezogen und den Versuch unternommen, Auszüge aus diesen Werken nachzudichten. Darüber hi­ naus enthalten ihre Kommentare wertvolle Hinweise sowohl zur Philosophie und Theologie ʿAttārs als auch zum Verständnis einzelner Begriffe und Redewendungen. Eine Reihe dieser Kommentare wurde in unsere Anmerkungen übernommen. ­Einige Anmerkungen gehen auf Šāfīʿī-ye Kadkanī zurück. In Navid Kermanis «Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und



Zur Übersetzung375

die metaphysische Revolte» ist der Fokus auf die Geschichte der Religiosität gerichtet, die Gott kennt, aber ihm zürnt. Dazu wird die Verbindung zwischen dem Islam ʿAttārs, dem Alten Testament, der jüdischen Tradition und der westlichen Gotteskritik hergestellt. Auch an einigen Nachdichtungen aus dem Moṣībatnāmeh hat er sich versucht. Die umfangreichste moderne Prosaübersetzung des Moṣī­ batnāmeh in eine westliche Sprache, nämlich ins Französische, hat Isabelle de Gastines verfasst: Sie hat etwa 60 Prozent des Textes übertragen, Vorwort und Nachwort ausgenommen. Nach welchen Kriterien die Auswahl vorgenommen wurde, ist nicht bekannt. Auch wir haben auf Vorwort und Nachwort verzichtet, nicht nur aus Gründen des Umfangs: Das dichterische Werk beinhaltet über 7500 Doppelverse. Das Vorwort enthält, wie in der islamischen Literatur verbreitet, ein langes Gotteslob und den Lobpreis des Propheten und seiner Gefährten. Da es philologisch und theologisch äußerst kompliziert aufgebaut ist, dürfte es für nicht islamwissenschaftlich vorgebildete Leser nur schwer zu lesen sein. Das Weglassen des Nachworts ist dadurch gerechtfertigt, dass die Rahmengeschichte – die Reise des Pilgers zur Seele über vierzig Stationen – im Haupttext abgeschlossen ist. Im Nachwort folgen noch weitere Geschichten und Betrachtungen ʿAttārs über Dichtung und Religion. Unsere Übersetzung enthält den gesamten Text vom von ʿAttār so genannten «Beginn des Buches» bis zum letzten, dem vierzigsten Kapitel, und wir haben uns wie Isabelle de Gastines für eine Prosaübersetzung entschieden, um die Lektüre der 6200  Verse zu erleichtern. Es kam uns darauf an, dem Leser ­einen möglichst unkomplizierten und doch zuverlässigen Zugang zu ʿAttārs Gedankenwelt zu ermöglichen. Das Original enthält keine Geschichtentitel, sie wurden von uns für diese Ausgabe erdacht und hinzugefügt. Begriffe und Namen aus der islamischen Geschichte und Kultur werden bei der ersten Nennung in den Anmerkungen erläutert, bei häufigerem Vorkommen zusätzlich in einem Glossar am Ende des Buches.

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Zur Übersetzung

Bei wörtlichen Koranzitaten oder Anspielungen auf Koransuren haben wir uns an die Übersetzung von Hartmut Bobzin gehalten. Im Interesse einer besseren Lesbarkeit haben wir uns im Haupttext für eine vereinfachte Umschrift entschieden. In den Anmerkungen folgt die Transkription den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Bei der Aussprache kann man sich an den folgenden Hinweisen orientieren: ā langes «a» wie in «lahm» ī langes «i» wie in «schief» ū langes «u» wie in «Ruhm»

a kurzes «a» wie in «Lamm» i kurzes «i» wie in «Schiff» u kurzes «u» wie in «Rum»

ʾ Stimmabsatz («glottal stop») wie in «beʾehren» ʿ kehliger Stimmabsatz (arab. kaʿba «Kaaba») ḏ stimmhaftes engl. «th» wie in «mother» ḍ verdumpftes «d» (arab. ramaḍān «Ramadan») ğ stimmhaftes «dsch» wie in «Jeans» ġ Gaumen-r (nicht gerollt!), wie in franz. «merci» h dt. «h», jedoch wie am Silbenanfang stets hörbar ḥ stark gehauchtes «h» (arab. Muḥammad «Mohammed») ḫ dt. «ch» wie in Bach (nie wie in «ich»!) q kehlig gesprochenes «k» (arab. qurʾān «Koran») r Zungen-r, gerollt, wie in ital. «pronto» s stimmloses «s» wie in «reißen» ṣ verdumpftes stimmloses «s» (arab. ṣalāt «Gebet») š dt. «sch» wie in «Schiff» ṯ stimmloses engl. «th» wie in «three» ṭ verdumpftes «t» (arab. sulṭān «Vollmacht») w engl. «w» wie in «we» (nicht wie in dt. «wie»!) y dt. «j» wie in «jagen» z stimmhaftes «s» wie in «reisen» ẓ verdumpftes stimmhaftes «s» (arab. niẓām «System»)

Editionen, Übersetzungen und Literatur

ʿAttār, Farīd-od-Dīn: Moṣībatnāmeh, hrsg. von Moḥammad Šāfīʿī-ye Kadkanī, Sokhan Verlag, Teheran, 4. Auflage 2009. ʿAttār, Farīd-od-Dīn: Moṣībatnāmeh, hrsg. von Tīmur Barhān Līmūdahī, Sanaee Productions, Teheran 2004. ʿAttār, Farīd-od-Dīn: Moṣībatnāmeh, hrsg. von Nūrānī Wesāl, Teheran 1959, 1963, 1994. Attār, Farīdoddīn: Le Livre de l’épreuve (Musībatnāma), übersetzt aus dem Persischen von Isabelle de Gastines, mit einer Einführung von Annemarie Schimmel, Librairie Arthème Fayard, Paris 1981. ʿAttar: Vogelgespräche und andere klassische Texte, vorgestellt von Anne­ marie Schimmel, C.H.Beck, München 1999. Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin, C.H.Beck, München 2012. Kermani, Navid: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische­ Revolte, C.H.Beck, München 2005. Ritter, Hellmut: Das Meer der Seele, Brill, Leiden 1955.

Anmerkungen zur Einführung

1 Reinert, Benedikt: ʿAṭṭār, Farīd-al-Dīn, in: Encyclopaedia Iranica, Bd. III/1, Sp. 20b–21a; vgl. Ritter, Hellmut: Das Meer der Seele; Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Farīduddīn ʿAṭṭār, ­Leiden, 2. Aufl. 1978, S. 156. 2 Reinert, ibid., Sp. 20b. 3 Ibid., Sp. 21a. 4 Ritter, Hellmut: ʿAṭṭār, Farīd al-dīn Muḥammad b. Ibrāhīm, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Bd. I, Sp. 752b; Safi, Omid: ʿAṭṭār, Farīd al-Dīn, in: Encyclopaedia of Islam, Third Edition, Bd. 2016/2, Sp. 36a–40b, Sp. 37a. 5 Reinert, a. a. O., Sp. 22b. 6 Schimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen des Islams. Die Geschichte des Sufismus, Köln 1985, S. 53; vgl. auch Safi, a. a. O., Sp. 37a–b. 7 Daadbeh, Asghar: ʿAṭṭār Nīsābūrī, in: Encyclopaedia Islamica, Bd. 3, Sp. 919a–b. 8 Ibid., Sp. 916b–917a. 9 Zitiert von Daadbeh, ibid., Sp. 917a. 10 Reinert, a. a. O., Sp. 22a–b. 11 Schimmel 1985, a. a. O., S. 430. 12 Ritter, Hellmut: 1978, a. a. O., S. 82–83. 13 Schimmel 1985, a. a. O., S. 149–151. 14 Ibid., S. 178–180. 15 Ritter 1978, a. a. O., S. 218–219. 16 Schimmel 1985, a. a. O., S. 181. 17 Ritter 1978, a. a. O., S. 281, 286. 18 Schimmel 1985, a. a. O., S. 196–197. 19 Ibid., S. 154–155. 20 Ibid., S. 488. 21 Ibid., S. 34. 22 Ausführlich dazu ibid., S. 238–253. 23 Ritter 1978, a. a. O., S. 21, 82. 24 Übersetzung des Koranverses nach Rudi Paret (Der Koran. Übersetzt von Rudi Paret, Stuttgart [u. a.] ²1982): «Gedenket unablässig Gottes.» 25 Übersetzung des Koranverses nach Rudi Paret: «Und mach’ dein Gebet nicht zu laut und nicht zu leise! Schlag’ vielmehr einen Mittelweg ein!» 26 Übersetzung der Sure, die nur vier Verse umfasst, nach Rudi Paret: «Sag: Er ist Gott, ein Einziger, / Gott, der in sich selbst ruht. / Er hat



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Anmerkungen zur Einführung379 weder Kinder gezeugt, noch ist er selbst gezeugt worden. / Und keiner ist ihm gleichrangig.» Ausführlich dazu Schimmel 1985, a. a. O., S. 253–265. Ritter 1978, a. a. O., S. 2. Ibid., S. 3. Ibid., S. 19–20. Die Vorrede umfasst in der Werkausgabe ʿAttārs von Shafīʿī-ye Kadkanī (ʿAttār, Farīd-od-Dīn: Moṣībatnāmeh, hrsg. von Mohammad Shafīʿī-ye Kadkanī, Teheran, 42009) die Seiten  119–157 und in der­ jenigen von Līmūdahī (ʿAttār, Farīd-od-Dīn: Moṣībatnāmeh, hrsg. von Tīmur Barhān Līmūdahī, Teheran, 2004) die Seiten 1–54. ʿAttar: Vogelgespräche und andere klassische Texte. Vorgestellt von Annemarie Schimmel, München 1999, S. 236–244. Ausführlich dazu Kermani, Navid: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München ²2015, S. 84–88. Vgl. Ritter 1978, a. a. O., S. 4, 21, 514. Inhaltlicher Überblick bei Ritter, ibid., S. 22–30, und bei Schimmel 1999, a. a. O., S. 245–347 (mit Textauszügen). Übersetzung des Koranverses nach Rudi Paret: «Der Barmherzige hat sich auf dem Thron zurechtgesetzt.» In dem Vers heißt es in der Übersetzung nach Rudi Paret unter anderem: «Sein Thron reicht weit über Himmel und Erde.» Denn im Koran (Sure 28, Vers 88) heißt es in der Übersetzung nach Rudi Paret: «Alles ist dem Untergang geweiht, nur sein Antlitz nicht.» Schimmel 1985, a. a. O., S. 433. Dieses Nachwort wurde nicht ins Deutsche übersetzt. Es umfasst in der Werkausgabe ʿAttārs von Shafīʿī-ye Kadkanī, a. a. O., S. 446–462, und in derjenigen von Līmūdahī, a. a. O., S. 378–397. Vgl. Schimmel 1999, a. a. O., S. 238. Vgl. Ritter 1978, a. a. O., S. 605–617. Vgl. ibid., S. 621–627. Vgl. ibid., S. 70–74; sowie Kermani, a. a. O., S. 133–138. In dem Vers heißt es in der Übersetzung nach Rudi Paret unter anderem: «Wohin ihr euch wenden möget, dort ist Gottes Antlitz.» In dem Vers heißt es in der Übersetzung nach Rudi Paret unter anderem: «Wir werden sie in der weiten Welt und in ihnen selber unsere Zeichen sehen lassen.» Schimmel 1985, a. a. O., S. 436–437, 531; vgl. auch Ritter 1978, a. a. O., S. 608–609. Ritter, ibid., S. 607. Ibid., S. 133. Schimmel 1985, a. a. O., S. 431. Vgl. ausführlich dazu Ritter 1978, a. a. O., S. 159–163. Ibid., S. 165–167. Ibid., S. 168–169; ausführlich dazu Kermani, a. a. O., S. 171–189. Vgl. Kermani, ibid., S. 88–93. Vgl. Ritter 1978, a. a. O., S. 107–108; und Kermani, ibid., S. 79–81.

Anmerkungen zur Übersetzung

Beginn des Buches 1 Die Dinge sprechen ohne Worte für sich, über ihr Sosein. Von Reynoldson und Schimmel auch mit «mute eloquence» oder «stiller Beredsamkeit» übersetzt. 2 Nach arabischer Überlieferung ruht die Erde auf einem Stier, der wiederum von einem Fisch getragen wird (de Gastines, S. 359). 3 ḏekr: Ein Gebetsritual im Islam und insbesondere im Sufismus. Ein Name Gottes wird häufig wiederholt, entweder nur innerlich oder auch laut und ekstatisch. Bei den Sufis erhält der Jünger mit der Ini­ tiation vom Meister seinen individuellen ḏekr, den er ununterbrochen ­rezitieren soll, in jeder Situation. Oft wird das noch durch eine visuelle Imagination des Gottesnamens ergänzt. 4 Hoḍayfā war ein Gefährte und enger Vertrauter des Propheten Mohammed. Haydar, persisch: Löwe, ist ein Beiname des Propheten. 5 Koran 77:20: «Schufen wir euch nicht aus verächtlichem Wasser». 6 Nimrod: Alttestamentarischer Herrscher, der den Turmbau zu Babel in Auftrag gegeben haben soll. In Sure 21:68–69 wird er als derjenige angesehen, der Abraham ins Feuer werfen ließ. Šaddād: Historischer ­König der arabischen Stadt Iram. Nach islamischem Glauben hatte er die Warnungen des Propheten Hūd nicht ernst genommen, woraufhin Gott die Stadt zerstörte. 7 Im Koran (Suren  28, 29 und 40) der Berater des Pharaos zur Zeit ­Moses, im Alten Testament der höchste Regierungsbeamte des Perserkönigs Ahasveros (Xerxes) (Buch Esther 9). 8 Der Begriff khalaf bezeichnet die späteren Generationen von Muslimen­ im Gegensatz zu salaf, den unmittelbaren Nachfolgern des Propheten. Unter einem khalafi kann man also jemanden verstehen, der nicht so fest im Glauben ist wie ein salafi. 9 Wörtlich: «Alter». Geläufige Bezeichnung für den Meister eines Sufi­ ordens. 10 Das Elixier zur Goldherstellung. 11 Nur wer sich dem Meister demutsvoll unterwirft, kann die Wahrheit erkennen lernen. 12 qoṭb: Achse, Pol. Häufige Bezeichnung für einen Sufimeister. 13 Er war vollständig bereit, sich dem Meister als Jünger hinzugeben. 14 Beiname des Propheten: «Der Auserwählte». Der Prophet war Halbwaise.



Anmerkungen zur Übersetzung381

15 Koran 53:17: «Ihn täuschte nicht der Blick und ließ ihn nicht ausweichen». 16 Arabische Silbermünze. 17 Wörtlich: Rauch. Erstes Kapitel 1 2 3 4 5 6 7

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Koran 2:87. Koran 26:193. Koran 46:35. Gabriel konnte den Propheten nur bis zum Lotusbaum, dem Ende des geschaffenen Universums, begleiten (vgl. Schimmel, S. 246). Abū Saʿīd b. Abi l-Ḫaīr (967–1049): bedeutender persischer Mystiker, der maßgeblich an der Entwicklung des Sufismus beteiligt war. Koran 13:28: «Die aber glauben und deren Herzen im Gedenken Gottes Ruhe finden – ja, finden nicht die Herzen im Gedenken Gottes Ruhe?» Mağnūn (wörtl.: Besessener) und Laylā sind das große tragische Liebespaar Persiens. Mağnūn ist der Beiname des Arabers Qais. Er wuchs gemeinsam mit seiner Cousine Laylā auf, und mit der Zeit verliebten sie sich. Dann verboten Laylās Eltern ihr, Mağnūn weiter zu sehen. Dieser wurde daraufhin schwermütig und ging in die Wüste, Laylā starb an Liebeskummer. Mağnūn suchte ihr Grabmal, und nachdem er es gefunden hatte, stieß er einen Schrei aus und starb. Er wurde neben Laylā begraben (687 n. Chr.). Der Flickenrock ist das traditionelle Gewand der Sufis, das ihnen im Rahmen eines Initiationsritus vom Meister verliehen wird. Nach ʿAṭṭār ist also vorherbestimmt, ob jemand ein Sufi wird oder nicht. Ehrentitel für einen Mann von Rang, bei ʿAṭṭār ist in der Regel ein führender Sufi gemeint. Zweites Kapitel

1 Koran 15:29: «und von meinem Geist in ihn geblasen habe». 2 Koran 39:68: «so dass, wer in den Himmeln und auf Erden ist, vom Donnerschlag getroffen niederstürzt». 3 Koran  81:1: «Wenn die Sonne wird zusammengerollt»; 75:8: «und sich der Mond verfinstert.» 4 Koran 82:2: «wenn zerstreut das Sternengewimmel». 5 Koran 36:51: «Und es wird in die Trompete geblasen, und siehe, sie ­eilen aus den Grüften zu ihrem Herrn.» 6 Nach orientalischem Volksglauben kann das Nashorn den Elefanten mit seinem Horn tödlich verletzen (vgl. Schimmel, S. 249). 7 Koran 52:4: «Bei dem besuchten Haus!» 8 Maḥmūd von Ġazna herrschte von 999 bis 1030 über die östliche islamische Welt. Drang siebzehnmal in Indien ein und legte damit die Grundlagen für die indoislamische Kultur. Die größten Dichter seiner Zeit lebten an seinem Hof. Ayāz war sein Sklave und Geliebter.

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Anmerkungen zur Übersetzung

9 Abū Bakr aš-Šiblī (861–946): War hoher Würdenträger in Bagdad, bevor er den spirituellen Pfad einschlug. In seiner Gottesliebe war er so ex­trem, dass er öfter ins Irrenhaus gesteckt wurde. Drittes Kapitel 1 Koran 53:9: «zwei Bogenlängen oder näher noch war er bei ihm». 2 Hātem Ṭayy: für seine Großzügigkeit berühmter Mann. 3 Koran 37:102: «Mein Sohn! Ich sah im Traum, dass ich dich opfern soll.» 4 Die Zeder wird im Persischen «freie Zypresse» genannt. ʿAṭṭār möchte damit wohl ausdrücken, dass Worte nicht unbedingt die Wirklichkeit darstellen (Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 552). Viertes Kapitel 1 Der Angebetete (ʿaziz) beginnt ebenso wie ʿAzrāʾīl mit dem Buchstaben eyn. 2 Hasan al-Baṣrī: geb. 642 in Medina, aufgewachsen in Baṣra, starb 728 in Mekka. Er war ein Jünger ʿAlīs, Moḥammeds Schwiegersohn, der als erster Sufi angesehen wird. 3 Ein «weiser Narr», der unter Hārūn ar-Rašīd (gest. 809) lebte. 4 Koran  71:26: «Noah sprach: ‹Mein Herr! Lass auf der Erde keinen wohnen bleiben von den Ungläubigen.›» 5 Abrahams Vater war ein Götzenverehrer. Fünftes Kapitel 1 Mythischer Berg am Ende der geschaffenen Welt; in ʿAṭṭārs Vogel­ gesprächen wohnt dort der Sīmorġ. Im Volksglauben ist er 3000 km hoch und auch die Wohnstätte der Feen und Dämonen. 2 Werk von Abū Ṭālib Moḥammed ibn ʿAlī Makkī (gest. 996 in Bagdad), ins Deutsche übersetzt von Richard Gramlich unter dem Titel «Die Nahrung des Herzens». 3 Auffälliger Hauptstern im Bärenhüter, einem Sternbild am Frühlings­ himmel. 4 Abū l-Qāsim Muhammad Dschunaid (830–910), einer der berühmtesten frühen persischen Mystiker. 5 Zwei gefallene Engel. Nach der Legende wollten sie Gott beweisen, dass sie, anders als die Menschen auf der Erde, sich ganz dem Gottesdienst und der Befolgung der Gebote widmeten. Doch kaum auf der Erde, verliebten sie sich in eine schöne Frau (Venus) und begingen nacheinander die Sünden der Trunkenheit, der Götzenverehrung, des Verrates, der Unzucht und des Mordes. Während Venus in den Himmel aufsteigen und zu einem Stern werden durfte, wurden Hārūt und Mārūt dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit an den Füßen in einem Brunnen zu Babel aufgehängt zu sein und dauernd Durst zu leiden, obwohl das Wasser nur vier Daumen weit von ihnen entfernt war. Vgl. Koran 2:102.



Anmerkungen zur Übersetzung383

6 Längenmaß, entspricht der Elle. 7 Bāyazīd Bistāmī (803–875), berühmter Sufi des 9. Jahrhunderts. 8 Der vierte menschliche König in der persischen Mythologie, unter dessen dreihundertjähriger Herrschaft das Reich seine erste große ­ Blüte erlebte. Er soll einen Kelch besessen haben, in dem sich das ganze Universum bis zu den verstecktesten Geheimnissen widerspiegelte. Sechtes Kapitel 1 Gott schuf sieben Himmel (Gärten) und in bzw. über deren höchsten acht Paradiese mit acht Pforten. 2 Koran  20:5: «Der Erbarmer ließ sich hoch oben auf dem Throne n ­ ieder.» 3 Koran 75:29. 4 Seldschukensultan von 1072–1092; Sohn des Alp Arslān, reg. 1063–1072. 5 Starker Held aus dem Šāh-nāmeh, dem «Buch der Könige», von Ferdousī. 6 Vom Schicksal. 7 Arabische Goldmünze. 8 Der äußerst mächtige Wesir des Mālekšāh. 9 Hält man sich nur an die Grammatik, müsste man hier «da er doch Gott hasste» übersetzen. Inhaltlich steht das jedoch im Widerspruch zum Rest des Kapitels, deshalb halten wir uns hier an die Übersetzung von de Gastines (S. 75). Siebtes Kapitel 1 2 3 4 5 6 7 8

Koran 2:255. Von 786 bis 809 der vierte abbasidische Kalif von Bagdad. Gewichtsmaß: 3–5 kg, variiert nach Epoche und Region. Ḫosrou I., der berühmteste der Sassanidenkönige. Er trug den Beinamen «Der Gerechte» und lebte von 501 bis 579. Der Anfang des Glaubensbekenntnisses: «(Es gibt) kein(en) Gott außer Gott.» Sandschar war Sultan des Seldschukenreiches von 1118 bis 1153. Zā­ her («der Asket­») war der Beiname seines Emirs. Einer der großen Mystiker und Wissenschaftler des 12. Jahrhunderts in Nīšāpūr. Koran 3:26. Achtes Kapitel

1 Diwan, persisch divān, «Sammlung, Versammlung», eine Sammlung von Gedichten oder Prosatexten. 2 Koran 85:22: «auf einer verwahrten Tafel». 3 Ägyptischer Mystiker (gest. 861). 4 «Schönschön» war der Beiname eines Leichenwäschers aus Nīšāpūr. Er war dafür bekannt, dass er Ereignisse vohersehen konnte und auch

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Anmerkungen zur Übersetzung

die schlimmsten Begebenheiten mit «Schönschön» kommentierte, selbst als sein Haus einstürzte. 5 Moḥammed ebn Aslam aus Ṭūs im Nordosten des Iran, in ʿAṭṭārs «Heiligengeschichten» erwähnt. 6 Der Teufel. 7 Koran  3:110: «Ihr gebietet das Rechte, verbietet das Schlechte und glaubt an Gott!» Neuntes Kapitel 1 Beim Schreibrohr, Koran 68. 2 Koran 95:4: «Wir erschufen den Menschen in vollendeter Gestalt». 3 Eine Überlieferung des Propheten lautet: «Die Feder ist schon trocken geworden über dem, was sie geschrieben hat», das bedeutet: «Es ist unabänderlich» (vgl. Schimmel, S. 299). 4 «Herzbesitzer» ist ein verbreiteter Beiname für Sufis. 5 Um ein «Herzbesitzer» zu werden, muss man auf dem Sufipfad erst ein (spirituelles) Herz erwerben. 6 Der Esel ʿAlīs. 7 Sagenumwobener Weiser, nach dem eine Koransure benannt ist. 8 Wurde zum Kühlen von Wunden verwendet. Zehntes Kapitel 1 Eine Quelle im Paradies. 2 Koran 56:89: «leichter Windhauch, duftende Kräuter und der Garten der Glückseligkeit!» 3 Der Hüter des Paradieses. 4 Baum im Paradies, wörtlich «Glückseligkeit». 5 Koran 13:29: «… die glauben und gute Werke tun, sind seligzupreisen und haben gute Heimkehr.» 6 Koran 47:15: «Das Bild des Paradiesesgartens, der den Gottesfürchtigen verheißen ist: In ihm sind Ströme von Wasser, das nicht faulig wird, Ströme von Milch, die ihren Geschmack nicht ändert, Ströme von Wein, süß für die Trinkenden, und Ströme von ungetrübtem Honig.» 7 Koran 56:21: «und mit Fleisch von Vögeln, wie es sie gelüstet». 8 Nach einer Überlieferung sind «die meisten Bewohner des Paradieses die Dummen», denn die wahren Gottesliebenden sehnen sich nach dem Geliebten selbst und nicht nach den Freuden des Paradieses (vgl. Schimmel, S. 264). 9 Genannt «Der Perser», einer der Gefährten des Propheten (gest. 655). Sein Vater war Christ. Wurde in Al-Madāʿin, dem antiken Ktesiphon nahe Bagdad, begraben. Sein Grab ist ein Pilgerort. 10 Nach einer Überlieferung ist die erste Speise, die die Bewohner des Paradieses einnehmen werden, Fischleber (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 587). 11 Koran 7:172. 12 Gesicht, Hände, Knie und Füße: Die Körperteile, auf die sich der ­Betende niederwirft.



Anmerkungen zur Übersetzung385

13 Gebetsrichtung auf Mekka. 14 Wortspiel mit «nīl» als 1. der Nil von Ägypten, 2. persisch für Indigo, was man als Zeichen gegen den bösen Blick benutzte (Hinweis von Monika Gronke). 15 Koran 2:115: «Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Gottes Angesicht.» 16 Koran 12:93: «Geht los, mit diesem meinem Hemd, und legt es meinem Vater aufs Gesicht, damit er wieder sehend wird!» Elftes Kapitel 1 Koran 37:68: «Darauf erfolgt ihre Rückkehr in die Feuerhölle.» 2 Koran  40:71: «wenn sie Fesseln an ihren Hälsen haben und Ketten, werden sie gezogen in das siedend heiße Wasser.» 3 Die Zeit zwischen Tod und Auferstehung. 4 Ich bin schwach, machtlos. 5 Koran 44:43–44: «Siehe, der Zaqqūm-Baum ist Nahrung für den Sünder». 6 Koran  2:24: «Doch wenn ihr es nicht tut  – und ihr werdet es nicht tun –, so hütet euch vor dem Höllenfeuer, dessen Brennstoff Menschen und Steine sind». 7 Koran 28:88. 8 Prophetische Überlieferung: Eine Warnung der Hölle an den Gläubigen (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 593). 9 Turkvolk im frühen Mittelalter in Zentralasien. Ein Stamm dieses ­Volkes, die Seldschuken, nahm den Islam an und eroberte im 11. Jahrhundert Persien. 10 Koran  6:32: «Das Leben hier auf Erden ist nichts als Spiel und Zeit­ vertreib­». Zwölftes Kapitel 1 Die Haram-Moschee in Mekka, in deren Hof die Kaaba steht. 2 Persische Redewendung: Jemand ist unerwünscht und stellt trotzdem große Ansprüche (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 601). 3 Zeitgenosse des Propheten, der der Legende nach im Jemen lebte und den Propheten niemals gesehen haben soll. Der Prophet soll von seiner Frömmigkeit gewusst haben und die Überlieferung geäußert haben: «Der Hauch des Barmherzigen kommt aus dem Jemen zu mir.» Er war für die späteren Sufis der Prototyp des inspirierten Mystikers, der nur durch göttliche Gnade geleitet wurde. 4 Mystiker (1003–1081). 5 «Hören», eine Meditation zu Musik. Dreizehntes Kapitel 1 Nach altertümlicher Vorstellung ist der Platz der Sonne im vierten Himmel. In jedem Himmel bewegt sich je einer der sieben damals be-

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Anmerkungen zur Übersetzung

kannten Planeten: Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Rostams Pferd. ʿAlī zugesprochener Ausspruch: «Wer mich etwas lehrt, macht mich zu seinem Diener»(vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 604). rāh-e chār-kasch ist ein Modus der alten persischen Musik, heute nicht mehr bekannt. chār-kasch bedeutet in etwa «Dornen/Disteln ausreißen», und in einem persischen Gedicht heißt es: «Wenn die verliebte Nachtigall wohlgelaunt ist, geht sie zur Rose und singt rāh-e chārkasch» (Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 604). Reicher Mann aus dem Volk Moses, vgl. Koran 28:76. Koran  81:1: «Wenn die Sonne wird zusammengerollt», und 18:86: «sie in einer moderigen Quelle versinkt». Vierzehntes Kapitel

1 Sternbild Jungfrau. 2 Wassermann. 3 Dorf im Iran; heute Stadtteil Teherans, in dem viele persische Künstler begraben sind. 4 Nach dem Koran lehrten die gefallenen Engel Hārūt und Mārūt die Menschen in Babel die Zauberei, vgl. Sure 2:102. 5 Das Schwert ʿAlīs trug diesen Beinamen: «Die Rückenwirbel spaltend». 6 Stadt in Turkmenistan, 380 km südlich von Buchara. 7 «ewig». Fünfzehntes Kapitel 1 Koran 21:69: «Wir sprachen: ‹Feuer, sei kalt und taste Abraham nicht an!›» 2 Provinz in Afghanistan mit großen Edelsteinvorkommen. 3 Man glaubte, dass der erste Himmel voller Feuer war (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 612). 4 Koran 36:80: «Der euch vom grünen Baum Feuer machte, und siehe da, ihr nehmt die Glut davon.» 5 Bei Karawanen wurde das Gold gerne vor den Dieben in den Körperöffnungen oder Hufen der Lasttiere versteckt. 6 Sohn Maḥmūds. 7 Der Wesir Maḥmūds. Sechzehntes Kapitel 1 Ein vorhistorischer Stamm von Götzenanbetern, der wegen seines Unglaubens durch einen Sturm vernichtet wurde. Vgl. Koran 54:18 ff. 2 «Wind», rīḥ, und «Geist», rūḥ, entstammen derselben arabischen Wurzel, dazu gehören auch rauḥ, «Duft», und rāḥa, «Ruhe». ʿAṭṭār verbindet­



Anmerkungen zur Übersetzung387

mit diesem Wortspiel das Motiv von Josephs duftendem Gewand, das die Blindheit seines Vaters heilte (Koran 12:94 f.) (vgl. Schimmel, S. 280). 3 Der mythische Vogel Homā verleiht demjenigen das Königtum, der von seinem Schatten getroffen wird. 4 Ṣūfīšayḫ in Ḫorassān (gest. 863), Gefährte Bāyazīds. Siebzehntes Kapitel 1 Koran 21:30: «Sahen denn nicht die, die ungläubig sind, dass die Himmel und die Erde einst eine Einheit waren? Wir rissen beide auseinander und machten aus dem Wasser alles, was lebendig ist.» 2 Koran 76:18: «aus einer Quelle dort, die ‹Salsabil› genannt wird.» 3 Das persische Wort āb bedeutet sowohl «Wasser» als auch «Glanz, Ruhm». 4 Koran 11:7: «Er ist es, der die Himmel und die Erde in sechs Tagen schuf – indes sein Thron auf dem Wasser ruhte». 5 «Es ist dein Bart» wird als Schimpfwort verwendet (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 628). 6 «Derwisch-Ungläubiger» wird jemand genannt, der weder im Diesseits noch im Jenseits etwas erworben hat (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 628). Achtzehntes Kapitel 1 Feldherr Maʿmūns und Statthalter von Ḫorasān (gest. 844). 2 Samanidenfürst in Transoxanien und Ḫorasān (ermordet 914). 3 Persisches Flächen- und Gewichtsmaß, 1 dscharīb entspricht 10,8– 11,5 Ar. 4 Stadt im Nordosten des Iran an der Seidenstraße, im Mittelalter ein Zentrum von Wissenschaft, Religion und Kunst. Um 1000 war es die achtgrößte Stadt der Welt. Geburts- und Sterbeort ʿAṭṭārs. 5 Historische Region in Zentralasien im Gebiet der heutigen Staaten ­Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. Seit 651 unter arabischer Herrschaft, entwickelte es sich zu einem der Zentren persischer und islamischer Kultur. 6 Šāfīʿī versteht das so, dass man Böses nicht mit Bösem vergelten soll (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 634). 7 Ibrāhīm ebn Adham (gest. 776 oder 790) gab das fürstliche Leben in Balḫ auf und wurde Asket. Neunzehntes Kapitel 1 Koran  78:6–7: «Machten wir die Erde nicht zu einer Ruhestatt, zu Pflöcken die Berge?» 2 Koran 27:88: «Du siehst die Berge, die du für bewegungslos hältst, wie sie wie die Wolken vorüberziehen.» 3 Koran 50:1: «Qāf. Beim ruhmreichen Koran!»

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Anmerkungen zur Übersetzung

4 Der Berg Ararat, Koran 11:44: «Und es lief auf den Dschudi auf». Wortspiel mit dem persischen Wort ǧūd, Großmut, und der arabischen Bezeichnung ǧūdī für den Ararat (Hinweis von Monika Gronke). 5 Koran 34:10. 6 Koran 27:88, vgl. Anm. 2. 7 Arabisches Sprichwort. 8 Rābiʿa al-ʿAdawīyya al-Qaysīyya (gest. 801 in Basra) war eine berühmte islamische Mystikerin. Ihr wird die Verwandlung düsteren Asketentums in echte Liebesmystik zugeschrieben. Sie war eine Sklavin, die von ihrem Herrn freigelassen worden war und sich dann bis ins hohe Alter ausschließlich der Gottesverehrung widmete. 9 Meister des Abū Saʿīd (gest. 977). 10 Asket (gest. 767). Zwanzigstes Kapitel 1 lab bedeutet sowohl «Lippe» als auch «Ufer». 2 Beiname der Sufis. 3 maġz bedeutet sowohl «Kern» als auch «Gehirn». Einundzwanzigstes Kapitel 1 Die Kaʿba. 2 Gelehrter Mystiker (gest. um 780). 3 Wegemaß: 1 Farsang entspricht ca. 6240 m. Zweiundzwanzigstes Kapitel 1 Koran 6:95: «Siehe, Gott ist der Spalter von Korn und Kernen.» 2 Die Heiligen und die Engel (vgl. Schimmel, S. 290). 3 Koran 36:80: «Der euch vom grünen Baum Feuer machte, und siehe da, ihr nehmt die Glut davon.» 4 Koran 28:30. 5 ṭūbā, «Glückseligkeit», ist der Gruß, den die Paradiesbewohner hören. Dieser wurde in der Überlieferung durch einen herrlichen Baum personifiziert. Siehe Koran 13:29 (vgl. Schimmel, S. 290). 6 Moḥammed lehnte sich bei seinen Predigten an einen Palmstumpf. Nach der Überlieferung fing dieser Palmstumpf zu ächzen an, als er diese Gewohnheit aufgab (vgl. Schimmel, S. 290). Dreiundzwanzigstes Kapitel 1 Koran 2:26: «Siehe, Gott schämt sich nicht, ein Gleichnis zu prägen mit einer Mücke, ja, noch über sie hinaus. Was nun die Gläubigen ­betrifft, so wissen sie, dass es die Wahrheit ist von ihrem Herrn! Die Ungläubigen aber sprechen: ‹Was wollte Gott mit einem solchen



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Anmerkungen zur Übersetzung389 Gleichnis?› Viele führt er damit in die Irre, und viele leitet er damit recht. Doch nur die Ruchlosen führt er damit in die Irre.» Koran 27: Die Ameisen. Koran 16: Die Bienen. Koran 29: Die Spinne. Koran 27:18: «Da sprach eine Ameise: ‹Ameisen! Geht hinein in eure Wohnungen, auf dass euch Salomo und seine Heerscharen nicht zer­ treten, ohne es zu bemerken!›» Nach der Überlieferung spann eine Spinne ein Netz über die Höhle, in der sich Moḥammed und Abū Bakr nach Verlassen Mekkas verbargen (vgl. Schimmel, S. 295). Koran 25:58. Der Kalif ʿOmar ebn al-Ḫattab (gest. 644). Er selbst. «Der Auserwählte», Beiname ʿAlīs. ʿAbbāsa stammte aus Ṭūs im Iran und wird als Mystiker in ʿAṭṭārs Heiligen­geschichten im Kapitel über Rābiʿa erwähnt. Vierundzwanzigstes Kapitel

1 Koran 16:79: «Sahen sie denn nicht zu den Vögeln: dienstbar in den Lüften des Himmels, keiner hält sie außer Gott. Siehe, darin sind ­fürwahr Zeichen für Menschen, die gläubig sind.» 2 Salomo. 3 Koran 27:20: «Er musterte die Vögel und sprach: ‹Warum kann ich den Wiedehopf nicht sehen? Zählt er vielleicht zu den Abwesenden?›» 4 Überlieferung des Propheten: «Wenn ihr auf Gott vertrautet, wäret ihr wie die Vögel, die am Morgen mühelos speisen.» (vgl. Schimmel, S. 299). 5 Der Sīmorġ ist ein mythischer Vogel in der persischen Überlieferung. Sein Name taucht bereits im Avesta, dem Buch der Zoroastrier, auf und erscheint auch im berühmten «Buch der Könige» von Ferdousī. 6 Etwas, das es nicht gibt. 7 Als echter Asket frisst der Homā nur trockene Knochen und gewinnt daraus seine Wunderkraft, einen Mann zum König zu machen (vgl. Schimmel, S. 299). 8 Der Vogel Strauß frisst angeblich glühende Kohlen (vgl. Schimmel, S. 299). 9 Pflanze, deren Samen man zur Ausräucherung des Bösen Blicks verwendet. 10 Nach der damaligen islamischen Astronomie besteht das Universum aus neun Himmeln: Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, ­Saturn, der Himmel der Sternkreiszeichen und der sternenlose Himmel. 11 Der Titel ʿAmīd wurde von hohen Würdenträgern in der Zeit der Samaniden, Ghaznaviden und Seldschuken getragen. Hier handelt es sich um den Gouverneur von Ḫorasān, Abū Nasr (gest. 1064).

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Anmerkungen zur Übersetzung Fünfundzwanzigstes Kapitel

1 Koran 16:68: «Dein Herr gab der Biene ein: ‹Mach dir in den Bergen etwas zu Häusern, dazu von den Bäumen und dem, was sie errichten!›» 2 In der islamischen Tradition wurde der Koran in sieben Teile auf­ geteilt. Der Mystiker Abū Saʿīd soll einmal in einem mağles (Sufiversammlung) den Scheich gefragt haben, woher er seine Aussagen habe. Der Scheich antwortete, dass die Koranverse 5:67 («Gesandter! Übermittle du, was zu dir herabgesandt wurde von deinem Herrn!») und 53:10 («Da offenbart’ er seinem Knechte, was er ihm offenbarte») das achte Siebtel seien. Der Sucher des «achten Siebtels» suchte also nach Offenbarung (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 671). 3 Koran 11:64: «Und: ‹Mein Volk! Hier ist die Kamelin Gottes, für euch als Zeichen. So lasst sie auf der Erde Gottes weiden, und rührt sie nicht aus Bosheit an, sonst erfasst euch eine nahe Strafe!›» 4 Sieben wegen ihres Glaubens verfolgte Männer suchten Schutz in einer Höhle. Einer davon hatte einen Hund dabei, der 309 Jahre über die Schlafenden wachte, bis zum Ende der religiösen Verfolgung. Koran 18:10–22. 5 Koran  37:107: «Durch ein herrliches Schlachtopfertier schafften wir Ersatz für ihn.» 6 Der Legende nach wurde dem Propheten ein Lammbug vorgesetzt, der sprach: «Ich bin vergiftet!», so dass der Prophet nicht davon aß (vgl. Schimmel, S. 302). 7 Das Reittier, mit dem der Prophet zum Himmel aufgestiegen ist. 8 Geboren 716 in Kūfa südlich von Bagdad, gest. in Baṣra 778. 9 Persischer Dichter des 12. Jahrhunderts. Schrieb viele mystische Werke, am bekanntesten ist sein «Garten der Wahrheit». 10 Rechtsgelehrter, Korankommentator und Sufi aus Nīšāpūr (gest. 1015 oder 1021). Sechsundzwanzigstes Kapitel 1 Eblīs’ Name vor seinem Fall. 2 Das Unbeschreibbare. 3 Mein Fluch: laʿnaṭī, Koran  38:78; Bei deinem Leben, Koran  15:72: laʿamrak. Im Arabischen werden die beiden Begriffe mit fünf Buch­ staben geschrieben, in der deutschen Umschrift kommen noch die ungeschriebenen Vokale hinzu. Siebenundzwanzigstes Kapitel 1 Die verborgenen Geister, die den Menschen Gutes wie Böses antun können, ihn auch «besessen» (mağnūn) machen können. Der Prophet hat mit ihnen geredet, vgl. Koran 72. 2 Sure 72: In der Nacht der Geister hat der Prophet aus Angst vor den Geistern gebetet, sieben Geister haben an ihn geglaubt, sind zu ihm



Anmerkungen zur Übersetzung391

g­ ekommen und haben mit ihm gebetet, dann ist die Sure al-Ğinn verkündet worden. 3 Koran 55:31: «Wir werden uns Zeit für euch nehmen, ihr Menschen und ihr Dschinne!» 4 Koran 72: Die Dschinne. 5 Koran 7:150: «Und er warf die Tafeln hin, packte seinen Bruder am Kopf und zog ihn zu sich.» Achtundzwanzigstes Kapitel 1 Koran 33:72: «Wir haben den Himmeln, der Erde und den Bergen das anvertraute Gut angeboten, doch sie weigerten sich, es auf sich zu ­nehmen, und fürchteten sich davor. Da nahm der Mensch es auf sich. Doch er ist frevlerisch und ignorant.» 2 Koran 36:82. 3 Des Herzens. Neunundzwanzigstes Kapitel 1 Koran 17:70. 2 Koran  3:33: «Siehe, Gott erwählte Adam und Noah und das Haus ­Abraham und das Haus ʿImran vor aller Welt». 3 Moḥammeds Schwiegersohn ʿAlī erhielt wegen seiner Tapferkeit den Beinamen «Gotteslöwe». 4 Wortspiel mit dem Namen der Stadt Balch und dem persischen Wort für «bitter»: talch. 5 Der Vorname von Adhams Sohn ist Abraham (persisch: Ebrahim), und Abraham trägt den Beinamen «Freund Gottes», arabisch: ḫalil Allah. Die Umkehrung von talch, «bitter», ergibt ḫullat, «Freundschaft», was auf Abraham als «Freund Gottes» verweist (Hinweis von Monika Gronke). 6 Wörtlich: Der Herr. 7 Zeitgenosse und Freund von Abū Saʿīd aus Ḫorasān. Dreißigstes Kapitel 1 Koran 11:40: «Als schließlich unser Entscheid gekommen war und der Ofen wallte, da sprachen wir: ‹Lade es voll mit einem Paar von jeder Art und deinen Angehörigen – nur mit dem nicht, über den der Spruch bereits erging – sowie mit allen Gläubigen!› Es waren aber nur wenige, die mit ihm glaubten.» 2 Koran 11:41. 3 Der Name Noah, arabisch Nūḥ, wird etymologisch von nauḥa, nūḥa, «Klage, Jammer», abgeleitet (vgl. Schimmel, S. 315).

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Anmerkungen zur Übersetzung Einunddreißigstes Kapitel

1 «Freund Gottes», Ehrenname Abrahams. 2 Abraham schwor den Götzen Stern, Sonne und Mond ab. Koran 6:75– 79: «So zeigten wir Abraham die Herrschaft über die Himmel und die Erde, damit er zu den Überzeugten gehöre. Als die Nacht über ihn hereinbrach, sah er einen Stern und sprach: ‹Das ist mein Herr!› Als er aber unterging, da sprach er: ‹Ich liebe nicht die Untergehenden!› Und als er den Mond aufgehen sah, da sprach er: ‹Das ist mein Herr!› Als er aber unterging, da sprach er: ‹Wenn mich mein Herr nicht leitet, ­gehöre ich zu den Menschen, die vom Weg abirren.› Und als er die Sonne aufgehen sah, da sprach er: ‹Das ist mein Herr, denn das ist größer!› Als sie aber unterging, da sprach er: ‹Mein Volk, ich habe nichts zu schaffen mit dem, was ihr beigesellt. Siehe, ich wende mich, als wahrer Gläubiger, dem zu, der die Himmel und die Erde erschaffen hat. Und ich bin keiner von den Beigesellern.›» 3 Koran 22:78: «Und müht euch um Gott, wie es ihm zukommt; denn er hat euch erwählt und hat euch in der Religion nichts auferlegt, was euch beschwert: Die Glaubensweise eures Vaters Abraham; er hat euch Gottergebene genannt, schon vorher und nun hier, dass der Gesandte Zeuge sei für euch und ihr die Zeugen für die Menschen.» 4 Koran 4:125: «Und Gott nahm sich Abraham zum Freund.» 5 Die Opferung Ismails: Koran 37:102 ff. 6 Koran 6:79. 7 Koran 21:69: «Wir sprachen: ‹Feuer, sei kalt und taste Abraham nicht an!›» 8 Das persische Wort bot bedeutet «Götze» oder «Götzenbild», kann aber auch «schöne Geliebte» bedeuten. 9 Abraham. 10 Nimrod warf Abraham ins Feuer, doch er verbrannte nicht. Vgl. K ­ oran 21: 68–69. Zweiunddreißigstes Kapitel 1 Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn, Fixsternhimmel und Himmel ohne Sterne. 2 Koran  27:12: «Eines unter neun Zeichen für Pharao und sein Volk! Siehe, sie waren verdorbene Leute.» 3 gelimi heißt wörtlich «Teppich» oder etwas grob Gewebtes oder Geflochtenes aus einem einfachen Stoff. ʿAṭṭār nutzt diesen Begriff wegen des Wortspiels mit kalimi, «Gesprächspartner». Wir nehmen an, dass hier der Weidenkorb gemeint ist, in den Moses ausgesetzt wurde, und folgen deshalb der französischen Übersetzung (de Gastines, S. 273). 4 Beiname der Sufis. 5 Koran 28:30: «Siehe, ich bin Gott, der Herr der Weltbewohner.» 6 Der Bernstein bekommt durch Reiben eine Anziehungskraft auf Holz-



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Anmerkungen zur Übersetzung393 späne und Stroh; das persische Wort für Bernstein, kahraba, bedeutet wörtlich übersetzt: Stroh-Ansichziehendes. Das bezieht sich auf die Worte, die Gott an Mose richtete: «Ich habe dich für Mich vorbereitet», Koran 20:41. Wörtlich: David. König David hat die Psalmen gesungen, und ihm werden magische Kräfte als Sänger zugeschrieben, siehe folgendes Kapitel. Im Koran wird der Psalter als eines der Bücher genannt, die vier auserwählten Propheten enthüllt wurden; den Psalter erhielt David. Vgl. Koran 4:163, 17:55. Einer der Samanidenkönige (gekrönt 987, gest. 1009). Während seiner Herrschaft gab es zahlreiche Aufstände in Transoxanien und Ḫorasān. Jakob war der Vater Josephs, und der Vater des «Joseph» in dieser ­Geschichte trägt den Namen Nūh = Noah. Der Hengst des Helden Rostam. Hier geht es um das Wortspiel mit dem persischen čah, das sowohl «Brunnen» als auch «Grübchen» heißen kann (Hinweis von Monika Gronke). Silbertafel = Gesicht; Schriftzeichen = Bartflaum. ʿAṭṭār spielt hier mit der persischen Kanzleisprache. Die Schreiber kennzeichneten Leerstellen, an denen kein Wort fehlte, mit «Die Leerstelle ist korrekt» (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 709). Dreiunddreißigstes Kapitel

1 Der Name Davids, Dā‘ūd, setzt sich aus dā, «Heilung», und wudd, «Liebe», zusammen (vgl. Schimmel, S. 323). 2 Koran  34:10: «Einst erwiesen wir David von uns Huld: ‹Ihr Berge! Lasst das Lob widerhallen, zusammen mit den Vögeln!› Und wir erweichten ihm das Eisen.» 3 Hier liegt ein Wortspiel vor mit ahad, «Der Eine», und Ahmad = Mohammed (Hinweis von Monika Gronke). 4 Koran 2:38. 5 Sagenhafter Bogenschütze in der iranischen Folklore. Vierunddreißigstes Kapitel 1 Jesus. 2 Die «Färbung Gottes» oder «Taufe Gottes» wird oft als die absolute Reinheit hinter allen Farben angedeutet. Der Legende nach wusch sich der junge Jesus Kleider in einem Färberladen, die alle weiß heraus­ kamen; doch auf die Bitte des Färbers ließ er sie wieder die ursprüng­ lichen Farben annehmen (vgl. Schimmel, S. 327). Vgl. Koran  2:138: «Die Taufe Gottes! Wer hat eine schönere Taufe wohl als Gott? Wir verehren ihn.» 3 Koran 3:49: «Ich werde Blinde heilen und Aussätzige und werde Tote lebendig machen, mit Erlaubnis Gottes.» 4 Man glaubte, dass es im Kopf der Schlange zwei Körner gibt, die viele

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Anmerkungen zur Übersetzung

gute Wirkungen haben und z. B. vor Schlangengift schützen (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 715). In diesem Kapitel spielt ʿAṭṭār mit der Wortbedeutung von Namen berühmter Sufis. Sechster Imam bei den Schiiten, sein Name bedeutet «aufrichtig». Hasan al-Baṣrī (642–718) war ein Jünger von Moḥammeds Schwiegersohn ʿAli. Er war bekannt für seine große Frömmigkeit und Ablehnung des Welt­lichen. Er war ein großartiger Prediger, viele seiner Reden werden von arabischen Autoren zitiert. «Hasan» bedeutet «schön, gut». Nicht weiter bekannte Person. «Kaʿb» bedeutet «Würfel». Mystiker im 8. Jahrhundert. «Rabīʿ» bedeutet «Frühling». Habīb ʿAğamī (gest. 772). Er war vor seiner Konversion ein persischer Wucherer, der sich in Baṣra niedergelassen hatte. Sein Name bedeutet «Geliebter». Maʿrūf Karḫī (750–815). Als Christ geboren, wurde er ein berühmter Sufischeich in Bagdad. «Maʿrūf» bedeutet «berühmt, bekannt». Sofyān ath-Ṯhaurī (716–778). «Ṯaurī» bedeutet «Stier». Ṭāwūs Yamānī (gest. 725). Einer der Überlieferer der Worte des Propheten, für seine große Frömmigkeit bekannt. «Ṭāwūs» bedeutet «Pfau». Fatḥ ben Moḥammed Mowṣaeī, Asket und Mystiker. «Fatḥ» bedeutet «Sieg». Sahl ben ʿAbdullāh Tostarī (815–874). Verfasste einen Kurzkommentar zum Koran und hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Sufitheorie. «Sahl» bedeutet «leicht». Sarī Saqaṭṭī (gest. 871 in Bagdad im Alter von 98 Jahren). Er war ein Jünger von Karḫī und Onkel von Ğuneīd und beeinflusste viele ­Sufischeiche des Irak. «Sarī» bedeutet auch «Richtung, Weg». Šah Kermānī (gest. 884). «Šah» bedeutet «König». Abū-l Faḍl ben ʿAtā, großer Mystiker im 9./10. Jahrhundert. «ʿAtā» bedeutet «Geschenk». Abū-l Hasan Nūrī (gest. 907/908 in Bagdad). Jünger Saqaṭṭīs und ­Gefährte Ğuneīds. Als Leitgestalt der Bagdader Sufis verfasste er mystische Poesie. «Nūrī» bedeutet «leuchtend, erleuchtend». Mālek Dīnār (gest. 748) war der Sohn eines persischen Sklaven und wurde ein Jünger von Hasan al-Baṣrī. «Mālek Dīnār» bedeutet «Be­ sitzer des Dinars». Die Familie des Mose. Ein Moslem kann das Verdienst, die Pilgerfahrt nach Mekka vollzogen zu haben, anderen Gläubigen zugutekommen lassen. Fünfunddreißigstes Kapitel

1 faqr: Besitzlosigkeit und Bedürftigkeit als Attribut des Geschöpfs im Gegensatz zu Reichtum als Attribut Gottes, vgl. Koran 35:15: «O ihr Menschen! Ihr seid die Armen gegenüber Gott.» Auf dem mystischen Pfad bedeutet es Bedürfnis nach Gott und Entsagung von der Welt.



Anmerkungen zur Übersetzung395

2 Überlieferung des Propheten: Allah spricht: «Nichts, wodurch Mein Diener sich mir nähert, ist mir lieber, als was ich ihm als Pflicht auf­ erlegte. Doch Mein Diener hört nicht auf, sich Mir durch freiwilliges Tun zu nähern, bis Ich ihn (dafür) liebe. Und wenn Ich ihn liebe, dann bin Ich sein Ohr, mit dem er hört, und sein Auge, mit dem er sieht, seine Hand, mit der er etwas greift, und sein Fuß, mit dem er geht.» (Vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 722.) 3 Koran 41:53: «Wir werden ihnen unsere Zeichen zeigen, überall in der Welt und in ihnen selbst». 4 Koran  17:36: «denn Ohren, Augen, Herz, nach allem diesen wird d ­ ereinst gefragt.» 5 Der Legende nach trug Jesus eine Nadel in seinem Gewand und wurde deshalb nicht in den höchsten Himmel erhoben, sondern nur in den vierten, den Sonnenhimmel (vgl. Schimmel, S. 331). 6 Einer der größten Wissenschaftler des 12. Jahrhunderts in Ḫorassān (1118–1171), lehrte an der Universität von Nīšāpūr. Sechsunddreißigstes Kapitel 1 Landschaft im westlichen Saudi-Arabien, in der die Städte Mekka und Medina liegen. 2 Wahrscheinlich ist die Stirn damit gemeint. 3 Ein besonders schöner Menschenschlag. Annemarie Schimmel (Stern und Blume. Die Bilderwelt der persischen Poesie. Harrassowitz Wiesbaden, 1984 S. 110) setzt Chata mit China gleich. 4 König, der von Mose besiegt wurde. Siebenunddreißigstes Kapitel 1 Abū ʿAlī Daqqāq (gest. 1022): Mystiker aus Nīšāpūr, versammelte als Prediger große Menschenmassen um sich. 2 Ein auch als Zakarya bekannter Sufi (geb. in Rayy, gest. in Nīšāpūr 871). Er verfasste eine Reihe von mystischen Gedichten und ist als «Prediger der Hoffnung» bekannt. 3 Gabriel. Achtunddreißigstes Kapitel 1 Prophetische Überlieferung. 2 Die Sonne. 3 Wörtlich: «… wurde einer der Hunde». Das bezieht sich auf das Verbot, im Gebet wie die Sonnenanbeter eine Haltung wie ein Hund ­einzunehmen, nämlich die Arme auf den Boden zu legen. 4 Es handelt sich wahrscheinlich um eine Redewendung, für die auch Šāfīʿī keine richtige Erklärung findet (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 744). 5 Sprichwörtlich: Unruhe gestiftet. 6 Für seine Grausamkeit berüchtigter Feldherr und Statthalter im Irak (661–714).

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Anmerkungen zur Übersetzung Neununddreißigstes Kapitel

1 Wortspiel mit ğomʿeh, «Freitag», und ğomʿ, «Versammlung». Alle anderen Wochentage werden im Persischen durchgezählt: Die Woche ­beginnt mit dem Samstag, šambe, der im Gegensatz zu den folgenden Wochentagen nicht nummeriert ist. Der Sonntag ist dann der yekšambe («erster Tag»), der Montag der došambe («zweiter Tag») usw. Der Freitag fällt aus dieser Reihe heraus (de Gastines 1981, S. 371). 2 Überlieferung des Propheten: «Das Herz eines jeden Menschen, den Allah geschaffen hat, hält Allah zwischen zweien Seiner Finger.» (Vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 747.) 3 Überlieferung des Propheten: «Beide Hände Gottes sind rechts». 4 Der arabische Buchstabe m: ‫م‬. 5 Die Sonne. 6 Chedhr, «der Grüne», ist ein geheimnisvoller Heiliger, der vor allem von den Sufis als Vorbild und Führer der Suchenden verehrt wird. Gott soll ihm das Leben bis zum Ende der Zeiten verlängert haben. Das Wasser Chedhrs bedeutet also «Wasser des Lebens». 7 Die Feueranbeter. Vierzigstes Kapitel 1 Ehemals großer Strom im heutigen Usbekistan, auch als Amu Darya bekannt. Heute fast ausgetrocknet. 2 Die Form des Buchstabens Kāf ‫ ک‬erinnert an eine Sichel. 3 Koran 7:172. 4 Koran  54:5: «Weisheit, die ihr Ziel erreicht. Doch die Warnungen ­helfen nichts.» 5 Koran 17:70: «Wir erwiesen den Kindern Adams Ehre und trugen sie auf Meer und Festland, versorgten sie mit guten Dingen und zeichneten sie besonders aus vor vielen, die wir erschaffen haben.» 6 Es könnte sich um eine Überlieferung handeln: «Armut kann zu ­Unglaube führen» (vgl. Šāfīʿī-ye Kadkanī, S. 756). 7 Koran 41:53: «Wir werden ihnen unsere Zeichen zeigen, überall in der Welt und in ihnen selbst, bis ihnen klar geworden ist, dass er die Wahrheit ist.» Zur Übersetzung 1 Epos in Doppelversen.

Glossar

Abū ʿAlī al-Daqqāq (gest. 1015): Rechtsgelehrter, Korankommentator und Sufi aus Nischapur. Abū ʿAlī Tūsī (1018–1092): besser bekannt als → Nezām ol-Molk. Abū Bakr asch-Schiblī (gest. 945): Sufi aus Bagdad, Weggefährte des Mansur al-Halladsch und des → Dschunaid. Wegen seiner Neigung zu Paradoxa wurde er für verrückt erklärt. Abū Saʿīd b. Abi l-Chaīr (967–1049): persischer Mystiker aus Khorasan, der maßgeblich an der Entwicklung der sufischen Tradition beteiligt war. Akkāfī: einer der großen Mystiker und Wissenschaftler des 12. Jahrhunderts in Nischapur. Alp Arslān: wörtlich «tapferer Löwe», von 1063 bis 1072 Sultan der Sel­ dschuken. ʿAmr ebn Qais al-Kufi (gest. 767): Asket, bedeutender Traditionarier aus Kufa. Ayāz: Sklave und Geliebter Mahmūds von Ghazna. Bāyazīd Bistāmī (803–875): persischer Mystiker, Inbegriff des berauschten Sufi im Gegensatz zum nüchternen Sufi → Dschunaid. Bohlūl: ein «weiser Narr», der in der Zeit des Kalifen → Hārūn ar-Raschīd lebte. Burāq: das Reittier, mit dem der Prophet Mohammed zum Himmel aufgestiegen ist. Dhū-l Nūn (gest. 861): ägyptischer Mystiker, der in der Erkenntnis den Weg zu Gott sah. Dinar: arabische Goldmünze. Dirham: arabische Silbermünze. Diwan: persisch divān, «Sammlung, Versammlung», eine Sammlung von Gedichten oder Prosatexten. Dschamschīd: der vierte menschliche König in der persischen Mythologie, unter dessen dreihundertjähriger Herrschaft das Reich seine erste große Blüte erlebte. Dschinne: verborgene Geister, aus Feuer erschaffen, die den Menschen Gutes wie Böses antun können. Dschunaid: Abū l-Qāsim Muhammad Dschunaid (830–910), einer der berühmtesten frühen persischen Mystiker, lebte in Bagdad. Eblīs: der Teufel. Gaz: Längenmaß, entspricht der Elle. Ghozz: frühmittelalterliches Turkvolk in Zentralasien. Ein Stamm dieses

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Glossar

Volkes, die Seldschuken, nahm den Islam an und eroberte im 11. Jahrhundert Persien. Gorgānī (1003–1081): Mystiker; Zeitgenosse und Freund des → Abū Saʿīd aus Khorasan. Hāmān: der Berater des Pharaos zur Zeit des Mose. Hārūn ar-Raschīd: von 786 bis 809 der vierte abbasidische Kalif von Bagdad. Hasan al-Baṣrī (642–728): berühmter Prediger, gilt als erster Sufi, Jünger von Mohammeds Schwiegersohn ʿAlī. Der Sohn eines Gefährten Mohammeds war bekannt für seine große Frömmigkeit und Ablehnung des Weltlichen. Haydar: wörtlich «Löwe», Beiname des Propheten Mohammed. Herzbesitzer: verbreiteter Beiname für Sufis. Homā: Der mythische Vogel Homā verleiht demjenigen das Königtum, der von seinem Schatten getroffen wird. Als echter Asket frisst der Homā nur trockene Knochen und gewinnt daraus seine Wunderkraft, einen Mann zum König zu machen. Ibrāhīm ebn Adham (gest. 777/778): Gab sein fürstliches Leben in Balch auf und wurde Asket. Kouthar: eine Quelle im Paradies. Laylā: Geliebte → Madschnūns. Loqmān: sagenumwobener Weiser, nach dem eine Koransure benannt ist, auch mit dem biblischen Bileam identifiziert. Maʿschūq Tūsī: Mohammed ebn Aslam aus Tūs war ein närrischer Weiser, der im 11. Jahrhundert im Nordosten des Iran lebte. Madschnūn (gest. 687): wörtlich «Besessener»; er und Laylā sind das große tragische Liebespaar Persiens. Laylās Eltern verboten ihr, Madschnūn zu sehen, woraufhin sie an Liebeskummer starb. Madschnūn starb, als er ihr Grabmal sah. Mahmūd von Ghazna: herrschte von 999 bis 1030 über die östliche islamische Welt. Legte durch seine Indienfeldzüge die Grundlagen für die indoislamische Kultur. Bei ʿAttār nimmt er gelegentlich die Stelle Gottes ein. Mālekschāh: Seldschukensultan von 1072 bis 1092, Sohn des → Alp Arslān. mann: Gewichtsmaß, variiert nach Epoche und Region, ungefähr 3–5 Kilo­ gramm. Muhyīddīn Yahyā: Einer der größten Wissenschaftler des 12. Jahrhunderts in Khorasan (1118–1171), lehrte an der Universität von Nischapur. Mustafā: wörtlich «der Auserwählte»; Beiname des Propheten Mohammed. Nachtgänger: Beiname der Sufis. Nezām ol-Molk: mächtiger Wesir der Seldschukensultane → Alp Arslān und → Mālekschāh. Nimrod: altorientalischer Herrscher, der der Bibel zufolge den Turm zu Babel bauen ließ und durch einen Mückenstich ums Leben kam. Nischapur: Stadt im Nordosten des Iran an der Seidenstraße, im Mittel­ alter ein Zentrum von Wissenschaft, Religion und Kunst. Um 1000 war es die achtgrößte Stadt der Welt. Geburts- und Sterbeort ʿAttārs.



Glossar399

ʿOmar: ʿOmar ebn al-Hattab (gest. 644) war der zweite Kalif. Paradies: arabisch dschanna, nach dem Koran der Ort, in dem Gott Adam und Eva wohnen lässt, sowie jenseitiger Ort der Freude für die Auserwählten. Qāf: in der persischen Mythologie und Dichtung ein Berg am Ende der Welt, das Nest des → Sīmorgh und Ziel der Selbsterkenntnis; Dichter und Helden stammen von diesem Berg. Qārūn: auch Korach, Gestalt aus Bibel und Koran, reicher Mann aus dem Volk Israel, der einen Aufstand gegen Mose anführt. Rābiʿa: Rābiʿa al-ʿAdawīyya al-Qaysīyya (gest. 801 in Basra) war eine berühmte islamische Mystikerin. Ihr wird die Verwandlung düsteren Asketentums in echte Liebesmystik zugeschrieben. Rachsch: Pferd des Helden → Rostam. Redwān: Hüter des Paradieses. Rostam: Starker Held aus Ferdousīs Schāhnāmeh, dem «Buch der Könige», berühmteste Gestalt der persischen Mythologie. Salmān (gest. 655): genannt «der Perser», einer der Gefährten des Propheten Mohammed. Sein Vater war Christ. Sein Grab in Al-Madāʾin, dem antiken Ktesiphon, ist ein Pilgerort. samāʿ: wörtlich «Hören», eine Meditation zu Musik entweder im sitzenden Kreis oder in Form eines ekstatisch kreisenden Tanzes. Sandschar (getötet 1157): Seldschukensultan seit 1118. Schaddād: König der arabischen Stadt Iram, der die Warnungen des Propheten Hūd nicht ernst nahm, woraufhin Gott die Stadt zerstörte. Schiblī: siehe Abū Bakr asch-Schiblī. Sīmorgh: mythischer Vogel in der persischen Überlieferung. Er ist der König der Vögel und repräsentiert Gott. Sofyān ath-Thaurī (716–778): bedeutender islamischer Rechtsgelehrter aus Kufa, auch wichtig für die Hadith-Tradierung. Tūbā: wörtlich «Glückseligkeit», mythischer Baum im Paradies, im Sufismus Symbol für die Nähe zu Gott. Yahyā ebn Moʿādh: ein auch als Zakarya und «Prediger der Hoffnung» bekannter Sufi (geb. in Rayy, gest. in Nischapur 872), der mystische Gedichte verfasste. Zulaikha: koranischer Name für die Frau des Potiphar in der biblischen Josephsgeschichte. Die Geschichte von Yūsuf (Joseph) und Zulaikha ist eine der bekanntesten Liebesgeschichten der islamischen Tradition. Das Verlangen Zulaikhas nach Yusuf symbolisiert für Sufis das Verlangen der Seele nach Gott.

Zum Buch ‘Attar ist einer der größten islamischen Mystiker. Das „Buch der Leiden“ stand lange im Schatten seiner „Vogelgespräche“, aber gerade in seiner Düsterheit liegt auch die Modernität dieser „vielleicht schwärzesten Dichtung, die je von einem Menschen geschrieben worden ist“ (Navid Kermani). Bernhard Meyer hat das einzigartige Werk der Weltliteratur erstmals vollständig ins Deutsche übertragen. Der klassische persische Dichter Fariduddin ‘Attar (um 1136–1220) erzählt in seinem „Buch der Leiden“ eine Seelenreise durch den Kosmos in vierzig Stationen. Der Wanderer bricht auf, um Erlösung von seinem Leiden zu finden, aber alle, die er um Hilfe bittet – die Erzengel, Paradies und Hölle, die vier Elemente, Satan, Dschinnen, Menschen und die Propheten von Adam bis Jesus –, schildern ihm nur ihr eigenes, viel schlimmeres Leiden. Erst Mohammed gibt ihm den Rat, nicht länger in der Welt zu suchen, sondern in sich selbst, und so versinkt er im Meer der Seele. Um diese Rahmenerzählung mäandern zahlreiche Geschichten, die das „Buch der Leiden“ trotz seiner Düsternis zu einer kurzweiligen Lektüre machen. Bernhard Meyer hat die 6200 Doppelverse in Prosa übertragen und mit erläuternden Anmerkungen versehen. Monika Gronke führt kundig in den Autor und sein Werk ein und erleichtert damit das Verständnis dieses einzigartigen Werkes der Weltliteratur.

Über den Übersetzer und die Autorin des Nachworts Bernhard Meyer übersetzt aus dem klassischen Persisch. Er war bereits an einer vollständigen Übersetzung von Rumis „Mathnawi“ ins Deutsche beteiligt (2. Auflage 2012). Monika Gronke ist Inhaberin der Professur für Islamwissenschaft und Iranistik an der Universität zu Köln. Bei C.H. Beck erschien von ihr „Geschichte Irans“ (5. Aufl. 2016).